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Erich Kleinschmidt
Der Begriff des Experiments ist der vormodernen Literatur fremd. Sein me-
thodischer Ort ist seit Roger Bacon die empirische Erprobung eines theore-
tisch postulierten Sachverhalts im Kontext der Erfahrungs- bzw. Experimen-
talwissenschaften.1 Das erschien vor allem mit einer literarischen Praxis
unvereinbar, die auf eine nachahmend angelegte Regelpoetik reflektierte.
Aber auch deren genieästhetische Verabschiedung löste die Literatur nicht
vom Prinzip normativer Produktionsregeln. Erst die Frühromantiker pro-
klamieren eine »Erfindungskunst«,2 die kombinatorische Darstellung in
Analogie zum naturwissenschaftlichen Experimentieren andenkt. Im weite-
ren Verlauf bleibt das für die literarische Praxis weitgehend folgenlos. Erst in
den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts setzt eine mentale Rezeption
experimenteller Verfahren durch die Literatur wieder ein, wobei weniger die
literarische Gestaltungsweise als der funktionale Diskursort des Experimen-
tellen eine Rolle spielt.3
1 Der aktuell praktizierte Begriff der Erfahrungswissenschaft nimmt auf, dass bis in die
Renaissance hinein lat. experimentum als ›Versuch‹ bedeutungsidentisch mit expe-
rientia gewesen ist, das seinerseits dann aber auch metonymisch schon im klassischen
Latein zur ›Erfahrung‹ wird. Vgl. J. Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philo-
sophie. Basel 1972, Bd. 2, S. 868 (Artikel ›Experiment‹ von G. Frey). Vgl. zur Ent-
wicklung auch Lorenz Diefenbach: Glossarium latino-germanicum mediae et infi-
mae latinitatis. ND Darmstadt 1997, S. 218, s. v. experimentum mit der Glossierung
›Erfahrung‹, aber auch ›Erkenntnis‹. – Das 19. Jahrhundert bevorzugte den Begriff
der Experimentalwissenschaft. Vgl. charakteristisch um 1900 dazu: Meyers Großes
Konversationslexikon. Leipzig, Wien 1905, Bd. 66, S. 220.
2 Vgl. dazu Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Ders.: Schriften. Hg. von Paul
Kluckhohn, Richard Samuel. Stuttgart 1968, Bd. 3, S. 387, Nr. 648: »Eine sichtbare
Architektonik – und Experimentalphysik des Geistes – eine Erfindungskunst der
wichtigsten Wort und Zeichen Instrumente lässt sich hier vermuthen.«
3 Die Forschungslage zum Experimentellen in der Literatur hat noch zu keiner Zusam-
menfassung von Geschichte und Begriff geführt. Vgl. dazu zuletzt Georg Jägers Ar-
2 Erich Kleinschmidt
tikel ›Experimentell‹ in: Klaus Weimar u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Litera-
turwissenschaft. Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 546–548 (mit einer Auswahl der äl-
teren Literatur). Nicht dort aufgeführt an forschungsgeschichtlich seinerzeit relevan-
ten Arbeiten sind: Fritz Martini: Wagnis der Sprache. Stuttgart 1954; Helmut
Motekat: Experiment und Tradition. Bonn 1962; Alfred Liede: Dichtung als Spiel.
Berlin 1963, 21992; Hans Schwerte: Der Begriff des Experiments in der Dichtung, in:
Reinhold Grimm, Conrad Wiedemann (Hg.): Literatur und Geistesgeschichte. Fest-
gabe für H. O. Burger. Berlin 1968, S. 387–405; Siegfried J. Schmidt (Hg.): Das Expe-
riment in Literatur und Kunst. München 1978; an neueren Arbeiten kommen hinzu:
Hans O. Horch: Artikel ›Experiment‹, in: Dieter Borchmeyer, Viktor Žmegač (Hg.):
Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt a. M. 1987, S. 127 ff.; Reinhard
Döhl: Experiment und Sprache, in: Rüdiger Krüger (Hg.): Ist zwîvel herzen
nâchgebûr: Günter Schweikle zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1989, S. 351–374; aktuell
als ›work in progress‹ (Stand Sept. 2002) Reinhard Döhl: Möglichkeiten, Umfang und
Wurzeln experimenteller Literatur, Kunst und Musik im 20. Jahrhundert. Ein Pro-
jekt, unter: http://www.netzliteratur.net/experiment.
4 Vgl. Emile Zola: Le roman expérimental (1879). Hg. von G. Charpentier. Paris 1881.
Zola stützt sein Konzept auf die experimentelle Physiologie in der Medizin seiner
Zeit.
5 Auch die Poetologie der ›Moderne‹ entwickelt direkte Bezüge zwischen avancierter
Schreibweise und (z. B. biologischem) Experiment. Vgl. dazu etwa Gottfried Benn,
der die Genese eines Gedichts in Entsprechung zu den (Amphibien-)Keimexperi-
menten des Zoologen Hans Spemann (1869–1941) sehen will. Vgl. Gottfried Benn:
Natur und Kunst, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von G. Schuster. Stuttgart 1989,
Bd. 4, S. 360 f., hier S. 360.
