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Daniel Fulda

Himmel und Halle:


Vom Ort der Aufklärung zur Verklärung der Orte
in Achim von Arnims Studenten- und Pilgerdrama

1. Von der Zeit zum Raum

Verglichen mit der Zeit, der anderen grundlegenden Anschauungsform unserer


Welterfahrung, hat der Raum nur wenig Beachtung durch die Literaturwissenschaft
gefunden. Literarische Techniken der Zeitgestaltung gehören zum kleinen Einmal-
eins der Erzähltextanalyse, mit der Bestimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit,
von Erzählfolge, Zeitraffung und Zeitdehnung.1 Darüber hinaus wurden aus der
Zeitstruktur literarischer Texte wiederholt Theorien mit Grundlegungsanspruch
entwickelt, so von Emil Staiger2 oder von Käte Hamburger und Harald Weinrich.3
Paul Ricœur bestimmt die Literatur sogar von einem anthropologischen Bedürfnis
nach Refiguration der Zeit her, soll heißen nach Integration der in die Zeitdimensio-
nen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerfallenden menschlichen Zeit-
erfahrung.4 Derartig ambitionierte Aufmerksamkeit ist den Raumdimensionen der
Literatur nicht zuteil geworden. Wolfgang Kayser hat vom Raumdrama als einem
von drei Dramentypen gesprochen – neben dem Figuren- sowie dem Handlungs-
oder Geschehensdrama.5 Schon bei Kayser wenig profiliert,6 hat sich der Begriff
aber nicht durchgesetzt. Prominenter ist der ›Chronotopos‹ Michail Bachtins
geworden.7 Gemeint ist die Verbindung einer Handlungsfolge in der Zeit mit einer
Raumkonstellation – so wie eine Pilgerfahrt ein Handlungsmuster darstellt, das sich
notwendig räumlich entfaltet. Einen Vorrang von Raumhinsichten in der Literatur-
wissenschaft kann die beachtliche Karriere des Chronotopos freilich kaum belegen,

1
Vgl. die Dominanz von Aspekten der Zeitgestaltung bei Gérard Genette, dem einflussreichsten
Autor der neueren Narratologie: Die Erzählung, S. 21–114. Nahezu gleichberechtigt wird die
Raumdimension erst in David Hermans Kognitiver Narratologie behandelt, vgl. Herman: Story
Logic, S. 263–299.
2
Vgl. Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters.
3
Hamburgers Logik der Dichtung bestimmt das literarische Erzählen bekanntlich von dessen
präteritalem Tempus her, das kein Vergangensein, sondern Fiktivität bedeute, was Weinrichs
Tempus-Buch zur Unterscheidung von erzählter Welt (im Präteritum) und besprochener Welt
(im Präsens) ausbaut.
4
Vgl. Ricœur: Temps et récit; Zeit und Erzählung. Bd. 2.
5
Vgl. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 368–373.
6
»Als Beispiel« führt Kayser Wallensteins Lager an, wobei er selbst einschränkt: »wenn wir es
isolieren« (ebenda, S. 370), nämlich davon absehen, dass das »bunte Nebeneinander« des
Stücks auf die noch nicht auftretende Titelfigur der Wallenstein-Trilogie ausgerichtet ist.
7
Vgl. Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman.
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bildet der Raum hier doch nur eine Dimension, die der Handlung funktional zu-
geordnet wird, zunächst als deren notwendiger Rahmen und darüber hinaus als
Veranschaulichung von deren Problem- und Bedeutungsgehalt. Das literatur-
theoretisch vielleicht größte Gewicht hat die Raumdimension bei Jurij M. Lotman
erhalten. Auf Bachtin aufbauend, bestimmt Lotman das entscheidende »Ereignis«
einer literarischen Handlung als Überschreitung einer »Grenze«: damit gemeint ist
primär eine semantisch fassbare Überschreitung der gegebenen Ordnung, die sich
häufig jedoch räumlich konkretisiere.8
Wahrscheinlich hat das geringere Gewicht von Raum- gegenüber Zeitaspekten
seine guten Gründe: Eine Zeitdimension gewinnen literarische Texte bereits in ihrer
Lektüre, und diese Zeit des Gelesenwerdens ist nichts, was ihnen äußerlich wäre,
sondern bildet, seit langem als ›Erzählzeit‹ terminologisiert, das Widerlager der
erzählerischen Zeitgestaltung. Einen derartig engen Bezug zwischen dem Raum, in
dem ein Text gelesen wird, und den dargestellten Räumen gibt es nicht oder allen-
falls, weitaus kontingenter, im Verhältnis zwischen dem gespielten Raum eines im
Theater aufgeführten Dramas und dem jeweiligen Bühnenraum.9 Das Zeitgestal-
tungspotential des Erzählers ist bis zur gängigen Münze auktorialer Zitate (der
Erzähler als »raunender Beschwörer des Imperfekts«10) bekannt. Wer hingegen
spricht vom Erzähler oder Dramatiker als einem Architekten von Raumfolgen?
Nun wurde vor einigen Jahren ein »topographical turn« ausgerufen, auch von
einem »spatial turn« ist die Rede.11 Was mit diesen Schlagworten zusammengefasst
wird, geht in aller Regel nicht von jenem Forschungsdefizit aus, das gerade im
Vergleich mit dem poetologischen und literaturtheoretischen Rang der Zeitdimen-
sion angedeutet wurde. Das gewachsene Interesse für die Raumdimension von
Literatur dürfte vielmehr mit allgemeinen intellektuellen, gesellschaftlichen, politi-
schen Umorientierungen zusammenhängen. Die großen Zeitperspektiven – Utopien,
Geschichtsphilosophien – schienen mit dem Zusammenbruch des Kommunismus
erledigt. Mit der Globalisierung rückte statt dessen die Raumdimension in den
Vordergrund. Bei den postkolonialen Referenzautoren des ›topographical turn‹ wie
Homi K. Bhabha (The Location of Culture, 1994)12 wird dieser außerliterarische
Einfluss unmittelbar deutlich.
Man könnte nun meinen, dass die Bedingtheit des ›topographical turn‹ durch
Veränderungen in der außerliterarischen Weltwahrnehmung zu einer verstärkten
Aufmerksamkeit für literarische Bezüge auf reale Orte führt, gewissermaßen gegen-
läufig zu jener Selbstbezüglichkeit, die für den zuletzt vorherrschenden dekon-
struktiven Blick auf literarische Texte charakteristisch ist.13 Die Vokabel ›topogra-

