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Univ.-Prof. Dr.

Stephan Müller

Einführung ‚Ältere deutsche Sprache und Literatur‘

Germanistische Mediävistik - 1. Sitzung

Die Gegenstände des Faches

Gegenstand der ‚Älteren deutschen Sprache und Literatur‘ oder auch ‚Germanistische
Mediävistik‘ (Germanistische Mittelalterkunde) ist die deutsche Sprache und Literatur
des Mittelalters. Die Überlieferung der deutschen Sprache beginnt in der Zeit um 750
und nimmt dann ständig zu, bis (im Gefolge der Entdeckung des Buchdrucks) die Text-
kultur der Neuzeit beginnt. Wie man zu dieser Zeit gesprochen und geschrieben hat, was
man gewusst und gedacht hat, wie die Texte dieser Zeit zu verstehen sind, das zu unter-
suchen ist die Aufgabe der Germanistischen Mediävistik. Schematisch dargestellt deckt
das Fach dabei folgenden Zeitraum ab:

Frühmittelalter
Zeit: 750-1050; Sprache: Althochdeutsch/Altniederdeutsch (Altsächsisch); Politik: Karo-
linger (751-911) – Ottonen (918-1024); Kulturelle Hauptzentren: Klöster

Hochmittelalter
Zeit: 1050-1250; Sprache: Mittelhochdeutsch; Politik: Salier (1024-1125) – Staufer
(1137-1268); Kulturelle Hauptzentren: Höfe

Spätmittelalter / Frühe Neuzeit


Zeit: 1250-1450 (Buchdruck)-1650; Sprache: Spätmittelhoch-
deutsch/Frühneuhochdeutsch; Politik: Wahlkönigtum/Habsburger; Kulturelle Haupt-
zentren: Städte

Warum ein eigener Fachbereich?

Aber warum muss man ‚Ältere deutsche Sprache und Literatur‘/‚Germanistische Mediä-
vistik‘ als eigenen Fachbereich studieren? Ein Grund ist ein fachgeschichtlicher: Hätte
man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts studiert, stünde die Beschäftigung mit
der Sprache und Literatur des Mittelalters ganz im Zentrum. Institutionell entwickelte
sich die Germanistik aus der Beschäftigung mit der Geschichte von Sprache und Litera-
tur heraus und die Urväter unseres Faches waren Mediävisten, wie beispielsweise die
Brüder Grimm, die sicher die bekanntesten sind. Die ersten germanistischen Universi-
tätsprofessoren waren ebenfalls Mediävisten, auch wenn sie sich selbst nicht so genannt
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hätten. Erster außerordentlicher Professor für Germanistik wurde 1810 Friedrich Hein-
rich von der Hagen in Berlin, dem wir zahlreiche Ausgaben altdeutscher Texte verdan-
ken. Die Editionsmethode der klassischen Philologie etablierte Karl Lachmann für die
Germanistik, sie war lange maßgeblich für das Fach und einige seiner Editionen werden
in leicht überarbeiteter Fassung noch heute benutzt. Die Sprache und Literatur der Neu-
zeit wurde erst später zum Gegenstand universitärer Studien.

Friedrich Heinrich Die Brüder Grimm Karl Lachmann († 1851)


von der Hagen († 1856) Jacob († 1863) und Wilhelm († 1859)

Erster Professor der Neben der berühmten Sammlung der Begründer der historisch-
Germanistik (1810 in Kinder- und Hausmärchen begannen die kritischen Editionsmethode für
Berlin) Brüder das ‚Deutsche Wörterbuch‘. Jacob die Germanistik. Noch heute sind
legte mit der ‚Deutschen Grammatik‘ viele seiner Textausgaben maß-
(1818-1826) einen Grundstein für das geblich Bsp.: (Ersterscheinen):
Fach. Wilhem verdanken wir das Stan- 1826: ‚Nibelungenlied‘
dardwerk ‚Die deutsche Heldensage‘ 1827: Hartmann v. Aue, ‚Iwein‘
(1829). Weitere wichtige Werke: ‚Deut- 1827: Walther v. d. Vogelweide
sche Mythologie‘, ‚Deutsche Sagen‘ und 1833: Wolfram von Eschenbach
die ‚Deutschen Rechtsalterthümer‘. 1838: Hartmann v. A.‚ ‚Gregorius‘

Wichtiger als diese historisch gewachsene Eigenständigkeit der Germanistischen Mediä-


vistik sind jedoch die inhaltlichen Gründe, aus denen die Sprache und Literatur des Mit-
telalters einen eigenen Fachbereich bildet.

Sprache

Ein wichtiger Grund ist die Sprache, in denen die deutschen Texte des Mittelalters abge-
fasst sind. Ein moderner Leser kann sie ohne spezielle Kenntnisse nicht mehr verstehen
und wer Germanist werden will, sollte so wichtige Texte der deutschen Literatur wie das
‚Nibelungenlied‘ oder den ‚Parzival‘ im Original lesen können. Außerdem bedeutet die
Kenntnis der älteren Sprachstufen auch eine spezifische Kompetenz gegenüber der ei-
genen Sprache und Sprachgeschichte, die ein Philologe, wie man sich als ausgebildeter
Germanist nennen darf, beherrschen muss. Das ist auch deshalb nötig, da die Entde-
ckung und Erschließung der Literatur des Mittelalters noch ganz und gar nicht abge-
schlossen ist. Man kann also nicht auf abgeschlossene Erschließungsleistungen (und sei
es nur die Übersetzung der wichtigsten Texte) zurückgreifen, sondern die Kompetenz im
Umgang mit der Sprache und Literatur des Mittelalters muss weiterhin eine Grundkom-
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petenz jedes Germanisten sein, damit das Verständnis der Literatur und Kultur des Mit-
telalters, in deren Traditionen wir stehen, weiter erforscht werden kann.

