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STEOP EV: Einführung in die deutsche Philologie

Skriptum zum Teilbereich Neuere deutsche Literatur

1. Teil

Assoz. Prof. Dr. Günther Stocker

Hinweis:
Zusätzlich zu den in der Vorlesung vorgetragenen und im Skriptum
zusammengefassten Inhalten bilden die präsentierten Folien sowie folgende
Pflichtlektüre den Prüfungsstoff für den Teilbereich Neuere deutsche Literatur:

Franz Kafka: Der Prozeß. Berlin: Suhrkamp 2000 (= Suhrkamp Basis-Bibliothek, Band 18).

Neuere deutsche Literatur


Das Fach, mit dem wir uns in den beiden folgenden Vorlesungseinheiten beschäftigen werden,
trägt die Bezeichnung „Neuere deutsche Literatur“ oder kurz „NdL“. Damit ist der
Gegenstandsbereich unserer Forschung und Lehre bezeichnet und dabei besteht schon
Aufklärungsbedarf:

1
1. Was heißt „neuere“?

Dieses Adjektiv schränkt den Gegenstandsbereich dieses Faches auf die Literatur ein, die nach
der „Älteren deutschen Literatur“ verfasst wurde, das ist klar. Viel weniger klar ist jedoch die
Grenze zwischen den beiden.

 Lange Zeit ging man davon aus, dass das Ende der mittelhochdeutschen und der Beginn
der frühneuhochdeutschen Sprachphase Mitte/Ende des 14. Jahrhunderts die Grenze
markiert.
 Andere Definitionen nehmen die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern
durch Johannes Gutenberg um die 1450er-Jahre als Markierung. Das ist ebenfalls
plausibel, da es sich dabei um eine Medienrevolution handelte, die mit der heutigen,
durch die Digitalisierung verursachten, in ihren tiefgreifenden Auswirkungen durchaus
vergleichbar ist.
 Ein weiterer Abgrenzungsversuch wäre die Bibelübersetzung durch Martin Luther,
welche die deutsche Sprache (und Literatur) ganz wesentlich erneuerte. 1522 erschien
seine Übersetzung des Neuen Testaments (aus dem Griechischen und der lateinischen
„Vulgata“), die innerhalb kurzer Zeit eine für die Handschriftenkultur unvorstellbare
Auflage von 100.000 Stück erreichte. 1534 erschien dann die Übersetzung der
Gesamtbibel.
Es mag seltsam erscheinen, aber so betrachtet gehören etwa auch die Sonette von Andreas
Gryphius, die vor fast 400 Jahren entstanden sind, in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, zur
„Neueren deutschen Literatur“. Apropos „neu“: Dass sich die Literaturwissenschaft an den
Universitäten mit wirklich neuer Literatur, ja Gegenwartsliteratur beschäftigt, ist noch nicht
so lange her. Der Literaturwissenschaftler Jochen Vogt, der übrigens eine sehr
empfehlenswerte Einführung1 in das Fach geschrieben hat, schreibt:

[…] in meiner eigenen Studienzeit, Anfang der sechziger Jahre, war ein Seminar über Kafka noch eine
Sensation, eine Examensarbeit über Brecht fast eine Unmöglichkeit.2

Die Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur, also den Produktionen von noch lebenden und
schreibenden Autorinnen und Autoren, setzt dann meistens in den 1970er-Jahren ein und ist

1
Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2002 (= 4. Aufl.).
2
Vogt, Einladung, S. 13.
2
heute ein wichtiger Teil des Forschungs- und Lehrprogramms unseres Faches. Schauen Sie
einmal in das Vorlesungsverzeichnis!

2. Warum „deutsche“ Literatur?

Kommen wir zum zweiten Teil des Namens unseres Faches: Neuere deutsche Literatur.
Gemeint ist freilich „deutschsprachige“ Literatur. Dass diese nicht ausschließlich aus
Deutschland stammt, d.h. an ein einziges nationales Gebilde und dessen Geschichte gebunden
ist, war sehr lange für viele nicht selbstverständlich. Legendär sind etwa die vom
einflussreichen deutschen Germanisten Benno von Wiese3 herausgegebenen Buchtitel:
Deutschland erzählt. Von Arthur Schnitzler bis Uwe Johnson4 oder noch deutlicher der Band
Deutschland erzählt. Von Rilke bis Handke.5
 Arthur Schnitzler war einer der bedeutendsten Autoren der Wiener Moderne, geboren
(1862) und gestorben (1931) in Wien, wo er auch den Großteil seines Lebens
verbrachte.
 Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag, in der k.u.k. Monarchie geboren, ging in St.
Pölten und Linz zur Schule, lebte in Prag, München, Paris, Italien, Wien und dann
während seiner letzten Lebensjahre in der Schweiz.
 Und obwohl Peter Handkes Vater Deutscher war – die Mutter stammt aus einer
Kärntner Familie mit slowenischsprachigen Wurzeln –, wuchs er in dem kleinen
Kärntner Dorf Griffen auf, ging in Klagenfurt zur Schule, studierte in Graz und es gibt
keinen sinnvollen Grund, ihn für „Deutschland“, womit ja übrigens wohl die
Bundesrepublik Deutschland und nicht die von 1949 bis 1990 existierende Deutsche
Demokratische Republik (DDR) gemeint war, zu reklamieren.

