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Mimesis – Repräsentation

– Imagination

Jörg Schönert
Ulrike Zeuch

Walter de Gruyter
Mimesis - Repräsentation - Imagination


Mimesis - Repräsentation - Imagination
Literaturtheoretische Positionen
von Aristoteles bis zum Ende des
18. Jahrhunderts

Herausgegeben von
Jörg Schönert und Ulrike Zeuch

Walter de Gruyter · Berlin · New York


E
P Gedruckt auf säurefreiem Papier,
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017758-7

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Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin
VORWORT

Am 11. und 12. März 2002 war in der Reihe der Arbeitsgespräche an der Her-
zog August Bibliothek Wolfenbüttel das Thema „Was ist Literatur? Histori-
sche und systematische Perspektiven“ aufgerufen worden. Ulrike Zeuch hatte
die Veranstaltung geplant, die wir dann gemeinsam realisiert haben. Der
‚Workshop‘ war darauf angelegt, die aktuellen Fragen zum Gegenstand der
Literaturwissenschaft zu den Ursprüngen der Diskussionen bei Platon und
Aristoteles zurückzulenken und den Folgen dieser literaturtheoretischen Vor-
gaben bis hin zur beginnenden Wirkungsmacht der Autonomie-Ästhetik um
1800 nachzugehen.
Ein solcher Problem-Komplex lässt sich nur in einem interdisziplinären
Gespräch von Vertretern der alt- und neusprachlichen Philologien, der Philo-
sophie und Theologie erschließen. Der hier vorgelegte Band ist aus den Dis-
kussionen in Wolfenbüttel hervorgegangen; er wurde durch zusätzliche Bei-
träge ergänzt. Ziel des Arbeitsgespräches war es, dichtungstheoretische Positi-
onen von der Antike bis 1800 zu untersuchen, um (1) verschüttete oder ver-
gessene historische Dimensionen freizulegen, denen die Literaturtheorie der
Gegenwart noch verpflichtet sein könnte, und (2) nach Kriterien zu suchen, um
die Kategorie ‚literarischer Text‘ genauer zu bestimmen. Gibt es einen für
Literatur spezifischen Gegenstand, eine für Literatur spezifische Funktion, ein
für Literatur spezifisches Verhältnis zur Wirklichkeit, eine für Literatur spezi-
fische Relation zur Subjektivität?
Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei der Zeitraum zwischen Früher
Neuzeit und 1800; mit Recht gilt als ‚communis opinio‘, dass die Literatur-
theorie seit der Frühen Neuzeit bis zur Romantik einem Nachahmungsbegriff
verpflichtet ist, der sich in der Vormoderne konstituiert. Mit den Schlagworten
‚Mimesis‘, ‚Repräsentation‘ und ‚Imagination‘ sollen die unterschiedlichen
Auszeichnungen von Literatur (im Sinne von ‚Dichtung‘) in ihrem Verhältnis
zur ‚Erfahrungswirklichkeit‘ markiert werden. Die Reihenfolge der Begriffe
verweist auf ihre Relevanz im geschichtlichen Prozess der literaturtheoreti-
schen Diskussionen von Aristoteles bis zur Ästhetik der Kunstperiode, der
Jahrzehnte zwischen 1790 und 1830. Als konkurrierende Akzentsetzungen
sind sie bis heute in den literatur- und kunsttheoretischen Debatten präsent.
Auf diese Konstellation bezieht sich der Beitrag von Maria Moog-Grünewald,
der aus dem Öffentlichen Vortrag im Lessing-Haus hervorgeht, den sie im
Rahmen des Arbeitsgespräches hielt.
6 Vorwort

Die Herausgeber bedanken sich bei den Autoren dieses Bandes für die gute
Zusammenarbeit bei der Drucklegung dieses Bandes. Regina Zimpel (Herzog
August Bibliothek Wolfenbüttel) sowie Nicole Purnhagen und Katharina Lüt-
jens (Universität Hamburg) haben die Beiträge nach den formalen Vorgaben
eingerichtet, durchgesehen, das Namenregister angelegt und die Druckvorlage
erstellt. Ihnen sind wir in besonderer Weise dankbar verpflichtet. Der Herzog
August Bibliothek danken wir für die Ausrichtung des Arbeitsgesprächs und
dem Verlag Walter de Gruyter für die Aufnahme des Bandes in sein wissen-
schaftliches Programm.

Hamburg und Wolfenbüttel, im März 2004


Jörg Schönert und Ulrike Zeuch
INHALT

JÖRG SCHÖNERT · ULRIKE ZEUCH: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

ULRIKE ZEUCH: Einleitung. Der literaturtheoretische Diskurs der


Gegenwart und die historischen Bestimmungen des Gegenstandes
der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

STEFAN BÜTTNER: Literatur und Mimesis bei Platon . . . . . . . . . . . . . 31

ARBOGAST SCHMITT: Was macht Dichtung zur Dichtung?


Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik
(1451a36-b11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

GÜNTER EIFLER:Das Nibelungenlied und der Sagenstoff –


Überlegungen zur Authentizität der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . 97

ROCHUS LEONHARDT: „McDonalds ist einfach gut.“ Der neuzeitliche


Niedergang des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses – und seine
aktuelle Unverzichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .117

RAINER STILLERS: „Mit einem Füllhorn voller Erfindungen


geht die Dichtung stets einher“. Anthropologische Poetik und
Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131

KATHARINA MÜNCHBERG: Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung


eines ästhetischen Grundbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151

BRIGITTE KAPPL: ‚Exemplar vitae‘ – Der Gegenstand von Dichtung


bei Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento . . . . . . . . . .167

ULRIKE ZEUCH: Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit.


Francesco Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica
explicationes und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .181

FRIEDRICH A. UEHLEIN: Chartæ Socraticæ. Lord Shaftesburys


Plädoyer für eine dialogische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215
8 Inhalt

GOTTFRIED GABRIEL: Der Begriff der Fiktion – Zur systematischen


Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung . . . . . . . . . . . . .231

LUTZ DANNEBERG: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien.


Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer
Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des
19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .241

MARIA MOOG-GRÜNEWALD: Was ist Dichtung? . . . . . . . . . . . . . . . .283

BIOGRAPHISCHE NOTIZEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .303

PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .307
ULRIKE ZEUCH

Zur Einleitung: Der literaturtheoretische Diskurs der


Gegenwart und die historischen Bestimmungen des
Gegenstandes der Literatur1

„Die Möglichkeit zu bestimmen, was überhaupt Literatur (im Unterschied zu


Nicht-Literatur) ist, bildet – kaum notwendig, dies zu betonen – die Vorausset-
zung dafür, dass sich eine Literatur-Wissenschaft von den vielfältigen ‚Nicht-
literatur-Wissenschaften‘ abhebt“, wie Monika Schmitz-Emans feststellt.2
Diese Möglichkeit aber wird spätestens seit 1970 von der Literaturwissen-
schaft selbst vehement bestritten. Insofern scheint es – anders als die in Paren-
these gesetzte Feststellung von Schmitz-Emans nahe legt – doch notwendig,
diese Selbstverständlichkeit zu betonen und auf der Bestimmung dessen, was
Literatur überhaupt ist, zu bestehen. Evident ist jedenfalls, dass „dem Problem,
was denn nun Literatur sei, in Permanenz auszuweichen [...], keine überzeu-
gende Position“ ist, so Joachim Küpper in seiner Antrittsvorlesung zur Frage
„Was ist Literatur?“3

Kriterienlosigkeit als Problem

In den gegenwärtigen Diskussionen wird die Möglichkeit bestritten, Kriterien


für eine Unterscheidung des literarischen Textes von Texten anderer Art zu
nennen. Dem Mangel an Kriterien für eine Konturierung des Gegenstandes der
Literaturwissenschaft will Wilfried Barner mit seinem Aufruf im Jahrbuch der
Deutschen Schillergesellschaft von 1998 abhelfen.4 Die im Jahrbuch erschie-

1 Für die kritische Lektüre und wertvolle Hinweise danke ich Stefan Büttner, Jörg Schönert
und Friedrich Uehlein.
2 Monika Schmitz-Emans: Lektüren und Kulturen. Aspekte des Dialogs zwischen Litera-
turwissenschaft und Kulturwissenschaft, in: Beate Burscher-Bechter u. Martin Sexl (Hg.):
Theory Studies? Konturen komparatistischer Theoriebildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts,
Innsbruck u.a. 2001 (Comparanda, Bd. 4), S. 245-269, hier S. 246.
3 Joachim Küpper: Was ist Literatur?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunst-
wissenschaft 45 (2001), S. 187-215, hier S. 187.
4 Wilfried Barner: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?, in: Jahrbuch
der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 457-462.
10 Ulrike Zeuch

nenen Antworten auf Barners Frage nach dem Gegenstand der Litera-
turwissenschaft bestätigen aber lediglich die allgemein beklagte Kriterienlo-
sigkeit oder „Unsicherheit der Literaturwissenschaft gegenüber ihrem eigenen
Gegenstand“,5 da die herzugezogenen Bestimmungen für Literatur nicht spezi-
fisch sind: „Sprachlichkeit“ oder sprachliche Textur6 gilt für alle Texte, Kunst-
charakter7 oder die „paradoxe Struktur von (ästhetischer) Autonomie einerseits
und Vieldeutigkeit andererseits“ auch für Werke anderer Künste.8 Während
Barner durch seinen Aufruf signalisiert, dass er es für sinnvoll und deshalb für
des Versuchs wert hält, nach Kriterien zu forschen, belassen es andere, wie
Terry Eagleton und Jonathan Culler, von vornherein bei der relativistischen
Position, Literatur sei das, was jemand als Literatur setze und was konsensfä-
hig sei;9 diese Position kann aber ebenso wenig befriedigen, wenn es darum
gehen soll, sicheres Wissen und nicht nur mehrheitsfähige Meinungen zu fin-
den, die qua Meinungen im Unterschied zu wissenschaftlich begründetem
Urteil kontingent sind.
Der Anlass zur Klage über die Verflüchtigung des Gegenstandes ‚Litera-
tur‘ bleibt bestehen. Diese Klage führte Benno von Wiese bereits 1970: Er
fragt, ob das Ende der Literaturwissenschaft gekommen sei. Seine Antwort
lautet ‚nein‘,10 und für ihn steht fest: „Der Gegenstand der neueren Germa-
nistik kann nur Sprache und Literatur sein und zwar beide in ihrer wechselsei-
tigen Beziehung gesehen“11 – eine nicht nur angesichts des gegenwärtigen
Diskussionsstands zum Kanon-Begriff zu einfache Antwort;12 denn von Wiese
setzt einen bestimmten Kanon, einen bestimmten Begriff von Literatur und die

5 So Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur


Medienwissenschaft, Darmstadt 2003, S. 8.
6 Eckehard Czucka: Gegenstand der Literaturwissenschaft? Drei Rückfragen, in: Jahrbuch der
deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 460-465, hier S. 465.
7 Hartmut Böhme: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik, in: Jahrbuch der deutschen Schil-
lergesellschaft 42 (1998), S. 476-485, hier S. 479; Böhme spricht zwar davon, dass Literatur
„besondere Eigenschaften und Leistungen“ aufweise, dass es etwas für die Literatur Spezifi-
sches gebe (ebd.), ohne eben dies aber näher zu spezifizieren.
8 Wilhelm Vosskamp: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft, in: Jahrbuch der deutschen
Schillergesellschaft 42 (1998), S. 503-507, hier S. 504.
9 Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, aus dem Englischen von Elfi Bettinger
u.a., Stuttgart 1988 (Sammlung Metzler, Bd. 246), S. 191; Jonathan Culler: Literary Theory.
A Very Short Introduction, Oxford u. New York 1997, S. 22.
10 Benno von Wiese: Der Gegenstandsschwund in der deutschen Literaturwissenschaft, in:
ders.: Perspektiven I. Studien zur deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, Berlin 1978,
S. 68-78.
11 Benno von Wiese: Ist die Literaturwissenschaft am Ende?, in: ders.: Perspektiven I (Anm.
10), S. 61-67, hier S. 67.
12 Vgl. Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie, Heidelberg 1997 (Neues Forum für
allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 3); Gerhard R. Kaiser u. Stefan Ma-
tuschek (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und
Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie, Heidelberg 2001.
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 11

Nationalsprachlichkeit als „vorgegeben“ (ebd.) voraus. Ein unbefragt voraus-


gesetzter Kanon verdeckt aber nur die Frage nach dem Gegenstand der Litera-
turwissenschaft, er ist keine Antwort auf sie.

Gründe für die Kriterienlosigkeit

Als Gründe für den Gegenstandsschwund, für die als bewusster Gewaltakt ver-
standene „Zertrümmerung der Literatur“ nennt Benno von Wiese die Absage
an die autonome Individualität des Autors und die Engführung der Literatur
auf die gesellschaftlich-aufklärerische Funktion (S. 83f.).13 Dass er in beiden
Fällen etwas Richtiges erkannt hat, zeigt die in den 1970ern verstärkt einset-
zende Diskussion zu Fragen wie dem Verschwinden bzw. dem Tod des Autors,
der Intentionslosigkeit von Literatur, der Rekonstruktion des (eigentlichen)
Sinns des literarischen Textes aus den dafür konstitutiven Kontexten sowie der
Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Funktion der Literatur – nicht nur die
gesellschaftlich-aufklärerische Funktion im engeren Sinne.14 Ferner spielt auch
die Frage nach den Rezeptionsbedingungen von Literatur eine wichtige Rolle.
Signifikant für die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf gegenstands-
irrelevante Fragen ist der Beitrag von Dietrich Harth und Gerhard vom Hofe in
Erkenntnis der Literatur von 1982; in dem Kapitel „Kategorien der Gegen-
standsbestimmung“ kommt der Gegenstand der Literatur als Gegenstand der
Erkenntnis nicht vor.15 Die beiden Autoren führen als Kategorien der Gegen-
standsbestimmung ‚Werk‘, ‚Text‘, ‚Form‘ und ‚Struktur‘ an; relevant für vor-
liegende Fragestellung sind die Kategorien ‚Werk‘ und ‚Text‘. Sowohl die
Kategorie des Werks wie die des Textes wird von der Moderne her (die in
diesem Fall um 1800 angesetzt wird) in den Blick genommen – also von einem
Standpunkt aus, von dem aus der Gegenstand des literarischen Textes wie des

13 Benno von Wiese: Der Schriftsteller und die Politik, in: ders.: Perspektiven I (Anm. 10), S.
79-108, hier S. 83.
14 Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), etwa sieht gerade darin die Stärke der Literatur-
theorie, ja sogar eine „neue Form der Erkenntnis“, nämlich „die Funktion der Literatur im
Diskurs ihrer Zeit zu bestimmen“ (S. 9; vgl. auch S. 144); er also teilt die Klage nicht, son-
dern begrüßt vielmehr den „Abschied von lange geglaubten Selbstverständlichkeiten über das
Wesen der Literatur, ohne dass gleich eine substantielle neue Auffassung über die Literatur
an ihre Stelle treten müsste“ (S. 9). – In diesem Sinne argumentiert bereits Friederike Has-
sauer (Textverluste. Eine Streitschrift, München 1992), nämlich den Verlust eines Sondersta-
tus’ der Literatur gegenüber anderen Texten (S. 45) als Gewinn zu werten, da dadurch erst
der Blick für die „Multiplizität interessenabhängiger Modi des Umgangs mit Texten“ (S. 49)
und für „multiple Instanzen der Sinnkonstitution“ (S. 61) frei werde.
15 Dietrich Harth u. Gerhard vom Hofe: Unmaßgebliche Vorstellung einiger literaturtheo-
retischer Grundbegriffe, in: Dietrich Harth u.a. (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien,
Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1982, S. 8-32, hier S. 18ff.
12 Ulrike Zeuch

literarischen Werks in der Literaturtheorie bei der Frage, was einen literari-
schen Text ausmacht, keine entscheidende Rolle mehr spielt. Selbst Hegel, der
in seiner Ästhetik die volle Lebendigkeit menschlicher Charaktere,16 das Sub-
stantielle der Inhalte und Zwecke (Teil 1, S. 98ff. und 262ff.) immer wieder
thematisiert und zum Kriterium der Bewertung macht, spricht der romanti-
schen Literatur eben diese Inhalte ab,17 wenn auch aus von ihm unterstellter
geistesgeschichtlicher Entwicklungsnotwendigkeit. Goethes Faust, wegen der
„Weite des Inhalts“ (Teil 3, S. 343) gelobt, gilt Hegel als Ausnahme innerhalb
der Literatur seiner Zeit.
Dass die moderne Literatur keine sachliche Bestimmtheit aufweise, wird
von Harth und vom Hofe als unhintergehbares Faktum genommen; somit
kommt das als historisch überwunden Geltende (weil dieser modernen Auffas-
sung vorausliegend) im Lichte der bereits eingenommenen Perspektive nur als
etwas Defizitäres in den Blick. Folglich wird auch das von diesem Vorbegriff
Abweichende, die eigentliche Alterität im Sinne einer ernst zu nehmenden
Alternative von eigener Berechtigung, nicht angesprochen.
Die beiden Autoren nehmen sich zwar die „Rekonstruktion der Geschichte
des Labyrinths [sc. der Literaturtheorien]“ (S. 30) vor, doch statt die eigene
Perspektive kritisch zu überprüfen, werden zur communis opinio gewordene
Vorurteile im Sinne eines defizitären ‚noch nicht‘ neuerlich bestätigt, etwa
dass der Gedanke „einer Autonomie dichterischer Fiktion“ erst in der Neuzeit
aufkomme, während davor, in Antike und Mittelalter, Literatur an „der Fakti-
zität und einer als unveränderlich gedachten Natur“ orientiert gewesen sei und
ein mit der „empirischen Lebenswirklichkeit vermittelbare[s]“ Abbild der
Wirklichkeit geboten habe (S. 28); erst da die „Grenzen von Wirklichkeit und
geistig reproduzierter Realität“ gesprengt seien, werde der „Werkcharakter der
Kunst verabschiedet“ (S. 19), erst „seit dem Niedergang der normativen Poeti-
ken“ (S. 20) sei die Erkenntnis gereift, dass „der bestimmte Text erst im Voll-
zug der Lektüre als einheitlicher und begrenzter Gegenstand entsteht“ (S. 21).
Erst die „an der Erfahrung der Moderne geschulte Ästhetik“ habe den Blick für
die Abhängigkeit der in der Vormoderne „als Einheit verstandene[n] ästheti-
sche[n] Form [...] von der reflektierenden Urteilskraft des Anschauenden“
geöffnet. Die dieser Blickwende literarisch Rechnung tragende offene Form
wird dabei unversehens im Unterschied zur „sinn- und einheitstiftenden Form“
als „Signatur der avancierten Literaturproduktion“ gewertet (S. 23). Erst der
Poststrukturalismus habe die naive Annahme überwunden, dass Sprache dazu
diene, Wirklichkeit „in der den Signifikaten anhaftenden Bedeutung zu spie-

16 Georg Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. 3 Teile, mit einer Einführung hg. von
Rüdiger Bubner, Stuttgart 1971, Teil 1, S. 335ff.
17 Zu Hegels Konzept der Kunst der Moderne vgl. Götz Braun: Norm und Geschichtlichkeit der
Dichtung. Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Literatur, Berlin u. New York 1983,
S. 198ff.
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 13

geln“ (S. 25).18 Dekonstruktion von Bedeutung, von Text- und Sprachstruktur
werten die beiden Autoren folglich als „Spielarten des avancierten literarischen
Sprachgebrauchs“ (S. 31). Dabei ist bereits im Futurismus der ‚parole in li-
bertà‘ und in den Lautgedichten am Anfang des 20. Jahrhunderts eben dieser
Gedanke bis ins Extrem getrieben worden. Die Beispiele ließen sich beliebig
fortsetzen.

Methodendiskussion statt Gegenstandsdiskussion

An die Stelle des literarischen Textes tritt in den 1970ern die sozialgeschicht-
liche Kontextualisierung, die Berücksichtigung von Handlungszusammenhän-
gen zwischen Literatur und Gesellschaft. Aber auch das sozialgeschichtliche
Konzept – in den 70er Jahren als „Aufbruch aus der als betulich empfundenen
‚Interpretationskunst‘“ gewertet – gilt bereits Mitte der 1980er als erschöpft.19
Im Rückblick auf diese Hochzeit der Sozialgeschichte wird zum einen als
Problem die (den sozialgeschichtlichen Ansatz allerdings sehr vereinfachende)
Annahme genannt, Literatur spiegele bruchlos als konstant angenommene
gesellschaftliche Verhältnisse wider,20 zum anderen wird bemängelt, dass
„nicht alle Wissensformationen [...] von der Sozialgeschichte der Literatur in
gleicher Weise beachtet“ würden; so sei das disziplinenspezifische Fachwissen
bislang „nicht systematisch im Hinblick auf seine Bedeutung für die literari-
sche Sinnverständigung untersucht worden“.21 Als Defizit des sozialgeschicht-
lichen Ansatzes wird mithin die zu eng definierte Grenze für die Einbettung

18 Zu demselben Urteil kommt auch Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5): Erst durch die
Absage des Poststrukturalismus an ein immer noch an Sinn und Substanz orientiertes Denken
der traditionellen Hermeneutik (d.h. Schleiermacher bis Gadamer) sei die Literaturtheorie im-
stande, die „letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen zu reflek-
tieren“ (S. 8); die Unaufhebbarkeit der Differenz sei eine Tatsache, der man angemessen nur
mit „Trauer um den Verlust des Wesens des Literarischen“ und zugleich der ironischen Dis-
tanzierung von „wissenschaftlichen Definitionsversuche[n] der Literatur“ (S. 9) begegnen
könne.
19 Martin Huber u. Gerhard Lauer: Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft –
zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft, in: dies. (Hg.): Nach der Sozialge-
schichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kul-
turgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 1-12, hier S. 2.
20 Klaus-Dieter Ertler: Die Sozialgeschichte der Literatur in systemtheoretischem Gewande:
eine paradoxe Konfiguration?, in: Huber u. Lauer: Nach der Sozialgeschichte (Anm. 19), S.
191-202, hier S. 195.
21 Friedrich Vollhardt: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft? Die literarisch-
essayistischen Schriften des Mathematikers Felix Hausdorff (1868-1942): Vorläufige Bemer-
kungen in systematischer Absicht, in: Huber u. Lauer: Nach der Sozialgeschichte (Anm. 19),
S. 551-573, hier S. 551.
14 Ulrike Zeuch

des literarischen Textes in einen als relevant angesehenen Kontext oder Sinn-
zusammenhang gesehen. Schon Gerhard Sauder sieht zu Beginn der 1980er
Jahre in seinen Überlegungen „Zur gegenwärtigen Lage der Germanistik“ für
die Germanistik nur eine Chance,22 wenn sie die Kontexte der Sozialgeschichte
(„Gesellschaftsgeschichte, soziale Strukturen, Abläufe und Bewegungen“)
erweitert, indem sie „Fragestellungen der Mentalitätsforschung“ wie etwa die
Veränderung der Auffassungen von Liebe, Tod, Sexualität, Armut etc. inte-
griert; kurz: wenn sich die Germanistik in eine „Kulturwissenschaft“ transfor-
miert (S. 338).23
Doch die Transformation der Literaturwissenschaft in eine Kulturwissen-
schaft löst nicht das Problem, um das es geht. Dass der Gegenstand der Litera-
turwissenschaft die Literatur sei, so weit bleibt man sich einig. Nicht einig aber
ist man sich in der Frage, was Literatur ist. Selbst nichttextliche Gegenstände
wie Körper, Leiblichkeit und Gedächtnis werden literaturwissenschaftlich
untersucht. Unhinterfragt bleibt bei alledem eine Prämisse, welche die Pro-
blemlösung erschwert: dass nämlich Offenheit (man könnte auch sagen: Vag-
heit) der Gegenstandsbeschreibung das probate Mittel sei, um den Fortgang
„des Forschungsprozesses nicht zu blockieren“.24 Die Aufmerksamkeit ist
darauf gerichtet, die Konstellation von Texten in Kontexten (neu) abzustecken,
weiter zu fassen oder einzugrenzen. Wenn man aber nicht weiß bzw. nicht er-
kennen kann, was Literatur ist, lässt sich schwerlich entscheiden, was Kontext
und was (literarischer) Text ist.
Der eigentliche Anlass zur Klage bleibt auch ‚nach der Sozialgeschichte‘,
nach der Erweiterung des Kontextes zugunsten eines noch weniger definierten,
offeneren, nämlich des der Kultur, bestehen. So liegt es nahe, wie Terry Eagle-
ton, im ständigen Wechsel der Methoden die Ursache für den Verlust des Ge-
genstandes zu sehen – auch dies keine neue Diagnose;25 schon von Wiese
stellte sie.26 Dabei ist eher das Gegenteil der Fall: Erst der Mangel an Kriterien
für eine Unterscheidung, was überhaupt Kontext sein kann, und damit der
Mangel an Kriterien für eine Unterscheidung der Literatur von Nicht-Literatur,

22 Gerhard Sauder: Fachgeschichte und Standortbestimmung, in: Harth u.a.: Erkenntnis der
Literatur (Anm. 15), S. 321-343, hier S. 334ff.
23 Diese Transformation für folgerichtig halten Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz (Hg.):
Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven, Bielefeld 1999; Claudia Benthien u.
Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue
Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002; auch Klaus-Dieter Ertler: Die Sozialgeschichte
der Literatur (Anm. 20), sieht die „‚übermoderne‘ Ausformung in anthropologische, kultur-
historische, familien- und geschlechterhistorische Ramifikationen nicht als Verdrängung,
sondern als fruchtbare Erweiterung des vielsagenden Schlüsselbegriffes ‘Sozialgeschichte‘“
(S. 194).
24 Huber u. Lauer: Sozialgeschichte (Anm. 19), S. 11.
25 Eagleton: Literaturtheorie (Anm. 9), S. 190f.
26 Von Wiese: Gegenstandsschwund (Anm. 10), S. 71.
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 15

erst der „Panfiktionalismus“,27 erst die „Instabilität von Textbedeutungen“,28


erst die Reduktion des Textes auf eine semantische Leerstelle, deren Sinn sich
durch subjektlose, in jedem Fall der bewussten Kontrolle entzogene Instanzen
der Produktion (Tod des Autors)29 wie der Rezeption zuallererst erzeugt, legt
die Notwendigkeit neuer Methoden der Erschließung nahe.30
Gewiss ist die These der immer weiteren Kontextbehandlung der Litera-
turtheorie aufgrund eines theoretisch festgestellten Mangels an Gegenständen
in der Literatur pointiert formuliert. Ein direkter wirkungsgeschichtlicher Ne-
xus lässt sich wohl nicht nachweisen. Vielmehr sind die dafür bestimmenden
Faktoren und deren Wechselwirkung komplex. So wird die Untersuchung der
Kontexte in der Literaturwissenschaft nach 1945 nicht zuletzt von strukturalis-
tischen Theorien (Psychoanalyse, Ethnologie) überhaupt forciert,31 und ange-
sichts der historischen Situation nach 1945, dem Ende des ‚Dritten Reiches‘
und des Zweiten Weltkriegs, in der Situation des Kalten Krieges, liegt die
Frage nach dem Einfluss gesellschaftlicher Systeme auf den Menschen und
damit auch auf die Autoren nahe. Gemeinsam ist den Theorien jedoch die
Tendenz, auf die Modi, Umstände und Kontexte zu achten statt auf die Gegen-
stände selbst. Dadurch gerät der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen
Erkenntnis aus dem Blick. Vertreter des New Historicism wie Hayden White
beziehen ernsthaft die Position, Text wie Kontext seien Ideologie, seien nichts
anderes als Vorstellungen dessen, der sie erzeugt,32 und jeder Text als Zeugnis

27 Gottfried Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanon-Debatte und zur
Lage der Literaturwissenschaft, in: Kaiser u.a.: Begründungen und Funktionen des Kanons
(Anm. 12), S. 217-267, hier S. 236. Willems spricht von „Tabuisierung des Bewusstseins und
der Hermeneutik“ (S. 259); präziser müsste es heißen: ‚Tabuisierung rationalen Beurtei-
lungsvermögens‘; zur Urteilsenthaltung in der Literaturtheorie seit 1966 vgl. Ulrike Zeuch:
[...] die abstrakten Worte [...] zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Zum Verlust des
Gegenstandes in der Literaturtheorie seit 1966, in: Euphorion 95, H. 1 (2001), S. 101-121.
28 Paul de Man: Der Widerstand gegen die Theorie, in: Dorothee Kimmich u.a. (Hg.): Texte zur
Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 314-326, hier S. 325.
29 Zum Autorbegriff vgl. Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen,
Stuttgart u.a. 2002 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, Bd. 24); zur kritischen Aus-
einandersetzung mit der u.a. von Michel Foucault formulierten These vom Tod des Autors
vgl. Fotis Jannidis (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs,
Tübingen 1999.
30 Einen repräsentativen Überblick über die gegenwärtig diskutierten Methoden gibt neben der
von Dorothee Kimmich u.a. herausgegebenen Textsammlung (Anm. 28) Julie Rivkin u.a.
(Hg.): Literary Theory. An Anthology, Oxford 1998.
31 Vgl. Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), S. 75ff.
32 Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des
historischen Diskurses, mit einer Einführung von Reinhart Koselleck, aus dem Ameri-
kanischen von Brigitte Brinkmann-Siepmann u. Thomas Siepmann, Stuttgart 1986 (Sprache
und Geschichte, Bd. 10), S. 91; ders.: The Content of the Form. Narrative Discourse and His-
torical Representation, Baltimore u. London ²1992, S. 187.
16 Ulrike Zeuch

der Mentalität einer Zeit sei gleich bedeutsam (das heißt in der Konsequenz:
ein Zeitungstext sei nicht weniger bedeutsam als ein literarischer Text). Aus
diesem Grund bedürfe es des ständigen Wechsels der Methoden. Zu Recht
verleiht Willems seinem Befremden darüber Ausdruck, „wie in einem Milieu,
in dem man ständig die Pluralität, die Vielstimmigkeit, die Differenz, das An-
dere, die Alterität hochleben lässt, an nichts so verbissen gearbeitet wird wie
an der Einebnung aller Differenz“.33 Zwar erwägt Eagleton, ob es vielleicht der
„Gegenstand und nicht die Methode [sei], die den Diskurs von anderen abhebt
und eingrenzt“; aber auch er meint, dass man einen solchen nicht mehr habe.34
Die neuen Methoden der Erschließung selbst sind nicht darauf angelegt,
dem Gegenstand der Literaturwissenschaft Kontur zu verleihen. In für die
Nachkriegszeit bestimmenden hermeneutischen Ansätzen, etwa in der Rezep-
tionsästhetik von Hans-Robert Jauß, im Textbegriff des Poststrukturalismus
oder im New Historicism gerät der literarische Text aus dem Blick. Verant-
wortlich dafür sind die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die (vorrationa-
len) Verstehensbedingungen seitens des Subjekts und der radikale Zweifel an
der Möglichkeit, die sachliche Bestimmtheit eines Textes zu erkennen; be-
gründet wird der Zweifel mit einem seit der Spätaufklärung immer wieder
formulierten Mangel des Bewusstseins als der Instanz menschlicher Rationa-
lität. Das Bewusstsein sei außerstande, über den zu beurteilenden Gegenstand,
über seine tatsächliche Beschaffenheit und seine Individualität eine Aussage zu
machen. Ist die Kritik am Bewusstsein als zentraler Instanz der Erkenntnis
auch kein spezielles Problem der Literaturwissenschaft, so sind bestimmte
Folgen dieses Problems durchaus als disziplinspezifisch anzusehen, etwa wenn
ein literarischer Text unter Ausblendung des rationalen Urteiles erfasst werden
soll.35 Die Problematik einer solchen hermeneutischen Prämisse für die Litera-

33 Willems: Kanon-Debatte (Anm. 27), S. 237.


34 Eagleton: Literaturtheorie (Anm. 9), S. 191.
35 Die Konsequenzen, die etwa Wilhelm Dilthey aus der Kritik an der Rationalität bzw. am
Bewusstsein zieht, führen dazu, das Verstehen von Literatur als Teil der Zeugnisse des
menschlichen Geistes einem anderen, einem vorbegrifflichen Vermögen zuzumuten. Hieraus
leitet sich, um das Ziel der Geisteswissenschaft, nämlich die Selbstbesinnung des Menschen,
zu erreichen, folgende Methode ab: das Erleben der anderen Person und ihrer Lebensäuße-
rungen sowie die Vermittlung dieses Erlebnisses mit dem Verstehen seiner selbst, d.h. dem
nacherlebenden Nachvollzug von Selbsterlebtem; vgl. Wilhelm Dilthey: Entwürfe zur Kritik
der historischen Vernunft, in: ders: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 2., unveränd. Aufl. Leipzig
1958, S. 191-220. Arbogast Schmitt: Antike Bildung und moderne Wissenschaft. Von den
,artes liberales‘ zu den Geistes- und Naturwissenschaften der Gegenwart. Historisch-kritische
Anmerkungen zu einer problematischen Entwicklung, in: Gymnasium 108 (2001), S. 311-
344, zeigt, dass Diltheys Erlebnis bereits im 17. Jahrhundert durch den bon sense und com-
mon sense, im 18. Jahrhundert durch den Geschmacksbegriff und die Urteilskraft sachlich
vorbereitet ist (S. 323). Man könnte auch Herders Einfühlung oder Friedrich Schlegels Un-
verständlichkeit als Bedingung der Möglichkeit von Verstehen nennen. Willems: Kanon-
Debatte (Anm. 27) bestätigt im Zusammenhang mit der Frage nach Prinzipien des Verste-
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 17

turwissenschaft als Wissenschaft versteht sich von selbst. Die genannten her-
meneutischen Ansätze nicht zwar nicht die einzigen: Textbezogene Methoden
wie die des russischen Formalismus, des New Criticism, der werkimmanenten
Interpretation und des Strukturalismus, die nach 1945 durchaus und sogar
bedeutendes Gewicht haben, sind ihrem Anspruch nach auf die Untersuchung
von Form, Stil, Bildlichkeit oder sprachlicher Struktur und deren Funktion
gerichtet; sie setzen dabei implizit voraus, dass es sich bei den untersuchten
Texten um literarische handelt.36 Form, Stil, Bildlichkeit oder Funktion von
Sprachstrukturen sind jedoch keine hinreichenden Kriterien, um das Spezifi-
sche von Literatur im Unterschied zu anderen Künsten und anderen Texten zu
benennen. Wäre der Kunstcharakter (Poetizität bzw. Literarizität)37
– also die formale Gestaltung oder die Wahl bestimmter Worte – das entschei-
dende Kriterium und bestünde die Funktion der Literatur ausschließlich in
ihrer Differenzqualität gegenüber standardisierten Schreibweisen, dann würde
jeder inhaltlich beliebige Text zur Literatur zählen, der diese formalen Bedin-
gungen erfüllt. Die inhaltliche Bedeutung eines Textes aber erschließt sich mit
Hilfe der genannten Methoden nicht – sie soll auch nicht erschlossen werden.
So betont Roland Barthes als Vertreter des Strukturalismus, dass nicht der
„Inhalt der Bedeutungen“, sondern die Art der Erzeugung von Bedeutung
„Objekt des Strukturalismus“ sei.38
Während die textbezogenen Methoden der Literaturwissenschaft den lite-
rarischen Text als Gegenstand der Untersuchung immer noch voraussetzen,
werden bei dem sozialhistorischen bzw. kulturwissenschaftlichen Ansatz, in
der Gender- oder Alteritätsforschung, in der Verfahrensweise der Dekonstruk-
tion und ähnliche Texte jeweils anderen Aspekten subsumiert, die den Gegen-
stand der Untersuchung bilden – das sind dann nicht-literarische Texte,39 im
kulturwissenschaftlichen Ansatz sogar nicht-textliche Gegenstände. In der
gesamten Diskussion kommt der Gegenstand der Literatur als Kriterium dafür,
was Literatur ist, nicht vor – es sei denn im deskriptiven Nachvollzug dessen,

hens eines literarischen Textes die auch schon von anderen formulierte Einsicht, es sei „eine
schwere methodische Hypothek der Hermeneutik von Dilthey bis Gadamer, dass sie die
Problematik des Verstehens an ästhetischen Gegenständen entwickeln“ (S. 252).
36 Vgl. hierzu Raman Selden u. Peter Widdowson: A Readers’ Guide to Contemporary Literary
Theory, 1. Aufl. Lexington (Kentucky) 1993.
37 Vgl. zur Problematik des Begriffs ‚Literarizität‘ Adrian Marino: Teoria della letteratura,
Bologna 1994, S. 241ff.
38 Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, in: Kimmich u.a.: Literaturtheorie (Anm.
28), S. 215-223, hier S. 221.
39 Vgl. Jonathan Cullers Sammlung von Texten, die neben literaturtheoretischen Problemen
auch solche anderer Disziplinen wie der Philosophie, Psychoanalyse, Architektur, Politik
oder Ethik ,dekonstruieren‘: Deconstruction. Critical concepts in literary and cultural stud-
ies, 4 Bde., London u.a. 2003.
18 Ulrike Zeuch

was einmal Stoff bzw. Inhalt von Literatur gewesen ist bzw. noch ist. Wissen-
schaftlich erfasst werden die (unendlichen) Gegenstände der Literatur. Zu-
sammengefasst werden sie – als Variationen ein und desselben „Hauptin-
halts[s] der Dichtung“ – unter das „Menschliche“.40 Das Menschliche fungiert
dabei als kleinster gemeinsamer Nenner aller empirisch eruierbaren Gegen-
stände der Literatur. Oder es werden unter einem bestimmten Aspekt ausge-
wählte Gegenstände – zum Beispiel ‚ewige‘, da unlösbare bzw. immer wieder-
kehrende Probleme der Menschheit – aufgelistet, wie beispielsweise von Ru-
dolf Unger in seiner Literaturgeschichte als Problemgeschichte von 1924.41
Aber auch nach 1945 besteht die Suche nach „wahre[n] Invarianten der Welt-
literatur“,42 nach bleibenden literarischen Themen fort.
Als ‚Funktion‘ der Literatur kehrt die Gegenstandsbestimmung wieder: Li-
teratur soll den Leser in Aporien führen und diese bewusst machen, so Walter
Haug.43 Karl Eibl hält diese Funktionsbestimmung für zu eng, da sie nur für
„einen bestimmten Typus von Literatur“ zutreffe, einen Typus, der „insbe-
sondere seit dem 18. Jahrhundert besondere Bedeutung gewonnen“ habe.44
Statt Literatur auf die Funktion, in Aporien zu führen, zu beschränken, will
Eibl Literatur generell auf Probleme bezogen wissen. Literatur biete dem Re-
zipienten „bestehende Problemlösungen“ an und / oder biete den Raum, über
eine „neue, unbewältigte Problemsituation“ (S. 188) nachzudenken. Um nach-
denken zu können, bedarf es eines Gegenstandes der Reflexion. Folglich bleibt
Eibl nicht bei der Erweiterung der Funktionsbestimmung, sondern nennt auch
einen solchen Gegenstand. Dieser Gegenstand ist aber nicht näher konturiert.
Literatur reagiere „auf alle Umweltherausforderungen“; diese selbst seien
„primär unspezifisch“ (S. 188); erst die Literatur als „Metainstanz“ (S. 189)
deute sie als ein bestimmtes Problem.
Zwar sieht Eibl im „Umweltbezug von Literatur“ (S. 189) einen Garanten
für eine Reihe möglicher Referenzobjekte der Literatur; gedeutet aber werde
diese Mannigfaltigkeit an Bezugsmöglichkeiten auf die Umwelt – so Eibl in
Anlehnung an Luhmann – als ein und dasselbe Problem, an dem sich die Lite-
ratur seit 1750 abarbeite: „die basale sozialgeschichtliche Herausforderung“,
die in den letzten „250 Jahren grundsätzlich dieselbe“ sei: das „Individualitäts-
problem“ als „Leitproblematik“ (S. 189). Eibl reduziert damit die möglichen

40 Elisabeth Frenzel: Vom Inhalt der Literatur. Stoff - Motiv - Thema, Freiburg u.a. 1980, S. 24.
41 Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte, in: ders.: Gesammelte Studien, Bd.
1, Darmstadt 1966, S. 137-170.
42 Adrian Marino: Kritik der literarischen Begriffe, Cluj-Napoca 1976, S. 67; vgl. S. 64ff. zu
den literarischen Konstanten allgemein.
43 Walter Haug: Erwiderung auf die Erwiderung, in: DVjs 73 (1999), S. 69-121, hier S. 87.
44 Karl Eibl: Autonomie und Funktion, Autopoesis und Kopplung. Ein Erklärungsangebot für
ein literaturwissenschaftliches Methodenproblem mit einem Blick auf ein fachpolitisches
Problem, in: Huber u. Lauer: Nach der Sozialgeschichte (Anm. 19), S. 175-190, hier: S. 182.
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 19

Gegenstände der Literatur auf einen einzigen – so als gebe es seit 250 Jahren
kein anderes Problem als das der Individualität und Autonomie,45 so als habe
man vor 1750 in der Literatur dieses Problem weder behandelt noch über es
nachgedacht –, und er hat, nicht anders als Haug, einen bestimmten Typus von
Literatur vor Augen: die Literatur der Moderne oder gar einen Ausschnitt aus
der Literatur der Moderne.