Literatur als Experiment 3
ten einschließlich Psychologie und Medizin entlehnt, um so auch für die Li-
teratur einen ›fortschrittlichen‹ Denkstil und ein daraus resultierendes Werk-
verständnis reklamieren zu können. Dies geschieht vor dem Hintergrund,
dass auch von ›biopoetologisch‹ orientierten Naturwissenschaftlern wie Wil-
helm Boelsche her »jede[r] poetische[n] Schöpfung« der Status eines »ein-
fache[n], in der Phantasie durchgeführten Experiments« zugebilligt wird.6
Literatur rückt damit in die Nähe des naturwissenschaftlichen Gedankenex-
periments, wie es vor allem der Physiker Ernst Mach um 1900 methodisch fa-
vorisierte.7
Für die ideelle Rahmung von Literatur als Experiment wird in jedem Fall
der Ort in der Lebenspraxis8 bedeutsam, sei es, dass Schreiben immer auch
ein soziales Handlungsmodell darstellt, sei es, dass man Poesie als Medium
der Phantasie zur anthropologischen Ausstattung zählt. Der gedankliche
Querungsweg Nietzsches überrascht dann nicht mehr, wenn er in der Mor-
genröthe (1881) das Experiment als die neue condition humaine verkündet:
»Wir sind Experimente«,9 heißt es da. Und in der Genealogie der Moral
(1887) heißt es schon autoaggressiv, dass wir mit uns »experimentiren […],
wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns ver-
gnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf«.10 Das menschliche
Leben wird zum experimentellen Entwurf gemacht: »Experimental-Philoso-
phie, wie ich sie lebe«,11 nimmt konsequent der späte Nietzsche für sich in
Anspruch. So wird dem, was ursprünglich distanziertes Kognitionsinstru-
ment war, jene radikale Nähe und existenzielle Verbindlichkeit verschafft,
auf der dann ideell in der ›Moderne‹ auch die Literatur einen Experimentsta-
tus beanspruchen kann.12
Das operative Konzept, »mit Gedanken zu experimentieren«, ist schon
aufklärerischer Provenienz, wie es sich bei Lichtenberg programmatisch for-
muliert findet.13 Ähnlich verfährt die »physikalische Kunstlehre« des Nova-
lis, der den »Erfindungsgeist neuer Experimente« genieästhetisch figuriert
und ihn sogar zu »romantisiren und popularisiren« gewillt ist.14 Dahinter
steht die zugleich philosophische wie poetische Überzeugung, dass »Alles
[…] zum Experiment« werden kann, denn »das Geheimniß des Experimen-
tirens« liege wesentlich darin, Realität »in Experimente und Begriffe [zu]
verwandeln«.15 Der derart aufgerufene metamorphotische Prozess, dem po-
etischen Gestaltungsvorgang analog, reflektiert darauf, dass dem Experiment
eine verändernde Kraft innewohnt, die funktional der Phantasie nahe steht.
Das Experiment ist als naturwissenschaftlich wie poetisch eingesetztes In-
strument Erfindungskunst. Für die Literatur soll gelten: »Experimentiren
mit Bildern und Begriffen im Vorstellungs Vermögen ganz auf eine dem phy-
sikalischen Experimentiren analoge Weise. Zusammen Setzen. Entstehn las-
sen –.«16
Lichtenberg wie Novalis sahen im Experiment weniger ein Medium der
Approbation als eines der spielerischen Kreativität. Diese frühe kulturtheo-
retische Rezeption des Experimentaldenkens naturwissenschaftlicher Prove-
nienz rückt den Aspekt der inspirierten und inspirierenden Innovation und
Invention17 ins Zentrum experimenteller Produktion. Er kehrt auch im lite-
rarischen Experimentbegriff der ›Moderne‹ als konstante Idee wieder, ohne
12 Er geht weit über jenen älteren »Experiment«-Begriff hinaus, wie ihn sich um 1800
noch Fichte als ein philosophisches Beobachtungsmilieu denkt. Vgl. Johann G. Fich-
te: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre [1797], in: Ders.: Werke. Hg. von Im-
manuel H. Fichte. Berlin 1971, Bd. 1, S. 454: »Er [sc. der Philosoph] stellt ein Experi-
ment an. Das zu untersuchende in die Lage zu versetzen, in der bestimmt diejenige
Beobachtung gemacht werden kann, welche beabsichtigt wird, ist seine Sache.« Die
intellektuelle Mobilisierbarkeit bringt zwar auch schon ein dynamisches Moment ins
Spiel, belässt dieses aber noch in der Sphäre stillstellender intellektueller Erschlie-
ßung.
13 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher II, S. 454 (K 308): »Ein bequemes Mittel mit Gedan-
ken zu experimentieren ist, über einzelne Dinge Fragen aufzusetzen.«
14 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Ders.: Schriften, Bd. 3, S. 256, Nr. 89.
15 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 391, Nr. 657.
16 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 443, Nr. 911.
17 Vgl. zum Erfindungsaspekt auch Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 435, Nr. 863:
»Experimentiren ist gewissermaßen nichts, als calculiren. (Aller Calcül ist Analytisch
– inventorisch).«
Literatur als Experiment 5
18 Vgl. die zusammengefassten Studien in: Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Äs-
thetik. ND Hildesheim 1978, bes. Teil 1, S. 184 ff. (u. a. zum Begriff).
19 Der Streit um den Titel hat die Forschung beschäftigt. Vgl. Nachwort zu Carl Ein-
stein: Bebuquin. Hg. von Erich Kleinschmidt. Stuttgart 21995, S. 73 f., Anm. 16.
20 Vgl. dazu Erich Kleinschmidt: Schreiben auf der Grenze von Welt und Sprache. Die
radikale Poetik in Paul Adlers Nämlich (1915), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 457–477.
21 Vgl. Einstein: Bebuquin, S. 3 (Kap. 1).
22 Vgl. als theoretische Äußerung dazu den Brief Carl Einsteins vom Juni 1923, in: Carl
Einstein/Daniel-Henry Kahnweiler: Correspondance 1921–1939. Hg. von Lilian
Meffre. Marseille 1993, S. 138–148, hier S. 145.
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Die Wirklichkeit ist keine außerhalb des Textes mehr, die mimetisch und
wahrscheinlich zu reproduzieren wäre. Zur Realität ist allein das sprachliche
Konstrukt mit seiner operativen Gestaltungskraft geworden. Der Text funk-
tioniert nicht als deskriptive Objektivierung, er ist die Sache selbst. Seine Ge-
staltung bedarf dann nicht mehr der identitätslogischen Begründung und
Kausalisierung, sondern kann sich davon lösen. Der Modus des Aussagesat-
zes entzieht sich der Realisierungskontrolle. Er konturiert nur noch seine
eigene Logik. Deren Einschätzung im ›normalen‹ Sinn liefe auf Unsinn, Irr-
sinn oder Phantastik hinaus. Narrativ entsteht daraus eine sich zersplittern-
de Darstellung, die inkohärent, assoziativ und disparat wirkt. Das ist kein
Unvermögen. Es ist, wie im Falle von Hugo Balls (erst aus dem Nachlass pu-
bliziertem) Roman Tenderenda der Phantast,23 Programm mit teils ästheti-
scher, teils aber auch kultur- und gesellschaftskritischer Intention. Die Welt
erscheint derart, dass sie nicht mehr zum Maßstab für die Literatur genom-
men werden kann. Ihr angemessen erscheint nur noch ihre narrative Irreali-
sierung.