8
Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 327, 332.
9
Vgl. Fulda: »Breter, die die Welt bedeuten«. Bespielter und gespielter Raum.
10
Mann: Die Kunst des Romans, S. 349.
11
Vgl. Weigel: Zum ›topographical turn‹; Borsò/Görling (Hrsg.): Kulturelle Topografien; Böhme
(Hrsg.): Topographien der Literatur; Stockhammer (Hrsg.): TopoGraphien der Moderne.
12
Vgl. Bhabha: Die Verortung der Kultur.
13
Auf eine solche »Geographie der Literatur« zielt das Göttinger Projekt »Schauplätze – Handlungs-
räume – Raumphantasien. Ein literarischer Atlas Europas« (http://literaturatlas.eu/index.html,
besucht am 13.11.2008).
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phisch‹ weist indes nicht allein auf Orte oder Räume, sondern ebenso auf deren
Aufzeichnung. Und nicht erst bei Reisebeschreibungen oder einer Kartierung, also
bei bewusst eingesetzten Aufzeichnungstechniken, beginnt der Einsatz von Kultur-
techniken. Vielmehr unterscheiden die Theoriegewährsleute des ›topographical
turn‹ grundlegend zwischen Orten als physikalisch messbaren Positionen und
Größen und Räumen als personal angeeigneten Orten: als Orten, »mit de[nen] man
etwas macht«.14 Mit der terminologischen Unterscheidung von ›Orten‹ (lieux) und
›Räumen‹ (espaces) stammt diese Betonung der Konstruktivität jeglicher personal
angeeigneter Räumlichkeit von Michel de Certeau. Dass Räume konstruiert werden,
jedenfalls in ihrer Wahrnehmung und Nutzung, dass Räumlichkeit also ein Produkt
von Sichtweisen, Beschreibungen und Handlungen ist, die recht unterschiedlich
ausfallen können, bildet aber die generelle Prämisse des ›topographical turn‹.
Kulturwissenschaftlich sei nach den Diskursen und Praktiken zu fragen, »die den
Raum organisieren«.15 Übrigens wird die Konstruktivität von Räumen bereits in der
sozialwissenschaftlichen Raumtheorie so formuliert, dass literaturwissenschaftliche
Analysen sich leicht anschließen lassen. Der Ethnologe Marc Augé begreift den
kulturell erfahrbar gemachten Raum als versprachlichten: »Der Ort erfüllt sich
durch das Wort«.16
Theoretisch ist die Unterscheidung zwischen dem ›reinen‹ Ort und dem personal
angeeigneten Raum nicht ganz konsistent, weil die Bestimmung von Orten, auch
wenn sie mit Hilfe objektivierender Techniken wie Physik oder Geometrie betrie-
ben wird, nicht unabhängig von menschlichen Beobachtern erfolgt. Gleichwohl ist
der mit der Unterscheidung von lieu und espace bezweckte Hinweis auf die
diskursiv-praktische Konstruktion von Räumen wichtig, und zwar auch für die
Untersuchung literarisch dargestellter Räume. Denn sie schützt vor dem Missver-
ständnis, außerhalb fiktionaler Texte hätte man es mit fixen, eindeutig ›verortbaren‹
Räumen zu tun. Die begriffliche Unterscheidung von ›Orten‹ und ›Räumen‹ über-
nehme ich dagegen nicht, da es der Literatur- oder Kulturwissenschaftler ohnehin
›nur‹ mit ›Räumen‹ (im Sinne Certeaus) zu tun hat.

2. Gespielte Räume – erzählte Räume, Realräume – Transzendenz

Die Einladung zu diesem Kolloquium bat um Beiträge, die bei den »›realen‹ Räu-
men« in den Texten Arnims und anderer romantischer Autoren ansetzen, um deren
»Symbolfunktion« zu erschließen. Gemeint sind wohl nicht unbedingt Räume der
außerliterarischen Realität, auf die romantische Texte Bezug nehmen, sondern die
fiktional gesetzten Räume, in denen literarische Figuren sich bewegen (wie Zim-
mer, Kirchen, Wälder, Landschaften…), im Unterschied zu den bloß von ihnen
imaginierten »Räumen des Inneren« oder der Psyche (genannt werden die be-

14
Certeau: Kunst des Handelns, S. 218 u. 217.
15
Ebenda, S. 217.
16
Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 92; vgl. Certeau: Kunst des Handelns, S. 218: »Im Verhältnis
zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird«.
124 Daniel Fulda

gehbaren Hirnhöhlen, die Brentano und Görres entwerfen17). Dem folgend, setzt der
vorliegende Beitrag bei Handlungsschauplätzen an, allerdings solchen, die zu-
mindest teilweise auf außerliterarisch reale Räume verweisen. In Arnims Werk
bietet sich einem solchen Ansatz vor allem das Doppelschauspiel Halle und Jerusa-
lem an.18 Hier signalisiert bereits der Titel den Bezug auf außerliterarisch reale Orte.
Auf diese Raumdimension nicht zu verzichten, ist erforderlich, um die volle
Spannweite literarischer Raumbezüge in den Blick zu bekommen. In Arnims
Doppeldrama ist diese Spannweite besonders groß, denn sie reicht von erfahrbaren
Realräumen (erfahrbar wohlgemerkt für die Rezipienten, nicht nur fiktiv für die
Figuren) bis zu transzendenten Räumen.19 Halle und Jerusalem erbringt damit für
die menschliche Raumerfahrung bzw. -imagination eine ähnliche Integrations-
funktion, wie Ricœur sie der erzählerischen Refiguration für die Zeiterfahrung
zumisst.
Allerdings scheint die Wahl dieses Dramas mit einer anderen Akzentsetzung des
Einladungstextes in Konflikt zu geraten, nämlich mit dessen Frage nach der narrati-
ven Modellierung von Räumen. Szenenanweisungen leisten allenfalls partiell das-
selbe wie narrative Raumentwürfe, nicht nur weil sie in aller Regel deutlich knapper
und grober ausfallen als erzählerische Beschreibungen der Szenerie.20 Vor allem
lassen sie sich, an den Anfang einer Szene(nfolge) gesetzt, nicht so eng mit den
Wahrnehmungen oder dem Charakter einer Figur oder einer sekundären Bedeu-
tungsebene verbinden, wie es einem Erzähler möglich ist, der die Beschreibung von
Räumen, die Vorstellung von Figuren sowie Andeutung von symbolischen Bedeu-
tungen direkt ineinander blenden kann (man denke an die Wohnung von Behrens
im Zauberberg oder das Rom-Kapitel im Taugenichts). In Halle und Jerusalem

