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Literatur als Experiment 1

Erich Kleinschmidt

Literatur als Experiment.


Poetologische Konstellationen der ›klassischen
Moderne‹ in Deutschland

Der Begriff des Experiments ist der vormodernen Literatur fremd. Sein me-
thodischer Ort ist seit Roger Bacon die empirische Erprobung eines theore-
tisch postulierten Sachverhalts im Kontext der Erfahrungs- bzw. Experimen-
talwissenschaften.1 Das erschien vor allem mit einer literarischen Praxis
unvereinbar, die auf eine nachahmend angelegte Regelpoetik reflektierte.
Aber auch deren genieästhetische Verabschiedung löste die Literatur nicht
vom Prinzip normativer Produktionsregeln. Erst die Frühromantiker pro-
klamieren eine »Erfindungskunst«,2 die kombinatorische Darstellung in
Analogie zum naturwissenschaftlichen Experimentieren andenkt. Im weite-
ren Verlauf bleibt das für die literarische Praxis weitgehend folgenlos. Erst in
den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts setzt eine mentale Rezeption
experimenteller Verfahren durch die Literatur wieder ein, wobei weniger die
literarische Gestaltungsweise als der funktionale Diskursort des Experimen-
tellen eine Rolle spielt.3

1 Der aktuell praktizierte Begriff der Erfahrungswissenschaft nimmt auf, dass bis in die
Renaissance hinein lat. experimentum als ›Versuch‹ bedeutungsidentisch mit expe-
rientia gewesen ist, das seinerseits dann aber auch metonymisch schon im klassischen
Latein zur ›Erfahrung‹ wird. Vgl. J. Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philo-
sophie. Basel 1972, Bd. 2, S. 868 (Artikel ›Experiment‹ von G. Frey). Vgl. zur Ent-
wicklung auch Lorenz Diefenbach: Glossarium latino-germanicum mediae et infi-
mae latinitatis. ND Darmstadt 1997, S. 218, s. v. experimentum mit der Glossierung
›Erfahrung‹, aber auch ›Erkenntnis‹. – Das 19. Jahrhundert bevorzugte den Begriff
der Experimentalwissenschaft. Vgl. charakteristisch um 1900 dazu: Meyers Großes
Konversationslexikon. Leipzig, Wien 1905, Bd. 66, S. 220.
2 Vgl. dazu Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Ders.: Schriften. Hg. von Paul
Kluckhohn, Richard Samuel. Stuttgart 1968, Bd. 3, S. 387, Nr. 648: »Eine sichtbare
Architektonik – und Experimentalphysik des Geistes – eine Erfindungskunst der
wichtigsten Wort und Zeichen Instrumente lässt sich hier vermuthen.«
3 Die Forschungslage zum Experimentellen in der Literatur hat noch zu keiner Zusam-
menfassung von Geschichte und Begriff geführt. Vgl. dazu zuletzt Georg Jägers Ar-
2 Erich Kleinschmidt

Er steht in bewusster Opposition zum jeweils Geläufigen und Bewähr-


ten, an dessen Stelle der ›Versuch‹ tritt. Ob er erfolgreich und überzeugend
ist, bleibt offen. Das Experiment steht gerade nicht für den Gewinn einer
Festschreibung, mag die provisorische Installierung auch u. U. wirkungsge-
schichtlich eine Vorbildfunktion entfalten. Diese wäre ein Zufallsprodukt,
kein Ergebnis experimenteller Intention. Insofern ›beweist‹ das literarische
Experiment auch im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen nichts. Es
bleibt ästhetische Verausgabung.
Emile Zolas Erfindung des Experimentalromans (le roman expérimen-
tal)4 versuchte noch der Literatur einen äquivalenten Status zu den Natur-
wissenschaften und ihrer am Experiment orientierten Heuristik zu verschaf-
fen.5 Dahinter steht zunächst gar keine eigentlich schreibexperimentelle
Praxis. Zolas Romanexperiment ist rein inhaltlich begründet. Es geht um ei-
nen ideellen Habitus, der Leben und seine romanhafte Beschreibung zur so-
ziologischen bzw. sozialpsychologischen Versuchsanordnung für einen Be-
obachter, den Leser, aufgewertet sehen will. Der Experimentbegriff wird
metaphorisch den als methodisch überlegen angesehenen Naturwissenschaf-

tikel ›Experimentell‹ in: Klaus Weimar u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Litera-
turwissenschaft. Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 546–548 (mit einer Auswahl der äl-
teren Literatur). Nicht dort aufgeführt an forschungsgeschichtlich seinerzeit relevan-
ten Arbeiten sind: Fritz Martini: Wagnis der Sprache. Stuttgart 1954; Helmut
Motekat: Experiment und Tradition. Bonn 1962; Alfred Liede: Dichtung als Spiel.
Berlin 1963, 21992; Hans Schwerte: Der Begriff des Experiments in der Dichtung, in:
Reinhold Grimm, Conrad Wiedemann (Hg.): Literatur und Geistesgeschichte. Fest-
gabe für H. O. Burger. Berlin 1968, S. 387–405; Siegfried J. Schmidt (Hg.): Das Expe-
riment in Literatur und Kunst. München 1978; an neueren Arbeiten kommen hinzu:
Hans O. Horch: Artikel ›Experiment‹, in: Dieter Borchmeyer, Viktor Žmegač (Hg.):
Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt a. M. 1987, S. 127 ff.; Reinhard
Döhl: Experiment und Sprache, in: Rüdiger Krüger (Hg.): Ist zwîvel herzen
nâchgebûr: Günter Schweikle zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1989, S. 351–374; aktuell
als ›work in progress‹ (Stand Sept. 2002) Reinhard Döhl: Möglichkeiten, Umfang und
Wurzeln experimenteller Literatur, Kunst und Musik im 20. Jahrhundert. Ein Pro-
jekt, unter: http://www.netzliteratur.net/experiment.
4 Vgl. Emile Zola: Le roman expérimental (1879). Hg. von G. Charpentier. Paris 1881.
Zola stützt sein Konzept auf die experimentelle Physiologie in der Medizin seiner
Zeit.
5 Auch die Poetologie der ›Moderne‹ entwickelt direkte Bezüge zwischen avancierter
Schreibweise und (z. B. biologischem) Experiment. Vgl. dazu etwa Gottfried Benn,
der die Genese eines Gedichts in Entsprechung zu den (Amphibien-)Keimexperi-
menten des Zoologen Hans Spemann (1869–1941) sehen will. Vgl. Gottfried Benn:
Natur und Kunst, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von G. Schuster. Stuttgart 1989,
Bd. 4, S. 360 f., hier S. 360.
Literatur als Experiment 3

ten einschließlich Psychologie und Medizin entlehnt, um so auch für die Li-
teratur einen ›fortschrittlichen‹ Denkstil und ein daraus resultierendes Werk-
verständnis reklamieren zu können. Dies geschieht vor dem Hintergrund,
dass auch von ›biopoetologisch‹ orientierten Naturwissenschaftlern wie Wil-
helm Boelsche her »jede[r] poetische[n] Schöpfung« der Status eines »ein-
fache[n], in der Phantasie durchgeführten Experiments« zugebilligt wird.6
Literatur rückt damit in die Nähe des naturwissenschaftlichen Gedankenex-
periments, wie es vor allem der Physiker Ernst Mach um 1900 methodisch fa-
vorisierte.7
Für die ideelle Rahmung von Literatur als Experiment wird in jedem Fall
der Ort in der Lebenspraxis8 bedeutsam, sei es, dass Schreiben immer auch
ein soziales Handlungsmodell darstellt, sei es, dass man Poesie als Medium
der Phantasie zur anthropologischen Ausstattung zählt. Der gedankliche
Querungsweg Nietzsches überrascht dann nicht mehr, wenn er in der Mor-
genröthe (1881) das Experiment als die neue condition humaine verkündet:
»Wir sind Experimente«,9 heißt es da. Und in der Genealogie der Moral
(1887) heißt es schon autoaggressiv, dass wir mit uns »experimentiren […],
wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns ver-
gnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf«.10 Das menschliche
Leben wird zum experimentellen Entwurf gemacht: »Experimental-Philoso-
phie, wie ich sie lebe«,11 nimmt konsequent der späte Nietzsche für sich in
Anspruch. So wird dem, was ursprünglich distanziertes Kognitionsinstru-
ment war, jene radikale Nähe und existenzielle Verbindlichkeit verschafft,

6 Vgl. Wilhelm Boelsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prole-


gomena einer realistischen Ästhetik. Tübingen 1976, S. 7.
7 Vgl. Rudolf Eisler: Handwörterbuch der Philosophie. Berlin 1913, S. 215.
8 Der begriffliche Gebrauch von Experiment für ›soziales (Versuchs-)Handeln‹ lässt
sich schon im 18. Jahrhundert belegen. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbü-
cher II, in: Ders.: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. München 1971,
Bd. 2, S. 428 (K 159), bezogen auf die Wiedereinführung der »christlichen Religion«
in Frankreich nach der revolutionären Abschaffung: »welches kostbare Experiment«.
Vgl. auch ebd., Bd. 1, S. 899 (L 322): »Experimental-Politik, die französische Revolu-
tion.«
9 Vgl. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurteile,
in: Ders.: Kritische Studienausgabe [= KSA]. Hg. von G. Colli, M. Montinari. Mün-
chen 21988, Bd. 3, S. 274,24 (V, § 452). Vgl. auch ebd., S. 294,26 ff. (V, § 501): »wir dür-
fen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich!«
10 Vgl. Nietzsche, KSA Bd. 5, S. 357,31 ff.
11 Vgl. Nietzsche, KSA Bd. 13, S. 492,16[32] vom Sommer 1888.
4 Erich Kleinschmidt

auf der dann ideell in der ›Moderne‹ auch die Literatur einen Experimentsta-
tus beanspruchen kann.12
Das operative Konzept, »mit Gedanken zu experimentieren«, ist schon
aufklärerischer Provenienz, wie es sich bei Lichtenberg programmatisch for-
muliert findet.13 Ähnlich verfährt die »physikalische Kunstlehre« des Nova-
lis, der den »Erfindungsgeist neuer Experimente« genieästhetisch figuriert
und ihn sogar zu »romantisiren und popularisiren« gewillt ist.14 Dahinter
steht die zugleich philosophische wie poetische Überzeugung, dass »Alles
[…] zum Experiment« werden kann, denn »das Geheimniß des Experimen-
tirens« liege wesentlich darin, Realität »in Experimente und Begriffe [zu]
verwandeln«.15 Der derart aufgerufene metamorphotische Prozess, dem po-
etischen Gestaltungsvorgang analog, reflektiert darauf, dass dem Experiment
eine verändernde Kraft innewohnt, die funktional der Phantasie nahe steht.
Das Experiment ist als naturwissenschaftlich wie poetisch eingesetztes In-
strument Erfindungskunst. Für die Literatur soll gelten: »Experimentiren
mit Bildern und Begriffen im Vorstellungs Vermögen ganz auf eine dem phy-
sikalischen Experimentiren analoge Weise. Zusammen Setzen. Entstehn las-
sen –.«16
Lichtenberg wie Novalis sahen im Experiment weniger ein Medium der
Approbation als eines der spielerischen Kreativität. Diese frühe kulturtheo-
retische Rezeption des Experimentaldenkens naturwissenschaftlicher Prove-
nienz rückt den Aspekt der inspirierten und inspirierenden Innovation und
Invention17 ins Zentrum experimenteller Produktion. Er kehrt auch im lite-
rarischen Experimentbegriff der ›Moderne‹ als konstante Idee wieder, ohne

12 Er geht weit über jenen älteren »Experiment«-Begriff hinaus, wie ihn sich um 1800
noch Fichte als ein philosophisches Beobachtungsmilieu denkt. Vgl. Johann G. Fich-
te: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre [1797], in: Ders.: Werke. Hg. von Im-
manuel H. Fichte. Berlin 1971, Bd. 1, S. 454: »Er [sc. der Philosoph] stellt ein Experi-
ment an. Das zu untersuchende in die Lage zu versetzen, in der bestimmt diejenige
Beobachtung gemacht werden kann, welche beabsichtigt wird, ist seine Sache.« Die
intellektuelle Mobilisierbarkeit bringt zwar auch schon ein dynamisches Moment ins
Spiel, belässt dieses aber noch in der Sphäre stillstellender intellektueller Erschlie-
ßung.
13 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher II, S. 454 (K 308): »Ein bequemes Mittel mit Gedan-
ken zu experimentieren ist, über einzelne Dinge Fragen aufzusetzen.«
14 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Ders.: Schriften, Bd. 3, S. 256, Nr. 89.
15 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 391, Nr. 657.
16 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 443, Nr. 911.
17 Vgl. zum Erfindungsaspekt auch Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 435, Nr. 863:
»Experimentiren ist gewissermaßen nichts, als calculiren. (Aller Calcül ist Analytisch
– inventorisch).«
Literatur als Experiment 5

dass dabei wissenschaftstheoretische Implikate eine größere Rolle spielten.