Die frühesten Zeugnisse der deutschen Sprache begegnen uns dabei ab dem 8. Jahrhun-
dert und die deutsche Sprache entwickelt sich von da an kontinuierlich hin zum heuti-
gen Deutsch, wobei man den Sprachraum zeitlich und dialektal/räumlich gliedert. Aber
dazu genauer: Die Sprache, die heute in Wien gesprochen wird, nennt man ‚Neuhoch-
deutsch‘ und in diesem Begriff sind die Prinzipien der Einteilung der deutschen Sprach-
geschichte gut nachzuvollziehen:

 Am einfachsten ist das Wortteil ‚-deutsch‘ zu erklären, es bezeichnet, dass es sich um


eine Sprache aus dem deutschen Sprachraum handelt, der politisch heute mehrere Nati-
onen umfasst und im Mittelalter noch viel unklarer gegliedert war; von einer politischen
Einheit des deutschen Sprachraums kann und konnte man nicht sprechen.

 ‚-hoch-‘ meint (in aller Kürze) die dialektale Einordnung, die auch eine räumliche ist.
Unter Hochdeutsch versteht man nämlich alle Sprachvarianten des Deutschen, die eine
wichtige Lautveränderung durchgemacht haben, die sogenannte ‚Zweite’ oder eben
‚Hochdeutsche Lautverschiebung’, bei der sich eine Gruppe von Konsonanten systema-
tisch verändert hat. Im Norden des deutschen Sprachraums ist das nicht geschehen und
das Deutsch, das dort gesprochen wird, nennt man deshalb ‚Niederdeutsch‘. Ein einfa-
ches Beispiel ist etwa niederdeutsch Water (wie man das etwa an der Nordsee, an der
Wasserkante, der Waterkant sagt) und hochdeutsch Wasser. Sie sehen, dass das Nieder-
deutsche hier eher dem englischen water gleicht, da auch das Englische die Zweite Laut-
verschiebung nicht mitgemacht hat. Gegenstand der Germanistik ist auch das Nieder-
deutsche, aber der Schwerpunkt liegt traditionell auf dem Hochdeutschen.

 Auch ‚Neu-‘ ist einfach zu erklären. Es bezeichnet eine chronologische Einteilung der
Sprachstadien des Deutschen, wie man das in der folgenden Systematik nachvollziehen
kann. Dort sind auch einige wichtige Lautveränderungen angegeben, aber natürlich nur
sehr wenige.

Sprachstadien des Deutschen

750-1050 Althochdeutsch: tága ímo wīhi muot

1050-1350 Mittelhochdeutsch: táge ím(e) wīhe muot

1350-1650 Frühneuhochdeutsch: táge/tāge ím/īm wīhe/weihe muot/mūt

Ab 1650 Neuhochdeutsch: Tāge ihm Weihe Mūt

Einige wichtige Lautveränderungen

Ahd. > Mhd.: Volle Nebensilbenvokale werden zu schwachtonigem e, dem Schwa-Laut ɘ:


taga>tage, imo>ime, wihi>wihe
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Mhd. > Nhd.: Kurzvokale werden zu Langvokal: táge > Tāge, ím >ihm

Mhd. > Nhd.: Monophthonge werden zu Diphthongen: wīhe > Weihe

Mhd. > Nhd.: Diphthonge werden zu Monophthongen: muot > Mūt

Frühneuhochdeutsch: Übergangsphase zwischen Mhd. und Nhd., in der sich diese Ver-
änderungen zeitlich und regional sukzessive durchsetzen.

(Ahd. = Althochdeutsch, Mhd. = Mittelhochdeutsch, Nhd. = Neuhochdeutsch, ā = Langvokal, á = Kurzvokal)

Zu unterscheiden ist hier die Bedeutung von ‚Hochdeutsch‘ unbedingt von einem ande-
ren Gebrauch des Wortes: ‚Hochdeutsch‘ meint oft umgangssprachlich auch das sog.
‚Schriftdeutsch‘ o.ä. im Unterschied zu den Dialekten. In der Fachwissenschaft würde
man zu diesem ‚Hochdeutsch‘ (im Sinne von ‚Nichtdialekt‘) ‚Standarddeutsch‘ sagen.

Literatur

Aber nicht nur die Sprache ändert sich, das trifft auch auf die Literatur zu. Die ganz an-
deren Prämissen der literarischen Kultur des Mittelalters muss man kennen und studie-
ren, um die Texte der Zeit verstehen zu können, oder zumindest um zu wissen, warum
man sie nicht mehr versteht. Es geht dabei um die Beobachtung von uns kategorial
fremd gewordenen Sachverhalten und für den Umgang mit solchen Formen des Frem-
den hat man in der Kulturwissenschaft den Begriff der ‚Alterität‘ eingeführt, der auch in
der Mittelalterforschung sehr wichtig geworden ist. ‚Alterität‘ meint dabei, dass man die
Kultur und Literatur des Mittelalters als fremd akzeptieren muss, und dass man diese
fremde Kultur nie mehr in ihrem ganzen Umfang verstehen kann. Das klingt drastischer,
als es ist und meint zunächst nur, dass man sich der Literatur des Mittelalters auf keinen
Fall ‚identifikatorisch‘ nähern kann und dass man von seinen modernen Lesegewohnhei-
ten abrücken muss. Eine Literaturwissenschaft, wie die ‚Germanistische Mediävistik‘, die
immer eine historische ist, muss also immer neu an den Grundlagen des Verstehens mit-
telalterlicher Texte arbeiten und darf sich so gut wie nie auf den persönlichen Leseein-
druck verlassen, der einen bei den meisten mittelalterlichen Texten in die Irre führt.