Wichtiger noch als diese biographischen Bezüge aber ist der jeweilige historische Rahmen, in
dem die Literatur betrachtet wird. Und da gibt es wesentliche Unterschiede, etwa zwischen
Österreich und Deutschland:

3
Benno von Wiese (1903-1987) war ordentlicher Professor für Neuere deutsche Sprache und Literatur an der
Universität Bonn von 1957-1970. Bereits während des Nationalsozialismus war er (als NSDAP-Mitglied)
Professor in Erlangen und Münster.
4
Von Wiese, Benno (Hg.): Deutschland erzählt. Von Arthur Schnitzler bis Uwe Johnson. Frankfurt/M.: Fischer
1962.
5
Von Wiese, Benno (Hg.): Deutschland erzählt. Von Rilke bis Handke. Frankfurt/M.: Fischer 1976.
3
 Ein großes deutsches Reich, von dem viele Autoren in den zerstückelten deutschen
Fürstentümern zwischen Hamburg und München im 19. Jahrhundert etwa träumten,
war für die meisten Autorinnen und Autoren der Habsburgermonarchie irrelevant, da
sie ja in einem großen Reich lebten.
 Oder noch deutlicher: Während das Jahr 1938 in der deutschen Literaturgeschichte
keine besondere Markierung bedeutet, bezeichnet es für Österreich einschneidende
Veränderungen: Jüdische, kommunistische, sozialdemokratische, antifaschistische
Autorinnen und Autoren mussten aus dem am 13. März an Hitlerdeutschland
angeschlossenen Österreich fliehen, verloren ihr Lesepublikum und ihren letzten
verbliebenen literarischen Markt – und manche auch ihr Leben, wie Jura Soyfer oder
Egon Friedell. Hermann Broch, Franz Theodor Csokor, Erich Fried, Robert Musil,
Friedrich Torberg und viele andere mussten 1938 Österreich verlassen.

Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen einer österreichischen und einer deutschen
Literatur gilt analog freilich auch für die deutschsprachige Literatur der Schweiz (denken Sie
an Friedrich Dürrenmatt oder Max Frisch), die Literatur der DDR, die unter gänzlich anderen
Bedingungen entstand, wie auch für die Literatur der deutschsprachigen Minderheiten in
anderen Ländern. Dass die Literaturnobelpreisträgerin von 2009, Herta Müller, 1953 im
rumänischen Banat geboren und aufgewachsen ist, erst 1987 in die Bundesrepublik
Deutschland auswandern konnte, hat ihr Leben und Schreiben entscheidend geprägt.6
Es wäre also präziser von der Neueren deutschsprachigen Literatur zu sprechen, oder
eben von österreichischer, deutscher, Schweizer etc. Literatur. Wobei dann noch einmal
sprachlich zu differenzieren wäre. Dass die Schweizer Literatur in (mindestens) vier Sprachen
verfasst wird, ist bekannt. Dass zur österreichischen Literatur z.B. auch die auf Slowenisch
geschriebenen Gedichte von Maja Haderlap oder die Bücher von Florjan Lipuš gehören, muss
oftmals erst ins Bewusstsein gerufen werden. Erst 2018 hat Letzterer den Großen
Österreichischen Staatspreis für Literatur erhalten. Sein erster Roman Der Zögling Tjaž (1972)
wurde übrigens von Peter Handke ins Deutsche übersetzt.

6
Vgl. dazu etwa ihren bekanntesten Roman Die Atemschaukel (2009), der anhand eines Einzelschicksals von der
Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin erzählt.
4
Freilich lässt sich angesichts der von Globalisierung und Migration geprägten Gegenwart
fragen, welcher Erkenntniswert noch in nationalen Zuordnungen wie „österreichische
Literatur“ steckt, wenn Autorinnen und Autoren wie Julya Rabinowich, Dimitré Dinev, Vladimir
Vertlib oder Ann Cotten weder in Österreich geboren wurden noch Deutsch ihre Erstsprache
ist? Aber darüber können Sie im weiteren Verlauf Ihres Studiums noch ausgiebig nachdenken.

Kommen wir nun zum dritten Teil der Bezeichnung unseres Faches: der Literatur.

3. Was ist Literatur? Zum Gegenstandsbereich des Faches

Das erste große Vergnügen oder die erste Schwierigkeit unseres Fachbereichs besteht darin,
dass wir uns unseren Forschungsgegenstand erst „erlesen“ müssen. Wenn Sie nicht
regelmäßig und viel lesen wollen, dann sind Sie hier im falschen Studium. Ein Teil Ihrer
Fachkompetenz wird ganz simpel darin bestehen, dass Sie viel gelesen haben, viel
deutschsprachige Literatur wohlgemerkt. Und Lesen bedeutet in unserem Fall auch immer mit
Stift und Papier in der Hand, oder dem Notebook in Reichweite, zu lesen. Sich Notizen zu
machen und Überlegungen anzustellen. Welche Literatur ist nun aber gemeint? Neuere,
deutschsprachige, ja. Aber was ist Literatur?

Womit beschäftigen wir uns in der Literaturwissenschaft eigentlich?

Betrachten wir das anhand einiger konkreter Beispiele: Gehören folgende Texte zum
Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft?

5
Johann Wolfgang von Goethe: Auf dem See (1789)7

Dass dieser Text Goethes zum Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft gehört, wird
kaum jemand bestreiten. Erstens gehören Gedichte zu den Textsorten, die am Anfang und
lange Zeit auch im Zentrum der Geschichte der Literatur standen.

 Die Abgehobenheit von der Alltagssprache (Vokabular, Metaphorik etc.)


 die auffällige Form (Segmentierung, Reim, Rhythmus etc.),
 die Bedeutungsdichte und möglicherweise an manchen Stellen auch vorläufige
Rätselhaftigkeit

lassen eine wissenschaftliche Beschäftigung mit solch einem „Gegenstand“ als sinnvoll und
angemessen erscheinen. Dazu kommt zweitens die Nobilitierung durch den mit hohem
Ansehen versehenen Namen des Autors: Johann Wolfgang von Goethe zählt seit dem 19.
Jahrhundert zu den am meisten beforschten Autor*innen der deutschsprachigen Literatur.

7
Johann Wolfgang von Goethe: „Auf dem See“. In: ders.: Gedichte 1756-1799. Hg. von Karl Eibl.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010. (= Sämtliche Werke Band 1, Deutscher Klassiker Verlag).
6
Ernst Jandl: schtzngrmm (1957)