Was die Prosa einer expressionistischen Avantgarde vorführt, beginnt zu-
vor schon in der Lyrik. Arno Holz’ »Lyrikon«-Projekt Phantasus (ab 1898),
das eine ganz von »Form-Notwendigkeit« bestimmte »Wortkunst«24 instal-
liert, beruht auf der Annahme, dass das Dichter-Ich sich »in die heterogens-
ten Dinge und Gestalten zerlege«.25 Der ›projizierte‹26 Text ist dann der Ver-
such einer Rekonfiguration, die für sich als ›Welt‹ besteht. Die experimentelle
Seite dieser Poetologie, die vom Autor als »Revolution der Lyrik«27 im Kon-
text einer avantgardistischen »Erschütterungswelle«28 verstanden sein woll-
te, setzt auf die typographische Evidenz einer mittelachsig gesetzten Zeile
unterschiedlicher Länge zwischen einer und fünfzig Silben. Holz verstand
die Zeile als rhythmische Einheit,29 deren Mittelachsigkeit sich allerdings
nicht akustisch, sondern nur visuell erschließt.
Holz selbst kontaminiert das, will er doch das durch »diese ›unsichtbare
Mittelachse‹ erzeugte ›sichtbare Etwas‹« als »das Ohrbild eines Gedichtes«,
als seine »typographische Musik« verstanden wissen.30 »Aug und Ohr« sol-
len medial und in der Funktion einer produktions- wie rezeptionsästheti-
schen Kontrolle harmonisiert werden.31 Das Konzept ist ein Kopfprodukt,
das nicht funktioniert, aber gerade dadurch eine phantasmatische Dimension
einer experimentellen Poetik offen legt, die ästhetisch stets auf einen Über-
schusscharakter abzielt. Holz markiert sie in dem über viele Jahre hinweg an-
lagernden Erweiterungsprozess seines Phantasus, der schließlich auf eine
monströse Entgrenzung mit »Riesensätz[en]« von bis zu »2516 Zeilen über
mehr als 70 Seiten«32 hinweg hinausläuft. Das ist weder lesbar noch hörbar,
wohl aber ideell zu projizieren als ›absolute‹ Dichtung.
Deren Potential liegt wesentlich in einer intensiven sprachschöpferischen
Arbeit, die eine (von der Forschung völlig unterschätzte) intertextuelle Do-
kumentarebene nahezu aller Textsorten aus mündlich und schriftlich kon-
ventionalisierter Sprache mit exzentrischen Neuwortbildungen (»meine Es-
kapade ins Ultraüberkandidelttraumblaue«)33 verknüpft. Das Ergebnis ist
ein artifiziell verdichteter ›Sprachroman‹, aber auch ›Stimmenroman‹, der
keine Handlung aufweist und kaum von einem Ich erzählt, dafür aber als ein
umfassendes Ideenlaboratorium über das Verhältnis von Sprache und Welt
funktioniert. Arno Holz findet und erfindet zugleich Realität als Sprache,
deren »Begriffswerte« ihn ein wortrhythmisches »Zahlengesetz« postulieren
ließen.34 Solche Entdeckung gehört zum Experiment, besagt in seinem sub-
stantiellen Anspruch aber eher wenig. Das weiterführende Moment solcher
»Begriffswerte« ist ihr generativer Charakter. Der Phantasus wird zur krea-
tiven ›Sprachmaschine‹, die »sich selbst schafft«.35 Der Autor erscheint so als
kompetenter ›Installateur‹, der etwas zu bewegen verstehen mag, aber sich
letztendlich als entmächtigt erfährt. Wie im experimentellen Roman der
Avantgarde bleiben im lyrischen »Rhythmikon«36 Spuren personaler Exis-
tenz im Worttext erhalten, der jene artefaktisch stillstellt, um sie zugleich in
reine Sprache, in Wortbewegung aufzulösen. Unwillen, definitiv über das
37 Vgl. dazu Alfred Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus. Akademie-Rede über
Arno Holz [1930], in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von
Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg 1989, S. 263–270, hier S. 269.
38 Vgl. dazu (bezogen auf Mallarmé) Hugo Friedrich: Struktur der modernen Lyrik.
Hamburg 1956, S. 80.
39 Vgl. Christian Morgenstern: Gesammelte Werke. Hg. von Margareta Morgenstern.
München 1965, S. 226 f., bzw. ders.: Werke und Briefe. Hg. von Maurice Cureau.
Stuttgart 1990, Bd. 3, S. 61.
40 Vgl. Paul Scheerbart: Ich liebe dich. Mit 66 Intermezzos. Ein Eisenbahnroman
[1897], in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von U. Kohnle. Linkenheim 1986, Bd. 1,
S. 567.
41 Vgl. dazu Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1987.
Literatur als Experiment 9
42 Vgl. Morgenstern: Gesammelte Werke, S. 125, bzw. ders.: Werke und Briefe, Bd. 1,
S. 65.
43 Vgl. zum kritischen Begriff (im Kontext der Lautpoesie) Siegfried J. Schmidt: Lauter
Laute, in: Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören. Hg. von der Kunst-
und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bearb. von Uta Brandes.
Göttingen 1994, S. 285–289, hier S. 287.
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Schwierig ist dabei die Eingrenzung dessen, was man als ›experimentell‹
einzuschätzen hat und was von der ohnehin sich vollziehenden literarischen
Evolution abzugrenzen wäre. Einfach alle innovativen Textformen der ver-
schiedenen Avantgarden für experimentell zu erklären, hilft wenig weiter,
weil gerade auch der Avantgardebegriff trotz seiner literaturhistorischen
Pragmatik mehr als diffus erscheint.44 Es reichte aber auch nicht, nur die ra-
dikalen sprachexperimentellen Versuche der lautpoetischen oder wort- und
satzdestruierenden45 Ausrichtung zum Maßstab zu erheben, wenn auch hier
noch am ehesten eine definitorische Evidenz zu herrschen scheint. Sie sind
indes nur zugespitzte Lösungsfälle innerhalb eines grundsätzlichen Paradig-
menwechsels in der literarischen Sprachauffassung der ›Moderne‹.