Das ästhetische Experiment selbst wird zum Gegenstand wissenschaftlicher
Reflexion, wie Gustav Theodor Fechners Forschungen zur ›experimentalen
Ästhetik‹ (1876) dies richtungsweisend belegten.18
Die Aneignung des Experiments durch die Literatur um 1900 steht folg-
lich auf einer doppelten Grundlage. Auf der einen Seite liegt zunächst nur
eine metaphorische Aneignung vor, um neue operative Rahmungen für eine
›progressive‹ und zugleich kreative Literaturpraxis zu gewinnen. Auf der an-
deren Seite stehen fundamentale Funktionsansprüche und Leistungsprofile
zur Debatte, die im literarischen Experimentieren eine Grundform intellek-
tueller Aneignung von Welt und Sprache sehen. Das literarische Experiment
wird dadurch zum Teil des ganzheitlichen Lebensprozesses, den es anregt
und trägt. Konkrete Folge dieses Ansatzes ist eine radikal mit der Tradition
brechende Poetologie ›absoluter‹ Dichtung, die im literarischen Werk nicht
mehr die Repräsentation eines wahrnehmenden Ich sieht, sondern einen au-
tonomen, sprachlich verfassten Experimentierraum.
Carl Einsteins Roman Bebuquin (1906/09), der schon im ›sprechenden‹
Titel Buch/Schmöker von Beb kryptoform solche Auflösung schlüsselt,19
oder Paul Adlers Psychiatrieroman Nämlich (1915), der über seine ›namen-
lose‹ Titelfigur den Verlust von Welt und Begriffen thematisiert,20 sind Bei-
spiele einer experimentellen Erzählpoetik der ›Moderne‹, die das Berichtsge-
schehen sprachlich entidentifizierend auflösen. »Das haltlose Licht tropfte
auf die zart markierte Glatze eines jungen Mannes, der ängstlich abbog, um
allen Überlegungen über die Zusammensetzung seiner Person vorzubeu-
gen.«21 Solche Sätze (aus der Eingangspassage des Bebuquin) illustrieren den
Ansatz einer autopoetischen und autonomen Sprachästhetik, die Aussagen
jenseits einer normativen Satzlogik bildet. Im Falle Einsteins heißt dies nach
späterer Selbstaussage, ein Verbum zu benutzen, »das dem optischen Ein-
druck ganz zuwiderläuft«.22 Licht tropft nicht.

18 Vgl. die zusammengefassten Studien in: Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Äs-
thetik. ND Hildesheim 1978, bes. Teil 1, S. 184 ff. (u. a. zum Begriff).
19 Der Streit um den Titel hat die Forschung beschäftigt. Vgl. Nachwort zu Carl Ein-
stein: Bebuquin. Hg. von Erich Kleinschmidt. Stuttgart 21995, S. 73 f., Anm. 16.
20 Vgl. dazu Erich Kleinschmidt: Schreiben auf der Grenze von Welt und Sprache. Die
radikale Poetik in Paul Adlers Nämlich (1915), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 457–477.
21 Vgl. Einstein: Bebuquin, S. 3 (Kap. 1).
22 Vgl. als theoretische Äußerung dazu den Brief Carl Einsteins vom Juni 1923, in: Carl
Einstein/Daniel-Henry Kahnweiler: Correspondance 1921–1939. Hg. von Lilian
Meffre. Marseille 1993, S. 138–148, hier S. 145.
6 Erich Kleinschmidt

Die Wirklichkeit ist keine außerhalb des Textes mehr, die mimetisch und
wahrscheinlich zu reproduzieren wäre. Zur Realität ist allein das sprachliche
Konstrukt mit seiner operativen Gestaltungskraft geworden. Der Text funk-
tioniert nicht als deskriptive Objektivierung, er ist die Sache selbst. Seine Ge-
staltung bedarf dann nicht mehr der identitätslogischen Begründung und
Kausalisierung, sondern kann sich davon lösen. Der Modus des Aussagesat-
zes entzieht sich der Realisierungskontrolle. Er konturiert nur noch seine
eigene Logik. Deren Einschätzung im ›normalen‹ Sinn liefe auf Unsinn, Irr-
sinn oder Phantastik hinaus. Narrativ entsteht daraus eine sich zersplittern-
de Darstellung, die inkohärent, assoziativ und disparat wirkt. Das ist kein
Unvermögen. Es ist, wie im Falle von Hugo Balls (erst aus dem Nachlass pu-
bliziertem) Roman Tenderenda der Phantast,23 Programm mit teils ästheti-
scher, teils aber auch kultur- und gesellschaftskritischer Intention. Die Welt
erscheint derart, dass sie nicht mehr zum Maßstab für die Literatur genom-
men werden kann. Ihr angemessen erscheint nur noch ihre narrative Irreali-
sierung.
Was die Prosa einer expressionistischen Avantgarde vorführt, beginnt zu-
vor schon in der Lyrik. Arno Holz’ »Lyrikon«-Projekt Phantasus (ab 1898),
das eine ganz von »Form-Notwendigkeit« bestimmte »Wortkunst«24 instal-
liert, beruht auf der Annahme, dass das Dichter-Ich sich »in die heterogens-
ten Dinge und Gestalten zerlege«.25 Der ›projizierte‹26 Text ist dann der Ver-
such einer Rekonfiguration, die für sich als ›Welt‹ besteht. Die experimentelle
Seite dieser Poetologie, die vom Autor als »Revolution der Lyrik«27 im Kon-
text einer avantgardistischen »Erschütterungswelle«28 verstanden sein woll-
te, setzt auf die typographische Evidenz einer mittelachsig gesetzten Zeile
unterschiedlicher Länge zwischen einer und fünfzig Silben. Holz verstand
die Zeile als rhythmische Einheit,29 deren Mittelachsigkeit sich allerdings
nicht akustisch, sondern nur visuell erschließt.

23 Erstdruck hg. von Annemarie Schütt-Hennings, Zürich 1967; verbesserte, kritische


Edition hg. von R. Meyer, J. Schütt, Innsbruck 1999.
24 Vgl. Arno Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, in: Ders.: Werke. Hg. von Wil-
helm Emrich, Anita Holz. Neuwied, Berlin 1962, Bd. 5, S. 86–109, hier S. 88, 87, 86.
25 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 88.
26 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 93, zu Holz’ Bezeichnung seiner
Gedichte als »Projektionen«.
27 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 98.
28 Vgl. zum Begriff und zur Einschätzung Arno Holz: Die neue Form und ihre bisheri-
ge Entwicklung, in: Ders.: Werke, Bd. 5, S. 110–137, hier S. 136.
29 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 92: »Die letzte Einheit meiner
›Rhythmik‹ ist eine ungleich differenziertere [sc. als der Versfuß]: die Zeile.«
Literatur als Experiment 7

Holz selbst kontaminiert das, will er doch das durch »diese ›unsichtbare
Mittelachse‹ erzeugte ›sichtbare Etwas‹« als »das Ohrbild eines Gedichtes«,
als seine »typographische Musik« verstanden wissen.30 »Aug und Ohr« sol-
len medial und in der Funktion einer produktions- wie rezeptionsästheti-
schen Kontrolle harmonisiert werden.31 Das Konzept ist ein Kopfprodukt,
das nicht funktioniert, aber gerade dadurch eine phantasmatische Dimension
einer experimentellen Poetik offen legt, die ästhetisch stets auf einen Über-
schusscharakter abzielt. Holz markiert sie in dem über viele Jahre hinweg an-
lagernden Erweiterungsprozess seines Phantasus, der schließlich auf eine
monströse Entgrenzung mit »Riesensätz[en]« von bis zu »2516 Zeilen über
mehr als 70 Seiten«32 hinweg hinausläuft. Das ist weder lesbar noch hörbar,
wohl aber ideell zu projizieren als ›absolute‹ Dichtung.
Deren Potential liegt wesentlich in einer intensiven sprachschöpferischen
Arbeit, die eine (von der Forschung völlig unterschätzte) intertextuelle Do-
kumentarebene nahezu aller Textsorten aus mündlich und schriftlich kon-
ventionalisierter Sprache mit exzentrischen Neuwortbildungen (»meine Es-
kapade ins Ultraüberkandidelttraumblaue«)33 verknüpft. Das Ergebnis ist
ein artifiziell verdichteter ›Sprachroman‹, aber auch ›Stimmenroman‹, der
keine Handlung aufweist und kaum von einem Ich erzählt, dafür aber als ein
umfassendes Ideenlaboratorium über das Verhältnis von Sprache und Welt
funktioniert. Arno Holz findet und erfindet zugleich Realität als Sprache,
deren »Begriffswerte« ihn ein wortrhythmisches »Zahlengesetz« postulieren
ließen.34 Solche Entdeckung gehört zum Experiment, besagt in seinem sub-
stantiellen Anspruch aber eher wenig. Das weiterführende Moment solcher
»Begriffswerte« ist ihr generativer Charakter. Der Phantasus wird zur krea-
tiven ›Sprachmaschine‹, die »sich selbst schafft«.35 Der Autor erscheint so als
kompetenter ›Installateur‹, der etwas zu bewegen verstehen mag, aber sich
letztendlich als entmächtigt erfährt. Wie im experimentellen Roman der
Avantgarde bleiben im lyrischen »Rhythmikon«36 Spuren personaler Exis-
tenz im Worttext erhalten, der jene artefaktisch stillstellt, um sie zugleich in
reine Sprache, in Wortbewegung aufzulösen. Unwillen, definitiv über das

30 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 94.


31 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 95.
32 Vgl. Holz’ Selbstaussage in Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 103.
33 Vgl. Arno Holz: Phantasus. Leipzig 1916, S. 142.
34 Vgl. Holz: Die neue Form und ihre bisherige Entwicklung, S. 129.
35 Vgl. Holz: Die neue Form und ihre bisherige Entwicklung, S. 134: »So wird man zum
Geschöpf seines eigenen Werkes, das sich selbst schafft […].«
36 Vgl. Holz: Phantasus, S. 143.
8 Erich Kleinschmidt

auktoriale Ich zu schreiben, mündet in das Modell entgrenzter Sprachfluktu-


ation.
Arno Holz orientiert sich dabei nicht an der französischen Leitavantgar-
de des 19. Jahrhunderts (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé) und deren ›absolu-
ter‹ Sprachbewegung. Die poetische Entrealisierung des Gegenständlichen
bleibt bei ihm begrenzt. Im Detail ist die Wirklichkeit sprachlich durchaus
referentiell präsent. In den ausufernden Anlagerungen geht dieser Sachbezug
indes für den Leser verloren. Die konkreten Anhalte verlieren sich in den
textuellen Überschichtungen derart, dass am Ende allein das Wortkunstwerk
mit seiner »autonome[n] Stiltechnik (ohne Fesselung von Inhalt)«37 übrig
bleibt. Es folgt ästhetischen Regeln und Ansprüchen von Wortschönheit,
Rhythmus und Klang, die jede Inhaltlichkeit verschwimmen lassen. Das Me-
dium Sprache wird in seiner exzessiven Entbindung primär. Der von den
Wörtern und Sätzen transportierte Sinn verliert sich.
Holz’ Ansatz berührt sich, ohne konform zu sein, mit der Poetik der
französischen Symbolisten, die in den Wörtern Potenzen freigelegt sehen
wollten, »die mehr vermögen als der Gedanke«.38 Arno Holz ging theore-
tisch nicht so weit, entwickelte aber auf seinem eigenen, zeitlebens umstritte-
nen Weg eine wortgenetische Anlagerungspoetik. Sie entfaltete ihre literari-
sche Wirkung weniger direkt als mittelbar. Die experimentelle Sprachpoetik
der frühen deutschen ›Moderne‹ mit ihrer semantischen und syntaktischen
Technik der geöffneten Assoziationsräume ist insgesamt ohne ihn nicht
denkbar.
Auch Christian Morgenstern gehört zu deren Vätern aus dem Schreibha-
bitus der Groteske. Sein Gedicht Das große Lalula,39 dieser neben Paul
Scheerbarts Kikakokú (1897)40 historische Initiationstext der Lautpoesie
(1905), lässt sich phänomenologisch als literarisches Gegenstück zu den ex-
perimentalphonetischen Versuchen der Wahrnehmungspsychologie um
1900 einordnen,41 doch trifft dies nur bedingt die Tiefenstruktur. Der dem