Zwischenergebnis

Aus dem bis hier Erörterten lässt sich der Schluss ziehen, dass der Gegenstand
der Literatur, nicht als kleinster gemeinsamer und damit unspezifischer, weil
alles integrieren müssender Nenner, sondern als normatives Kriterium im Sin-
ne allgemeiner Geltung eine offene Frage ist. Nun sind verschiedene Mög-
lichkeiten denkbar, sich zu dieser Offenheit zu verhalten.
Entweder man folgt der bedingungslosen Historisierung und behandelt je-
de Antwort unmittelbar zu sich selbst als die an diesem oder jenem histori-
schen Ort gegebene, ohne diese zu bewerten, ohne zu verschiedenen Zeiten
gegebene Antworten miteinander in Beziehung zu setzen oder gar eine von
ihnen als eine jenseits des historischen Kontextes gültige auszuzeichnen. Dann
ist aber auch die Position, dass es keine Antwort auf die Frage, was Literatur
ist, gebe, eine bloß historische und als solche auch zu behandeln. Oder man
favorisiert bestimmte historische Festlegungen. Allerdings muss man dann
imstande sein, Gründe dafür zu nennen. Erforderlich wäre dazu, sich zualler-
erst den historischen Reichtum der Argumentation zu erschließen und Pro-
bleme zu erkennen, die in der Geschichte der Literaturtheorie immer wieder-
kehren. Die verschiedenen, in der Vergangenheit gefundenen Lösungen dieser
wiederkehrenden Probleme wären als Angebote zu begreifen und mit denen
von heute zu konfrontieren.
Die zweite Möglichkeit, sich zu dieser Offenheit zu verhalten, wird aller-
dings erschwert durch die Prämissen der Literaturtheorie hinsichtlich ihres
Textbegriffs. Der historische Reichtum der Argumentation ist überdies nicht
unmittelbar zugänglich; er ist verstellt durch wirkungsgeschichtliche Determi-
nanten. Schließlich gilt ein derartiger Versuch als tabu und angesichts der
„durchgreifende[n] Historisierung“46 als Kriterium für Wissenschaftlichkeit

45 Vgl. hierzu Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a.M. u.a. 1995, bes. S. 11-34.
46 Zur „durchgreifende[n] Historisierung“ als Kriterium der Wissenschaftlichkeit vgl. Herbert
Jaumann: Rezension zu Adrian Marino: The Biography of „The Idea of Literature“. From
Antiquity to the Baroque, 1996, in: International Journal of the Classical Tradition 8
(2001/2), S. 130-134, hier S. 134.
20 Ulrike Zeuch

sogar als Rückschritt.47 Allein schon die Frage nach einem solchen normativ
bestimmten Gegenstand wird als dogmatisch abgetan.48 Gleichwohl arbeiten
die Methoden, die eine allgemeinverbindliche Bestimmbarkeit des (literari-
schen) Textes verneinen, durchaus mit Normen, aber es sind Normen, welche
die Funktion von Literatur betreffen, nicht ihren Gegenstand.49
Diese Normen werden allerdings unbefragt als gültig vorausgesetzt, etwa
dass es wesentlich zur Literatur gehöre, (formal-ästhetische wie moralisch-
gesellschaftliche) Tabus zu brechen – so Hans-Robert Jauß in seiner Literatur-
geschichte als Provokation der Literaturwissenschaft – oder der ‚realen‘,
‚normalen‘ Realität eine andere, alternative Version derselben Realität gegen-
überzustellen – so Niklas Luhmann in Das Kunstwerk und die Selbst-
reproduktion der Kunst – oder an die Stelle des an Fakten überprüfbaren Wah-
ren etwas ‚Wahrscheinendes‘ zu setzen – so Hans Blumenberg in Paradigmen
zu einer Metaphorologie – oder zeit- bzw. gesellschaftsspezifische Bewusst-
seinshaltungen ablesbar zu machen – so Stephen Greenblatt in Grundzüge
einer Poetik der Kultur. Alle vier Aspekte sind überdies Normen bzw. Funkti-
onen, die bereits im 18. Jahrhundert – mit Lessing beginnend (Blumenberg
bezieht sich explizit auf Lessing) – diskutiert werden.
Dass der Gegenstand der Literatur als normative Bestimmung in der Dis-
kussion auffallend abwesend ist, wird gerade bei denjenigen sehr deutlich, die
gleichsam außerhalb der Norm explizit noch den Versuch unternehmen, zu
bestimmen, was Literatur ist, und durch den Versuch allein den Bruch mit dem
durch die ‚communis opinio‘ der Literaturtheorie diktierten Tabu provozieren.

47 Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), zufolge kann es „Letztbegründungen über das


Wesen der Literatur [...] nicht geben“ (S. 8), da dieses Wesen selbst nicht existiere (S. 9);
gleichwohl bescheinigt er der Literatur eine „ungebrochene Aktualität“, da sie sich dem
„wissenschaftlichen Anspruch auf Letztbegründungen beharrlich“ verweigere (S. 146); in
dieser Funktion sieht er eine Konstante der Literatur, also doch etwas, das bleibt, auch wenn
man dieses für bleibend Gehaltene nicht mehr Substanz oder Wesen nennt bzw. nennen darf.
48 Harth u. vom Hofe: Grundbegriffe (Anm. 15), S. 31: „eine das vermeintliche ,Ganze‘ erfas-
sende Literaturtheorie [ist] nur als dogmatische denkbar“; ebenso vorsichtig, den Eindruck
des Dogmatischen zu vermeiden, ist das Resümee von Martin Huber u. Gerhard Lauer (Anm.
19) formuliert; sie halten die Erweiterung des Gegenstandes ,Literatur‘ zum Text als Text o-
der zur Kultur einerseits und das Festhalten am Erprobten andererseits zwar für falsche Al-
ternativen (S. 10); aber auch eine „Großtheorie, gleich um welches Zentralsignifikat auch
immer gebildet“ (S. 11), sei ungeeignet, alle theoretischen wie methodischen Probleme zu in-
tegrieren; stattdessen plädieren sie für einen offenen Rahmen; als Grenzen dieses Rahmens
und damit als für den literarischen Text relevante Kontexte werden „Fragen nach Poetik, Kul-
tur, Gesellschaft und Wissenschaft“ (ebd.) genannt.
49 Als allgemein gilt im Strukturalismus und Konstruktivismus die Funktion von Literatur; für
Roland Barthes: Strukturalistische Tätigkeit (Anm. 38), besteht sie darin, materielle Aus-
gangsbasis für Neuschöpfung und Reflexion (S. 217), für die Herstellung neuer Bedeutung zu
sein, für Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Kim-
mich u.a.: Literaturtheorie (Anm. 28), S. 379-392, darin, „Weltkontingenz“ (S. 384) herzu-
stellen und ein Kommunikationsprogramm zu liefern (S. 388).
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 21

Versuche einer normativen Gegenstandsbestimmung

Schmitz-Emans besteht darauf, dass die Identität der Literaturwissenschaft we-


sentlich davon abhängt, ob sie einen für sie selbst spezifischen Gegenstand an-
zugeben weiß. Schmitz-Emans sieht die Spezifik der Literatur im Unterschied
zur Kultur darin, ‚individuell zu sein‘ (S. 253). Anders als die Kultur und de-
ren Zeugnisse soll die Literatur die üblichen sozialen, symbolischen und son-
stigen Ordnungen, Werte, Codes, Erklärungsmuster usf. aufheben (S. 257ff.);
sie sei insofern von ihrer Grundtendenz her immer anti-ideologisch, gegen das
Ganze einer Kultur gerichtet. Zwar bemerkt Schmitz-Emans durchaus, dass
diese Unterscheidung ein Erbe der Autonomieästhetik ist (S. 257) und insofern
keine generelle Bestimmung von Literatur sein kann. Aber sie selbst schließt
sich diesem Urteil, dass Literatur generell anti-ideologisch sei, an (S. 265).
Schmitz-Emans verkennt damit, dass es auch nach 1800, dem Kulminati-
onspunkt der Autonomieästhetik, ideologische Literatur gibt, nicht zuletzt
während des Faschismus und Kommunismus in Europa und des Nationalso-
zialismus im 20. Jahrhundert; sie schließt Literatur, die ideologisches Denken
abbildet, von vornherein als schlechte Literatur oder Nicht-Literatur aus; ideo-
logische Literatur kann aber sehr wohl Falsches zum Vorschein bringen und
damit auch einen Erkenntniswert haben. Ferner bleibt die Frage nach der Spe-
zifik des Gegenstandes der Literaturwissenschaft unbeantwortet: Individuell,
anti-ideologisch, unbegreifbar zu sein, nehmen auch andere Künste der Mo-
derne für sich in Anspruch.
Der Versuch aber, Literatur über ihre Funktion zu bestimmen, und zwar
über die Funktion ‚Tabu-Bruch‘, ist, wie sie selbst konzediert, 200 Jahre alt.
Implizit geht Schmitz-Emans von einem Literaturbegriff aus, der sich an einem
der für die Literaturtheorie der Neuzeit zentralen Grundsätze orientiert: der
Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit als Kriterium für Literatur.
Dass die „Frage nach der Relation zwischen Literatur und Wirklichkeit bei der
Bestimmung dessen, was Literatur, Dichtung, Poesie sei, stets seine Hauptrolle
gespielt“ (S. 247) habe, trifft aber nur bedingt zu. Für die Poetik des Aristote-
les etwa gilt sie nicht.50 Sie wird in der Poetik zwar thematisiert, spielt aber
eine untergeordnete Rolle. Ob eine bestimmte Handlung bestimmter menschli-
cher Charaktere ihre Entsprechung in der Wirklichkeit hat oder imaginiert ist,
gilt Aristoteles als sekundär gegenüber der Frage nach dem Gegenstand der
Literatur: nach der Mimesis menschlicher Handlung.

50 Bezeichnenderweise bezieht sich Uwe Japp zur Klärung des seiner Meinung nach für Litera-
tur spezifischen Fiktionsbegriffs auf Horaz, nicht auf Aristoteles (Die literarische Fiktion, in:
Carola Hilmes u. Dietrich Mathy [Hg.]: Die Dichter lügen, nicht. Über Erkenntnis, Literatur
und Leser, Würzburg 1994, S. 47-58, hier S. 53ff.).
22 Ulrike Zeuch

Ebenso wie Schmitz-Emans setzt auch Joachim Küpper bei seiner Frage
„Was ist Literatur?“ einen Begriff der Literatur voraus, der sich an der Unter-
scheidung zwischen Imagination und Realität orientiert, wobei Küpper im
Unterschied zu Schmitz-Emans den Akzent auf die Rezeption durch den Leser
legt: Literatur ist Literatur, wenn sie offen für die Imagination (sekundärer)
fiktiver Welten ist und einlädt zu freier Assoziation.
Küppers Antwort auf seine Frage „Was ist Literatur?“ lautet: „figurale
Narrativität“.51 Unter ‚Narrativität‘ versteht Küpper einen Bericht einzelner
Ereignisse, der Anfang, Mitte und Ende hat und durch eine Person, für die
diese Ereignisse von Belang sind, eine Einheit bildet.52 Ausschließen will Küp-
per durch den Zusatz, dass die von einer Person erzählten Ereignisse für sie
von Belang seien, wohl eine äußerliche Einheit im Sinne eines chronologi-
schen Zusammenhangs, was unmittelbar einleuchtet. So verstandene Narra-
tivität (‚Bericht einzelner Ereignisse, der Anfang, Mitte und Ende hat und
durch eine Person, für die diese Ereignisse von Belang sind, eine Einheit bil-
det‘) findet sich jedoch auch in Texten, die nicht zur Belletristik gerechnet
werden können, etwa im Interview, als Aussage eines Zeugen in einem Zei-
tungsartikel oder in einer Autobiografie. Auch ist es problematisch, die Spezi-
fik des literarischen Textes in einer durch eine Person gestifteten Einheit von
Erlebnissen zu sehen. Denn bloß dadurch, dass die Ereignisse für diese oder
jene Person von Belang sind, hängen sie keineswegs auch sachlich zusammen.
Figural sei Narrativität dadurch, dass das Berichtete „uneigentlich [...],
rhetorisch“ gemeint sei (S. 195). Der Modus des Erzählens – rhetorisch – ist
laut Küpper entscheidend, nicht das Objekt oder die Funktion (S. 196); mit
Modus ist gemeint, dass die Rhetorisierung einen Raum freisetze, in dem „sich
unsere begrifflich fixierte Reflexion, unser vorbegriffliches Nachdenken und
unser assoziatives Divagieren [...] ergehen können“ (S. 197). Indem Küpper
die Narrativität als figural bestimmt, nimmt er die von ihm genannte Bestim-
mung, was Literatur sei – eine Person berichtet über eine von ihr als Einheit
aufgefasste Folge von Ereignissen – wieder zurück. Küpper sieht zum einen
den Modus, der entgegen seiner Annahme doch eine Funktion hat, nämlich
sekundäre Imaginationskräfte freizusetzen, zum anderen das vorbegriffliche
Verstehen als konstitutiv für Literatur an. Leitend ist dabei die Vorstellung,
dass die Qualität von Literatur gerade in der Vagheit, Offenheit (S. 196f.),

51 Küpper: Was ist Literatur (Anm. 3), S. 195.


52 An dieser Stelle bezieht sich Küpper auf Aristoteles’ Poetik. Allerdings betrifft Küppers
Bezugnahme nur einen Aspekt; denn laut Aristoteles garantieren eben nicht die Person oder
der Charakter die Einheit, sondern die Handlung. Zu Aristoteles’ Position diesbezüglich Ar-
bogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristote-
les Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Karlheinz Stierle u. Rainer Warning
(Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 16),
S. 528-563.
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 23

Code-Elastizität (S. 199) und Inexaktheit (S. 206) liege. Damit teilt Küpper
zwei der für die Literaturtheorie der Gegenwart entscheidenden Prämissen:
dass sich der sachliche Gehalt eines literarischen Textes erst im Vollzug der
(immer wieder anderen) Rezeption konstituiere und dieser Gehalt im eigent-
lichen Sinne, das heißt rational und allgemein nachvollziehbar, nicht zu ver-
stehen sei.
Der Bericht einer Person soll Küpper zufolge aber eine zusätzliche Quali-
tät haben, die ihn von historiographisch relevanten Texten unterscheide: Er soll
etwas Allgemeines oder Philosophisches mitteilen. In welcher Hinsicht aber
kann ein literarischer Text allgemeiner sein – das Philosophische einmal bei-
seite gelassen? Doch nur in der Hinsicht, dass nicht das historisch Einmalige
und damit Beliebige, dessen Umstände und Umgebung jeweils andere sind,
erzählt wird, sondern etwas, was über Zeitgebundenheit, Kontingenz, Authen-
tizität und Singularität hinausgeht. Die Literaturtheorie seit der Antike – und
zwar verstehe ich ‚Literaturtheorie‘ als den historisch unterschiedlichen Vari-
anten übergeordneten allgemeinen Begriff, während Horst Turk ihn nur seit
dem 20. Jahrhundert gelten lässt53 – hat unterschiedliche Antworten gegeben,
worin dieses Allgemeine der Literatur im Unterschied zur Geschichtsschrei-
bung bestehen könnte. Die Antworten reichen von der Darstellung sich aus
einer bestimmten Situation ergebender Gefühle, Gedanken und Handlungen
einer bestimmten Person, die Einsicht erlaubt in das einem Menschen von
bestimmtem Charakter Mögliche (Aristoteles), über das von der Besonderheit
eines einzelnen Menschen abstrahierende Ideal (Horaz, Scaliger) und die sinn-
liche Darstellung eines moralischen Lehrsatzes (Gottsched) bis zur Offenba-
rung des inneren Selbst eines Menschen, das zugleich mehr, nämlich die ganze
Menschheit wirklich und in Wahrheit sein soll (Friedrich Schlegel), ja schließ-
lich bis zur immer gleichen ‚conditio humana‘.
Die historischen Antworten auf das, was das Allgemeine der Literatur sein
kann, divergieren zu sehr voneinander, als dass man sich ohne weiteres insge-
samt auf diese Tradition berufen oder direkt bei Aristoteles anknüpfen könnte,
wie Küpper dies nahe legt; erschwert wird die Anknüpfung durch die Umfor-
mung des ‚Allgemein-Begriffs‘ im Nominalismus,54 die für den Begriff des
Allgemeinen als Gegenstand der literarischen Mimesis weitreichende Konse-
quenzen hat.55 Dass die wirkungsgeschichtliche Vermitteltheit zentraler Aussa-

53 Im Unterschied zu Wirkungs-, Regel- und Gattungs-Poetiken, so Horst Turk: Einleitung, in:


ders. (Hg.): Klassiker der Literaturtheorie. Von Boileau bis Barthes, München 1979, S. 7.
54 Vgl. Arbogast Schmitt: Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neu-
zeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aris-
toteles-Deutung, in: Enno Rudolph (Hg.), Die Renaissance und ihre Antike, Tübingen 1998
(Religion und Aufklärung, Bd. 1), S. 7-34.
55 Vgl. Ulrike Zeuch: Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur. Scaligers Begriff des
Allgemeinen und seine stoischen Prämissen, in: Poetica 34 (2002), S. 99-124.
24 Ulrike Zeuch

gen der Poetik eine direkte Anknüpfung an Aristoteles erschwert, dafür gibt
Küpper selbst ein Beispiel, da er ‚Einheit der Handlung‘ im Sinne einer durch
die Einheit der Person verbürgten ‚Einheitlichkeit der Handlung‘ versteht –
eine Lesart, die Francesco Robortellos In librum Aristotelis de arte poetica
explicationes56 vorgeben und die sich aufgrund seines Kommentars als Inter-
pretationsvorgabe seit der Frühen Neuzeit durchzusetzen beginnt, bei Aristote-
les selbst aber keinen Anhaltspunkt hat.
Während Schmitz-Emans die Spezifik der Literatur in etwas absolut Indi-
viduellem, im Vergleich mit der Gesamtkultur Ungewöhnlichem, von dieser
Abweichendem sieht, hält Küpper das Spezifische der Literatur für etwas All-
gemeines, ohne genauer zu sagen, was er damit meint. Diese beiden, kaum als
gegensätzlicher denkbaren Positionen finden sich allerdings bereits, und zwar
in paradoxer Zusammenfügung, schon in der Frühromantik, etwa bei Friedrich
Schlegel im Gespräch über die Poesie.57 Das absolut Individuelle soll zugleich
– und als absolut Individuelles – etwas höchst Allgemeines sein.
Von Küpper u.a. her vertraute Bestimmungen wie Fiktionalität und Offen-
heit greift Gottfried Willems in seinem Bericht zur Lage der Literaturwissen-
schaft auf, fügt diesen aber weitere Bestimmungen hinzu. Als Spezifik der
Literatur gilt Willems „die Fiktionalität der literarischen Rede“, der „Eigensinn
des literarischen Textes“ und die „innere Vielfalt und Offenheit“ des literari-
schen Textes.58 Unter ‚Vielfalt‘ versteht Willems die Fülle an Motiven, Schau-
plätzen, Charakteren, Handlungsmotiven, Lebensentwürfen, Gesinnungen,
Meinungen, Stimmungen, die Fülle an gedanklicher, imaginativer, sprachlicher
Aktivität (S. 231). Weder Fiktionalität noch Eigensinn noch Offenheit sind
jedoch spezifisch für Literatur; sie gelten auch für Werke anderer Künste,
zudem für Literatur nicht generell: Nicht jede Literatur erzeugt einen nur ihr
eigenen Sinn, ist per se fiktional und offen. Aber selbst angenommen, dass die
Künste einiges miteinander gemeinsam hätten und Fiktionalität und Offenheit
ihnen insgesamt wesentlich wären, würde es dennoch nicht genügen, durch das
Mitzudenkende ‚in Sprache‘ oder gar ‚in Sprache besonderer Ausformung‘ die
Bestimmung für Literatur zu spezifizieren. Die von Willems angeführten Mo-
mente innerer Vielfalt finden sich im Übrigen auch in anderen Texten, etwa
der Autobiografie;59 in ihrem additiven Charakter lassen sie sich verstehen als

56 Francesco Robortello: In librum Aristotelis de arte poetica explicationes, München 1968 (ND
der Ausgabe Florenz 1548) (Poetiken des Cinquecento, Bd. 8); vgl. Brigitte Kappl: Die Poe-
tik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Diss. Marburg 2001 (in Manu-
skriptform eingesehen).
57 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Aus-
gabe, hg. von Ernst Behler u.a., Bd. 2, München u.a. 1967, S. 284-328.
58 Willems: Kanon-Debatte (Anm. 27), S. 254.
59 Willems rein quantitativ, als Fülle verstandene Vielfalt als Kriterium für Bedeutsamkeit und
Interessantheit eines literarischen Textes kritisch zu erörtern, würde an dieser Stelle zu weit
führen; für problematisch halte ich auch die unreflektierte Verwendung wertender Maßstäbe
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 25

Elemente eines unbestimmten Allgemeinen, eines kleinsten gemeinsamen


Nenners, die sich nicht anders als bei Frenzel subsumieren lassen unter die
Kategorie ‚Menschliches‘.
Erkennbar ist Willems, indem er dem literarischen Text eine Intentionali-
tät, einen Eigensinn zugesteht, darum bemüht, diesen vor der Reduktion auf
eine semantische Leerstelle zu bewahren. Allerdings kann er nicht plausibel
machen, wo die Grenze des für Interpretationen offenen literarischen Textes
gegenüber einer „unbegrenzte[n] Offenheit“ (S. 255) liegt. Ungeklärt bleibt,
welche Grenzen des für die Fantasie des Lesers offenen Spielraums (S. 256)
eines fiktionalen Textes gegenüber dem Bestimmten, „was einen Autor schrei-
bend beschäftigt, wovon er schreibend Zeugnis ablegt“ (S. 255), unantastbar
sind (S. 256). Willems hat der Auflösung dieser Grenzen durch Methoden, die
den Eigensinn von Texten generell negieren, nichts entgegenzusetzen (S. 249).
Dabei kann man Willems darin folgen, dass der von ihm dem literarischen
Text unterstellte eigene Sinn als „unverfügbare Vorgabe“ zu begreifen, das
heißt nicht beliebig interpretierbar ist; folgen kann man auch seinem Argu-
ment, dass selbst jemand, der generell den Eigensinn eines Textes negiert, sich
gegen eine gesellschaftlich verpönte Auslegung seines eigenen Textes, etwa
eine „faschistische Lektüre“ (S. 256), verwahren würde. Selbst dann kann man
Willems folgen, wenn er sich gegen die „Festschreibung der Bedeutung“ wen-
det, wobei er unter ‚Bedeutung‘ im Unterschied zum Eigensinn eine Sinnzu-
schreibung, die Zuschreibung von Klassizität nach Maßgabe eines „Deutungs-
kanons wie dem des nationalen Gedankens, des Ästhetischen, des Utopischen
oder des Sozialkritischen“ (S. 236) versteht.
Fraglich ist aber, ob die Individualität oder der Eigensinn, den Willems
dem literarischen Text unterstellt (die ‚Stellungnahme‘, ‚Meinung‘, ‚Option‘,
S. 260), durch die Rekonstruktion „einer dem Text immanenten Intentionalität
aus dem je eigenen intentionalen Leben des Lesers“ (S. 253) erkannt oder gar
auf seine „Konsistenz“ (S. 254) und Widersprüchlichkeit hin überprüft werden
kann. Je nachdem, worauf ein verstehendes Subjekt seine Aufmerksamkeit
richtet, wird es die Intentionalität eines Textes bei mangelnder Übereinstim-
mung der Lebenspraxis nicht rekonstruieren, schon gar nicht Widersprüche
aufdecken können, zumal die Bedeutsamkeit eines literarischen Werkes Wil-
lems zufolge gerade im Reichtum an gegenstrebigen, ja widersprüchlichen
Motiven bestehen soll (S. 231).

wie des Interessanten oder Bedeutsamen, beides Maßstäbe aus der Geschichte der Literatur-
theorie.
26 Ulrike Zeuch

Das Skandalon ‚Norm‘

Die vorangegangenen Ausführungen mögen als Beleg dafür genügen, dass


eine normative Bestimmung des Gegenstandes der Literatur selbst bei denen,
welche explizit noch den Versuch unternehmen zu bestimmen, was Literatur
sei, abwesend ist. In der Literaturkritik ist der Gegenstand zwar auch nach
1970 durchaus ein Thema, aber beiläufig und nicht systematisch, zudem bezo-
gen auf einzelne Werke und nicht prinzipiell.
So antwortet der Literaturkritiker Michael Maar auf die von ihm selbst ge-
stellte Frage, warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte, dass Harry Potter
wegen des ‚plots‘, wegen der Handlung lesenswert und „der Held dieser Bü-
cher [...] weniger Harry Potter als vielmehr die Handlung“ sei.60 Maar meint,
Nabokov hätte Harry Potter wegen der raffinierten Komposition der Handlung
(S. 121) gemocht. Bemerkenswert ist sein Urteil, sieht man es im Kontext
nicht des literaturkritischen, sondern des literaturtheoretischen Diskurses der
Gegenwart, da Handlung als Gegenstand der Literatur in letzterem keine Rolle
spielt. Die Normativität des von Maar genannten Kriteriums, der Handlung,
wäre allerdings erst zu prüfen.
Normativ zu argumentieren gilt aber nicht nur in der Literaturtheorie, son-
dern auch in der Literaturkritik als tabu. Beispielhaft dafür ist die Position
Marcel Reich-Ranickis, des in der Literaturkritik Nachkriegsdeutschlands
einflussreichsten und damit maßgeblichen Literaturkritikers. Reich-Ranicki
bezeichnet in dem von Peter von Matt mit ihm geführten Interview61 aus-
schließlich subjektive Kriterien, das heißt eigentlich subjektive Reaktionen auf
Literatur als Kriterien, nämlich Interesse (S. 30), Langeweile (S. 63) und Ver-
gnügen (S. 64); die Existenz normativer Kriterien negiert er (S. 66). Dafür,
dass ein Text überhaupt als literarischer zu erkennen ist, nennt Reich-Ranicki
dann aber doch ein wohl nicht nur als Ausfluss subjektiver Befindlichkeit (vgl.

60 Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte, Berlin 2002, S. 37. Maar nennt
als Kriterien einer gelungenen Gesamthandlung: Es zähle jede einzelne Handlung, jedes
Wort, nichts dürfe überflüssig sein, keine losen Enden sollten übrig bleiben (S. 36). Es sollten
Handlungen von psychologisch komplexen „lebendigen Individuen“, nicht von entper-
sönlichten Typen (S. 46) sein; jedes Individuum habe „eine kleine Wunde zu verstecken, eine
Schwäche zu camouflieren“ (S. 49), selbst Harry sei kein stets „in sich ruhender Held“ (S.
50). Die Handlung sei sowohl der Realität entnommen als auch imaginiert, Reales und Ima-
giniertes seien dergestalt miteinander verschränkt, dass „das harte Licht der Wirklichkeit
durch die rubinroten und giftgrünen Fenster dieser Fiktion [sc. von Harry Potter]“ (S. 57f.)
falle. Nicht der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion sei für die Handlung bestim-
mend, sondern die Suche nach plausiblen Antworten auf die Frage nach dem ‚Warum‘? be-
stimmter Einzelhandlungen sowie die Einsicht in deren Ursache (S. 59) und in das Ausmaß
der Schuld Einzelner (S. 63). Wenn Maar Kritik übt, dann daran, dass bestimmte Handlungen
für bestimmte Charaktere nicht wahrscheinlich seien (S. 88f. und S. 112f.).
61 Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Ein Gespräch mit Peter von Matt, Zürich 1992.
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 27

aber S. 64) gemeintes Kriterium: Literatur habe seiner Meinung nach einen
doppelten Boden (S. 31ff.); gemeint ist damit, dass Literatur neben einem
unmittelbar erkennbaren, Realität abbildenden (beispielsweise autobiographi-
schen) Inhalt noch einen zweiten, darüber hinausgehenden, fiktionalen habe
(S. 32), und das Gesagte sinnbildlich für etwas anderes stehe. Dieses Kriterium
relativiert Reich-Ranicki aber gleich wieder, da er auch Literatur ohne dop-
pelten Boden nicht „von der Literatur ausschließen“ (S. 31) möchte.
Wenn Reich-Ranicki sein Interesse an Literatur an die Bedingung knüpft,
dass sie die „Probleme der Epoche am eigenen Beispiel“ zeige (S. 30), dann
stellt er sich in die Tradition der Roman- und Epostheorie des 18. Jahrhun-
derts, ohne sich über deren Geschichtlichkeit Rechenschaft abzulegen. Nicht-
erzählende Literatur bleibt ausgespart, und es bleibt offen, was für eine Epoche
relevante Probleme sind und wie Reich-Ranicki ‚Epoche‘ definiert. Die Mög-
lichkeit einer Gegenstandsbestimmung jedenfalls, gar die einer normativen
Gegenstandsbestimmung schließt der Literaturkritiker kategorisch aus; dage-
gen macht er in der Literatur nach 1945 neben doppelten Böden lediglich The-
men aus – wie etwa bei Uwe Johnson das „deutsch-deutsche Thema“ (S. 30).
In poetologischen Äußerungen von Schriftstellern62 ist auch nach 1970 ei-
ne Gegenstandsbestimmung von Literatur durchaus präsent. So mangelt es in
Uwe Johnsons Frankfurter Vorlesungen (um bei Johnson als Beispiel zu blei-
ben)63 nicht an diesbezüglichen Anhaltspunkten – etwa wenn er davon spricht,
dass „ein erzählendes Buch ein Modell der Welt anbietet, Geschichten als
Beispiele, die Welt in der Version des Verfassers, Lesern vorgelegt zum unter-
haltsamen Vergleichen mit ihrer eigenen Version. Eine Art Information, in der
Form von Erzählung, wahrscheinlich weit weniger wirklich als die regelrechte
Nachricht“ (S. 327). Aber da gilt dasselbe wie für die Literaturkritik: Es sind
individuelle, keine ungeprüft verallgemeinerbare Positionen, und im Fall von
Johnson beziehen sich die poetologischen Überlegungen nicht anders als bei
Reich-Ranicki ausschließlich auf erzählende Literatur. Das von Reich-Ranicki
ausgesprochene Verdikt, Normen reichten an die Individualität einzelner litera-
rischer Werke nicht heran, lässt aus seiner Sicht als die Erkenntnis leitende
Methode nur übrig, die Beurteilungskriterien aus dem einzelnen Werk abzu-
leiten.64 Aber auch dieses Vorgehen ist problematisch: Gesetzt, man könnte
sich auf jedes einzelne Werk absolut vorurteilsfrei einlassen, so fände man

62 Schmitz-Emans: Lektüren (Anm. 2), etwa hält die „Autorenpoetik“ für einen „intergrale[n]
Bestandteil der Literaturtheorie“ (S. 265); allerdings zitiert sie als Beleg für ihre These nur
Stimmen von Autoren (S. 266f.), die ihre eigene Position belegen, dass das Wesen der Lite-
ratur dadurch gekennzeichnet sei, bestehende Codes und Spielregeln zu brechen.
63 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, 1. Aufl. Frankfurt a.M. 1992
(edition suhrkamp, Bd. 1820).
64 Reich-Ranicki: Gespräch (Anm. 61), S. 66.
28 Ulrike Zeuch

doch nicht das Gesuchte. Entweder wäre man nicht mehr in der Lage, ein all-
gemeinverbindliches Urteil zu treffen, da dieses dann wie (dem Lord Chandos)
„die abstrakten Worte [...] im Munde [zerfiele] wie modrige Pilze“,65 oder man
käme nur zum kleinsten gemeinsamen Nenner.
Was aber ist der gemeinsame Nenner zwischen einem Dada-Gedicht von Arp
und dem Simplizissimus?
Die Problematik der (angeblich rein) empirischen, beim Einzelnen anset-
zenden Methode ist in der Literaturtheorie besonders evident: So meint Adrian
Marino in der Kritik der literarischen Begriffe,66 Konstanten innerhalb der
literaturtheoretischen Begriffe ausmachen zu können. Dabei stützt er sich auf
die so ohne weiteres nicht akzeptierbare Voraussetzung: „Was richtig gedacht
wurde und wird, wird auch über Jahrhunderte noch in identischen oder we-
sentlich identischen Termini gedacht werden“ (S. 75). Diese Konstanten sind,
da sie allen „literarischen Definitionen gemeinsam“ sein sollen (S. 85), als
solche abstrakt (so Marino wörtlich, S. 77). Mit Hilfe eines derartigen Verfah-
rens käme man aber weder dazu, historisch zurückliegende Bestimmungen des
Gegenstandes der Literatur in ihrer Differenz voneinander zu erkennen; es
ließe sich lediglich ganz allgemein sagen, dass sowohl Aristoteles als auch
Horaz als auch Francesco Robortello als auch Goethe von einem Allgemeinen
als Gegenstand der literarischen Mimesis sprechen. Noch ließe sich entschei-
den, von welchen Zuschreibungen begrifflicher Bedeutung als Varianten, das
heißt als Akzidentien, abzusehen wäre, um zur Invariante, zur Konstante, also
zur Substanz, vorzustoßen. Auf besondere Weise stellt sich das Problem, wenn
– wie im Fall der Frage nach dem Gegenstand der Literatur – die Bestimmun-
gen derart heterogen, ja widersprüchlich sind, dass sich ein identischer bzw.
konstant bleibender „Hauptkern“ (S. 80) nicht ausmachen lässt.
Analog argumentiert Geisenhanslüke in seiner Einführung in die Litera-
turtheorie: Die Vielfalt der Methoden und der literaturtheoretischen Ansätze
nach 1970 sei nicht als Konflikt, sondern „als sich ergänzende Bemühungen
um die eine Sache: die Frage, was Literatur ist und wie ein Wissen von der
Literatur sich legitimieren kann“ (S. 143), aufzufassen. Ein ‚Hauptkern‘ inner-
halb der Literaturtheorien aber ist eben nicht auszumachen; als konstant lässt
sich nur, wie Geisenhanslüke feststellt, die Aufgabe der Literaturtheorie in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begreifen, ihren Gegenstand zu destruieren
(S. 143) und sich kritisch gegen jeden noch bestehenden Ansatz „hermeneuti-
schen Substanzdenken[s]“ (S. 14) zu verwahren.

65 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: Sämtliche Werke 31 (Erfundene Gespräche und
Briefe), hg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1991, S. 45-55, hier S. 48f.
66 Marino: Kritik (Anm. 42), S. 78ff.
Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart 29

Resümee

Aus den im Vorangegangenen kurz referierten Positionen der Literaturtheorie


zur Gegenstandsbestimmung der Literatur seit 1970 wird erkennbar, dass die
Literaturtheorie der Gegenwart das „Labyrinth“67 der Geschichte der Litera-
turtheorie nicht überblickt und dass durch den eigenen Vorbegriff der Blick für
manches verstellt bzw. manches einfach in Vergessenheit geraten ist, was ein
möglicher Ansatzpunkt für eine Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand
der Literatur sein könnte. Nicht die „einseitige Orientierung an theoretischen
Fragen“ ist demnach verantwortlich für die Antwortlosigkeit der Literaturtheo-
rie,68 sondern deren Orientierung an bestimmten Begriffen der Gegenwart.
Dass für vorliegende Frage eventuell relevante Antworten einfach vergessen
worden sind, ist nicht weiter verwunderlich, da seit der Frühen Neuzeit das
Selbstverständnis der (jeweils) neuen Zeit sich darüber definiert, die vorange-
gangene Zeit zu überbieten, in jedem Fall zu überwinden; aus dem Blick gerät,
was bereits einmal an differenzierten Erkenntnissen geleistet worden ist. Der
Zwerg vergisst nicht nur, dass er seinen Weitblick den Schultern verdankt, auf
denen er stand, sondern er vergisst noch mehr, dass er überhaupt auf Schultern
stand, das heißt er vergisst seine Voraussetzungen. Wer aber nicht auf Schul-
tern steht, hat keinen Weitblick.
In diesem Sinne vergessene Erkenntnisse sind Gegenstand der Beiträge
vorliegenden Bandes. Absicht des Bandes ist es, anhand von Einzelstudien zu
zentralen Aspekten der für die Literaturtheorie grundsätzlichen Frage nach
dem Gegenstand der Literatur Antworten zu geben und diese Antworten zur
Überprüfung auf ihre Plausibilität jenseits ihres historischen Zusammenhangs
dem Leser zu übergeben. Die Antworten der Überprüfung zu übergeben heißt
nicht, dass sich die Beiträgerinnen und Beiträger der Verantwortung entziehen
wollten, selbst eine Antwort zu finden; die jeweils für plausibel oder auch für
problematisch gehaltene Antwort geht aus der Textwahl, der Art der Darstel-
lung und der Argumentation der einzelnen Beiträge erkennbar hervor. Viel-
mehr sind die Beiträge in der Absicht geschrieben, die Argumente für eine
derartige Überprüfung bereitzustellen.