Die experimentelle Dimension der Literatur in der ›Moderne‹ gründet auf
dem schon von Roman Jakobson 1921 und damit zeitgenössisch (im futuris-
tischen Umfeld) analytisch beobachteten Umbruch, dass die literarische Se-
miotisierung, die Wortkunst, in der ›Moderne‹ von Sachvorstellungen zu
Wortvorstellungen wechselt.46 Nicht mehr die Realien bestimmen, wie dies
die ältere Poetik ansetzt, die Wörter und damit die Texte. Vielmehr gilt nun,
dass die Bezeichnungskraft von den Wörtern selbst ausgeht. Das provokante
Beispiel für diesen Wandel ist das Passepartout-Wort DADA , das 1916 in Zü-
rich, wie auch immer, kreiert wurde. Es verdeutlicht den Ansatz,47 dass nicht
die Welt die Sprache konditioniert, sondern dass sich die Sprache eine reale
wie phantastische Welt erst erschafft. Die Radikalität von DADA besteht für
den Stichwortgeber Hugo Ball in seinem Manifest darin, keine Wörter zu be-
nutzen, »die andere erfunden haben«, sondern nur eigene: »ich will meinen
eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen.«
44 Vgl. dazu zuletzt Jost Hermand: Können Sezessionen Avantgarden sein?, in: Hart-
mut Kircher, Maria Ktanska, Erich Kleinschmidt (Hg.): Avantgarden in Ost und
West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900. Köln, Weimar, Wien 2002,
S. 1–11.
45 Die »Preisgabe des Satzes dem Wort zuliebe« (Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit.
München, Leipzig 1927, S. 102) geht innerhalb der Avantgarden des frühen 20. Jahr-
hunderts auf T. F. Marinetti und damit den italienischen Futurismus zurück, der mit
einer eher technizistischen Ausrichtung »parole in libertà« proklamierte. Die deut-
sche ›Wortkunst‹ setzte demgegenüber auf einen ›magischen‹ Anspruch: »Die ma-
gisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz« (Ball, ebd., S. 102).
46 Vgl. dazu zusammenfassend A. Hansen-Löwe: Entfaltung, Realisierung (bezogen auf
Roman Jakobsons ›Neueste russische Poesie‹), in: Aleksandar Flaker (Hg.): Glossari-
um der russischen Avantgarde. Graz, Wien 1989, S. 188–211.
47 Vgl. Hugo Ball: Manifest zum 1. Dada-Abend in Zürich 1916, in: Paul Pörtner (Hg.):
Literaturrevolution 1910–1925: Dokumente, Manifeste, Programme. Darmstadt
1960–1961, Bd. 2, S. 477.
Literatur als Experiment 11
Allein das hieße, »das Wort selber zur Sache« werden zu lassen,48 um da-
durch auch darauf zu verzichten, »aus zweiter Hand zu dichten«.49 Die radi-
kale Folgerung aus solcher alle Intertextualität unterlaufenden Neogenese
legt den völligen Verzicht auf eine Semiotisierung nahe, da für Neuworte und
Neusätze kein Lexikon existiert. Entsprechend heißt es im Manifest Dada
von Tristan Tzara 1918 ganz konsequent für das Schibboleth-Wort dieser an-
tinormativen und damit auch antibürgerlichen Poetik: »DADA BEDEU -
TET NICHTS .«50 Es ist die Negativität, die Abwesenheit von Sinn »in
Wortspiele[n] und grammatikalischen Figuren«,51 die den äußersten Wort-
universalismus entbindet. Dass dies die einem sinnbehafteten Textbegriff
verpflichteten Zeitgenossen irritierte, darf nicht verwundern.
In der Wortkunst-Theorie der ›Moderne‹ bedeutet dies provokative
Konzept DADA s indes einen Sonderweg. Die Veränderung der Sprachauf-
fassung begründet ansonsten eine durchaus figural ›beredte‹, innovative Lite-
raturpraxis. Sie entgegenständlicht jedoch die dichterische Darstellung zu-
gunsten einer eigenen Sprachwirklichkeit. Es ist ein Vorgang, wie er analog
im bildkünstlerischen Kubismus auftritt, der die traditionelle Bildsprache
des Raumes aufhebt, um über eine eigene Formsprache einen neuen »Bild-
körper«52 zu konstituieren. Es hat bei Carl Einstein53 oder Max Jacob54 Ver-
suche gegeben, das bildnerische, raumbezogene Moment des Kubismus auf
die Literatur und damit in ein an Zeitwahrnehmung gebundenes Medium zu
übertragen. Unabhängig davon, ob man deshalb schon von einem ›kubisti-
schen Roman‹ sprechen kann oder soll, lässt sich hier ein wichtiger theoreti-
scher Hintergrundansatz literarischer Experimentalität erkennen. Er zielt
darauf, im Text »Sprache der Form der Erlebnisse anzupassen, wie man im
Kubism ein bestimmtes, entscheidendes Raumgefühl übersetzte«.55 Die Ei-
genwirklichkeit eines sprachgenerierten Textes wird so zum verdichteten
Programm.
Die ironisch als »guter Blödsinn« signalisierte Erzählung, die »in fünfzig Jah-
ren oder in fünfzig Minuten« zur »apodiktische[n] Weisheit« werden kann,59
dient in einer entfesselten, z. T. collagierenden und lautpoetischen Sprach-
projektion dazu, ein ›Erlebnis‹ nicht nur traditionell zu beschreiben, sondern
es textuell als eine (im Sinne Carl Einsteins) metalogische Totalität umzuset-
zen, »die Eindrücke nicht hinnimmt, sondern verarbeitet«.60 Dabei sind we-
sentliche Elemente eines »konstruktiven Romans« festzustellen.61
Die Art der »Wortverbindung«62 mit ihrem gestalterischen Universalis-
mus schafft experimentell einen veränderten Literaturmodus eigener Gesetz-
lichkeit. Der Ansatz, den Sekunde durch Hirn wie schon der Bebuquin
durchspielt, läuft auf die Schaffung von sprachlich evozierten Vorstellungs-
und Empfindungsfeldern hinaus. Ein Lösungsmodell ist dabei die Optisie-
rung des Textes, sei es über wortsemantische Strategien, sei es sogar über die
Typographie. Entsprechend endet Sekunde durch Hirn:
Nun kommt der Strich. Furchtbar schräg und plötzlich, der Strich. Erst einer
quer —,
dann einer |, gibt zusammen, o schwinget ihr Rauchfässer ein
+ 63
Hier wird nichts mehr beschrieben, sondern der Text generiert unter Auflö-
sung seiner ›Wörtlichkeit‹ einen Ausdruckszustand, der die Verlorenheit des
artikulativen Subjekts in sprachliche Dinglichkeit um- und aussetzt. Das Ge-
dicht initiiert über Wortkomplexe ›freie‹ Imaginationen, die mit keiner exis-
tenziellen Wirklichkeit mehr zu korrelieren sind. Sie entwickeln ein ›Eigen-
leben‹, so dass »die Worte« im Einlösungssinne von Richard Huelsenbecks
Dadaistischem Manifest (1918) geradezu »zu Individuen« werden.67
Die rezeptive Wahrnehmung gelingt nicht mehr über eine lexikalische
Identifikation, sondern folgt einer ›atmosphärischen‹, von Intensität be-
des aussagenden Subjekts, an.77 Auf diese Weise entsteht ein neues Zeichen-
system, dass in seiner Bedeutung nicht mehr nur den einen ›wahren‹ Aussa-
geort (dóxa) mit klarer Gegenstandskonnotation kennt. Vielmehr splittert es
diesen auf und erzeugt eine semiotische Streuung, die über die sprachstruk-
turell geläufigen Verschiebungs- und Verdichtungsmodelle von Metonymie
und Metapher hinausgeht.