Als dieser Text 1957 erstmals in der Zeitschrift Neue Wege erschien, hätte wohl kaum ein
Germanist / eine Germanistin gemeint, dass man sich damit in der Literaturwissenschaft
beschäftigen müsse. Erstens kam die Literatur der Gegenwart damals als Forschungs- oder
Lehrgegenstand nicht in Frage. Zweitens sprengt Jandls Dichtung die Vorstellung dessen, was
bis zu diesem Zeitpunkt gemeinhin als Gedicht oder literarischer Text verstanden wurde. Ganz
im Gegenteil: Diese Nummer der Zeitschrift wurde zum Skandal. Von „Schmutz und Schund“
war damals die Rede, vor dem „die Jugend“ zu schützen sei. Nicht nur, dass sich hier nichts
mehr reimt, gibt es weder Sätze noch klar erkennbare Wörter. Rhythmus sowie starke
Konzentration und Verdichtung wird man dem Text trotzdem nicht absprechen können. Auch
die Einteilung in Verszeilen zeugt von einem deutlichen Gestaltungswillen. Die volle Wirkung
entfaltet dieser Text aber (noch mehr als das Goethe-Gedicht) bei der lauten Lektüre. Nicht
umsonst hat Jandl selbst diese Texte als „Sprechgedichte“ bezeichnet und in unnachahmlicher
Weise vorgetragen.
7
Die Zerstörungskraft des Krieges, die in dem als „Schützengraben“ identifizierbaren
„schtzngrmm“ erkennbar ist, hat auch die Sprache beschädigt. Sämtliche Vokale sind aus den
Wörtern entfernt, stattdessen sehen wir das Rattern von Maschinengewehren lautmalerisch
nachgebildet. Hier sind keine Vokale mehr nötig. „Verhärtung des Wortes durch Entzug der
Vokale“ hat der Autor das selbst genannt. Die abschließende Verszeile, die abschließende
Konsonantenkombination, ließe sich durch den Vokal „o“ ergänzen, was dem hörbaren
Geschehen logisch folgend dann ein „tot-t“ wäre, der Zustand nach dem Feuergefecht.
Mittlerweile gehören die „Konkrete Poesie“ im Allgemeinen wie die Texte von Ernst
Jandl im Besonderen zu einem emsig beforschten Gegenstand der Literaturwissenschaft. Der
Nachlass Jandls, die Entstehungsvarianten und Fassungen seiner Texte, werden vom
Österreichischen Literaturarchiv aufbewahrt und ausgewertet.

Die Konkrete Poesie der Nachkriegszeit schloss an die historische Avantgarde an, an
Schreibweisen der modernen Literatur am Beginn des 20. Jahrhunderts, an Expressionismus
und Dadaismus vor allem. Hier wurden die Grenzen der Literatur schon früher und ebenfalls
radikal ausgetestet. Das lässt sich an einem berühmten – ja, was nun? – von Christian
Morgenstern erkennen:

Christian Morgenstern: Fisches Nachtgesang (1905)

8
Hier gibt es gar keine sprachlichen Zeichen mehr, nur noch die Grundbestandteile der Schrift
bzw. der Buchstaben: Bögen und (kurze) Geraden, in einem Muster angeordnet, aber jenseits
der Sprache. Freilich: Fische sind ja auch stumm.

Autorinnen und Autoren testen also immer wieder die Grenzen dessen aus, was ein Gedicht,
was ein Text, was Literatur sein kann. Mit einer Grenze einer anderen Art haben wir es im
folgenden Text zu tun:

Kristina Bach: Atemlos durch die Nacht

Dieser Text ist durch die gesangliche Umsetzung der Schlagersängerin Helene Fischer sehr
bekannt geworden. Er weist Endreime, Strophen plus Refrain, Metaphern und Vergleiche auf,
auch wenn sich kaum von Verdichtung oder Komplexität sprechen lässt, eher von Phrasen und
Klischees. Nichtsdestotrotz lässt sich fragen, ob es sich nicht lohnt, auch diese Art von Literatur
zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung zu machen. Und tatsächlich gibt es seit
Ende der 1960er-Jahre immer wieder Ansätze zur literaturwissenschaftlichen Analyse von
Unterhaltungsliteratur, Trivialliteratur oder Populärliteratur.

9
Wenden wir uns nun also einer präziseren Bestimmung von „Literatur“ in einem anerkannten
Fachlexikon zu (dessen Anschaffung nur empfohlen werden kann, wie insgesamt nur dazu
geraten werden kann, sich im Verlauf des Studiums eine kleine Bibliothek mit Fachliteratur
einzurichten), dem handlichen Metzler Literatur Lexikon8:

8
Metzler Literatur Lexikon. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart:
Metzler 2007 (= 3., völlig neu bearb. Aufl.), S. 445.
10
Allgemein gültig ist hier die Schrift als Ausgangsvoraussetzung. Ein Begriff von „mündlicher
Literatur“ wie er ab und an zu finden ist, erscheint als Oxymoron9, für vorschriftliche Zeiten
und Kulturen wäre wohl „mündliche Dichtung“ angebrachter.

Die weite Definition 1. ist für unser Fach wenig bedeutsam, denn dazu würde auch
Ratgeberliteratur, Gartenliteratur, medizinische Fachliteratur usw. gehören.
Punkt 2. definiert den Begriff zirkelhaft: Literatur sei das, was der Gegenstand der
Literaturwissenschaft ist. Aber genau das war ja unsere Frage: Was ist der Gegenstand der
Literaturwissenschaft? Die implizite Antwort hier: Das, was die Literaturwissenschaft als
Gegenstandsbereich festlegt. Wobei hier die Abhängigkeit von einer spezifischen Perspektive
oder Theorie betont wird, wenn etwa Fiktionalität als Kriterium festgelegt wird, d.h. ein
Aussagemodus, der darauf basiert, dass das in fiktionaler Literatur Behauptete sich nicht
unmittelbar auf die Wirklichkeit beziehen lässt.

Ein Beispiel: Wenn Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung etwa mit dem berühmten Satz
beginnt „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in
seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“, dann wäre es verfehlt nachprüfen
zu wollen, ob es tatsächlich einmal einen Gregor Samsa gegeben hat und dieser sich über
Nacht in ein Insekt verwandelt habe.10 Im Englischen gibt es dafür den schönen Begriff
„fiction“. Der vom französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette geprägte
Gegenbegriff zur fiktionalen Literatur lautet faktuale Literatur. Damit sind Texte gemeint, die
den Anspruch haben, sich direkt auf Wirkliches zu beziehen, etwa ein Zeitungsartikel oder eine
Anklageschrift vor Gericht.