37 Vgl. dazu Alfred Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus. Akademie-Rede über
Arno Holz [1930], in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von
Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg 1989, S. 263–270, hier S. 269.
38 Vgl. dazu (bezogen auf Mallarmé) Hugo Friedrich: Struktur der modernen Lyrik.
Hamburg 1956, S. 80.
39 Vgl. Christian Morgenstern: Gesammelte Werke. Hg. von Margareta Morgenstern.
München 1965, S. 226 f., bzw. ders.: Werke und Briefe. Hg. von Maurice Cureau.
Stuttgart 1990, Bd. 3, S. 61.
40 Vgl. Paul Scheerbart: Ich liebe dich. Mit 66 Intermezzos. Ein Eisenbahnroman
[1897], in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von U. Kohnle. Linkenheim 1986, Bd. 1,
S. 567.
41 Vgl. dazu Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1987.
Literatur als Experiment 9

Textexperiment wie allen Galgenliedern integral angefügte ›Kommentar‹ ei-


nes fiktiven »Jeremias Müller, Dr. phil., Privatgelehrter« darf nicht übersehen
werden. Morgenstern erläutert den »Gesang«, dem angeblich bisher »viel zu-
viel unterlegt« worden sei, als Kryptogramm eines Schachendspiels. Das Ziel
der Kombination von Lautgedicht und Entschlüsselung zielt mehr auf eine
Heuristik des Grotesken, die ernsthafte mit paradoxen Zugängen mischt und
dadurch auch die Philologie der Kommentierung provoziert.
Die nachträgliche Lesbarkeit eines zunächst unlesbaren Lauttextes zu ent-
werfen, der trotz formaler Nachahmung eines Satzbildes weder Grammatik
noch Rhetorik kennt, wird als Spiel mit der Kontingenz offen gelegt. Die
nachträgliche Einführung eines explizit figuralen Sinns, der Schachkonstella-
tion, dient der hermeneutisch subversiven Enthüllung, dass Lesen von Zufäl-
len des Gelingens abhängt. Die Gewissheit, dass Lektüre Sinn aufdeckt, wird
so infrage gestellt. Das Lautgedicht erlaubt keine kognitive Kontrolle von
Textintentionalität mehr, es ist der ›reine‹ Zeichentext, als dessen noch weiter
getriebenes Muster auch Morgensterns Fisches Nachtgesang42 mit seinen
stummen, nur noch mit Strich und Bogen platzhalterisch markierten Lautket-
ten anzusehen ist. Das »tiefste deutsche Gedicht«, so der äußerst verknappte,
ironische Kommentarzusatz, überschreitet jede humane Sprachgrenze. Es en-
det nicht im Schweigen, es ist Schweigen und damit der denkbar absolute Text.
Schon diese wenigen Beispiele früher dichterischer Experimente in der
›klassischen‹ Moderne verweisen darauf, dass es nicht genügt, in ihnen nur
eine spielerische Intention zu sehen. Immer ergeben sich auch theoretische
Implikate, die weitere Perspektiven eröffnen. Das literarische Experiment
ist, wenn es sich nicht ohnehin theoretischer Konzeptionalität verdankt, zu-
meist eine Herausforderung für die Texttheorie. Beide Rahmungen bilden
für eine experimentelle Produktion und die zugehörige Rezeption eine wich-
tige Basis, geht es doch um die überprüfbare Konstitution von Literatur im
Hinblick auf spezifische Elemente und Darstellungsweisen. Das literarische
Experiment begründet den Schreibtisch als ›Werkstatt‹ oder ›Labor‹, in de-
nen vor allem gegen das gängige »Kommunikationsgemurmel«43 Front ge-
macht wird. Der Ansatz zielt auf antikonventionalistische Innovation und
Schärfung des Sprach- und Textbewusstseins.

42 Vgl. Morgenstern: Gesammelte Werke, S. 125, bzw. ders.: Werke und Briefe, Bd. 1,
S. 65.
43 Vgl. zum kritischen Begriff (im Kontext der Lautpoesie) Siegfried J. Schmidt: Lauter
Laute, in: Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören. Hg. von der Kunst-
und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bearb. von Uta Brandes.
Göttingen 1994, S. 285–289, hier S. 287.
10 Erich Kleinschmidt

Schwierig ist dabei die Eingrenzung dessen, was man als ›experimentell‹
einzuschätzen hat und was von der ohnehin sich vollziehenden literarischen
Evolution abzugrenzen wäre. Einfach alle innovativen Textformen der ver-
schiedenen Avantgarden für experimentell zu erklären, hilft wenig weiter,
weil gerade auch der Avantgardebegriff trotz seiner literaturhistorischen
Pragmatik mehr als diffus erscheint.44 Es reichte aber auch nicht, nur die ra-
dikalen sprachexperimentellen Versuche der lautpoetischen oder wort- und
satzdestruierenden45 Ausrichtung zum Maßstab zu erheben, wenn auch hier
noch am ehesten eine definitorische Evidenz zu herrschen scheint. Sie sind
indes nur zugespitzte Lösungsfälle innerhalb eines grundsätzlichen Paradig-
menwechsels in der literarischen Sprachauffassung der ›Moderne‹.
Die experimentelle Dimension der Literatur in der ›Moderne‹ gründet auf
dem schon von Roman Jakobson 1921 und damit zeitgenössisch (im futuris-
tischen Umfeld) analytisch beobachteten Umbruch, dass die literarische Se-
miotisierung, die Wortkunst, in der ›Moderne‹ von Sachvorstellungen zu
Wortvorstellungen wechselt.46 Nicht mehr die Realien bestimmen, wie dies
die ältere Poetik ansetzt, die Wörter und damit die Texte. Vielmehr gilt nun,
dass die Bezeichnungskraft von den Wörtern selbst ausgeht. Das provokante
Beispiel für diesen Wandel ist das Passepartout-Wort DADA , das 1916 in Zü-
rich, wie auch immer, kreiert wurde. Es verdeutlicht den Ansatz,47 dass nicht
die Welt die Sprache konditioniert, sondern dass sich die Sprache eine reale
wie phantastische Welt erst erschafft. Die Radikalität von DADA besteht für
den Stichwortgeber Hugo Ball in seinem Manifest darin, keine Wörter zu be-
nutzen, »die andere erfunden haben«, sondern nur eigene: »ich will meinen
eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen.«

44 Vgl. dazu zuletzt Jost Hermand: Können Sezessionen Avantgarden sein?, in: Hart-
mut Kircher, Maria Ktanska, Erich Kleinschmidt (Hg.): Avantgarden in Ost und
West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900. Köln, Weimar, Wien 2002,
S. 1–11.
45 Die »Preisgabe des Satzes dem Wort zuliebe« (Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit.
München, Leipzig 1927, S. 102) geht innerhalb der Avantgarden des frühen 20. Jahr-
hunderts auf T. F. Marinetti und damit den italienischen Futurismus zurück, der mit
einer eher technizistischen Ausrichtung »parole in libertà« proklamierte. Die deut-
sche ›Wortkunst‹ setzte demgegenüber auf einen ›magischen‹ Anspruch: »Die ma-
gisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz« (Ball, ebd., S. 102).
46 Vgl. dazu zusammenfassend A. Hansen-Löwe: Entfaltung, Realisierung (bezogen auf
Roman Jakobsons ›Neueste russische Poesie‹), in: Aleksandar Flaker (Hg.): Glossari-
um der russischen Avantgarde. Graz, Wien 1989, S. 188–211.
47 Vgl. Hugo Ball: Manifest zum 1. Dada-Abend in Zürich 1916, in: Paul Pörtner (Hg.):
Literaturrevolution 1910–1925: Dokumente, Manifeste, Programme. Darmstadt
1960–1961, Bd. 2, S. 477.
Literatur als Experiment 11

Allein das hieße, »das Wort selber zur Sache« werden zu lassen,48 um da-
durch auch darauf zu verzichten, »aus zweiter Hand zu dichten«.49 Die radi-
kale Folgerung aus solcher alle Intertextualität unterlaufenden Neogenese
legt den völligen Verzicht auf eine Semiotisierung nahe, da für Neuworte und
Neusätze kein Lexikon existiert. Entsprechend heißt es im Manifest Dada
von Tristan Tzara 1918 ganz konsequent für das Schibboleth-Wort dieser an-
tinormativen und damit auch antibürgerlichen Poetik: »DADA BEDEU -
TET NICHTS .«50 Es ist die Negativität, die Abwesenheit von Sinn »in
Wortspiele[n] und grammatikalischen Figuren«,51 die den äußersten Wort-
universalismus entbindet. Dass dies die einem sinnbehafteten Textbegriff
verpflichteten Zeitgenossen irritierte, darf nicht verwundern.
In der Wortkunst-Theorie der ›Moderne‹ bedeutet dies provokative
Konzept DADA s indes einen Sonderweg. Die Veränderung der Sprachauf-
fassung begründet ansonsten eine durchaus figural ›beredte‹, innovative Lite-
raturpraxis. Sie entgegenständlicht jedoch die dichterische Darstellung zu-
gunsten einer eigenen Sprachwirklichkeit. Es ist ein Vorgang, wie er analog
im bildkünstlerischen Kubismus auftritt, der die traditionelle Bildsprache
des Raumes aufhebt, um über eine eigene Formsprache einen neuen »Bild-
körper«52 zu konstituieren. Es hat bei Carl Einstein53 oder Max Jacob54 Ver-
suche gegeben, das bildnerische, raumbezogene Moment des Kubismus auf
die Literatur und damit in ein an Zeitwahrnehmung gebundenes Medium zu
übertragen. Unabhängig davon, ob man deshalb schon von einem ›kubisti-
schen Roman‹ sprechen kann oder soll, lässt sich hier ein wichtiger theoreti-
scher Hintergrundansatz literarischer Experimentalität erkennen. Er zielt
darauf, im Text »Sprache der Form der Erlebnisse anzupassen, wie man im
Kubism ein bestimmtes, entscheidendes Raumgefühl übersetzte«.55 Die Ei-
genwirklichkeit eines sprachgenerierten Textes wird so zum verdichteten
Programm.