67 Harth u. vom Hofe: Grundbegriffe (Anm. 15), S. 30.


68 Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), S. 143, referiert diesen als den für den Gegens-
tandsverlust der Literaturwissenschaft üblicherweise als hauptverantwortlich geltenden
Grund.
STEFAN BÜTTNER

Literatur und Mimesis bei Platon

In der griechischen Literatur hat es vor Platon zahlreiche Reflexionen auf die
Literatur selbst gegeben, angefangen mit der Darstellung von Sängern wie
Phemios und Demodokos in den homerischen Epen über die selbstbewussten
Äußerungen der frühen Lyriker, insbesondere Pindars, bis hin zu den in der
jüngeren Forschung vermehrt herausgearbeiteten Befunden von Metatheatrali-
zität in der Tragödie des 5. Jahrhunderts.
Eine ausführliche theoretische Durchdringung dessen, was Literatur re-
spektive Dichtung bedeuten könnte, begegnet uns in den erhaltenen Texten der
Antike zum ersten Mal aber erst bei Platon. Dabei erhebt sich sogleich die
Frage, inwieweit man bei den Aussagen in Platons Dialogen überhaupt von
einer Theorie sprechen kann. Zum einen dürfen die Beiträge der Dialogpartner
nur unter Einrechnung des jeweiligen Kontextes verortet, also nur vermittelt
als Platons eigene Ansichten verbucht werden. Zum anderen scheint es – ringt
man sich erst einmal durch, bestimmte, immer wiederkehrende Konzepte als
Platonisch anzusehen – bei Platon so widersprüchliche Aussagen zu geben,
dass sie nicht in ein System oder eine einheitliche Theorie zu zwingen sind.
Ein Musterbeispiel dieser Widersprüchlichkeit kann man im Nebeneinan-
der des Mimesis- und des Enthusiasmus-Konzeptes erblicken. Während die
Kritik an der Dichtung im 10. Buch der Politeia den rationalistischen Maßstab
anlege, Dichtung als sinnlich-widerspiegelnde und damit bloß partielle Erfas-
sung der Welt prinzipiell abzulehnen, verstehe Platon im Ion oder im Phaidros
den inspirierten Dichter als jemanden, der Gespür für das Sinnlich-Ästhetische
habe und gerade dadurch den nach Regel und Schablone arbeitenden Verstan-
desdichter weit hinter sich lasse.1

1 Auf diesen vermeintlichen Widerspruch kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei
nur angedeutet, dass er wohl mehr auf die bei der Interpretation angewendeten Kategorien als
auf die Texte Platons zurückgeführt werden dürfte. So setzt diese Interpretation für Platon ei-
ne Psychologie voraus, in der die Seele in eine zwar vorbewusst-unkontrollierte, aber reiche
Sinnlichkeit und einen zwar bewusst-reflektierenden, aber abstrakten, inhaltlich armen
Verstand geteilt ist; aus den Attributen dieses Oppositionspaares Sinnlichkeit-Verstand kann
man dann – durch verschiedene Akzentsetzungen innerhalb dieses Modells – entgegengesetz-
te Paare herauslösen (Betonung der methodischen Reflexion des Verstandes gegenüber der
32 Stefan Büttner

Doch selbst innerhalb dieser beiden Konzepte scheint es Unstimmigkeiten


zu geben. So hat das Wort ‚Mimesis‘ schon in einem einzigen Dialog, der
Politeia, eine häufig wechselnde Bedeutung, die bald einen Verbleib der Dich-
tung im Idealstaat zu erlauben, bald die Notwendigkeit der Verwerfung aller
nur möglichen Kunst plausibel machen zu wollen scheint. In dieser Un-
tersuchung soll vor allem diesem Grundbegriff der Mimesis noch einmal
nachgegangen werden. Ein Denker wie Platon klammert sich natürlich nicht
nur an ein einziges Wort, wenn er Allgemeines über die Dichtung sagen will.
Daher ist damit nur ein Aspekt seiner Ansichten über die Dichtung erläutert.
Andererseits ist dieser Begriff zentral für Platons Abgrenzung von Dichtung
und Nicht-Dichtung. Zentral wurde das Mimesis-Konzept auch für die Ge-
schichte der Literaturtheorie. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man sagt,
dass in der abendländischen Poetik niemand ohne diesen Begriff auskommt,
und sei es nur, um ihn als Folie zur Abgrenzung seiner eigenen Theorie zu
nutzen und andere Elemente wie die Einbildungskraft oder das subjektive
Erlebnis in den Vordergrund zu rücken.
Die vieldeutige Verwendung des Terminus ‚Mimesis‘ bei Platon muss zu-
dem kein Makel sein, schon gar nicht, wenn sie in nur kurzen Abständen er-
folgt. Wenn es in der Philosophie heute beinahe schon zum guten Ton gehört,
mit der Bedeutungsverschiebung einzelner Termini innerhalb eines Essays zu
spielen, darf man dies auch Platons Dialogen zugestehen. Und vielleicht muss
man es sogar. Es ist ja Sinn nahezu aller Dialoge Platons zu zeigen, dass es
nicht auf das Wort als bestimmtes Lautzeichen ankommt, sondern auf das, was
das Wort meint (man muss nur an die Definitionsreihen der Frühdialoge
denken, in denen jede Definition ein gewisses Recht, aber meist nicht einen
umfassenden Horizont hat). Ausgerechnet ein Wort nun, das die Medialität
und die Vorläufigkeit der sinnlichen Welt und der Sprache selbst zum Thema
hat – Mimesis – mit immer exakt derselben Bedeutung zu belegen, würde von
einer philosophischen Humorlosigkeit zeugen, wie wir sie Platon nicht zu-
schreiben sollten.
So soll im Folgenden gezeigt werden, wie Platon sich mit seinem Mime-
sis-Konzept vom traditionellen Verständnis von Dichtung löst (1.) und welche
Implikationen der Mimesis-Begriff prinzipiell (2.), mit Blick auf die Dichtung
allgemein (3.) und im viel zitierten 10. Buch der Politeia (4.) enthält.

unkontrollierten Sinnlichkeit = Mimesiskonzept von Politeia 10; Betonung des Reichtums


der Sinnlichkeit gegenüber der abstrakten Armut der Verstandesregel = Enthusiasmuskon-
zept). Die so durchgeführte Trennung von Sinnlichkeit und Verstand ist aber ein moderner,
bewusstseinsphilosophischer Ansatz, der die Psychologie Platons nicht auch nur annähernd
angemessen wiedergibt. Im Gegenteil, seine hausgemachten Probleme werden auf Platons
Dichtungstheorie übertragen. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dieser Thema-
tik vgl. Verf.: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tü-
bingen u. Basel 2000, bes. S. 1-130 und S. 255-365, sowie ders.: Psychologie und Poetik bei
Platon, in: Antike und Abendland 47 (2001), S. 41-65.
Literatur und Mimesis bei Platon 33

Platons Loslösung vom traditionellen Dichtungsbegriff

Wenn Sokrates in der Politeia bzw. der Athener in den Nomoi sagt, die Dich-
tung, oder noch umfassender, das Chorlied mit Tanz oder die musischen Küns-
te insgesamt (von denen die Dichtung nur eine Teilmenge ist) seien Dar-
stellung (mímhsiß)2 von Menschen und Göttern, das heißt von deren Charakte-
ren, Seelenzuständen und Handlungen,3 – und das heißt auch Darstellungen
von Geschichten (mûqoi)4 – so wird damit eine erste Tendenz deutlich: Das
Kriterium für Dichtung ist nicht mehr bloß formal die Verwendung eines be-
stimmten Metrums. Dichtung bestimmt sich nun vielmehr primär über den
Inhalt, den Gegenstand der Darstellung.
Selbstverständlich findet man bei Platon auch noch den traditionellen Poi-
esis-Begriff, der sich an das Versmaß bindet, aber nur an Stellen, an denen
Platon die Gesprächsteilnehmer nicht grundsätzlich über Dichtung sprechen
lässt; er folgt hier einfach dem allgemein üblichen Wortgebrauch.5
Dass das Metrum für Platon noch nicht einmal eine notwendige Bedin-
gung von Dichtung ist, zeigt sich an den folgenden Passagen. Als Sokrates im
2. und 3. Buch der Politeia beginnt, die vorhandene Literatur im Hinblick auf
deren Tauglichkeit zur Erziehung im Idealstaat zu sichten, nennt er die in Fra-
ge kommenden Texte nicht nur Dichtung (poíhsiß), sondern auch Geschichten
(mûqoß) oder Reden (lógoß) und die Autoren entsprechend Dichter und Ge-
schichtenerzähler (muqológoß, muqopoióß, logopoióß) und behandelt sie

2 Zum Mimesis-Begriff bei Platon vgl. bes. Jonathan Tate: ‚Imitation‘ in Plato’s Republic, in:
Classical Quarterly 22 (1928), S. 16-23; ders.: Plato and ‚Imitation‘, in: Classical Quarterly
26 (1932), S. 161-169; Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike, Bern 1954, S. 15-68; Gö-
ran Sörbom: Mimesis and Art – Studies in the Origin and Early Development of an Aesthetic
Vocabulary, Uppsala 1966, S. 99-175; Ulrike Zimbrich: Mimesis bei Platon – Untersuchun-
gen zu Wortgebrauch, Theorie der dichterischen Darstellung und zur dialogischen Gestal-
tung bis zur Politeia, Frankfurt a.M. 1984; Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der grie-
chischen Antike, in: Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenscha-
pen, Afd. Letterkunde, N.R. 153 (1993), S. 43-65; und nun vor allem Stephen Halliwell: The
Aesthetics of Mimesis, Princeton u. Oxford 2002, bes. S. 37-147.
3 R. 603 c5-c10: Die Dichtung (mimhtikë) stellt Handlungen (práceiß) dar und das Glück und
Unglück sowie die Lust und Unlust, die sich aus den Handlungen ergeben. Dasselbe ist ge-
sagt in R. 392-403 passim (vgl. bes. 399 a5-c4), hier ist als Gegenstand auch häufiger der
Charakter (Êqoß) genannt. Lg. 668 a6-a7: Die gesamte Musik inkl. Dichtung ist darstellend
(mimhtikë); Lg. 655 d5, 798 d7-e3: Chorgesänge und Musik sind Darstellung von guten und
schlechten Charakteren (mimëmata trópwn, mimëmata beltiónwn kai xeirónwn
˜nqrópwn); Lg. 812 b9-c8: Musik als Darstellung von seelischen Zuständen (páqh).
4 Phd. 61 b4: Dichter müssen im Unterschied zu Philosophen Geschichten (mûqoi), keine
rationalen Argumentationen (lógoi) hervorbringen. R. 377 d4-d6: Die Dichter fügen er-
fundene Geschichten zusammen (múqouß yeudeîß suntiqénteß). Zur Fiktivität der Dichtung
vgl. unten S. 34ff.
5 Vgl. z.B. Grg. 502 c5-c8, Smp. 205 b7-c8, Phdr. 258 d10, R. 387 b3-b4, Ly. 204 d3-d5.
34 Stefan Büttner

gleichberechtigt. Während der Gebrauch von poíhsiß im Zusammenhang mit


Texten bei Platon (fast)6 immer Dichtung im Sinne von metrisch geformten
Texten bezeichnet, ist die Verwendung der Termini mûqoß, lógoß und ihrer
Derivate flexibel; sie können bei Platon Texte mit und ohne Metrum meinen.7
In der Politeia ist mit muqológoß in der Regel zwar einer der bekannten
Dichter gemeint. Aber als Sokrates betont, dass ein Gott nur dargestellt werden
darf als jemand, der gut und gerecht handelt, hält er fest, dass niemand Ge-
genteiliges hören oder sagen darf, weder Jung noch Alt, „weder jemand, der
mit Metrum, noch jemand, der ohne Metrum Geschichten erzählt.“8 Dieser
prinzipiellen Entkoppelung der untersuchten Texte vom Versmaß entspricht
wohl auch die mehrfach auftretende, gedoppelte Formulierung „Dichter und
Geschichtenerzähler“, wenn die untersuchten Autoren zusammenfassend ge-
nannt werden.9 Dass die Dichter im Vordergrund stehen, liegt an ihrer beherr-
schenden kulturellen Stellung in Athen und ganz Griechenland.
Der Befund der Politeia bestätigt sich auch in Platons zweitem Staatsent-
wurf. Als der Athener über den Grammatikunterricht spricht und darüber,
welche Texte dort zur Verfügung stehen, teilt er sie zunächst in die Texte ein,
die (zur Lyra) gesungen werden und diejenigen, die nicht gesungen werden.
Letztere „Lehrinhalte der Dichter“ (maqëmata poihtôn) seien wiederum zu
unterteilen in diejenigen, die mit metrischen, und diejenigen, die ohne metri-
sche Unterteilungen formuliert sind.10 Hier wird also sogar der Terminus poih-
tëß für einen – man kommt wohl nicht umhin zu sagen: literarischen – Text
ohne Metrum gebraucht.11

6 Zu den wenigen Ausnahmen siehe die Diskussion von Lg. 810 b4-c2 und 817 b1-d8 unten.
7 Eine nützliche Zusammenstellung der Bedeutungsnuancen des Wortes mûqoß bei Platon jetzt
bei Markus Janka: Semantik und Kontext: Mythos und Verwandtes im Corpus Platonicum,
in: Markus Janka u. Christoph Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, Darmstadt 2002, S. 20-
43 (wichtig dabei bes. S. 22-35 über die Verwendung des Terminus für die von den Ge-
sprächspartnern vorgetragenen Positionen bzw. Geschichten, also indirekt auch für Platons
Dialoge bzw. Partien derselben).
8 R. 380 c1-c2 (mët’ ™n métrö mëte Áneu métrou muqologoûnta). Genauso R. 390 a1-a2:
Die untersuchten Texte sind in Prosa oder als Dichtung (™n lógö Ç ™n poiësei) verfasst.
9 R. 392 a13-b6: Dichter und Geschichtenerzähler (poihtaì kaì logopoioí) sagen oft das Fal-
sche über die Menschen. Sie sollten das Gegenteil singen und erzählen (Ádein te kaì muqo-
logeîn). R. 394 b9-c1: Eine der drei Darstellungsweisen – Berichten, dramatisches Darstel-
len und die Mischung aus beidem – kommt in jeder Art von Dichtung und Erzählung (poí-
hsiß te kaì muqología) vor. R. 398 a8-b1: Der ‚Allesnachahmer‘ ist aus dem Staat auszu-
weisen, der strengere und weniger dem Lustprinzip frönende Dichter und Erzähler ist hinge-
gen beizubehalten (poihtçß kaì muqológoß). Es ist schwer einzusehen, warum sich Platon
hier mehrfach eines puren Pleonasmus bedienen sollte. Bei dem Nebeneinander von Singen
und Geschichten Erzählen könnte man freilich auch an eine Gegenüberstellung von gesunge-
ner und rezitierter Dichtung denken.
10 Und des Rhythmus und der Harmonie entbehren, wie hinzugefügt wird (Lg. 810 b4-c2).
11 Im Gegensatz dazu nimmt Aristoteles für sich in Anspruch, als erster das Gebiet der Literatur
mit und ohne Metrum als poíhsiß bezeichnet zu haben (Po. 1447 b9).
Literatur und Mimesis bei Platon 35

Auch wenn Platon seine Aussagen über Texte zumeist auf die traditio-
nelle, metrische Dichtung bezieht, sei im Folgenden erlaubt, zur Beschreibung
seiner Ansichten außer auf die Ausdrücke ‚Dichtung‘ und ‚Dichtungstheorie‘
auch auf die Wörter ‚Literatur‘ und ‚Literaturtheorie‘ zurückzugreifen. Da-
durch wird man der über die Dichtung hinausgehenden Dimension von Platons
Aussagen besser gerecht. In diesem Begriff von Literatur ist eine Einschrän-
kung dadurch enthalten, dass Platon als Gegenstände von Literatur Menschen
und Götter sowie ihre Handlungen und Charaktere angibt; dass Literatur einen
Gegenstand hat und welcher das ist, steht für ihn also außer Frage.
Dass Platon in seinen Ausführungen zur Dichtung über die traditionelle
Dichtung hinausschreitet, wird vor allem dann deutlich, wenn er Dialogfiguren
über die eigene Rede oder die eigenen Gespräche reflektieren lässt, also gewis-
sermaßen über sich selbst als Schriftsteller spricht; denn er selbst ist es ja, der
den Figuren das Leben und ihre Reden einhaucht. Im 7. Buch der Nomoi –
kurz nach der Frage, was im Grammatikunterricht gelesen werden soll und
mitten in einer weiteren Diskussion um Dichtung und Musik, die für den Staat
von Nutzen ist – setzt sich der Athener mit den Tragödiendichtern auseinander.
Sie verstünden sich als Autoren, die nicht lächerliche, sondern ernste, hohe
Charaktere darstellten und nennten sich daher ernste Dichter (spoudaîoi poih-
taí). Diese Tragiker bieten sich dann – fiktiv – als Staatsdichter dem gesetzge-
benden Gremium an, das folgende, ebenfalls fiktive Antwort gibt:
Beste Fremdlinge, wir sind selbst Dichter [poihtaí] einer Tragödie, und zwar, so-
weit es geht, der schönsten und besten zugleich: Denn die ganze Staatsverfassung
ist in ihrer Zusammenstellung die Darstellung des schönsten und besten Lebens
[mímësiß toû kallístou kaí ˜rístou bíou], was wir daher die eigentliche, wahrs-
te Tragödie nennen. Dichter seid also ihr, Dichter (poihtaí) sind aber auch wir,
über dieselben Themen, und wir sind für euch Rivalen und Gegenspieler um das
schönste Drama (˜ntagwnistaì toû kallístou drámatoß).12
Schon kurz vorher hatte der Athener das Gespräch der drei Gesetzgeber als
eine Art Dichtung bezeichnet und die Reden und ihre Inhalte als Gradmesser
für gute Schullektüre vorgeschlagen.13 Das geht über eine bloße Analogie in
der Verwendung des Wortes ‚Dichtung‘ weit hinaus. Die Gesprächspartner –
und damit, wie man wohl vermuten darf, auch Platon selbst – halten sich für
Dichter (genauer gesagt, wegen des Gegenstandes ihrer Gespräche, sogar für

12 Lg. 817 b1-b8 (übersetzt durch den Verfasser). Diese Stelle kann als Musterbeispiel der
Selbstaussagen Platons über seine Dialogdichtung gelten. Zur Interpretation der wichtigsten
dieser Stellen siehe Konrad Gaiser: Platone come scrittore filosofico, Neapel 1984; Joachim
Dalfen: Polis und Poiesis, München 1974, S. 313-325.
13 Lg. 811 c6 – 812 a1: Neben den Reden in den Nomoi werden als Vorbild für die Schullektüre
alle Schriften empfohlen, die „mit diesen Reden in Übereinstimmung sind (˜delfà toútwn
tôn lógwn).“ Man geht wohl nicht zu weit, wenn man darunter die Dialoge Platons insge-
samt versteht.
36 Stefan Büttner

tragische Dichter); und zwar deswegen, weil sie gute menschliche Lebenswei-
sen darstellen. Dass diese Lebensweisen eher statisch als Entwicklungstypolo-
gien der Bürger mitsamt deren Rahmenbedingungen in Szene gesetzt werden,
fällt dabei offenbar nicht entscheidend ins Gewicht.14
Deutlich wird dadurch, dass Platon seine Dialoge gemeinsam mit der tra-
ditionellen Dichtung als etwas Einheitliches und Untersuchenswertes versteht,
das sich nicht am formalen Kriterium des Versmaßes festmacht, sondern an
der Darstellung, der Mimesis von Menschen und Göttern. Seine allgemeinen
Aussagen zu dieser Textsorte sind daher mehr eine Literatur- als eine Dich-
tungstheorie. Da der Begriff ‚Mimesis‘ bei dieser für die Antike neuen Ab-
grenzung so wichtig ist, sollen nun dessen wesentlichen Nuancen im Corpus
Platonicum umrissen werden, auch dort, wo sie über die Bezeichnung des rein
Literarischen hinausgehen (Vollständigkeit kann hier nicht angestrebt werden).
Danach soll die Betrachtung wieder auf Mimesis als Bezeichnung von Litera-
tur eingeschränkt (3.) und zuletzt die spezielle und immer wieder zitierte Ver-
wendung des Wortes im 10. Buch der Politeia untersucht werden (4.).

Bild und Mimesis

Wenn man verstehen will, was bei Platon Mimesis allgemein bedeutet, so ist
es empfehlenswert, auch den Begriff des Bildes (eÍdwlon, eœkýn) mit zu be-
rücksichtigen. Denn Mimesis wird in seinen verschiedenen Ausprägungen
immer wieder auch als Erzeugung von (Ab-)Bildern (eœdwlopoiía,
˜peikasía) bezeichnet.15 Im Dialog Sophistes löst die Frage, was ein Bild ist,
eine breite Diskussion über Sein und Nicht-Sein und deren mögliche Ver-
flechtungen aus. Bildhaftigkeit (und damit auch Mimesis) ist dadurch thema-
tisch in einem zentralen Gebiet der platonischen Philosophie positioniert – der
Frage nach den intelligiblen Voraussetzungen der Welt und deren Verflech-
tungen untereinander (sumplokç eœdôn). Als allgemeine Definition für „Bild“
gibt Theaitetos an, dass es etwas Verfertigtes ist, das seinem Vorbild (dem
„Wahren“) ähnlich ist, indem es so beschaffen ist wie dieses, zugleich aber

14 Auch die Politeia wird in dieser statischen Weise als beste Dichtung verstanden, siehe hier in
Abschnitt 3. Dass Platon die Differenz indes klar ist, zeigt sich in Ti. 19 b3-20 c3, wo So-
krates die Schilderung des Staatsentwurfes in der Politeia als schön, aber undynamisch beur-
teilt und von den Gesprächspartnern als Gegengabe erbittet, diesen Staat auch in Aktion zu
zeigen. Kritias will Sokrates den Gefallen tun und der nach ihm benannte Dialog hat mit dem
Kampf von Urathen gegen Atlantis auch genau dieses handlungsforcierende, epische Thema.
15 Am eindeutigsten formuliert ist dies in Sph. 265 b1, wo Mimesis (hier ganz frei von ir-
gendwelchen Konnotationen gebraucht) als „eine bestimmte Art von Hervorbringen, und
zwar die von Bildern“ (mímhsiß poíhsiß tíß ™stin, eÍdýlwn méntoi) definiert wird. Siehe
aber auch R. 599 d3, 601 b9, 605 c3 (für den kritisierten Mimeten), Criti. 107 b5-d5, Lg. 668
b9-c2 (Zusammenrückung von mímhsiß und ˜peikasía).
Literatur und Mimesis bei Platon 37

auch davon verschieden.16 Durch die Nachfrage, ob das Bild als Nicht-Wahres
auch nicht-seiend sei, ergibt sich die Präzisierung, dass ein Bild zwar nicht
wirklich das ist, wovon es ein Bild ist, dass es aber wirklich ein Bild vom Vor-
bild ist, also auch nicht reines Nicht-Sein.17 Anders-Sein als Art des Nicht-
Seins ist also eine notwendige Bedingung von Bildhaftigkeit. Ein Bild, das
sich in nichts von seinem Vorbild unterscheidet, ist in Wirklichkeit kein Bild,
sondern das Vorbild selber.18 „Ähnliches“ wiederum bestimmt sich als etwas,
das etwas Selbes (wie ein Anderes) als Eigenschaft oder Merkmal besitzt.19
Mimesis ist somit, im abstraktesten Sinn, die Bezeichnung für die Herstellung
einer solchen Ähnlichkeit (ein Abstraktum, das Platon, wie das Folgende zei-
gen soll, freilich in sehr verschiedenen Weisen konkretisiert).
Das Besondere an Platons Verwendung des Bild- und Mimesis-Begriffes
ist nun, dass er unter Bild nicht ausschließlich etwas versteht, das in den wahr-
nehmbaren Bereich gehört. So werden im Höhlengleichnis die Gestirne und
die Sonne außerhalb der Höhle auf dem Wasser gespiegelt und diese Reflexio-
nen ausdrücklich Abbilder (eÍdwla) genannt. Im Zusammenspiel mit dem
Liniengleichnis lässt sich das nur so verstehen, dass wir damit etwas vor uns
haben, das zum intelligiblen Teil der Welt gehört, also in den Bereich des nur
Denkbaren, Nicht-Wahrnehmbaren, das zugleich aber in dessen unteren Ab-
schnitt fällt, also in den Teil des Denkbaren, den Platon als dianoetischen dem
noetischen Bereich unterordnet.
Vermutlich sind damit die mathematischen Sachverhalte gemeint, zum
Beispiel die Inhalte von Arithmetik und Geometrie.20 Was das im Einzelnen
bedeuten könnte, mag in den Diskussionen über die Verflechtung der Ideen im
Sophistes und in der zweiten Hypothesis des Parmenides angedeutet sein. Dort
wird unter anderem untersucht, welche Begriffe beim Denken immer schon
vorausgesetzt sind (Einheit, Sein, Identität, Verschiedenheit usw.) und was
diese Begriffe wiederum implizieren; denkbare Gruppierungen dieser Begriffe,
als reine Vielheiten betrachtet, implizieren zum Beispiel bestimmte Vielheit

16 Sph. 240 a7-a8: „eÍdwlon Àn faîmen eÎnai plën ge tò pròs t˜lhqinòn ˜fwmoiwménon
‚teron toioûton“. Zur Ähnlichkeit vgl. auch Lg. 667 c10ff.: Alle abbildenden Künste sind
Hervorbringung von Ähnlichem (tôn ¦moíwn ™rgasíä), Sph. 266 d7: Die Abbildungskunst
ist das Erzeugen von Ähnlichem (tò ¦moiwmátwn génnhma), R. 377 e1-e3: Ziel des Abbil-
dens ist es, „†moia“ zu erstellen, und 395 c5: das Nachahmen ist ein „¦moioûn“ (hier: ein
‚mimeîsqai‘, bei dem man sich einem anderen in Rede und Bewegung angleicht).
17 Sph. 240 b11-b13: „o¬k Òn Ára o¬k Óntwß ™stìn Óntwß ºn légomen eœkóna“.
18 Das stellt Sokrates in Cra. 432 b5-d3 klar.
19 So Parmenides im gleichnamigen Dialog innerhalb der Diskussion über die Voraussetzungen
des Denkens und die Relation dieser Voraussetzungen zueinander, Prm. 139 e8: „tò ta¬tón
pou peponqòß †moion“, vgl. auch Prm. 140 a7-b1.
20 Vgl. die Auflösung des Höhlengleichnisses nach der Explikation der mathematischen Wis-
senschaften in R. 532 b6-d1 und Konrad Gaiser: Platons Zusammenschau der mathe-
matischen Wissenschaften, in: Antike und Abendland 32 (1986), S. 95.
38 Stefan Büttner

wie das Zweifache und das Dreifache, das Geradmalige und das Ungeradma-
lige und somit überhaupt alle natürlichen Zahlen.
Auf dieses – hier nicht näher ausführbare – Abhängigkeitsverhältnis der
Zahlen von höheren Denkvoraussetzungen dürfte auch Aristoteles’ Aussage
zielen, nach Platons Lehre entstünden die Ideen bzw. die Zahlen durch Teil-
habe am Einen, wobei Teilhabe (méqeciß) und Mimesis (mímhsiß) bedeu-
tungsgleich seien.21 Um der Deutlichkeit willen sei ein einfaches Beispiel
gewählt: Der Zahl 4 kommt zum Beispiel das Doppeltsein zu. Das Doppeltsein
meint etwas wie „Eine Einheit sein, die aus der Zusammensetzung einer
bestimmten Einheit mit sich selbst entsteht“. Sofern die 4 eine Zusammenset-
zung der 2 mit sich selbst ist, erfüllt sie diese Bedingung, hat als vom Doppelt-
sein Verschiedenes das Doppeltsein doch an sich. Sie ist aber nicht das Dop-
peltsein selbst, da sie nicht immer und nur doppelt, sondern auch die Hälfte
von 8, ein Viertel von 16, eine Zahl usw. ist. Die Zahl 4 ist zugleich nur eine
Instanz des Doppeltseins, das Bedingung der Möglichkeit alles Doppelten –
also beispielsweise auch der Zahlen 2, 6, 8, 10 usw. ist. Das Doppeltsein als
Bedingung alles Doppelten ist zugleich auch dessen Hervorbringer. Diese
sachliche Genealogie berechtigt Platon dazu zu sagen, die 4 sei ein Abbild des
Doppeltseins.22
Man kann sich natürlich fragen, was diese mathematischen Beispiele mit
unserer Frage nach Dichtung und Literatur zu tun haben. Zum einen wird da-
durch deutlicher, was der Mimesis-Begriff bei Platon allgemein, in allen sei-
nen Anwendungen, bedeutet, zum anderen wird die Stoßrichtung klarer, von
der her es zu den verschiedenen Bewertungen der Mimesis kommt. Während
bei den mathematischen Inhalten Ausgangs- und Endpunkte im Denkbaren
liegen, gibt es auch Mimesis von Intelligiblem im Wahrnehmbaren – etwa die
Darstellung von Charakteren in den Handlungen der Dichtung – sowie die
Nachahmung von Wahrnehmbarem in Wahrnehmbarem, zum Beispiel das
möglichst naturgetreue Abbild eines Körpers auf der Leinwand oder auf einer
Photographie, oder eben das in Politeia 10 gebrandmarkte Herumrennen mit
einem Spiegel.
Je mehr Vor- bzw. Abbild in das Wahrnehmbare rücken, desto höher ist,
so Platon, die Gefahr, dass erstens etwas abgebildet wird, das nicht von Inte-
resse und Gewinn für den Rezipienten ist (Warum soll ich das Spiegelbild
eines Körpers anschauen, wenn ich den Körper auch direkt sehen kann? Gibt
es nicht interessantere Aspekte an diesem Objekt als seine Form und Farbe?),
dass zweitens die Möglichkeit zu einer falschen Abbildung besteht (die etwa
bei der 4 als Abbild des Doppeltseins ganz ausgeschlossen ist). Bevor wir zu

21 Arist. Metaph. 987 b10-b13 und b20-b22.


22 Als beliebig herausgegriffene Beispiele für den Terminus ‚Mimesis‘ als Abhängigkeitsver-
hältnis in der Mathematik in der Nachfolge Platons s. Procl. in Euc. 4,24-5,2 und Dam. Pr.
§195 (II,76,8 ed. Ruelle).
Literatur und Mimesis bei Platon 39

den Bildern, die im Bereich des Wahrnehmbaren liegen, und damit auch zur
Literatur kommen, seien neben den mathematischen Bildern kurz noch zwei
andere von Platon erwähnte Arten von Mimesis genannt, bei denen das Pro-
dukt im Intelligiblen verbleibt:
Gegen Ende seines Exkurses über die musische Erziehung in der Politeia
spricht Sokrates davon, dass man die Abbilder (eœkóneß) der Ideen der Beson-
nenheit, der Tapferkeit, des Freimutes usw. im Kleinen wie im Großen nicht
geringschätzen dürfe. Als Beispiele solcher Abbilder nennt er dann unter ande-
rem schöne Charakterzüge der Seele (™n tñ yuxñ kalà Ëqh).23 Ganz ähnlich
wird im 6. Buch der Politeia dem Philosophen und Staatslenker die Fähigkeit
zugesprochen, sowohl die Charaktere der Bürger (˜nqrýpwn Ëqh) als auch
seinen eigenen Charakter nach dem Vorbild der Ideen zu bilden; letzteres wird
mit der Formulierung „Nachahmen und möglichst ähnlich machen“ (mimeîsqai
te kaì †ti málista ˜fomoioûsqai) ausgedrückt.24 Bezeichnenderweise wird
diese politische und pädagogische Aufgabe des Regenten „schönste Zeich-
nung“ (kallísth grafë) genannt und sogar beschrieben, wie der Philosoph,
indem er bald auf die Ideen der Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. schaut, sich
bald den empirisch antreffbaren Bürgern zuwendet, versucht, mit Hilfe seiner
intelligiblen Palette den Menschen die besten Charakterzüge einzumalen.25
Neben dieser mikrokosmischen Mimesis, die eine gute Einzelseele zum
Ergebnis hat, führt Platon im Timaios das makrokosmische Pendant an, die
Erzeugung der Welt durch den demiurgischen Schöpfergott, den Hervorbringer
und Vater des Alls (poihtçß kaì patçr toû pantòß). Die Welt wird dabei als
Abbild (eœkýn) des Intelligiblen bezeichnet.26 Der prominente und leitende
Teil der Welt ist aber die nicht wahrnehmbare (˜óratoß) Weltseele, deren
Erzeugung aus drei der schon genannten Denkprinzipien (Sein, Identität, Ver-
schiedenheit) abgeleitet wird.27 Wie der Weltschöpfer die Weltseele und die
dazugehörigen Körper schafft, so erzeugen die Dichter, wenn sie kreativ und
nicht bloß oberflächlich schreiben, ihre Charaktere und die dazugehörigen
(wahrnehmbaren) Handlungen.28 Diese Produkte von Mimesis, die im wahr-
nehmbaren Bereich liegen, sollen im Folgenden betrachtet werden.

23 R. 402 b9-d5, in 401 a8 fällt dafür auch der Ausdruck mimëmata.


24 R. 500 c5.
25 R. 500 d10 – 501 c3.
26 Ti. 28 c2-29 b2.
27 Ti. 34 b10-37 c5.
28 Aus Smp. 209 a1-e4 kann man Vergleichbares als Platons Meinung erschließen. Dort werden
die Schriftsteller gemeinsam mit anderen „Demiurgen“ zu denjenigen gerechnet, die viele
schöne Werke hervorbringen, die ihre Rezipienten mit Gerechtigkeit und Besonnenheit füllen
können. Sie werden „erfinderisch“ (e©retikoí) genannt, was man mit „kreativ“ wiedergeben
kann, solange man darunter keine autonome Art von geistiger Schöpfung versteht, wie sie
etwa das 18. Jahrhundert für den Künstler anzunehmen beginnt.
40 Stefan Büttner

Einordnung der Dichtung als Mimesis

Die allgemeinste Verwendung des Terminus ‚Mimesis‘ für das Hervorbringen


von Bildhaftem im wahrnehmbaren Bereich finden wir im Sophistes. Hier wird
jede Art von Hervorbringen in eigentliches Hervorbringen – dem Bauen eines
Hauses, der Erzeugung von Obst und Gemüse usw. – und in das Hervorbrin-
gen von Bildern (eœdwlopoiikë, mímhsiß) unterteilt. Bei der Abbildungskunst
gibt es keinerlei Einschränkung des Mediums, entsprechend werden als Pro-
dukte Statuen und Gemälde, aber auch jede Art von nachahmender Bewegung,
Handlung und Rede genannt (da dort der Sophist vom Philosophen unterschie-
den werden soll, sind Handlung und Rede auch nicht auf dichterische Darstel-
lung eingeschränkt).29
Auf Künstler im modernen Sinn und Artefaktehersteller bezogen ist der
Begriff ‚Mimesis‘, ähnlich wie im Sophistes, auch im 2. und 3. Buch der Poli-
teia, wo unter die Mimeten (mimhtaí) – ohne negative Konnotation – Maler,
Musiker, Dichter, Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Schmuckhersteller, Sti-
cker, Architekten und andere gezählt werden können.30 Eine Unterart dieser
Abbildungskunst erhält, wieder in beiden Dialogen, ebenfalls den Namen
‚Mimesis‘. Sie wird als jegliches Nachahmen bestimmt, das als Medium den
eigenen Körper zur Hilfe nimmt; im Sonderfall der Dichtung ist damit die
Darstellungsweise des Dramas gemeint.31
Dichtung und Literatur allgemein, nicht nur die dramatische, sind nun Ab-
bildung im Medium der Sprache. Die Sprache allein ist aber kein Kriterium,
das zur Bestimmung hinreicht. Hier sorgen erst die zu Beginn genannten spezi-
fischen Gegenstände der Literatur (Charakter, Handlung usw.) für Klarheit.
Diese Texte können zudem von Rhythmus, Melodie und Tanz begleitet sein.32
Von Mimesis kann Platon hier wegen der Korrelation von Charakter und
Handlung sprechen.33 So ist diese einzelne gerechte Handlung – wenn man
etwa, um ein Beispiel aus dem 1. Buch der Politeia aufzugreifen, einem Be-
kannten ein von ihm hinterlegtes Schwert auf seine Aufforderung hin zurück-

29 Sph. 235 c8-236 c8, 267 a1-c7. Einen ähnlich weiten Sinn umfasst Mimesis in Cra. 423 al-
425 b4, wo bei der Suche nach der Bestimmung, was für eine Art von Mimesis das Benennen
durch Worte ist, symbolische Gesten, Klang- und Bewegungsimitationen, Musik, Malerei
und Redekunst als Mimesis bezeichnet werden.
30 R. 373 b5-c1, 401 a1-a9.
31 Sph. 267 a7-a8, vgl. R. 393 c5-c6, 397 b1, Cra. 423 c11-d10.
32 Unterscheidungen hierzu finden sich besonders in R. 398 b7-d9 sowie in der Untersuchung
der bezüglich der Mittel komplexesten musischen Darstellung, des Chores als vom Tanz und
Instrumenten begleiteten Liedes, im 2. Buch der Nomoi (653 c7-673 d9, bes. 653 e3-654 b5,
669 b5-670 a2, 672 e1-673 b1).
33 Besonders deutlich wird dies in R. 400 c7-e4: Aus dem Charakter (Êqoß), so Sokrates, folgen
erst die sprachlichen Äußerungen, von denen wiederum die Wahl von Rhythmus (ÿuqmóß),
Melodie (¡rmonía) und Körperhaltung (sxêma), etwa beim Tanz, abhängig ist.
Literatur und Mimesis bei Platon 41

gibt – zwar eine Ausdrucksmöglichkeit dieses gerechten Charakters des So-


krates, aber nicht die einzige (wie die 4 eine, aber nicht die einzige Instanz des
Doppeltseins ist). Unter anderen Umständen, zum Beispiel bei einem wahnsin-
nig gewordenen Pfandgeber, wäre dieselbe Handlung wegen der Gefahr für die
Allgemeinheit sogar ungerecht (wie die 4 in Hinsicht auf die 2 zwar ein Dop-
peltes, in Hinsicht auf die 8 zugleich aber auch ein Halbes ist). Die Mimesis
des Dichters besteht also nicht zum Mindesten in dem Wissen des Dichters
darum, wie dieser bestimmte Charakter in dieser speziellen Situation agieren
dürfte. Inwieweit Mimesis zur Zeit Platons bereits ein kunsttheoretischer Aus-
druck war oder es durch ihn erst wurde, ist nicht völlig klar. Dass das Wort für
künstlerische Betätigungen und Produkte gebräuchlich war, ist hingegen deut-
lich belegbar.34
Bei seiner Beschreibung, was Literatur und Kunst überhaupt leisten soll,
gibt Platon auch Maßstäbe an die Hand, die das Erzeugen von Bildern vom
eigentlichen Hervorbringen unterscheiden. Denn die Produkte beider Künste
können identisch sein – ein Haus kann gebaut sein, um es als Schutz vor Wind
und Regen zu nutzen, es kann zugleich aber auch ein Repräsentationsobjekt
sein, zum Beispiel um den Einfluss einer Familie, eines Staatsoberhauptes oder
einer Religion deutlich zu machen.
Ziel der musischen Künste ist es nun, nach Platon, die Menschen zur Liebe
zum Schönen, Guten und Gerechten zu führen, und zwar dadurch, dass schon
die jungen Menschen die Instanzen des Schönen (das heißt vor allem der ver-
schiedenen seelischen Tugenden) immer wieder als schön erkennen und sehr
genau bemerken (gnwrízein, ¤cútata aœsqánesqai),35 um für die spätere,
rationale Begründung ihres (Vor-)Urteils vorbereitet zu sein. Dabei fordert
Platon nicht nur, in der Kunst die Darstellung verschiedenster guter Charaktere
in den Vordergrund zu stellen, sondern sogar, Häuser und Geräte aller Art
(primär Produkte eigentlichen Hervorbringens) so zu gestalten, dass ihre
Wohlgeformtheit gleichzeitig als ein Verweis auf das Schöne fungieren kann.36
Allgemein formuliert liegt eigentliches Hervorbringen also dann vor, wenn
jemand etwas herstellt oder tut um dessen selbst willen, dagegen abbildendes
Hervorbringen dann, wenn jemand etwas herstellt oder tut um der Erkennbar-
keit der Ähnlichkeit des Hergestellten oder Getanen mit etwas Anderem wil-

34 Lg. 668 b9-c3: „Dies dürfte bei der musischen Kunst gewiss jeder zugeben, dass alle ihre
Erzeugnisse (poiëmata) Nachahmung und Abbildung (mimhsíß te kaì ˜peikasía) sind.
Würden sich darin nicht alle Dichter, Zuhörer und Schauspieler einig sein?“ – „Ja, sehr.“ –
Zu den Bedeutungen vom Wort ‚Mimesis‘ (und verwandten Ausdrücken) vor Platon vgl.
Koller: Mimesis (Anm. 2); Sörbom: Mimesis and Art (Anm. 2), S. 41-77; Gerald F. Else:
‚Imitation‘ in the Fifth Century, in: Classical Philology 53 (1958), S. 73-90; Halliwell:
Aesthetics (Anm. 2), S. 15-22.
35 R. 401 e3, 402 c5.
36 R. 401 a1-d3.
42 Stefan Büttner

len. Ein Abbild ist demnach immer ein Abbild von etwas für jemanden – und
sei es nur für den Abbildenden selbst.37
Denkt man diesen Gedanken weiter, so müsste Platon zwischen potentiel-
len Bildern – etwa der Spiegelung der Landschaft in einem einsamen Waldsee,
die von niemandem bemerkt wird – und aktualen Bildern unterscheiden –
wenn etwa ein Wanderer an diesen Waldsee gelangt. Im Grunde kann dann
jeder Gegenstand zum Bild werden. So ist ein von einem Obstbauern (eigent-
lich) produzierter Apfel zunächst kein Bild. Er kann aber, wenn seine Ähnlich-
keit zum Beispiel zur Erdkugel bemerkt wird, zu einem Bild für die Erde wer-
den (in dieser Hinsicht dürfte Platon also auch keine Probleme mit dem Kunst-
charakter von Ready-mades haben).
An dieser Unterscheidung von potentiellem und aktualem Bild wird be-
reits dasjenige Kriterium deutlich, das für Platons Bewertung von Literatur und
Mimesis von entscheidender Bedeutung ist: Ein Bild hat für ihn den inhärenten
Auftrag, Erkenntnisse des Bildners an den Rezipienten zu vermitteln. Mit
Blick auf einen Staatsentwurf und die charakterliche Formung der Bürger
ergeben sich aus diesem Bildbegriff mindestens zwei für eine Bewertung
wichtige Fragestellungen: Was soll dargestellt werden (Wahrnehmbares, Tri-
viales, Intelligibles)? Und: Wie wird es richtig dargestellt?
Mit diesen Fragen geht ein weiteres Bewertungskriterium einher, das für
Platon nicht von den Fragen nach dem Erkenntnisgehalt der Literatur getrennt
werden kann. Für ihn ist jede Form des Erkennens – angefangen bei dem
Wahrnehmen von Qualitäten wie ‚gelb‘ oder ‚rund‘ über die Gegenstands-
wahrnehmung und das imaginierende Vorstellen bis hin zum Urteilen und
Denken – mit einer je spezifischen Lust und Unlust verbunden; umgekehrt gibt
es für ihn keinen Affekt, der nicht das Resultat eines komplexen Zusammen-
spieles von Erkenntnisleistungen ist.38
Das aber bedeutet, dass jede Darstellung über ihren jeweiligen Erkenntnis-
charakter zugleich auch emotionale Komponenten mittransportiert, und das
wiederum heißt, dass es demgemäß im Grunde keine künstlerische Darstellung
gibt, die nicht auch eine (wie immer geartete) ethische Relevanz hat, nach der
Platon dann auch fragt.39