Mit dem Kriterium der Poetizität sind Texte gemeint, die Kunstcharakter haben, die von
sprachlicher Dichte und Komplexität geprägt sind, Texte also, die über die alltagssprachliche
hinaus noch eine ganz spezifische Kohärenz haben (Textkohärenz bzw. Kohäsion wurden in
der Sprachwissenschaft ja bereits als wesentliche Faktoren für das, was einen Text ausmacht,
bestimmt, siehe die vorangegangenen Vorlesungen). Der Begriff Poesie (vom Griechischen
poiesis = das Machen, Verfertigen, Dichten) ist Ende des 16. Jahrhunderts aus dem
Französischen ins Deutsche übernommen wurden und bezog sich v.a. auf Vers- im Gegensatz

9
Eine rhetorische Figur, die aus zwei einander widersprechenden Begriffen besteht wie z.B. „kalte Glut“ oder
„alter Knabe“.
10
Den Aussagemodus von Texten, die behaupten, sich unmittelbar auf die Wirklichkeit beziehen zu lassen, etwa
Geschichtsbücher oder Zeitungsartikel, nennt der französische Erzähltheoretiker Gérard Genette übrigens
faktual.
11
zu Prosadichtung.11 Das kaum präzisere Wort im Deutschen lautet Dichtung oder Dichtkunst
(vom Lateinischen dictare = wiederholt sagen, vorsagen, diktieren, verfassen). Heute ist oft
etwas profaner von „literarischen Texten“ die Rede.

Worin diese „Literarizität“ bzw. das Besondere der poetischen Sprache besteht, darüber
wurde immer wieder nachgedacht. Dabei hat vor allem die Vorstellung vom Abweichendem,
vom Ver- oder Befremdenden eine lange Tradition, die bis auf den griechischen Philosophen
Aristoteles zurückgeht. Für einen der wichtigsten Literaturtheoretiker des beginnenden 20.
Jahrhunderts, den Gründer des sogenannten „Russischen Formalismus“, Viktor Šklovskij, sind
vor allem die Abweichungen von den Mechanismen der Alltagssprache das zentrale
Kennzeichen von Literatur. Solche Abweichungen, solche Verfremdungen, wie Šklovskij das
nennt, sollen zu einer Entautomatisierung der Wahrnehmung führen und uns damit die Dinge,
die Menschen, die Welt viel genauer wahrnehmen zu lassen.

„Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den
Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns
ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur
Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der
Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre
Dauer zu verlängern.“12

Künstlerisch und in unserem Fall auch poetisch ist für Šklovskij also eine Wahrnehmung, bei
der die Form erlebt wird. Der alltäglich kommunikative Aspekt von Sprache tritt in den
Hintergrund, die Form der Äußerung wird hervorgehoben. Diese (literarischen) Kunstgriffe
können in der Verwendung von Versen und Reimen bestehen, in einer auffälligen Syntax, in
der Häufung rhetorischer Figuren wie Metaphern und Vergleichen, in komplexen
Erzählmustern und ungewöhnlichen Perspektivierungen, in Neologismen und bewussten
Verstößen gegen die Rechtschreibregeln usw. usf. Darin zeige sich eben die Literarizität bzw.
Poetizität.

Diese Überlegungen haben auch heute noch viel für sich, werden etwa in der modernen
Textverarbeitungspsychologie mit dem Begriff des „Foregrounding“ bezeichnet.

11
Vgl. Metzler Literatur Lexikon 1984, 331.
12
Šklovskij, Viktor: Theorie der Prosa (1925). Frankfurt/M.: Fischer 1967, 14.
12
Bei den zitierten Beispielen lässt sich diese Abweichung von den Mechanismen der
Alltagssprache in jeweils unterschiedlichem Ausmaß zeigen.

Alle drei Begriffe, Poesie und Dichtkunst und literarischer Text, implizieren eine spezifische
Wertung, die in Geschichte und Gegenwart viel Anlass zu Diskussionen gaben. Und genau das
ist in Punkt 3. der zitierten Lexikondefinition von Literatur angesprochen: Nur als hochwertig
angesehene Texte („Goethe ja, Helene Fischer nein“) würden den Gegenstandsbereich der
Literaturwissenschaft ausmachen. Die Frage ist freilich, wie und von wem die Grenze gezogen
wird. Diese Zusammenhänge lassen sich in folgender Graphik darstellen:

Der Kern dessen, was den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft ausmacht ist klar
erkennbar und relativ stabil. Die Ränder sind freilich verschiebbar und oft nicht klar definiert
bzw. von der jeweiligen theoretischen oder historischen Perspektive abhängig.

13
Historisierung: Was war wann Literatur / Dichtung?

Jedenfalls sind diese Kriterien historisch veränderbar. Im Barock und darüber hinaus gab es
Regeln dafür, wie ein Text beschaffen sein musste, um als (spezifische Form von) Dichtung
anerkannt zu werden. Die Autoren (Autorinnen gab es kaum) richteten sich in ihrem Schreiben
danach. Man spricht hier von einer normativen Poetik. Das einflussreichste Buch in dieser
Hinsicht war im deutschen Sprachraum Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey. In
welchem alle jhre eigenschafft und zuegehör gründtlich erzehlet und mit exempeln
außgeführet wird (Breslau, 1624). Für Theatertexte wurde darin etwa die sogenannte
Ständeklausel ausformuliert. Damit ist gemeint, dass in Tragödien nur Figuren von hohem
gesellschaftlichen Rang die Hauptfiguren sein dürfen, in der Komödie hingegen nur solche von
niedrigem Rang. In Opitz‘ Worten:

Die Tragedie iſt an der maieſtet dem Heroiſchen getichte ge-


meße/ ohne das ſie ſelten leidet/ das man geringen ſtandes per-
ſonen vnd ſchlechte ſachen einfuͤ hre: weil ſie nur von Koͤ niglich-
em willen/ Todtſchlaͤgen/ verzweiffelungen/ Kinder- vnd Vaͤ-
termoͤ rden/ brande/ blutſchanden/ kriege vnd auffruhr/ klagen / heulen/ ſeuffzen vnd
dergleichen handelt. Von derer zu-
gehoͤ r ſchreibet vornemlich Ariſtoteles/ vnd etwas weitleuffti-
ger Daniel Heinſius; die man leſen kan.

