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von Racine und Corneille anregen ließ. Andererseits hat er entschieden gegen den von
Dubos (u. a.) vertretenen Rhetorismus in der Wirkungsästhetik Stellung bezogen. Wolfgang
Benders Untersuchung (53 ff.) zeigt, wie Lessing auch hier durch eine Reinterpretation der
klassischen Texte (z. B. Quintilians) zu Ergebnissen kam, die seine Zwischenstellung im
Kampf der Paradigmen gestärkt haben.
Lessing im europäischen Zusammenhang — das heißt auch: seine Spuren in außerdeut-
schen Literaturen aufsuchen. Dazu bietet der vorliegende Band nur die Beiträge von Klaus
Bohnen (305 ff.) und Sven-Aage Jorgensen (315 ff.) über Dänemark sowie von Reinhard
Lauer über Rußland (325 ff.). In Dänemark setzte die Lessing-Rezeption relativ spät ein und
konzentrierte sich vor allem auf den Literaturkritiker und Dramaturgen. Die Gebildeten
Dänemarks erkannten ihn im XVIII. Jahrhundert auf diesen Gebieten als Autorität an. In
religiösen Fragen galt er als Häretiker und wurde abgelehnt. Im XIX. Jahrhundert haben
sich Grundtvig und Kierkegaard in einen theologischen Disput mit Lessing eingelassen.
Lessing ist überholt, schrieb Kierkegaard, „eine verschwindend kleine Station an der welthi-
storisch-systematischen Eisenbahn". Und doch hat der Däne ihn im Streit um die Geltung
religiöser und historischer Wahrheiten als Gewährsmann zitiert. Er schätzte, wie Jorgensen
zeigen kann, an Lessing das Eintreten für den subjektiven Modus der religiösen Erfahrung. —
Lessings Rezeption in Rußland orientierte sich vor allem am Dramatiker, Fabeldichter und
Literaturtheoretiker. Umfangreichere Übersetzungen seines Werks erschienen erst im letzten
Viertel des XIX. Jahrhunderts, seit 1904 liegt eine lObändige russische Ausgabe vor, die
nach wie vor als die beste gilt.
Unser Sammelband schließt mit Beobachtungen von Guy Stern (344 ff.) über Lessing
als dramatis persona und einem Bericht über die Schlußdiskussion jener Tagung, der
die Beiträge zu verdanken sind. Dieser Bericht bestätigt noch einmal die vergleichsweise
bescheidene Bedeutung Lessings für die e u r o p ä i s c h e Ideengeschichte. Seine übernationale
Wirkung war, darüber sind sich die Teilnehmer einig, begrenzt. Das ändert jedoch nichts an
der singulären Bedeutung, die er als Aufklärer im nationalen Kontext gespielt hat.
Dietrich Harth

Stephan Koranyi: Autobiographik und Wissenschaft im Denken Goethes, Bonn


1984 (Abh. zur Kunst-, Musik- und Lit.wiss., Bd. 352); 363 S.
Richard N. Coe: When the Grass Was Taller — Autobiography and the Experience
of Childhood, New Häven and London (Yale University Press) 1984; 315 S.
Janos Szävaj: The Autobiography, transl. by Zsuzsa Rakowsky, Budapest 1984
( = St. in Modern Philol. I); 236 S.