37 Die Intentionalität des platonischen Bildbegriffes wird auch im Vergleich der bildenden
Kunst mit der Musik in Lg. 668 b8 – 669 b8 deutlich. Ein guter Beurteiler von Kunst, so der
Athener dort, müsse über drei Kriterien verfügen: er muss wissen, wovon das Bild ein Abbild
ist, ob es richtig abgebildet und ob es einen (ethisch) guten Inhalt hat. Der erste Punkt wird
umschrieben als Kenntnis darüber, „was das Kunstwerk intendiert“ (tí pote boúletai).
38 Zu diesen Aspekten der Psychologie Platons vgl. ausführlich Verf.: Literaturtheorie (Anm.
1), S. 18-130.
39 Besonders deutlich macht dies der Athener in Lg. 653 b1-c4 klar: Die Erziehung (paideía) ist
eine lebenslange Aufgabe der Kultivierung von Lust und Unlust hin zur Lust am Gerechten,
dadurch, dass man die Erkenntnisfähigkeit, den „Blick“ für richtige und falsche Verhaltens-
weisen schärft; allerdings selten und erst spät durch Belehrung, in der Regel vielmehr durch
Literatur und Mimesis bei Platon 43

Ein völlig autonomes Feld der Kunst kann es für Platon also nicht geben –
allerdings nicht aufgrund eines sinnesfeindlichen, ethischen Rigorismus, son-
dern aufgrund von erkenntnistheoretischen und psychologischen Erwägungen,
die bei der Betrachtung der Platonischen Kunsttheorie gebührend in Betracht
gezogen werden müssen, um sie angemessen würdigen zu können.
Dagegen wird Platons Mimesis-Begriff nur allzu häufig auf seine Ver-
wendung im 10. Buch der Politeia eingeengt, das heißt auf eine Mimesis, die
Vorbild und Abbild im wahrnehmbaren Bereich sucht. Diese Art von Mimesis
macht im Corpus Platonicum, wie vielleicht schon deutlich werden konnte,
aber nur einen kleinen Teil des Spektrums aus, für das Platon den Terminus
‚Mimesis‘ verwendet. Dass die Interpretation, Platon verwerfe mit seinen Be-
trachtungen im Schlussbuch seines Staatsentwurfes jede nur mögliche Kunst,
zudem bei genauer Betrachtung des Textes keinen Bestand hat, soll der nächs-
te Abschnitt (4.) zeigen. Zuvor sollen jedoch einige Beispiele, gerade auch aus
der Politeia, angeführt werden, in denen Platon auf das positive Potential hin-
weist, das Kunst und Literatur für das kulturelle Leben und sogar für das Le-
ben in (s)einem Idealstaat haben können.
Die Bücher 2 und 3 der Politeia beschäftigen sich ja deswegen so intensiv
mit der musischen Erziehung und damit mit Literatur und Dichtung,40 weil sie
das ethische Fundament bildet, auf dem das ganze Staatsleben und auch die
Fortbildung der Wächter zu den Philosophenherrschern basiert. Die musische
Erziehung ist – wenn sie gemäß Platons Maßstäben gut eingerichtet ist – für
die Staatenlenker sogar Garant der bestehenden Ordnung, ein ‚Bollwerk‘ (fu-
laktërion) gegen Verschlechterungen.41 Schon von daher wäre eine Aus-
schließung jeder Kunst aus dem Staat, auch als Gedankenexperiment, ein ab-
surder Gedanke. In Übereinstimmung damit wird auch der Einsatz von Kunst
im Staatsentwurf der Nomoi geregelt (vor allem 2. und 7. Buch). Noch stärker
als in der Politeia betont Platon hier, dass die Bürger jeden Alters auf die rich-
tigen Gesänge und Tänze (die mehrfach als Mimesis bezeichnet werden) zur
Wahrung einer guten Seelenverfassung angewiesen sind, und schlägt daher
Chöre für verschiedene Altersstufen vor. Sie sollen sich beständig im Singen

Kunst, bei der man unvermerkt, durch das sympathetische Miterleben des Schicksals anderer,
den guten Charakteren anverwandelt werden soll (vgl. auch R. 395 b8-d3, 401 b1-d3).
40 Die musischen Künste bedeuten immer zugleich auch Dichtung, da nach Platon die den
Charakter darstellende Rede das Primat vor den anderen Mitteln haben soll (R. 400 c7-e4,
siehe Anm. 33), er verbittet sich sogar pure Instrumentalmusik (Lg. 669 b5-670 a3).
41 Vgl. R. 423 e4-425 a7, wo die grundlegende Bedeutung der musischen Erziehung noch
einmal zusammengefasst wird. Ebenso R. 522 a4-b1 im Rückgriff auf 401 d4-402 a6: Die
musische Bildung formt durch Gewöhnung eine Wohlgestimmtheit der Seele, die dadurch
dem Guten und Richtigen befreundet ist, das sie erst später mit der Vernunft als solche er-
kennen kann. Dass nicht die Anwesenheit von Kunst überhaupt, sondern die Veränderung
von guter zu schlechter Kunst zu einem Verfall der betroffenen Gesellschaften führt, betont
Platon immer wieder (R. 424 b3-c7, Lg. 656 d1-657 c2, 700 a3-701 d5, 797 a7-800 b3).
44 Stefan Büttner

von Liedern üben. Als Beispiel dieser ausführlichen Würdigung der Rolle der
Musik für den Staat sei nur ein kurzer Ausschnitt zitiert:42
ATHENER: Stimmen wir nun über das vorhin Gesagte überein?
KLEINIAS: Worüber?
ATHENER: Daß es nötig ist, daß jeder, Erwachsener und Kind, Freier und Sklave,
Frau und Mann und überhaupt die ganze Stadt nicht aufhören, der ganzen Stadt
Gesänge über das vorzutragen, was wir eben durchgegangen sind,43 und zwar so,
daß es sich immer wieder wandelt und große Vielfalt ermöglicht, so daß den Sän-
gern eine Unersättlichkeit nach und Lust an den Hymnen entsteht.
KLEINIAS: Wie könnte man nicht zugestehen, daß dies so gemacht werden muß?44
Auch wenn Platons Argumentationen in der Politeia von einem kritischen Im-
petus getragen sind und nur selten ein lobendes Wort über Homer und andere
traditionelle Dichter verlieren,45 so stellt Platon doch ein Gegenmodell von
guter Literatur vor. Wie wir an R. 500f. gesehen haben, vergleicht Platon den
Philosophenherrscher mit einem Maler, der sich bei seiner „schönsten Zeich-
nung“ nach dem richtet, was Ideen wie Gerechtigkeit oder Besonnenheit aus-
macht,46 und die Seelen der Menschen und den Staat möglichst gut einrichtet.
Diese Art von Mimesis wird auch schon im 5. Buch der Politeia themati-
siert. Glaukon fährt dort dem Sokrates in die Parade und fragt ihn, ob die ge-
rechten Menschen und der gute Staat, den Sokrates entworfen hat, überhaupt
Wirklichkeit werden könnten. Sokrates wehrt diesen Einwurf ab, indem er
sagt, die Suche nach einem völlig gerechten Menschen (˜nçr ¦ teléwß
díkaioß) – und wie er beschaffen sein dürfte, wenn es ihn gebe (oˆoß Àn eÍh
genómenoß) – sei die Suche nach einem an der Gerechtigkeit selbst orientierten
Ideal, die mit dem Ziel stattfinde zu prüfen, ob dieser gerechte Mensch glück-
lich oder unglücklich sei. Ob es diesen Menschen empirisch nachweisbar je
geben werde, sei für die Richtigkeit der Prüfung zunächst einmal gar nicht
relevant. Sokrates vergleicht sich und seine Schilderung vom guten Menschen
und Staat mit einem Maler, der den schönsten Menschen malt (parádeigma
oˆon Àn eÍh) und damit ein guter Maler bleibt, auch wenn er nicht zeigen kann,
dass ein solcher Mensch existiert.

42 Zur Diskussion der Musik in den Nomoi siehe vor allem Lg. 652 b1-673 d9, 796 e4-802 e11,
809 e2-817 e4. Eine ausführliche Würdigung von Platons Äußerungen zu Musik und Dich-
tung in den Nomoi findet sich bei Helene Harth: Dichtung und Arete – Untersuchungen zur
Bedeutung der musischen Erziehung bei Plato, Frankfurt a.M. 1967, S. 142-209.
43 Nämlich, dass der Gute glücklich, der Schlechte unglücklich ist.
44 Lg. 665 b10-c9.
45 Selbst in der Politeia gibt es aber affirmative Urteile: R. 383 a7-a8, 389 e4-e11, 390 d1-d6.
Vor dieser Passage siehe 329 b6-c5, 331 a3-a10, 363 a7-e4, danach 404 b10-c9, 466 c2-c3,
468 c10-e3, 468 e8 - 469 a3, 501 b5-b7.
46 Das meint keine irrationale ‚Schau der Ideen‘, sondern bedeutet z.B., dass er über die Ver-
mögen der Seele, die Arten des menschlichen Erkennens, Fühlens und Wollens genaue Aus-
kunft geben und diese Erkenntnisse erzieherisch anwenden können muss.
Literatur und Mimesis bei Platon 45

Sokrates betont sogar, dass man durch künstlerische Mittel, hier die Spra-
che (tþ logþ), den Kern der Sache (˜lëqeia) noch viel besser treffen könne
als durch die Tat (tþ Érgö), bei der empirische Hindernisse im Weg stehen.
Die Dialogpartner haben also mit dem Mittel der Rede einen Menschen bzw.
einen Staat dargestellt, wie es ihn empirisch gar nicht gibt. Wie der Philo-
sophenherrscher waren sie mimetisch tätig, mit Orientierung an den Ideen der
Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. Da sie aber das abbildende Mittel der Spra-
che statt der eigentlichen Handlung verwenden, bringen sie keinen Menschen
und keinen Staat, sondern eine sprachliche Darstellung derselben hervor, das
heißt, nach dem Platonischen Verständnis von Dichtung und Literatur, dass sie
dichterisch tätig sind.47 Noch viel mehr gilt das für Platon selbst, der diese
Dialogfiguren über ihr eigenes Gespräch urteilen lässt. Schon in der Politeia,
nicht erst in den Nomoi, zeigt sich Platon also davon überzeugt, der bessere
Dichter zu sein. Er erfüllt seiner Ansicht nach seine eigenen Kriterien am bes-
ten, da er sich bei der Mimesis am intelligiblen Vorbild orientiert und dies im
Wahrnehmbaren angemessen darstellt.
Es wird hier mehr als deutlich, dass Platon nicht nur eine Mimesis kennt,
die sich nach bereits empirisch Vorhandenem richtet, sondern auch eine, die
Menschen darstellen kann, die es nicht nur nicht gibt, sondern die sogar nur
mit Mühe realisierbar sind. Ob bei dem Vergleich auf der Ebene des Malers
der Mensch mit dem schönsten Körper gemeint ist oder eine subtilere Schön-
heit, ist für die Deutung auf der Ebene der Unterredenden gleichgültig; hier
sind in jedem Fall die schönsten Charaktere gemeint.
Besonders interessant ist die Art und Weise, wie Sokrates das Produkt um-
schreibt – Ziel der Darstellung ist der gerechteste bzw. schönste Mensch, „wie
beschaffen er sein könnte.“ Dieselbe Formulierung finden wir in Kapitel 9 der
Aristotelischen Poetik, um die Literatur von der Geschichtsschreibung abzu-
grenzen. Während der Geschichtsschreiber Geschehenes mit all seinen Kontin-
genzen berichte (tà genómena), schildere der Dichter, was (aus einer be-
stimmten Charakterhaltung heraus)48 geschehen könnte (oˆa Àn génoito).49

47 So spricht Sokrates in R. 501 e4 von einem „Staatsentwurf, den wir mit dem Mittel der Rede
als Geschichte vorgestellt haben“ (muqologoûmen lógö, genauso, mit Verweis auf die Poli-
teia oder alle Dialoge Phdr. 276 e1-e3). Dass Sokrates in R. 378 e7-379 a4, wo Homer und
die anderen dafür gerügt werden, die Götter falsch darzustellen, sagt, er und die Gesprächs-
partner müssten keine eigene angemessene Dichtung vorweisen, da sie „im Moment“ (™n tþ
parónti) keine Dichter seien, sondern Staatsgründer, kann diese Aussage nicht anfechten.
Die Genannten sind keine eigentlichen Staatsgründer, sondern stellen den Staat nur mit der
Rede dar. Hierin („im Moment“) heben sie sich von der traditionellen Dichtung dadurch ab,
dass es ihnen um die „Frage nach einem Kriterium für die Beurteilung der Mythen“ geht. –
Günter Figal: Die Wahrheit und die schöne Täuschung – Zum Verhältnis von Dichtung und
Philosophie im Platonischen Denken, in: Philosophisches Jahrbuch 107 (2000), S. 301-315.
48 Denn: Die Dichtung schildere mit dem, was geschehen könnte, eher ein Allgemeines; das
bestehe aber darin, dass ein ganz bestimmter Charakter in einer bestimmten Situation seinem
46 Stefan Büttner

Noch Plotin steht in der Tradition dieser Formulierung, wenn er schreibt,


der Zeus des Phidias sei nicht nach einem sinnlich-historischen Vorbild ent-
worfen, sondern danach, wie beschaffen Zeus wohl aussehen dürfte (oˆoß Àn
génoito), wenn er wahrnehmbar wäre.50 Das alles zeigt, dass Platon nur zu
genau weiß, dass Kunst kein bloßes Abbild der Realität sein muss, sondern
dass ihr sehr oft Fiktivität zukommt. Das wird in der Politeia auch durch den
Gebrauch des Wortes yeûdoß (Lüge, Trug) und seiner Derivate deutlich. So
werden die Werke der Dichter bald als yeûdoß im Sinne falscher, unangemes-
sener Dichtung bezeichnet, bald bedeutet dasselbe Wort aber auch das Darstel-
len von Erfundenem, Fiktivem.51 Auch bei seinen Gleichnissen ist sich Platon
der Fiktivität bewusst. Einmal lässt er Sokrates sogar ausdrücklich sagen, er
erfinde ein ungewöhnliches Bild, weil es in der Welt nichts gebe, was sich für
einen Vergleich eigne. Diese Art, Vergleiche zu machen, vergleicht er selbst
wiederum mit der Tätigkeit von Malern, die aus verschiedenen Elementen
Fabelwesen zusammenstellen; dabei kommt als Beispiel auch der für solche
Mischwesen sprichwörtliche „Bockhirsch“ (tragélafoß) zu Ehren.52
Zu Beginn des Dialoges Theaitetos wird sogar die kreative Leistung, die
man zum Verfassen dieses Dialoges braucht, selbst thematisiert.53 In der Fik-
tion des Dialoges wird die Unterhaltung des Sokrates mit dem Theaitetos näm-
lich – als ein von Eukleides verfasstes Schriftstück – von einem Diener vorge-
lesen. Im Vorspann berichtet Eukleides einem Freund, Sokrates habe ihm von
diesem Gespräch erzählt und auf Anfrage immer wieder Details nachgetragen.
Aus den Berichten (dihgëseiß) habe er dann ein dramatisches Gespräch (dia-
legómenon) gestaltet. Man kann also auch daher davon ausgehen, dass Platon
um die Fiktivität seiner Dialoge wusste und sie bewusst einsetzte.54

Charakter gemäß agiere (tþ poíö tà poîa Átta sumbaínei légein Ç práttein). Der genaue
Sinn des Kapitelanfanges ist hochumstritten. Vgl. dazu besonders Arbogast Schmitt: Teleo-
logie und Geschichte bei Aristoteles, Oder: Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und
Ende in die Geschichte?, in: Poetik und Hermeneutik 16 (1996), S. 528-563.
49 Arist. Po. 1451 b4-b5.
50 Enn. 5,8,1.
51 Vgl. z.B. R. 377 d8 und e7, 382 c6-d3 mit 389 b7-c7 und 414 b8-415 d2 (edle Lüge). Die
Fiktivität der Dichtung so festzuhalten, hat im Grunde seit Homer Tradition, siehe Miriam
Carlisle: Homeric Fictions: Pseudo-Words in Homer, in: Nine Essays on Homer, ed. by Miri-
am Carlisle and Olga Levaniouk, Lanham 1999, S. 55-91. Vgl. dazu besonders Christopher
Gill: Plato on Falsehood – not Fiction, in: Christopher Gill u. Peter Wiseman (Hg.): Lies and
Fiction in the Ancient World, Exeter 1993, S. 38-87 (vgl. auch Anm. 56).
52 R. 488 a4-a7, vgl. auch R. 515 a4 (das Höhlengleichnis als „unmögliches Bild“, eœkõn
Átopoß).
53 Vgl. die Analyse der Textebenen bei Hartmut Westermann: Die Intention des Dichters und
die Zwecke der Interpreten – Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platoni-
schen Dialogen, Berlin u. New York 2002, S. 26-29.
54 Natürlich ist die Aussage des Eukleides immer noch keine Aussage Platons, wir können aber,
genau wie bei den Aussagen des Sokrates und des Atheners über die Gespräche in der Poli-
Literatur und Mimesis bei Platon 47

Es ist also so, dass Platon nicht nur Fiktivität kennt, sondern auch deren
Nutzen anerkennt. Nur über Fiktion ist die Literatur, die Platon für seinen Staat
wünscht, überhaupt erreichbar. Wie noch genauer zu zeigen ist, grenzt er dem-
gegenüber in Politeia 10 eine nur an der empirischen Realität orientierte Lite-
ratur ab; das heißt aber, dass bei ihm bereits die Aristotelische Trennung von
historischer und dichterischer Wahrheit formuliert ist. Sogar die Wertung der
Historie als unphilosophisch (bei Aristoteles) und der veristischen Kunst als
trivial (bei Platon) hat vergleichbare Züge.
Man hat versucht, aus den oben genannten Formulierungen des Aristoteles
im 9. Kapitel der Poetik eine „Entdeckung der Fiktionalität“ zu erschließen,
die über die hier für Platon erwiesene gewusste und gewollte Fiktivität dadurch
hinausgeht, dass sie die Wahrheit der Dichtung von Bezugsfeldern außerhalb
von ihr abkoppelt, zum Beispiel nicht nur von der historischen und physikali-
schen Wahrheit, sondern auch dergestalt, dass die Werke der Dichter nicht
mehr auf „die von ihnen ausgehende Verhaltenssteuerung hin überprüft“ wer-
den;55 das heißt, auf ethische oder auch metaphysische Implikationen der Dich-
tung. Eine solche Prüfung gibt es bei Platon zweifellos. Die Behauptung, dass
es diesen Bezug bei Aristoteles nicht mehr gibt, sollte man aufgrund der Her-
kunft der Aristotelischen Formulierungen aus dem Platonischen Kontext (und
nicht nur deshalb)56 nochmals überprüfen.

teia und den Nomoi, davon ausgehen, dass Platon hier über seine eigenen Schriften urteilt.
Alles andere würde die Dialoge nicht nur zum Spiel machen – dass sie das in gewisser Weise
sind, wird aus der Schriftkritik im Phaidros deutlich –, sondern zum völlig unverbindlichen
Spiel.
55 Vgl. vor allem die ihr Anliegen präzise beschreibende Arbeit von Wolfgang Rösler: Die
Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), S. 283-319, bes. S. 308-
312 (Zitat S. 308; noch weiter geht Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez – Antike Ästhetik
und Poetik als vergleichende Zeichentheorie, Berlin 1999, S. 128-141, der schon in Gorgias
den Entdecker der Fiktionalität sieht). Meine unterschiedliche Verwendung der Wörter ‚Fik-
tivität‘ und ‚Fiktionalität‘ dient lediglich der Verdeutlichung des Gemeinten an genau dieser
Stelle und lehnt sich nicht an eine spezielle Theorie an. Eine Übersicht über die gängigen
Theorien zur Fiktionalität und einen Versuch eines neuen, integrativen Modells auf sprach-
handlungstheoretischer Basis (mit dem mein Gebrauch der Wörter hier keine Übereinstim-
mung sucht) bietet jetzt Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, Berlin 2001.
56 Aristoteles fordert wie Platon immer wieder (und gerade im 9. Kapitel der Poetik), die Cha-
raktere sollten in der Dichtung ihrer Beschaffenheit gemäß handelnd und so ins Glück oder
Unglück geratend geschildert werden, das heißt, es wird ein Bezug der Handlung zur charak-
terlichen Vorgabe ebenso eingefordert wie die ethische Stimmigkeit des Handlungsverlaufs.
Auch das Unglück der tragischen Person wird als Konsequenz aus deren charakterbedingter
Fehlhandlung angesehen, wobei nur der zu hohe Grad des Unglücks unser Mitleid hervorru-
fe. In der Politik (bes. 7,17 und 8,5-7) spricht sich Aristoteles im Rahmen der Jugenderzie-
hung dafür aus, die jungen Menschen nur einer Auswahl von Literatur und musischen Mitteln
auszusetzen, da sie sonst geschädigt würden; auch ihm muss also zugesprochen werden, dass
er Kunst auf Verhaltenssteuerung prüfen will (auch die Katharsis der Poetik ist – bei aller
Unabgeschlossenheit der Forschungsdiskussion darüber – wahrscheinlich unter diese Katego-
48 Stefan Büttner

Für Platon gilt es festzuhalten, dass selbst die Politeia voll ist von Äuße-
rungen, die der dichterischen Mimesis ihr Recht zugestehen und Dichtung
sogar für staatstragend halten. Platon müht sich zudem, die Möglichkeit einer
die traditionelle Dichtung übertreffenden, weil auf philosophischer Erkenntnis
basierenden Literatur, deren Autor über das Geschriebene rational Rechen-
schaft ablegen kann, nicht nur zu postulieren, sondern diese Literatur als von
ihm bereits geschriebene aufzuweisen.
Es ist also nicht nur der viel zitierte Kampf zwischen Dichtung und Philo-
sophie, der hier geführt wird, sondern auch der zwischen traditioneller und
neuer, philosophischer Dialogdichtung. Bei einem solchen Kampf muss der
Gegner von seinen schlechten Seiten gezeigt werden, wenn man den Zuhörer
aufrütteln will. Genau dies tut Platon im 10. Buch der Politeia, in dem er mit
aller Schärfe gegen Homer und die ihm folgenden Tragiker vorgeht. Dass es
hierbei nicht um eine Verwerfung jeder nur möglichen Dichtung oder gar
Kunst geht, erhellt schon aus der Art von Mimesis, die dort angegriffen wird:
Bei ihr liegen Vorbild und Abbild definitionsgemäß im Bereich des Wahr-
nehmbaren. Die von Platon bis dahin vorgestellten positiven Aspekte einer auf
Intelligibles verweisenden Mimesis sind somit nicht in Frage gestellt. Es lohnt
jedoch, sich mit der Dichtungskritik in Politeia 10 ein wenig genauer zu befas-
sen, da man meines Erachtens auch textimmanent zeigen kann, dass es sich
hier nicht um eine allgemeine Bestimmung von Literatur und daher auch nicht,
wie Nietzsche meinte, um das Werk des „größten Kunstfeindes“ handelt, „den
Europa bisher hervorgebracht hat.“57

rie zu rechnen). Die für die Gegenstände der Literatur in der Poetik verwendete Begrifflich-
keit – Charakter (Êqoß, diánoia), Handlung (prâciß), Affekt (páqoß), Glück (e¬daimonía)
usw. – ist zudem an die ausführlichen Äußerungen der Aristotelischen Ethiken rückgebunden
(vgl. die systematische Aufarbeitung bei Viviana Cessi: Erkennen und Handeln in der Theo-
rie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987). – Autonomie und die Fiktionalität
von Literatur (im von Rösler genannten Sinn) haben somit vermutlich weder in Platons noch
in Aristoteles’ Literaturtheorie einen Platz. Dasselbe gilt für die literarkritischen Äußerungen
Xenophons in Cyr. 2,2, der nach Michael Reichel: Eine übersehene Reaktion auf Platons
Dichterkritik, in: Hans-Christian Günther u. Antonios Rengakos (Hg.): Beiträge zur antiken
Philosophie, Stuttgart 1997, S. 105, der erste antike Autor gewesen sein soll, der fiktionales
Erzählen gerechtfertigt habe. Wie Reichel (ebd. S. 103) richtig anmerkt, sollen nach Xe-
nophon die Geschichten die Zuhörer zum Guten anspornen; also wird auch hier nach der
Verhaltenssteuerung, die durch die Fiktion bewirkt wird, gefragt. Wichtig ist in diesem Zu-
sammenhang die Untersuchung von Gill: Plato on Falsehood (Anm. 51), S. 38-87, der (bes.
S. 81-87) zu bedenken gibt, ob nicht der Begriff der Fiktionalität (bei ihm „fiction“), der auf
der erst in der Neuzeit so strikt formulierten Voraussetzung eines gänzlich partikulären oder
autonomen schreibenden Subjekts beruht, das von externen Bezugssystemen unberührt
bleibt, auf antike Literatur prinzipiell nicht angewendet werden sollte, so dass Platons Hal-
tung sich in dieser Hinsicht nicht vom antiken Denken über Literatur überhaupt unterscheide.
57 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzi-
no Montinari, Berlin 1968, VI.2, S. 420.
Literatur und Mimesis bei Platon 49

Mimesis in Politeia 10

Zu Beginn des 10. Buches der Politeia rekurriert Sokrates ausdrücklich auf die
Dichterkritik der Bücher 2 und 3, die für die Erziehung nur einen Teil der
Dichtung zulässt. Die Einschränkungen bestehen dort in Regeln für die Dar-
stellung der Inhalte, für die Darstellungsweisen und für die Darstellungsmittel.
So sollen die Götter und Dämonen in der Literatur als gute Wesen und Verur-
sacher von Gutem, als wahr und unwandelbar auftreten. Für die Menschen
wird festgesetzt, dass sie, sofern sie gerecht sind, ein glückliches, sofern sie
ungerecht sind, ein unglückliches Geschick haben sollten. Den Beweis für die
Richtigkeit dieser Regeln meint Sokrates zwischen der Betrachtung der Dich-
ter im 3. Buch der Politeia und dem Neueinsatz im 10. Buch erbracht zu ha-
ben. Gerade erst im 9. Buch war der Gerechte auf Basis der inzwischen erar-
beiteten Psychologie mit dem Ungerechten verglichen worden, mit eben die-
sem Ergebnis.
Das motiviert auch den Neueinsatz in Buch 10: Was vorher nur als Ver-
mutung geäußert worden war, kann nun mit größerer Sicherheit behauptet
werden.58 Bei den Darstellungsweisen gilt in Politeia 2 und 3, dass dramati-
sche Darstellungen – wegen ihrer vermuteten direkt anverwandelnden Wir-
kung – auf die Verkörperung guter Charaktere eingegrenzt sind. Ähnlich ist
die Verwendung von zusätzlichen musischen Mittel geregelt: Gemäß den Leh-
ren des Musikwissenschaftlers Damon werden bestimmte Melodien und
Rhythmen ausgewählt, weil sie mit bestimmten seelischen Zuständen wie Mut
und Besonnenheit korreliert sein sollen. Sokrates sagt nun zu Beginn von Buch
10, diese Regelungen zur Dichtkunst seien völlig richtig gewesen. Er fasst die
Bestimmungen in dem Ausspruch zusammen, von der Dichtung dürfe nichts
aufgenommen werden, sofern sie mimetisch sei (†sh mimhtikë). Kurz danach
fordert er zu einer Untersuchung von Mimesis im Allgemeinen auf (mímhsiß
†lwß), da nicht klar genug sei, worum es sich bei ihr eigentlich handele. In der
darauf folgenden Betrachtung bestimmt er Mimesis als etwas, das sich nur
nach Empirischem richte – als würde jemand mit einem Spiegel durch die
Welt laufen –, spricht den wichtigsten Dichtern diese Mimesis zu und lehnt
deren Produkte für den Staat ab. Viele Interpreten halten dies, da für Platon
Dichtung ja immer Mimesis sei, für ein Verdikt jeder nur möglichen Dichtung
und letztlich sogar jeder Kunst.59 So plausibel diese Interpretation auf den
ersten Blick klingen mag, so viele Probleme wirft sie bei genauerer
Betrachtung auf. Folgendes sollte bei der Deutung berücksichtigt werden:

58 Vgl. die Vor- und Rückverweise in R. 392 a3-b7 und 603 d9-e1.
59 Zuletzt z.B. Julia Annas: Platon, in: Iring Fetscher und Herfried Münkler (Hg.): Pipers
Handbuch der politischen Ideen, Bd.1, München u. Zürich 1988, S. 383; Andreas Schubert:
Platon: Der Staat, Paderborn u.a. 1995, S. 158-164; Wolfgang Kersting: Platons „Staat“,
Darmstadt 1999, S. 304-314.
50 Stefan Büttner

1. Die Aussage in R. 595 a5, Dichtung solle ausgeschlossen werden, so-


fern sie mimetisch sei, hat eindeutig einen die Fülle aller möglichen Dichtung
einschränkenden Charakter,60 ohne dass an der Stelle schon gesagt ist, was hier
eigentlich mit Mimesis genau gemeint ist. Diesen Mangel bemerkt Sokrates
sogleich und schiebt zur Erklärung die Maler-Dichter-Analogie nach.
Dass die Kritik nicht den Abbildcharakter der Kunst als solchen treffen
soll, wird dadurch bestätigt, dass am Ende der Argumentation zur Dichtung,
genau wie am Anfang, zustimmend auf die Ergebnisse der Bücher 2 und 3
Bezug genommen und bestimmter Dichtung ein Platz im Staat eingeräumt
wird;61 sie sei nämlich aufzunehmen („poiësewß paradektéon eœß pólin“,
607 a4-a5 vs. „tò mhdamñ paradéxesqai a¬têß“, 595 a5), sofern sie Hym-
nen auf die Götter und Lobgesänge auf gute Menschen hervorbringe („†son
mónon ‰mnouß qeoîß kaì ™nkýmia toîß ˜gaqoîß“, 607 a3-a4 vs. „†sh mimh-
tikë“, 595 a5). An strukturell wichtigen Stellen des 10. Buches wird also mit
gleicher Wortwahl und gleicher Grammatik dasselbe zum Ausdruck gebracht,
wobei zu Beginn gesagt wird, inwiefern die Dichtung auszuschließen, am
Schluss, inwiefern sie aufzunehmen ist. Beide Abschnitte nehmen affirmativ
Bezug auf die früheren Ergebnisse; die am Schluss genannten Götter und guten
Menschen sind eine aus der vorplatonischen Kunstbetrachtung übernommene
Kurzformel für das in Buch 2 und 3 ausgearbeitete Programm der Dichtung,
das gute Charaktere favorisiert.62
Dieser klare Textbefund wird immer wieder ignoriert bzw. marginalisiert.
Der Einwand, Platon gebe die Ergebnisse der früheren Bücher nicht präzise
genug wieder, um die Kritik mit der Untersuchung der „Mimesis allgemein“
auf eine neue, radikal breitere Basis zu stellen,63 muss sich die Frage gefallen
lassen, wie dies nicht nur mit dem Beginn, sondern auch mit dem durch die

60 So schon Procl. in R. 1,197,18-19.


61 R. 595 a1-a5-607 b1-b3: „Dies soll uns zur Verteidigung gesagt sein, die wir uns daran
wiedererinnerten [sc. zu Beginn von Buch 10], daß wir die Dichtung damals [sc. in Buch 3]
zu Recht aus der Stadt fortschickten, wenn sie so beschaffen war [sc. wenn sie der „Lustmu-
se“ gewidmet war, der im Ausweisungsfazit des dritten Buchs in R. 398 a8 explizit der nicht
einschmeichelnde Dichter als erlaubter Kontrahent gegenübergestellt ist]“. Die Bedeutung
dieses Argumentationsrahmens heben – zu Recht, wie ich meine – hervor z.B. Giovanni R.F.
Ferrari: Plato and Poetry, in: George A. Kennedy (Hg.): The Cambridge History of Literary
Criticism, Vol. I, Cambridge 1989, S. 124-125 und Susan B. Levin: The Ancient Quarrel Be-
tween Philosophy and Poetry revisited – Plato and the Greek Literary Tradition, Oxford
2001, S. 153f.
62 Die Formel stammt aus der pythagoreischen Musiktheorie, die damit sogar die gesamte alte
Dichtung zusammenfasste, wie Koller: Mimesis (Anm. 2), S. 177-183, anhand zahlreicher
Belege aus Plutarch, Quintilian, Athenaios, Diogenes Laertios u.a. zeigen konnte.
63 Vgl. z.B. William C. Greene: Plato’s View of Poetry, in: Harvard Studies in Classical Phi-
lology 29 (1918), S. 54: „[sc. Plato] makes an inaccurat statement about the conclusion
reached in the earlier discussion of art“, und Stephen Halliwell: Plato: Republic 10, Warmin-
ster 1988, S. 106: „In fact, Socrates’ summary of bk. 3’s conclusions is only approximate“.
Literatur und Mimesis bei Platon 51

parallelisierten Formulierungen deutlich markierten Schluss der Argumenta-


tion des Sokrates zusammenpasst. Es würde bedeuten, dass Platon Sokrates in
R. 595 auf die alten Ergebnisse rekurrieren und dies in R. 596-606 – mit der
Verwerfung aller nur möglichen Dichtung – vergessen oder vertuschen lässt,
um ihn in R. 607 in einer doppelten Volte wieder behaupten zu lassen, er
stimme nun doch mit den früher verfassten Regeln zur Dichtung überein.
Ein zweiter Einwand versucht, die in R. 607 zugelassenen Hymnen und
Enkomien für unwichtig zu erklären, weil sie nur didaktisch bzw. für spezielle
Anlässe verfertigt seien.64 Aber zum einen wären sie dann nichtsdestoweniger
abbildende Kunst wie die übrige Dichtung auch und dürften nicht zugelassen
werden. Zum anderen wird alle Dichtung unter „didaktischer“ Hinsicht unter-
sucht, so dass es keine Sonderklasse von Dichtung gibt, die daher von der
Überprüfung auszunehmen sei (zudem wird gerade der Vater der antiken di-
daktischen Poesie – wenn man denn schon das Lehrgedicht als Gattung ab-
trennen will –, nämlich Hesiod, im 2. und 3. Buch gemeinsam mit Homer auf
seine Tauglichkeit geprüft). Außerdem darf man nicht so tun, als seien rezitier-
te oder gesungene Hymnen und Enkomien eine Randerscheinung. Sie nahmen
in der frühgriechischen Dichtung eine herausragende Stellung ein und waren
auch im Tagesgeschäft des 5. Jahrhunderts, in dem der Dialog spielt, noch von
großer kultischer und damit politischer Bedeutung.65
Platon will die formende Kraft des Gesanges und des Tanzes für die Stabi-
lität des Idealstaates geradezu wieder verstärkt nutzbar machen.66 Es handelt

64 Vgl. z.B. Julia Annas: An Introduction to Plato’s Republic, Oxford 1981, S. 344; Alexander
Nehamas: Plato on Imitation in Republic 10, in: Julius Moravcsik u. Philip Temko (Hg.),
Plato on Beauty, Wisdom, and the Arts, Totowa 1982, S. 69; Morris H. Partee: Plato’s Poet-
ics, Salt Lake City 1981, S. 107; Jens Timmermann: Platon, in: Julian Nida-Rümelin u.
Monika Betzler (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart in
Einzeldarstellungen, Stuttgart 1998, S. 637.
65 Man muss nur an den Wettkampf der 20 Dithyramben-Chöre – also von Chören, die Hymnen
auf Dionysos singen – bei den Großen Dionysien denken. Dort eröffneten, noch vor Beginn
der Dramen, 1000 ausgewählte Bürger (20 Chöre à 50 Mann) den Wettbewerb im Theater, in
dem die gesamte politisch relevante Bevölkerung versammelt war. Hymnen blieben als Preis-
lieder der jeweiligen Götter selbstverständlich Bestandteil jeder Götterfeier (Dithyramben
z.B. wurden an den Dionysien bis ins 2. nachchristliche Jahrhundert gesungen). Chorlieder
für sich müssen nicht als überholt gelten, nur weil sie (auch) in die artifiziell höher stehende
Tragödie integriert wurden.
66 Er beschwert sich über den Verfall bzw. die Vermischung der verschiedenen Lied- und
Tanzformen (bes. Lg. 700-701). In der Tat nimmt die politische Bedeutung dieser Musik-
formen ab dem Ende des 5. Jahrhunderts ab und macht einem eher der Unterhaltung die-
nenden Virtuosentum Platz (vgl. für das Beispiel des Dithyrambos Bernhard Zimmermann:
Dithyrambos – Geschichte einer Gattung, Göttingen 1992, S. 117-147). Platon kritisiert die
neue Musik und will die alte wiederbeleben, daher auch Platons Auseinandersetzung mit den
musischen Darstellungsmitteln in R. 399-403. Zur Wichtigkeit des Gesanges für den Staat
siehe auch die oben zitierte Textstelle aus den Nomoi, die besagt, alle Bürger sollten ständig
singend und tanzend gute Charaktere darstellen (wobei diese Tätigkeit vielfach als Mimesis
52 Stefan Büttner

sich bei den Hymnen und Enkomien also nicht um eine vernachlässigbare
Ausnahme von einem eigentlich radikalen Dichtungsverbot.
2. Bei der Besprechung der Wirkung der Dichtung wird sogar im 10. Buch
der Politeia ein guter von einem schlechten Dichter unterschieden (R. 604 e1-
605 a7). Der gute Dichter habe die Aufgabe, einen vernünftigen und ruhigen
Charakter, der immer mit sich im Einklang steht, darzustellen. Diese Aufgabe
sei nicht leicht (oúte ÿådion mimësasqai) – das heißt aber auch, dass sie
möglich ist. Der „mimetische Dichter“ (mimhtikòß poihtëß)67 dagegen ver-
lege sich auf die leicht darzustellenden, weil alltäglichen, wechselhaften, von
Leidenschaften übermäßig getriebenen Charaktere.
So wird das Vorgehen des guten Dichters im 10. Buch der Politeia durch
die Entgegensetzung zum schlechten Dichter genauso charakterisiert, wie der
oben beschriebene Zeichner der schönsten Zeichnung bzw. die fiktiven Grün-
der des Staates und Erzieher der gerechtesten Menschen (in R. 472 c4-473 b3
und R. 500 b8-501 c3) im Verhältnis zum Spiegel-Maler beschrieben werden.
Auch diese Charakter-Zeichner kopieren nicht die empirische Wirklichkeit,
sondern richten sich beim Entwerfen des schönsten Charakters nach den Ideen
der Tugenden. Im Grunde schließt schon die Beschreibung dieses besten
Zeichners in Buch 5 und 6 aus, Platon könne jede Kunst nur für eine sklavi-
sche Kopie der empirischen Welt halten. Die Inhalte der guten Dichtung von
Politeia 10 (der mit sich in Einklang stehende Charakter, das heißt einer, bei
dem sich die drei Seelenteile in Harmonie befinden, der gerecht ist) stimmen
wieder mit der Forderung am Schluss der Dichterkritik überein, Dichtung, die
gute Charaktere darstelle, sei aufzunehmen.