Aber dazu konkret: Einer der vielen wichtigen Unterschiede zwischen einer modernen
literarischen Kultur und einer vormodernen (zu der eben auch die mittelalterliche ge-
hört) ist das Fehlen eines institutionalisierten Literaturbetriebs. Für uns ist die Produk-
tion einer „Kunst um der Kunst willen“ (l´art pour l´art) eine kulturelle Selbstverständ-
lichkeit. Das ist aber eine viel voraussetzungsreichere Sache, als man denkt, die in jeder
Kultur anders aussieht. Für die Moderne hat Jean-Paul Sartre einmal einen „Pakt der
Großherzigkeit“ („pacte de générosité“) festgestellt, der Autoren die Lizenz gibt, Texte
zu verfassen, deren Bezug zur Wirklichkeit nicht relevant sein muss. Im Mittelalter ist
die Literatur und Kunst kein solcher autonomer Sonderbereich, sondern fester Teil an-
derer sozialer Praktiken: Teil der Herrschaftspraxis, Teil der Religion etc. und ohne die-
se Zusammenhänge nicht zu verstehen.
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Eine Autonomie der Kunst und Literatur gibt es im Mittelalter also nicht. Auch spielen
Größen, die für uns in der Literatur sehr wichtig sind, eine untergeordnete Rolle. In der
Neuzeit hat sich eine Erwartungshaltung gegenüber Literatur entwickelt, die stark von
einer goethezeitlichen Genieästhetik geprägt ist: Werke sind Schöpfungen namhafter
Autoren – aber gerade diese Erwartung greift für das Mittelalter oft ins Leere: Über die
Autoren wissen wir wenig bis nichts und oft sind die Texte anonym. Die ‚Werke‘ sind in
den Handschriften in sehr unterschiedlichen Fassungen überliefert, also das ‚eine‘ Werk
eines Autors , das so und nicht anders zu lesen ist, gibt es nicht. Auch treten die Autoren
in der Regel nicht als ‚geniale Erfinder‘ auf, sondern schreiben Traditionen weiter, bear-
beiten vorliegende Werke, ohne dass jemand das als Plagiat empfinden würde. Formel-
haft kann man sagen, dass unser neuzeitliches Autor-Werk-Paradigma für die Litera-
tur des Mittelalters irreführend ist und das Studium der Älteren deutschen Sprache und
Literatur soll die Prämissen lehren, wie Texte, die jenseits der Voraussetzungen eines
modernen Literaturbetriebs entstanden sind, verstanden werden können.

Ein wichtiger weiterer Punkt ist auch, dass die Schrift als Medium sehr exklusiv war: Sie
stand nur einem kleinen Kreis zur Verfügung und die Produktion von Handschriften, die
in der Regel aus Pergament, also aus Tierhäuten hergestellt wurden, war sehr teuer. Al-
les also, das man diesem teuren Pergament anvertraute, verdient unser Interesse, ist
und war etwas Besonderes: Der Literaturbegriff der germanistischen Mediävistik ist
deshalb viel breiter, als jener der Moderne. Ja, man hat sogar gesagt, dass man es mit
„Texten vor dem Zeitalter der Literatur“ (Christian Kiening) zu tun hat.

Das alles hat zur Folge, dass viele Begriffe, die wir ganz selbstverständlich gebrauchen,
für die Literatur des Mittelalters anders gefasst werden müssen und dies immer vor dem
Hintergrund der historischen und kulturellen Gegebenheiten des Mittelalters.

Kultur

Anders als in der Neuzeit ist die Textkultur des Mittelalters also ein extrem exklusives
System. Lesen und Schreiben können nur wenige; Handschriften sind so teuer, dass bis
zum Spätmittelalter kaum jemand Bücher besitzt, geschweige denn sich eine Bibliothek
einrichten kann. Das bedeutet natürlich auch, dass die Texte von kleinen und für sehr
kleine Gruppen gemacht wurden. Diese Zusammenhänge muss man kennen, um die Tex-
te entsprechend einordnen zu können, wobei die Texte in der Volkssprache immer ‚Son-
derfälle‘ vor dem Hintergrund der (quantitativ und geographisch) viel breiteren lateini-
schen Tradition darstellen. Die betreffenden Gruppen verändern und erweitern sich im
Laufe der Zeit:
Für das Frühmittelalter lässt sich ganz allgemein sagen, dass die Klöster und wenige
andere geistliche Institutionen im Zentrum der Textproduktion stehen. Texte werden
von Geistlichen für Geistliche geschrieben und stehen deshalb sehr oft in engem Zu-
sammenhang mit religiösen Praktiken. Ausnahmen von dieser Regel sind extrem selten:
Ein Beispiel sind etwa die Fragmente des ‚Hildbrandsliedes‘ ( wichtige Handschriften),
die auf eine mündliche weltliche Literaturtradition zurückgehen, aber als Schrifttext aus
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der Feder einen Mönches stammen. Das ganze Mittelalter hindurch blieben die geistli-
chen Zentren (wie Bischofshöfe, Domschulen, Weltgeistliche am Hof, etc.) und Klöster
literarischsehr aktiv.
Im Hochmittelalter kommen ab dem 12. Jahrhundert immer stärker die weltlichen
Fürstenhöfe dazu. Dort entsteht eine neue Adelskultur, die Kultur der ‚Ritter‘ und mit
dem ‚Minnesang‘ sowie der höfischen Epik bilden sich auch neue Formen der weltlichen
Literaturheraus, von der ab dem 13. Jahrhundert dann auch immer mehr Handschriften
auf uns gekommen sind, die nicht in Klöstern entstanden.
Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit nimmt die politische und kulturelle Be-
deutung der weltlichen Höfe der ‚Ritter‘ ab und neue soziale Orte werden wichtig. Ab
dem späten 13. Jahrhundert sind das besonders die Städte, die immer mehr zu den ei-
gentlichen kulturellen Zentren werden. Mit einer quantitativ explodierenden Hand-
schriftenproduktion und mit der Einführung des Buchdrucks verliert die Textverbrei-
tung jene Exklusivität, von der sie ausging. Ein anonymer werdender Buchmarkt ent-
steht und die Texte können damit ganz neue Formen und Funktionen ausbilden.

