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Petersen, Klaus: Neue Sachlichkeit. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb.

des Reallexikons der


deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. v. Klaus Weimar u.a. Bd. II. 3., von Grund auf neu erarb. Aufl. Berlin-New York: De Gruyter
2007. S. 699-701.
Neue Sachlichkeit 699

ist die Verwendung und Bewertung von Wörterbuch. Hg. v. Gisela Harras. Düsseldorf
Neologismen abhängig vom jeweils an- 1988, S. 265!283. ! D. H., Michael Kinne: Neo-
gestrebten Stilideal. Originalitätspostulate logismen. Heidelberg 1998. ! Herbert Hunger:
(D Sturm und Drang, D Expressionismus), Das Denken am Leitseil der Sprache. Johann Ne-
stroys geniale wie auch banale Verfremdungen
die Favorisierung einer Abweichungspoetik durch Neologismen. Wien 1999. ! Hartwig Kal-
(z. B. Geblümter Stil, D Ornatus) oder auch verkämper: Neologismen: Hinterfragung eines
Phasen starker Fremdorientierung (A-la- Konzepts. In: Quaderni di Semantica 8 (1987),
mode-Wesen) begünstigen die Verwendung S. 311!345. ! Le néologisme dans la langue et
von Neologismen. dans la littérature. Paris 1973. ! Roman Paul:
Im Alltagsleben sind Neologismen wegen Fontanes Wortkunst. Berlin 1998. ! K. Plück:
ihres Abweichens von der Normalität häu- Der Ausbau des Wortschatzes. Diss. Bonn 1952
fig Gegenstand der D Sprachkritik. Umge- [masch.; über Neubildungen Klopstocks, Goe-
kehrt ist Sprachkritik weitgehend Neologis- thes u. Campes]. ! Thea Schippan: Lexikologie
der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen
menkritik. 1992, S. 243 ff. ! Gert Wotjak: Erkenntnistheo-
ForschG: Im Anschluß an die literarisch- retische Überlegungen zum Neosemantismus. In:
poetologische Diskussion in Frankreich Linguistische Arbeitsberichte 19. Leipzig 1978,
S. 58!68.
und die Neologismen-Wörterbücher entwik-
kelte sich die Neologismenforschung vor Wilfried Seibicke
allem in der Romanistik. Erst im 20. Jh.
wird auch in der germanistischen Lexikolo-
gie und Lexikographie der Begriff ,Neolo- Neomarxismus D Marxistische Lite-
gismus‘ thematisiert. Bis heute gibt es er-
hebliche Definitionsprobleme und Abgren- raturwissenschaft
zungsschwierigkeiten (s. z. B. Heller u. a.,
Schippan, Wotjak), und die Wörterbücher Neue Innerlichkeit D Neue
genügen in der Regel nicht wissenschaftli- Subjektivität
chen Ansprüchen. Über den Stand der nhd.
Neologismenlexikographie unterrichtet Her-
berg.
Neue Mythologie D Mythologie
Systematische literaturhistorische Unter-
suchungen zum literarischen Neologismus
fehlen fürs Deutsche (zur poetologischen
Bedeutung von Neologismen etwa Fricke, Neue Sachlichkeit
29!34). Autorspezifische Wörterbücher wie
vor allem das Goethe-Wörterbuch (GWb) Der bildenden Kunst entlehnte Bezeich-
leisten hier ebenso nur exemplarische Dien- nung für eine literarische Strömung der
ste wie Monographien zu den Neologismen 1920er Jahre.
eines Verfassers (Paul, Plück). Expl: Der Begriff bietet verschiedene Ver-
Lit: Broder Carstensen, Ulrich Busse: Anglizis- wendungsmöglichkeiten, je nachdem, ob
men-Wb. 3 Bde. Berlin, New York 1993!1996. ! man ihn als Stilmerkmal oder als Epochen-
Heinz Peter Dürsteler: Sprachliche Neuschöpfun- bezeichnung verwendet.