48 Vgl. alle Zitate Ball: Manifest zum 1. Dada-Abend, S. 478.


49 Vgl. Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 102.
50 Vgl. Tristan Tzara: Manifest Dada 1918, in: Pörtner: Literaturrevolution, S. 478–485,
hier S. 479.
51 Vgl. Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 158 (im Kontext der Definition von »Dadaist«).
52 Vgl. zum Begriff Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin 21928, S. 57.
53 Vgl. als theoretische Äußerung den Brief Carl Einsteins vom Juni 1923, in: Einstein/
Kahnweiler: Correspondance, S. 139 ff. zur Frage eines ›kubistischen‹ Schreibens.
54 Ansprüche auf einen »Cubisme littéraire« erhoben in Frankreich schon 1917 Frédéric
Lefèvre und 1922 Max Jacob als »littérateur cubiste«. Vgl. die Belege im Ausstel-
lungskatalog: Max Jacob et Picasso. Paris 1994, S. 187 und S. 188, Anm. 43.
55 Vgl. Max Jacob et Picasso, S. 142.
12 Erich Kleinschmidt

Als narratives ›Textzeit‹-Experiment kann in diesem Zusammenhang für


Deutschland der vergessene DADA -Roman Melchior Vischers (1895–1975)
Sekunde durch Hirn von 1919 gelten.56 Der »unheimlich schnell rotierende
Roman« (Untertitel), ein explizit an den Bebuquin Carl Einsteins anschlie-
ßendes »astronomisches Punktierbuch«,57 entfaltet »molluskenhaft« (und
damit in einem Modell narrativer Entlinearisierung) die ›Lebensgeschichte‹
des »Stukkatörs« Jörg Schuh während dessen Fall vom Gerüst im 40. Stock
eines Wolkenkratzers als ›Sprachfilm‹ zwischen Wahrnehmungs- und Erin-
nerungsreflexen:
Kroloscho su krolo su su suuuuu huih – – – iiihh! die Ewigkeit! In die Ewigkeit!
Fahr mr Euer Gnadn? Grüßte spiegliger Zylinder gelbblauen Mannes einladend,
billig, der Kilometer drei Halsbrüche und neun Tode. Ich bin Ekstatiker aufm
Kubus, im letzten Leben war ich Mathematikprofessor und da auf der großen
Milchstraßn bin ich jetzt Droschkenkutscher. Also farn mr Euer Gnadn? – Nein
ich danke, ich nehme prinzipiell nur Taxameter! – aber ich hab Gummireifen an
den Radln, oh Marke »Gigant«. – Gehns in ein Bordell! – Bittäähh!58

Die ironisch als »guter Blödsinn« signalisierte Erzählung, die »in fünfzig Jah-
ren oder in fünfzig Minuten« zur »apodiktische[n] Weisheit« werden kann,59
dient in einer entfesselten, z. T. collagierenden und lautpoetischen Sprach-
projektion dazu, ein ›Erlebnis‹ nicht nur traditionell zu beschreiben, sondern
es textuell als eine (im Sinne Carl Einsteins) metalogische Totalität umzuset-
zen, »die Eindrücke nicht hinnimmt, sondern verarbeitet«.60 Dabei sind we-
sentliche Elemente eines »konstruktiven Romans« festzustellen.61
Die Art der »Wortverbindung«62 mit ihrem gestalterischen Universalis-
mus schafft experimentell einen veränderten Literaturmodus eigener Gesetz-
lichkeit. Der Ansatz, den Sekunde durch Hirn wie schon der Bebuquin
durchspielt, läuft auf die Schaffung von sprachlich evozierten Vorstellungs-
und Empfindungsfeldern hinaus. Ein Lösungsmodell ist dabei die Optisie-

56 Erstdruck Hannover: Paul Steegemann Verlag o. J. [1919], danach Faksimile-Druck


Berlin 1963; Neudruck: Melchior Vischer: Sekunde durch Hirn. Der Hase. Hg. von
P. Engel. Frankfurt a. M. 1988, S. 5–64 (mit problematischem Neusatz, da die origina-
le Druckanordnung Teil des Vischer’schen Textkonzepts gewesen ist).
57 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 3 bzw. S. 7 (Neudruck).
58 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 5 bzw. S. 10.
59 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 3 bzw. S. 8.
60 Vgl. Einstein/Kahnweiler: Correspondance, S. 146.
61 Zum ›konstruktiven Roman‹ (im Kontext der russischen Avantgarde der zwanziger
Jahre des 20. Jahrhunderts) vgl. Aleksandar Flaker: Der konstruktive Roman, in:
Ders.: Glossarium der russischen Avantgarde, S. 308–318.
62 Vgl. Einstein/Kahnweiler: Correspondance, S. 147.
Literatur als Experiment 13

rung des Textes, sei es über wortsemantische Strategien, sei es sogar über die
Typographie. Entsprechend endet Sekunde durch Hirn:
Nun kommt der Strich. Furchtbar schräg und plötzlich, der Strich. Erst einer
quer —,
dann einer |, gibt zusammen, o schwinget ihr Rauchfässer ein
+ 63

Die Finalität eines ›erzählten‹ Lebens mündet in der graphischen Symbolik


reinen Zeichens, dessen scheinbar aufgerufener Vorstellungskomplex unter-
laufen wird. Was als symbolisches Sterbekreuz erscheint, ist im Text auf das
technische Produkt einer linearen Kreuzungsfigur zu reduzieren. Das Text-
experiment findet zur Abstraktion seiner eigenen Medialität.
Dass die Wörter wie Dinge behandelt, ›realisiert‹ werden64 und »die Wirk-
lichkeit der Dichtung […] die Wortfolge«65 allein ist, illustriert Gottfried
Benns spätes Gedicht Verlorenes Ich (1943) noch in Fortsetzung der sprach-
poetischen Umbruchslinie der klassischen ›Moderne‹ virtuos:
Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion – : Gamma-Strahlen-Lamm –
Teilchen und Feld – : Unendlichkeitschimären
auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.66

Hier wird nichts mehr beschrieben, sondern der Text generiert unter Auflö-
sung seiner ›Wörtlichkeit‹ einen Ausdruckszustand, der die Verlorenheit des
artikulativen Subjekts in sprachliche Dinglichkeit um- und aussetzt. Das Ge-
dicht initiiert über Wortkomplexe ›freie‹ Imaginationen, die mit keiner exis-
tenziellen Wirklichkeit mehr zu korrelieren sind. Sie entwickeln ein ›Eigen-
leben‹, so dass »die Worte« im Einlösungssinne von Richard Huelsenbecks
Dadaistischem Manifest (1918) geradezu »zu Individuen« werden.67
Die rezeptive Wahrnehmung gelingt nicht mehr über eine lexikalische
Identifikation, sondern folgt einer ›atmosphärischen‹, von Intensität be-

63 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 49 bzw. S. 64.


64 Vgl. Gottfried Benn: Lyrik, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von G. Schuster. Stutt-
gart 1989, Bd. 4, S. 356: »Für ihn [sc. den Lyriker] ist das Wort real und magisch, ein
moderner Totem.«
65 Vgl. Einstein/Kahnweiler: Correspondance, S. 146.
66 Vgl. Benn: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 205.
67 Vgl. Pörtner: Literaturrevolution, Bd. 2, S. 486–489, hier S. 488 im Kontext der Be-
stimmung des »statische[n] Gedicht[s]«. Bemerkenswert ist, dass Benn seine erste
nach 1945 erschienene Gedichtsammlung Statische Gedichte (1948) benannte, ohne
dass dieser DADA-Bezug für den Titel die Forschung näher beschäftigt hat. Vgl. die
Ausgabe Wiesbaden: Limes 1948, S. 47 Verlorenes Ich.
14 Erich Kleinschmidt

herrschten Bestimmung, die sich zwischen Verstehen und dessen Scheitern


im paradoxen Modus einer abwesenden Anwesenheit von Sinn bewegt. Das
lyrische Wort »ist Existenz an sich, Ausdruck, Miene, Hauch«.68 Aus der
Sicht des Autors Benn findet der dichterische Prozess programmatisch in ei-
nem expliziten Experimentalort statt, dem »Laboratorium für Worte«. Dort
ist es möglich, »Stimmungen und Erkenntnisse« in »Worten auszudrücken,
die es noch nicht gibt«, mag dies auch »Studienräte, Irrenärzte, Sprachreini-
ger und Politiker« aufregen.69
Der frühe Prosatext Benns Das letzte Ich von 1920 verfährt schon ebenso
experimentell, wie dies seine Eingangspassage ausweist: »Jetzt wird die Insel
blühn, dachte er, nun liegt ein Glück im Meer, ein Rauch über einem Riff von
Flammen. Sie steigt gesäugt, von der erstandenen Flut in Rosenfalken, sie
stößt ins Blau, sie hat Blüten wie Frucht und Blüten wie Stein, geädert oder
marmorweiße.«70 Das ist angesichts der semantischen Aporien nicht zu ›ver-
stehen‹, dennoch geht von der Formulierung ein sujetrealisierendes Wissen
aus, dessen aufgeladene Unschärfen auszureizen die experimentelle, entge-
genständlichte Schreibweise Benns ausmacht. Im Rückblick sah er im Text
eine Vorwegnahme des späteren surrealistischen Avantgardismus,71 dessen
Schreibpoetik in der Tat kaum anders verfährt. Benn steht allerdings weniger
dem dogmatischen Surrealismus Bréton’scher Prägung nahe als den pluralen
Positionen einer Experimentalliteratur, wie sie sich um die Pariser Avant-
garde-Zeitschrift ›Transition‹ (1927–1938), das »International Quarterly for
Creative Experiment« (Untertitel),72 entwickelte. Primär auf englischspra-
chige Werkkomplexe wie die Gertrude Steins und James Joyce’ ausgerichtet,
erschienen hier auch Texte von Hans Arp, Carl Einstein, Kurt Schwitters
und Gottfried Benn. Dies publizistische Forum bündelt erstmals systema-
tisch ein poetologisches Verständnis, das auch begrifflich konsequent auf ein
experimentelles Schreiben setzt.
Es unterscheidet sich von den Aufbrüchen der älteren Avantgarden durch
das Bewusstsein eines Kalküls, das auf gesellschaftliche Implikate zuneh-
mend verzichtet. Wesentliche Experimentalposen der klassischen Moderne

68 Vgl. Benn: Lyrik, S. 356.


69 Vgl. Benn: Lyrik, S. 355.
70 Vgl. Benn: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 120–126, hier S. 120.
71 Vgl. Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze 1950–1956. Hg. von H. Steinhagen, J.
Schröder. Wiesbaden, Stuttgart 1980, S. 21: »[…] dass einiges von dem, was dann spä-
ter als Surrealismus, Joyce, auch Existentialismus in die Öffentlichkeit drang, schon
Anfang der 20. Jahre bei mir in Andeutungen und Bruchstücken vorhanden war.«
72 Vgl. Dougald McMillan: Transition 1927–1938. The History of a Literary Era. Lon-
don 1975 (mit Bibliographie).
Literatur als Experiment 15

hingegen sind einem revolutionären, kulturkritischen Pathos verpflichtet.


Die politische Dimension ist aber auch hier, wie das Beispiel DADA vor
allem zeigt, diffus. Immerhin kann man aber in allen ›modernen‹ Poetolo-
gien des Experiments einen gemeinsamen Faktor wahrnehmen, dass Schrei-
ben als Ausdruck und Bestandteil eines eigenen wie fremden existentiel-
len Umbruchs und der darin manifesten Krisen eine Rolle spielt. Es muss
nicht unbedingt das zivilisationskritische Pathos vom »Zusammenbruch der
Menschheit«73 sein, dem die Dichtung antworten sollte, aber in dem gesell-
schaftlichen Verweigerungsmoment, das jede experimentelle Textproduk-
tion beinhaltet, steckt der Impuls des Angriffs auf Gegebenheiten. Die Ge-
gengeste ist wichtig und leitend.
Mittel solcher Distanzierung ist die Lösung aus einem sozialen Konven-
tionalismus, der auch und gerade Sprach- und Literaturformen betrifft. Der
gestalterische Antrieb, ihn aufzubrechen, trägt wesentlich zu den experimen-
tellen Schreibweisen der ›klassischen Moderne‹ bei. Das ›Experiment‹ grün-
det stets auf dem Wunsch nach Andersheit, der zugleich das Moment eigener
Ursprungslosigkeit, des An-archen,74 einfließen lässt und konturiert. Anders
zu sein schließt den Willen nach anderer Rede ein, die sich zugleich der so-
zialen Vereinnahmung zu entziehen versucht. Als sprachliche Disziplinie-
rung konkretisiert, bedeutet sie die Unterwerfung unter die textuellen Re-
geln der Repräsentation. Will man diese vermeiden, so muss man die
Möglichkeit der rezeptiven Vergegenwärtigung unterlaufen, die zugleich im-
mer eine Vergegenständlichung darstellt. Dazu dienen die defigurativen und
desemiotischen Strategien der experimentellen ›Moderne‹.
Die »chaotische Zerschmetterung der Sprache«75 ist deshalb kein Unter-
fangen einer plakativen Kraftgeste. Sie gehört in den teils reflektierten, teils
unbewussten Zusammenhang der textuellen Nichtaffirmation eines schon
geläufig Gegebenen, der »großen Auslieferung« Walter Serners.76 Der textex-
perimentelle Prozess zielt dabei, wie Julia Kristeva für Mallarmé gezeigt hat,
auf eine doppelte Aufhebung der thetischen Sprachordnung. Sie greift so-
wohl die Denotation, die Setzung des Objekts, als auch den Sinn, die Setzung