Läßt sich die Autobiographie als entwicklungsgeschichtlich orientierte Form der Selbst-
darstellung aus dem Medium produktiv wirksamen, oft .übermalenden', Kontinuität und
Einheit stiftenden Erinnerns von anderen Formen der Selbstdarstellung wie den Memoiren
und Denkwürdigkeiten, die auf die Zeugenschaft an den äußeren und Weltbegebenheiten
hin ausgerichtet sind, noch einigermaßen deutlich unterscheiden, so stoßen wir rasch auf
neue Schwierigkeiten, wenn wir uns den Formen autobiographischer Darstellung zuwenden,
die nicht im strengen Sinne der Autobiographie als der erzählten Zeugenschaft des eigenen
Werdens zuzuschlagen sind: Brief und Tagebuch, Reisebeschreibung, Erinnerungsfragmente
und damit nicht selten verknüpfte Selbstkommentare behaupten ihr Recht, ohne schon eine
völlig eindeutige Definition fordern zu dürfen. Zuweilen treten noch von fremder Hand
aufgezeichnete Gesprächsnotizen hinzu, in denen viel Selbsterklärung und -darstellung dessen
stecken mag, der hier zu Worte kommt, so daß man einmal die Frage wird stellen dürfen,

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Rezensionen 97

ob Eckermanns Gespräche mit Goethe wirklich der bedeutende Selbstkommentar des alten
Goethe sind, als der sie noch immer zitiert werden, oder ob man sie nicht besser als das
Tagebuch Eckermanns aus seinen mit Goethe verbrachten Jahren betrachtet oder gar als
eine Dichtung Eckermanns — die einzige, die ihm geglückt ist.
Wie vielfältig die Formen autobiographischer Erhellung besonders bei Goethe sind, der
sich Eckermanns gewiß nicht als ein Sprach- oder Schreibrohr der Selbstdarstellung hat
bedienen wollen, ist bekannt und, wenn man sich darauf einläßt, auch einigermaßen verwir-
rend, wie fesselnd es auch sein mag. Dieser verführerische Zwiespalt könnte der Ausgangs-
punkt für Stephan Koranyis Untersuchung — eine Münchner Dissertation — über Autobiogra-
phik und Wissenschaft im Denken Goethes gewesen sein. Denn es geht dem Vf. nicht um
„Dichtung und Wahrheit", sondern um autobiographische Zeugnisse und autobiographisches
Verfahren im weitesten Sinne, einschließlich der historisch-biographischen Rückblicke und
Konfessionen, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit Goethes wissenschaftlichen Arbei-
ten. Was ein wenig als eine Marotte des alternden Goethe gelten konnte, wird hier auf
überzeugende Weise geprüft und beleuchtet, es wird durch die Zusammenhänge, in denen
es der Absicht Goethes zufolge steht, auch gerechtfertigt. Das geschieht auf eine so kompe-
tente, ja überlegene Weise, daß man die Untersuchung mit Vergnügen, zuweilen gar mit
Spannung liest. Das Interesse Goethes an Autobiographie und Biographie hängt, wie Vf.
richtig beobachtet, mit dem Faktum eng zusammen, daß das Wissenschaftverständnis bei
Goethe als Teil eines auf alles Lebendige bezogenen Erkenntniswillens, von der Person, die
hier fragt und forscht, als einem anteilnehmenden Subjekt nicht abzulösen ist — was übrigens
Objektivität keineswegs ausschließen muß. Goethes wahrhaft .lebendiges Denken' weiß das
Subjekt (eben deshalb!) nicht auszuklammern, und hier liegt der Grund für seine Wendung
gegen eine seit dem XVIII. Jahrhundert verstärkt hervortretende Wissenschaftskonzeption,
die man vereinfachend als mechanistisch und quantifizierend bezeichnen kann. So bemerkt
Vf. (66): „Ist die Achtung vor den Leistungen der Naturwissenschaften und der Technik im
Hinblick auf Humanisierung keineswegs auch heute mit einer ,rousseauistischen' Handbewe-
gung abzutun: das Unbehagen, daß diese sich exakt nennenden Wissenschaften dasjenige
nicht mehr im Griff haben — theoretisch wie praktisch —, was bereits realiter unabsehbare
Folgen zeitigt, dieses Unbehagen wächst heute an (...)".
Kunst, Natur und Gesellschaft werden im Spätwerk Goethes, aus dem die naturwissen-
schaftlichen Schriften nicht mehr ausgeklammert werden sollten, gleichermaßen thematisch.