17
Vgl. Lange: Architekturen der Psyche, S. 214–218.
18
Halle und Jerusalem erschien 1811, entstanden ist es im wesentlichen 1809, also geraume Zeit
nach Arnims Studienaufenthalt in Halle 1798/99, gewidmet ist es »C. Brentano und J. Görres
[…] zur Erinnerung guter und böser Tage in Heidelberg«. In der Weimarer Arnim-Ausgabe ist
das Drama noch nicht ediert; Ulfert Ricklefs, der Bearbeiter des Bandes, hat als Grundlage
seines Kommentars aber eine Interpretation vorgelegt, die zugleich die umfassendste Analyse
des Stücks überhaupt darstellt, vgl. Ricklefs: ›Ahasvers Sohn‹. Zitiert wird nach der Ausgabe
(auf der Grundlage des Erstdrucks) von Paul Kluckhohn in der Reihe Deutsche Literatur.
Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, mit Seiten- und
ggf. Akt- und Szenenangabe im laufenden Text.
19
Transzendente Räume sind der Teil literarischer Raumbildung, der vom Instrumentarium der
aktuell aufblühenden Forschung zur ›Geographie der Literatur‹ nicht erfasst wird; vgl. dazu
Piatti: Die Geographie der Literatur. Indem es vorhandene Ansätze mustert und in Beziehung
setzt sowie ein mehrstufiges Forschungsprogramm einschließlich einer differenzierten Termi-
nologie vorschlägt, bedeutet Barbara Piattis Buch einen großen Schritt nach vorne in der
literarischen Raumforschung. Innovativ ist auch die enge Verknüpfung mit der Kartographie,
die zugleich allerdings eine Restriktion bedeutet, weil sie Realräume (»Georäume«), die in
literarische Fiktionen »importiert« werden, privilegiert. Notwendigerweise nicht berücksichtigt
werden hingegen Räume, die gar nicht von dieser Welt sind, und zwar nicht nur, weil sie
›erfunden‹ sind, sondern weil sie unserer Raumerfahrung nicht entsprechen (wie eben tran-
szendente Räume).
20
Zum Nebentext als narrativem Moment des Dramas vgl. Korthals: Zwischen Drama und
Erzählung.
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beschränkt sich die Raummodellierung aber gar nicht auf Szenenanweisungen und
die übliche Ergänzung durch sog. ›gesprochene Kulissen‹, also Szeneriehinweise
im Dialog der Figuren oder Teichoskopien21. Räume sind vielmehr wiederholt
Gegenstand des Dialogs; sie werden zwar nicht von einer Erzählerinstanz, auf die
der ganze Text zurückgeht, entworfen, aber in erzählender Rede der Dramenfiguren.
Auch im Nebentext folgt eine Reihe von Szeneriehinweisen erst bei laufender
Szene. Dass Halle und Jerusalem, dem romantischen Ideal der Gattungsmischung
entsprechend, ein Drama mit starken epischen Zügen sei, wurde wiederholt in der
Forschung vermerkt.22 Mehrfach gehen Szenenanweisungen sogar in regelrechte
kurze Erzähltexte über, und sogar eine Erzählerstimme schaltet sich kommentierend
ein.23 Auch unter dem Gesichtspunkt der Raummodellierung kann das Stück daher
legitimer Weise neben narrativen Texten im engeren Sinne analysiert werden,
nämlich daraufhin, mit welchen Benennungstechniken hier Räume entworfen
werden.
Halle und Jerusalem zählt vermutlich zu den am wenigsten gelesenen Dramen
eines kanonischen Autors. Als Theatertext scheint es missraten, schon weil sein
Umfang eine Aufführung kaum zulässt und auch Leser abschrecken kann. Was die
»extravagante Form« des Stücks positiv bedeutet, hat hingegen Detlef Kremer in
einem Aufsatz aufzuweisen unternommen.24 Kremer betont den »bricolage«-
Charakter des Textes; wie ein »Mosaik« aus Bruchstücken zusammengesetzt sei
Halle und Jerusalem schon hinsichtlich seiner Quellen. Das gelte für Arnims
digressive Umarbeitung seiner ›Vorlage‹ Cardenio und Celinde von Gryphius25
ebenso wie für die Entlehnung von Figurentypen oder des szenischen und gedankli-
chen Aufbaus teils von Shakespeare, teils von Calderon, teils aus dem Sturm und
Drang.26 Als weiteres Formmodell für Arnims Text nennt Kremer das »Laby-
rinth«.27 Gemeint ist, dass sich die Gestaltungskraft des Autors wie in einem
Labyrinth verirrt und allenfalls mühsam »einen Ausgang gefunden« habe (was
herkömmlichen Beurteilungen des Stücks dann doch wieder ziemlich nahe kommt).
Nicht gemeint ist, dass die Figuren sich in einem Labyrinth bewegen oder darin
befangen sind. In der Tat ist gegen die Suggestionskraft des Labyrinths als eines

21
Z. B. Jerusalem, 6. Szene, S. 238.
22
Z. B. von Ehrlich: Arnim als Dramatiker, S. 132. Zu Arnims Dramatik und seinem Verhältnis
zum Theater vgl. auch Burwick: Achim von Arnims Verhältnis zur Bühne.
23
Vgl. Halle I,5, S. 63, III,1, S. 140 (beides sogar mit Hinweis auf – nicht ausformulierte –
Dialoge), Jerusalem, S. 229 und 294: »Der Reisende wendet sich beschämt fort und zieht in alle
Welt und spricht vom Christentum in tausend Worten, aber seine Worte haben keine Kraft des
ewigen Lebens, weil seine Liebe ohne Tat ist, von ihm kommen alle neuen poetischen Christen,
ich rede von denen, die es nur in ihren Liedern sind.«
24
Kremer: Durch die Wüste, S. 137. Die folgenden Zitate ebenda, S. 140f.
25
Vgl. dazu Paulin: Gryphius’ ›Cardenio und Celinde‹ und Arnims ›Halle und Jerusalem‹.
Übrigens legitimiert Arnim seine Bearbeitung des älteren Stücks mit prinzipiellen Vorbehalten
gegen das künstlerische ›Abschließen‹ in einer Welt, die bis zu ihrem »Untergang« offen ist
(ebenda, S. 11). Bereits die Werkentstehung hat demnach etwas mit räumlichen Präferenzen
zu tun.
26
Vgl. Kremer: Durch die Wüste, S. 141–144.
27
Ebenda, S. 146. Das folgende Zitat ebenda.
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»topographischen Musters«28 für Halle und Jerusalem zu betonen, dass die Raum-
folge des Dramas bzw. der Weg, den die zentralen Figuren durch diese Räume
nehmen, trotz aller zeitweiligen Abweichungen gut erkennbar zu einem »Ausgang«
führt. Der Weg, den der von »Uferlosigkeit«29 gekennzeichnete Text weist, hat
durchaus ein klares Ziel.
Halle, der erste Teil, stellt den Studenten Cardenio ins Zentrum, der »mit allem
ausgestattet [ist], was Freundschaft, Liebe, Kunst und Wissenschaft uns geben
kann« (III,14, S. 196), genialisch, aber auch rücksichtslos gewaltsam.30 Vergeblich
bemüht sich Cardenio um die Zuneigung der tugendhaften Olympie, die aber den
harmloseren Lysander erwählt. Daher wirft er sich der weniger tugendhaften
Celinde an den Hals, ohne aber von Olympie ganz abzulassen. Erst als Celindes
Versuch scheitert, Cardenios Herz durch Magie für sich zu gewinnen, bereuen
beide, und sie beschließen, ihre Verfehlungen durch eine Pilgerfahrt zum Heiligen
Grab zu büßen. Diese Pilgerfahrt bildet, beginnend mit der Schiffsreise, die Hand-
lung des zweiten Stücks, wobei die Zentralfigur Cardenio sowie Celinde nur noch
in einem relativ kleinen Teil der Szenen vorkommen. Als weitere Pilger werden
Olympie und Lysander, der ewige Jude Ahasver sowie eine Reihe teils aus dem
Halle-Drama bekannter, teils neu eingeführter Nebenfiguren gezeigt.