»Der lebendige Gedanke der Rose in Gelb ist das Eigenverkehrsproblem
einer wechselnden Ondulation im Aroma des Duftes der festen Spitzigkeit
ihrer Dornen.«78 Solche Entgrenzung lässt keine ›Wörtlichkeit‹ und Sinnfüh-
rung mehr zu, doch bleibt der Eindruck einer semantischen Grundbewegung
erhalten. Der aus einem dadaistischen Text Raoul Hausmanns von 1919 ent-
nommene Beispielsatz erscheint als Reliktspur sinnvoller Rede, verwandt
den Texten von Geisteskranken. Aber anders als bei diesen der Fall ist, ent-
springt er einem Kalkül, das zeitgenössisch noch nicht adäquat theoretisier-
bar war, sondern sich einem eher vortheoretischen Äußerungshabitus ge-
wollter ›Störung‹ verdankt.
Ernst genommen spielen aber sprachphilosophische und sprachpsycho-
logische Erklärungsdimensionen hier hinein. Die experimentelle Satzform
unterläuft die symbolische Ordnung der Sprache, auf der unsere Kommuni-
kation fußt, und verwirft damit deren thetische Praxis in einem doppelten,
gegenläufigen Modus. Zum einen ahmt sie das Thetische nach, obwohl sie es
zugleich destruiert. Zum anderen illustriert sie die Unmöglichkeit des Theti-
schen, obwohl sie es synthetisiert. Damit erfolgt keine einfache Aufhebung,
sondern ein Akt der Überschreitung, der das Thetische auflöst, ohne es auf-
zugeben.79 Der ›Unsinn‹ verlässt zwar die Sinnsphäre, erinnert in seiner Ab-
weichung aber stets eine nicht mehr anerkannte Ordnung. In der Unlesbar-
keit bleibt das Geheimnis einer Schrift verborgen. Das begründet auch,
weshalb etliche poetologische Profile der experimentellen ›Moderne‹ auf ma-
gische und kryptische Textvorstellungen zurückgreifen.
In dieser Ansatzlinie der ›lesbaren Unlesbarkeit‹ sind die meisten experi-
mentellen Unterfangen der ›klassischen Moderne‹ bei erheblichen Unter-
schieden in Stil und Konsequenz zu sehen. Auch ein Text wie der von Hans
Arp gehört hierher und erlaubt weitere Anschlüsse:
77 Vgl. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. Paris 1974, S. 58, dt. Die Re-
volution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M. 1974, S. 67.
78 Satz aus Raoul Hausmanns Schulze philosophiert (1919), hier zitiert nach Pörtner: Li-
teraturrevolution, Bd. 2, S. 507–509, hier S. 508.
79 Vgl. hierzu Kristeva: Révolution/Revolution, S. 68 bzw. dt. S. 78 f.
Literatur als Experiment 17
Eine ›logische‹ Wahrnehmung solcher Sprache ist gezwungen, sie als sinn-
widrige, desorientierte Rede einzuordnen. Die normativen Grenzen einer
gegenständlichen Verortung sind in Frage gestellt. Das hindert indes nicht
die Grundlinien thetischer Produktion, die Strukturbeziehungen der Spra-
che weiterhin zu gebrauchen, nur dass sie im Formulierungsprozess aufge-
rieben werden und zerfallen.
Gerade in dieser Labilität, der ›Ungereimtheit‹ liegt jedoch der Reiz. Ver-
traute Versatzstücke, identifizierbarer Wortsinn geraten durch phantasmati-
sche, wort- und syntaxinduzierte Einbrüche in Fluss, oszillieren zwischen
Sinn und Unsinn und vernetzen sich zu dem, was Arp als »Wortträume und
Schwarze Sterne«81 projiziert. Die Heterogenität der Diktion verhindert eine
kohärente Vergegenwärtigung. Der Text unterläuft jeden semantischen Zu-
sammenschluss, den er strukturell ›vergessend‹ agiert, und provoziert so das
Nachdenken über sein Misslingen. Damit vermittelt Arp, dass die Abwesen-
heit bzw. Übertretung diskursiver Ordnung produktiv entbunden und er-
fahren werden kann. Es entsteht ein Modus ›anderen‹ Sprechens, der die the-
tische Gewissheit des Bezeichneten wie die verantwortende Position des
aussagenden Subjekts außer Kraft setzt. Arps Kaspar, der im Namen den ei-
nem besonderen Redestatus verpflichteten Harlekin und das von Sprachlo-
sigkeit geschlagene Findelkind Hauser aufruft, ist die poetische Kunstfigur,
die auf solche Verfremdung ›antwortet‹. Er agiert im Gedicht vor seinem be-
klagten Tode und folgender (Sprach-)Metamorphose (»warum bist du ein
stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heißen wirbelwind […]«)
als derjenige, der alles zu benennen, in Gang zu setzen und zu deuten ver-
mag, was inexistent (»die kompasse […] der schiebkarren«) und unverständ-
lich ist (»die monogramme in den sternen«).82
80 Vgl. Hans Arp: Gesammelte Gedichte. Zürich, Wiesbaden 1963, Bd. 1: Gedichte
1903–1939, S. 25.