gen im Expressionismus. Diss. Bern 1954. ! (1) Stiltypologisch verstanden meint er
Wolfgang Fleischer u. a.: Stilistik der deutschen die dem Journalismus verwandte Tendenz
Gegenwartssprache. Frankfurt, Berlin 1993, zur Berichterstattung und Informationsver-
S. 91!100. ! Harald Fricke: Norm und Abwei- mittlung, was in Gattungsbegriffe wie ,Ge-
chung. München 1981. ! Alfred Heberth: Neue
Wörter. Neologismen in der deutschen Sprache
brauchslyrik‘, ,Tatsachenroman‘ und ,Zeit-
seit 1945. 2 Bde. Wien 1977, 1982. ! Klaus Hel- stück‘ als Bedeutungskomponente mit ein-
ler u. a.: Theoretische und praktische Probleme geht.
der Neologismenlexikographie. Berlin (Ost) 1988. (2) Als Epochenbezeichnung dient er vor-
! Dieter Herberg: Stand und Aufgaben der Neo- nehmlich der zeitlichen Abgrenzung und
logismenlexikographie des Deutschen. In: Das Kontrastierung zum D Expressionismus:
700 Neue Sachlichkeit

Neue Sachlichkeit als die in der ökonomi- auf Verständlichkeit zielenden Sprache. Der
schen und politischen Stabilisierungsphase Terminus Neue Sachlichkeit diente in der
der Weimarer Republik (etwa 1924!1929) Kritik der mittzwanziger Jahre zur Um-
dominante Kulturströmung, in der sich schreibung einer „nahezu ausschließlich gel-
nach bewußter Abkehr von expressionisti- tenden Kulturdoktrin“ (Denkler 1968, 167),
schen Utopien und durch die Verbindung an deren theoretischer Ausformung und äs-
von neorealistischer Stiltendenz und zeit- thetischer Realisierung gesellschaftlich en-
symptomatischer Thematisierung von Le- gagierte Schriftsteller beteiligt waren, ohne
bensgefühl und Bewußtseinsinhalten ein ei- daß es zur Ausformulierung eines hinrei-
genständiger Ausdrucks- und Formwille chend gültigen Programms gekommen
verwirklicht. wäre. Zwei Eigenschaften des Sachlichkeits-
Bericht, D Reportage und Dokumenta- axioms wurden allseitig anerkannt: die Hin-
tion sind typisch neusachliche Gattungen wendung zur Alltagswelt, zu Tatsächlichkei-
einer Literatur, die im ganzen dabei weder ten, und der ,veristische‘, schmucklose Stil.
auf die Freiheit der Gestaltung noch auf die Schon um 1928 wurde aber verschiedentlich
subjektive Sichtweise oder eine aktivistische der Versuch gemacht, das Phänomen als
Änderungsintention verzichtet. Allen ge- bloße Rückkehr zum D Naturalismus abzu-
meinsam ist die „Offenheit zu bisher werten (vgl. dazu Koebner, 19), was auch in
kunstfremden Phänomenen, wie Sport, der Forschung Zweifel an der Brauchbar-
Technik, Jazz, wie überhaupt allen Formen keit der Bezeichnung Neue Sachlichkeit ge-
der Massenkultur und Vergnügungsindu- weckt hat (vgl. Hermand 1978b; Lethen).
strie“ (Hermand 1978b, 73). Diese Offenheit Trotzdem hat sich der Begriff inzwischen
schließt die Kritik an Interessen, Wirkungs- für die stiltypologische Beschreibung spezifi-
absichten, Routinen und Sprachregelungen scher Einzelwerke aus der Weimarer Zeit
der alltäglichen Lebensbereiche mit ein, was durchgesetzt. Für eine literarhistorisch be-
die Neue Sachlichkeit von der deutschen gründete Epochendefinition hingegen ist er
realistischen Literatur der 2. Hälfte des wegen der Richtungsdivergenzen und Form-
19. Jhs. grundsätzlich unterscheidet. Gegen- unsicherheiten in der Literatur zwischen
wartsbezug und Faktizität beherrschten In- 1918 und 1933 weniger geeignet, weshalb es
halt und Form, Nützlichkeit und Erkennt- an Versuchen eines historischen Überblicks
nisvermittlung bildeten Ziel. der neusachlichen Literatur bis heute fehlt.