Die Comedie beſtehet in ſchlechtem weſen vnnd perſonen:


redet von hochzeiten/ gaſtgeboten/ ſpielen/ betrug vnd ſchalck-
heit der knechte/ ruhmraͤtigen Landtsknechten/ buhlerſachen/
leichtfertigkeit der jugend/ geitze des alters/ kupplerey vnd ſol-
chen ſachen/ die taͤglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen Ha-
ben derowegen die/ welche heutiges tages Comedien geſchrie-
ben/ weit geirret/ die Keyſer vnd Potentaten eingefuͤ hret weil
ſolches den regeln der Comedien ſchnurſtracks zuewieder laufft.13

Die Ständeklausel gilt während des Barock und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und wird
erst vom Bürgerlichen Trauerspiel aufgebrochen. Ein berühmtes Beispiel ist etwa Gotthold
Ephraim Lessings Tragödie Emilia Galotti, in welcher die Titelheldin eine Bürgerliche ist.

Historisch relativ sind auch die Bezeichnungen der einzelnen literarischen Genres: Lessings
Drama Nathan der Weise (1779) trägt die Gattungsbezeichnung „Ein dramatisches Gedicht“
und derartiges hält sich noch bis ins 19. Jahrhundert (auch Franz Grillparzers Das goldene

13
Zitiert nach der Originalausgabe, S. 33f. http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/opitz_buch_1624
(9.4.2019)
14
Vließ, das 1821 am Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde, tituliert der Autor noch als
„Dramatisches Gedicht“).

In der Gegenwart werden keine normativen Poetiken mehr aufgestellt, stattdessen wird
beschrieben, welche Typen und Formen von Literatur in der Literaturgeschichte vorkommen.
Es ist dann von einer deskriptiven Poetik die Rede. Nichtsdestotrotz gibt es aber in der
Gesellschaft wie in der Literaturwissenschaft bewusste und weniger bewusste Vorstellungen
davon, was als Literatur oder – ein etwas merkwürdiger Begriff – als „literarischer Text“
verstanden wird, und damit zum Gegenstand des Schulunterrichts, der universitären Lehre
oder der Forschung werden kann.

Grundlegende literaturwissenschaftliche Verfahren

Wie geht die Literaturwissenschaft mit einem literarischen Text um?

Immer noch geistert ein vorwissenschaftliches Verständnis davon durch die Köpfe, was
Literaturwissenschaftler*innen eigentlich machen. Da gebe es angeblich wertvolle aber leider
komplizierte Texte und die Damen und Herren Professorinnen und Professoren erklären, was
diese Texte eigentlich bedeuten, was uns der Autor sagen wollte, was die eigentliche Botschaft
sei. A bedeute eigentlich X, B bedeute Y. Das sei die Kunst der Interpretation. In ihrem berühmt
gewordenen Essay Against Interpretation14 schreibt die US-amerikanische Kritikerin Susan
Sontag: „Die Interpretation ist die Rache des Intellekts an der Kunst.“15 Und das ist nun wirklich
nicht unser Ziel.

Stattdessen geht es in einer zeitgemäßen Literaturwissenschaft um einen systematischen


Zugang zu Literatur auf der Basis von Dramen-, Lyrik- und Erzähltheorie sowie
Literaturgeschichte. Damit wird nicht alles erklärbar und schon gar nicht einfach, aber das
Reden und Schreiben über Literatur wird nachvollziehbar, kritisierbar und diskutierbar: Das
wäre unser Job als Literaturwissenschaftler*innen. Damit muss nicht jeder subjektive Zugang
zur Literatur abgelehnt werden, aber die Literaturwissenschaft arbeitet systematisch und

14
Sontag, Susan: Against Interpretation. New York: Farrar, Straus & Giroux 1966.
15
Sontag, Susan: Gegen Interpretation. In: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. München,
Wien: Hanser 1980, S. 13.
15
theoriegeleitet. Und das müsste ja das Ziel des literaturwissenschaftlichen Studiums sein: Die
Kenntnis zahlreicher Texte sowie die Fähigkeit, diese selbständig zu analysieren.

Was macht also die Literaturwissenschaft im Wesentlichen, was sind ihre zentralen
Verfahren? Im Folgenden soll das an einem berühmten Beispiel durchgespielt werden.

Johann Wolfgang von Goethe:


Auf dem See (1789)

Und frische Nahrung, neues Blut


Saug’ ich aus freyer Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
5 Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.

Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder?


10 Goldne Träume kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so Gold du bist;
Hier auch Lieb’ und Leben ist.

Auf der Welle blinken


Tausend schwebende Sterne,
15 Weiche Nebel trinken
Rings die thürmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
20 Sich die reifende Frucht.

16
1. Systematische Beschreibung – mit Fachausdrücken

Für die systematische Beschreibung von Texten gibt es verschiedene Methoden und
Begrifflichkeiten, die aus unterschiedlichen Theorien stammen, die Sie im Verlauf Ihres
Studiums noch im Detail kennenlernen werden. Es gibt dafür sogar eine verpflichtende
Lehrveranstaltung mit dem Titel „Theorien und Methoden der Literatur- und
Kulturwissenschaften“. Ein strenges und schematisches methodisches Vorgehen wie in den
Natur- oder Sozialwissenschaften gibt es in unserem Fach aber nicht. Über die elementaren
Begriffe und Dimensionen der Analyse herrscht dennoch in den meisten theoretischen
Ansätzen Konsens. Beginnen wir also mit den Grundlagen, zum Beispiel der Gattung:

Ganz offensichtlich handelt es sich bei dem vorliegenden Text um ein Gedicht, es gehört also
zur Gattung der Lyrik (Die Lyra war ein griechisches Saiteninstrument, zu dem Lieder gesungen
wurden):

 Der kurze Text ist in Verszeilen eingeteilt und besteht aus drei unterschiedlich
gestalteten Strophen.
 Der Titel und einige Signalwörter („Wellen“, „Kahn“, „Rudertakt“) lassen das Bild einer
Bootsfahrt in einer als sehr schön dargestellten Landschaft entstehen.
 Ein Ich – nicht der Autor, sondern eine vorerst einmal abstrakte Instanz des
Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Sprechens, etwas, das gemeinhin das „lyrische
Ich“ genannt wird – fühlt sich in der ersten Strophe aufs Engste mit der Natur
verbunden und scheint die flotte Bootsfahrt zu genießen.
 In der zweiten Strophe wird der Blick von Bergen und Wolken abgewendet und
„goldene Träume“, offenbar aus der Vergangenheit, tauchen auf.
 In der dritten Strophe wird dann noch einmal die umgebende Natur beschrieben,
wobei die Zeit- und Lichtverhältnisse etwas rätselhaft sind: Einerseits weht ein
Morgenwind, andererseits blinken auf den Wellen „tausend schwebende Sterne“. Der
Text endet mit der Spiegelung einer reifenden Frucht auf der Wasseroberfläche.