Was in diesem Zusammenhang auch Geschichte heißen kann, ist wesentlich biographisch
und autobiographisch, was aber nicht bedeutet, daß sie auf das Private reduziert werden
soll: „Goethesches Geschichtsdenken zeichnet sich nämlich dadurch aus, daß es seinen
eigenen Standpunkt mit in die Darstellung einbringt, und diese Form der wissenschaftlichen
Selbstreflexion im sozialen wie im intellektuell-bescheidenen Sinn offenbart sich aufs schönste
am Schluß der Geschichte der Farbenlehre, in der autobiographischen Schrift Konfession des
Verfassers" (99). Der Italien-Aufenthalt markiert auch in dieser Hinsicht die große Zäsur im
Dasein und im Denken Goethes: „Denn die Zeit des Schönen ist vorüber, nur die Noth
und das strenge Bedürfnis erfordern unsre Tage", schreibt Goethe am 5. 10. 1786 an Frau
von Stein. Mehr und mehr treten die Wissenschaften für ihn in den Vordergrund, die er
keineswegs nur dilettantisch betrieb, wie man das so oft vernehmen konnte, mit der
wohlwollenden Entschuldigung dazu, er habe die Natur halt als ,Poet' betrachtet. Schließlich
wird ja auch Goethes Stil immer objektiver, immer spröder — und dies, wie Vf. zeigt, nicht
einfach im Sinne dessen, was man Goethes Altersstil genannt hat.
Wie das Subjekt zum beobachteten Phänomen, gehört ihre Geschichte auch zur Wissen-
schaft (71); schließlich verbindet Goethe konsequent auch Wissenschaftsgeschichte mit auto-
biographischer Darstellung (110). Also wird hier nicht allein Goethes autobiographische
,Marotte' ernstgenommen, sondern auch sein naturwissenschaftliches, sein gegenständliches
7 arcadia 22
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Denken: „Denn erst das konkrete Eingehen auf die Geschichte des Individuums und nicht
die Einteilung der Menschheit in starre Taxonomien fördert die Darstellung dessen zu Tage,
was Goethe mit Recht ,Charakter' heißt: die Natur des Menschen" (92). Die autoreflexive
Vorgehensweise also erscheint hier als ,Autobiographik' und ist charakteristisch für Goethes
Forschung. Sie hängt mit seiner Vorstellung, seinem Wissen von Erkenntnis zusammen, das
man nicht einfach subjektiv nennen darf, sondern darauf gründet, daß die Einsichten und
Erkenntnisse immer die eines Subjektes sind, weshalb die Darlegung der subjektiven Mo-
mente Voraussetzung für Objektivität heißen darf, nicht etwa die sog. Auslöschung des
Subjekts vor dem Gegenstand. Die Romantik, Novalis vor allem, sollte ihm hierin beipflich-
ten, wie es vielleicht das einzige Manko (oder eher Desiderat) dieser Untersuchung ist, daß
die Beziehungen sowohl zur romantischen Naturwissenschaft als auch zu Alexander von
Humboldt völlig ausgeblendet sind. Aber es ist offenkundig, daß sie den Rahmen dieser
Arbeit gesprengt hätten. Freilich geht Goethe in Organisation und Strategie seiner Naturfor-
schung über die Romantik hinaus: Die gewonnenen Kenntnisse werden als Momente der
Geschichte von Wissenschaft begriffen und so zum Medium notwendiger Traditionsbildung
gemacht (127). Das Historische wird so dem Didaktischen übergeordnet, und über das
jeweils Subjektive greift Goethe hinaus zu Formen gemeinsamen Wirkens, so daß man wohl
von einer „Sozialisierung der Denk- und Arbeitsformen" (135) sprechen kann.
Zuweilen scheint Vf. die Momente des Autobiographischen zu überschätzen und zu
rasch mit dem Begriff der Autobiographie im engeren Sinne zu identifizieren, wo doch die
Funktion eine andere ist; richtig aber ist, daß die beschriebenen Entstehungsbedingungen
autobiographischer Arbeiten selbst wieder autobiographische Reflexion auf autobiographi-
sche Schriften darstellen (176). Paradoxerweise kann man gleichzeitig von einer „Entthroni-
sierung des Subjekts" (182) sprechen wie von einer Auflösung des überlieferten Werkbegriffs,
so daß ein Funktionswandel der Autobiographie sich ankündigt: Sie rückt mehr und mehr
in anthropologische Zusammenhänge, weshalb sie als repräsentativ gesehen werden muß,
mehr noch: indem Goethe „in der Komposition der Autobiographie die produktive Rezep-
tion mitdenkt, überwindet er die Historizität einer einmaligen Rezeption" (267).