bezeichnet wird). – Neben der exponierten Stellung und dem Rückbezug von R. 607 zum
Beginn der Argumentation in Buch 10 und zu Buch 2 und 3 spricht für die Wichtigkeit von
Hymnen und Enkomien auch Platons breiterer Sprachgebrauch in der Politeia und in anderen
Dialogen. ‚Enkomion‘ kann bei Platon einen Lobpreis großer Taten in metrischer Rede (Ho-
mer als Enkomiendichter in La. 191 b2, Prt. 326 a2, R. 599 b7, Min. 319 c1ff.) oder sogar in
Prosa (R. 358 d2, Ti. 19 d2, 21 a3, Smp. 198 c5-199 b5 passim u.ö.) bedeuten. ‚Hymnos‘
meint bei Platon ebenfalls Verehrung einer göttlichen bzw. guten menschlichen Lebensweise
(Mx. 239 b8, R. 468 d9, Tht. 176 a1), die auch in Prosa ausgeführt werden kann (Phdr. 265
c1, Smp. 193 c8-d1, vgl. dazu auch Levin: Ancient Quarrel [Anm. 61], S. 159-162). Zum oh-
nehin breiten Bedeutungsfeld der Termini ‚Hymnos‘ und ‚Enkomion‘ in der griechischen Li-
teratur überhaupt vgl. Hans Färber: Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936,
S. 28-31 und S. 35-36; A.E. Harvey: The Classification of Greek Lyric Poetry, in: Classical
Quarterly 5 (1955), S. 162-164 und S. 174f.
67 Diese Formulierung in R. 605 a2 ist eigentlich ein zusätzliches Argument dafür, dass die im
10. Buch untersuchte Mimesis nicht einfach die Kunst des Abbildens insgesamt meint: Die
Bezeichnung „mimetischer Dichter“ ist nur dann verständlich, wenn es auch einen nicht-
mimetischen Dichter gibt, der dem schlechten Dichter an dieser Textstelle ja auch gleich zur
Seite gestellt wird. Die Formulierung kehrt in R. 605 b7 wieder, zudem spricht Sokrates
zweimal über die inkriminierte Mimesis einschränkend als „so beschaffene Dichtung“ (R.
607 b3 und e7), eine Formulierung, die ebenfalls die Möglichkeit anderer Dichtung voraus-
setzt.
Literatur und Mimesis bei Platon 53

3. Der Staat, den Platon entwirft, ist ohne musische Vorbildung überhaupt
nicht möglich, da selbst diejenigen, die zu Philosophen ausgebildet werden
sollen, nach Platons Planung ein durch Erziehung gebildetes solides charakter-
liches Fundament mitbringen müssen. Die Erziehung besteht aber in Gym-
nastik und Musik, wobei vor allem letztere für die charakterliche Ausbildung
verantwortlich ist. Der wichtigste Teil der Musik ist die Dichtung. Würde die
Dichtung wegen ihres Abbildcharakters entfernt, so fehlte mit der seelischen
Erziehung die Grundlage für den ganzen Staatsentwurf.68
4. Platon hat bereits durchgängig vorausgesetzt, dass die Dichter Mimesis
betreiben;69 er musste diese vermutlich ohnehin allgemein anerkannte Tatsa-
che70 gar nicht beweisen; „eine tautologische Darlegung, dass die ‚Nachah-
mung‘ des ‚nachahmenden Künstlers‘ tatsächlich nur ‚Nachahmung‘ sei, hätte
für das zeitgenössische Publikum kaum eine überraschende Einsicht enthalten,
und 20 Oxfordseiten wären auch ziemlich viel Aufwand, um etwas klarzuma-
chen, das die Zeitgenossen ohnehin schon gewusst hätten.“71
Platons Argumente verfolgen eine andere Stoßrichtung. Nicht die Abbild-
haftigkeit jeder nur möglichen Kunst an sich will er angreifen (und damit sei-
nen ganzen auf musischer Erziehung basierenden Staatsentwurf über den Hau-
fen werfen), sondern die traditionelle Dichtung will er attackieren, insbeson-
dere, wie er gleich am Anfang sagt und fünfmal wiederholt, die Tragiker und
ihren Anführer Homer,72 weil sie sich bei ihren Darstellungen von Charakte-

68 Bisweilen wird dagegen eingewendet, Platon habe durch die Untersuchungen in den zwi-
schen den Büchern 3 und 10 liegenden Büchern neue psychologische und ontologische Ar-
gumente gegen die Dichtung gefunden, die eine veränderte Sicht zur Folge gehabt hätten
(z.B. Halliwell: Plato [Anm. 63], S. 5-6, Timmermann: Platon [Anm. 64], S. 636-637). Ab-
gesehen davon, dass Platon im 10. Buch affirmativ auf die Bestimmungen der Bücher 2 und
3 rekurriert, betont er aber genau nach den Passagen, die in Buch 4 (Psychologie) und 7 (On-
tologie) angeblich die Grundlage für ein härteres Vorgehen gegen die Dichtung bilden, die
weiterhin gültige Wichtigkeit der musischen Erziehung für den Staat (R. 441 e8-442 a3, 522
a3-b1, 537 e1-539 d7 sowie 546 d6-d8 und 548 c1-c2). Dazu, dass sogar die mathematische
und dialektische Erziehung der Philosophen keine rein intellektualistische ist, sondern die vo-
rangegangene ethische Ausbildung sowohl voraus- als auch auf höherer Stufe fortsetzt, vgl.
jetzt ausführlich Myles F. Burnyeat: Plato on Why Mathematics is Good for the Soul, in: Ti-
mothy Smiley (Hg.): Mathematics and Necessity, Proceedings of the British Academy 103
(2000), S. 1-81.
69 Vgl. bes. R. 373 b5-b7, 400 c7-401 a9 (Terminus mimëmata in 401 a8). Weitere Belege bei
Halliwell: Aesthetics (Anm. 2), S. 51 Anm. 35.
70 Siehe Anm. 34 mit dazugehöriger Textpassage.
71 Kardaun: Mimesisbegriff (Anm. 2), S. 65.
72 R. 595 b10-c2, 597 e6, 598 d7-d8, 602 b8-b9, 605 c11, 607 a2-a3. Die Zusammenstellung
von Homer und den Tragikern ist für die antike Literarkritik kein Problem. Nach Aristoteles
haben sie den Gegenstand (Handlung von überdurchschnittlich guten Charakteren) ebenso
gemeinsam wie die von ihnen ausgelösten Affekte (bes. Poetik Kap. 4-5, 23-24). Die Wir-
kung der Affekte auf den Rezipienten ist aber einer der wichtigen Gründe, warum Platon
Homer und die Tragiker gemeinsam angreift.
54 Stefan Büttner

ren, mit denen man sich als Zuschauer oder Leser gerne identifiziert und die
somit eine gewisse Vorbildfunktion besitzen, primär auf die Empirie bzw. den
‚Common Sense‘ beziehen. In der Empirie findet sich häufig eine Kultur der
Klage und des Selbstmitleids, die Platon (im Gegensatz zu Aristoteles) auch
und gerade in ihrer anziehenden künstlerischen Bearbeitung für höchst abträg-
lich hält. Wenn Achill, der Tapferste aller Griechen, sich bei der Klage um
Patroklos weinend im Dreck wälzt, scheint ihm das nicht die angemessenste
Antwort auf ein existentielles Problem zu sein; auch wenn eine solch heftige
Reaktion ihm üblich und verständlich scheint.73
Greift man Textstellen wie R. 600 e4-e5 heraus,74 wo gesagt wird, nun sei
erwiesen, „daß von Homer angefangen alle Dichter Nachahmer von Abbildern
der Tugend [das heißt, von empirischen Erscheinungen] gewesen sind“, so
beweist dies lediglich, dass – in einer breiten Attacke – die gesamte bisherige
Tradition der Dichtung angegriffen wird, nicht jedoch jede nur mögliche Dich-
tung; genau wie es im 2. und 3. Buch der Fall ist, wo bereits neben Homer
auch Hesiod „und die übrigen Dichter“ als Ziel der Kritik angegeben sind,
ohne dass alle nur mögliche Dichtung angegangen wird. Nirgendwo im 10.
Buch spricht Sokrates davon, jede nur mögliche Dichtung angreifen zu wollen.
Dass viele Interpreten dennoch nicht von dieser Sichtweise abgehen, liegt vor
allem an der Formulierung des Sokrates in R. 595 c7 (und ähnlich 603 a11),
nun „Mimesis im allgemeinen“ (†lwß) bestimmen zu wollen. Man darf diese
Formulierung jedoch nicht aus ihrem Kontext lösen: Nach Sokrates’ Aussage,
die Dichtung sei auszuschließen, sofern sie mimetisch sei (R. 595 a5), subsu-
miert er unter diese Mimesis Homer, die Tragiker und „alle anderen Mimeten“
(R. 595 b4, b10-c2). Wenn er daraufhin fragt, was „Mimesis allgemein“ be-
deutet, weil er es selbst noch nicht recht weiß, so zeigt er damit an, dass er mit
dem Wort ‚Mimesis‘ (und seinen Derivaten) hier keine der bisher verwendeten
und problemlos verstandenen Bedeutungen verknüpfen will, das heißt weder
den Mimesis-Begriff, der als dramatische Darstellungsweise extra definiert
worden war,75 noch den allgemeinen, breiten Mimesis-Begriff, der jede künst-

73 R. 603 e3-e6: Selbst der Tüchtige wird in einer solchen Lage trauern, aber er wird dabei das
rechte Maß einhalten (metriásei). Dies, wie auch R. 431 c5-c7 und 586 d4-587 a2, zeigt,
dass Platon in der Politeia keine stoische Apathie, sondern eine Metriopathie einfordert. Sie
ist bereits Ziel der Erziehung der Jugendlichen, die nicht keine, sondern die richtigen Affekte
und deren implizite ethische Prämissen einüben sollen.
74 R. 377 d4-d5. Weitere Stellen, die eine Einschränkung der Kritik auf Homer und die Tragiker
unwahrscheinlich machen, siehe bei Christopher Janaway: Images of Excellence – Plato’s
Critique of the Arts, Oxford 1995, S. 126-127.
75 R. 393 c5-c5. Diese Vermutung scheint auf den ersten Blick besonders gut zu passen, weil
die dramatische Darstellung ebenfalls nur einen Teil von Dichtung überhaupt umfasst und
unter anderem durch das Wort mimhtikóß bezeichnet wurde, so dass die Formulierung †sh
mimhtikë in 595 a5 vollständig abgedeckt zu sein scheint (zuletzt Kardaun: Mimesisbegriff
[Anm. 2], S. 63, Anm. 154). Dagegen sprechen folgende Argumente: (1) Im 10. Buch der Po-
Literatur und Mimesis bei Platon 55

lerische Abbildung mit wahrnehmbarem Ergebnis meint und den er in Buch 2


und 3 vielfach, ohne ihn erläutern zu müssen, benutzt hat.76
Vielmehr meint er damit die Mimesis, über die er von R. 595 a5 an geredet
hat, nämlich eine, die die in Platons Augen bedenkliche Produktionsweise von
Homer, den Tragikern und allen anderen schon in Buch 2 und 3 kritisierten
Autoren als Einheit umfasst, nicht aber die abbildende Kunst überhaupt. Die
einheitliche, die einzelnen kritisierten Inhalte verklammernde Etikettierung
dieser Produktionsweise als Mimesis zu Beginn des 10. Buches ist in der Tat
neu, und daher braucht sie auch eine eigene Erklärung.
So kann Sokrates die früheren Regelungen nicht nur durch die Lehre von
den drei Seelenteilen untermauern („Der Gerechte ist glücklich“ usw.), son-
dern auch durch die Differenzierung der Erkenntnisvermögen in den Büchern
5 bis 7 von produktionsästhetischer Seite her neu legitimieren. Einer der wich-
tigsten erkenntnistheoretischen Unterschiede, den Platon dort herausarbeitet,
ist der zwischen Meinung und Wissen. Dieser Unterschied, wie Platon ihn
formuliert, ist für die Interpretation so wesentlich, dass er im Folgenden kurz
umrissen werden muss, bevor mit der Deutung von Politeia 10 fortgefahren
werden kann.77
Platon macht die Differenz von Wissen (™pistëmh) und Meinen (dóca)
am Beispiel der Philosophen einerseits und der „Schau- und Hörlustigen“ und
„Meinungsfreunde“ (filódocoi) andererseits klar. Die „Meinungsfreunde“

liteia sagt Sokrates, der Begriff Mimesis müsse erst noch geklärt werden (R. 595 c7-c8). Die-
ser Begriff ist zwar ein Oberbegriff, der neben der Dichtung auch die bildende Kunst um-
fasst, Ziel seiner Einführung ist aber die Definition von dichterischer Mimesis. Diese neue,
langwierig durchgeführte Definition wäre aber völlig überflüssig, wenn es sich um die dra-
matische Darstellungsweise handelte, die im 3. Buch als Vortragsweise genau definiert wor-
den war. Zudem hat die Maler-Dichter-Analogie nichts mit der Frage nach der dramatischen
Dichtungsweise zu tun. (2) Unter die mimhtikoí werden im 3. Buch auch die Rhapsoden ge-
rechnet, die nicht ausschließlich dramatisch darstellen (R. 395 a8). (3) Ein Bürger des Staates
verhält sich dann richtig, wenn er bei der Ausübung von Musik im Handeln und Reden recht-
schaffene Charaktere zum Ausdruck bringt (R. 396 c5-e2). Diese dramatische Darstellungs-
weise soll zwar in der Gesamtdichtung einen kleineren Raum einnehmen, sie wird aber kei-
neswegs ausgeschlossen. Das bestätigt auch das Fazit der gesamten Passage in R. 398 a8-b2.
Wenn Sokrates in R. 595 a1-a5 und 607 b1-b3 bekräftigt, dieselbe Dichtung zu verurteilen
wie in den Büchern 2 und 3, so bedeutet das, dass die dramatische Darstellungsweise auch im
10. Buch nicht ausgeschlossen wird und nicht mit der dort genannten Mimesis gleichzusetzen
ist. (4) Die im 10. Buch zugelassenen Hymnen und Enkomien sind Dichtungsarten, in denen
nicht selten direkte Rede als dramatische Darstellungsweise vorkommt; also ist sie nicht aus-
geschlossen. Hymnen und Enkomien werden zudem oft mit dem dramatischen Vortragsmittel
des Tanzes verknüpft (vgl. Lg. 801 e1ff.). – Der dramatische Mimesis-Begriff aus dem 3.
Buch ist also nicht mit dem Mimesis-Begriff des 10. Buches identisch.
76 Vgl. Anm. 69.
77 Siehe dazu vor allem R. 475 d1-480 a13. Dass Platon im 10. Buch der Politeia dieselbe
Dichtung kritisiert wie in den Büchern 2 und 3, nun aber den Fokus auf die Erkenntnis-
haltung der Dichter richtet, betont auch Levin: Ancient Quarrel (Anm. 61), S. 150-167.
56 Stefan Büttner

streben ebenso wie die Philosophen nach dem Schönen, aber auf andere Weise.
Sie betrachten das Schöne, das Gerechte, das Gute usw. nicht als eine be-
stimmte Einheit (¹n ‚kaston) und geben sich daher keinen rationalen Diskur-
sen hin, sondern lieben die vielen Ausformungen des Schönen – die einzelnen
schönen Dinge – und begehren sie zu hören und zu sehen. Dabei lieben sie
nicht nur das unmittelbar wahrnehmbare Schöne (Töne, Farben, Formen),
sondern auch das Schöne, das sich in Handlungen manifestiert.78
Das produzierende Gegenstück zu dieser Rezipienten-Gruppe bilden die
Künstler und Politiker (eœt’ ™n grafikñ eÍt’ ™n mousikñ eÍte dç ™n politi-
kñ), die sich im Darstellen und Handeln auf die allgemeinen Ansichten der
Masse (oœ polloí) stützen und dabei keine Rechenschaft über die von ihnen
verwendeten Kriterien von schön und hässlich, gut und schlecht, gerecht und
ungerecht geben können (lógon didónai).79 Sie haben dieselbe Erkenntnishal-
tung wie ihre Klientel.
Meinung zielt nun auf das zwischen Sein und Nichtsein Liegende, das
heißt auf etwas, das in einer Hinsicht eine Bestimmung x besitzt, in einer ande-
ren Hinsicht aber nicht. So ist, um unser altes Beispiel heranzuziehen (das
auch Platons Beispiel in diesem Abschnitt ist), die Zahl 4 in einer Hinsicht
(bezüglich der Zahl 2) das Doppelte, in anderer Hinsicht (bezüglich aller Zah-
len außer der 2) ein Nichtdoppeltes.
Die Meinenden stehen nun immer in der Gefahr, den Repräsentanten einer
Sache mit der Sache selbst in eins zu setzen. So ist es zwar völlig richtig, die
Zahl 4 ein Doppeltes zu nennen, die Merkmale dieser Zahl geben jedoch kein
zureichendes Kriterium für das Doppeltsein ab: Die 4 hat ja auch das Hälfte-
Sein, das Zahl-Sein usw. an sich, Merkmale, die dem Doppeltsein nicht zu-
kommen. Der einheitliche Sachverhalt des Doppeltseins selbst hingegen ist
keine Zahl, sondern etwas, wonach man sich bei der Prädizierung der Zahlen
richtet. Diesen gleich bleibenden, intelligiblen Sachverhalt des Doppelten
versuchen die Philosophen diskursiv zu beschreiben, während die Meinenden
sein Vorhandensein verleugnen.
Im ethischen Bereich gilt dasselbe. So kann man (um ein Problem aus dem
Anfangsbuch der Politeia und dessen Lösung in Buch 9 zu wählen) als Mei-
nender zu der Ansicht kommen, ein Tyrann, der sich ohne Rücksicht auf die
Bürger bereichert, sei glücklich. Geht man, wie Platon mit seiner Dreiteilung
der Seele, davon aus, dass es neben der Lust am Sinnlichen auch Lust an einer
berechtigten Achtung durch die Mitmenschen und eine Lust am Denken gibt,
die höher stehen als die Sinneslust, kann man dem Meinenden seinen typi-
schen Denkfehler vorwerfen: Natürlich wird auch der glückliche Mensch die
notwendigen körperbezogenen Begierden befriedigen, dabei wird er es aber

78 R. 476 a4-b8.
79 Vgl. R. 493 c10-494 a5.
Literatur und Mimesis bei Platon 57

nicht bewenden lassen; der Tyrann hingegen bedient die körperbezogenen


Begierden, aber vor allem die nicht-notwendigen, die wie ein Fass ohne Boden
nie völlig gestillt werden können, die höheren Lüste strebt er nicht an oder
muss sie sich fingieren, etwa bei der Achtung durch Schmeichler und Höf-
linge. Der Tyrann ist also in Wirklichkeit gar nicht glücklich, dies ist nur die
Meinung der Masse und des ‚Common Sense‘.
Nun wieder zurück zum Text des 10. Buches und Vergleich zwischen Ma-
ler und Dichter in R. 596a-601b: Meine These ist, dass die „Mimesis im All-
gemeinen“, die Sokrates dort untersuchen will, die traditionellen Dichter, vor
allem Homer und die Tragiker, dergestalt als Einheit umfasst, dass diese Dich-
ter alle, im Unterschied zum Philosophen, nur mit der Erkenntnishaltung der
Meinung dichten, daher nur allzu oft unreflektiert den Ansichten der Masse
folgen und so falsche Darstellungen hervorbringen. Dieses Zusammenfassen
der früher vorgetragenen inhaltlichen Einzelkritiken zu einer Kritik an der
Erkenntnishaltung der Dichter bei der Produktion ihrer Werke war nur durch
die nach Buch 2 und 3 folgende Differenzierung der Erkenntnisvermögen
möglich geworden. Diese Deutung lässt sich auch mit dem Text nach R. 596a
vereinbaren. Im Folgenden wird um der Klarheit willen der Gebrauch des im
10. Buch der Politeia definierten und inkriminierten Terminus ‚Mimesis‘
durch Anführungszeichen markiert, um ihn von anderen, wertungsneutralen
Verwendungen abzugrenzen. Man muss dafür nicht (wie Tate) einen außerge-
wöhnlichen, etwa nur für diesen Abschnitt erfundenen negativen Gebrauch des
Wortes ‚Mimesis‘ im 10. Buch der Politeia annehmen.
Die Abwertung kommt vielmehr daher, dass sowohl Ausgangs- als auch
Endpunkt der Mimesis nun im Wahrnehmbaren angenommen werden und dass
dabei zusätzlich von einer verzerrten Wiedergabe des Vorbildes ausgegangen
wird. Am besten sieht man die Abhängigkeit der Wortbedeutung vom Dar-
stellungsobjekt und dessen perspektivisch verzerrter Wiedergabe in R. 598 b3-
b4, wo gefragt wird, ob der kopierende Maler „die ‚Mimesis‘ einer Erschei-
nung oder die Mimesis der Wahrheit“ vollziehe, was durch ein Wort ausge-
drückt wird (fantásmatoß Ç ˜lhqeíaß oÛsa mímhsiß).80
Zur Erklärung der ‚Mimesis‘ und als Analogie zum ‚mimetischen‘ Schrift-
steller wird ab R. 596c der ‚mimetische‘ Maler eingeführt. Im Gegensatz zu

80 Hieran sieht man, dass Platon dem Leser zutraut, im 10. Buch zwischen dem dort auch
auftretenden weiten Gebrauch von Mimesis und dem hier eigens definierten Gebrauch von
‚Mimesis‘ zu unterscheiden; genauso war die spezielle Bedeutung von Mimesis als dramati-
scher Vortragsweise im 3. Buch ohne viel Aufhebens parallel zum weiten Mimesis-Begriff
verwendet worden. Platon spielt gerne mit dem verschiedenen Gebrauch von Wörtern, und
bei dem Wort ‚Mimesis‘, das er oft mit Kategorien wie „Verwandeln“ oder „Täuschen“ ver-
knüpft, bietet sich das in besonderer Weise an. Zur Abhängigkeit der Bedeutung des Wortes
‚Mimesis‘ vom Darstellungsobjekt vgl. Kardaun: Mimesisbegriff (Anm. 2), S. 56-57, 63-65;
Levin: Ancient Quarrel (Anm. 61), S. 158.
58 Stefan Büttner

seinem Kollegen in Buch 5 und 6 orientiert er sich nicht an einem Konzept


davon, wie ein möglichst schöner Körper aussehen könnte, sondern am direkt
Wahrnehmbaren, sogar im elementarsten Sinn, indem er wie ein Spiegel Far-
ben und Formen der existierenden Dinge wiedergibt. Die Wiedergabe ist dabei
aufgrund der Zweidimensionalität der Malerei nicht nur eine Übertragung
bestimmter Eigenschaften des dreidimensionalen Vorbilds in ein anderes Ma-
terial, sondern notwendigerweise auch eine verzerrte, weil einer Dimension
beraubte, Darstellung.81 Die Wirkung dieser Darstellung ist, dass Kinder und
törichte Menschen sie aus einer bestimmten Perspektive für die dreidimensio-
nale Wirklichkeit halten.
Diese letzte Aussage hat immer wieder dazu verleitet zu glauben, Platon
kritisiere auch bei der Dichtung, dass sie Illusionen von Wirklichkeit hervor-
bringe. Gegenstand der ‚mimetischen‘ Dichtung sind, wie Sokrates bei seiner
eigenen Erklärung der Analogie sagt, nicht Farben und Formen, sondern, wie
bei jeder Dichtung, handelnde Menschen, die durch ihre Handlungen glücklich
oder unglücklich sind.82 Platon prüft nun bei der Dichtung immer wieder, mit
welcher Erkenntnishaltung die Dichter sie hervorgebracht haben, und nicht, ob
die Dichtung mit der Realität identisch ist oder identisch zu scheinen versucht
(im Grunde zeigt schon die Aussage, dass nur die Toren die gemalten Bilder
für die Wirklichkeit halten, dass die ‚mimetische‘ Malerei nicht wegen ihres
möglichen Illusionscharakters verurteilt werden soll – für die meisten Zu-
schauer bewirkt sie diese Illusion offenbar gar nicht).83
Die traditionellen Dichter, so Platon, dichten aus der Erkenntnishaltung
der Meinung. Zwar kann ein Meinender auch richtige Meinungen haben, die-
sen Aspekt klammert Platon im 10. Buch der Politeia aber aus84 und konzen-

81 R. 598 a1-b5. Vgl. damit auch die Unterteilung in Sph. 235 c8-236 c8 von abbildender Kunst
(mímhsiß) in Kunst, die alle Dimensionen korrekt wiedergibt (eœkastikë), wie die Kleinplas-
tik, und Kunst, die so die Dimensionen verzerrt, dass sie die Perspektive des Betrachters mit
einbezieht (fantastikë), wie bei den Kolossalstatuen und in der Malerei prinzipiell. Es ist
sicher kein Zufall, dass Platon bei der ‚mimetischen‘ Malerei in der Politeia das Abbildungs-
objekt mehrfach als das perspektivisch Erscheinende (fántasma, fainómenon) bezeichnet
(auch wenn die Unterteilung im Sophistes auf anderes abzielt).
82 R. 603 c4-c9.
83 In der Übertragung der Analogie und Prüfung der Dichter in der Passage R. 598 d7-601 b8
wird die Erkenntnishaltung an folgenden zehn Stellen mit Ausdrücken des Wissens themati-
siert: R. 598 e1.e4, 599 a2.a4.b3.d4, 600 c5.e6., 601 a1.a6. Selbst dort, wo Sokrates einwen-
det, wenn die Dichter ein Wissen von der Tugend hätten, dann hätten sie schöne Taten statt
Abbildungen von Taten zurückgelassen (R. 599 b3-b7), ist dieses Argument nicht als prinzi-
pielle Kritik an der Abbildhaftigkeit von Kunst, sondern nur als Mittel eingeführt, um durch
das Fehlen der Taten oder von Schülern die ‚Unwissenheit‘ der Dichter zu beweisen. Dass
die Kritik an der ‚Mimesis‘ nicht Kritik an Illusionierung meinen kann, zeigt die konsequente
Analyse des Textabschnittes bei Janaway (Anm. 74), S. 120-123 und 136-140.
84 Dazu bedient auch er sich mitunter sophistischer Beweisführungen. So muss die ohnehin
dunkle Biographie Homers a maiore dafür herhalten, dass die Dichter insgesamt kein Wissen
Literatur und Mimesis bei Platon 59

triert sich auf falsche Meinungen und, wie er es nennt, das Nicht-Wissen über
gut und schlecht. Die Dichter stellten alles so dar, wie es der Masse (o¥ pol-
loí) und den Nicht-Wissenden richtig erscheine (faínesqai).85 Das gilt für die
Darstellung bestimmter Künste, für die Dichter keine Fachleute sind – noch
heute genügt es, uns einen Mann in weißem Kittel zu zeigen, der beruhigend
und mit einigen Fremdwörtern auf einen im Bett liegenden Menschen einredet,
um uns in einer TV-Serie zu suggerieren, einen Krankenhausarzt vor uns zu
haben. Der Regisseur hat dabei wohl nur selten darüber nachgedacht, ob der
Kittel weiß sein muss, warum Kittel getragen werden und welche, ob der Arzt
in dieser Situation überhaupt etwas sagt, was für den Patienten sinnvoll ist, wie
ein guter Arzt beschaffen sein muss; er will in der Szenerie des Krankenhauses
ja Zuschauer unterhalten und nicht die Leistungen eines Arztes zeigen.
Das gilt besonders auch für Fragen, wann jemand gut oder gerecht ist bzw.
glücklich oder unglücklich, wo die Dichter dem täglichen Geschehen und den
allgemein verbreiteten, auf kurzsichtige Empirie gestützten Ansichten folgen.
Das beginnt für Platon bereits, wenn sich ein Herrscher wie Achill ebenso
aufbrausend in der Wut wie kläglich in der Trauer zeigt. Aggression und
Selbstmitleid sind Gefühle, die man allerorten erleben kann, und es gefällt uns,
sie am großen Achill zu beobachten – nicht zuletzt, weil damit unser eigenes
Verhalten, wenn es ähnlich ausfällt, legitimiert wird.
Dieser Sog zum selbstgefälligen Affekt, der ins eigene Affektrepertoire
übernommen wird, weil ihn ein Vorbild auch hat, ist die Wirkung der
Dichtung, die Platon so sehr fürchtet. Auch für diesen Aspekt der Dichtung
braucht sich der Dichter keine Gedanken darüber zu machen, was der Mensch
eigentlich ist, welche Erkenntnis-, Gefühls- und Strebemöglichkeiten er hat,
was demnach Zorn oder Trauer ist, in welchem Maße diese Affekte nützlich
sind, wie ein guter Charakter beschaffen sein und sich in der Handlung äußern
kann. Das alles braucht der Dichter nicht, er will unterhalten, indem er starke
Gefühlsschwankungen hervorruft.86

haben, weil sie es sonst praktisch angewendet hätten. Dabei hat Sokrates bei seiner Aufzäh-
lung derer, die mit Kenntnis über gut und schlecht gewirkt hätten, selbst einen Dichter ge-
nannt, nämlich Solon (R. 599 e3), den er andernorts als das größte dichterische Talent Grie-
chenlands bezeichnet, der, hätte er sich ganz aufs Dichten verlegt, alle anderen übertroffen
hätte (Ti. 21 c4-d3). Geradezu komisch – und offenkundig übertrieben – wird es, wenn So-
krates als Kriterium für das Wissen um die Tugenden den Erfolg bei einem weiten Schüler-
kreis und erfolgreiche Lehrer wie Protagoras und Prodikos hervorhebt; schließlich wird deren
Anspruch, wirkliches Wissen an die Schüler vermitteln zu können, in früheren Dialogen wie
dem Protagoras oder dem Gorgias klar desavouiert. Eine Palinodie zu dieser Passage bietet
Smp. 209 a1-e4, wo Homer und Hesiod als Kundige der politischen Tugenden den in der Po-
liteia als Exempeln genannten Gesetzgebern Lykurg und Solon an die Seite gesetzt werden.
85 R. 602 b1-b4.
86 So jedenfalls Platons Argument. Aristoteles setzt, etwa bei der Bewertung der tragischen
Affekte, natürlich ganz andere Schwerpunkte.
60 Stefan Büttner

Die nach Platon in der Dichtung oft implizierten falschen ethischen Ma-
ximen werden von den normalen Lesern für bare Münze genommen und die
dargestellten Charaktere für gute oder akzeptable Menschen gehalten, genauso
wie naive Menschen die Gegenstände auf einem naturgetreu gestalteten Ge-
mälde für wirklich existent halten.87 Platons Kritik an der ‚Mimesis‘ in
Politeia 10 richtet sich demnach nicht prinzipiell gegen die Eigenart aller
Dichtung und Literatur, ein Abbild zu sein oder das Mittel der Illusion zu
nutzen. Platon macht in Buch 10 nicht den Versuch einer Definition dessen,
was Literatur und ihr Gegenstand prinzipiell ist, sondern fährt eine zugespitzte
Attacke gegen die traditionelle Dichtung, deren Darstellungen seiner Meinung
nach leicht erzielbar, empirieorientiert, oberflächlich und dadurch von der
Erkenntnishaltung der falschen Meinung über ethische Grundfragen geprägt
sind.88

Ergebnis

Platon ist in neuzeitlichen Poetiken gerne als Kronzeuge gebraucht worden. So


wird sein Enthusiasmuskonzept für Ansätze fruchtbar gemacht, die der Über-
betonung von Kunstregeln mit dem Akzentuieren von eher intuitiven Vermö-

87 Dass dies der Vergleichspunkt zwischen Maler und Dichter ist, wird schon aus dem argumen-
tativen Dreischritt in R. 598 b6-e2 deutlich, wo erst das Beispiel des ‚mimetischen‘ Malers
gegeben wird, der nicht-wissend ist und doch die Naiven täuscht, dann eine Induktion zur Er-
kenntnishaltung und Wirkung des ‚Mimeten‘ im Allgemeinen formuliert wird und schließlich
die Deduktion zum ‚mimetischen‘ Dichter Homer gemacht wird: Homer scheint für viele
Menschen nicht nur über alle Künste Bescheid zu wissen, sondern auch über Tugend und
Schlechtigkeit im menschlichen und göttlichen Bereich.
88 Vgl. dazu die Analysen der Dichterkritik in der Politeia und die Aufarbeitung der Zeugnisse
zur Malerei im Platonischen Werk bei Stephen Halliwell: The Republic’s Two Critiques of
Poetry, in: Otfried Höffe (Hg.): Platon – Politeia, Berlin 1997, S. 313-332, sowie ders.:
Aesthetics (Anm. 2), S. 118-147, bes. S. 133-142. Die Ergebnisse (Platon hat ein differenzier-
tes Bild von der Malerei, erkennt sie als Darstellung von Charakteren an, kennt gerade bei
der Dichtung eine Vielzahl von Verwendungen des Terminus Mimesis, die über das Ver-
ständnis eines bloßen Kopierens hinausgehen; Mimesis ist nicht einfach ein technischer Aus-
druck, sondern hat immer auch ethische Implikationen) stehen ganz im Einklang mit der hier
vorgelegten Interpretation. Halliwell sieht in der Formulierung von R. 595 c7 (Untersuchung
der „Mimesis im Allgemeinen“) aber eine Ausweitung der Untersuchung auf alle nur mögli-
che Kunst. Diese sei in einem rhetorisch provokativen und satirischen Ton gehalten, so dass
der aufmerksame Leser sie durchschauen und mit Sokrates’ Aussage in R. 607 d-e, dass Ge-
genargumente der Dichterfreunde gegen die prinzipielle Verwerfung ihrer Kunst gerne ent-
gegengenommen würden, verknüpfen müsse. Wenn Halliwells Annahme zutrifft, hätte der
Leser einen sehr sprunghaften Sokrates vor Augen. Platons Plan für die Dichterkritik liefe
dann nämlich folgendermaßen: Er lässt Sokrates von zugelassener Dichtung im Staat spre-
chen (595 a) – er lässt ihn (in absichtlicher Schwäche des Argumentes) jede mögliche Dich-
tung verwerfen (596-606) – er lässt ihn von zugelassener Dichtung im Staat sprechen (607 a)
– er lässt ihn von der Rechtfertigung der Dichtung sprechen, so als ob er vorher jede mögli-
che Dichtung verworfen hätte (607 d-e) – ein eher unwahrscheinliches Szenario.
Literatur und Mimesis bei Platon 61

gen wie dem ‚bon goût‘, der Phantasie, der Urteilskraft, dem Genie etc. entge-
gentreten. Häufiger werden aber seine Ausführungen in der Politeia, und be-
sonders in deren 10. Buch, als Negativbeispiel rationalistischer Kunstauffas-
sung einer der Sinnlichkeit der Kunst mehr Rechte einräumenden Position
gegenübergestellt. Auch uns erscheint die harsche Kritik an Homer und den
Tragikern oft befremdlich, aus vielerlei Gründen.
So ist uns aus der eigenen geschichtlichen Erfahrung jeder Gedanke unan-
genehm, der mit zensurhafter Einschränkung oder Manipulation der öffentli-
chen Meinung verwandt ist. Zwar sehen wir heute in der möglichen Wirkung
von Massenmedien wie Fernsehen, Film, Internet, Videospielen usw. ganz
ähnliche Gefahren wie Platon beim Rezipieren der griechischen Dichtung, die
alten Autoren nehmen für uns aber eher die entgegengesetzte Rolle ein: Wären
wir doch als Hüter alteuropäischer Kultur oder zumindest als Freunde niveau-
voller Unterhaltung froh, wenn mehr Menschen Homer lesen oder Dramenauf-
führungen besuchen würden, anstatt den Fernseher einzuschalten.
Vor allem scheint uns aber die Kritik im Schlussbuch der Politeia be-
fremdlich, weil sie, angeblich, die Kunst aus ethischen und metaphysischen
Gründen prinzipiell verwirft. Die vorangegangenen Ausführungen haben da-
gegen, wie ich hoffe, gezeigt, dass es Platon mit der Kritik an der ‚Mimesis‘
im 10. Buch der Politeia weder um eine Definition dessen geht, was Kunst und
Literatur überhaupt ist, noch um eine Verbannung von jeglicher Kunst aus dem
Idealstaat, die ganz im Gegenteil die Basis der Erziehung aller Bürger und
damit auch der den Staat lenkenden Philosophen darstellt.
Auch für Platons Zeitgenossen waren Homer und die Tragiker wichtiges
Bildungsgut und unterhaltsam, sie waren aber zudem Autoren, die man in den
wichtigsten ethischen und religiösen Fragestellungen mit für maßgeblich hielt.
Homer galt mit Hesiod als derjenige, der den Griechen ihre Götter gegeben
hatte, mit ihm lernte man lesen und schreiben, er galt als weiser Ratgeber für
alle Lebenslagen, kurz: er hatte noch im 4. Jahrhundert, gemeinsam mit ande-
ren Formen von Literatur, einen für uns kaum nachvollziehbaren Einfluss auf
das politische und kulturelle Leben. Wenn Platon seinen eigenen Weltentwurf
präsentieren wollte, musste er geradezu ihnen gegenüber deutlich Stellung
beziehen.
Er tut dies mit dem Anspruch, Allgemeingültiges über das Spezifische von
Dichtung zu sagen. Dichtung und Nicht-Dichtung werden nicht mehr durch
formale Kriterien wie etwa das Versmaß voneinander unterschieden; daher
kann man bei ihm auch von einer Literaturtheorie sprechen. Entscheidend wird
nun, dass es sich um eine Darstellung von Charakteren, deren Befinden, Hand-
lungen und Handlungsgelingen oder -scheitern mit dem Mittel der Sprache
handelt. Der für ‚Darstellung‘ verwendete Terminus ‚Mimesis‘ hat bei Platon
einen ganzen Strauß möglicher Bedeutungen. In der Kunst meint Mimesis das
Hervorbringen von etwas einem Vorbild Ähnlichen mit dem Ziel, dass das
62 Stefan Büttner

Vorbild vom Betrachter in seiner Qualität erkannt und der Betrachter entspre-
chend emotional bewegt werden soll. Inhalt dieser Darstellungen soll primär
das Schöne, das heißt die je spezifische Bestimmtheit einer Sache sein, das
heißt in der Dichtung, nicht irgendwelche gerade in der Empirie aufgelesenen,
typischen Verhaltensweisen von Menschen, sondern ein guter Charakter.
Ähnlichkeit mit dem Vorbild wird für Platon in der Dichtung in zweierlei
Weise erreicht, nämlich dadurch, dass zum einen die Qualität der Handlungen
den geschilderten Charakteren entsprechen soll – Sokrates wird zum Beispiel
von Platon selbst als besonnen, beharrlich, tapfer, weise usw. handelnder
Mensch dargestellt, wie es zu seinem Charakter passt – und dadurch dass zum
anderen der Handlungserfolg oder -misserfolg dem handlungsauslösenden
Charakterzug entsprechen soll – soweit Sokrates weise ist, kann er bei Platon
auch in den Rededuellen mit den Sophisten und Rhetoren als Sieger vom Platz
gehen; prinzipiell soll ein Mensch, sofern er gut handelt, als glücklich, sofern
schlecht, als unglücklich dargestellt werden.
Wann jemand besonnen, tapfer, weise usw. ist, bestimmt Platon durch eine
umfassende Psychologie und sichert seine Poetik auf diese Weise systematisch
ab. Diese Psychologie hilft ihm auch bei der Beschreibung der Wirkung der
Dichtung. Dass es in der empirischen Welt nicht immer so gerecht zugeht, wie
er es für die Dichtung fordert, weiß natürlich auch Platon. Er hält die Welt aber
ungeachtet ihrer einzelnen Kontingenzen für nach guten Prinzipien geordnet.
Es ist seiner Ansicht nach daher eine anspruchsvolle und vornehme Aufgabe,
das Tagesgeschehen auf diese Prinzipien hin zu analysieren und in der Dich-
tung die oben genannten Korrelationen umzusetzen. Die dafür nötige Fiktivität
der Dichtung wird von Platon ausdrücklich gebilligt, sie ist sogar notwendig,
um gute Charaktere darzustellen. An einer Fiktionalität im engen Sinn, das
heißt einer, die keiner externen Wahrheitskriterien bedarf, kann ihm hingegen
nicht gelegen sein.
Die inhaltlichen Anforderungen an gute Dichtung kann für Platon nur der
Philosoph mit seinem Wissen über die Struktur der Welt und der Seele ange-
messen erfüllen. Platon lässt wenig Zweifel daran aufkommen, dass er meint,
mit seinen Dialogen diesen Anspruch wesentlich besser eingelöst zu haben als
die herkömmliche Dichtung. Dieser erkennt er des Öfteren zu, das Richtige zu
treffen – ihre Charakterisierung als enthusiastisch ist in diesem Zusammen-
hang nicht als ausschließlich ironische Belobigung, sondern als die Beschrei-
bung einer Sonderbegabung für bestimmte Themenbereiche zu verstehen –,
aber dergestalt, dass er diesen Dichtern abspricht, rationale Rechenschaft über
ihre Aussagen ablegen zu können. Sie besitzen nur – in diesem Fall: richtige –
Meinungen über wesentliche ethische Sachverhalte. Daher stehen sie vielfach
in Gefahr, nicht an diesen richtigen Meinungen festzuhalten, vor allem da-
durch, dass sie die Empirie und die daraus gebildeten Ansichten der ‚Vielen‘
(‚der Tyrann lebt glücklich‘ usw.) nicht kritisch analysieren, sondern sie mehr
Literatur und Mimesis bei Platon 63

oder minder direkt in ihre Darstellungen übernehmen. Nur für diese Dichtung
gebraucht Platon den ‚Mimesis‘-Begriff des 10. Buchs der Politeia, der seine
negative Konnotation aus dem nur oberflächlichen Erkennen des Gegenstandes
der Darstellung zieht; und nur darauf zielt die Kritik, nicht aber auf die Frage,
ob Dichtung prinzipiell Abbildcharakter hat oder Illusionen hervorrufen will.
Nicht nur in diesem Punkt hat Aristoteles die Gedanken Platons in seiner
Poetik weitergeführt; wenn er dort im 9. Kapitel die Dichtung von einer eher
der Empirie verpflichteten Geschichtsschreibung absondert, steht Platons Un-
terscheidung von guter und schlechter Dichtung im Hintergrund. Vielmehr hat
er auch die Einteilung der Grundlagen der Poetik in den ersten drei Kapiteln –
zu den Gegenständen, Mitteln und Vortragsweisen der Dichtung – weitgehend
von Platon übernommen.
Dass Aristoteles’ Poetik als das Werk, das auf die abendländische Poetik
und die Beantwortung der Frage „Was ist Literatur?“ sicher über weite Stre-
cken den größten Einfluss gehabt hat, mit Platons Äußerungen zur Dichtung
eng verzahnt ist, hat man schon immer gesehen, dabei allerdings den Fokus auf
die Unterschiede und die vermeintlich polemische Auseinandersetzung gerich-
tet. Unterschiede gibt es gewiss – vor allem bei der Bewertung der Wirkung
der tragischen Affekte auf den Zuschauer –, man sollte sich dadurch aber nicht
den Blick auf die Gemeinsamkeiten gerade in den grundlegenden Be-
stimmungen von Literatur verstellen, die auch Platon als einen der Väter der
abendländischen Literaturtheorie erscheinen lassen.
ARBOGAST SCHMITT

Was macht Dichtung zur Dichtung?