Mit einer solch allgemeinen Beschreibung ist aber nur der erste Schritt gemacht, der kaum
erklärt, warum dieses Gedicht zu einem der berühmtesten Goethe-Gedichte zählt: Auffallend
ist an diesem Gedicht jedenfalls die Bildlichkeit, insbesondere die Naturmetaphorik.

17
 Das Verhältnis des lyrischen Ich zur Natur wird anfangs als Mutter-Kind-Symbiose
dargestellt („saug‘“, „am Busen hält“).
 In der Folge hebt sich der Blick von den Bergen in Richtung Himmel, eine Bewegung
nach oben, welche die im Ausrufesatz (V. 3 und 4) grammatisch markierte Euphorie
bildlich fortsetzt.
 Wie gesagt wird der Blick in der zweiten Strophe nach innen und in eine offenbar
wertvolle, verführerische Traumwelt gelenkt, die nicht näher bestimmt wird. Worauf
sich das Ich in einem an sich selbst gerichteten Imperativ („Weg, du Traum!“) davon
abwendet und der Gegenwart zuwendet, die von Liebe und Leben gekennzeichnet ist.
 In der dritten Strophe wird dann wieder die Naturmetaphorik bestimmend, diesmal
aber weniger euphorisch und dynamisch denn vielmehr ruhig und klar. Der Durchgang
durch die Zweifel/Träume der zweiten Strophe führt vom Säugling dann zur Reife und
zu einem Bild der Spiegelung bzw. Reflexion, die hier durchaus sowohl in einem
konkreten wie einem abstrakten Sinn verstanden werden kann.

Aber Gedichte sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf mehreren Ebenen gestaltet sind,
nicht nur auf der semantischen. Erst dadurch gewinnen sie ihre besondere Dichte. Jürgen Link
hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Überstrukturierung“ geprägt. Damit ist
gemeint, dass bei Gedichten

 zur wörtlichen Bedeutung (Denotation)


 auch die bildliche, übertragene Bedeutung (Konnotation),
 die phonetische Dimension (Klanggestalt oder Lautung) durch Reim oder Alliteration
 sowie Rhythmus und Metrik hinzukommen.

Jochen Vogt versucht das mit einem kulinarischen Vergleich zu fassen:

Wir dürfen uns also […] den lyrischen Text als mehrschichtige Angelegenheit
vorstellen, ein wenig so wie bestimmte Torten, wo jede Schicht ihre spezielle
Geschmackskomponente zum Geschmack des Ganzen beiträgt, aber erst alle
zusammen ein einziges, unverwechselbares Aroma produzieren.16

Besonders auffällig sind im vorliegenden Fall Metrik und Reimstruktur des Gedichts, die ganz
wesentlich zu seiner Wirkung beitragen. Wir haben in allen drei Strophen Endreime in einem
regelmäßigen Reimschema. Kreuzreime (a-b-a-b) in der ersten und dritten Strophe, Paarreime

16
Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. Paderborn: Fink 2002 (= 4., aktualisierte Auflage); S. 129.
18
(a-a-b-b) in der ja auch semantisch deutlich abgesetzten zweiten Strophe. Dazu kommt eine
klare Strukturierung von betonten und unbetonten Silben, die man als Metrik bezeichnet.

Exkurs: Metrum, lat.: Versmaß.


Das Metrum ist das abstrakte Schema der in sogenannten Versfüßen gemessenen
Silbenabfolge. Es war bereits im antiken Griechenland struktureller Bestandteil des
Verses. Im Griechischen und Lateinischen unterscheiden sich die Silben durch ihre
Länge; die verschiedenen Metren kommen hier durch die Kombination von kurzen und
langen Silben zustande.

Für das Deutsche, darauf weist schon Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen
Poeterey (1624) hin, gilt:

‚nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse groesse [d.i. Länge]
der sylben koennen in acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone
erkennen, welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden.‘ (S. 49)

Im Deutschen steht also (wie im Übrigen auch in der englischen Sprache) eine betonte
Silbe ( - ), wo die Griechen und Lateiner eine lange Silbe setzten, und eine unbetonte
Silbe ( ᴗ ) statt einer kurzen. Ganz im Sinne Opitz‘ spricht man bei betonten Silben von
Hebungen, bei unbetonten Silben von Senkungen. Man unterscheidet zwei- und
dreisilbige Versfüße.

Die wichtigsten Versfüße sind:

Name Schema Beispiel

Jambus ᴗ- Vernúnft

Trochäus - ᴗ Láger

Spondeus - - Vóllmònd

Daktylus -ᴗᴗ Wíederkehr

Anapäst ᴗᴗ- Zauberéi

ᴗ = unbetonte, kurze Silbe

- = betonte, lange Silbe

Jambischer wie trochäischer Versfuß sind gekennzeichnet durch den ständigen


Wechsel von betonter und unbetonter Silbe. Anders ausgedrückt: beide Versfüße sind
streng alternierend, nur beginnt der jambische im Unterschied zum trochäischen
auftaktig. Der dritte zweisilbige Versfuß, der Spondeus, ist, wie auch im Beispiel
"Vollmond" graphisch angedeutet, im Deutschen kaum möglich, denn von zwei

19
aufeinanderfolgenden Hebungen wird immer eine etwas stärker akzentuiert. Im
dreisilbigen Daktylus erkennt man schnell einen Dreivierteltakt – einer Hebung folgt
eine Doppelsenkung. Diese Reihenfolge kehrt sich beim Anapäst um.17

Zurück zu unserem Text: In der ersten, dritten, fünften und siebten Verszeile findet sich jeweils
vier Mal die Kombination einer unbetonten und einer betonten Silbe, die man Jambus nennt
( ᴗ - ), in dem Fall vierhebige Jamben.