Eine solche Untersuchung verdienstvoll zu nennen, wäre abgeschmackt, eher darf man
sie als mutig bezeichnen; fast immer fesselnd, selbständig auch dort, wo er sich auf genaue,
spezialisierte Vorarbeiten, so vor allem von Dorothea Kuhn, stützen kann, gewährt Vf.
Einblicke in manches, was wenig beachtet oder verkannt geblieben war und belehrt uns so
auf eine unprätentiöse Weise. —
Kindheit als Erfahrung steht im Zentrum der materialreichen Darstellung von Richard
N. Coe: When the Grass Was Taller — Autobiograpby and the Experience of Childhood. Vf. wertet
vor allem amerikanische, englische, australische, aber auch französische und russische Quellen
aus dem XIX., insbesondere aber aus dem X X . Jahrhundert aus, wobei es ihm aber nicht
in erster Linie um die Gattung Autobiographie und den Wandel von Selbsterfahrung und
-darstellung geht, sondern um das Phänomen Kindheit: „Essential to the argument of the
present study is the contention that the Childhood differs from Standard autobiography in
that it is not so much an attempt to 'teil' the story of a life, as to recreate an autonomous,
now vanished seif which formerly existed in an alternative dimension: a 'magical' or 'play'
dimension, controlled by concepts and rules, not necessarily incompatible with, but nonethe-
less essentially different from those which dominate the more rational and pragmatically
oriented life of the adult" (293). Das ist plausibel, und Kindheit in der Autobiographie ein
faszinierendes Thema, das überhaupt erst seit dem XVIII. Jahrhundert an Bedeutung
gewinnt: Rousseau spricht noch vergleichsweise wenig von seiner Kindheit, anders als Jung-
Stilling, Karl Philipp Moritz oder Goethe, aber eine Überbetonung und Verklärung der
Kindheit, wie sie z. B. deutsche Autobiographien des XIX. Jahrhunderts (Wilhelm von
Kügelgen, Ludwig Richter, Bogumil Goltz, Peter Rosegger, in gewisser Weise sogar Theodor

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Fontane) zeigen, kann leicht zur erinnerungsträchtigen Flucht in die tröstende Idylle werden;
überdies gerät dann rasch us dem Blick, was aus der Kindheit fortwirkt in die Jahre des
Wachstums und der Reife, denn das Verlorene ist sowohl verloren als auch gegenwärig in
seiner oft nicht bewußten Nachwirkung. „Die ganze Generation von Ichs" (Lichtenberg) ist
ja nicht einfach abgestorben und ersetzt worden, die Identität liegt in der Nicht-Identität,
wie paradox das auch erscheinen mag. Sehr genau und übersichtlich gliedernd verfahrt
Vf., dominiert die Stoffmassen und behandelt die einzelnen Texte nebeneinander nicht in
ausführlichen Einzelanalysen, sondern zitiert diese, wo sie für die übergeordneten Fragen
zum Exempel werden. Diese Fragen aber sind: Unschuld und Erfahrung; Wahrheit, Erinne-
rung und Kunst; Mythos, Bedeutung und Magie; das Bild des Künstlers mit Familie und
Freunden; das Bild des Künstlers unter allegorischen Gestalten; schließlich das Inventar
einer kleinen Welt. Es folgt ein Ausflug in die Theorie und die Zusammenfassung: Kindheit
als Mythologie und Dichtung.
Diese Darstellung ist reich an Einsichten (nicht nur an Material), und man folgt dem
Vf., der schreibend Sympathie zu wecken versteht, durchaus gern in seiner Darstellung.