Zur Interpretation des neunten Kapitels der
Aristotelischen Poetik (1451 a36-b11)

Hermeneutische Vorüberlegungen1

Wie in vielen seiner Schriften führt Aristoteles auch in der Poetik den Grund-
begriff, von dem her er den Gegenstand dieser Disziplin zu bestimmen sucht,
in einem noch unspezifischen, formalen Gebrauch ein, um ihn schrittweise zu
präzisieren. Dichterisches Tun ist, so beginnt das erste Kapitel, grundsätzlich
ein Nachahmen (1447 a13-16) und hat dadurch nicht nur mit anderen Künsten
eine elementare Gemeinsamkeit, sondern mit vielen Betätigungsmöglichkeiten
des Menschen überhaupt (1448 b3-9). Dieses Gemeinsame ergibt sich aus
einer formalen Analyse dessen, was überhaupt einen Nachahmungsakt zu
einem Nachahmungsakt macht. Eine Nachahmung ist nicht eine Sache oder
Tätigkeit selbst, sondern ein Akt, der etwas in etwas auf eine bestimmte Weise
darstellt (1447 a16-18). Zu jeder Form der Nachahmung gehört also irgendeine
Art von Gegenstand, den sie nachahmt, gehören Medien, in denen sie dies tut,
gehört eine bestimmte Art und Weise, wie sie das tut. Als Beispiel nennt Aris-
toteles die Tanzkunst, deren Gegenstand Charakterhaltungen, Gefühle und
Handlungen (ƒqh, páqh, práceiß) seien, die sie im Medium der Körperbewe-
gung auf bestimmte Weise zum Ausdruck bringt (1447 a26-29).
Diese formale Einführung des Begriffs der Nachahmung durch Aristoteles
macht bereits deutlich, dass die bloße Bestimmung ‚Kunst ist Nachahmung‘
den Künsten weder einen bestimmten Gegenstand, etwa die ‚Wirklichkeit‘,
noch ein bestimmtes Medium noch eine bestimmte Weise des ‚Nachahmens‘,
etwa die direkte Kopie eines gegebenen Vorbilds, zuschreibt. Die Selbstver-
ständlichkeit, mit der Aristoteles alle Künste als Formen der Nachahmung
ausgibt, hat ihren Grund vielmehr darin, dass er den relationalen Aspekt, der
zu jedem Kunstwerk gehört, ins Auge fasst. Ein Bild von Sokrates oder die

1 Ich gebe im Folgenden nur eine kurze Skizze von historischen und sachlichen Zusammen-
hängen, die ich ausführlich in einem Kommentar zur aristotelischen Poetik, der in der (von
Hellmut Flashar herausgegebenen) Reihe Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung vor-
aussichtlich Darmstadt 2004 erscheinen wird, zu belegen und begründen versuche.
66 Arbogast Schmitt

poetische Darstellung eines trauernden Menschen ist nicht Sokrates oder der
Trauernde selbst, sondern Sokrates oder der Trauernde in einem bestimmten
Medium auf eine bestimmte Weise.
Im weiteren Fortgang der Poetik analysiert Aristoteles die für die Dichtung
spezifischen Medien (Kap. 1), ihre möglichen Gegenstände (Kap. 2) und ihre
Darstellungsmodi (Kap. 3). Die größte Bedeutung für die Differenzierung der
verschiedenen möglichen Arten von Dichtung wie für deren Qualität misst er
dem Gegenstand zu, den ein Dichter, wie er betont, sowohl (in der Tradition
oder in der [historischen] Wirklichkeit) finden als auch erfinden kann (1451
b18-29). Das Gewicht, das er auf die richtige Wahl des Gegenstands legt,
macht von einem weiteren Aspekt her deutlich, dass es voreilig ist, seiner Poe-
tik deshalb, weil sie zu Recht als eine Nachahmungspoetik verstanden werden
kann, pauschal ‚die Natur‘ (als Inbegriff der vom Menschen nicht geschaffe-
nen, sondern ihm vorgegebenen Wirklichkeit) als ‚den‘ Gegenstand, an dem
sich Dichtung orientieren solle, zuzuordnen.
Aristoteles selbst erklärt vielmehr den handelnden Menschen zum eigent-
lichen Gegenstand von Dichtung (Kap. 2)2 und entwickelt von diesem Aus-
gangspunkt aus schrittweise die Bedeutung, die ein prägnanter Begriff von
Handlung für die Gestaltungsprinzipien von Dichtung hat. Höhepunkt und
Zentrum der Analyse des für eine poetische Nachahmung eigentümlichen
Gegenstands ist, wie schon die ersten Kommentatoren der Poetik in der Re-
naissance gesehen haben, das 9. Kapitel mit seiner Unterscheidung der Dich-
tung von der Geschichtsschreibung. Aristoteles erlaubt sich allerdings bei der
Beschreibung dieser Unterscheidung eine verkürzte Ausdrucksweise, die für
seine ersten Hörer und Leser kaum missverständlich sein konnte, die aber im
geschichtlichen Horizont der Renaissance beinahe zwingend missverstanden
werden musste. Aristoteles sagt nämlich, die Dichtung stelle (mehr) etwas
Allgemeines dar, die Geschichtsschreibung dagegen das Einzelne, ‚das, was
Alkibiades getan und erlebt hat‘ (1451 b5-11).

2 Diese Bestimmung des Gegenstands dichterischer ‚Nachahmung‘ macht auch klar, dass es
nicht nötig ist, gegen den Gebrauch des Begriffs der Nachahmung zur Beschreibung dessen,
was Aristoteles ‚wirklich‘ gemeint hat, zu polemisieren. (So mit besonderer Schärfe und vie-
len geschichtlichen Beispielen einer vorgeblich falschen Aristoteles-Auslegung bei Jürgen H.
Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, Mün-
chen 2000). Aristoteles legt gewiss keinen allzu großen Wert auf den Gebrauch genau eines
bestimmten Wortes, sondern betont, dass es immer zuerst auf den gemeinten Sinn ankomme
(siehe z.B. Metaphysik 1030 b27f.); gerade beim Handeln aber gibt es einen Gebrauch von
‚nachahmen‘, der keineswegs eine sklavische Kopie, sondern ein eigenes, kreatives Tun
meint, das sich aber an etwas anderem orientiert. In der Helena des Euripides z.B. wird eine
Person gebeten: ‚ahme die gerechte Art deines Vaters nach‘. Gemeint ist dabei: ‚orientiere
dich an denselben Prinzipien wie dein Vater‘, nicht: ‚tue genau dasselbe, was er getan hat‘.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 67

Für Aristoteles ist – ich werde später darauf noch etwas genauer eingehen
– ein Einzelnes immer eine in bestimmter Weise eingeschränkte Verkörperung
eines Allgemeinen. Ein einzelnes Dreieck, zum Beispiel ein gleichseitiges
Dreieck im Sand, ist eine (und nur eine) Möglichkeit, wie etwas Dreieck sein
kann, und hat zudem noch eine Materie, den Sand, an sich, durch den dieses
einzelne Dreieck Akzidenzien hat, die mit seinem Dreiecksein überhaupt
nichts zu tun haben. An diesem einzelnen Dreieck kann man daher unterschei-
den zwischen seinen allgemeinen Aspekten, die ausmachen, dass es ein Drei-
eck und ein Dreieck von einer ganz bestimmten Eigenheit ist, und dem Dreieck
in seiner konkreten Einzelheit.
In dieser Einzelheit ist es über das hinaus, was es als (ein einzelnes) be-
stimmtes Dreieck ist – von mehr oder weniger beliebigen Aspekten bestimmt,
die über es als Dreieck nichts aussagen, die also, wenn man sie in eine Be-
schreibung dieses Dreiecks mit einbezöge, die Beschreibung verwirrend und
konfus machen würden. Wenn man wissen will, was ‚dies hier‘ für ein Dreieck
ist, hat man kein Erkenntnisinteresse an den Eigenschaften, die ‚dies hier‘ als
Sand hat.3 Diese Unterscheidbarkeit beruht auf der Voraussetzung, dass man
die vielen Möglichkeiten, wie etwas Dreieck sein kann – das ist die Sache
‚Dreieck‘ in ihrer nur begreifbaren Allgemeinheit –, abgrenzen kann gegen
eine einzelne Möglichkeit, wie etwas ein bestimmtes Dreieck ist, und dieses
wiederum von der Darstellung seiner Bestimmtheit in einer bestimmten Mate-
rie, etwa dem Sand.
Dieses Verständnis des Allgemeinen als eines Inbegriffs bestimmt unter-
scheidbarer und damit erkennbarer Möglichkeiten war allerdings bereits vom
Nominalismus des späten Mittelalters radikal in Frage gestellt worden. Als
allgemein wird seither nur noch anerkannt, was vielen Einzelnen gemeinsam
ist und irgendwie aus ihnen herausgelöst, von ihnen ‚abstrahiert‘ werden kann.
Von diesem ‚Herausgelösten‘ kann man dann fragen, ob es nur ein Produkt des
Denkens ist – das ist die Position des Nominalismus, die sich in Neuzeit und
Moderne weitgehend durchgesetzt hat –, oder ob es auch den einzelnen Dingen
immanent sei – diese Position gilt jetzt als aristotelisch – oder ihnen sogar als
eine transzendente Wesenheit vorgeordnet sei – diese Variante hält man jetzt
für platonisch.4

3 Vgl. dazu u.a. Aristoteles: Zweite Analytiken, Buch 2, Kap. 4, 5 und 24. Zur Unterscheidung
verschiedener Allgemeinbegriffe bei Aristoteles vgl. Verf.: Die Moderne und Platon, Stutt-
gart u. Weimar 2003, S. 315- 324 u. 407-417, sowie ders.: Das Universalienproblem bei Ari-
stoteles und seinen spätantiken Kommentatoren, in: Raif Georges Khoury (Hg.): Averroes
(1126-1198) oder der Triumph des Rationalismus, Heidelberg 2002, S. 59-86.
4 Vgl. Verf.: Die Moderne und Platon (Anm. 3), S. 19-35; ders.: Anschauung und Denken bei
Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlage-
rung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung, in: Enno Rudolph (Hg.): Die Renais-
sance und ihre Antike, Bd.1: Die Renaissance als erste Aufklärung, Tübingen 1998, S. 17-34.
68 Arbogast Schmitt

Auch wenn die erkenntnistheoretischen Einzelheiten, die zu dieser (Um-)


Formulierung des Universalienproblems geführt haben, in der Kommentierung
der Poetik oder in der Ausarbeitung eigener Literaturtheorien in der Renais-
sance keine Rolle spielen, das wichtigste Ergebnis dieser Neuformulierung des
Universalienproblems – die unmittelbare Hinwendung zu den sinnlich erfahr-
baren Einzeldingen und die Überzeugung, alles allgemeine Wissen über sie
könne nur aus der möglichst direkten, auf Sinneswahrnehmung und Empfin-
dung gegründeten Bekanntschaft mit ihnen selbst gewonnen werden – liefert
für so gut wie alle Versuche, ein neues Verständnis von Dichtung und Dich-
tungstheorie zu gewinnen, die leitende Vorgabe. Die unmittelbare Folge ist ein
neues, gegenüber Aristoteles eingeschränktes Nachahmungsverständnis. Ari-
stoteles versteht die Künste deshalb generell als Nachahmungen, weil ein Ge-
genstand der Kunst nie dieser Gegenstand selbst sein will, sondern immer
dieser Gegenstand in einem auf ihn verweisenden Medium. Deshalb spielt es
für die Frage, ob etwas eine Nachahmung ist, keine Rolle, ob der Gegenstand
erfunden oder aus der ‚Wirklichkeit‘ aufgenommen ist; Bedeutung gewinnt der
Gegenstand für Aristoteles erst bei der Frage nach den Qualitätskriterien von
Kunst. Weder einfach dadurch, dass es eine Fiktion ist, noch dadurch, dass es
irgendeine Wirklichkeit abbildet, hat etwas schon einen Kunstcharakter. Die-
sen muss es erst gewinnen, indem die Fiktion oder die Abbildung bestimmten
Kriterien, um deren Ermittlung sich Aristoteles intensiv bemüht, genügt.
Indem sich die frühe Neuzeit aber von der (vorgeblichen) mittelalterlichen
Verachtung der Welt löst und sich den Dingen der Welt zuwendet, gewinnen
diese den Charakter, die wahren Dinge zu sein – das, was eine Katze, ein Pferd
‚wirklich‘ ist im Unterschied zu den spekulativen Begriffskonstrukten einer
Katzheit, einer Pferdheit, usw. Fast keiner der ersten Poetik-Kommentatoren
versäumt es, die (empirisch faktische) Wirklichkeit mit der Wahrheit gleichzu-
setzen: Das, was wirklich geschehen ist oder geschieht, ist das Wahre, die vom
Dichter erfundene Welt ist eine fiktive Scheinwelt.5
Trotz der Tatsache, dass die Poetik-Kommentatoren der Renaissance – im
Unterschied zu einem sogar in einschlägiger Forschung immer noch verbrei-
teten Missverständnis – von der ersten Stunde an die Aufgabe der Dichtung in
der Erfindung einer fiktiven Welt (‚inventio‘, ‚fingere‘) gesehen haben, gerät
die Dichtung durch diese Gleichsetzung in eine Abhängigkeit von dieser ‚wah-
ren‘ Welt und erhält auf diese indirekte Weise in der Tat den Charakter einer
Nachahmung im Sinn einer Repräsentation oder Darstellung dieser wirklichen

5 Vgl. z.B. Robortello: Explicationes in librum Aristotelis, qui inscribitur De Poetica, Mün-
chen 1968 (ND der Ausgabe 1548), S. 2, 30, 79 und 86f. Siehe dazu Brigitte Kappl: Die Poe-
tiken in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Kap. Dichtung und Realität, Francesco Ro-
bortello; erscheint voraussichtlich Berlin u. New York 2004. Vgl. auch dies.: ‚Exemplar vi-
tae‘ – Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento,
in diesem Band, S. 167-180.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 69

Welt. Denn die Einzeldinge, die zum Allgemeinen nur durch ihre Gemeinsam-
keiten mit anderen Dingen eine Beziehung haben, gleichgültig, ob diese Ge-
meinsamkeit tatsächlich vorhanden ist oder nur von einem Subjekt so gesehen
wird, sind für sich selbst eben deshalb absolut singulär und ineffabel: Sie las-
sen sich, so wie sie sind, nicht an andere vermitteln und sind in ihrer Einzelheit
nicht erkennbar:
Alle Dinge, die wir empfinden, sind einzelne Dinge. Daher sieht ein jeder, daß die
anschauenden Urteile, oder die Sätze, die aus der Erfahrung fließen, nur einzelne,
oder höchstens besondre Wahrheiten in sich halten können, die allgemeinen Sätze
hergegen können niemals aus der Erfahrung allein fließen. 6
So formuliert zum Beispiel Gottsched diese auch im 18. Jahrhundert noch
unveränderte Grundüberzeugung. Wenn Dichtung daher überhaupt Aussprech-
bares, Verstehbares, Vermittelbares darstellen will, kann sie nicht einfach
wiedergeben, ‚was Alkibiades getan und erlebt hat‘, sie kann sich nicht auf das
beschränken, was der kluge Odysseus als eine einmalige, individuelle, histori-
sche Person getan hat, sondern muss ihn unter den Aspekten betrachten, die er
mit vielen oder möglichst allen Klugen oder noch besser mit der Klugheit
selbst gemeinsam hat.7
Der Blick auf diese vermeintliche Aufgabenstellung, die Aristoteles der
Dichtung als Dichtung (im Unterschied zur bloß Fakten wiedergebenden Ge-
schichtsschreibung) zugewiesen zu haben scheint, hat viele Interpreten der
Poetik von der Renaissance bis in die Gegenwart so sehr gefangen genommen,
dass fast alle erwogenen Deutungsvorschläge für die Interpretation des Aristo-
telschen Nachahmungskonzepts um die Möglichkeit, gerade diese Problem-
stellung zu bewältigen, kreisen.
Die Lösungsvorschläge, die mit dieser Zielsetzung gemacht werden, sind
so zahlreich und vielfältig, dass es bis heute keine Einigkeit auch nur über die
Grundaussagen der Poetik gibt. Die Schuld an diesem oft beklagten Zustand
wird – auch in diesem Punkt schon von den allerersten Poetik-Kommentatoren
der Neuzeit – Aristoteles selbst zugeschrieben. Seine Poetik sei ‚dunkel‘,
fragmentarisch, zu wenig ausgearbeitet, nur ein Skizzenheft für seine Vorle-
sungen, sei ein Produkt mehrerer nicht harmonisierter Überarbeitungen. Nicht
von allen, aber von einer sehr großen Zahl von Interpreten wird nicht beachtet,
dass allein dadurch die vorgebliche Unübersehbarkeit der Deutungen erheblich
an Überschaubarkeit gewonnen hätte, wenn man die Lösungsvorschläge der
Vorgänger zur Kenntnis genommen hätte. Gerade von vielen ganz neuen,
gegenwärtigen Interpretationsansätzen kann man zeigen, dass sie – in oft nur
geringfügiger Variation oder auch nur in anderer Formulierung – nicht nur im

6 Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, 1. theoretischer Teil,
Frankfurt a.M. 1965 (ND der Ausgabe Leipzig 1733), S. 69.
7 Vgl. z.B. Robortello: Explicationes (Anm. 5), S. 91.
70 Arbogast Schmitt

19. oder 18. Jahrhundert, sondern schon im 16. Jahrhundert vorgedacht waren.8
Tatsächlich lassen sich die meisten in der geschichtlichen Entwicklung entfal-
teten und zum Teil heute noch diskutierten Kontroversen auf die Möglichkei-
ten zurückführen, die sich aus dem in der Renaissance formulierten Verhältnis
des (poetisch) Allgemeinen zum (historisch) Einzelnen ergeben.
Wenn das Allgemeine (einfach) das vielen Einzelnen Gemeinsame ist,
kann man dieses Allgemeine beispielsweise in einer progressiven Begriffsbil-
dung suchen, indem man etwa viele einander mehr oder weniger gleiche Dinge
auf etwas absolut Gleiches, viele mehr oder weniger kluge oder tapfere Men-
schen auf die vollkommene Klugheit oder Tapferkeit selbst zurückführt. Man
kann auch weniger spekulativ vorgehen und, dem antiken Vorbild des Zeuxis
folgend, aus vielen schönen Frauen die schlechthin schöne Frau zusammenset-
zen. Man kann dem Vorrang des empirisch Einzelnen noch mehr Recht ein-
räumen: Wenn man die Annahme, die empirische Welt sei als solche eine
absolut vollkommene Verwirklichung von Regel und Ordnung, in den Vorder-
grund stellt und daraus die unmittelbare Konsequenz zieht, dass sich das All-
gemeine an dem, was in dieser vielfältigen Vollkommenheit immer wieder-
kehrt und gleich bleibt, unmittelbar ablesen lässt, dann wird man sich auf das
Exemplarische, Typische, Wiederkehrende, bei vielen immer wieder Gleiche
stützen, auf das, was sich in Regel und Gesetz fassen lässt, oder auch, wenn
man die Geschichtlichkeit des menschlichen Denkens noch mehr berücksich-
tigt, auf das, was den einzelnen Verhaltensweisen der Menschen einer be-
stimmten Gesellschaft in einer bestimmten geschichtlichen Situation als all-
gemeine Maximen und Muster ihres Verhaltens zu Grunde liegt.
Man braucht nur einen kleinen Schritt über diese Position hinauszugehen
und den Aspekt, dass diese Gemeinsamkeiten immer so sind, wie sie von be-
stimmten Subjekten gesehen werden, mit einzubeziehen und man hat eine
‚Wende zur Subjektivität‘ vollzogen. Das Allgemeine wird dann als das, was
den meisten Menschen oder den Menschen einer bestimmten Gesellschaft so
zu sein scheint, verstanden. Diesen Schritt hat ausdrücklich und nachdrücklich

8 Ein Beispiel ist etwa Gerrit Kloss: Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der
Aristotelischen Poetik, in: Rheinisches Museum 146 (2003), S. 161-182, der in einer durchaus
scharfsinnigen Interpretation zu dem Ergebnis kommt, Aristoteles verpflichte den Dichter
nicht darauf, bestimmte Regeln einer empirischen oder idealen Wirklichkeit einzuhalten,
sondern lediglich eine plausibel motivierte, in sich stimmige Ereignisfolge zu konzipieren.
Die gleiche These kann man z.B. schon bei Jacopo Mazzoni: Della difesa della Comedia di
Dante, Cesena 1587, Introduttione § 46, oder bei Faustino Summo: Discorsi poetici, Mün-
chen 1969 (ND der Ausgabe Padua 1600), 46r nachlesen. Andreas Kablitz: Dichtung und
Wahrheit – Zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento, in: Klaus W.
Hempfer (Hg.): Ritterepik der Renaissance, Stuttgart 1989, S. 77- 122, hier: S. 101-103, sieht
hier zum ersten Mal eine der Aristotelischen Intention wirklich gerecht werdende Auslegung
erreicht, der er auch selbst zustimmt. In der Aristotelischen Poetik werde „die Legitimität der
Fiktion durch die Struktur des Dargestellten gesichert“ (ebd., S. 99).
Was macht Dichtung zur Dichtung? 71

schon die Renaissance gemacht,9 und es dürfte kaum schwer zu sehen sein,
dass es, wenn dieser Schritt einmal getan ist, auch wieder nur einen kleinen
Schritt braucht, um das, was den meisten so zu sein scheint, nicht mehr als die
‚Wirklichkeit‘ aufzufassen, sondern nur noch als das, was man vielen oder
einzelnen als glaubwürdig darstellen kann. Dieses Glaubwürdige kann viele –
psychologisch begründete – Ursachen haben, es kann auch rein in der inneren
Konsistenz und Logik einer Darstellung gesucht und in diesem Sinn auch als
etwas rein Ästhetisches verstanden werden.
Auch die subjektiven Zugangsweisen zu dem von der Dichtung gesuchten
Allgemeinen sind in der Entwicklung seit der Renaissance immer wieder an-
ders beurteilt worden, sie bewegen sich aber fast durchweg zwischen zwei
Polen: Entweder man ermittelt das Allgemeine auf rationale Weise, indem
man, gestützt auf die bewusste Beobachtung des Gemeinsamen, Regel und
Gesetz (und damit auch Symmetrie, Harmonie, Proportion oder überhaupt
Form, Gestalt usw.) in den Erscheinungsformen des Einzelnen aufweist, oder
man stützt sich auf unmittelbare Erfahrungsweisen, auf Schau, Intuition, Ge-
fühl, Genie und dergleichen, um in dem auf diese Weise Erfühlten oder Er-
schauten Regel und Gesetz – in zunehmend subjektivierterer Form, als be-
stimmte Modi des Bewusstseins (sc. und nicht mehr als Erscheinungsweisen
der objektiven Welt) – zu finden.
Alle diese Varianten mit ihren möglichen Mischformen und Extremen
aufzuzählen ist hier nicht möglich; die angeführten Beispiele genügen aber
sicher, um zu belegen, dass sich viele der in der Geschichte entwickelten oder
in der Forschung vorgeschlagenen Interpretationen trotz ihrer scheinbaren
Pluralität um wenige Grundmöglichkeiten gruppieren lassen, die ihrerseits alle
aus einer einzigen Aufgabenstellung abgeleitet sind.
Diese aus einer vermeintlichen radikalen Entgegensetzung des Einzelnen
und des Allgemeinen bei Aristoteles erschlossene Aufgabenstellung hat aber
die Perspektive der Forschung in nicht unerheblicher Weise eingeschränkt.
Gerade das 9. Kapitel der Poetik macht eine Reihe eindeutiger und kaum am-
bivalent deutbarer Aussagen, die mit allen eben erwähnten Deutungen nicht
vereinbar sind. Noch evidenter wird der Abstand des Aristotelischen Nachah-
mungsverständnisses von seinen modernen Rezeptionsweisen, wenn man die
Poetik nicht einfach aus ihr selbst zu verstehen sucht, sondern – der Praxis der
antiken und mittelalterlichen Kommentatoren folgend – die systematischen
Voraussetzungen der einzelnen Lehrstücke aus anderen Disziplinen bei Ari-
stoteles, auf die Aristoteles sogar häufig selbst verweist, zur Erklärung mit

9 Vgl. z.B. Robortello: Explicationes (Anm. 5), S. 87f.; Giovambattista Giraldi Cinzio: Scritti
critici, hg. von Camillo Guerrieri Crocetti, Mailand 1973, S. 76; Giovanni Antonio Viperano:
De poetica libri tres (1579), München 1967, S. 47; weitere Belege siehe den Beitrag von Bri-
gitte Kappl in diesem Band.
72 Arbogast Schmitt

einbezieht. In diesem Sinn möchte ich im Folgenden eine möglichst eng am


Text sich bewegende Interpretation vorlegen, eine Interpretation, die sich aber
nicht einfach auf die wenigen Sätze des ersten, grundlegenden Abschnitts des
9. Kapitels beschränkt, sondern diejenigen Texte zur Erklärung mit benutzt,
die die von Aristoteles gebrauchten Begriffe und die dargelegten Zusammen-
hänge aus den in anderen Disziplinen von Aristoteles bereits ausgeführten
Lehrinhalten erklären.10
Ich beginne mit einer thesenhaften Zusammenfassung der vorgelegten In-
terpretation und schließe eine eingehende, begründende Texterklärung an.

These

Aristoteles formuliert im 9. Kapitel das zentrale Formprinzip, durch das sich


Dichtung von einer prosaischen Wiedergabe der Wirklichkeit, wie sie ist, un-
terscheidet. Thema der Kapitel 7-9 ist die Frage, wie eine dichterische Dar-
stellung Einheit gewinnt. Das Kapitel 8 schließt aus, dass diese Einheit durch
eine bloße Wiedergabe der Wirklichkeit zu Stande kommen könnte, auch
dann, wenn man sich auf einen einzelnen Gegenstand, zum Beispiel auf eine
Person beschränkt. Auch das, was eine Person tut oder erlebt, kann unbe-
stimmbar vieles sein (1451 a16-22). Nur durch die Konzentration auf eine
Handlung im strengen Sinn, die aus einer charakterlich bestimmten Entschei-
dung hervorgeht, kann die Beliebigkeit und Konfusion der Wirklichkeit ver-
mieden und eine Darstellung erreicht werden, in der jeder Handlungsschritt
seine notwendige Stelle in einem einheitlichen Ganzen einnimmt (1451 a22-
35). Auf diesem Ergebnis aufbauend bestimmt das 9. Kapitel ‚das Werk‘
(Érgon) des Dichters, das heißt das, was das Poetische an einer dichterischen
‚Nachahmung‘ ausmacht. Das, was in einer dichterischen Nachahmung darge-
stellt wird, soll nicht einfach etwas sein, was wirklich geschehen ist, sondern
das, was geschehen müsste und möglich ist (1451 a36-38). Dabei soll die
Nachahmung, also die konkret dargestellte Handlung, so sein, wie sie gesche-
hen müsste, das heißt, wie sie – wahrscheinlich oder notwendig – im Einzelnen
durchgeführt werden müsste, wenn sie dem, was einem bestimmten Charakter

10 Ich stütze mich im Folgenden zum Teil auf (oft verkürzte) Auszüge aus dem oben erwähnten
(Anm. 1) Kommentar zur Aristotelischen Poetik. Vgl. zur selben Thematik – unter verschie-
denen Aspekten auch Verf.: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles. Wie kommen nach
Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Rainer Warning u. Karlheinz
Stierle (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1995 (Poetik und Hermeneu-
tik.15), S. 528-563; Verf.: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren und Poeti-
ken der Renaissance, in: Gerhard Neumann u. Andreas Kablitz (Hg.): Mimesis und Simula-
tion, Festschrift Rainer Warning, München 1998, S. 17-53; Verf.: Die Literatur und ihr Ge-
genstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas Buchheim u.a. (Hg.): Kann man heute
noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, S. 184-219.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 73

möglich ist, gemäß sein soll (1451 b5-11). Zur Erläuterung dieser noch ab-
strakt unbestimmt formulierten Aufgabenstellung erinnert Aristoteles zunächst
noch einmal daran, dass ein Prosatext nicht durch formale Gestaltungsmittel
zur Poesie gemacht werden kann; auch ein versifizierter Herodot wäre Ge-
schichtsschreibung, nicht Dichtung. Der Unterschied ergebe sich aus der Kon-
zentration auf das, was geschehen müsste, das heißt auf das, was einem Men-
schen von bestimmtem Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit
zu sagen oder zu tun zukommt. Durch diese Motivierung des einzelnen Han-
delns in den allgemeinen Vorlieben und Abneigungen eines Charakters sei die
Dichtung philosophischer – weil allgemeiner – als die Wiedergabe geschichtli-
cher Einzelfakten (1451 a39-b11).
‚Das, was geschehen müsste‘, ist also das, was ein bestimmter Charakter
mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit in einer bestimmten Situation tun
müsste, wenn er sich, das heißt wenn er das, was ihm als diesem bestimmten
Charakter möglich ist, in einer einzelnen Handlung verwirklichen würde. Eine
dichterische Darstellung macht die einzelnen Handlungen eines Menschen
verstehbar, weil diese seine allgemeinen charakterlichen Tendenzen zum Aus-
druck bringen, das heißt im Medium der Sprache und in dramatischer Darstel-
lungsweise ‚nachahmen‘. Durch die Orientierung an der inneren Form eines
Charakters gewinnen auch die einzelnen Handlungen Zusammenhang, Ord-
nung und Form. Prosaisch und (mehr oder weniger) formlos ist die Ge-
schichtsschreibung, weil sie dieses Auswahlprinzip nicht konsequent anwen-
den kann, sondern jedes Einzelne wiedergeben muss, wie es durch Zufall oder
Absicht zu Stande gekommen ist.

Vorläufige Bestimmung des Gegenstands der Dichtung

Der erste Satz des Kapitels macht zunächst eine Aussage über den Gegenstand
von Dichtung. Nicht einfach das, was geschieht oder geschehen ist, das heißt
nicht die empirische Wirklichkeit als Ganze (mit ihrer Mischung aus Zufall,
Regelmäßigkeit und Notwendigkeit)11 ist Gegenstand der Dichtung, sondern
nur ein Geschehen, das so ist, „wie es geschehen müsste (oder könnte) und
möglich ist“: „o…a ˜n genoito kai ta dunatá“. O…oß bedeutet ‚so beschaffen,
wie‘. Aristoteles stellt dem Dichter also die Aufgabe, ein Geschehen, das eine
ganz bestimmte Qualität hat, zu konzipieren. Er soll eine einzelne Handlung so
erfinden oder auch finden, dass sie genau die Beschaffenheit hat, die sie
(wahrscheinlich oder notwendig) haben müsste, wenn sie (diese Ergänzung
bringt die präzisierende Wiederholung des Anfangssatzes in 51 b8f.) rein und
nur Ausdruck bestimmter Charakterhaltungen ist.

11 Vgl. z.B. Aristoteles: De generatione et corruptione 333 b7.


74 Arbogast Schmitt

Die Tätigkeit des Dichters beschreibt Aristoteles hier einfach als légein
(sagen). Es ist aber aus dem engeren und weiteren Kontext zu erschließen, dass
légein an dieser Stelle einfach ein Synonym für poieîn (dichten) oder mimeî-
sqai (nachahmen) ist. Es ist auch von der Sache her klar. Denn der Dichter
könnte ja auch eine Kopie der Wirklichkeit nur im Medium der Sprache auf
der Bühne darstellen, und das heißt, nicht als sie selbst, sondern nur in einer
Wiedergabe in etwas anderem, eben als eine ‚Nachahmung‘. Wenn das, was
der Dichter ‚sagt‘, eine Nachahmung ist, dann heißt das also, dass er eine kon-
krete einzelne Handlung darstellt, die aber nicht einfach für sich selbst steht,
sondern etwas nach-ahmt, also an etwas Maß nimmt, was nicht schon in ihr
selbst liegt.
Dass dieses Maß nicht die vorgegebene, äußere Wirklichkeit sein soll, sagt
Aristoteles deutlich. Was aber meint er mit ‚wie es geschehen müsste und
möglich ist‘? Da ‚das, was geschieht‘ genau das ist, was in der Wirklichkeit
sich vollzieht, enthält das o…a Àn génoito eine Vorgabe oder Maßgabe, der
dieser wirkliche Vollzug gemäß sein oder gemacht werden soll. Im Unter-
schied zu dem, was man gewöhnlich für Nachahmung hält, scheint Aristoteles
zu verlangen, dass man beim Nachahmen gerade nicht wiedergibt, was man ‚in
der Wirklichkeit‘ vor sich hat, sondern dass der Dichter ‚seine‘ Wirklichkeit,
die er in seiner Dichtung schafft, nicht durch das Hinblicken auf die äußere
Realität gestaltet und formt, sondern indem er Maß nimmt an etwas, wonach
sich auch eine in wirklichem Vollzug vorgeführte Handlung richten müsste
oder könnte.
Dieses Maß ist nach der Erklärung, die das 9. Kapitel gibt, der Charakter
eines Menschen. Denn Aristoteles unterscheidet ‚das Mögliche‘, das der Dich-
ter darstellt, von den Einzelfakten, zum Beispiel von all dem, was Alkibiades
getan oder erlebt hat, durch eine Einschränkung. Der Dichter soll sich bei
seiner Auswahl an folgender Frage orientieren: „Einem Menschen von welcher
Beschaffenheit kommt es mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zu,
etwas genau dieser Beschaffenheit Gemäßes zu sagen oder zu tun?“

Probleme der Übersetzung

Zunächst eine kurze Begründung der Übersetzung. Die wörtliche Formulie-


rung bei Aristoteles lautet: „Es besteht das Allgemeine aber darin: dem Wiebe-
schaffenen kommt in bestimmter Weise Wiebeschaffenes zu sagen oder zu tun
zu gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen“ (1451 b8f.). Die präpo-
sitionale Wendung „gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen“ könnte
man, und so denken viele Übersetzer und vor allem viele Interpreten, für eine
genauere Erklärung des Objekts der Infinitive oder auch der Infinitive ‚sagen‘
oder ‚tun‘ selbst halten, man kann sie aber auch als adverbielle Erklärung des
Was macht Dichtung zur Dichtung? 75

Prädikats ‚[es] kommt zu‘ verstehen. Daraus ergeben sich drei Verständnis-
möglichkeiten des Satzes: (1) ‚Das Wiebeschaffene‘, das ein Dichter einen
Menschen sagen oder tun lässt, soll gemäß dem Wahrscheinlichen oder Not-
wendigen sein, das heißt ein Dichter soll einen Charakter nur mit solchen Ei-
genschaften ausstatten, die den Forderungen der Wahrscheinlichkeit oder
Notwendigkeit genügen. (2) Das Reden und Tun der Figuren einer Dichtung
soll ein Reden oder Tun sein, das Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit hat.
Nur solche Worte und Taten, die den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder
Notwendigkeit entsprechen, sollten vom Dichter ausgewählt werden. So über-
setzt beispielsweise Olof Gigon: „Das Allgemeine besteht darin, darzustellen,
was für Dinge Menschen von bestimmter Art reden oder tun nach Angemes-
senheit oder Notwendigkeit.“12 Ihr Reden und Tun also soll den Forderungen
der Angemessenheit und Notwendigkeit gehorchen.
Beiden Übersetzungsmöglichkeiten gemeinsam ist, dass die Formel ‚ge-
mäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ die Erklärung für das enthal-
ten müsste, was Aristoteles für das Dichterische an einer Handlungsdarstellung
hält: Die Eigenschaften eines Menschen und/oder sein Reden und Tun sollen
so sein, dass sie nicht nur auf irgendwelche Einzelzüge oder Einzeltaten dieses
individuellen Menschen zutreffen, sondern sie sollen zu Menschen von einer
bestimmten Art gehören, deren Verhalten dem entspricht, was zumeist oder
sogar notwendig eintritt. Denn das Wahrscheinliche ist nach Aristoteles das,
von dem man weiß, dass es meistens geschieht; zum Notwendigen gehört
sogar, dass es immer geschieht.13 Diese beiden Übersetzungsweisen bilden die
Voraussetzung für diejenige Deutung des Allgemeinen der Dichtung, die die
Neuzeit seit den ersten Renaissance-Kommentaren so oft gesucht hat.
(3) Von der grammatikalischen Konstruktion des Satzes her gleich mög-
lich, ja plausibler ist die Beziehung des Präpositionalausdrucks ‚gemäß dem
Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ auf das Prädikat, dem er dann als Ad-
verbiale zugeordnet ist. Das würde bedeuten, dass die Erklärung „mit Wahr-
scheinlichkeit oder Notwendigkeit“ das Prädikat „zukommen“ präzisiert. Es
soll das, was ein bestimmter Charakter sagt oder tut, diesem „mit Wahrschein-
lichkeit oder Notwendigkeit zukommen“. Eine wörtliche Übersetzung, die aber
in der Wortstellung die Satzlogik deutlicher zum Ausdruck bringt, müsste also
lauten: „Einem Wiebeschaffenen kommt es mit Wahrscheinlichkeit oder Not-
wendigkeit zu, in bestimmter Weise Wiebeschaffenes zu sagen oder zu tun.“
Dieser Sinn ist auch von der Sache her gefordert. Denn der Unterschied, auf
den die Aristotelische Argumentation mit Nachdruck zielt, ist ja, dass ein
Dichter nicht alles, was ein Herakles, ein Theseus oder ein Alkibiades tut oder