73 Vgl. Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Berlin 1920, S. X.


74 Das griechische Adjektiv ôÓ·Ú¯Ô˜ hat neben der Bedeutung ›ohne Anführer‹ (zu
àÓ·Ú¯›· ›Herrschaftslosigkeit‹) die Grundsemantik ›ohne Anfang‹. Vgl. Franz Pas-
sow: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Leipzig 51841, Bd. 1, S. 197.
75 Vgl. Pinthus: Menschheitsdämmerung, S. XIV.
76 Vgl. Walter Serner: Letzte Lockerung. manifest dada, in: Pörtner: Literaturrevolu-
tion, Bd. 2, S. 494–500, hier S. 499.
16 Erich Kleinschmidt

des aussagenden Subjekts, an.77 Auf diese Weise entsteht ein neues Zeichen-
system, dass in seiner Bedeutung nicht mehr nur den einen ›wahren‹ Aussa-
geort (dóxa) mit klarer Gegenstandskonnotation kennt. Vielmehr splittert es
diesen auf und erzeugt eine semiotische Streuung, die über die sprachstruk-
turell geläufigen Verschiebungs- und Verdichtungsmodelle von Metonymie
und Metapher hinausgeht.
»Der lebendige Gedanke der Rose in Gelb ist das Eigenverkehrsproblem
einer wechselnden Ondulation im Aroma des Duftes der festen Spitzigkeit
ihrer Dornen.«78 Solche Entgrenzung lässt keine ›Wörtlichkeit‹ und Sinnfüh-
rung mehr zu, doch bleibt der Eindruck einer semantischen Grundbewegung
erhalten. Der aus einem dadaistischen Text Raoul Hausmanns von 1919 ent-
nommene Beispielsatz erscheint als Reliktspur sinnvoller Rede, verwandt
den Texten von Geisteskranken. Aber anders als bei diesen der Fall ist, ent-
springt er einem Kalkül, das zeitgenössisch noch nicht adäquat theoretisier-
bar war, sondern sich einem eher vortheoretischen Äußerungshabitus ge-
wollter ›Störung‹ verdankt.
Ernst genommen spielen aber sprachphilosophische und sprachpsycho-
logische Erklärungsdimensionen hier hinein. Die experimentelle Satzform
unterläuft die symbolische Ordnung der Sprache, auf der unsere Kommuni-
kation fußt, und verwirft damit deren thetische Praxis in einem doppelten,
gegenläufigen Modus. Zum einen ahmt sie das Thetische nach, obwohl sie es
zugleich destruiert. Zum anderen illustriert sie die Unmöglichkeit des Theti-
schen, obwohl sie es synthetisiert. Damit erfolgt keine einfache Aufhebung,
sondern ein Akt der Überschreitung, der das Thetische auflöst, ohne es auf-
zugeben.79 Der ›Unsinn‹ verlässt zwar die Sinnsphäre, erinnert in seiner Ab-
weichung aber stets eine nicht mehr anerkannte Ordnung. In der Unlesbar-
keit bleibt das Geheimnis einer Schrift verborgen. Das begründet auch,
weshalb etliche poetologische Profile der experimentellen ›Moderne‹ auf ma-
gische und kryptische Textvorstellungen zurückgreifen.
In dieser Ansatzlinie der ›lesbaren Unlesbarkeit‹ sind die meisten experi-
mentellen Unterfangen der ›klassischen Moderne‹ bei erheblichen Unter-
schieden in Stil und Konsequenz zu sehen. Auch ein Text wie der von Hans
Arp gehört hierher und erlaubt weitere Anschlüsse:

77 Vgl. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. Paris 1974, S. 58, dt. Die Re-
volution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M. 1974, S. 67.
78 Satz aus Raoul Hausmanns Schulze philosophiert (1919), hier zitiert nach Pörtner: Li-
teraturrevolution, Bd. 2, S. 507–509, hier S. 508.
79 Vgl. hierzu Kristeva: Révolution/Revolution, S. 68 bzw. dt. S. 78 f.
Literatur als Experiment 17

weh unser guter kaspar ist tot.


wer trägt nun die brennende fahne im zopf. wer dreht die kaffemühle. wer lockt
das idyllische reh. auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen para-
pluie und die winde nannte er bienenvater.
weh weh weh unser guter kaspar ist tot. heiliger bimbam kaspar ist tot.
Die heufische klappern in den glocken wenn man seinen vornamen ausspricht
darum seufze ich weiter kaspar kaspar kaspar
[…].80

Eine ›logische‹ Wahrnehmung solcher Sprache ist gezwungen, sie als sinn-
widrige, desorientierte Rede einzuordnen. Die normativen Grenzen einer
gegenständlichen Verortung sind in Frage gestellt. Das hindert indes nicht
die Grundlinien thetischer Produktion, die Strukturbeziehungen der Spra-
che weiterhin zu gebrauchen, nur dass sie im Formulierungsprozess aufge-
rieben werden und zerfallen.
Gerade in dieser Labilität, der ›Ungereimtheit‹ liegt jedoch der Reiz. Ver-
traute Versatzstücke, identifizierbarer Wortsinn geraten durch phantasmati-
sche, wort- und syntaxinduzierte Einbrüche in Fluss, oszillieren zwischen
Sinn und Unsinn und vernetzen sich zu dem, was Arp als »Wortträume und
Schwarze Sterne«81 projiziert. Die Heterogenität der Diktion verhindert eine
kohärente Vergegenwärtigung. Der Text unterläuft jeden semantischen Zu-
sammenschluss, den er strukturell ›vergessend‹ agiert, und provoziert so das
Nachdenken über sein Misslingen. Damit vermittelt Arp, dass die Abwesen-
heit bzw. Übertretung diskursiver Ordnung produktiv entbunden und er-
fahren werden kann. Es entsteht ein Modus ›anderen‹ Sprechens, der die the-
tische Gewissheit des Bezeichneten wie die verantwortende Position des
aussagenden Subjekts außer Kraft setzt. Arps Kaspar, der im Namen den ei-
nem besonderen Redestatus verpflichteten Harlekin und das von Sprachlo-
sigkeit geschlagene Findelkind Hauser aufruft, ist die poetische Kunstfigur,
die auf solche Verfremdung ›antwortet‹. Er agiert im Gedicht vor seinem be-
klagten Tode und folgender (Sprach-)Metamorphose (»warum bist du ein
stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heißen wirbelwind […]«)
als derjenige, der alles zu benennen, in Gang zu setzen und zu deuten ver-
mag, was inexistent (»die kompasse […] der schiebkarren«) und unverständ-
lich ist (»die monogramme in den sternen«).82

80 Vgl. Hans Arp: Gesammelte Gedichte. Zürich, Wiesbaden 1963, Bd. 1: Gedichte
1903–1939, S. 25.
81 Titel der Auswahl Hans Arps aus seinen Gedichten 1911–1952, Wiesbaden 1953 (da-
runter auch eine veränderte Fassung des Kaspar-Textes).
82 Vgl. Arp: Gesammelte Gedichte, S. 25.
18 Erich Kleinschmidt

Der experimentelle Text liefert seine poetologische Figuration ›beredt‹


mit. Das Kunstwerk integriert (u. U. bis zur völligen Substitution) den »Pro-
zeß« seiner »eigenen Hervorbringung«.83 So erscheint das Was und das Wie
der Darstellung in integrativer Präsenz, die zugleich immer eine Abwesen-
heit (»kaspar ist tot«) wesentlich mit einschließt. Das Werk lebt in der be-
wussten Divergenz von Phrasierung und Löschung, weil im Sinne der zen-
tralen Werkpoetik der ›Moderne‹ von Maurice Blanchot »jedes seiner
Momente alle anderen verneint«.84 Arp reflektiert dieses inverse Transposi-
tions-Verhältnis in der ironischen Gebärde der Schlusszeile des Kaspar-Ge-
dichts, in der ein Bezug zur Existenzialität durchgestrichen wird: »Das ist
kein trost und schnupftabak für einen totenkopf«.
Hierdurch nimmt Arp poetologisch auf, dass kein emphatischer und
identifikatorischer Trost mehr aus dem dichterischen Text zu schöpfen ist, in
dessen Wörtern und Sätzen sich ein mit der Welt tauschender Wortsinn ver-
loren hätte. Darin artikuliert sich keine Krise der Literatur. Arp wie andere
textexperimentelle Avantgardisten der ›klassischen Moderne‹ reagieren nur
auf ein ›mortifikatorisches‹ Grundproblem aller Textualität. Es besteht darin,
dass Wörter die Dinge, von denen sie sprechen, als lebendige Wirklichkeit
›töten‹. Insofern ist Sprache, um Blanchots poetologisch provokante These
aufzurufen, ein »Mord« (assassinat).85 Denotierende Worttexte wie die von
Arp, Einstein, Benn usw. unterlaufen diesen Modus und nehmen damit den
Tod, die Erfahrung und Gewissheit der Endlichkeit aus dem Sprachakt he-
raus. Das tilgt zwar auch den Sinn, dessen Verbindlichkeit an der Erfahrung
einer existenziellen Auslöschung hängt, erhellt aber die ursprüngliche Eigen-
kraft der Wörter als ›Dinge‹. Sie sind wieder Teil der Welt wie andere Dinge
auch und nicht nur deren zeichenhafte Vergegenwärtigung. In ihrer Ding-
lichkeit werden sie nicht als Medien einer immer deutenden Machtrepräsen-
tanz der Wirklichkeit bedeutsam, sondern sie ergeben eine eigene, der Be-
mächtigung sich entziehende Realität und lösen sich so auch vom Autor und
seiner Verfügung.
Die Oberflächenwahrnehmung literarischer Experimente in der ›klassi-
schen Moderne‹ sieht zunächst nur ein spielerisches, scheinbar unverbindli-
ches Moment. Die tiefenstrukturell möglichen Implikate bleiben unerkannt
und deshalb undiskutiert. Der rezeptiven Funktion dieser Texte in ihrer dem

83 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno, Rolf Tiede-
mann. Frankfurt a. M. 1970, S. 46.
84 Vgl. Maurice Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod [1947]. Berlin 1982,
S. 43 (»[…] mais que chaque moment de lui-même nie tous les autres«, ebd., S. 42).
85 Vgl. Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod, S. 78 bzw. S. 79.
Literatur als Experiment 19

Sinndeutungszwang entkleideten Autonomie schadet dies wenig, wollen sie


doch verschlossene Phänomene ohne Verweischarakter sein. Dass sie auch
auf- und anschließbar sind, dass ihren Schreibweisen komplexe texttheoreti-
sche und sprachphilosophische Konzepte zugrunde liegen, lassen zum Teil
schon zeitgenössische Diskurse, wenn oft auch nur verschwommen, erken-
nen. Erst die im weiteren 20. Jahrhundert entwickelten Theoriepotentiale,
die auch auf die Herausforderungen literarischer Experimentalität reagieren,
eröffnen Einblicke in deren Schreibdispositivität. Die Textexperimente der
›Moderne‹ haben Theoriediskurse induziert, die umgekehrt wiederum dazu
beitragen, deren Potential analytisch einzuholen. Die charakteristische Nähe
von Schreibweise und Theorie in der ›Moderne‹ bildet sich wesentlich im ex-
perimentellen Status heraus, der Öffnungen schafft.
Diese beziehen sich nicht nur auf den Modus von Schriftlichkeit. Er
bleibt zunächst noch sehr wichtig. Im Kontext typographischer Gestaltung
ist es so möglich, nach dem Vorbild von Mallarmés 1897/1914 publiziertem
Un coup de Dés (Ein Würfelwurf)86 eine Poetik der ›weißen‹ Aussparung, des
»signifikativen Schweigen[s]«87 zu konturieren, wo über die Textanordnung
bewusst gemacht wird, dass Bedeutung erst zwischen der Schrift und dem sie
umgebenden Blattraum entsteht. Aber auch die gesamtkunstwerkliche Ver-
bindung von Text mit Illustrationen88 initiiert eine neue Wahrnehmung des
Druckraums. Immerhin findet von der typographischen Rekonfiguration89