Bedenken erheben sich erst angesichts der These, es sei die dargestellte und erinnerte
Kindheit nicht Bestandteil einer Autobiographie, sondern sozusagen ein literarisches Genus
eigener Art. Nun ist die Erfahrung von Kindheit gewiß einzigartig und unwiederholbar,
das zeigt Vf. sehr genau. Gilt dies aber auch in der Weise, daß die Darstellung der
Kindheit als literarische Form einzig ist? Memoiren und Autobiographie lassen sich, bei allen
Übergängen und möglichen Überschneidungen, sehr wohl sondern, aber gilt dies auch für
Kindheit und Jugendgeschichte? Nicht zufällig wird für den Vf. auch die Sonderung von
real-autobiographischen und fiktionalen Zeugnissen immer wieder problematisch. Fiktion
mag sich sehr wohl von Autobiographischem nähren, wird darum die Autobiographie, wie
sehr das Erinnern verfärbend wirken mag, dann zur Fiktion? Das sind wohl Fragen, die
immer neu, von Fall zu Fall, entschieden werden müssen. Doch steckt ein gewisses Maß
von Fiktion in jeder Autobiographie, was in den Memoiren, die oft im Dienste der
Selbstrechtfertigung stehen, rasch zur Lüge wird.
Deutsche Texte werden, leider, fast nicht behandelt, so erscheint Stendhals Vie de Henry
Brulard als erstes vollkommenes Beispiel der Darstellung von Kindheit (298), von den Russen
vermißt man Pjotr Jakir und Viktor Sklovskij, um nur zwei Beispiele zu nennen. Kein
Zweifel auch, daß im deutschen Bereich weniger bei Carossa als vielmehr bei Walter Benjamin,
aber auch bei Rudolf Borchardt und Elias Canetti wichtige Beispiele für die Erfahrung von
Kindheit zu finden gewesen wären. Das aber ändert nichts an der Tatsache, daß wir es mit
einem anregenden und wichtigen Buch zu tun haben. —
Von autobiographischer Literatur in weniger .reduziertem' Sinne handelt auch Jänos
Szävai in seiner auf die Merkmale der Gattung sich richtenden Studie The Autobiography, in
der vor allem Autobiographien des XX. Jahrhunderts behandelt werden. Aber für die
Gattungsbestimmung geht Vf. auch auf Augustinus, Renaissance-Autobiographien und
solche des XVIII. Jahrhunderts ausführlich ein; auch die Abgrenzung von verwandten
literarischen Gattungen wie Chronik und Memoiren erfolgt auf klare und überzeugende
Weise (10). Doch ist die Basis, von der her die Gattungsbestimmung vorgenommen werden
soll, relativ schmal, so daß es nicht selten zu voreiligen Verallgemeinerungen und Fehlein-
schätzungen kommt (so über das Tagebuch, 11), wie auch die neuere Forschung, zumal aus
dem deutschen Bereich 1 nicht berücksichtigt wird, die dem Vf. doch gelegentlich hätte
weiterhelfen können.

1 Klaus Detlev Müller: Autobiogr. und Roman, Tübingen 1976; Günter Niggl: Gesch. der dt.
Autobiogr. im 18. Jh., Stuttgart 1977; Peter Sloterdijk: Lit. und Organisation von Lebenserfah-
rung, München 1978.