3. Halle oder die Lust am erlebbaren Raum

Der »ein Studentenspiel« untertitelte erste Teil hat fünfzehn verschiedene Schau-
plätze (mit 17 Szenenwechseln), die sämtlich in Halle, der Stadt der im 18. Jahr-
hundert führenden preußischen Universität, angesiedelt sind. Im Vergleich mit
manchem Sturm-und-Drang-Drama ist das eine mäßige Fülle von Schauplätzen.
Eine Besonderheit des Stücks bildet hingegen die präzise Lokalisierung einiger
hervorstechender Auftritte an realen Orten: Am Anfang, etwa in der Mitte sowie am
Schluss von Arnims Stück besteht die Szene aus zentralen und bekannten Räumen
der Stadt Halle und der sie umgebenden Saalelandschaft. Dazu gleich mehr;
zunächst ein typologisierender Überblick:
Die größte Szenengruppe bilden ortsunspezifische Schauplätze, nämlich Zimmer
der Haupt- und wichtiger Nebenfiguren (Olympies, ihres Bruders Viren, eines Juden
namens Nathan, Celindes, Cardenios) oder Straßenabschnitte vor deren Häusern
(Olympies und Virens bzw. Celindes). Nebenbei bemerkt: In diesen Szenen folgen
offene und geschlossene Räume ziemlich streng aufeinander. Als auch in anderen
Dramen verbreitete Technik ist diese Abwechslung aber wenig signifikant.
Einen weiteren Typ bilden zwei milieuspezifische Schauplätze, nämlich a) ein
»großer Kommerssaal« (I,18, mit »Musik auf einer Galerie, von Tobakswolken
verhüllt, viele[n] Studenten an Tischen, die Chorführer mit gezogenen Hiebern,
Halloren31 schleichen an den Tischen umher«, S. 89), und b) der Versammlungs-

28
Ebenda.
29
Ebenda.
30
Ausführlich zu Cardenio: Ricklefs: ›Ahasvers Sohn‹, S. 175–195.
31
Halloren hießen die Arbeiter in den Hallischen Salzsiedereien. Hier bedienen sie die Studenten.
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raum eines Studentenordens (III,2): »Ein schwarzes Zimmer, in dessen Hinter-


grunde eine goldene Sonne, von der alle Beleuchtung ausgeht, unter der Sonne ein
Altar mit einem Kreuze von Rosen umwunden.« (S. 149)32
Hinzu kommen zwei handlungsspezifische Schauplätze, nämlich ein Kirchhof
und das Innere einer Kirche (Szenen 8 und 9 des III. Aktes). Hier soll Cardenio vom
und zum Tode verführt werden (S. 179), bzw. Celinde wird von ihrer Mutter
gedrängt, einer frischen Leiche das Herz aus dem Leib zu schneiden, um ihrem
unwilligen Geliebten daraus einen Trank zu bereiten, der ihn fixieren soll. Von
grundsätzlichem Interesse in unserem Zusammenhang ist, ob die Kirche samt
Kirchhof in Halle lokalisierbar ist. Als öffentliches Gebäude von erheblicher Größe
wäre eine erfundene Kirche als solche erkennbar – im Unterschied zu den unspezi-
fischen Zimmern und Häusern, die ebenso erfunden sind wie die Figuren, die sie
bewohnen. Der Name der Kirche fällt nicht, nur ein Hinweis auf – vermutlich nahe
– »Blumengärten […], die an dem Rand der Saale nach des Stromes Rauschen
lauschen, wo sanftes Grün mit Tau die Lippen netzet, wo reife Frucht sich in die
Hände drängt« usw., dies alles als Kontrast zum, so Cardenio, »rauhen Land« der
Grabsteine auf dem Kirchhof (S. 179). Diese Hinweise passen auf St. Laurentius,
das in Saalenähe direkt neben dem Botanischen Garten liegt und das auch damals
schon die einzige von einem Friedhof umgebene Kirche in Halle war (genau-
genommen in der Vorstadt Neumarkt; der Botanische Garten wiederum wird in der
Gräfin Dolores namentlich als Schauplatz eines »Morgenfestes« genannt, das die
Universität zu Ehren des Königspaares gab33). Die Szenerie von Kirche und Kirch-
hof in Arnims Halle kollidiert also nicht mit der Topographie der realen Stadt
dieses Namens. Generell gilt: Auf offensichtlich vom empirischen Halle abweichen-
de Raumsituationen verzichtet das Drama.
Schließlich sind noch die Räume zu nennen, die nicht gespielt, sondern nur
erzählt werden. Am plastischsten erscheint ein solcher Raum in der Erzählung, die
der Student Stürmer von seinem Ausflug nach Bad Lauchstädt gibt (ca. 20 km
südlich von Halle), wo im Sommer das von Goethe geleitete Weimarer Hoftheater
gastierte:34 »wir waren recht vergnügt am Schwanenweiher, wo unter den Kastanien
kühle Luft mit schönen Frauen buhlt, die Sonne schwamm so heiß und träge auf der
Flut, das alte Schloß sah wunderlich in unsre Flüchtigkeit hinein.« (III,2, S. 149)
Diese starken Raumeindrücke wurden indes noch überboten durch den Eindruck,
den der – von Stürmer so genannte – »Meister« selbst machte, und zwar gerade
auch in räumlicher Hinsicht: »Deutschlands Meister, der war heute angekommen
und schritt mit ernstem Blick den Gang herunter, zu eng erschien der breite Gang,
noch einen andern außer ihm zu fassen« (S. 150).

32
Zum Hallischen Studentenleben in der Zeit vgl. Kertscher: »[…] in Halle herrscht in Absicht
des Trinkens viel Decenz«.
33
Vgl. Arnim: Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores – Werke in sechs Bänden.
Bd. 1, S. 194. Bei der Giebichensteiner Bartholomäuskirche, also erheblich weiter vor der
Stadt, vermuten hingegen Heidi Ritter und Eva Scherf den Schauplatz der Szene (vgl. Ritter,
Scherf: Die Weltseele durchlebt alles, S. 50).
34
Vgl. Hentze (Fotogr.), Rüdiger (Einf.): Bad Lauchstädt.
128 Daniel Fulda

Abb. 1: Ausschnitt aus J. C. Homann: Darstellung des Grundrisses und Prospectus der Königl.-
Preusisch-Magdeburgischen und des Saal-Crayses HauptStadt Halle, kolorierter Kupferstich, nach
1722.35 St. Laurentius liegt in der linken oberen Ecke des Kartenausschnitts bei Nr. 5,
der Botanische Garten unmittelbar südlich davon; weitere Gärten
liegen etwas weiter nordwestlich direkt an der Saale.