81 Titel der Auswahl Hans Arps aus seinen Gedichten 1911–1952, Wiesbaden 1953 (da-
runter auch eine veränderte Fassung des Kaspar-Textes).
82 Vgl. Arp: Gesammelte Gedichte, S. 25.
18 Erich Kleinschmidt
83 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno, Rolf Tiede-
mann. Frankfurt a. M. 1970, S. 46.
84 Vgl. Maurice Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod [1947]. Berlin 1982,
S. 43 (»[…] mais que chaque moment de lui-même nie tous les autres«, ebd., S. 42).
85 Vgl. Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod, S. 78 bzw. S. 79.
Literatur als Experiment 19
86 Vgl. Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Hg. von H. Mondor, G. Jean-Aubry. Pa-
ris 1945 (Pléiade), S. 457–477 und Kommentar S. 1581–1583. Mallarmé entwirft einen
Textdruck, der die typographische Verteilung (»espacement de la lecture) unter ästhe-
tischer Berücksichtigung von schwarzer Schrift und weißer Umgebungsfläche inno-
vativ gegenüber der geläufigen Gedichtanordnung regelt. Der ›leere‹ Papierraum soll
mit der Intensität der Dichtung korrespondieren. Mallarmé strebt ein simultanes Bild
der Buchseite an (»une vision simultanée de la page«). Vgl. zu den Zitaten das Vor-
wort/Préface zum Text, in: Stéphane Mallarmé: Sämtliche Dichtungen. München
1992, S. 222 f. Eine anspruchsvolle deutschsprachige Typographie des Textes hg. von
M.-L. Erlenmeyer. Olten, Freiburg i. Br. 1966 (Walter-Druck Bd. 10).
87 Vgl. Mallarmé: Œuvres, S. 872: »signifikatif silence qu’il n’est pas moins beau de com-
poser« bezogen auf Poes Gedichte, die sich im »l’espace« verbergen, »qui isole les
strophes et parmi le blanc du papier«.
88 Vgl. zum Material Lothar Lang: Expressionistische Buchillustration in Deutschland
1907–1927. Leipzig 1975.
89 Vgl. zu typographischer Experimentalität der Avantgarde auch die Beispiele in Apol-
linaires Calligrammes, z. B. Du Coton dans les oreilles, in: Guillaume Apollinaire:
Œuvres poétiques. Hg. von M. Adéma, M. Décaudin. Paris 1956 (Pléiade), S. 287.
Hugo Ball druckt sein dadaistisches ›Stiftungsgedicht‹ Die Karawane multitypogra-
phisch in Kleinbuchstaben mit jeweils einer anderen Schriftform je Zeile. Vgl. Hugo
Ball: Gesammelte Gedichte. Hg. von Annemarie Schütt-Hennings. Zürich 1963, S. 28
20 Erich Kleinschmidt
aus die Einführung von (häufig dann auch collagierter) Schrift in die Bilden-
de Kunst der ›Moderne‹ statt.90 Doch bildet sich daneben als wichtiger Wir-
kungsstrang eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten oraler Perfor-
manz aus. Mündliche Textexperimente werden wichtig. Überlegungen (etwa
Raoul Hausmanns) zu einer optophonetischen Notation (»musikalische
Schrift«) vermittels der typographischen Präsentation durch »größere oder
kleinere, dickere oder dünnere Buchstaben« entstehen.91 Das konkrete For-
schungsdefizit für die Frühphase besteht trotz der grundsätzlichen Ver-
fügbarkeit von Aufzeichnungsmedien darin, dass ein originaler Eindruck
mangels erhaltener Tonaufnahmen davon nicht oder nur als seltener Ausnah-
mefall wie im Falle von Kurt Schwitters Ursonate (1926/1932)92 zu gewinnen
und zu diskutieren ist.
Allerdings muss man den Blick nicht allein auf eine ›historische‹ Auffüh-
rungspraxis richten, für die eine zeitgenössische Notationspraxis93 weitge-
hend fehlt, experimentelle Texte der ›klassischen Moderne‹ sind immer auch
eine Herausforderung für Neuinterpretationen. Schon im lautpoetischen Be-
reich, erst recht im sonstigen Produktionsfeld erweisen sich diese, legt man die
überlieferten Eindrücke von Zeitgenossen zugrunde, anders orientiert als
die historische Vortragspraxis. Diese muss, dem allgemeinen rhetorischen
Sprechstil der Zeit entsprechend, zumeist noch stark pathetisiert gewesen sein.
Das hinderte deren für das Publikum provokanten Charakter nicht. Wal-
ter Mehring erinnert sich an Abende im Berliner ›Sturm‹-Kreis um Herwarth
Walden, »bei denen Dr. Blümners und meine Rezitationen der August-
Stramm-Werke in Gejohl und Gelächter endeten«.94 Das in allen Kunstbe-
reichen der frühen ›Moderne‹ gegen eine bildungsbürgerliche, ›saturierte‹
Ästhetik gerichtete Selbstverständnis der Avantgarden erstreckte sich im
Modus der »Störung« auf Produktion und Vermittlung gleichermaßen. Es
ging dabei stets um die Markierung einer Konventionsgrenze, die von den
Akteuren prinzipiell überschritten werden wollte und deren gelungene
Übertretung von einem bewusst herausgeforderten Publikum in der Regel
durch skandalisierende Gegenreaktionen bestätigt wurde. Das schließt ge-
genläufig auch den (eher kleinen Kreis) der Zustimmenden ein.
Provokation und Experiment sind vielfach aufeinander bezogen, wenn
auch nicht unbedingt. Experimentelles Schreiben blieb zeitgenössisch oft
auch kryptoform und einer verspäteten Aufnahme oder Entdeckung vorbe-
halten, dann zumeist beraubt ihrer verstörenden Impulse, weil inzwischen li-
teraturgesellschaftlich Gewöhnung eingetreten war. Zur Tragik, aber auch
Spezifik des Experiments gehört, dass es dem Gesetz der literarischen Evolu-
tion folgend ›normal‹ wird. Wo einmal Provokation war, schleicht sich Ak-
zeptanz ein, die bei größerem Rezeptionsverzug mit Wirkungslosigkeit ein-
hergehen kann. Das Experiment funktioniert in seiner Zeitgebundenheit
literaturgesellschaftlich nicht mehr oder zumindest anders als ursprünglich
kalkuliert.