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Die Bestimmungen, die Vf. findet, sind zweifellos richtig: Autobiographie als „a
narrative written in the first person singular, relating the author's own life from a comparati-
vely wide perspective" (13) und „situated at the point where narration and introspection
meet" (18). Dem Urteil über die Autobiographie der Renaissance kann man nur dann
zustimmen, wenn man sich auf Cellini beschränkt und Cardano beiseite läßt (28), aber gerade
das sollte man nicht tun; auch die Selbstdarstellung Montaignes in seiner Denkbewegung
wird nicht hinreichend erfaßt. Die Bedeutung Rousseaus in diesem Zusammenhang ist
freilich zu offenkundig, um verkannt zu werden, aber die advokatorischen und apologetischen
Elemente der Confessions entgehen dem Vf. leider. Zu fragen ist auch, ob der Roman wirklich,
wie Vf. meint, der Autobiographie vorausgeht, so daß diese, etwa bei Rousseau, sich seiner
Form, seines Musters bedient (34) — der pikarische Roman als Ich-Erzählung ist vielleicht
eher der Autobiographie des XVI. Jahrhunderts verpflichtet als diese ihm. Bedauerlich ist
auch, daß dem Vf. der deutsche Bereich mit Ausnahme Goethes fremd geblieben ist, er hätte
sonst einige Urteile leicht modifizieren können. Von Goethe nun führt uns Vf. in einem
kühnen großen Schritt zu Gorki, wobei leider Stendhal übergangen wird, wie auch Fontane
und Henry Adams, nicht aber der autobiographische Zwitter Tolstois. Dabei interessiert ihn,
seiner Intention entsprechend, nicht nur der Stoff, sondern Form, Perspektive, Erzählhaltung,
und die Suche nach Kriterien ist durchaus erfolgreich, auch wenn man nicht so weit gehen
sollte, wie einmal geschieht: „The very existence of the autobiography as a genre makes
literature itself questionable" (77); das kann wohl nur heuristisch und provozierend gemeint
sein, sonst wäre es Resultat eines dogmatischen Realismus, den Vf. sonst doch nicht vertritt.
Eher wird der Realgehalt der Autobiographie fragwürdig werden: Ist nicht die Erinnerung
an die Einbildungskraft geknüpft? Ist das Erinnern nicht auch ein .Erfinden'? Eben das
hängt ja wieder damit zusammen, daß, wie Vf. richtig feststellt, die Autobiographie dadurch
gekennzeichnet ist, daß Held und Erzähler nicht (mehr) identisch, daß sie getrennt sind
(117). — Vf. handelt dann weiter von ungarischen Autobiographien, die bei uns leider
unbekannt sind, von André Gide (Si le grain ne meurt), den er in die Tradition Rousseaus
stellt, und von Jean-Paul Sartre (Les Mots), der durch Abstand und Kritik zu einem Zerstörer
der Mythen wird: die sog. Unschuld des Kindes ist eine Fiktion. Doch von der Auflösung
des bürgerlichen Individuums, die schon bei Nietzsche sich ankündigt, ist nicht mehr die
Rede. So werden denn auch Gertrude Stein und Virginia Woolf leider ausgeklammert, das
Interesse des Vf. wendet sich Tibor Déry, Simone de Beauvoir und André Malraux zu,
obschon bei den beiden letztgenannten Autoren die Autobiographie in Memoirenliteratur
übergeht. Ob es sich bei den „Antimémoires" wirklich um die Herausbildung eines neuen
Genres handelt (208), sei dahingestellt. Abschließend behandelt Vf. dann noch einige sog.
,naive Autoren' aus Ungarn, die ihn als Dokumente, nämlich als Zeugnisse für „sociographi-
cal authenticity" (221) interessieren. In einem knappen Ausblick ist von der Zukunft der
Autobiographie die Rede; Peter Weiss und Max Frisch werden genannt, nicht aber Elias
Canetti. Die Frage nach der Zukunft des Genres wird sodann wie folgt beantwortet:
„Although its possibilities are much more limited than those of the other prose genres,
partly because of the very nature of its subject matter, it can still enlarge its boundaries in
a considerable degree (...) What is more difficult is that — as I tried to point out — the
autobiography is a genre closely linked to the age, or more exactly, to a transitory period. —
Readers and writers turn to it because the situation of the individual having become more
complex, a person, looking for his proper place in society and a way of life in the changing
world, feels it always instructive to put down the history of his struggles or to compare his
own problems with similar ones expressed in a work of literature" (235). Dem ist nicht zu
widersprechen, dem ist auch nichts hinzuzufügen.
Ralph-Rainer Wuthenow

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