Nun aber mehr zu den offenkundig spezifisch Hallischen Schauplätzen. Auf dem
zentralen Platz der Stadt, dem Markt, setzt das Stück ein. Als weiterer topographi-
scher Hinweis heißt es: »Im Hintergrund des Theaters erscheint das alte akade-
mische Gebäude« (die sog. Ratswaage neben dem Rathaus), »der Torweg ist
geöffnet, es werden von einem Buchhändler Dissertationen und Bildnisse berühmter
Gelehrter ausgehangen.« (I,1, S. 49f.) Später ist zudem mehrfach von dem »Promo-
tionssaale« die Rede (S. 52, 60 als Regieanweisung, 63), in dem Cardenio als
Opponent des Philosophen Wagner auftreten wird. Gemeint ist der Saal im Ober-
geschoss der Ratswaage;36 der Zugang führt durch den erwähnten Torweg.
Wohl noch charakteristischer für Halle ist der Schauplatz am Anfang des dritten
und letzten Aktes des ersten Dramas:

35
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtmuseums Halle, Christian-Wolff-Haus.
36
Rathaus und Ratswaage wurden im Zweiten Weltkrieg beschädigt und später abgerissen.
Himmel und Halle 129

Abb. 2: Ausschnitt aus der »ABBILDUNG der vornehmsten PROSPECTEN der Königl.
Preusisch-Magdeb. u. des Saal-Creises Haupt-Stadt HALLE«, kolorierter Kupferstich von
Johann Christoph Homann, Nürnberg, nach 172037

Ufer der Saale. Der Fluß ist mit bunt bewimpelten Schiffchen bedeckt, auf der einen Seite des
Vordergrundes sieht man das Logengerüst für die Gäste des Lysander, der das Fischerstechen
gibt. Olympie sitzt in dessen Mitte auf einem hohen roten Sessel, an ihrer Seite steht ein Tisch
mit Preisen, goldenen Ketten, silbernen Pokalen und silbernen Kränzen. […] Durch die Menge
des Volkes, das den Raum unter dem Gerüste einnimmt, drängt sich der feierliche Zug der
Halloren mit alten Waffen, Flambergen, Streitkolben und dergleichen, sobald sie sich dem
Schiffe nähern, legen sie ihre Röcke ab und erscheinen in zierlichen weißen Schifferkleidern
mit bunten Bändern geschmückt, sie ergreifen die Stechstangen und besteigen tanzend die
Schiffe, wo das Stechen in der gewohnten Art beginnt, nach welcher sie sich in entgegengesetz-
te Parteien scheiden und einander mit den Steckstangen von den Kähnen ins Wasser zu stoßen
suchen – wer übrigbleibt, hat gesiegt. […]« (III,1, S. 140)

Diese – hier noch gekürzte – Szenenanweisung illustriert zugleich, wie der Neben-
text bisweilen eigene kleine Erzählungen ausbildet. Später ist noch von einer
»Brücke« die Rede, über die Cardenio in eines der Boote steigt, um sich am Stechen
zu beteiligen (S. 143). Frappierend weit gehen hier die Übereinstimmungen mit
einer gemalten Darstellung des Hallischen Fischerstechens, die in einem studenti-

37
Stadtarchiv Halle, Sign. II 119. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Halle.
130 Daniel Fulda

schen Stammbuch von ca. 1750 überliefert ist. Es handelt sich mithin um eine
Szenerie von hoher Lokaltypik.

Abb. 3: Serresches Stammbuch: Fischerstechen an der Westseite der Neuen Residenz (1735)38

Hier lassen sich schon erste Bemerkungen darüber einflechten, wie Arnims Text
Räume erschafft: Der dargestellte Raum der Fischerstechenszene ist weniger
architektonisch definiert (wie die Eröffnungsszene vor dem Rathaus) als durch ein
Ritual, das aber fast ebenso feste Konturen hat (darauf deutet die Wendung »in der
gewohnten Art«). Beide Szenen lehnen sich an reale Räume an; die Räume des
Dramas sind nicht unabhängig von ihren Vorbildern und Bezugspunkten in der
Realität. Die Realräume ›Hallischer Marktplatz vor dem Rathaus‹ und ›Saaleufer
mit Fischerstechen‹ fungieren regelrecht als Stützen des poetischen Raumentwurfs,
denn dieser nutzt die voraussetzbare Bekanntheit jener Realräume, um sich detail-
lierte Szenenanweisungen zu ersparen. Die Szenenanweisung zum Fischerstechen
macht die Anlehnung an den entsprechenden Realraum sogar explizit (»in der
gewohnten Art«), aber auch die Szenenanweisung zu Markt, Rathaus und – zu-
nächst nicht genanntem – Promotionssaal vervollständigt sich erst durch Erinnerung
des Lesers an den entsprechenden Realraum.
Die dritte spezifisch Hallische Szenerie hat ebenfalls einen herausgehobenen Ort
im Dramenverlauf, denn es handelt sich um die Schluss-Szene. Schauplatz ist: »Der
Felsen bei Gibichenstein. Ahasverus sitzt in dem bekannten Fenster Ludwig des

38
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Halle.
Himmel und Halle 131

Springers und sieht nach dem Sonnenaufgang.« (III,10, S. 183) Wieder ist die
Szenenanweisung sehr knapp gehalten, weil die – ausdrücklich einkalkulierte –
Bekanntheit des entsprechenden Realraumes Details erübrigt. Hinweise auf weitere
Charakteristika der Landschaft werden gleichwohl im nachfolgenden Dialog
gegeben. So lenkt Ahasverus den Blick Cardenios auf die unter dem Giebichenstein
fließende Saale: »Sieh unter dir den Strom, wie er so ernst rauscht, sich Wege
bahnte durch die hohen Felsen,39 den lieblichen Gefilden leicht vorüberstreift, als
säh’ er nicht die stolze Pracht, die sich in ihm bespiegelt und erquickt« (S. 185) Und
etwas später zwei weitere Blickweisungen, jetzt von Olympie für Lysander und
umgekehrt: »Sieh jetzt, wie rätselhaft die Fähre, sich selbst bewegend, wie lebendig
quer durch den Strom von unsrer Seite reißt, zu jenem Ufer treibt, zum wilden
Felseneingang. Der alte Charon nimmt gleichgültig seinen Sold, und langsam
steigen jetzt die Seelen zu dem Richtstuhl an.«

Abb. 4: G. Müller und Herculeß Hoessel: Der Giebichenstein an der Saale bei Halle, übermalte
Zeichnung, um 1800 verlegt bei Franz Asner in Berlin40

Und gleich darauf Lysander zu Olympie: »Sieh lieber dort, wie hell des Peters-
berges Klostertrümmer41 im Gnadenschimmer leuchten; in frommer, alter Zeit, da

39
Rechts die Klausberge, links die Kröllwitzer Höhen.
40
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Halle.
41
Auf dem gut 10 km entfernten Petersberg befand sich ein Augustinerherrenchorstift, das 1540
aufgehoben wurde und dann verfiel.
132 Daniel Fulda