Die Verszeilen zwei, vier, sechs und acht bestehen metrisch aus dreihebigen Jamben. Die
konkrete Ausfüllung dieser metrischen Struktur erzeugt einen dynamischen,
aufwärtsgerichteten Rhythmus, der im „Rudertakt“ ja auch explizit angesprochen ist. Der Text
ist sich seines Bauprinzips also bewusst.

Die zweite Strophe bricht diesen Lauf des dynamischen Rudertakts. Hier ist die Abfolge der
Betonungen genau umgekehrt, auf eine betonte folgt eine unbetonte Silbe. Der Fachbegriff
dafür lautet Trochäus. Wir haben hier also vier vierhebige Trochäen, welche mit ihrem eher
bremsenden Rhythmus die inhaltliche Wendung nach innen unterstreichen.

Die dritte Strophe fügt dem noch einen anderen Versfuß hinzu (so werden Jamben, Trochäen
etc. genannt), den Daktylus, die Folge einer betonten und zwei unbetonten Silben. In den
Verszeilen 14, 16, 18 und 20 ist zwischen die beiden Trochäen ein Daktylus eingefügt, was
einen vergleichsweise ruhigen, ausgeglichenen Rhythmus erzeugt, durchaus entsprechend
der in der abschließenden Strophe suggerierten Reife.

Diese Beschreibung des Textes, sowohl in seiner klanglichen, als auch in seiner semantischen
und rhetorischen Dimension ließe sich noch weiterführen. Dazu ist in der
Literaturwissenschaft auch viel publiziert worden. Eine erste Übersicht über den
Forschungsstand ließe sich etwa im Goethe-Handbuch finden, in dem ein eigener Eintrag zu

17
Dieses Zitat stammt aus einem empfehlenswerten Online-Lexikon zur Literaturwissenschaft, das als Ergänzung
zu Jochen Vogts Einladung zur Literaturwissenschaft (eine ebenfalls empfehlenswerte Einführung)
zusammengestellt worden ist: Einladung zur Literaturwissenschaft. Ein Vertiefungsprogramm zum
Selbststudium.
http://www.einladung-zur-
literaturwissenschaft.de/index0828.html?option=com_content&view=article&id=312%3A6-1-
metrum&catid=41%3Akapitel-6&Itemid=55 (aufgerufen am 8.4.2019).
20
diesem Text vorhanden ist.18 Brechen wir hier also die Beschreibung des Textes ab und
kommen zum zweiten wesentlichen literaturwissenschaftlichen Verfahren:

2. (Literatur-)Historische Einordnung

Heute würde kein ernstzunehmender Autor / keine ernstzunehmende Autorin mehr ein
solches Gedicht schreiben, weder in Bezug auf die Form (moderne Lyrik ist weitgehend
reimlos, hat selten eine regelmäßige Metrik), noch in Bezug auf das Bild der Natur oder des
Ich. Am Ende des 18. Jahrhunderts war das aber ein überaus moderner Text.

 Die Entdeckung eines Ichs, das sich nicht mehr als bloßer Teil eines Kollektivs verstand
– eines Standes, einer Glaubensgemeinschaft, einer Familie, einer Zunft etc. – sondern
als ein Individuum mit eigenem Denken, Erleben und Fühlen findet vor allem in der
Literatur statt und Johann Wolfgang von Goethe war derjenige, der das am
intensivsten und vielschichtigsten zum Ausdruck gebracht hat.
 Für die erzählende Literatur ließe sich hier an Die Leiden des jungen Werthers (1774)
denken, in dem sich die Identität des Titelhelden genau dadurch konstituiert, dass er
sich gegen die ihn umgebende Gesellschaft und die dort geltenden Konventionen
stellt, von der Liebe zu einer verheirateten Frau bis zum Suizid.

In Gedichtform ließ Goethe das Ich in der später so genannten „Erlebnislyrik“ sich entfalten,
wobei hier nicht der Eindruck entstehen soll, diese Gedichte seien gleichsam aus
unmittelbarem Erleben entstanden. Auch Gedichte, die so unmittelbar wirken wie „Auf dem
See“, sind bewusst konstruiert. Das Neue an dieser Lyrik aber ist, dass im Vergleich zur
Vorangegangenen hier nicht mehr die Beachtung von Regeln im Zentrum steht, das Einhalten
stilistischer und metrischer Vorgaben, sondern

Vielfalt, Kraft, Bewegung und Gefühlsintensität. Gegenüber den poetologischen


Regelwerken bedeutet das neue Formkonzept einen Akt der Befreiung. Goethes
Behandlung des Verses gewinnt eine bis dahin ungekannte, kraftvolle Flexibilität.
Metrik und Rhythmus stehen nicht mehr im Dienst einer Ordnung des Verses, sondern
des intensiven Gefühlsausdrucks.19

18
Vgl. Bormann, Alexander von: Auf dem See. In: Goethe Handbuch. Band 1: Gedichte. Hg. Regine Otto und
Bernd Witte. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 139-142.
19
Perels, Christoph: Lyrik des Sturm und Drang. 1770-1775. In: Goethe Handbuch. Band 1: Gedichte. Hg. Regine
Otto und Bernd Witte. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 54-76, hier S. 62.
21
Das lässt sich hier etwa an der Unmittelbarkeit des Gedichtanfangs („Und frische Nahrung
neues Blut“) sowie an den Apostrophen und Ausrufen erkennen, die dem Ausdruck des Ich
neue Spielräume geben. Goethe selbst hat die Lyrik als die „enthusiastisch aufgeregte“ Form
der Dichtung bezeichnet.

 Das Gedicht gilt ihm als sprachlicher Ausdruck eines Gefühls.


 Es soll die Stimmung eines bestimmten Augenblicks wiedergeben,
 auf einen spezifischen Anlass reagieren und dessen emotionale Auswirkungen
sprachlich fassen.