12 Vgl. Olof Gigon: Aristoteles. Vom Himmel – Von der Seele – Von der Dichtkunst, übers. und
eingel. von Olof Gigon, Zürich 1950, S. 403f.
13 Vgl. z.B. Aristoteles: Erste Analytiken 70 a5ff.; Metaphysik 1010 b28; 1015 a34; 1072 b12.
76 Arbogast Schmitt

erlebt, wiedergeben soll, sondern ausschließlich das, was einem Herakles,


Theseus oder Alkibiades zu sagen oder zu tun zukommt, das heißt was für sie
eigentümlich ist (Kap. 8). Diese Forderung formuliert Aristoteles im 15. Ka-
pitel ganz unzweideutig:
auch bei der Zusammenstellung der Handlungen muss man immer das Notwendige
oder Wahrscheinliche suchen. Es muss notwendig oder wahrscheinlich sein, dass
ein Mensch von bestimmter Art genau dieser Art Gemäßes sagt oder tut (1454 a33-
36).
Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit sind also Forderungen an das Verhält-
nis, in dem das, was ein Dichter eine Person sagen oder tun lässt, zu dem Cha-
rakter steht, dem ein Dichter diese Worte und Taten zuschreibt. Aristoteles
fordert nicht, dass ein Dichter seine Personen nur Wahrscheinliches oder gar
Notwendiges tun lassen solle, also etwa, dass er jemanden, dessen Herz von
einem Schwert durchbohrt wurde, sterben lässt,14 während es nicht zulässig
wäre, jemanden, wie etwa Thomas Mann dies darstellt, an einem kranken Zahn
sterben zu lassen. Das, was Aristoteles fordert, ist vielmehr, dass alles das, was
man eine Person sagen oder tun lässt, als Äußerungsformen einer bestimmten
Charakterverfassung verstanden werden kann. Wenn Achill heftig und uner-
weichlich gegen Agamemnon zürnt, sich aber von Priamos leicht und ver-
söhnlich von seinem übergroßen Zorn auf Hektor abbringen lässt, dann ist es
Aufgabe eines Dichters, wahrscheinlich zu machen oder es sogar als notwen-
dig erscheinen zu lassen, dass es tatsächlich ein und derselbe Achill mit seiner
bestimmten Art von Charakter ist, zu dem beides passt.
Wenn man von diesem Ergebnis her auf den Eingangssatz des Kapitels zu-
rückblickt, der ja in noch abstrakt unbestimmter Form dieselbe Forderung
aufstellt, dann dürfte klar sein, dass auch hier die gewohnte Übersetzung nicht
möglich ist. Halliwell zum Beispiel schlägt – immer noch im Sinn der Renais-
sance-Kommentare – vor: „the poet’s task is to speak [...] of the kind of events
which could occur, and are possible by the standards of probability or neces-
sity.“15 Ähnlich, noch deutlicher in der Aussage, hatte auch Fuhrmann 1976
übersetzt: „Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, [...] was geschehen könnte,
das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit
Mögliche.“16 Die Wendung ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘
wird hier also ihrer Satzfunktion nach als Attribut zu dem ‚Möglichen‘ ver-
standen: Es soll ein dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen gemäßes Mögli-
ches sein, so wie dann in der präzisierenden Wiederholung dieses Satzes

14 Vgl. z.B. Lodovico Castelvetro: Poetica d’ Aristotele Vulgarizzata e Sposta, hg. von Werther
Romani, Vol. I und II, Roma u. Bari 1978-79, Vol. I, S. 249-251; vgl. dazu auch den Beitrag
von Brigitte Kappl in diesem Band.
15 Vgl. Stephen Halliwell: The „Poetics“ of Aristotle. Translation and Commentary, London
1987, S. 40.
16 Vgl. Manfred Fuhrmann: Aristoteles, Poetik, eingel., übers. und erl., München 1976, S. 58.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 77

(1451b8f.) die Eigenschaften (das ‚Wiebeschaffene‘ eines ‚Wiebeschaffenen‘)


nicht individuelle, sondern den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit folgende
Eigenschaften sein sollen.
Die Vermutung, die zu dieser Übersetzung führt, ist, dass für Aristoteles
die Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Grund dafür sind, dass
etwas möglich, und zwar eine mögliche Realisation ist. Die Wendung ‚nach
dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ wäre dann die eigentliche Sachex-
plikation des ‚Möglichen‘. Was eine solche Übersetzung Aristoteles unter-
stellt, muss man fast absurd nennen. Denn Aristoteles, der über eine hoch dif-
ferenzierte Modallogik verfügt, soll hier behaupten, man müsse etwas dar-
stellen, was nach den Regeln des Wahrscheinlichen oder Notwendigen mög-
lich ist. ‚Möglich‘ (als Modalprädikat, das heißt als Begriff, der in Beziehung
gesetzt werden kann mit den Begriffen ‚notwendig‘ und ‚wahrscheinlich‘) ist
nach Aristoteles, ‚was auch anders sein kann‘, ‚notwendig‘ ist genau das, bei
dem dies ausgeschlossen ist.17 Wenn es (nur) möglich ist, an einem kranken
Zahn zu sterben, dann ist es nicht notwendig und oft nicht einmal wahrschein-
lich, dass man an dieser Krankheit tatsächlich stirbt, sondern man kann dann
diesen Verlust auch überleben. Zu fordern, man solle ein mögliches Geschehen
gemäß seiner Notwendigkeit darstellen, ist widersinnig. Denn es hat ja gerade
keine derartige Notwendigkeit an sich. Man kann ‚das, was auch anders sein
kann‘ nicht ‚gemäß der Unmöglichkeit, anders zu sein‘ darstellen.
Die Bestimmung „gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen“ kann
also auch im ersten Satz dieses Kapitels nicht als eine (modal)attributive Erklä-
rung zu dem ‚Möglichen‘, das der Dichter darstellen soll, verstanden werden,
sondern als genauere Erklärung der dichterischen Tätigkeit: Das, was der
Dichter ‚sagt‘, das heißt die Nachahmung, die er konzipiert, soll nicht irgend-
ein Geschehen wiedergeben, sondern ein Handeln von besonderer Art, es soll
mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit genau so sein, „wie es geschehen
müsste und [für einen Menschen von bestimmter Art] möglich ist“. Eine kor-
rekte Übersetzung des ersten Satzes muss also lauten: „Aufgrund des Gesagten
ist evident, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist, zu sagen, was geschehen ist,
sondern eine wahrscheinliche oder notwendige Darstellung von dem zu geben,
was geschehen müsste und möglich ist.“

Der Charakter als etwas ‚Mögliches‘ und ‚Allgemeines‘

Aus den Überlegungen zur Übersetzung ergibt sich bereits, dass der Zusam-
menhang zwischen Charakter und Handlung die zentrale Forderung ist, die
Aristoteles an eine Dichtung stellt, und dass er von ihrer Erfüllung auch die

17 Vgl. Anm. 12.


78 Arbogast Schmitt

einheitliche Gestaltung eines Dichtwerks abhängig glaubt. Es gibt aber noch


eine ganze Reihe von Aussagen, die wegen der prägnanten Kürze, in der Ari-
stoteles sich ausdrückt, einer ausführlicheren Kommentierung bedürfen.
Dass Aristoteles unter der ‚bestimmten Beschaffenheit‘ eines Menschen
seinen Charakter versteht, braucht keine Begründung, denn das sagt er im 6.
Kapitel selbst ausdrücklich: „gehandelt wird von Handelnden, die notwendi-
gerweise auf Grund ihres Charakters und ihrer Erkenntnishaltung eine be-
stimmte Beschaffenheit haben“ (1449 b36-39), und ähnlich, wenig später noch
einmal: „auf Grund unseres Charakters haben wir eine bestimmte Beschaffen-
heit“ (1450 a19). (Bei dem, was wir einheitlich mit dem Begriff ‚Charakter‘
belegen, unterscheidet Aristoteles zwischen Verhaltensformen, die mehr auf
Übung und Gewöhnung – Êqoß – beruhen, und solchen, die durch Belehrung
und Denken erworben werden – diánoia. Erst Êqoß und diánoia zusammen
machen das aus, was etwa unserem Charakterbegriff entspricht.)18
Warum und in welchem Sinn aber spricht er einem Reden und Handeln,
das genauso ist, wie es einem bestimmten Charakter zukommt, eine Art All-
gemeinheit zu? Die Antwort muss zunächst durch eine genauere Berücksichti-
gung dessen, was Aristoteles unter einem Charakter begreift, gesucht werden.
Dass Aristoteles einen Charakterbegriff hat, der sich von den meisten Vorstel-
lungen von Charakter, die die Neuzeit entwickelt hat, unterscheidet, ist oft
gesagt worden. Zuletzt hat Halliwell die wesentlichen Differenzen gut heraus-
gearbeitet.19 Eine Charaktervorstellung, für die Charakter das sein muss, was
allem, was ein bestimmter Mensch fühlt und tut, zu Grunde liegt und ihn in
allem zu etwas eigentümlich Individuellem macht,20 kennt Aristoteles nicht.
Von seinen Voraussetzungen her fehlt derartigen Charakterbegriffen die Mög-
lichkeit, zwischen den Aspekten, unter denen ein Mensch einen individuellen
Charakter hat, und den Aspekten, unter denen er auf Äußeres mehr oder weni-
ger passiv reagiert und in unselbständiger Weise allgemeinen Tendenzen,
Konventionen, Klischees usw. folgt, zu unterscheiden.
Entscheidend für Aristoteles ist vielmehr, dass ein Charakter aus der Art
und Weise entsteht, wie ein Mensch seine Vermögen, die ihm als Mensch
überhaupt und als Mensch mit einer bestimmten natürlichen Formung dieser
Anlagen zur Verfügung stehen, ausgebildet hat.21 Charakter hat man nicht

18 Vgl. u.a. Aristoteles: Nikomachische Ethik, I, 13.


19 Vgl. Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetics. A Study of Philosophical Criticism, London
1986, S. 149f., 151 und 154-156. Zur Kritik an Halliwells Reduktion des aristotelischen Cha-
rakterbegriffs auf allgemeine Handlungsmuster vgl. Verf.: Die Literatur und ihr Gegenstand
(Anm. 10), S. 194ff.
20 Dazu, dass dieser umfassende, jede Einzelheit eines individuellen Lebens einschließende
Charakterbegriff aus einer Übertragung des stoischen Schicksalsbegriffs auf das einzelne In-
dividuum entstanden ist, vgl. Verf.: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 10), S. 200f.
21 Vgl. u.a. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1103 a14-26; 1111 b5ff.; vgl. dazu Eckart
Schütrumpf: Die Bedeutung des Wortes ‚ethos‘ in der Poetik des Aristoteles, München 1970,
Was macht Dichtung zur Dichtung? 79

bereits, weil man bestimmte Vermögen hat – Aristoteles denkt dabei vor allem
an die psychischen Vermögen: Wahrnehmung, Vorstellung, Meinung, ratio-
nales Urteilen, intellektives Einsehen, aber auch an die mit diesen Erkennt-
nisaktivitäten verbundenen Formen der Lust- und Unlusterfahrung und die aus
beiden entstehenden Strebeformen der Begierde, des Eifers und des vernünfti-
gen Willens22 –, Charakter wird aus diesen Vermögen erst, wenn sie durch
Übung, Gewöhnung, Belehrung und selbständiges Begreifen in einen festen
Habitus (in eine ‚ciß) überführt sind.
Auch für diesen Habitus verwendet Aristoteles den Begriff der Dynamis
(Möglichkeit, Vermögen), ja er ist für ihn erst Dynamis im eigentlichen Sinn.
In seiner Psychologie erläutert er den Unterschied zwischen einer Dynamis,
die nur eine Möglichkeit ist, und einer Dynamis, die ein ausgebildetes Vermö-
gen darstellt.23 Der Mensch, so führt er dort aus, hat zum Beispiel von seiner
Natur her die Möglichkeit, Wissen zu erwerben. Diese Möglichkeit bedeutet
aber nicht, dass er bei jeder Wissen erfordernden Gelegenheit über die Fähig-
keit, dieses Wissen einzusetzen, es zu ‚verwirklichen‘, verfügt. Ein solches
Vorgehen steht ihm erst zu Gebote, wenn er die Möglichkeit, Wissen zu erlan-
gen, zu einer wirklichen Fähigkeit entwickelt hat. Dieser Besitz steht ihm dann
als das Vermögen, jederzeit das vorhandene Wissen anzuwenden, zur Verfü-
gung. Wer etwa eine bestimmte Sprache erlernt hat, kann, wenn nichts Äuße-
res (zum Beispiel Krankheit oder Rausch) ihn daran hindert, jederzeit einzelne
Äußerungen in dieser Sprache verstehen; er verfügt grundsätzlich, allgemein
über die Fähigkeit, sein Wissen in beliebigen Einzelfällen zu aktualisieren.
Wer Griechisch kann, bei dem ist es in Bezug auf sein Wissen notwendig und
in Bezug auf mögliche Behinderungen der Aktualisierung dieses Wissens
wahrscheinlich, dass er einen bestimmten griechischen Satz verstehen kann.
Will man zeigen, dass jemand die griechische Sprache beherrscht, kann
man dies auf zweierlei Weise: Man kann es abstrakt benennen: ‚dieser Mensch

S. 1-46; zum Aristotelischen Begriff des Charakters vgl. auch Jakob Wisse: Ethos and Pathos
from Aristotle to Cicero, Amsterdam 1989, der allerdings die bedeutende Umformung des
Aristotelischen Charakterbegriffs im Hellenismus nicht genau genug herausarbeitet.
22 Zur Genese des Handelns aus dem Zusammenwirken dieser Vermögen vgl. Viviana Cessi:
Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987, S.
127-183.
23 Vgl. u.a. Aristoteles: De anima, II, 5; vgl. dazu Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Sponta-
neität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, S. 54-68). In der Neuzeit ist es
vor allem Shaftesbury, der sich an diese Aristotelische Dynamis-Konzeption anschließt und
dadurch in der Tat dem bei Aristoteles Gemeinten oft sehr nahe kommt, ohne dass er aber ei-
ne spezifisch neuzeitliche, und das heißt auch: neostoische Position aufgäbe. Vgl. dazu die
subtilen Ausführungen bei Friedrich A. Uehlein in diesem Band, S. 215-229. Für die Be-
stimmung des Verhältnisses zu Aristoteles wichtig wäre die Klärung der Frage, wie weit
Shaftesbury die poseidonische Konzeption einer dúnamiß zwtikë (frg. 78,65; 310,65 Thei-
ler), einer Lebenskraft, direkt oder indirekt mit rezipiert hat.
80 Arbogast Schmitt

beherrscht das Griechische‘. Diese Art der Beschreibung bleibt eine bloße,
inhaltsleere, nicht nachprüfbare Behauptung, selbst wenn man sie mit vielen
Worten ausschmückt: ‚vollendet, frei, fließend, wunderbar‘. Man kann diesen
Menschen aber auch in bestimmten Situationen vorführen, in denen er beliebi-
ges Gesprochenes oder Geschriebenes versteht und darüber spricht. Dann weiß
man wirklich, dass er Griechisch kann und hat davon zugleich konkrete Vor-
stellungen. Diese letztere Art der Darstellung eines Könnens ist die, die Ari-
stoteles bevorzugt (siehe Kap. 24) und bei der Darstellung des Handelns eines
Charakters angewendet wissen will.
Aber auch bei den ethischen Charaktereigenschaften gilt dieselbe Unter-
scheidung zwischen den beiden Formen des ‚Möglichen‘. Wer etwa nicht nur
hin und wieder einmal tapfer ist, sondern wer Tapferkeit als eine feste Cha-
raktereigenschaft besitzt, der muss das allgemeine Vermögen des Menschen,
dass er zwischen zu Fürchtendem und nicht zu Fürchtendem unterscheiden
kann, durch Gewöhnung und eigenes Begreifen so ausgebildet haben, dass er
weiß, welcher Gefahr er standhalten kann und welcher nicht. Und es müssen
auch die mit dem jeweiligen ‚Wissen‘ verbundenen Formen der Lust und Un-
lust und das aus ihnen sich ergebende Streben oder Meiden in ihm zu einer
festen Erfahrungshaltung ‚zusammengewachsen‘ sein, dann erst ist Tapferkeit
ein wirklicher Zug seines Charakters und Tapferkeit eine dúnamiß in ihm, die
er jederzeit ihr gemäß entfalten kann.24 Das heißt: Dann kann er grundsätzlich
immer tapfer handeln und wird dieses bestimmte Vermögen normalerweise
auch mit Notwendigkeit oder, weil er durch etwas Äußeres daran gehindert
werden könnte, mit Wahrscheinlichkeit verwirklichen und wird nur in wenigen
Situationen aus anderen in seinem Charakter angelegten (Fehl-)Tendenzen
einmal in kontingenter Weise davon abweichen.
Diese verwirklichte Form des ‚Möglichen‘ in einem Charakter erlaubt ein
sinnvolles Verständnis der Verbindung des Möglichen mit einer Form des
Allgemeinen, die Aristoteles herstellt. Ein tapferer Soldat etwa hat sich in
vielen Kampferfahrungen ein ‚Auge der Seele‘ (wie Aristoteles sagt)25 erwor-
ben, das ihn befähigt, kognitiv und emotional richtig zu erfassen, worin die
Gefährlichkeit eines Gegners besteht und wie man ihr begegnen kann. ‚Auge
der Seele‘ ist also eine Metapher für eine Art Summe konkreten Erfahrungs-
wissens. Dieses Erfahrungswissen steht dem Tapferen genauso allgemein zur
Verfügung wie die allgemeine Beherrschung einer Sprache dem, der sie gründ-
lich gelernt hat. Wenn er in einer einzelnen Kampfsituation handelt, wird er
daher nicht unkontrolliert, beliebig und unvorhersehbar reagieren, sondern er
wird sich im Einzelfall so verhalten, wie es seiner Tapferkeit im Allgemeinen
entspricht.

24 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1115 a6ff.


25 Vgl. ebd. 1144 a29.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 81

Charakter und Handlung

Das Verhältnis von Charakter und Handlung ist von dem Charakterverständnis
her, wie es Aristoteles ausdrücklich lehrt, auch ein Verhältnis eines Allgemei-
nen zu einem Einzelnen – eben das Verhältnis allgemeiner charakterlicher Hal-
tungen, allgemeiner Tendenzen, Bestimmtes vorzuziehen oder zu meiden, zu
ihrer je einzelnen Realisierung. Wer die allgemeine Tendenz hat, Süßes vorzu-
ziehen, wird in einer konkreten Wahlsituation zwischen Honig und Olive,
dann, wenn ihn nichts hindert, zum Beispiel keine Rücksicht auf die Gesund-
heit oder kein zu hoher Preis, sich für den Honig entscheiden.26 Eine solche
allgemeine Tendenz sieht man nicht, man kann sie, sofern sie allgemein ist,
überhaupt nicht in einer konkret einzelnen Form darstellen. Man kann aber ein
Handeln auswählen oder erfinden, das von ihr geprägt ist, indem man in kon-
kreten Situationen zeigt, wie ein Mensch diesen allgemeinen Tendenzen ge-
mäß handelt, das heißt sich für das entscheidet, was ihnen entspricht, und das
ablehnt, was ihnen entgegensteht. Dadurch wird dieses Handeln aus seinen
allgemeinen Gründen erkennbar. Es ‚umfasst sie mit‘ (1450 a21f.), wie Aristo-
teles sich ausdrückt, und gewinnt dadurch auch selbst den Charakter von etwas
Allgemeinem, das der Beliebigkeit des je zufällig Faktischen entnommen ist.
Dies ist ein besonders wichtiges Argument dafür, dass ‚das Mögliche‘, in
dem Aristoteles den Gegenstand der Dichtung im Unterschied zu einer prosai-
schen Wiedergabe der (in seinen Augen immer aus Ordnung und Konfusion
bestehenden) Wirklichkeit sieht, nicht einfach eine ‚mögliche Wirklichkeit‘ ist
(das heißt eine zwar erfundene, aber den wahrscheinlichen und notwendigen
Gesetzen der Wirklichkeit entsprechende Fiktion); ja, man kann prägnant sa-
gen, dass das, was sich aus der Realisierung oder Aktualisierung allgemeiner
charakterlicher Tendenzen in einem bestimmten Einzelfall ergibt, überhaupt
erst das ist, was nach Aristoteles eine Handlung ist. Die Grundaussage, die
Aristoteles seit dem 2. Kapitel immer wieder – und auch im 9. Kapitel – über
die spezifische Tätigkeit des Dichters macht, ist aber, dass sie Handlungen
nachahmt (im 9. Kap. 1451 a27-29). Der eigentliche Gegenstand dichterischer
Nachahmungen sind Handlungen. Wenn Aristoteles im 9. Kapitel den Gegen-
stand, mit dem sich die Dichtung befasst, genauer zu bestimmen unternimmt
und ihn als das beschreibt, was geschehen müsste und möglich ist, dann müs-
sen mit diesem Möglichen, das ein Dichter ‚sagen‘ – das heißt zum Gegens-
tand seiner Nachahmungen machen soll – einzelne menschliche Handlungen
gemeint sein.

26 Zum Zusammenwirken allgemeiner und einzelner Handlungsprämissen (mit ihren möglichen


Fehltendenzen) vgl. u.a. die Analyse der Unbeherrschtheit im 7. Buch der Nikomachischen
Ethik 1146 b35-1147 a7; vgl. dazu Cessi: Erkennen und Handeln (Anm. 22), S. 234-249; vgl.
auch Anthony Kenny: The Practical Syllogism and Incontinence, in: Phronesis 11 (1966), S.
163-184.
82 Arbogast Schmitt

Denn nicht alles, was ein Mensch, zum Beispiel Alkibiades, sagt oder tut,
ist für Aristoteles auch schon ein Handeln. Zum Handeln wird etwas erst,
wenn etwas tatsächlich ein eigenes, selbständiges Tun eines Menschen ist. Das
kann es nur sein, wenn es aus ihm selbst kommt (wenn er selbst Prinzip seines
Handelns, ˜rxë prácewß, ist)27, wenn er bereits Charakter hat, und das heißt,
wenn er zu eigenen Entscheidungen fähig ist:
Der ursächliche Grund (˜rxë) des Handelns ist die Entscheidung [...], der Ur-
sprung der Entscheidung aber sind Streben und Denken. Daher gibt es keine Ent-
scheidung ohne Einsicht und (rationales) Urteil und ohne feste Charakterhaltungen.
Denn gelingendes Handeln und sein Gegenteil kann es ohne Verstand und feste
Charakterhaltung beim Handeln nicht geben.28
Aristoteles sagt sogar prägnant: „Handeln und sich Entscheiden sind ein und
dasselbe“ (Metaph. 1025 b24 ) und betont damit nachdrücklich, dass Handeln
für ihn wesentlich ein inneres Tun ist: „Prinzip des Handelns ist der Han-
delnde“ (ebd. 23). Deshalb grenzt er das Handeln (práttein) in präziser Diffe-
renzierung von einem Machen (poieîn)29 ab. Wenn Medea ein Gift mischt, um
ihre Rivalin zu töten und sich dadurch Genugtuung für ihre Entehrung durch
Jason zu verschaffen, dann ist das Anfertigen des Giftes ein Machen. Es muss,
wenn es erfolgreich sein soll, bestimmten Regeln und Gesetzen folgen, die
man zum Beispiel aus der Kenntnis bestimmter Eigenschaften bestimmter
natürlicher Essenzen gewinnen kann.
Diese Regeln und Gesetze sind aber nicht dieselben und werden auch nicht
auf die gleiche Weise ermittelt wie die, die Medea bei ihrem Handeln beob-
achten will und muss. Denn diese Ordnung ihres Tuns richtet sich nach dem,
wofür sie sich entschieden hat. Sie will Wiedergutmachung für das erlittene
Unrecht, und alles, was sie mit diesem Ziel ‚macht‘, ist nur dann und nur da-
durch ein Handeln, dass es diesem Ziel dient. Dieses Ziel ist nur erreicht, wenn
die erstrebte innere Befriedigung erreicht ist – und es kann verfehlt werden,
selbst wenn alles äußere Machen erfolgreich war. Dieser innerliche Charakter
des Handelns bei Aristoteles wird in der Forschung wie in der allgemeinen
Aristoteles-Rezeption viel zu wenig beachtet und muss in seiner besonderen
Kontur daher erst noch ermittelt und gegen das moderne Vorurteil, Innerlich-
keit sei der Antike insgesamt noch unbekannt gewesen, abgegrenzt werden.
Dadurch, dass Aristoteles die selbständige, (das heißt die von einem Cha-
rakter, der bereits grundsätzlich mit Verstand über sich verfügt, getätigte)
Entscheidung als die wesentliche Bedingung des Handelns aufdeckt, kann er
einen konkreten, vom Dichter wie von seinem Leser gut nachvollziehbaren

27 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1112 b31f.


28 Ebd. 1139 a31-35.
29 Zur Unterscheidung von Machen und Handeln (poiein, prattein) bei Aristoteles vgl. Niko-
machische Ethik 1140 a11ff.; Metaphysik 1025 b18-25.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 83

Vorschlag machen, was man aus der Gesamtwirklichkeit dessen, was einzelne
historische Personen tun oder erleben, auswählen muss, um sie genau unter
dem Aspekt, unter dem sie handeln, darzustellen oder zu verstehen: „Der Cha-
rakter wird erkennbar an dem, wofür jemand sich entscheidet“ (Kap. 6, 1450
b8f.), das heißt „wenn das, was er sagt oder tut, offenbar macht, was er vor-
zieht [oder meidet]“ (Kap.15, 1454 a17-19).
Wenn Homer Achill darstellt, dann schildert er solche Handlungen, an de-
nen man erkennt, was ein Charakter wie Achill vorzieht oder ablehnt: wie er
sich lieber vom Kampf zurückzieht, als Agamemnon zu töten, wie er die He-
rolde, die seine Geliebte zu Agamemnon bringen sollen, mit Wohlwollen be-
handelt, statt die Boten für die Botschaft büßen zu lassen, wie er die Bittge-
sandtschaft trotz inzwischen heftiger Gegentendenzen in ihm selbst abweist,
wie er Priamos‘ Bitte erfüllt und sich nicht von seinem Hass auf Hektor
verblenden lässt. An jeder dieser Handlungen und insbesondere aus der Sum-
me aller dieser auf ein und dieselbe Mitte bezogenen Handlungen wird deut-
lich, was für ein Charakter Achill ist.30
Diese Möglichkeit, sich ganz auf die Handlungen zu beschränken, die all-
gemeine Charaktertendenzen eines Menschen verwirklichen, hat der Historiker
nicht. Auch er wird versuchen, so viel wie möglich auf das aktive Wollen,
Planen, Handeln der an geschichtlichen Ereignissen beteiligten Personen zu-
rückzuführen, aber er muss auch das aufnehmen und zum Teil seines Urteils
machen, was auf Ursachen, die außerhalb jeder subjektiven Verantwortlichkeit
liegen, zurückgeht. Man braucht nur an die große Rolle des Zufalls zu denken,
die Thukydides immer wieder in den ‚wirklichen Geschehnissen‘ aufspürt und
in sein geschichtliches Urteil einbezieht,31 um zu ermessen, in welchem Aus-
maß eine Darstellung der Wirklichkeit, wie sie vorgefunden wird, etwas in sich
Disparates werden muss, das, sofern es um die Erklärung menschlichen Han-
delns in der Geschichte geht, immer nur so viel Konsequenz und Zusammen-
gehörigkeit aufweisen kann, wie dieses Handeln nicht von vielen möglichen
anderen Bedingungen überformt oder ganz außer Kraft gesetzt wird.

‚Allgemeines‘ und ‚Einzelnes‘


in Dichtung und Geschichtsschreibung

Eine Beachtung des genauen Sinns, in dem Aristoteles Dichtung und Ge-
schichtsschreibung unterscheidet, kann auch dazu beitragen zu verstehen, wie
er die Aufgabe der Dichtung als Darstellung eines Allgemeinen bestimmen,

30 Vgl. dazu Verf.: Homer, Ilias – ein Meisterwerk der Literatur?, in: Reinhard Brandt (Hg.):
Meisterwerke der Literatur von Homer bis Musil, Leipzig 2001, S. 9-52.
31 Vgl. Ernst Heitsch: Geschichte und Situationen bei Thukydides, Stuttgart u. Leipzig 1996.
84 Arbogast Schmitt

dieses Allgemeine aber zugleich als die Beschaffenheit der Handlungen des
Charakters eines Menschen – das heißt offenbar: eines Individuums – auslegen
kann.32
Obwohl Aristoteles sehr verkürzt sagt, die Dichtung stelle eher etwas All-
gemeines, die Geschichtsschreibung das Einzelne, „das, was Alkibiades getan
oder erlebt hat“, dar, dürfte aus dem bisher verfolgten Zusammenhang schon
klar sein, dass der Gegensatz, den er im Auge hat, nicht der uns gewohnte
Gegensatz zwischen der abstrakten Allgemeinheit von Begriffen und der ab-
soluten Singularität der Einzeldinge oder Einzelfakten sein kann. Das Proble-
matische einer solchen Auslegung ist nicht allein, dass Aristoteles dann die
Leistung der Historiker auf das bloße Sammeln und Ordnen von Fakten be-
schränkt gesehen hätte33 (eine Reduktion, die weder Herodot noch Thukydides
gerecht würde),34 sondern auch, dass Aristoteles dann weder mit dem unmit-
telbaren Kontext in Übereinstimmung bliebe noch gar mit seinen fest und
wiederholt vorgetragenen Lehrmeinungen über das Verhältnis des Allge-
meinen und Einzelnen.
Aristoteles gibt ja eine ausdrückliche Kritik, warum er die Darstellung der
Einzelheiten des Lebens einer Person (oder auch die Ereignisse in einem be-
stimmten Zeitraum) nicht für ‚allgemein‘ hält. Diese Kritik lautet nicht: ‚weil
eine solche Darstellung nichts als eine Aneinanderreihung von einzelnen Fak-
ten wäre‘, sondern: ‚weil ein Einzelner unbestimmt Vieles tut oder erlebt, von
dem nicht alles zur Einheit einer Handlung gehört‘ (1451 a16-19). Aristoteles
schließt also gar nicht aus, dass auch in der Geschichte das Allgemeine eines
Handelns gefunden werden kann, im Gegenteil, er betont ausdrücklich, dass
nichts daran hindere, dass auch in der Geschichte bisweilen Handlungen vor-
kommen, die in seinem Sinn allgemein, das heißt wahrscheinlicher Ausdruck
allgemeiner charakterlicher Tendenzen sein können (1451 b30-32). Dieses All-
gemeine findet man in der Geschichte lediglich nicht einfach vor, sondern
muss es durch Abgrenzung gegenüber dem, was nicht dazugehört, weil es
nicht zur Einheit einer Handlung beiträgt, ermitteln. Geschichte und Dichtung
unterscheiden sich also nicht dadurch, dass die eine nur Einzelnes (im moder-
nen Sinn des Wortes), die andere nur Allgemeines darstellt, sondern dadurch,
dass die eine Einzelnes und Allgemeines in unbestimmter Mischung enthält,
während die andere sich ganz und ausschließlich auf die Verwirklichungsfor-

32 Zum Individualitätsverständnis in der Antike von Homer bis Aristoteles vgl. Verf.: Indivi-
dualität als Faktum menschlicher Existenz oder als sittliche Aufgabe? Über eine Grunddiffe-
renz im Individualitätsverständnis von Antike und Moderne, in: Christof Gestrich (Hg.): Die
Aktualität der Antike. Das ethische Gedächtnis des Abendlandes, Berlin 2002, S. 95-128.
33 Dies ist z.B. die These von Renate Zoepfel: Historia und Geschichte bei Aristoteles, Heidel-
berg 1975 (Abhandlungen der Heidelberger Akadademie der Wiss., Phil.-hist.-Klasse, Bd. 2).
34 Zu dieser Klage vgl. z.B. Werner Söffing: Deskriptive und normative Bestimmungen in der
Poetik des Aristoteles, Amsterdam 1981, S. 115-117.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 85

men allgemeiner charakterlicher Möglichkeiten konzentrieren kann. Die Dich-


tung beschränkt sich darauf, wie ein bestimmter Charakter sich in Worten und
Taten in einer einzelnen geschichtlichen Handlung verwirklichen würde.
Dass Aristoteles sich nicht so genau ausdrückt, sondern sich auf den blo-
ßen Gegensatz ‚(mehr) allgemein, (mehr) einzeln‘ beschränken kann, liegt
daran, dass es ein absolutes Einzelnes, wie es viele moderne Poetik-Interpreten
unterstellen, für ihn gar nicht gibt. Diese Unterstellung ist allerdings in gewis-
sem Sinn erstaunlich. Denn wenn es ein auch in der gegenwärtigen Forschung
kaum umstrittenes Lehrstück bei Aristoteles gibt, dann ist es die Lehre, dass
das Allgemeine dem Einzelnen immanent sei (und nicht, wie angeblich bei
Platon, ein idealer Gegenstand in der Transzendenz). Ein Einzelgegenstand
(oder eine Einzelperson) ist bei Aristoteles also immer in bestimmter Hinsicht
zugleich die Verkörperung von Allgemeinem, es ist, wie Aristoteles (mit Pla-
ton) sagt, ein súqeton, ein Kompositum aus Materie und eÎdoß. Von einem
Einzelnen, wie es in der empirischen Wirklichkeit wahrgenommen und beob-
achtet werden kann, zu reden, heißt immer, von einem Kompositum, einer
Mischung aus Allgemeinem und Einzelnem zu reden. Begrifflich kann man
aber an einem solchen immer gemischten Einzelnen unterscheiden zwischen
den Aspekten, unter denen es wesentlich es selbst ist – das ist sein allgemeines
Eidos: „das wesentliche Sein einer Sache ist das, von dem her etwas ‚es selbst‘
genannt wird“35 –, und solchen Aspekten, die ihm nur zufällig, beiläufig zu-
kommen. Diese Unterscheidung nicht in Bezug auf die rein theoretische Er-
kenntnis des Eidos einer Sache, sondern in Bezug auf die allgemeinen Gründe
des Handelns zu leisten ist Sache der Dichtung: ‚in welchen Handlungen äu-
ßert sich eine Person als sie selbst und in welchen ist sie (mehr oder weniger)
fremdbestimmt? ‘.

Warum befriedigt die Darstellung individuellen Handelns


ein allgemeines Erkenntnisinteresse?

Noch etwas tiefer muss man in die Aristotelische Analyse des Verhältnisses
von Einzelnem und Allgemeinem eindringen, wenn man erklärbar machen
will, wie Aristoteles das Handeln individuell bestimmter Charaktere zum Ge-
genstand der Dichtung machen und dennoch überzeugt sein kann, die Dichtung
befriedige ein allgemeines Erkenntnisinteresse. Das Verhältnis der charakterli-
chen Motive und der durch den Charakter motivierten Handlungen mag für
Aristoteles ein Verhältnis eines Allgemeinen zu einem Einzelnen sein, dieses
Verhältnis ist eben deshalb ein Verhältnis innerhalb der inneren und äußeren
Aktivitäten eines Individuums. Wie kann man als Zuschauer oder Leser einer

35 Vgl. dazu u.a. das 4. Kapitel des siebten Buches der Metaphysik, das Zitat dort: 1029 b13f.
86 Arbogast Schmitt

solchen Darstellung individuellen Handelns eine Ähnlichkeit mit sich selbst,


wie es das 13. Kapitel behauptet, erkennen, und wie kann dieses ‚individuelle
Allgemeine‘ Gefühle und Einsichten vermitteln, die für viele gültig sind?
Dass auch diese (für die Erklärung des Begriffes der tragischen Affekte
‚Mitleid‘ und ‚Furcht‘ entscheidende) Fragestellung eine moderne Überspit-
zung ist, dürfte aus dem bisher Gesagten bereits klar sein. Natürlich ist auch
ein individueller Mensch für Aristoteles nichts absolut Einzelnes, sondern er
ist eine besondere Form der Mischung aus Allgemeinem und Einzelnem. Ei-
nem historisch und sachlich angemessenen Verständnis des Allgemeinen, und
nicht zuletzt des Allgemeinen in der Poetik, steht allerdings die lange, durch
den Nominalismus des späten Mittelalters grundgelegte Gewohnheit entgegen,
das Allgemeine für etwas Abstraktes zu halten. Allgemein soll das sein, was
bei vielen Einzelerfahrungen gleich bleibt. Für die Poetik bedeutet dies, dass
man das Allgemeine in gemeinsamen Strukturen, in allgemein verbreiteten und
anerkannten Verhaltensmustern, in dem, was für bestimmte Personengruppen
– Alte, Junge, Verliebte, Herren, Diener usw. – typisch ist, oder in dem, was
ein Ideal ist, nach dem sich alle richten können, und dergleichen sucht.36 Aris-
toteles aber sucht – und das passt auch zu dem, was er zur Charakterbildung
sagt – das Allgemeine in dem, „was etwas kann und leistet“. Alles wird in
seinem Wesen „durch sein Vermögen und dessen Aktualisierung“37 erkannt,
lautet seine prägnante Formulierung.
Aristoteles folgt in dieser Auffassung Platon, der immer wieder darauf
hinweist, dass man auf die dúnamiß oder die ™nérgeia von etwas hinblicken
müsse, wenn man erfassen wolle, was es ist.38 Das gilt auch bei so einfachen
Gegenständen wie einer Hippe zum Beschneiden der Weinstöcke oder einem

36 In dieser Frage gibt es eine viel zu wenig beachtete Konstanz der Auslegung von der Renais-
sance bis in die Gegenwart. Zur Renaissance vgl. den Beitrag von Brigitte Kappl in diesem
Band; für die Position von Lessing oder Schiller vgl. beispielsweise Lessing: Hamburgische
Dramaturgie, 91. und 95. Stück; dazu Eun-Ae Kim: Lessings Tragödientheorie im Licht der
neueren Aristoteles-Forschung, Würzburg 2002, S. 137ff. – zu Schiller vgl. Verf.: Zur Aris-
toteles-Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen, in: Bernhard Zimmermann (Hg.): An-
tike Dramentheorien und ihre Rezeption, Stuttgart 1992 (Drama. Beiträge zum antiken Dra-
ma und seiner Rezeption, Bd. 1), S. 191-213; zu einer gegenwärtigen Position vgl. etwa Ste-
phen Halliwell: Aristotle’s Poetics (Anm. 19).
37 Vgl. Aristoteles: Politik 1253 a23; vgl. auch Meteorologica 390 a10-15; Metaphysik 1049
b29ff.; De anima 403 a29ff.; 412 a19-b9. Vgl. dazu Verf.: Die Moderne und Platon (Anm.
3), S. 333ff. und 400ff. Die neuere Aristotelesforschung hat diesen funktionalen Aspekt des
Allgemeinen bei Aristoteles gesehen und neu bewertet, tendiert aber zu einer weitgehenden
Adaption an Formen des gegenwärtigen (u.a. amerikanischen) Funktionalismus, vgl. u.a.
Christopher Shields: The First Functionalist, in: John-Christian Smith (Hg.): Historical
Foundations of Cognitive Science, Dordrecht u.a. 1990, S. 19-34.
38 Vgl. u.a. Politeia 352 d8-353 d12; 477 c1-d6; vgl. dazu Verf.: Der Philosoph als Maler – der
Maler als Philosoph. Zur Relevanz der platonischen Kunsttheorie, in: Gottfried Boehm (Hg.):
Homo Pictor, Leipzig 2001 (Colloquia Raurica, VII), S. 32-54.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 87

Weberschiffchen. Wenn man wissen will, was ein Weberschiffchen ist, kann
man sich weder auf die Materialien, aus denen ein Weberschiffchen gemacht
ist, noch auf die Struktur und Form, in die diese Materialien gebracht sind,
festlegen, denn beides könnte von einem erfindungsreichen Handwerker im-
mer wieder geändert werden. Das, worauf man achten muss, ist vielmehr, was
dieses Gerät kann und leistet: Es trennt Kette und Einschlag beim Webevor-
gang. Wer auf dieses Érgon (Werk) des Weberschiffchens achtet, wird bei
jedem und sei es noch so verschieden gebauten Weberschiffchen erkennen
können, dass es tatsächlich ein Weberschiffchen ist, er trifft damit also das
wirklich Allgemeine in jedem Weberschiffchen.
Diese Orientierung an Vermögen und ‚Werk‘ von etwas bei dem Versuch,
das allgemeine Wesen von etwas zu begreifen, gilt, wie auch die Poetik viel-
fach deutlich macht, gerade für die Erkenntnis des allgemeinen Wesens des
Menschen. Der Mensch ist dadurch Mensch und von den anderen Lebewesen
unterschieden, dass er außer den Vermögen der Wahrnehmung, der Erinnerung
und Vorstellung auch noch den lógoß, das heißt die Vermögen des (rationa-
len) Meinens, des rationalen Urteils und der intellektiven Einsicht hat. Diese
Vermögen bilden zusammen mit den unmittelbar mit ihnen gegebenen Lust-
und Unlusterfahrungen und den aus bestimmten Kombinationen entstehenden
Formen des Strebens die Grundausstattung, die jedem Menschen zukommt.
Auch die Weise, diese Vermögen auszubilden und aus Fähigkeiten Fertig-
keiten zu machen, ist grundsätzlich bei jedem Menschen gleich, denn sie hat
ihr Kriterium in der richtigen Übung der Vermögen selbst. Wer sein Vermögen
zu hören nicht nur wie ein Tier schärfen, sondern zur Unterscheidungsfähigkeit
musikalischer Proportionen erziehen möchte, muss die im Hören als einem
Unterscheiden von Tönen, das heißt von geordneter Schwingung, liegende
Rationalität reflexiv erfassen und sein Hörvermögen dieser Rationalität und
Mathematizität gemäß erziehen.
In diesem Sinn sind nicht nur bestimmte Vermögen, sondern auch die
Weisen ihrer Ausbildung zu festem Habitus allen Menschen grundsätzlich
gemeinsam. Das gilt auch für die Charakterbildung. Denn Charakter bildend
wird die Aktivierung eines Vermögens durch die mit ihr verbundene Lust-
oder Unlusterfahrung. Der Bereich von Lust und Unlust ist nach Aristoteles ja
der Bereich des Moralischen; den stoisch-neuzeitlichen Pflichtbegriff als
Grundlage der Moral teilt Aristoteles nicht, da für ihn durch die Bindung der
Lust an die verschiedenen psychischen Aktivitäten Lust nicht auf sinnliche
oder irrationale Gefühle eingeschränkt ist, sondern so viele Differenzen auf-
weist, wie es unterschiedliche psychische Aktivitäten gibt.39