86 Vgl. Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Hg. von H. Mondor, G. Jean-Aubry. Pa-
ris 1945 (Pléiade), S. 457–477 und Kommentar S. 1581–1583. Mallarmé entwirft einen
Textdruck, der die typographische Verteilung (»espacement de la lecture) unter ästhe-
tischer Berücksichtigung von schwarzer Schrift und weißer Umgebungsfläche inno-
vativ gegenüber der geläufigen Gedichtanordnung regelt. Der ›leere‹ Papierraum soll
mit der Intensität der Dichtung korrespondieren. Mallarmé strebt ein simultanes Bild
der Buchseite an (»une vision simultanée de la page«). Vgl. zu den Zitaten das Vor-
wort/Préface zum Text, in: Stéphane Mallarmé: Sämtliche Dichtungen. München
1992, S. 222 f. Eine anspruchsvolle deutschsprachige Typographie des Textes hg. von
M.-L. Erlenmeyer. Olten, Freiburg i. Br. 1966 (Walter-Druck Bd. 10).
87 Vgl. Mallarmé: Œuvres, S. 872: »signifikatif silence qu’il n’est pas moins beau de com-
poser« bezogen auf Poes Gedichte, die sich im »l’espace« verbergen, »qui isole les
strophes et parmi le blanc du papier«.
88 Vgl. zum Material Lothar Lang: Expressionistische Buchillustration in Deutschland
1907–1927. Leipzig 1975.
89 Vgl. zu typographischer Experimentalität der Avantgarde auch die Beispiele in Apol-
linaires Calligrammes, z. B. Du Coton dans les oreilles, in: Guillaume Apollinaire:
Œuvres poétiques. Hg. von M. Adéma, M. Décaudin. Paris 1956 (Pléiade), S. 287.
Hugo Ball druckt sein dadaistisches ›Stiftungsgedicht‹ Die Karawane multitypogra-
phisch in Kleinbuchstaben mit jeweils einer anderen Schriftform je Zeile. Vgl. Hugo
Ball: Gesammelte Gedichte. Hg. von Annemarie Schütt-Hennings. Zürich 1963, S. 28
20 Erich Kleinschmidt

aus die Einführung von (häufig dann auch collagierter) Schrift in die Bilden-
de Kunst der ›Moderne‹ statt.90 Doch bildet sich daneben als wichtiger Wir-
kungsstrang eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten oraler Perfor-
manz aus. Mündliche Textexperimente werden wichtig. Überlegungen (etwa
Raoul Hausmanns) zu einer optophonetischen Notation (»musikalische
Schrift«) vermittels der typographischen Präsentation durch »größere oder
kleinere, dickere oder dünnere Buchstaben« entstehen.91 Das konkrete For-
schungsdefizit für die Frühphase besteht trotz der grundsätzlichen Ver-
fügbarkeit von Aufzeichnungsmedien darin, dass ein originaler Eindruck
mangels erhaltener Tonaufnahmen davon nicht oder nur als seltener Ausnah-
mefall wie im Falle von Kurt Schwitters Ursonate (1926/1932)92 zu gewinnen
und zu diskutieren ist.
Allerdings muss man den Blick nicht allein auf eine ›historische‹ Auffüh-
rungspraxis richten, für die eine zeitgenössische Notationspraxis93 weitge-
hend fehlt, experimentelle Texte der ›klassischen Moderne‹ sind immer auch
eine Herausforderung für Neuinterpretationen. Schon im lautpoetischen Be-
reich, erst recht im sonstigen Produktionsfeld erweisen sich diese, legt man die
überlieferten Eindrücke von Zeitgenossen zugrunde, anders orientiert als
die historische Vortragspraxis. Diese muss, dem allgemeinen rhetorischen
Sprechstil der Zeit entsprechend, zumeist noch stark pathetisiert gewesen sein.
Das hinderte deren für das Publikum provokanten Charakter nicht. Wal-
ter Mehring erinnert sich an Abende im Berliner ›Sturm‹-Kreis um Herwarth

(nur Text), als Faksimile-Abbildung in Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Tristan


Zara: Dada. Geschichte der Gründer. Zürich 1957, S. 43. Vgl. auch das »poème objet«
von Futuristen und Dadaisten.
90 Vgl. als Überblicksarbeiten Wolfgang M. Faust: Bilder werden Worte. München
1977; Samson D. Sauerbier: Wie die Bilder zur Sprache kommen. Ein Struktur-Mo-
dell der Text-Bild-Beziehungen, in: Kunstforum International 37 (1980), S. 12–30
und ders.: Zwischen Kunst und Literatur. Übersicht über Text-Bild-Beziehungen.
Beispiele für eine Typik, in: Ebd., S. 31–95; bedingt noch einschlägig Heinz H. Mann:
Wörter und Texte in den Bildkünsten. Vier Studien zum Verhältnis von Sprache und
bildender Kunst. Bamberg 1999, hier S. 377–410 (zu Marcel Duchamp).
91 Vgl. dazu die Nachweise bei Michael Lentz: Lautpoesie/musik nach 1945. Wien 2000,
Bd. 2, S. 842 ff. Inspiriert haben dürfte ihn dazu das Karawane-(Laut-)Gedicht Hugo
Balls, das über einen variablen Letternsatz eine Vortragsmodellierung nahe legt.
92 Vgl. die (auch typographisch besonders gestaltete) Druckfassung von 1932 in: Kurt
Schwitters: Das literarische Werk. Hg. von Friedrich Lach. Köln 1973, Bd. 1,
S. 214–242. Es existiert eine Tonaufnahme (z. T. auch als Film) von Schwitters selbst
aus dem Jahr 1930, zugänglich seit 1993 als CD bei Wergo (6304–2).
93 Schwitters versuchte noch in den 30er Jahren für die Ursonate eine Notenschrift zu
entwickeln. Vgl. K. Lauch, in: Schwitters: Das literarische Werk, S. 311. Zur Nota-
tionsproblematik vgl. Michael Lentz: Lautpoesie/musik, Bd. 2, S. 832 ff.
Literatur als Experiment 21

Walden, »bei denen Dr. Blümners und meine Rezitationen der August-
Stramm-Werke in Gejohl und Gelächter endeten«.94 Das in allen Kunstbe-
reichen der frühen ›Moderne‹ gegen eine bildungsbürgerliche, ›saturierte‹
Ästhetik gerichtete Selbstverständnis der Avantgarden erstreckte sich im
Modus der »Störung« auf Produktion und Vermittlung gleichermaßen. Es
ging dabei stets um die Markierung einer Konventionsgrenze, die von den
Akteuren prinzipiell überschritten werden wollte und deren gelungene
Übertretung von einem bewusst herausgeforderten Publikum in der Regel
durch skandalisierende Gegenreaktionen bestätigt wurde. Das schließt ge-
genläufig auch den (eher kleinen Kreis) der Zustimmenden ein.
Provokation und Experiment sind vielfach aufeinander bezogen, wenn
auch nicht unbedingt. Experimentelles Schreiben blieb zeitgenössisch oft
auch kryptoform und einer verspäteten Aufnahme oder Entdeckung vorbe-
halten, dann zumeist beraubt ihrer verstörenden Impulse, weil inzwischen li-
teraturgesellschaftlich Gewöhnung eingetreten war. Zur Tragik, aber auch
Spezifik des Experiments gehört, dass es dem Gesetz der literarischen Evolu-
tion folgend ›normal‹ wird. Wo einmal Provokation war, schleicht sich Ak-
zeptanz ein, die bei größerem Rezeptionsverzug mit Wirkungslosigkeit ein-
hergehen kann. Das Experiment funktioniert in seiner Zeitgebundenheit
literaturgesellschaftlich nicht mehr oder zumindest anders als ursprünglich
kalkuliert.
Darin steckt jedoch ein Forschungsdilemma. Ob eine ›Authentizität‹ ex-
perimenteller Literaturproduktion überhaupt gegeben und entsprechend zu
rekonstruieren ist, bleibt strittig. Jedes Experiment setzt spezifische Rah-
mungen voraus, deren Qualität und Funktion nur bedingt eindeutig zu his-
torisieren sind, weil die phänomenalen Parameter nicht ohne weiteres als the-
oretische Substrate zeitgenössisch zu unterstellen sind, sondern sich erst von
heute her als formulierbar ergeben. Schon die als für die ›Moderne‹ charakte-
ristisch vereinnahmten Leittheoreme von Sprachskepsis und Sprachkrise
illustrieren dies. Sie stellen strukturierende Zuordnungsphänomene dar, de-
ren synchrone Impulskraft nicht ohne weiteres für die gesamte Produktion
der ›klassischen Moderne‹ als konkret gegeben unterstellt werden kann.
Hugo Balls ›dadaistisches‹ Romanprojekt Tenderenda der Phantast
(1914/22) ist in seiner Initialisierung deshalb schwer einzuordnen. Steht das
sinnauflösende, artistische Sprachspiel im Vordergrund dieses experimentel-
len »phantastischen Roman[s]«95 oder hat man in ihm das Modell einer sub-

94 Zitiert nach der Dokumentensammlung von P. Raabe (Hg.): Expressionismus. Auf-


zeichnungen und Erinnerungen von Zeitgenossen. Olten, Freiburg 1965, S. 119.
95 So Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 124.
22 Erich Kleinschmidt

til verschlüsselten und innovativ konturierten Autobiographie nebst ihren


Stationen zu sehen?96 Im ersten Fall läge der Akzent klar auf einer sprach-
destruktiven, provokativen Wortpoetik. Im zweiten Fall diente die antikon-
ventionalistische Sprachauflösung des Textes mehr der Verschleierung einer
gezielt abgedrängten Identitätsstiftung: Entsinnung als deskriptive Dysfunk-
tion. Derart betrachtet, wäre ein Antagonismus bei gleicher Auflösung des
Sprachumgangs anzusetzen. Er bliebe unentscheidbar. Aber es ließe sich
auch behaupten, dass beide Befunde sich gar nicht ausschließen, versteht
man sie als nebeneinander wirksame, vernetzte Intensitäten. Sie ergäben
dann als jeweils gewählte Auflagen der Interpretation unterschiedliche Rah-
mungen, die der Spracharbeit differente Funktionen zuordneten. Das führt
dazu, das ›Angebot‹ des Textes, ironisch zum »Grandhotel der Metaphy-
sik«97 paralysiert, letztlich als offen, weil plural motiviert zu betrachten und
ihm keine ›authentische‹ Lesart z. B. sprachkrisenhafter Provenienz auferle-
gen zu können.
Die Herausforderung Balls und der mit Textualität experimentierenden
›Moderne‹ liegt darin, dass sie den Leser wie den Interpreten dazu zwingen,
die eingeschriebene Diffusität des literarischen Experiments aushalten zu ler-
nen und ihre funktionale Offenheit nicht nachträglich durch strukturelle
Auflagen unterlaufen zu wollen. Was verstehbar und beschreibbar ist, be-
trifft die Machart, den Umgang mit den sprachlichen Ausdruckselementen,
nicht aber deren sinnstiftende Funktion, weil diese in der Schwebe bleibt wie
der ›Name‹ Tenderenda, der Bedeutungspotentiale des ›Strebens‹ (zu lat. ten-
dere) anzitiert, ohne sie ›wirklich‹, d. h. morphologisch präzise verortbar, an-
bieten zu können. Ähnlich diffus ist die Morphologie des Namens bezogen
auf das Geschlecht seines Trägers. Die Endung auf -a suggeriert Weiblich-
keit, Titel und Text selbst verweisen klar auf einen männlichen Titelhelden.
Überschichtende ›Wörtlichkeiten‹ bestimmen hier wie insgesamt Balls über
mehr als ein Jahrzehnt hinweg vorangetriebenes, z. T. dann dadaistisch invol-
viertes Romanexperiment, dessen ›phantastische‹ Qualifikation auf intellek-
tuelle Subversion hinausläuft.
Sie besteht darin, dass sich das Medium Sprache verselbstständigt als ein
zwar assoziierbares, aber thematisch inkonsistentes Gewirr von Wörtern,
Sätzen und Sequenzen, die den Charakter von sich überlagernden Stimmen