Der Lyrikbegriff der Goethezeit war für eine lange Zeit maßgebend dafür, was ein Gedicht
leisten konnte oder sollte. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel grenzt in seinen
Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten 1820-1829) die Lyrik von der erzählenden Dichtung
ab:
Zur epischen Poesie führt das Bedürfnis, die Sache zu hören, die sich für sich als eine
objektiv in sich abgeschlossene Totalität dem Subjekt gegenüber entfaltet; in der Lyrik
dagegen befriedigt sich das umgekehrte Bedürfnis, sich auszusprechen und das Gemüt
in der Äußerung selbst zu vernehmen. […]

Der Inhalt des lyrischen Kunstwerks kann nicht die Entwicklung einer subjektiven
Handlung in ihrem zu einem Weltreichtum sich ausbreitenden Zusammenhange sein,
sondern das einzelne Subjekt und eben damit das Vereinzelte der Situation und der
Gegenstände sowie der Art und Weise, wie das Gemüt mit seinem subjektiven Urteil,
seiner Freude, Bewunderung, seinem Schmerz und Empfinden überhaupt sich in
solchem Gehalte zum Bewußtsein bringt.

[…] Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann
demselben hierfür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt genügen. Dann nämlich
wird das Gemüt selbst, die Subjektivität als solche, der eigentliche Gehalt, so daß es
nur auf die Seele der Empfindung und nicht auf den näheren Gegenstand ankommt.
Die flüchtigste Stimmung des Augenblicks, das Aufjauchzen des Herzens, die schnell
vorüberfahrenden Blitze sorgloser Heiterkeiten und Scherze, Trübsinn und
Schwermut, Klage, genug, die ganze Stufenleiter der Empfindung wird hier in ihren
momentanen Bewegungen oder einzelnen Einfällen über die verschiedenartigsten
Gegenstände festgehalten und durch das Aussprechen dauernd gemacht.20

Von dieser Definition ausgehend würde Ernst Jandls schtzngrmm nicht als Gedicht gelten, von
Morgensterns Fisches Nachtgesang ganz zu schweigen. Aber wie wir bereits gesehen haben,
änderte sich der Literaturbegriff im Laufe der Zeit. In die literaturhistorischen Verhältnisse

20
Hegel, Georg Wilhelm: Ästhetik. Band 2. Hg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt M.: Europäische Verlagsanstalt
1965, S. 471 ff.
22
seiner Entstehungszeit eingefügt haben wir es bei Auf dem See aber mit einem damals
modernen Gedicht zu tun, das heute als überaus traditionell betrachtet wird.

Historisch einzuordnen ist freilich auch das, wovon das Gedicht handelt. Von einer „holden
und guten“ Mutter Natur, die uns wiegt und „am Busen hält“, zu schreiben wäre in Zeiten von
Klimakrise, Bienensterben und Plastikinseln in den Weltmeeren mehr als eskapistisch. Der
Naturbegriff am Ende des 18. Jahrhunderts stand aber ganz im Zeichen gesellschaftlichen
Aufbruchs und Umbruchs. Gegen das „tintenklecksende Saeculum“, so Karl Moor in Schillers
Drama Die Räuber, gegen den Rationalismus der Aufklärung, gegen Standesgrenzen,
Zunftregeln und alles Einengende wird eine lebendige, wachsende, schöpferische Natur
gesetzt.

Dass dieser neue Naturbegriff eine breitere gesellschaftliche Relevanz hat, lässt sich etwa auch
an der Ablöse der Französischen Gärten durch die Englischen Gärten erkennen. Während
Französische Gärten – denken Sie an Versailles oder auch Schloss Belvedere oder Schönbrunn
– die Natur zu strengen Mustern formen, aus den Hecken und Blumenbeeten Ornamente
machen, gilt in den Englischen Gärten (am bekanntesten vielleicht der in München) das Prinzip
des naturnahen Wachsens und Gestaltens, also der Nachbau von natürlichen Landschaften.

Dass damit auch politische Umwälzungen verbunden sind, ist Ende des 18. Jahrhunderts nicht
zu übersehen. Das in Europa alle alten, feudalen Strukturen erschütternde, wenn auch nicht
restlos beseitigende Ereignis war die Französische Revolution. Die Dichter in den deutschen
Fürstentümern verfolgten das Geschehen mit großer Aufmerksamkeit und anfangs zumindest
mit großer Sympathie. Nicht zufällig „saugt“ das lyrische Ich seine „neu Nahrung“ aus „freier
Welt“. Denn neben der Natur ist mit der Freiheit ein zweiter Leitbegriff des gesellschaftlichen
Aufbruchs dieser Zeit genannt.

Neben der literaturhistorischen Einordnung ist also auch die Verortung in den historischen
Kontext zur Zeit der Entstehung und Verbreitung von Literatur von Bedeutung. Das ist
notwendig, um die Zusatzbedeutungen (Konnotationen21) einzelner Begriffe zu verstehen (z.B.
von Natur, s.o.), aber auch um die Funktion der Literatur in der sie umgebenden Kultur und

21
Als Konnotation wird die Sekundär- oder Mitbedeutung von Begriffen im Unterschied zu ihrem sachlich-
begrifflichen Inhalt verstanden. Konnotationen sind kontextabhängig, sie verändern sich mit der sich
verändernden kulturellen Verfügbarkeit.
23
Gesellschaft beschreiben zu können. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen
Greenblatt versteht literarische Texte als Knotenpunkte gesellschaftlicher Rede- bzw.
Denkweisen und Debatten (sogenannter „Diskurse“), als „Brennpunkte konvergierender
Kraftlinien“22 der Kultur, „als Kraftfelder, als Orte des Meinungsstreites und changierender
Interessen, als Anlässe für ein Aufeinandertreffen von orthodoxen und subversiven
Impulsen“.23 Das gilt auch für einen auf den ersten Blick so harmlosen Text wie Goethes Auf
dem See.

Das dritte grundlegende literaturwissenschaftliche Verfahren, der Vergleich, wird uns am


Beginn der nächsten Vorlesung noch beschäftigen.

22
Greenblatt, Stephen: „Selbstbildung in der Renaissance. Von More bis Shakespeare“ (Einleitung). In: Moritz
Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2., akt. Aufl. Tübingen, Basel: UTB 2001,
S. 35–47, hier S. 41.
23
Greenblatt, Stephen.: „Die Formen der Macht und die Macht der Formen in der englischen Renaissance“
(Einleitung). In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. S. 29–34, hier S. 33.
24

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