hätten sie schon dort Vergebung ihrer Sünden und ein stilles Klosterleben sich
erwerben können.« (S. 192)
Unverkennbar geht es bei diesen Hinweisen nicht allein um eine weitere Detail-
lierung des szenischen Raums im Sinne einer ›gesprochenen Kulisse‹. Die Bestand-
teile der Landschaft, auf die die Figuren und mit ihnen die Leser bzw. Zuschauer
den Blick richten sollen, werden vielmehr mythisch überhöht (die Fähre nach
Kröllwitz als ein Charonsnachen), allegorisch und anagogisch ausgedeutet (die
Fähre als Lebensschiff, das dem jenseitigen Ufer zutreibt: gedenke, dass Du sterben
und vor den himmlischen Richter treten musst) bzw. mit geistlichen Gedanken über
die Sündenvergebung verbunden. Auch Ahasvers zuerst zitierte Blicklenkung zur
strömenden Saale hin verbindet den (verbalen) Pinsel des Landschaftsmalers mit
Gedanken über den Lebensweg des Menschen: »so treibt ein fester ernster Wille,
so kommt der Strom durch tausendfache Krümmen mit hundert andern ähnlicher
Gesinnung zum Meere, das sie dann all von dieser Erde Staub entführen kann.« (S.
185) Gemeinsam haben alle drei Ausmalungen der Landschaft um den Giebichen-
stein, dass sie sich aufs Pilgern und dessen Heilspotential beziehen, sei es ver-
gleichsweise wie Ahasvers und Olympies Verweise auf Strom und Fähre, sei es
kontrastiv wie Lysanders Hinweis auf die Vergebung, die früher schon in einem
nahen Kloster zu erlangen war.42
Was lässt sich als Ergebnis dieses Durchgangs durch die Schauplätze und
Raumbildungstechniken des Halle-Dramas festhalten? Es scheint Arnim sowohl auf
die exakte Situierung der Handlung in einem empirischen Raumgefüge anzukom-
men als auch auf die Überschreitung des bloß topographisch Deskriptiven. Letzteres
gilt vor allem für die Schluss-Szene auf dem Giebichenstein mit seinen Aussichten
auf die Saale (als topographisch Konkretes und Wiedererkennbares) sowie den
daran anschließenden Gedanken über das Pilgern (als Weg des Menschen zu seinem
geistlichen Ziel). Im zweiten Teildrama Jerusalem wird dieses Motiv dann aufge-
nommen und in den Vordergrund gerückt.43

4. Jerusalem oder der geöffnete Himmel

In Jerusalem haben wir es mit anderen Typen von Schauplätzen zu tun. Es fehlen
jetzt die konventionellen Dramenschauplätze Zimmer und Straße. Zudem kommen
keine lokalkoloristischen Schauplätze mehr vor, die der Autor aus eigener Ortkennt-
nis ausmalt und die auch das Publikum leicht als realitätsentsprechend erkennen
kann. Es fehlen also die beiden in Halle dominierenden Schauplatztypen ›neutraler
Raum, der sich überall befinden könnte‹ auf der einen Seite und ›konkreter Ort, der
leicht identifizierbar ist‹ auf der anderen. Stattdessen haben wir eine längere Reihe
von weder neutralen noch präzise lokalisierbaren Schauplätzen:

42
Allgemein zur Sakralisierung dargestellter Räume, besonders der Natur, in der romantischen
Literatur vgl. Rigby: Topographies of the Sacred.
43
Ehrlichs Befund, »beide Teile fallen strukturell auseinander, stehen sich antithetisch-korrespon-
dierend gegenüber« (Arnim als Dramatiker, S. 133), ist insofern zu modifizieren.
Himmel und Halle 133

– Das Oberdeck eines Pilgerschiffs (2. Szene,44 S. 199).


– Eine Felsenküste (4. und 5. Szene, S. 216).
– »Wüste in der Nähe prächtiger Ruinen« (7. Szene, S. 244), später ergänzt durch
»zwei Einsiedeleien«, die sich Cardenio und Celinde »aus Zweigen in den
Zweigen eines hohlen Baums« sowie »in dessen Höhlung« »erbaut« haben
(S. 246).
– »Ein Brunnen in der Wüste, an welchem ein weiblicher Kopf in Marmor aus
einem Röhrlein das Wasser ausströmen läßt.« (8. Szene, S. 252). Später ist in
den Bühnenanweisungen zudem von zwei Höhlen die Rede, aus denen weitere
Figuren kommen (S. 252f.).
Diese Stationen markieren den Weg, den Ahasverus, Cardenio und Celinde zurück-
legen müssen. Die drei ersten Stationen bestehen sämtlich aus unwirtlichen bis
bedrohlichen Räumen, die durchquert werden müssen: Im Meer, in das sie wie
weiland Jonas gestürzt werden (S. 209), drohen sie zu ertrinken, an der wüsten
Felsenküste hingegen zu verdursten (S. 218). Die Wende zur Erlösung markiert
dann der Brunnen in der Wüste. Drei weitere Schauplätze dieses Typs sind in
Jerusalem angesiedelt. Wiederkehrende Figuren sind nun Olympie, der Admiral
Sidney und weitere Engländer:
– »Der Harem des Bassa von Jerusalem« mit dem »Bassa am Schreibtische, seine
Frauen um ihn her, Verschnittene bestellen mancherlei Papiere an ihn.«
(9. Szene, S. 263).
– »Das Nonnenkloster in Jerusalem« mit »Olympie, [der] Äbtissin und viele[n]
Nonnen auf dem Altan, der von Weinreben beschattet ist und weit über die
Gegend hinausschaut.« (10. Szene, S. 268).
– »Eine Schmiede«, die als Herberge dient (12. Szene, S. 273).
Eine Stationenfolge wie bei der ersten Szenengruppe haben wir hier nicht mehr; da
alle Schauplätze der zweiten Gruppe in Jerusalem angesiedelt sind, kommt es nicht
mehr darauf an, einen Weg zurückzulegen – weder im räumlichen noch im über-
tragenen Sinne, denn die Zentralfigur dieser Szenen ist Olympie, die moralischste
Figur des Stücks. Gleichwohl sind die Schauplätze auch dieser Gruppe per se
signifikant dafür, ob sich die Figuren auf einem Heils- oder Unheilsweg befinden,
vor allem natürlich mit dem Kontrast von Harem und Kloster.
Halle weist, wie gesagt, noch nicht diesen Schauplatztyp eines von vornherein
geistlich indexierten Raumes auf. Er ist in hohem Maße semantisch aufgeladen,
erheblich stärker nicht nur als die ›neutralen‹ Räume Zimmer und Straße, sondern
auch als die topographisch identifizierbaren Räume in und um Halle (die Flussland-
schaft am Giebichenstein erhält erst durch die Figurenkommentare ihre Symboldi-
mension). Zusammengehalten wird die beschriebene Raumfolge vom Schiffsdeck
bis zur Herberge in Jerusalem durch Idee und Praxis der Pilgerfahrt.45 Unter dem
Gesichtspunkt der heilsnotwendigen Pilgerfahrt haben alle jene Räume von vorn-

44
In Jerusalem gibt es keine Akteinteilung und Szenenzählung. Stattdessen gibt es eine Szenen-
abteilung durch Übertitelung. Darauf bezieht sich die von mir vorgenommene Szenenzählung.
45
Vgl. Paulin: Gryphius’ ›Cardenio und Celinde‹ und Arnims ›Halle und Jerusalem‹, S. 107,
144f.
134 Daniel Fulda