96 Vgl. zuletzt als Monographie Claudia Rechner-Zimmermann: Die Flucht in die Spra-
che. Hugo Balls »Phantastenroman« im kulturgeschichtlichen Kontext zwischen
1914 und 1920. Marburg 1992.
97 Vgl. Hugo Ball: Tenderenda der Phantast. Hg. von Raimund Meyer, Julian Schütt.
Innsbruck 1999, S. 27.
Literatur als Experiment 23

oder von aus dem Zusammenhang gelösten Textausschnitten haben. Damit


ist das poetologische Gestaltungsprinzip schon umrissen. Es geht um eine in-
telligibel willkürliche Segmentierung und Rekonfiguration, die Sinnanlage-
rungen ermöglicht, ohne aber eine verbindliche Sinnzentrierung anzustre-
ben. Es ist das Prinzip, das neben vielen anderen vor allem Kurt Schwitters
als MERZ programmatisch entworfen und gesamtkunstwerklich konzipiert
hat, indem er der Sprachcollage die Bilddimension, ja dann sogar Bühnen-
und Architekturraum (MERZ bau98) radikal und letztlich abstrakt hinzufüg-
te: »Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die
Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder
und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollten.«99 Die
Elemente der Gestaltung erscheinen als eine Art Treib- oder Ansammlungs-
gut, das seine ›Ordnung‹ dem Zufall einer ›findenden‹ Verfügbarkeit wie der
Verfügung verdankt. Das entstandene Kunstwerk ist folglich auch nicht
mehr auktorial geschaffen zu denken, denn auch sein Gestalter ist selbst im-
mer schon »Teil« und »Material«.100
Die experimentelle Linie der ›Moderne‹ ist eine ästhetisch zentral von der
Materialität her kommende und begründete Praxis, sei es Sprache, Bild oder
Klang. Auf Laut- bzw. Buchstabenebene macht das Anagramm dies am bes-
ten anschaulich, dieses inspirierte Spiel mit einer elementaren und zugleich
universalen Textualität, lässt sich das Anagramm doch als produktive All-
form, als Letternkasten der Textkomposition verstehen.101 Jeder Text, sei er

98 Vgl. zum Projekt des in Hannover zwischen ca. 1923 und 1936 entstandenen, im
Krieg zerstörten MERZbaus von Schwitters Dietmar Eiger: Der MERZbau, in: Kurt
Schwitters 1887–1948. Ausstellung zum 99. Geburtstag. Sprengel-Museum Hanno-
ver 4.2.-20.4.1986. Frankfurt a. M., Berlin 1986, S. 248–254 (mit Abb.); zu seiner Re-
konstruktion vgl. Harald Szeemann: Die Geschichte der Rekonstruktion des
MERZbaus (1980–1983), in: Ebd., S. 256–258.
99 Vgl. Kurt Schwitters: Merz, in: Ders.: Das literarische Werk. Hg. von Friedrich Lach.
Köln 1981, Bd. 5, S. 74–82, hier S. 79.
100 Vgl. Schwitters: Merz, S. 82: »Schaffen können wir es [sc. das Merzgesamtkunstwerk]
nicht, denn auch wir würden nur Teile, und zwar Material sein.«
101 Die Vorstellung geht schon auf Jean Paul zurück. Vgl. Monika Schmitz-Emans: Zwi-
schen weißer und schwarzer Schrift. Edmond Jabès’ Poetik des Schreibens. München
1994 (mit weiterer Literatur). Vgl. als Beispiel für eine phantasierte Produktionsäs-
thetik des signifikativen Experiments den Beleg in Jean Pauls Titan, wo »jede Taste
[…] eine Schriftpunze, das Klavier ein Letternkasten« werden kann. Vgl. Jean Paul:
Werke. Hg. von Norbert Miller. München 41980, Bd. 3, S. 183. Anschließbar wäre
auch der »Buchstabe« als »geistige Münze-Chiffern« bei Novalis: Das allgemeine
Brouillon, in: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg.
von Hans Joachim Mähl, Richard Samuel. München 1978, Bd. 2, S. 476, Nr. 31.
24 Erich Kleinschmidt

sinnzentriert oder sinnsprengend, kann als das Ergebnis eines anagrammati-


schen Schreibmodus projiziert werden. Das faszinierte nicht nur Textmysti-
ker mit ihren hieroglyphischen Träumen und Projektionen, sondern gerade
auch die literarischen Experimenteure mit ihrer anthropologischen Tendenz
zur Bastelei (bricolage).
Was ergibt ein elementares anagrammatisches102 Bestands-Corpus wie
ANNA ? Es vermittelt zunächst seine retrograde Austauschbarkeit als Palin-
drom, aber auch die repetetive Umordnung NANA . Beide Figurationen
produzierten weibliche Namen trivialer oder dann auch literarischer Prove-
nienz, was für die drei noch weiter möglichen anagrammatischen Vertau-
schungen NNAA , AANN und ANAN alles nicht gälte und sie deshalb we-
nig attraktiv macht. Die disseminative ›Mechanik‹ der Konfiguration erzeugt
also Anlagerungsfähiges wie Blindes, was die literarischen ›Produkt‹-Anteile
›Autor‹ und ›Leser‹ ins Spiel bringt. Sie füllen das Angebot im einen Falle in
Richtung ›Lesbarkeit‹ auf, im anderen Fall bleibt es stumm. Ein memorial
überkodiertes Strukturprinzip generiert den Auffüllwert eines Buchstaben-
spiels, aus dem heraus der motivatorische Weg zu einem Gedicht über eine
palindromisch definierte Namensfigur nicht weit ist.
Diese materielle Experimentalsituation entbindet Kurt Schwitters’ gro-
tesk-ironisches Liebesgedicht An Anna Blume (um 1919):103 »Weißt Du es
Anna, weißt Du es schon, / Man kann Dich auch von hinten lesen.« In einem
zweiten Schritt wird dies morphologische Lautphänomen im parodistischen
Modus (»ich liebe Dir!«) auf eine personale Identität rückgelesen, ohne dann
doch mehr zu sein als eine Art ›grammatisches‹ Subjekt, das man formular-
mäßig ›deklinieren‹ kann, indem Sätze und Satzfragmente anlagernd durch-
gespielt werden. Die anagrammatische Buchstabenvorgabe wird so einerseits
realisiert, andererseits wiederum neuerlich materialisiert. Dieser Prozess
lässt sich mehrfach wiederholen, wie die zitathafte ›VerMERZ ung‹ des Ge-
dichts durch Schwitters selbst in seinem im ›Sturm‹ 1921 publizierten Mani-
festtext Aufruf zeigt.104 Das im Experiment gewonnene, ›markierte‹ Material
wird weiteren, erneut offenen Experimentalschritten unterworfen.
Die Schreibgenese folgt dabei der stets gegebenen Sprachbewegung von
Bahnung, Stasierung und Auflösung. Grundcode und Sprachspiel verschlin-

102 Zur komplexen, hier nicht näher diskutierbaren Poetologie des Anagramms vgl. den
differenzierten Artikel ›Anagramm‹ von Anselm Haverkamp, in: Karlheinz Barck
u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2000, Bd. 1, S. 133–152.
103 Vgl. Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1, S. 58 f.
104 Vgl. Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1, S. 60–63 (als verkleinertes Faksimile des
Originaldrucks).
Literatur als Experiment 25

gen sich in einem Modus heteronomer Autonomie. Die Wahrnehmung von


sprachlicher Elementarität bei gleichzeitiger Einführung komplexer, bis in
die reine Abstraktion führender Neufiguration begründet Experimentalität
als schwebende Mischung von ausflutender Destruktion und sich darüber
einstellender Konstruktion. Das Vertraute ist noch als ›ent-setztes‹ Material
da, ohne dass das aus ihm gewonnene Neue und Unbekannte schon gültig
›gesetzt‹ wäre. Das literarische Experiment ist den Modi des Eintritts wie des
Aufschubs gleichermaßen verhaftet: Es geschieht, ohne in einen Status, gül-
tig zu sein, eintreten zu wollen. Seine Verfassung bewegt sich in der Nähe je-
ner unabgeschlossenen, unabschließbaren ›works in progress‹, denen sich die
Produktionsästhetik der ›Moderne‹ so oft sehr bewusst verpflichtet und aus-
geliefert sieht.
Im experimentellen Text vollzieht sich eine kulturelle Praxis, die den Akt
performativer Setzungen, wie sie ›normale‹ Sprechakte erzeugen, unterläuft
und damit auch das Prinzip von stiftender Autorität aushebt. An ihre Stelle
tritt ein kulturelles ›Handeln‹, das Ordnungskategorien und Intentionen
bewusst vermeidet zugunsten einer Genese des Sich-Öffnens, der »Ent-
lassung«.105 Dem steht der Charakter experimenteller Provokation nicht ent-
gegen, er illustriert sogar die Disposition, ist doch die gestalterische Heraus-
forderung des Textversuchs auf Offenheit gerichtet, der Eingrenzung, der
Definition entzogen. Es kommen »Methoden« zum Tragen, »deren sachli-
ches Ergebnis« man »nicht absehen kann«.106 Das Experiment ereignet sich,
ohne dass Auswirkung und umrissener Abschluss intentional wie rezeptiv
feststehen.
Dahinter steckt keine proklamative Attitüde, sondern ein Sachverhalt ge-
sellschaftlichen Handelns. Auf ihn hat der Sozialphilosoph Castoriadis ver-
wiesen. Er machte deutlich, dass jedes Tun »in seinem Wesen verkannt« sei,
»wenn man nicht sieht, daß es ein Sein-lassen ist, und wenn man es statt des-
sen einzelnen Bestimmungen [wie gut oder böse] unterordnet, die von die-
sem Tun erst hervorgebracht werden«.107 Das literarische und künstlerische

105 Vgl. zu diesem Modell Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer
kritischen Theorie der Kultur. Würzburg 2001, S. 273 ff. unter dem von Werner Ha-
macher eingeführten Begriff des »Afformativ«, der sich theoretisch auf Denkkonstel-
lationen W. Benjamins in seiner ›Kritik der Gewalt‹ bezieht. Vgl. Werner Hamacher:
Afformativ, Streik, in: Christian L. Hart-Nibbrig (Hg.): »Was heißt Darstellen?«
Frankfurt a. M. 1994, S. 340–371.
106 Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 43. Vgl. auch ebd., S. 63: »[…] daß die Gebilde
Züge enthalten sollen, die im Produktionsprozeß nicht absehbar sind.«
107 Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer po-
litischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1990, S. 287.
26 Erich Kleinschmidt

Experiment funktionalisiert diese These, die keinen traditionellen Seins-


begriff der Bestimmtheit mehr akzeptiert, sondern auf einen setzt, der sich
abschließender Bestimmung versagt. Der Überschusscharakter des Ästheti-
schen, wie ihn die ›Moderne‹ in erklärt experimenteller wie nichtexperimen-
teller Literatur und Kunstproduktion intensiv reklamiert, lässt sich so auch
handlungstheoretisch einholen.
Damit fällt dem literarischen Experiment in der ›Moderne‹ auch ein Mo-
ment von Zufälligkeit, von Kontingenz zu, das immer auch das Risiko mög-
lichen Scheiterns beinhaltet. Dieses betrifft das experimentelle Ereignis, aber
auch die in ihm involvierte Subjektivität von Produzenten und Rezipienten.
Sie erleben den experimentellen Äußerungsakt nicht nur als ein formal
Fremdes, sondern spezifisch auch als ein Befremdendes, d. h. als ein »Ich-
fremdes«108 mit teilweise verstörenden Effekten von Verlorenheit und Des-
orientierung. Solcher Erfahrung steht indes eine andere der Öffnung und Be-
reicherung der Ichs gegenüber, die mit einer Textsphäre der Überschreitung
konfrontiert werden. Für die expressionistischen Sprachtheoretiker konkre-
tisierte sich solche Konstellation im Durchstoßen grammatischer Sprache
und ihrer kausalen Aussagelogik. Indem man beides suspendierte, wollte
man, so die These, eine »neue Sprache« ohne die Zwänge konventioneller
Syntax gewinnen: »Sie wird Musik und Gebärde sein, vielleicht einmal Tanz
und Weissagung:«109 Es ist die metaphorische Projektion von Möglichkeiten,
über die dem Ich eine entgrenzte, artikulative Freiheit jenseits der vertrauten
Verhältnisse zwischen Sprache und Nutzern gewährt wird. Solch experimen-
telles Dispositiv dient einem Erleben, das konstruktive Verfremdung sucht,
um sich zwischen bewusster Artikulation und unbewusster Hingabe ›neu‹
zu finden.
Das literarische Experiment macht deutlich, dass sich in der ›Moderne‹
konstruktive Modellierung mit kontingenter Produktivität in eigenartiger
und charakteristischer Weise verbindet und ergänzt. Das Kalkül der experi-
mentellen Erprobung enthält beide Aspekte ästhetischen Gewinns, wobei
sich Autorschaft einem subjektzentrierten Werkdiskurs gleichermaßen zu
entziehen versucht. Eine konstruktivistische Textproduktion projiziert einen
entsubjektivierten, weil überindividuell begründeten Schreibvorgang, eben-
so, wie dies auf andere Weise auch die zufällige Textgenese erreicht. Das
Schnittfeld beider schöpferischer Generierungen läuft auf eine depersonale
›Technik‹ des Materialumgangs hinaus. Das Werk soll nicht mehr als Ergeb-