Medien

Die germanistische Mediävistik war und ist immer auch eine historische Kulturwissen-
schaft. Sie ist aber immer auch eine historische Medienwissenschaft, denn die Texte
des Mittelalters zirkulierten in Handschriften und das ist eine große Differenz zu unse-
rer modernen literarischen Textkultur, in der wir es meist mit technisch reproduzierten
Texten zu tun haben.

Nur einige der wichtigsten Unterschiede: Texte in Handschriften sind immer ‚einma-
lig‘. Erst mit dem Buchdruck (um 1450) werden Texte potentiell beliebig oft identisch
reproduzierbar und sind an vielen Orten erhältlich. Mittelalterliche Handschriften sind
(zumindest bis im Spätmittelalter eine regelrechte Massenproduktion einsetzt) etwas
Besonderes, für spezifische Anlässe und Orte verfertigt. Auch die prominentesten Texte
existieren also nicht als Massenware, sondern wurden in der Regel in der Form des
mündlichen Vortrags verbreitet.

Will man mit solchen Texten arbeiten, muss man sie sozusagen aus den Handschriften
herausholen und in gedruckte Bücher überführen. Diese Aufgabe, die Edition mittelal-
terlicher Texte, ist noch lange nicht abgeschlossen und verlangt spezifische sprachliche,
methodische und technische Kompetenzen, die Gegenstand der Lehre in der germanisti-
schen Mediävistik sind. Als ein Beispiel dafür, vgl. die erste Strophe des ‚Nibelungenlie-
des’  Fall 1 - Heldenepik.

Wer sich also bei Amazon eine Ausgabe des ‚Nibelungenliedes’ bestellt und es in der Ba-
dewanne liest, tut etwas, das dem Text historisch nicht gerecht wird. Das ist natürlich
nicht verboten, aber um den Text richtig verstehen zu können, muss man die Bedingun-
gen seiner Entstehung, Überlieferung oder seiner Verbreitung in Form des Vortrags be-
wusst mitreflektieren.
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Um ein Bild von den Handschriften des Mittelalters zu vermitteln, hier einige prominen-
te Beispiele. Eine entstehende Sammlung aller deutschsprachigen Handschriften des
Mittelalters finden sie im Internet: http://handschriftencensus.de/. Das sind aber nur
wenige im Vergleich mit den lateinischen Handschriften, denn die gängige Sprache, in
der man in Handschriften schrieb, war Latein – ein weiterer Grund, warum jeder deut-
sche Text in einer mittelalterlichen Handschrift immer unser besonderes Interesse ver-
dient.

Einige wichtige Handschriften

Die Fragmente des ‚Hildebrandsliedes’

Kassel, Universitätsbibliothek 2° Ms. theol. 54, fol. 1r und fol. 76v


[Erl.: 2° = Folioformat, Ms. = Manuskript, theol. = theologischer Inhalt, fol. = folio (Blatt), r = recto = Vor-
derseite, v = verso = Rückseite]

Auf die freigebliebene erste und letzte Seite einer geistlichen Handschrift, die wohl im 3.
Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts entstand, wurde im 4. Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts der
Anfang des ‚Hildebrandsliedes’ nachgetragen. Man weiss nicht genau, warum ein Mönch
diesen weltlichen Text aufschrieb, aber deutlich ist, dass es sich (wegen einer Reihe da-
für typischer Fehler) um eine Abschrift handelt. Die Sprache und Form des Textes wurde
in diesem Prozess des Auf- und Abschreibens verändert, so dass wir nur ein sehr indi-
rektes Zeugnis einer mündlichen Tradition vor uns haben.

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‚Codex Manesse‘ (Große Heidelberger Liederhandschrift)

Heidelberg UB, Cod Pal. germ. 848

[Erl.: UB = Universitätsbibliothek, Cod. = Codex, Pal. = Palatinus [ehem. pfalzgräfliche Bibliothek in Heidel-
berg], germ. = germanicus [also ‚deutsche‘ Handschrift, keine lateinischen, die hiesse ‚lat.‘]

Die umfangreichste Sammlung mittelhochdeutscher Lyrik, zwischen ca. 1300 und 1340
in Zürich im Umkreis des Patriziers Rüdiger Manesse und seines Sohnes angelegt. Ma-
ße: 355 x 250 mm, 426 Blätter. Die Handschrift beinhaltet ca. 6000 Strophen und ist
nach Autoren gegliedert: Am Anfang steht Kaiser Heinrich VI., der Sohn Friedrich Barba-
rossas. Es folgen Könige, Herzöge, Markgrafen, Grafen, Ministerialen und Bürgerliche.

Die berühmten Miniaturen der um 1300 meist schon lange toten Autoren sind nicht wirklichkeitsnah,
sondern oft aus dem Text heraus konstruiert. Sie sehen hier Walther von der Vogelweide, wie er in topi-
scher Denkerpose auf einem Stein sitzt. Ein Pelzbarett kennzeichnet ihn als Dichter, das Schwert steht für
seinen Status als Adliger, der Waffen führen darf; auch die Überschrift sagt, dass er ein ‚Her‘ ist, also ein
adeliger Herr. Erfundenes Wappen und Helmzier illustrieren den Geburtsnamen Walters ‚von der Vogel-
weide‘. Die Körperhaltung entspricht dem Text, der hier rot markiert ist:

Ich saz ûf eime steine Ich saß auf einem Stein


und dahte bein mit beine, und bedeckte ein Bein mit dem anderen.
dar ûf satzte ich den ellenbogen; Darauf setzte ich meinen Ellbogen.
ich hete in mîne hant gesmogen In meine Hand schmiegte ich
mîn kinne und ein mîn wange. mein Kinn und eine meiner Wangen.