Darin steckt jedoch ein Forschungsdilemma. Ob eine ›Authentizität‹ ex-
perimenteller Literaturproduktion überhaupt gegeben und entsprechend zu
rekonstruieren ist, bleibt strittig. Jedes Experiment setzt spezifische Rah-
mungen voraus, deren Qualität und Funktion nur bedingt eindeutig zu his-
torisieren sind, weil die phänomenalen Parameter nicht ohne weiteres als the-
oretische Substrate zeitgenössisch zu unterstellen sind, sondern sich erst von
heute her als formulierbar ergeben. Schon die als für die ›Moderne‹ charakte-
ristisch vereinnahmten Leittheoreme von Sprachskepsis und Sprachkrise
illustrieren dies. Sie stellen strukturierende Zuordnungsphänomene dar, de-
ren synchrone Impulskraft nicht ohne weiteres für die gesamte Produktion
der ›klassischen Moderne‹ als konkret gegeben unterstellt werden kann.
Hugo Balls ›dadaistisches‹ Romanprojekt Tenderenda der Phantast
(1914/22) ist in seiner Initialisierung deshalb schwer einzuordnen. Steht das
sinnauflösende, artistische Sprachspiel im Vordergrund dieses experimentel-
len »phantastischen Roman[s]«95 oder hat man in ihm das Modell einer sub-
96 Vgl. zuletzt als Monographie Claudia Rechner-Zimmermann: Die Flucht in die Spra-
che. Hugo Balls »Phantastenroman« im kulturgeschichtlichen Kontext zwischen
1914 und 1920. Marburg 1992.
97 Vgl. Hugo Ball: Tenderenda der Phantast. Hg. von Raimund Meyer, Julian Schütt.
Innsbruck 1999, S. 27.
Literatur als Experiment 23
98 Vgl. zum Projekt des in Hannover zwischen ca. 1923 und 1936 entstandenen, im
Krieg zerstörten MERZbaus von Schwitters Dietmar Eiger: Der MERZbau, in: Kurt
Schwitters 1887–1948. Ausstellung zum 99. Geburtstag. Sprengel-Museum Hanno-
ver 4.2.-20.4.1986. Frankfurt a. M., Berlin 1986, S. 248–254 (mit Abb.); zu seiner Re-
konstruktion vgl. Harald Szeemann: Die Geschichte der Rekonstruktion des
MERZbaus (1980–1983), in: Ebd., S. 256–258.
99 Vgl. Kurt Schwitters: Merz, in: Ders.: Das literarische Werk. Hg. von Friedrich Lach.
Köln 1981, Bd. 5, S. 74–82, hier S. 79.
100 Vgl. Schwitters: Merz, S. 82: »Schaffen können wir es [sc. das Merzgesamtkunstwerk]
nicht, denn auch wir würden nur Teile, und zwar Material sein.«
101 Die Vorstellung geht schon auf Jean Paul zurück. Vgl. Monika Schmitz-Emans: Zwi-
schen weißer und schwarzer Schrift. Edmond Jabès’ Poetik des Schreibens. München
1994 (mit weiterer Literatur). Vgl. als Beispiel für eine phantasierte Produktionsäs-
thetik des signifikativen Experiments den Beleg in Jean Pauls Titan, wo »jede Taste
[…] eine Schriftpunze, das Klavier ein Letternkasten« werden kann. Vgl. Jean Paul:
Werke. Hg. von Norbert Miller. München 41980, Bd. 3, S. 183. Anschließbar wäre
auch der »Buchstabe« als »geistige Münze-Chiffern« bei Novalis: Das allgemeine
Brouillon, in: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg.
von Hans Joachim Mähl, Richard Samuel. München 1978, Bd. 2, S. 476, Nr. 31.
24 Erich Kleinschmidt
102 Zur komplexen, hier nicht näher diskutierbaren Poetologie des Anagramms vgl. den
differenzierten Artikel ›Anagramm‹ von Anselm Haverkamp, in: Karlheinz Barck
u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2000, Bd. 1, S. 133–152.
103 Vgl. Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1, S. 58 f.
104 Vgl. Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1, S. 60–63 (als verkleinertes Faksimile des
Originaldrucks).
Literatur als Experiment 25
105 Vgl. zu diesem Modell Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer
kritischen Theorie der Kultur. Würzburg 2001, S. 273 ff. unter dem von Werner Ha-
macher eingeführten Begriff des »Afformativ«, der sich theoretisch auf Denkkonstel-
lationen W. Benjamins in seiner ›Kritik der Gewalt‹ bezieht. Vgl. Werner Hamacher:
Afformativ, Streik, in: Christian L. Hart-Nibbrig (Hg.): »Was heißt Darstellen?«
Frankfurt a. M. 1994, S. 340–371.
106 Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 43. Vgl. auch ebd., S. 63: »[…] daß die Gebilde
Züge enthalten sollen, die im Produktionsprozeß nicht absehbar sind.«
107 Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer po-
litischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1990, S. 287.
26 Erich Kleinschmidt
nis von Entscheidungen verstanden sein, sondern mit Hilfe eines ›techni-
schen‹ Aufzeichnungskalküls, einer Methode der erfassenden Deskription.
Es geht darum, schreibende wie rezipierende Subjekte in Stand zu setzen,
sich narrativen Abläufen konfrontiert und ausgeliefert zu sehen.