108 Zum Begriff vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 64.


109 Vgl. Oswald Pander: Revolution der Sprache [1918], in: Pörtner: Literaturrevolution,
Bd. 2, S. 233–235, hier S. 234.
Literatur als Experiment 27

nis von Entscheidungen verstanden sein, sondern mit Hilfe eines ›techni-
schen‹ Aufzeichnungskalküls, einer Methode der erfassenden Deskription.
Es geht darum, schreibende wie rezipierende Subjekte in Stand zu setzen,
sich narrativen Abläufen konfrontiert und ausgeliefert zu sehen.
Alfred Döblin entwickelt hierzu eine radikale Romanpoetik in seinem
Berliner Programm von 1913.110 Er fordert dort die »Entäußerung« des Au-
tors gegenüber dem sich ereignenden Text: »ich bin nicht ich, sondern die
Straße, die Laternen, dies und dies Ereignis.«111 Solches Verschwinden der
Autorschaft im Erzählvorgang nähert den Roman einem naturwissenschaft-
lichen Experimentalgeschehen und seinen Protokollierungstechniken ohne
analytischen ›Kommentar‹ an. Entsprechend fordert Döblin eine Narration,
die »entseelte Realität« vermittle. Sie soll als reiner »Ablauf« von vorüberzie-
hendem Geschehen erscheinen. Der Romantext wird zur ›Oberfläche‹ einer
Aufzeichnungsprojektion: »Die Fassade des Romans kann nicht anders sein
als aus Stein oder Stahl, elektrisch blitzend oder finster; sie schweigt.«112 Das
formale Modell dieser Romanpoetik ist unverkennbar das neue Medium
Film, worauf Döblin explizit in der Benennung seiner Darstellungsweise als
»Kinostil« verweist: »in höchster Gedrängtheit und Präzision hat ›die Fülle
der Gesichte‹ vorbeizuziehen«, so dass im Ergebnis »das Ganze […] nicht er-
scheinen [darf] wie gesprochen sondern wie vorhanden«.113
Die Anspielung auf das Kino dient hier nicht zur Begründung einer ›fil-
mischen Schreibweise‹, wie immer wieder von der Forschung behauptet
wurde. Das ›Kino‹ verhilft Döblin nur zu einer avancierten Metapher, um ei-
nen Stilgestus des Erzählens zu charakterisieren, der »nicht mehr den Erzäh-
lenden und seine Subjektivität ins Spiel bringt«.114 Das Leitbild für diesen
Schreibanspruch holt sich das Berliner Programm ganz woanders her. Es ist
(mit autobiographischem Hintergrund des Dr. med. Döblin) die Psychiatrie,
die »sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen« beschränkt, »mit ei-
nem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ›Warum‹ und
›Wie‹«.115 Der ›neue‹ Roman Döblin’scher Prägung erzählt nicht kausal dis-

110 Vgl. Erich Kleinschmidt: Depersonale Poetik. Dispositionen des Erzählens bei Al-
fred Döblin, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 383–401.
111 Vgl. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in:
Ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 119–123, hier S. 122.
112 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121, 574.
113 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121 bzw. S. 122.
114 Vgl. dazu Erich Kleinschmidt: Zwischenwege. Döblin und die Medien Film, Rund-
funk und Fotographie, in: Wirkendes Wort 2001, S. 401–419, hier S. 404.
115 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121.
28 Erich Kleinschmidt

ponierend und kommentierend, er notiert »Abläufe«, ohne dass der Autor


und seine subjektiven Vorgaben ins Spiel kommen dürfen.
Das Schreibexperiment psychiatrischer Diskursivität wird hier installiert,
als dessen Dokument der China-Roman Döblins Die drei Sprünge des
Wang-lun (1912–13)116 gilt. Das noch radikalere Beispiel solchen Notat-Er-
zählens ist ein ganz knapper, universal als »Roman« betitelter Text aus dem
Nachlass Döblins,117 der die Geschichte einer Stadt am Meer zwischen Seu-
che und Überflutung in verdichteter Intensität erklärungslos ›skizziert‹. Es
geht um ›Bilder‹ voll Stimmung und Atmosphäre, die in einem »steinernen
Stil«118 blockartig geschichtet vermerkt werden. Ein kleiner Ausschnitt, der
Bedrohung suggeriert, sei zitiert:
Es ist nicht die Unendlichkeit. Es ist sehr eng. Niedrig. Es führt nicht weg. Wo ihr
das Meer seht, habt das Gefühl des Dräuens, des Näherrückens.
Eine finstere hinterlistige Stirn. Eisern.
Und es kommt nicht. Es hält nur gespannt. Es lupft nur von Zeit zu Zeit eine
Seige [= flacher Kahn] näher. Es lauert. Ein Gurren dringt herüber. Eine Unend-
lichkeit des Heranrückens, Dräuens.119

Die Qualität dieses ›Sprachfilms‹ besteht gerade nicht in einer entgrenzten


Semiotisierung. Döblin setzt zwar auf überraschende, antikonventionalisti-
sche Effekte, doch sind sie das Ergebnis eines disziplinierten Umgangs mit
Sprache, mit der er wie ein Chemiker mit seinen Stoffen umgehen will: »sie
müssen sauber, rein sein, bestimmbar quantitativ und qualitativ.«120 Das
›Sprachlabor‹ versucht sich den Verfahrensregeln des naturwissenschaftli-
chen Labors anzunähern, um eine neue »Sprachwerdung eigentümlicher Si-
tuationen und Personen« zu erreichen.121
Döblin will sich bei dieser seiner ›experimentellen‹ Spracharbeit der be-
hutsamen Beobachtung eines »Naturforschers« verpflichtet sehen, der »dem

116 Das Datum bezieht sich auf die Niederschrift, die parallel zur Arbeit Döblins als ge-
rade erst niedergelassener Nervenarzt in Berlin erfolgte. Der Autor fand zunächst
keinen Verleger, so dass der Roman erst Anfang 1916 bei S. Fischer erscheinen konn-
te.
117 Vgl. Erich Kleinschmidt: Roman im »Kinostil«. Ein unbekannter »Roman«-Entwurf
Alfred Döblins, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Gei-
stesgeschichte 63 (1989), S. 574–586, der Romantext S. 583–586.
118 Zum Begriff vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 122 (als Zweitbe-
griff für »Kinostil«).
119 Vgl. Kleinschmidt: Roman im »Kinostil«, S. 583.
120 Vgl. Alfred Döblin: Über Roman und Prosa [1917], in: Ders.: Kleine Schriften I. Hg.
von Anthony W. Riley. Olten, Freiburg 1985, S. 226–232, hier S. 229.
121 Vgl. zum Begriff Döblin: Über Roman und Prosa, S. 230.
Literatur als Experiment 29

Leben seiner Figuren wie […] dem Spiel zarter, scheuer Tiere« folgt.122 Das
beinhaltet den Verzicht auf sprachmächtige ›Gestaltung‹. Für Döblin muss
der Romanautor »vor allem schweigen können«.123 Er hat sich in seiner
herkömmlichen Artikulationsherrschaft ganz zurückzunehmen und einem
Sprachfluss anzuvertrauen, um sich in »den sehr konkreten Vorgang«, um
den es jeweils geht, verwandeln zu können.124 Aus der Abwesenheit eines
Ausdruckswillens entsteht so das Modell einer beobachtenden, sprachinduk-
tiven Narration, deren pragmatische Heimat Naturforschung und Psychia-
trie sind. Der verstörenden Realität der Welt wird dabei probend eine ›nega-
tive‹ Sprache abgewonnen, denn »es giebt keine Sprache, es giebt nur Sachen
und Vorstellungen«.125
Die experimentellen Poetologien der ›klassischen Moderne‹ in Deutsch-
land bewegen sich in einem Spektrum von Spracharbeit, die sich in erster Li-
nie dem Literatursystem, aber dann auch der Gesellschaft gegenüber kritisch
verhält. Artistischen Modellen der Sprachfindung auf der Basis konventio-
nell noch anschließbaren Ausdrucks stehen radikalere Verfahren der Sprach-
zertrümmerung im Hinblick auf Syntax, Morphologie und damit auch Se-
mantik gegenüber. Produktions- und wirkungsästhetische Anliegen spielen
in allen Fällen eine Rolle, doch unterscheiden sie sich im tragenden Modus
der Kommunikation. Sprachdestruktive Ansätze richten sich auf einen ent-
semantisierten Globaleindruck ganzheitlichen Erlebens, teils sehr ernsthaf-
ter, deiktischer Zielsetzung, teils aber auch mit der spielerischen Geste der
Unsinnspoesie ausgestattet. Zwischen den Intentionen sind die Grenzen flie-
ßend.126 Das andere Lager der wortsemantisch experimentierenden Texte
setzt grundlegend auf eine ›neue‹ Lektürepraxis.
In beiden Gruppen spielen Grenzerfahrungen und dann auch Grenz-
überschreitungen eine wichtige Rolle, die nicht nur die aktivierte Sprache
selbst reflektieren, sondern auch ihr Nichtfunktionieren, ihre Abwesenheit
und ihr Schweigen. Experimentelles Schreiben in der ›Moderne‹ versucht
dies durch das Prinzip reiner, ›absoluter‹ Form anzugehen, wo bis in die Ty-
pographie hinein der Vorstellungsraum zwischen den Zeichen, das Nichtge-
sagte und Nichtsagbare, aber auch das Ausgegrenzte des Wahns127 oder die

122 Vgl. Döblin: Über Roman und Prosa, S. 227.


123 Vgl. Döblin: Über Roman und Prosa, S. 227.
124 Vgl. Döblin: Über Roman und Prosa, S. 228.
125 Vgl. Alfred Döblin: Stilistisches [um 1914], in: Ders.: Kleine Schriften I, S. 218–220,
hier S. 219.
126 Vgl. zur materiellen Kontur Harald Henzel: Literatur an der Grenze zum Spiel. Eine
Untersuchung zu Robert Walser, Hugo Ball und Kurt Schwitters. Würzburg 1992.
127 Vgl. zum Interesse an psychiatrischer Literatur in der ›Moderne‹ z. B. Walter Benja-
30 Erich Kleinschmidt

ekstatische Verrückung zur eigenen Wertigkeit aufsteigen. Ihre spielerisch


freie Ausformung ist eine Lautkunst, in der ›Rede‹ sich universal als Alltext
artikuliert. Neben dieser weitestgehenden Lösung entsteht eine experimen-
telle Literatur der Polyvalenz, die im texttheoretischen Referenzgefüge von
Form und Inhalt auflösende Bewegungen anregt und modelliert. Dabei geht
es neben Eingriffen in ein traditionelles Literatursystem um die Rolle und
Funktion der Sprache, die in eine gleitende Verfasstheit gerät,128 sei es auf der
Ebene der Signifikanten, sei es bei den Signifikaten. Selbst deren funktionale
Tauschbarkeit wird zu Möglichkeit und Thema. Die geordnete Welt der
Texte und ihres Mediums erscheint so zur Disposition gestellt. Darum ging
es im Literarischen wie Künstlerischen der ›klassischen Moderne‹: Produktiv
Möglichkeiten des Ausdrucks zu erproben, ohne von Lösung und ästheti-
schem Gelingen überzeugt zu sein. Wichtig war zunächst das offene Ange-
bot, nicht das Versprechen auf abschließende Gültigkeit. Immer etwas Unge-
wisses zu versuchen charakterisiert den Impuls, der diese heftige Phase
kulturellen Experimentierens bestimmt.

min: Bücher von Geisteskranken. Aus meiner Sammlung [1928], in: Ders.: Gesam-
melte Schriften. Hg. von Tilman Rexroth. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 4,2, S. 615–619.
Zum wissenschaftsgeschichtlichen Dispositiv dahinter vgl. jetzt Torsten Hahn, Jutta
Person, Nicolas Pethes (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koeva-
luation von Experiment und Paranoia 1850–1910. Frankfurt a. M., New York 2002.
128 Vgl. dazu ausführlich Erich Kleinschmidt: Gleitende Sprache. München 1992.

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