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Die Handschrift C des ‚Nibelungenliedes‘

Karlsruhe, Badische Landesbibliothek Cod. Donaueschingen 63


[Erl.: Die Handschrift liegt jetzt in Karlsruhe, war aber bis vor wenigen Jahren in Donaueschingen Teil der
Fürstlich-Fürstenbergischen Sammlung, die jedoch verkauft wurde. Das Exlibris zeigt das Wappen des
Joseph Freiherrn von Laßberg (1770-1855), der die Handschrift auf dem Wiener Kongress für die Fürsten
Fürstenberg kaufte]

2. Viertel des 13. Jahrhunderts, 245 x 170 mm, einspaltig, Verse und Strophen nicht ab-
gesetzt. In den Handschrift ist neben dem ‚Nibelungenlied‘ auch die ‚Nibelungenklage‘
enthalten. Eine Fortsetzung des Liedes, die erzählt, was nach dem Untergang der Bur-
gunden geschah.

Die Handschrift ist eine von ca. 35 erhaltenen Handschriften und Fragmenten des Liedes
( Fall 1 - Heldenepik)
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Fallbeispiele
Fall 1 - Heldenepik: Mündliche Überlieferung und handschriftliche Verbreitung

Kurzinformation und Definition: Mittelhochdeutsche Heldenepik

Die mhd. Heldenepik erzählt von Stoffen, die meistens historisch auf die Zeit der Völ-
kerwanderung zurückgehen (vom Einfall der Hunnen 375 bis zum Einfall der Langobar-
den in Italien 568). Den Zeitraum, auf den sich die Sagen historisch beziehen, nennt man
‚Heldenzeitalter’ oder ‚heroic age’. Zentrale Ereignisse dieser Zeit wurden nach den Re-
geln schriftloser Kulturen in Form von Sagen weitererzählt.
Zu diesen Regeln gehören Selektion (Auswahl weniger Stoffe), Reduktion (Beschränkung auf wichtige
Zusammenhänge), Kombination (Verknüpfung auch zeitlich nicht zusammenhängender Ereignisse) und
Privatisierung (die historischen Zusammenhänge werden als Familiengeschichten erzählt). Sie sind not-
wendig, da ohne die Schrift nur weniges über lange Zeit von Mund zu Ohr im Gedächtnis einer Gesellschaft
bestehen kann und vieles vergessen werden muss (= ‚strukturelle Amnesie’).
Diese Sagen werden dann ab dem 12. Jahrhundert in literarische Schrifttexte verwan-
delt, von denen das ‚Nibelungenlied‘ das prominenteste Beispiel ist. Die Inhalte der Hel-
denepik wurden im Mittealter wohl noch als historische Realität angesehen. So spielt die
Heldenepik auch meist an realen Orten. Strukturell ist sie in der Regel sequentiell aufge-
baut: Eine Episode wird zeitlich nach der anderen erzählt, ganz nach den Regeln des his-
torischen Berichts. Formal ist die Heldenepik oft (nicht immer!) strophisch verfasst, was
deutlich darauf hinweist, dass die Texte vorgesungen wurden.

Neben den Helden der Nibelungensage ist vor allem Dietrich von Bern eine prominente
Figur, die auch im ‚Nibelungenlied‘ vorkommt. Historisch steht dahinter der Ostgoten-
könig Theoderich der Große († 526). In der mhd. Heldenepik ist er noch viel populärer
als Siegfried. Vor allem die Texte der sog. ‚Dietrichepik‘ erzählen von ihm.

Unser Beispiel soll das ‚Nibelungenlied’ sein und wir beginnen mit der Frage, wie der
Text überliefert ist und das anhand der ersten Strophe, die vieles über die Funktion und
Rezeption der Heldenepik aussagt.

Überlieferung und Edition

Das ‚Nibelungenlied‘ ist in mehr als 35 Handschriften überliefert und der Text ist dabei
nicht einheitlich. Das Problem besteht also darin, welchen der überlieferten Text man als
Grundlage für die Textarbeit verwenden soll. Traditionell erstellt man dazu eine ‚Editi-
on‘, also die Ausgabe eines Textes auf Grundlage der überlieferten Handschriften. Seit
einiger Zeit macht man stärker die Textform in den Handschriften zur Grundlage der
Textarbeit. Das hat den Vorteil, dass der Text genau so (und nicht wie in einer Edition, in
der ein Text von der Forschung ‚wiederhergestellt‘ wird) gelesen wurde, aber auch den
Nachteil, dass damit von einem Text oft viele Fassungen im Blick gehalten werden müs-
sen und Handschriften nicht nur sinnvolle Varianten eines Textes bieten, sondern auch
fehlerhaft sein können. Diese Problemlage nun anhand eines Beispiels, in dem nur 3 der
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35 Handschriften des ‚Nibelungenliedes’ herangezogen werden. Tatsächlich ist die Lage
also viel komplexer:

Das ‚Nibelungenlied‘ beginnt mit einer sehr berühmten Strophe, die in den drei wichtigs-
ten Handschriften des Liedes wie folgt aussieht:

Die Handschrift A: München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 34 (13. Jhd., 2. Hälfte)

Die Handschrift B: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857 (13. Jhd., 2. Hälfte)

Die Handschrift C: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek Cod. Donaueschingen 63 (13.


Jh., 2. Viertel,  wichtige Handschriften)

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Der Fall der berühmten Handschrift B ist am einfachsten. Hier fehlt die Strophe 1 offen-
sichtlich und das wirft die Frage auf, ob sie denn zum ursprünglichen Text des Liedes
gehört. Aus verschiedenen Gründen (auch metrischen, s. u.) hält man die Strophe für
eine nachträgliche Zutat, die aber schon früh in die Handschriften mit aufgenommen
wurde. Auch wenn sie also nicht zum ursprünglichen Bestand des Liedes gehören wird,
wie er um 1200 in Passau entstand, ist die Strophe in fast allen Ausgaben des Liedes mit
aufgenommen.

Für A und C ist die Sache komplizierter. Transkribieren wir die Strophe aus den Hand-
schriften und vergleichen wir sie, ergibt sich folgendes Bild, wobei Abkürzungen der
Handschirft in spitzen Klammern aufgelöst werden. Für die Nachbildung von Super-
skripta, wie  gibt es einen besonderen, gratis erhältlichen True-Type Zeichsatz (Medi-
aevum) auf www.mediaevum.de.