WortG: Sachlichkeit ist seit dem 19. Jh. ge- SachG: Ein erster Höhepunkt der in Inhalt
bräuchlich zur allgemeinen Bezeichnung ei- und Stil der aktuellen Umwelt zugewandten
ner „den Gegebenheiten angemessenen Hal- Prosa war die von Rudolf Leonhard 1924/
tung und Handlungsweise“ (Paul-Henne, 25 herausgegebene Reihe ,Außenseiter der
708; vgl. auch DWb 14, 1604). Durch das Gesellschaft‘, in denen Autoren wie Döblin,
Adjektiv neu ist, ähnlich wie bei der Prä- Kisch, Holitscher und Ungar mit der Dar-
gung der Termini D Neuromantik und stellung sensationeller Verbrechen in die öf-
D Neue Subjektivität, der Rückgriff auf eine fentliche Diskussion juristischer Fragen und
frühere literarische Tendenz angezeigt, hier aktueller Gerichtsverfahren eingriffen. An-
die Reproduktion einer konkret erfaßbaren dere Werke stellten z. B. die Diskussion der
Alltagswirklichkeit. Die Wortverbindung sexuellen Emanzipation, der Abtreibung,
Neue Sachlichkeit leitet sich möglicherweise der Fürsorgeerziehung und des Proletarier-
von nl. nieuwe zakelijkheid her (Zeller, 922). elends in den Vordergrund. Zu den bekann-
testen neusachlichen Romanen zählen
BegrG: Das Wort Sachlichkeit zeigt ein zeit- Leonhard Franks ,Das Ochsenfurter Män-
typisch rationales, funktionsbezogenes In- nerquartett‘ (1927), Lion Feuchtwangers
teresse dem gestalteten Stoff gegenüber an, ,Erfolg‘ (1930), Erich Kästners ,Fabian‘
was sich an der Auseinandersetzung mit ak- (1931), Irmgard Keuns ,Gilgi ! eine von
tuellen politischen und gesellschaftlichen uns‘ (1931), Marieluise Fleißers ,Mehlrei-
Krisen und Vorkommnissen genauso mani- sende Frieda Geier‘ (1931) und Hans Falla-
festiert wie an der am Alltag orientierten, das ,Kleiner Mann ! was nun?‘ (1932).
Neue Sachlichkeit 701

Die Funktionalisierung der Literatur zur then), zum Scheitern verurteilt, denn mögen
Wissensvermittlung und Darstellung von linke, liberale und rechte Gruppen auch un-
kritischen Positionen läßt sich auch an einer terschiedliche Konzepte literarischer Reali-
ganzen Anzahl von Dramen aus der Wei- tätsbewältigung entwickelt haben, so war
marer Zeit wie Zuckmayers ,Der fröhliche doch keine von neusachlichen Stiltendenzen
Weinberg‘ (1925), Hasenclevers ,Ehen wer- grundsätzlich frei.
den im Himmel geschlossen‘ (1928), Hor-
váths ,Sladek oder die Schwarze Armee‘ Lit: Horst Denkler: Die Literaturtheorie der
Zwanziger Jahre. In: Monatshefte 59 (1967),
(1928), Bruckners ,Die Verbrecher‘ (1929), S. 305!319. ! H. D.: Sache und Stil. Die Theo-
Lampels ,Revolte im Erziehungshaus‘ rie der ,Neuen Sachlichkeit‘ und ihre Auswirkun-
(1929) und Credés ,§ 218. Gequälte Men- gen auf Kunst und Dichtung. In: WW 18 (1968),
schen‘ (1930) beobachten. Kästner (,Wir S. 167!185. ! Jost Hermand: Der Streit um die
sind ein trübes Kapitel‘, 1929), Ringelnatz Epochenbegriffe. In: Stile, Ismen, Etiketten. Hg.