Alfred Döblin entwickelt hierzu eine radikale Romanpoetik in seinem
Berliner Programm von 1913.110 Er fordert dort die »Entäußerung« des Au-
tors gegenüber dem sich ereignenden Text: »ich bin nicht ich, sondern die
Straße, die Laternen, dies und dies Ereignis.«111 Solches Verschwinden der
Autorschaft im Erzählvorgang nähert den Roman einem naturwissenschaft-
lichen Experimentalgeschehen und seinen Protokollierungstechniken ohne
analytischen ›Kommentar‹ an. Entsprechend fordert Döblin eine Narration,
die »entseelte Realität« vermittle. Sie soll als reiner »Ablauf« von vorüberzie-
hendem Geschehen erscheinen. Der Romantext wird zur ›Oberfläche‹ einer
Aufzeichnungsprojektion: »Die Fassade des Romans kann nicht anders sein
als aus Stein oder Stahl, elektrisch blitzend oder finster; sie schweigt.«112 Das
formale Modell dieser Romanpoetik ist unverkennbar das neue Medium
Film, worauf Döblin explizit in der Benennung seiner Darstellungsweise als
»Kinostil« verweist: »in höchster Gedrängtheit und Präzision hat ›die Fülle
der Gesichte‹ vorbeizuziehen«, so dass im Ergebnis »das Ganze […] nicht er-
scheinen [darf] wie gesprochen sondern wie vorhanden«.113
Die Anspielung auf das Kino dient hier nicht zur Begründung einer ›fil-
mischen Schreibweise‹, wie immer wieder von der Forschung behauptet
wurde. Das ›Kino‹ verhilft Döblin nur zu einer avancierten Metapher, um ei-
nen Stilgestus des Erzählens zu charakterisieren, der »nicht mehr den Erzäh-
lenden und seine Subjektivität ins Spiel bringt«.114 Das Leitbild für diesen
Schreibanspruch holt sich das Berliner Programm ganz woanders her. Es ist
(mit autobiographischem Hintergrund des Dr. med. Döblin) die Psychiatrie,
die »sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen« beschränkt, »mit ei-
nem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ›Warum‹ und
›Wie‹«.115 Der ›neue‹ Roman Döblin’scher Prägung erzählt nicht kausal dis-
110 Vgl. Erich Kleinschmidt: Depersonale Poetik. Dispositionen des Erzählens bei Al-
fred Döblin, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 383–401.
111 Vgl. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in:
Ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 119–123, hier S. 122.
112 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121, 574.
113 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121 bzw. S. 122.
114 Vgl. dazu Erich Kleinschmidt: Zwischenwege. Döblin und die Medien Film, Rund-
funk und Fotographie, in: Wirkendes Wort 2001, S. 401–419, hier S. 404.
115 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121.
28 Erich Kleinschmidt
116 Das Datum bezieht sich auf die Niederschrift, die parallel zur Arbeit Döblins als ge-
rade erst niedergelassener Nervenarzt in Berlin erfolgte. Der Autor fand zunächst
keinen Verleger, so dass der Roman erst Anfang 1916 bei S. Fischer erscheinen konn-
te.
117 Vgl. Erich Kleinschmidt: Roman im »Kinostil«. Ein unbekannter »Roman«-Entwurf
Alfred Döblins, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Gei-
stesgeschichte 63 (1989), S. 574–586, der Romantext S. 583–586.
118 Zum Begriff vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 122 (als Zweitbe-
griff für »Kinostil«).
119 Vgl. Kleinschmidt: Roman im »Kinostil«, S. 583.
120 Vgl. Alfred Döblin: Über Roman und Prosa [1917], in: Ders.: Kleine Schriften I. Hg.
von Anthony W. Riley. Olten, Freiburg 1985, S. 226–232, hier S. 229.
121 Vgl. zum Begriff Döblin: Über Roman und Prosa, S. 230.
Literatur als Experiment 29
Leben seiner Figuren wie […] dem Spiel zarter, scheuer Tiere« folgt.122 Das
beinhaltet den Verzicht auf sprachmächtige ›Gestaltung‹. Für Döblin muss
der Romanautor »vor allem schweigen können«.123 Er hat sich in seiner
herkömmlichen Artikulationsherrschaft ganz zurückzunehmen und einem
Sprachfluss anzuvertrauen, um sich in »den sehr konkreten Vorgang«, um
den es jeweils geht, verwandeln zu können.124 Aus der Abwesenheit eines
Ausdruckswillens entsteht so das Modell einer beobachtenden, sprachinduk-
tiven Narration, deren pragmatische Heimat Naturforschung und Psychia-
trie sind. Der verstörenden Realität der Welt wird dabei probend eine ›nega-
tive‹ Sprache abgewonnen, denn »es giebt keine Sprache, es giebt nur Sachen
und Vorstellungen«.125
Die experimentellen Poetologien der ›klassischen Moderne‹ in Deutsch-
land bewegen sich in einem Spektrum von Spracharbeit, die sich in erster Li-
nie dem Literatursystem, aber dann auch der Gesellschaft gegenüber kritisch
verhält. Artistischen Modellen der Sprachfindung auf der Basis konventio-
nell noch anschließbaren Ausdrucks stehen radikalere Verfahren der Sprach-
zertrümmerung im Hinblick auf Syntax, Morphologie und damit auch Se-
mantik gegenüber. Produktions- und wirkungsästhetische Anliegen spielen
in allen Fällen eine Rolle, doch unterscheiden sie sich im tragenden Modus
der Kommunikation. Sprachdestruktive Ansätze richten sich auf einen ent-
semantisierten Globaleindruck ganzheitlichen Erlebens, teils sehr ernsthaf-
ter, deiktischer Zielsetzung, teils aber auch mit der spielerischen Geste der
Unsinnspoesie ausgestattet. Zwischen den Intentionen sind die Grenzen flie-
ßend.126 Das andere Lager der wortsemantisch experimentierenden Texte
setzt grundlegend auf eine ›neue‹ Lektürepraxis.
In beiden Gruppen spielen Grenzerfahrungen und dann auch Grenz-
überschreitungen eine wichtige Rolle, die nicht nur die aktivierte Sprache
selbst reflektieren, sondern auch ihr Nichtfunktionieren, ihre Abwesenheit
und ihr Schweigen. Experimentelles Schreiben in der ›Moderne‹ versucht
dies durch das Prinzip reiner, ›absoluter‹ Form anzugehen, wo bis in die Ty-
pographie hinein der Vorstellungsraum zwischen den Zeichen, das Nichtge-
sagte und Nichtsagbare, aber auch das Ausgegrenzte des Wahns127 oder die
min: Bücher von Geisteskranken. Aus meiner Sammlung [1928], in: Ders.: Gesam-
melte Schriften. Hg. von Tilman Rexroth. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 4,2, S. 615–619.
Zum wissenschaftsgeschichtlichen Dispositiv dahinter vgl. jetzt Torsten Hahn, Jutta
Person, Nicolas Pethes (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koeva-
luation von Experiment und Paranoia 1850–1910. Frankfurt a. M., New York 2002.
128 Vgl. dazu ausführlich Erich Kleinschmidt: Gleitende Sprache. München 1992.