A UNs ist in alten mæren wnders vil geseit 1


C UNS.IST.In alten mæren. wund<er>s vil geseit.

A von helden lobebærn von grozer chnheit. 2


C von heleden lobebæren vo<n> grozer arebeit.

A von frden hoch geziten von weine<n> vn<d> von klagen 3


C von frevde vn<d> hochgeciten von weinen vn<d> klagen.

A von chner rechen strite mvget ir nv wund<er> hre<n> sage<n> 4


C von kvner recken striten. mvget ir nv wnd<er> horen sagen.

Wir sehen, dass die Texte voneinander abweichen. Um daraus eine Edition zu machen,
hat die klassische Textkritik drei Verfahrensschritte entwickelt: Die recensio, das ist die
Sichtung der Überlieferung, also genau das, was wir eben getan haben. Die examinatio,
also die Beurteilung der Überlieferung: Was steht dem ‚Original‘ am nächsten?

Hier eine wichtige Nebenbemerkung zum ‚Original‘: Die Arbeit mit mittelalterlichen Texten hat gezeigt,
dass das Mittelalter offensichtlich kein großes Interesse an ‚Originalzuständen‘ hatte. Die Texte variieren
in den Handschriften und man hat das nicht als Störung angesehen, sondern als Normalzustand im Um-
gang mit Texten. Erst die Neuzeit rezipiert das literarische Werk als genuine (ja geniale) Schöpfung eines
namhaften Einzelnen. Die klassische Textkritik hat mit ihrer Suche nach dem Original also moderne Er-
wartungen auf mittelalterliche Texte angewandt. Dies wird – wie gesagt – modifiziert, indem man die
überlieferten Handschriften und weniger das zu rekonstruierende Original in den Blick nimmt. Diese For-
schungsrichtung nennt man ‚New Philology‘.

Auf Grundlage dieser Beurteilung wird dann im dritten Schritt, der emendatio, ver-
sucht, den ‚Originaltext‘ möglichst wiederherzustellen, zumindest aber aus der Überlie-
ferung das auszuwählen, was einem anzunehmenden Urzustand am nächsten kommen
könnte. Dabei entsteht der Text einer Edition, der so in keiner Handschrift überliefert
ist.

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In unserem Beispiel, also bei den ausgewählten zwei Handschriften mit der Strophe 1,
läuft das so ab:

Vers 1 ist unproblematisch. Hier variiert nur Groß- und Kleinschreibung, aber ortho-
graphisch normierte Regeln gab es im Mittelalter nicht und die Abweichungen beru-
hen auf dem Layout. Man sieht, dass die Handschriften mit (teils farbigen) Zierbuch-
staben beginnen. In den Editionen wird einfach alles klein geschrieben, außer Eigen-
namen. Teilweise gilt das auch für Vers- und Satzanfänge.

Ergebnis: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit

Vers 2 ist schon komplizierter. A helden steht neben C heleden und beides ist sprach-
lich korrekt. Zum Neuhochdeutschen fällt das e zwischen l und d ja aus, aber metrisch
besser ist die ‚alte‘ Form heleden, die deshalb auch in den Ausgaben steht. Bei A lo-
bebærn und C lobebæren ist das noch eindeutiger, das -e- in der Endsilbe ist im Reim-
schema der Nibelungenstrophe (s. u.) nötig und kommt deshalb in den Text unserer
Edition. Eine lexikalische Abweichung ist nun A chnheit (‚Kühnheit‘) gegen C arebeit
(‚Mühe‘). Beides geht metrisch hat aber andere Bedeutung. ‚Kühnheit‘ stellt das fol-
gende positiver dar, als das im Mittelhochdeutschen immer negative arebeit (‚Mühe‘.
Es bedeutet nie im modernen Sinne ‚Arbeit‘; dass Arbeit Spaß machen könnte, ist eine
komische Idee der Neuzeit). Hier greift also einer der Schreiber interpretierend ein.
Für unsere Entscheidung orientieren wir uns an der weiteren Überlieferung (die ich
hier ja nicht abgebildet habe). Dort steht immer arebeit und deshalb entscheiden wir
uns für diese Lesart.

Ergebnis: von heleden lobebæren von grozer arebeit

Vers 3 ist wieder vertrackt. Zunächst sind da einige orthographische Varianten: froi-
den/freude – geziten/geciten. Hier orientiert man sich an dem, was man als den Nor-
malfall der mittelhochdeutschen Schreibweise in der Forschung festgelegt hat (das
sog. klassische Mittelhochdeutsch oder „Normalmittelhochdeutsch”, das letztlich nur
eine Konvention der Forschung ist), auch wenn die Handschriften sich nicht daran
halten. Also: freude und geziten. Probleme machen also nur das vnd in C im ersten
Halbvers und das von in A im zweiten Halbvers, die jeweils keine Entsprechung in der
anderen Handschrift haben. Auch hier ist es wieder die Metrik (s. u.) und der Ver-
gleich mit den anderen Handschriften, die dazu führen, dass das vnd von C ausfällt,
das von in A aber erhalten bleibt.

Ergebnis: von freuden hochgeziten von weinen und von klagen

Vers 4 ist einfach. Orthographische Varianten werden zugunsten der Normalformen


ausgeglichen: rechen/recken > recken, hoeren/horen >hœren , chvoner/kuner>küener,
etc. Entscheiden muss man sich bei A strite und C striten. A verwendet ein Substantiv:
‚der Streit = der Kampf‘. C dagegen ein substantiviertes Verb: ‚das Streiten = kämpfen‘.
Beides geht metrisch, beides ist grammatikalisch sinnvoll und das Substantiv in A wä-
re sogar die häufiger vorkommende Form. Aber die anderen Handschriften haben alle
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striten, also das substantivierte Verb und der Nachteil des Substantives strite ist, dass
es im Singular steht und der Text von vielen Kämpfen erzählt.