(,Angstgebet in Wohnungsnot‘, 1923) und v. J. H. Wiesbaden 1978 [a], S. 7!16. ! J. H.:
andere haben in diesem Sinne auch eine Einheit in der Vielheit? Zur Geschichte des Be-
Reihe neusachlicher Gedichte verfaßt. griffs ,Neue Sachlichkeit‘. In: Das literarische Le-
ben in der Weimarer Republik. Hg. v. Keith Bul-
ForschG: Erst seit Ende der 1960er Jahre livant. Königstein 1978 [b], S. 71!88. ! Volker
bemühte sich die Forschung intensiver um Klotz: Forcierte Prosa. Stilbeobachtungen an Bil-
eine Klärung des Begriffs ,Neue Sachlich- dern und Romanen der Neuen Sachlichkeit. In:
keit‘ als der Bezeichnung einer zeitlich und Erich Kästner. Werk und Wirkung. Hg. v. Rudolf
Wolff. Bonn 1983, S. 70!90. ! Thomas Koeb-
ästhetisch fixierbaren literarischen „Rich-
ner: Das Drama der Neuen Sachlichkeit und die
tung“ (Petersen, 477). Dabei konzentrierte Krise des Liberalismus. In: Die deutsche Litera-
sie sich auf drei Aspekte des Phänomens: er- tur in der Weimarer Republik. Hg. v. Wolfgang
stens seine zeitliche Abgrenzung, zweitens Rothe. Stuttgart 1974, S. 19!46. ! Helmut
seine ästhetischen Erscheinungsformen und Kreuzer: Zur Periodisierung der modernen deut-
drittens seine unterschiedliche Affinität zu schen Literatur. In: Basis 2 (1971), S. 7!32. !
politisch definierten Gruppen. Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit. Stuttgart
Horst Denkler hat 1967/68 in zwei Auf- 1970. ! Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeit-
sätzen das theoretische Material zum roman der Neuen Sachlichkeit und die intellektu-
„Selbstverständnis des literarischen Nach- elle Mentalität der Klassischen Moderne. Stutt-
gart, Weimar 1994. ! Nikolaus Miller: Prolego-
expressionismus in Deutschland“ (Denkler mena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur.
1967, 305) aufgearbeitet und damit wichtige München 1982. ! Klaus Petersen: ,Neue Sachlich-
Anstöße dafür geliefert, die Neue Sachlich- keit‘. Stilbegriff, Epochenbezeichnung oder Grup-
keit als einen an der sozialen Umwelt orien- penphänomen? In: DVjs 56 (1982), S. 463!477. !
tierten Stil zu definieren. Umstrittener war Karl Prümm: Neue Sachlichkeit. Anmerkungen
die Eignung des Begriffs im Zusammenhang zum Gebrauch des Begriffs in neueren literatur-
der Periodisierung der modernen deutschen wissenschaftlichen Publikationen. In: ZfdPh 91
Literatur; die Neue Sachlichkeit ist zu kei- (1972), S. 606!616. ! Ernst Schürer: Georg Kai-
ner Zeit der einzige Stil der Weimarer Repu- ser und die Neue Sachlichkeit (1922!1933). In:
blik gewesen. Trotz mancher Hinweise dar- Georg Kaiser Symposium. Hg. v. Holger Pausch
und Ernest Reinhold. Berlin 1980, S. 115!138. !
auf, daß fast alle neusachlichen Stilelemente
Arrigo V. Subiotto: ,Neue Sachlichkeit‘. A reas-
in Literatur und Kunst auch vor- und nach- sessment. In: Deutung und Bedeutung. Fs. Karl-
her gebraucht wurden, besteht weitgehend Werner Maurer. Hg. v. Brigitte Schludermann
Einigkeit darüber, daß die Stresemann-Ära u. a. Den Haag, Paris 1973, S. 248!274. ! Wolf-
als die „Dominanzphase“ (Kreuzer, 23) der gang Wendler: Die Einschätzung der Gegenwart
Neuen Sachlichkeit zu betrachten ist. im deutschen Zeitroman. In: Die deutsche Litera-
Dagegen waren Versuche, das Phänomen tur in der Weimarer Republik. Hg. v. Wolfgang
nur für eine oder mehrere politische oder Rothe. Stuttgart 1974, S. 169!194. ! Ursula Zel-
weltanschaulich definierte Gruppen zu re- ler: Neue Sachlichkeit. In: The dictionary of art.
klamieren (vgl. Prümm) oder andere davon Bd. 22. New York 1996, S. 922 f.
auszuschließen (vgl. Hermand 1978b; Le- Klaus Petersen

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