herein einen Sinn, wie »grotesk«, »phantastisch« oder »surrealistisch« sie auch
gestaltet sind,46 sei es dass sie als zu überwindende Hindernisse, sei es dass sie als
Zeichen der Annäherung an das festgelegte Ziel wahrgenommen werden.
Dieses Ziel wird nicht erst mit der Golgatha-Reminiszenz der ersten Szene des
Jerusalem-Teils47 exponiert, sondern schon in der allerersten Szene, also auf dem
Hallischen Marktplatz bzw. im dort gelegenen Promotionssaal, wenn Cardenio
seine Disputation mit dem Philosophen Wagner durch den Beweis gewinnt, »das
Heil’ge Grab sei Mittelpunkt der Welt« (I,5, S. 64). Im Halle-Drama hat dies aber
noch keine praktische Bedeutung für Cardenio. Erst in der Schlussszene eignet er
sich seine theoretische Einsicht als handlungsleitende Maxime an. Für den aufmerk-
samen Leser hingegen gilt der Imperativ der Hinordnung des Lebens auf Christi
Tod und Auferstehung bereits während des gesamten »Studentenspiels«: Durch die
Bestimmung des Heiligen Grabes als »Mittelpunkt der Welt« ist der Spielraum des
Dramas und idealer Weise auch der Weltwahrnehmung der Rezipienten von
vornherein strukturiert oder genauer: zentralisiert, mit maximaler, nämlich globaler
Reichweite. Wenn die Handlung des ersten Stücks trotzdem doppelt um sich selbst
kreist – thematisch um Cardenios unbändige Liebesneigungen, räumlich um die
Stadt Halle –, so liegt dies letztlich daran, dass den Protagonisten die Orientierung
auf jenen Mittelpunkt der Welt fehlt. Im Grunde ist der Schauplatz Halle also von
vornherein als defizitärer Ort erkennbar: zum einen historisch-empirisch, weil seine
Universität seit gut einem Jahrhundert das deutsche Zentrum jener Aufklärung
bildete, die in rationalistischer Verkürzung meinte, sich allein an ihrer »Schlüsse
ungeheure[] Folge« halten zu können, und die Heilsbedeutsamkeit von Christi Tod
und Auferstehung negierte (so jedenfalls die Darstellung der »Aufklärung« in
Arnims Drama, vgl. I,5, S. 63f.),48 zum anderen theatralisch, weil gerade die
Realistik der drei vorgestellten Szenen auf die Bekanntheit dieser Orte weist – und
das heißt mit Blick auf geistliche Pilgerschaft: auf ein Verharren im altbekannt
Weltlichen. Als »Saalathen« (S. 215), als »die frohe Stadt voll Reichtum und voll
Jugend, voll Wissenschaft und Kunst« apostrophiert zu werden (S. 192), erscheint
als Manko, wenn all dies nicht zugleich auf die andere Stadt des Doppeltitels
hingeordnet begriffen und gelebt wird.
Die Wiedererkennbarkeit bekannter Realräume weist im Raumsystem des
Stücks auf ein geistliches Defizit. Gleichwohl hat auch Jerusalem drei Schauplätze,
die durch Eigennamen auf die Realität und ihre Räume verweisen:
– »Sidneys Admiralschiff ›der Tiger‹« (3. Szene, S. 213). Die Figur des Sidney
verweist auf den englischen Admiral William Sidney Smith, der 1798 den
französischen Angriff auf Palästina abwehrte.

46
Diese Aspekte betont an sich mit Recht Kremer: Durch die Wüste, S. 150.
47
»In Wolken und Nebeln erscheinen drei Kreuze, das mittlere trägt den Erlöser, sein Angesicht
ist hell erleuchtet, die beiden anderen Kreuze tragen die beiden Schächer; ein Schriftgelehrter
steht unter dem Kreuze im dicksten Nebel, in tiefster Dunkelheit.« (S. 199).
48
In der Figur des Waisenhäusers, der den Glauben ganz äußerlich versteht und letztlich nur an
seinen persönlichen Vorteil denkt (Halle I,2, S. 55, Jerusalem, 5. Szene, S. 224–225), wird
zudem auch der Hallische Pietismus als depraviert präsentiert. Dessen Praxisorientierung
erscheint hier als in eine Verengung des geistigen und geistlichen Horizonts umgeschlagen.
Himmel und Halle 135

– »Acre. Gang an einer der abgelegeneren Stadtmauern, auf welcher Wachen


ausgestellt sind; der Mauer gegenüber sehen wir einen von Kugeln durch-
löcherten prachtvollen Gartensaal; das Marmorbad in seiner Mitte haben die
Engländer mit Punsch gefüllt; ein kleines Kind mit Flügeln fährt auf einem
zierlichen Kahne darauf umher und schenkt ihnen ein; eine Abteilung sitzt an
einem runden Tische und singt.« (6. Szene, S. 230) Acre (frz.), Akko (bibl.)
oder Akka (arab.) ist nicht nur der traditionelle Hafen für Jerusalem-Pilger,
sondern auch die Stadt, an deren Mauern der französische Angriff aus Ägypten
scheiterte. Als Niederlage, die letztlich Napoleon erlitt, handelt es sich zum
Erscheinungszeitpunkt des Dramas um ein nahezu zeitgenössisches Ereignis von
erheblicher Signalwirkung und entsprechender Bekanntheit. Die zitierte Szenen-
anweisung lässt indes wenig Ehrgeiz in der Detaillierung des historischen
Ereignisses erkennen. Wichtiger ist offensichtlich die Charakterisierung der
englischen Soldaten, nämlich dass sie dem Ernst der Stunde nicht gerecht
werden (die nächste ausführlichere Szenenanweisung ergänzt ihre Punschselig-
keit durch Liebeleien mit einigen Haremsdamen, S. 231). Dass Acre nicht
anders als der Hallische Markt oder der Giebichenstein ein in der Realität
lokalisierbarer Schauplatz ist, besagt nicht viel: Es geht nicht um die Ver-
ankerung der Dramenhandlung in einem mehr oder weniger bekannten (Real-)
Raum, sondern um die moralisierende Kommentierung eines historischen
Ereignisses und dessen Einfügung in die Stationenfolge einer Pilgerfahrt, denn
Lysander und Olympie treten in dieser Szene als pflichtbewusste Kämpfer auf,
die zu jener Aufopferung bereit sind, die die englischen Soldaten versäumen.
– »Nacht in der Kirche des Heil’gen Grabes.« (11. Szene, S. 271) »Die Kirche des
Heiligen Grabes« (13. = letzter Auftritt, S. 281). Nach dem bisher zu den
verschiedenen Raumtypen Gesagten dürfte klar sein, dass dieser Schauplatz
besondere Darstellungsschwierigkeiten bereiten musste: Auf der einen Seite
handelt es sich um einen realen, auch für die Leser oder Zuschauer erfahrbaren
Raum, obschon kaum jemand diese Erfahrung tatsächlich machte. Auf der
anderen Seite stellt das Hl. Grab den Zielort sowohl der pilgernden Figuren als
auch der Sinnbewegung des gesamten Stücks dar; dieser Ort ist also extrem
sinnbefrachtet. Wie lässt sich dies darstellen?
Jerusalem als das unserem Heilsweg anempfohlene Ziel wird, bereits bevor der
Schauplatz dahin wechselt, als leuchtendes, als weithin sichtbares Ziel beschrieben.
»Bald seid ihr da, schon könnt ihr’s sehen«, heißt es in der »Die Aussicht nach
Jerusalem« betitelten Szene (S. 252). Schon sein »Anblick stärkt die Müden [Pilger,
D. F.]« (ebd.). Der Anblick der Heiligen Stadt wird von den Figuren extensiv bis
ekstatisch geschildert; Zitat Cardenio: »Kaum glaub’ ich meinen Augen, im ernsten
Tale schimmert eine Christenstadt, bezeichnet mit dem Kreuz auf weiten Trüm-
mern, und […] jeden Gipfel krönen die Kapellen.« (S. 257, das Drama präsentiert
Jerusalem mithin als christliche Stadt; als heilige Stadt der Juden oder gar Muslime
wird Jerusalem ebensowenig anerkannt wie diese Religionen insgesamt). Ausge-
rechnet Ahasverus, der ewige Jude, bestätigt, und zwar in visionärer Vorwegnahme
der tatsächlich erst fünf Szenen später geschafften Ankunft: »hier ist er gestorben,
hier ist sein Grab, hier wird sich alles lösen, was noch geheimnisvoll dein Dasein
136 Daniel Fulda