Ergebnis: von küener recken striten muget ir nu wunder hœren sagen

In der endgültigen Ausgabe wird am Text dann noch weiter gearbeitet. Der Herausgeber
führt oft (da wird man aber immer zurückhaltender) eine Interpunktion ein, die zeigt,
wie der Text syntaktisch verstanden wird. Außerdem werden als Lesehilfe oft Längen-
zeichen beigegeben, da es im Mittelhochdeutschen ja gegenüber dem Neuhochdeutschen
mehr Kurzvokale gibt; man kennzeichnet deshalb nur die Langvokale, alle anderen sind
kurz zu sprechen. Manchmal finden sich auch weitere Notierungen (z. B. metrische Ak-
zente oder Auslassungszeichen, wenn ein Buchstabe im Metrum nicht gelesen werden
soll [meist durch Unterpunktung]).

Hier also das Endergebnis. So, oder ganz ähnlich, steht die Strophe in den gängigen Aus-
gaben:

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit


von heleden lobebæren, von grôzer arebeit,
von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nû wunder hœren sagen.

Und eine Übersetzung:

Uns wird in alten Geschichten viel Wundersames berichtet:


Von lobenswerten Helden, von großer Mühe,
von Freuden, von Festen, von Weinen und Klagen,
vom Kämpfen kühner Krieger könnt ihr nun Wundersames erzählen hören.

Klassische Stufen der Textkritik

1. recensio: Sichtung der Überlieferung.

2.examinatio: Wertung, ob das überlieferte als ‚original’ gelten darf.

3. emendatio: Auf diesen Grundlagen, Wiederherstellung des ‚Originals’

Einige wichtige Begriffe

Leithandschrift: Orientierung an der Handschrift, die man für die beste hält.
Konjektur: Plausible Verbesserung einer gestörten Überlieferung.
Crux (†): Kennzeichnung einer nicht zu heilenden Störung.
Historisch-kritische Edition: Herstellung eines Textes, der dem ‚Original’ nahe kom-
men soll.
Diplomatische Wiedergabe/Transkription: Textwiedergabe strikt nach der Hand-
schrift

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Form: Die Nibelungenstrophe

Formal ist das Nibelungenlied in Strophen überliefert, den sogenannten Nibelungen-


strophen, die aus vier Langzeilen mit Mittelzäsur bestehen und diesem metrischen
Schema folgen:

Anvers Abvers
4w 3ma
4w 3ma
4w 3mb
4w 4mb

Die erste Strophe ist nicht immer erhalten. Sie fehlt etwa, wie oben gezeigt, in der sehr
wichtigen Handschrift B aus St. Gallen. Sie ist wohl eine spätere Zutat, denn sie hat ne-
ben den Endreimen zusätzlich Binnenreime (mæren – lobebæren und hôchgezîten –
strîten), was im ‚Nibelungenlied’ nicht sehr oft vorkommt.

Zahlen = Anzahl der Hebungen, w=weibliche Kadenz, m=männliche Kadenz ( Fall 3 - Minnesang)

Interpretation der Strophe

Die Strophe beginnt mit der ersten Person Plural: Uns. Es wird also eine Gemeinschaft
von Vortragendem und Zuhörenden beschworen, die sich dadurch ausdrückt, dass man
etwas teilt, nämlich alte mæren, alte Geschichten, in denen viel Wundersames berichtet
wird. Diese gemeinsame Tradition wird dann näher spezifiziert: Helden, Mühen, Freude,
Feste, Kämpfe, darum geht es in diesen Geschichten. Das ist inhaltlich nicht näher spezi-
fiziert, außer dass schon in dieser kurzen Auflistung die Aura der drohenden Katastro-
phe über dem Text schwebt; und das Lied erzählt ja vom Untergang der Burgunden und
von Siegfrieds Tod (s. u.). Diese Aufzählung mündet syntaktisch sehr offen in den letzten
Halbvers der Strophe: Den Mittelteil der Strophe kann man nämlich als Fortsetzung des
ersten Verses lesen, aber auch als Einleitung zum letzten Halbvers der Strophe (solche
syntaktisch lockeren Fügungen sind im Mittelhochdeutschen nicht selten). Man kann das
als ‚Anakoluth’, also als Bruch in der Syntax oder als ‚Apokoinu’ bezeichnen, wobei bei
einer ‚Apokoinu’-Konstruktion ein Teil eines Satzes syntaktisch auf zwei andere Teile
bezogen wird (gr. apò koinoũ: „vom Gemeinsamen“). In diesem letzten Halbvers jeden-
falls ändert sich auch der Anredegestus. Von der ersten Person wechselt der Text in die
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zweite Person Plural: Ir. Dadurch spaltet sich die anfängliche Einheit des uns in ein zu-
hörendes Publikum und in die Rolle eines Vortragenden (das Publikum soll ja hœren,
nicht ‚lesen‘). Dieser Vortragende macht sich also zum Sprachrohr der alten mæren und
setzt gemeinschaftliche kollektive Erinnerung in den Akt eines Vortrags in der Gegen-
wart um. Aus dem angänglichen Perfekt ist geseit wird eine Furutumschreibung im Prä-
sens: muget ir nu.

Der Text und seine Quellen

Das passt auch gut zum Inhalt. Der Stoff der Nibelungensage ist uns einerseits in vielen
volkssprachigen Fassungen erhalten, die alten mæren wurden also nicht nur um 1200 in
Passau neu weitererzählt. Außerdem kennen wir die historischen Wurzeln der alten
mæren, denn das Lied geht auf gut greifbare historische Fakten zurück, über die eine
lange Zeit hindurch erzählt worden sein muss, bis der Stoff dann schließlich in verschie-
denen Fassungen schriftlich fixiert wurde.

Klausurrelevante Pflichtlektüre

Zur Vorbereitung auf die Klausur ist das ‚Nibelungenlied‘ Pflichtlektüre. Bitte lesen
Sie das Lied in einer zweisprachigen Ausgabe, die Sie dann auch im Studium benutzen
können. Folgende Ausgaben bieten sich dazu an:

Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B. Hg. v. Ursula Schulze. Ins Nhd. Übertragen
und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart: Reclam 2010 (= Reclams Universal-
Bibliothek 18914).

Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen.
Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar. Herausgegeben von Joachim
Heinzle. Berlin: Deutscher Klassiker Verlag 2013 (= Bibliothek deutscher Klassiker 196).

Die Geschichte, die im ‚Nibelundenlied‘ erzählt wird, korrespondiert – wie in der Hel-
dendichtung üblich – mit Ereignissen aus der Völkerwanderungszeit:

Mögliche historische Grundlagen des ‚Nibelungenliedes’

Siegfrieds Tod (Teil 1 des ‚Nibelungenliedes’): Hier gibt es keine Gewissheit. Es kursieren mehrere The-
sen: (1) 566/567 heiratet der austrasische Königssohn Sigibert Brunichild und wird 575 ermordet. (2)
Siegfried könnte ein ripuarischer Fürst am Burgundenhof gewesen sein. (3) Arminius-These: Arminius der
Cherusker könnte die Vorlage für Siegfried gewesen sein. Der Drache, den Siegfried besiegt, wäre dann
eine mythische Umformulierung seines Sieges gegen die Römer.

Untergang der Burgunden (Teil 2 des ‚Nibelungenliedes’): Der Burgundenkönig Gundahar(ius) etabliert
406-413 neue linksrheinische Gebiete für das burgundische Reich und expandiert 435/36weiter.
436/37 werden die Burgunden vom Römer Aetius geschlagen (mit hunnischen Hilfstruppen). Das Kö-
nigshaus wird wohl ausgelöscht, doch Reste des Volkes siedeln an der oberen Rhône und Saône (Lug-
dunum/Lyon wird Hauptstadt). 534 werden die Burgunden von den Franken besiegt und dem fränki-
schen Reich eingegliedert. Weiteres wichtiges Zeugnis: Unter König Gundobad († 516): Lex Burgundi-
onum / Lex Gundobada (‚Das Recht der Burgunden’), darin werden als Vorfahren genannt: Gibica

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(=Gibich); Gundahar (Gunther/Gunnar); Gislahar (Giselher); Gundomar (Guthorm). [In Klammern die
Namen, wie sie in verschiedenen Fassungen der Sage auftauchen]. Der Etzel des ‚Nibelungenliedes’ ist der
historische Hunnenherrscher Attila († 453).

Zusammenfassung

Vortrag als anonymes Weitererzählen: Das ‚Nibelungenlied‘ steht in einer alten Tradi-
tion der Heldensage, die lange von Mund zu Ohr getragen wurde, bis es im 12. Jahrhun-
dert in die Sphäre der schriftgestützten Literatur eindringt. ‚Schriftgestützt‘, denn wei-
terhin lebt der Stoff im Medium des Vortrags, wenngleich jetzt auf Grundlage von Hand-
schriften. Dabei stilisiert sich der Text zunächst als Gemeingut (Uns ist …), der einem
Publikum (ir) vorgetragen wird. Schon in der ersten Strophe wird der tragische Ausgang
des Liedes angedeutet, in der Folge werden diese Voraussagen noch deutlicher: Jeder
kennt den Ausgang des Stoffes, es geht also nicht um das ‚Was‘, sondern um das ‚Wie‘:
Das Ergebnis ist klar, spannend ist nur, wie der Weg dorthin erzählerisch ausgestaltet
wird.
Der Text steht also in einem Kontinuum des Erzählens: Die Geschichte wird ‚weiterer-
zählt‘, sie ist nicht Produkt eines Autors. Deshalb ist der Text auch anonym überliefert
und das liegt nicht daran, dass das Wissen über den Autor verloren gegangen ist.

Überlieferungsvarianz: In der Schriftform der breiten Überlieferung gibt es – wie in


einer handschriftlichen Tradition üblich – deutliche Abweichungen. Die erste Strophe
etwa scheint später dazugekommen sein und der Wortlaut differiert, wie wir sahen, in
Einzelheiten. Aber es gibt auch inhaltlich weitergehende Eingriffe. Wie substantiell diese
sein können, sieht man schon, wenn man die Strophenzahl der Haupthandschriften ver-
gleicht. In Hs. A: 2316 Strophen, Hs. B: 2376 Strophen und Hs. C: 2439 Strophen, wobei C
eine sehr eigenständige Fassunge ist. Sie endet mit dem Halbvers: daz ist der Nibelunge
liet (‚das ist das Lied von den Nibelungen) und man nennt diese C-Fassung des Liedes
deshalb die ‚Lied-Fassung’. Die A/B-Fassung dagegen, die mit dem Halbvers ditze ist der
Nybelvnge not (nach A: ‚das ist die Not der Nibelungen‘) endet, wird also die ‚Not-
Fassung’ bezeichnet.

Geschichte und Literatur: Der alte Stoff, der im Gewand der neuen höfischen Kultur
daherkommt, ist also einerseits eine Aktualisierung von alten mæren, die wohl als Teil
der eigenen Geschichte verstanden werden. Unter Geschichte ist dabei aber natürlich
kein faktisch-richtiges, durch Quellen gestütztes Wissen gemeint, sondern eine kulturel-
le Tradition, in der man selbst steht, in der die eigenen Wurzeln liegen. Die Geschichten
der Heldensage sind genau die Form, in der dieses Wissen um die eigene kulturelle Iden-
tität und Herkunft ausgebildet und weitergetragen wird. Das ‚Nibelungenlied‘ macht
diese Tradition nun zum Teil einer aktuellen literarischen Kultur, die in der Zeit um
1200 zu einer Blüte kommt.

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