hat umhüllet«.49 Cardenio und Celinde fordert er auf: »seht nach Jerusalem, die
langersehnte Stadt, dort ziehen wir bald friedlich ein.« (ebd.) Imperative, auf
Jerusalem zu schauen, folgen nun in hoher Dichte. Immer wieder heißt es »sieh« (S.
268f., viermal), »schau«, »zeig mir« (S. 293), »seh[e]t« (S. 297, sechsmal) usw.
(»Blicke«, S. 287). Das Ziel der Pilger ist Christi Grab, weil nur hier ihre Seelen zur
Ruhe kommen können. Auch dies bezeugt bereits die äußere Erscheinung der
Grabeskirche; wie ein namenloser Reisender zu berichten weiß: »Ihr glaubt nicht,
welch ein Anblick durch dies Dunkel dringet. Ernst rötlich schimmert durch die
hohen Fenster der Grabeskirche Licht, rings schwanken all die Lichter der Men-
schen, die durch alle Straßen schweifen, die Sterne selbst, sie schimmern zweifel-
haft daneben.« (S. 274)
Sichtbarkeit wird vielfach beschworen und hat durchweg Bedeutung, im Fall
Jerusalems und des Heiligen Grabes: höchste Bedeutung. Das Heil der Menschen
hat einen Ort, und es tritt räumlich in Erscheinung.50 Allerdings gewinnt diese
Sichtbarkeit für den in Arnims Drama eingeschriebenen Zuschauer kaum Materiali-
tät. Die detailreiche konkrete Sichtbarkeit, die die hallespezifischen Szenen des
ersten Teils entwerfen, ist für die Heilsorte des zweiten Teils nicht vorgesehen. Die
vielen »siehe«- und »seht«-Imperative muss der Zuschauer oder Leser in Raumima-
ginationen umsetzen. Und auch die Figuren müssen am Ende die Erfahrung ma-
chen, dass das mit Christi Tod und Auferstehung verbundene Heil den Bereich des
Sichtbaren übersteigt. In den wichtigsten Raum des Doppeldramas, die Grabeskir-
che, treten sie zwar ein, jedoch um auf Unzugängliches zu stoßen: Sobald sie das
Ziel erreichen, das sie vor Augen hatten (zunächst metaphorisch, dann konkret),
gelangen sie zugleich an eine Grenze von Sichtbarkeit. Zu sehen ist schließlich nur
noch »ein blendendes Licht« (S. 289). Das ist zwar ein Zeichen von höchster
Leucht- und Strahlkraft – das jegliche Sichtbarkeit von Konkretem, von Körpern
im Raum aber aufhebt. Zugleich öffnet sich ein neuer Raum – das Paradies (S. 292)
–, der aber ebensowenig theatralisch darstellbar wie Lebenden zugänglich ist. Auf
die Weite von »Gottes Barmherzigkeit« weist auf Erden (und auch das ist fast schon
ein Paradox) allein »der Himmel über uns« (S. 247). Dessen Unendlichkeit kann

49
Zur Ahasver-Figur und der damit verbundenen Adressierung des Doppeldramas an »die Juden«
(so eine zunächst für den Titel vorgesehene Zueignung) vgl. Ricklefs: ›Ahasvers Sohn‹, S. 146,
167–180.
50
Dem Befund Detlef Kremers, dass in Arnims Doppeldrama »eine Enträumlichung des histori-
schen Ortes zugunsten eines entgrenzten Raumes zu beobachten« sei (Durch die Wüste, S.
155), kann ich mich daher nicht voll anschließen. Die Grabeskirche weist als Schauplatz
keineswegs jene »Uferlosigkeit« auf, die Kremer zufolge in Jerusalem vorherrschend wird
(ebenda): »Die Reise geht über das Meer und die Wüste, um sich am Himmel zu vollenden:
allesamt unbegrenzte Orte par excellence« (S. 156). Den finalen Schauplatz Grabeskirche spart
er in dieser Reihung bezeichnender Weise aus. Hier aber kommt die »unendliche Verschie-
bung« der Räume, die Kremer in den Schauplatzwechseln am Werk sieht, an ihr sinnstiftendes
Ziel. Die Öffnung ins Unendliche wiederum, die tatsächlich dort stattfindet, wechselt die
Dimension, indem sie den Himmel, das Unsichtbare, das ewige Leben, die Transzendenz mit
einbezieht. Von der ›schlechten Unendlichkeit‹ des Meeres oder der Wüste unterscheidet sich
die Unendlichkeit des Heils fundamental.
Himmel und Halle 137

gerade noch angesprochen, nicht aber räumlich erfahrbar gemacht werden, nicht
einmal auf dem Theater.
Dass die topographische Konkretion von Halle nach Jerusalem rapide abnimmt,
hat demnach letztlich religiöse Gründe. »Was ist das Licht, das aus dem Grabe
steiget, gegen jenes, das allen Gläubigen aus seinem Tod im Herzen flammet, dies
alles, was Ihr seht, ist nur ein Bild des innern Lebens«, erläutert der Guardian der
Grabeskirche und fügt hinzu: »selig sind, wie Christus spricht, die glauben und
nicht sehen« (S. 284).51 Gemessen an dieser traditionell abendländisch-christlichen
Abwertung des Sichtbaren gegenüber dem Geistigen, ist Arnims Drama freilich sehr
bildreich und gar nicht auf optische Askese aus. Und es wäre ein Missverständnis,
im Konkreten allein das defizitär Profane zu sehen. Das Konkrete, »was die Sinne
reizt« mit seinen »wunderbarlichen Geschichten« (S. 285), stellt sich vielmehr als
unausweichlicher Ausgangspunkt der – ebenso nötigen – Pilgerschaft in eine Weite
jenseits aller Räume dar. Halle und Himmel sind zwar extrem gegensätzliche
Räume, aber durch einen Weg verbunden, der über Jerusalem führt.
In einem Chorwettstreit ganz am Schluss des Doppeldramas wird die prinzipielle
Nicht-Identität, aber auch die mögliche Zusammengehörigkeit von Sehen und
Glauben noch einmal inszeniert: »Ich will sehen / Und will glauben«, kontert der
Gegenchor die Entbehrlichkeitserklärung des Schauens, wie der Guardian sie aus
der Geschichte vom ungläubigen Thomas zitierte (S. 296). Poetologisch verstanden
ist das die Position, auf der Arnims Drama insgesamt steht. Denn auch der Halle-
Teil ist als Bekenntnis zu verstehen, und zwar weniger als geistesgeschichtliches
oder autobiographisches denn als ästhetisches.

51
Vgl. Joh 20, 29.

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