39 Vgl. zum Zusammenhang von Lust und Moral Aristoteles: Nikomachische Ethik 1105 a13f.:
„Sittlichkeit gibt es dort, wo es Lust und Unlust gibt.“ Vgl. dazu Verf.: Aristoteles und die
Moral der Tragödie, in: Anton Bierl u. Peter von Moellendorff (Hg.): Orchestra. Drama. My-
thos, Bühne. Festschrift Hellmut Flashar, Stuttgart u. Leipzig 1994, S. 331-345; vgl. zur Bin-
88 Arbogast Schmitt

Die Unterschiede beginnen mit dem Anteil, den jeder Mensch auf Grund
seiner unterschiedlichen materiellen Konstitution an der natürlichen Basis
dieser Vermögen hat, sie beginnen aber vor allem mit der unterschiedlichen
Betätigung dieser Vermögen. Auch dabei gibt es noch einmal einen grundsätz-
lichen Unterschied: Man kann seine Vermögen mehr oder weniger beliebig
und willkürlich, mehr reagierend als agierend betätigen, man kann sie aber
auch durch Übung, Gewöhnung, Belehrung und Begreifen in einen ihren inne-
ren Potenzen gemäßen optimierten Zustand bringen.40 Nur dies Letztere führt
zu einer Ausbildung fester charakterlicher Haltungen; und nur durch diese
Haltungen wird das Verhalten eines Menschen überhaupt ein Handeln und aus
diesem Handeln verstehbar und beurteilbar. Immer wieder andere beliebige
Reaktionen lassen dagegen nicht nur kein Urteil zu, sie sind als immer wieder
neue Mischungen möglicher Verhaltensweisen ohne innere Form. Solch be-
liebige Mischungen sind zwar etwas jeweils Singuläres; Individualität als eine
bestimmte Beschaffenheit, durch die sich ein Mensch vom anderen unterschei-
det, kann durch sie aber nicht zu Stande kommen.
Es ist daher ein Missverständnis des Begriffs von Individualität bei Aristo-
teles, wenn man Individualität einfach für eine Mischung von Eigenschaften
hält, die in dieser besonderen Form ihresgleichen nicht hat. Erst wenn die
verschiedenen Vermögen ihrer inneren Rationalität, dem ¤rqòß lógoß,41 ge-
mäß gebildet und aufeinander bezogen sind, entsteht eine Mischung, die zu
einer Einheit geformt ist und deshalb das Prädikat ‚individuell‘ beanspruchen
kann. Diese Mischung hat aber nicht nur den Vorzug, dass sie ihre Form fes-
ten, grundsätzlichen Haltungen verdankt, aus denen das einzelne Handeln
eines Menschen seine erkennbare Begründung erhält, sie macht auch die all-
gemeinen Haltungen eines Individuums selbst verständlich und gegen andere,
ähnliche oder verschiedene Mischungen anderer Individuen abgrenzbar. Grund
dafür ist, dass sowohl die Elemente dieser Mischungen allgemein sind als auch
die Methoden ihrer Formierung. Die individuellen Unterschiede ergeben sich
aus dem Ausmaß, in dem die Elemente, das heißt die Grundvermögen, zur
Verfügung stehen und bis zu dem sie entwickelt und ausgebildet sind. Diese
Unterschiede können aus dem Allgemeinen, das heißt, aus einer Kenntnis der

dung der Lust an die seelische Aktivität und die Unterscheidung der Lüste nach diesen Akti-
vitäten u.a. die Lustkapitel der Nikomachischen Ethik VII, Kapitel 12-14; X, Kapitel 1-5; 7;
vgl. dazu Frido Ricken: Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttin-
gen 1976 und Verf.: Die Moderne und Platon (Anm. 3), S. 341-380.
40 Ein Mensch, der diesen Zustand erreicht, heißt bei Aristoteles spoudaîoß (tüchtig) im Sinn
der erreichten Vollendung der eigenen Anlagen. Zu diesem für die Poetik grundlegenden
Begriff (siehe Kap. 2) vgl. auch Nikomachische Ethik 1098 a9ff.; Eudemische Ethik 1219
b22ff.; vgl. auch Platon: Gesetze 757a; 814c; Phaidros 243c; vgl. dazu Schütrumpf: Die Be-
deutung des Wortes (Anm. 21).
41 Zur Bedeutung des ¤rqòß lógoß für die sittliche Bildung des Menschen bei Aristoteles vgl.
u.a. die Kapitel II, 6; VI, 1 und VI,13 der Nikomachischen Ethik. – Siehe dazu Richard Bos-
ley u.a. (Hg.): Aristotle, Virtue and the Mean, Edmonton 1995.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 89

besonderen Natur der einzelnen Vermögen wie der Methoden ihrer Bildung,
ermittelt werden, sie sind ja je verschieden gruppierte Teilaspekte daraus. Es
ist wie bei Gesundheit und Krankheit, die bei jedem Menschen individuell
verschieden sind und die doch vom Arzt mit allgemeinen Kenntnissen über die
Funktion der verschiedenen Organe und ihrer möglichen Interaktion individu-
ell behandelt werden können.
Die Aristotelische Aussage, dass Dichtung etwas Allgemeines darstelle,
und die unmittelbar daran angeschlossene Erklärung, dieses Allgemeine be-
stehe darin, dass in einer Dichtung genau das dargestellt werde, was einem
Menschen mit bestimmtem Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwen-
digkeit zukomme, muss also nicht als ein Widerspruch aufgefasst werden. Der
Charakter eines Menschen ist für Aristoteles nichts Ineffables. Ineffabel in
dem Sinn, dass etwas weder dem erkennenden Denken noch der sprachlichen
Vermittlung zugänglich ist, kann für Aristoteles nur das sein, was an einem
Menschen nicht charakterlich bestimmt, sondern tatsächlich absolut singulär
ist. Der gebildete Charakter ist dagegen genau das, was an einem Menschen
begreiflich ist und was ausmacht, dass man sein Handeln und Fühlen verstehen
kann: Er macht einerseits das einzelne Handeln eines Menschen verständlich
als Ausdruck nicht beliebig immer wieder anderer, sondern fester Neigungen
und Abneigungen, er macht aber andererseits auch diese Neigungen und Ab-
neigungen als besondere Formen allgemeiner menschlicher Möglichkeiten ver-
ständlich und macht es so möglich, dass verschiedene Individuen aneinander
(kognitiv und emotional) Anteil nehmen können.

Vom Charakter geprägtes Handeln als Formprinzip der Dichtung.


Ein platonisches Erbe in der Aristotelischen Dichtungstheorie

Das, was Dichtung und Literatur nachahmen, ist für Aristoteles nicht eine
vorgegebene, äußere Wirklichkeit mit den in ihr sich ereignenden Geschehnis-
sen, sondern charakterlich motiviertes Handeln. Das bedeutet, dass Dichtung
auch nicht Charaktere als solche darstellt. Das wäre nach Aristoteles gar nicht
möglich, da ein Charakter etwas Allgemeines und Mögliches ist.
Charakterhaltungen allgemein zu beschreiben, wie es viele auktoriale Er-
zähler tun, ist nach Aristoteles unpoetisch (siehe Kap. 24, 1460 a5-11). Daraus
darf aber nicht abgeleitet werden, Aristoteles halte eine charakterliche Moti-
vierung des Handelns, eine Herleitung des Handelns aus dem Charakter, für
überflüssig. Die allgemeinen Züge eines Charakters sind sehr wohl das Maß,
an dem ein Dichter sich bei der Konzeption seiner Handlungen orientieren soll,
er stellt sie lediglich nicht als solche dar, sondern in einer einzelnen Handlung,
die sich nach dem Charakter richtet und dadurch an der Allgemeinheit des
Charakters teilhat.
90 Arbogast Schmitt

Aristoteles vertritt mit dieser Lehre eine interessante Mittelposition zwi-


schen einem oberflächlichen Empirismus und einer schwärmerisch das Empi-
rische überfliegenden Spekulation. Aristoteles ordnet ja einerseits den Cha-
rakter der gegebenen Wirklichkeit mit all dem, was der Dichter an Tun und
Treiben in ihr durch Beobachtung feststellen kann, vor. Nicht an solchen Be-
obachtungen und den allgemeinen Erfahrungserkenntnissen, die er daraus
bilden kann, soll der Dichter Maß nehmen, sondern an dem, was einem Cha-
rakter im Allgemeinen möglich ist. Die von ihm komponierte wirkliche Hand-
lung erhält ihre poetische Qualität allein durch diese Orientierung. Anderer-
seits verlangt Aristoteles nirgends, der Dichter solle ideale Figuren erfinden:
den idealen König, den idealen Krieger, die Klugheit oder Weisheit in Person
und dergleichen, sondern es sind, wie er immer wieder sagt, handelnde Men-
schen, deren Nachahmung Dichtung ausmacht. Außerdem ist, wenn man ver-
folgt, wie Aristoteles die Bildung eines Charakters beschreibt, deutlich, dass
Charaktere für ihn erst durch Erfahrung entstehen; es gibt keinen a priori dem
Menschen zur Verfügung stehenden Charakter.
Die Lösung dieser scheinbaren Zweideutigkeit ergibt sich aus der Aristo-
telischen Unterscheidung von Vermögen (dúnamiß) und Verwirklichung
(™nérgeia). Auch wenn erst der wirkliche, verwirklichte Charakter empirisch
in Erscheinung tritt – er ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich aus
der Betätigung der Vermögen, die ein Mensch hat, entwickelt –, hat der
Mensch auch zu diesen Vermögen einen empirischen, das heißt von ihm selbst
konkret und im Hier und Jetzt nachprüfbaren Zugang. Sie sind ja genau das,
was er in die Tat umsetzt, wenn er was auch immer tut, das heißt, sie werden
ihm zugänglich, wenn er sich bei seinem Tun reflexiv vergewissert, warum er
das kann, was er kann.
Es macht aber einen großen Unterschied, ob man fertige Charaktere beob-
achtet und sein Verständnis von Charakteren durch Sammeln und Ordnen von
Eigenschaften, die man auf diese Weise an vielen Charakteren vorfindet, er-
wirbt – das wäre von Aristoteles her gesehen mehr ein Begaffen als ein Begrei-
fen und jedenfalls eine Reduktion individueller Charaktere auf Muster oder
Typen –, oder ob man die verschiedenen psychischen Aktionsmöglichkeiten
eines Menschen kennt, durch die er in vielfältig möglichen Kombinationen be-
stimmte Haltungen ausbildet.
Die Frage, wie diese dem charakterlichen ‚Können‘ eines Menschen fol-
gende Handlungsdarstellung in der Lage ist, das zentrale Anliegen der Kapitel
7-9, den Aufweis, wie eine dichterische Darstellung Form und Einheit ge-
winnt, im einzelnen zu erfüllen, braucht eine eigene Untersuchung. Die grund-
sätzliche Lösung, die Aristoteles im Auge hat, kann aber über das bisher Be-
sprochene hinaus eine Bestätigung erhalten, wenn man die Platonische Her-
kunft dieses Lösungsansatzes mitberücksichtigt.42 Platon lehnt ja nicht nur im

42 Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Büttner in diesem Band, S. 31-63, und ders.: Die Literatur-
Was macht Dichtung zur Dichtung? 91

10. Buch seiner Politeia eine Dichtung, die die vorgegebene Wirklichkeit
einfach im Sinn einer Kopie nachahmt, scharf ab, vergleicht das Verfahren
eines solchen Dichters oder Künstlers mit dem Herumtragen eines Spiegels
und nennt das Produkt solcher ‚Künstler‘ wegen der Konfusionen, in denen es
ein Handeln oder eine Sache wiedergibt, ein drittes nach der Wahrheit, er be-
nutzt auch – und sogar mehrfach – zur Beschreibung einer wirklich künstleri-
schen Form der Nachahmung die gleiche auffällige Formulierung, mit der
Aristoteles das eigentliche ‚Werk‘ eines Dichters charakterisiert.
Aristoteles sagt ja, dass der Dichter darstellen solle, „wie etwas wohl ge-
schehen müsste“ („oˆa Àn génoito“). Dieser für den unvorbereiteten Leser
nicht leicht zu deutende Potentialis war vermutlich für die ersten, akademisch
gebildeten Hörer oder Leser der Poetik eine prägnante Erinnerung an das, was
Platon zu dieser Frage gesagt hatte, so dass für sie von Anfang an klar war,
dass es Aristoteles um etwas Allgemeines und insbesondere um die Allge-
meinheit eines Charakters geht und darum, wie dieses Allgemeine konkret
verwirklicht werden kann. Platon vergleicht an einer Stelle die Aufgabe derer,
die eine gute Staatsverfassung entwerfen wollen, mit dem Verfahren eines
Malers, der ein bestimmtes Bild möglichst gut malen möchte und deshalb bald
auf das, was bestimmte Charakterhaltungen für sich selbst sind, bald darauf,
wie diese in konkreten Charakteren verwirklicht werden, blickt und auf diese
Weise sein Bild so lange verbessert, bis er die menschlichen Charakterzüge
ihren allgemeinen Vorbildern möglichst ähnlich gemacht hat. „Das würde
wohl“, so stellt Sokrates‘ Gesprächspartner fest, „das schönste Bild werden“
(„kallísth grafç Àn génoito“, 501 b-c). In ähnlichem Sinn beschreibt Pla-
ton auch das Anliegen seines eigenen Staatsentwurfs als Versuch, von einem
wirklich gerechten Menschen zu zeigen, „als ein Wiebeschaffener er wohl
wirklich in Erscheinung treten würde“ (472 d).43
Das Entscheidende für den Vergleich mit Aristoteles ist, dass auch Platon
eine an der Oberfläche der äußeren Wirklichkeit haftende Nachahmung von
einer Form der Nachahmung von etwas, das nur sein könnte, unterscheidet und
darin offenbar auch das Besondere einer wirklich künstlerischen Leistung
sieht, dass sie eine bestimmte konkrete Wirklichkeit erfindet, die in ihrer Ge-
staltung einem allgemein Möglichen möglichst ähnlich ist. Wie Aristoteles
drückt er dieses Ähnlichsein eines Wirklichen mit einem Möglichen, an dem
es sich orientiert, als ein „Sobeschaffen-Werden, wie“ aus. Plotin, der auf
beide, auf Platon und Aristoteles zurückgreift, gründet auf dieses Nachah-
mungskonzept eine ausdrückliche Verteidigung der nachahmenden Künste:

theorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u. Basel 2000.
43 Vgl. dazu Verf.: Der Philosoph als Maler (Anm. 38), und ders.: Mythos und Vernunft bei
Platon, in: Markus Janka u. Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, Darmstadt 2002,
S. 290-310.
92 Arbogast Schmitt

Wenn einer die Künste verachtet, weil sie bei ihrem Schaffen die Natur nachah-
men, so muss erstens gesagt werden, dass auch die Natur anderes nachahmt, dann
muss man wissen, dass sie nicht einfach das, was man beobachten kann, nachah-
men, sondern zurückgehen auf die begreifbaren Möglichkeiten, aus denen heraus
auch die Natur [schafft]44. [...] So hat auch Phidias seinen Zeus nicht mit Blick auf
irgendein wahrnehmbares Vorbild geschaffen, sondern er hat ihn genommen, ‚wie
(‚als ein Wiebeschaffener‘) er wirklich sein würde‘ (oˆa Àn génoito), wenn Zeus
vor unseren Augen erscheinen wollte (Enneade V,8,1,32-40).
Aristoteles beschränkt bei seiner Beschreibung der Aufgabe der Dichtung das
Verhältnis zwischen einem Begreifbaren, Intelligiblen und seiner Verwirkli-
chung auf eine niedrigere, empirischere Ebene, eben auf die allgemeinen, für
sich selbst nur begreifbaren, nicht beobachtbaren Charaktertendenzen eines
Menschen und auf die Art und Weise, wie diese zu einer bestimmenden Moti-
vierung einzelner Handlungen werden können. Es gibt aber auch bei ihm die
Spannung zwischen dem Allgemeinen in sich selbst und einer verwirklichten
Einzelform, die nie völlig identisch mit dem, was sie nachahmt, werden kann.
In der Berücksichtigung dieser Spannung dürfte der Sinn der oft missverstan-
denen Formel ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ liegen. Es
kann auch ein Mensch, der souverän über einen gut ausgebildeten Charakter
verfügt, nicht immer und nicht in jeder Hinsicht diesem Charakter gemäß han-
deln, so dass das, was er sagt oder tut, sich nicht in allem notwendig aus sei-
nem Charakter ergibt, sondern nur so, ‚wie man weiß, dass es meistens ge-
schieht‘ (z.B. Analytica Priora 70 a5ff.), das heißt, wie es wahrscheinlich ist.
Aus der Beachtung dieser Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit des Zu-
sammenhangs zwischen Charakter und Handlung aber ergeben sich alle we-
sentlichen Formaspekte einer Dichtung. Der Zusammenhang und die Ordnung
der einzelnen Handlungselemente zum Beispiel kommen dann nicht aus einer
immanenten Geschehenslogik (die dem weiteren modernen Handlungsbegriff
entsprechend oft als ‚Handlungslogik‘ bezeichnet wird), sondern aus der Be-
ziehung der einzelnen Handlungsschritte auf ihr charakterliches Motiv. Wenn
ein Schiff mit gutem Wind fährt, dann folgt, dass es schnell fährt, wenn es
schnell fährt, kommt man bald am Ziel an, wenn man bald am Ziel ankommt,
versäumt man eine Verabredung nicht usw. – diese Art von Logik hat mit dem,

44 Es ist gerade die Immanentisierung dieser allgemeinen lógoi in der Renaissance, die die
eigentliche Wende zu einem neuen Nachahmungskonzept bringt. Die Welt, auch die natürli-
che Welt, richtet sich – auch nach Plotin – nur mehr oder weniger nach allgemein begreifba-
ren Möglichkeiten, in der Kunsttheorie der Renaissance aber herrscht die Vorstellung vor, die
geschaffene Welt sei nichts weniger als eine Selbstexplikation Gottes. Eine solche Welt kann
nur als sie selbst nachgeahmt, dargestellt oder illusioniert werden. Dichtung ist auf ihre Wie-
dergabe verpflichtet, die mehr oder weniger auf die äußere Gestalt oder auf eine in die Tiefe
dringende Erfühlung konzentriert sein kann. Vgl. dazu die Nachweise und Erläuterungen bei
Thomas Leinkauf: Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert. Seine philosophische
Bedeutung und Hinweise auf sein Verhältnis zur Theorie von Poesie und Kunst, in: Heinrich
F. Plett: Renaissance-Poetik – Renaissance Poetics, Berlin u. New York 1994, S. 53-74.
Was macht Dichtung zur Dichtung? 93

was Aristoteles mit der sústasiß tôn pragmátwn als der Ordnung der Hand-
lungsteile ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ meint, nichts zu
tun – und genauso wenig mit der ‚Handlungslogik‘, die man in den griechi-
schen Tragödien feststellen kann.
Wenn beispielsweise Medea in der Medea des Euripides Jason in einer
Szene als den verkommensten aller Männer beschimpft, in einer nächsten
Szene dagegen seine Weitsicht und Klugheit bewundert, so ergibt sich das
zweite in keiner Weise aus dem ersten Geschehen, der Zusammenhang, und
zwar der konsequente, plausible Zusammenhang in der völlig richtigen Rei-
henfolge der Schritte ergibt sich aus der inneren, charakterlichen Motivation
des Handelns der Medea: Sie verachtet diesen Menschen, will sich aber an ihm
rächen und muss ihn deshalb täuschen. Aber nicht nur die Folge und Zuord-
nung der Handlungsteile zueinander, auch die Gestaltung der Sprache hat nach
Aristoteles nichts mit allgemeinen Formgesetzen oder dergleichen zu tun.
Warum spricht zum Beispiel Antigone anders als Ismene, Kreon anders als der
Wächter, der das Grab des Polyneikes bewachen soll?
Die Antwort auf derartige Fragen hat Platon in klassischer Formulierung
gegeben, sie zeigt zugleich, dass Aristoteles auch in der Ablehnung des sophi-
stischen Dichtungsverständnisses, für das Dichtung vor allem die ornamentale
Formung beliebiger Inhalte ist, einem platonischen Konzept folgt:
der Stil der Darstellung (trópoß têß lécewß) und die sprachliche Form, fol-
gen die nicht dem Charakter? ... Dem Stil der Darstellung aber folgt das Üb-
rige? [...] Die schöne Form der Rede (e¬-logía) also, das klare Maß (e¬-
¡rmostía), die Durchgestaltetheit (e¬-sxhmosúnh) und die gelungene
Rhythmisierung (e¬-ruqmía), alles folgt einer charakterlich gut und schön ge-
bildeten Gesinnung (diánoia [Denkhaltung], (Staat 400 d6ff.).
Aristoteles unterscheidet sich von Platon darin, dass er nicht mit gleicher
Strenge Charaktere, die nicht ganz vollkommen dargestellt sind, aus dem Le-
ben einer Staatsgemeinschaft ausschließt; er steht aber keineswegs in einem
Gegensatz und schon gar nicht in einem affektiven Gegensatz zu Platon, son-
dern mildert dessen Anforderungen in nur geringfügiger Weise: Auch für ihn
ist die Darstellung des Handelns von Menschen, die spoudaîoi, das heißt von
möglichst gut gebildetem Charakter sind, wie sie in Epos und Tragödie ge-
sucht werde, die bessere Form der Dichtung, und die Dichter dieser Dich-
tungsarten gelten ihm als die besseren Dichter, und er nennt es ausdrücklich als
die erste Grundbedingung einer guten Charakterdarstellung, dass die darge-
stellten Charaktere selbst gut seien (Kap. 15) .
Gerade diese Forderung macht aber noch einmal deutlich und verweist zu-
gleich auf den eigentlichen Grund, warum Aristoteles der Dichtung einen be-
stimmten Gegenstand ‚vorschreibt‘ und zu seiner Nachahmung anhält. Das,
was Aristoteles als mögliche Dichtung, ja als Kunst überhaupt ausschließt, ist
das in jeder Hinsicht Beliebige, das keine inhaltliche Form hat und deshalb
94 Arbogast Schmitt

auch durch keine äußere Form irgendeine Aussage gewinnen könnte, die in
ihrer inhaltlichen Konturiertheit verstanden werden könnte. Wenn man Ari-
stoteles einmal zugesteht, dass der Mensch mit seinen unendlichen Hand-
lungsmöglichkeiten das eigentliche Thema der Dichtung ist – die Begründung
dafür bräuchte, obwohl sie von der Sache her nahe liegt, eine eigene Rechtfer-
tigung – , dann ist von seinem Handlungsbegriff her klar, dass es ihm um alles
das geht, was ein Mensch wirklich aus sich heraus, das heißt selbständig und
kraft eigener Entscheidung tun kann. (Da Aristoteles’ Handlungsbegriff aus-
drücklich auf einen inneren Gegenstand, auf das in der Entscheidung erstrebte
oder gemiedene Gut gerichtet ist, schließt das, was Aristoteles ‚Handeln‘
nennt, auch die lyrische Aussage ein, auch in ihr äußert sich ein Charakter in
einer bestimmten Intention.) Dieses Auswahlprinzip möglicher ‚Nachahmung‘
orientiert sich, wie er deutlich genug ausführt, gerade nicht an irgendwelchen
vorgegebenen Wirklichkeiten oder deren wahrscheinlichen Regeln, nicht an
Verhaltensmustern, typischen Zügen, Normen oder Idealen usw.
Dass Aristoteles die Wahrscheinlichkeit dessen, was möglicherweise reali-
siert werden könnte, nicht sucht, kann auch ein Blick auf die Beispiele aus den
Tragödien und Komödien seiner Zeit lehren, auf die Aristoteles sich vielfach
zur Erläuterung seiner Ansichten stützt. Wie wahrscheinlich ist es, dass es
einen Menschen wie den Homerischen Odysseus gibt, dass man eine Ge-
schichte wie die des Ödipus erlebt? Welche Realisierungschancen soll man
dem Handeln der Personen der (heute sogenannten ‚Alten‘) Komödie geben,
von dem Aristoteles sagt, an ihm sei zuerst deutlich geworden, dass ein Dich-
ter erst fragen müsse, was ein Mensch von bestimmter Art wahrscheinlich oder
notwendig sagen oder tun müsse, bevor man ihn durch einen Namen als eine
einzelne dichterische Figur ausweist (1451 b11-15)? Wie wahrscheinlich ist es,
dass jemand sich ein Wolkenkuckucksheim einrichten, oder dass eine junge
Athenerin alle Frauen Griechenlands zur Verweigerung gegenüber ihren Män-
nern bewegen könnte wie in den Wolken oder der Lysistrate des Aristophanes?
Unter allen diesen Aspekten kann die Aristotelische Poetik nicht als eine
Nachahmungspoetik im traditionellen Sinn gelten. Auch in Bezug auf die
Frage, ob Dichtung Nachahmung (als Wiedergabe von etwas Vorgegebenem)
oder freie Schöpfung ist, hält Aristoteles eine Mitte ein, die Beachtung ver-
dient. Denn es ist für ihn einerseits keine Frage, dass ein Dichter ‚seine‘ Wirk-
lichkeit erfinden kann, auch wenn diese nie real war oder nie realisiert werden
könnte. Andererseits kann es für ihn – und vielleicht mit gutem Grund – keine
völlig willkürliche und beliebige Erfindung und Kreativität geben, die dann
den Anspruch erhebt, Kunst zu sein. Die Wirklichkeit, die ein Dichter erfindet,
soll in seinem Sinn (keine mögliche Wirklichkeit, sondern) etwas Mögliches
sein, das heißt etwas, das dem Menschen aufgrund dessen, was er als Mensch
von sich aus kann, möglich ist. Das, was ein Mensch von sich aus kann, zeigt
sich daran, dass er Charakter hat, das heißt, dass er nicht immer wieder anderes
Was macht Dichtung zur Dichtung? 95

vorzieht oder meidet, nicht beliebiger Spielball beliebiger Einflüsse ist, son-
dern äußeren und inneren Einflüssen mit ausgebildeten Haltungen entgegen-
tritt. In diesem Sinn ist tatsächlich nicht nur einfach ‚Charakter‘, sondern ein
guter Charakter – und das heißt für Aristoteles: ein Mensch, der seine ihm
eigenen Vermögen nicht hat verkommen lassen, sondern sie ihren Potenzen
entsprechend ausgebildet hat – der eigentliche Gegenstand von Dichtung.
GÜNTER EIFLER

Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Überlegungen


zur Authentizität der Dichtung

Mit dem höfischen Roman und der Heldenepik erreicht die deutschsprachige
Erzählkunst um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert einen ersten, er-
staunlichen Höhepunkt. Die beiden epischen Großformen unterscheiden sich
aber durch eine Reihe auffälliger Merkmale voneinander. Unter diesen ist
zweifelsohne das Stoffgebiet, aus dem der Inhalt der einzelnen Werke ent-
nommen wurde, am wichtigsten. Die Dichter der höfischen Romane beziehen
ihre Stoffe, eigenen Angaben zufolge, aus der bereits schriftliterarisch adap-
tierten ‚matière de Bretagne‘. Stoffgebiet der Heldenepik ist dagegen die Welt
heimischer, bis in die germanische Völkerwanderungszeit zurückreichender
Sagen. Als stoffliche Quelle hat man sich demnach nicht näher bestimmbare
mündliche Überlieferung vorzustellen, aus der die durchweg anonym bleiben-
den Verfasser schöpfen.

Dichtung und Sagen

Die Entstehung heldenepischer Dichtung auf der Grundlage von Sagen, die für
uns nur indirekt erschließbar sind, sowie die gleichfalls schwer abschätzbaren
Auswirkungen des Übergangs mündlicher Dichtung in buchepische Gestalt ha-
ben die literarische Beurteilung namentlich des Nibelungenlieds, das als pro-
minentester Vertreter deutscher Heldenepik anzusehen ist, seit seiner Wieder-
entdeckung bis heute in besonderer Weise erschwert.
Mit einer Eingangsstrophe, die nur in zwei der Haupthandschriften (A und
C) überliefert ist, kennzeichnet der Erzähler (oder der Redaktor) sein Vorhaben
ausdrücklich als heldenepische Dichtung. Die Bezug auf die „alten mæren, die
uns geseit [gesagt] sint“, lässt eine Erzählung aus dem Stoffgebiet mündlich
tradierter Sage erwarten, und solche Sagen berichten von berühmten Personen,
„von helden lobebæren“ und ihren Taten, „von küener recken strîten“ (Str. 1).1
Da bereits die nächste Strophe den Schauplatz ‚in Burgonden‘ und den Namen
‚Kriemhilt‘ erwähnt, war für den zeitgenössischen Zuhörer und ist auch für
den heutigen Leser klar, dass es sich um Nibelungen-Sagen handelt. Was das
jedoch für die beginnende Erzählung bedeutet, wissen wir nicht. Wir haben
von Nibelungen-Sagen keine unmittelbare Kenntnis, und es ist, von groben

1 Das Nibelungenlied wird zitiert nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. von Helmut de Boor
u. Roswitha Wisniewski, Wiesbaden 221996 (Strophenangaben in Klammern nach dem Zitat).
98 Günter Eifler

Umrissen abgesehen, auch nicht feststellbar, welche Ausformungen der Sagen


dem Primärpublikum bekannt waren.
Alles, was wir von Nibelungen-Sagen zu wissen meinen, ist aus Dichtun-
gen erschlossen, die zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten aufge-
zeichnet wurden. Die wichtigsten Textzeugen, aus denen wir die Sagenquelle
rekonstruieren, sind das Nibelungenlied selbst, das Anfang des 16. Jahrhun-
derts überlieferte Lied vom Hürnen Seyfried sowie einige Passagen aus Hel-
denepen, die dem Umkreis der Dietrichepik zugehören. Daneben steht die
inhaltsreiche nordische Überlieferung mit einer Reihe von Eddaliedern, der
Snorra-Edda, der Völsungensaga und der Thidrekssaga. Das sind der Form und
dem Geiste nach sehr verschiedene Zeugnisse. Dennoch ist nicht zu übersehen,
dass sie alle – ganz oder teilweise – an einer gemeinsamen stofflichen Basis
teilhaben.
Zu dieser gehört eine Kerngruppe namentlich identifizierter Personen, die
in einigermaßen gleichen Relationen zueinander stehen: Siegfried, die burgun-
dischen Könige mit Gunther an der Spitze – Anzahl und Namen seiner Brüder
schwanken in den verschiedenen Quellen –, Kriemhilt, die Schwester der Kö-
nige, Hagen und der Hunnenkönig Etzel. Diese stoffliche Basis schließt wei-
terhin Handlungsabläufe ein, deren Grundzüge zum Teil bis in Einzelheiten
übereinstimmen: die so genannten Jung-Siegfried-Abenteuer mit Drachen-
kampf und Hortgewinn, die Verbindung Siegfrieds mit der burgundischen Kö-
nigsfamilie, der zu Gunsten Gunthers an Prünhilt begangene Werbungsbetrug,
die Doppelhochzeit von Siegfried mit Kriemhilt und von Gunther mit Prün-
hilt, die Aufdeckung des Betrugs durch einen Streit der beiden Frauen, die
Beschuldigung Siegfrieds, der darauf begründete Rachebeschluss und die Tö-
tung Siegfrieds, den Untergang der burgundischen Königsfamilie, die Verhei-
ratung Kriemhilts mit Etzel, die verräterische Einladung der Königsbrüder an
den Hof Etzels sowie den Ausbruch der Feindseligkeiten und die Tötung
Hagens und Gunthers.
So verschieden in jeder Hinsicht Edda-Lied, Saga und Nibelungenlied
voneinander sind, an der stofflichen Basis, an dem Personeninventar und dem
Handlungsgerüst wurden keine wesentlichen Änderungen vorgenommen. Da-
mit stellt sich die Frage: Was hat diese Stoffgebundenheit für die literarische
Beurteilung der am Ende des Tradierungsprozesses stehenden Dichtwerke zu
bedeuten? Hatten deren Verfasser über das bloße Nacherzählen des Sagenstof-
fes hinaus noch Gestaltungsspielräume? Konnten, ja durften sie von den zu
ihren Lebzeiten wohl noch verbreiteten mündlichen Sagen abweichen, ohne
sich dem Vorwurf der Traditionsfälschung auszusetzen? Hatten sie sich nicht
„dem vorgegebenen Stoff mit seinem Traditionspotential und seinem An-
spruch auf Verbindlichkeit als Vorzeitkunde zu beugen, ihn als eine objektive
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 99

Größe zu nehmen?“2 Das Problem des Verhältnisses von Sagenstoff, Tradie-


rungsweisen des Stoffes und der uns im Nibelungenlied entgegentretenden
manifesten Dichtung stand und steht bei den Forschungen zu diesem bedeu-
tendsten mittelhochdeutschen Heldenepos beharrlich im Vordergrund und die
Antworten haben seine literarische Beurteilung und Interpretation je nach
Sichtweise fundamental geprägt. Noch in einer jüngeren Einführung heißt es:
„Ohne eine [...] Vorstellung (wie die Vorgeschichte des ‚Nibelungenliedes‘
verlaufen sein könnte) ist jeder verloren, der das Werk verstehen will.“3 Das
bedeutet doch nichts anderes, als dass eine in jedem Fall hypothetisch bleiben-
de Rekonstruktion der Textgenese unentbehrliche Voraussetzung für die An-
näherung an das Nibelungenlied wäre.
Gründlicher Umgang mit der aus dem Hochmittelalter überlieferten Dich-
tung führt jedoch zu einem gegenteiligen Schluss: Das Verständnis des Nibe-
lungenliedes erschließt sich dann auf ungezwungene Weise, wenn man lesend
(oder noch besser dem Epensänger zuhörend)4 die Faszination des Erzählten
auf sich einwirken lässt. Als unkommentierten Vortrag zum Zuhören haben
wir uns ja auch die Wirkung auf das zeitgenössische Publikum zu denken.
Verstrickung in die Fragen der Entstehung kann da nur ablenken.
Die erzählerische Durchsichtigkeit des Nibelungenlieds wird im Folgen-
den unter drei Aspekten aufgewiesen, (1) dass das Textgeschehen aus einer
homogenen feudalhöfischen Perspektive berichtet wird, (2) dass das Handeln
der Dichtungsfiguren und die Konflikte, in die sie sich verwickeln, einer in
diese Perspektive eingebetteten nachvollziehbaren Logik folgen und (3) dass,
ohne Rezeptionslenkung durch ein explizites ‚fabula docet‘, dennoch in den
berichteten Geschehnissen und der Zeichnung der Figuren die Gründe sichtbar
werden, die zum Scheitern aller Vorhaben und zu dem katastrophalen Ende
führen. Diese drei Aspekte werden wegen ihres inneren Zusammenhangs nicht
im Sinne einer Gliederung getrennt voneinander betrachtet. Das macht Nähe
zum Text erforderlich, hat aber auch den Vorteil, dass die Interpretation
kontrollierbar bleibt.

Wer ist Siegfried?

Die Siegfried-Figur und die Siegfriedhandlung im ersten Teil des Nibelungen-


lieds gaben und geben den philologischen Kritikern des Dichters in besonde-
rem Maße Anlass, seine Fähigkeit bzw. seine Möglichkeiten zu einheitlicher

2 Vgl. Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied, München u. Zürich 1987, S. 64.


3 Ebd., S. 32.
4 Einen bemerkenswerten Versuch, die Strophen des Nibelungenliedes im so genannten „Hil-
debrandston“, begleitet von Drehleier und Schoßharfe sanglich vorzutragen, macht der Wie-
ner Bariton Dr. Eberhard Kummer. PAN 15005/6, 2 LPs., Wien 1983, auf CD, Preiser Re-
cords LC 0992 Stereo 93415.
100 Günter Eifler

Figurengestaltung und Herstellung einer befriedigenden Handlungslogik zu


bestreiten. Ist Siegfried wirklich eine zwiegestaltige Erscheinung („Hier der
niederrheinische Jungkönig [...]; dort ein mit nebelhafter Ferne verbundener,
überstarker Abenteurer“)?5
Siegfried wird den Zuhörern in der zweiten Aventiure des Nibelungenlie-
des vorgestellt. Das geschieht nicht in einer ‚descriptio‘, die von der Aufzäh-
lung äußerer Eigenschaften über seelische Eigenschaften der Reihe nach wei-
terschreitet zum kontinuierlichen Bericht über die Jugendjahre. Die zeitliche
und sachliche Ordnung der Angaben wechselt vom rahmenhaften Überblick,
der weit in die Zukunft vorgreift, zu detaillierten Vorgangsschilderungen. –
Als erstes werden genannt Siegfrieds Heimat „in Niderlanden“, seine königli-
che Abkunft, die Namen der Eltern und die am Niederrhein gelegene Stamm-
burg „ze Santen“ (20). Schon die nächste Strophe (21) eilt nach Erwähnung
des Namens ‚Sîvrit‘ voraus zu einem späteren, offensichtlich kennzeichnenden
Lebensabschnitt, während dessen der junge Ritter im Vertrauen auf seine Stär-
ke viele Länder aufsuchte, um seine Tapferkeit an den dort Herrschenden zu
messen („er versuochte vil der rîche durch ellenthaften muot“). Es ist für die
weitsichtige Disposition des Dichters sehr wichtig festzuhalten, dass diese hier
noch nicht näher bestimmten ritterlichen Bewährungsproben schon in Zusam-
menhang gebracht werden mit Siegfrieds späterem Auftreten bei den Rittern in
Burgund („hey waz er sneller degene sît zen Burgonden vant“ [21]). Ohne
genauere Zeitangaben sind auf die Jugend Siegfrieds alsdann die allgemeinen
Mitteilungen bezogen, in welch erstaunlichem Ausmaß sein Ruf (êre) zunahm,
wie gut er aussah und dass die Frauen ihn später liebenswert fanden (22). Er-
wähnt wird des Weiteren die sorgfältige Erziehung, die man dem He-
ranwachsenden angedeihen ließ mit dem Ergebnis, dass man in ihm die wah-
ren Eigenschaften eines Herrn erkannte (23).
Eine längere Strophensequenz (24-42) verengt dann den Blick auf den
zeitlich präzisierten Vorgang der ritterlichen Initiation: Der Erzähler berichtet
die Schwertleite Siegfrieds mit allem feudalhöfischen Zeremoniell: Feierliche
Messe, Turnier, Festmahl, Unterhaltung durch fahrendes Volk, die Neuvergabe
der Lehen aus der Hand des jungen Fürsten, die großzügige Beschenkung der
mit Siegfried zum Ritter geschlagenen Knappen. – Das alles könnte sich am
Hofe des Königs Artus nicht anders abspielen.
Diese Vorstellung Siegfrieds macht deutlich, dass es die unverkennbare
Absicht des Dichters ist, die Sagenfigur in seinem Werk als ein besonders aus-
gezeichnetes Mitglied der höfisch-ritterlichen Gesellschaft zu interpretieren.
Indem er den ersten zusammenhängenden Erzählabschnitt über Siegfried der
Schwertleite widmet, rückt er den Helden, wie auch immer die umlaufenden

5 Hugo Moser: Studien zur deutschen Dichtung des Mittelalters und der Romantik. Kleine
Schriften II, Berlin 1984, S. 47.
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 101

Sagen ihn geschildert haben mögen, entschieden in den Zeithorizont seines


Publikums. Die literarischen Beschreibungen der Ritterpromotion kamen im
letzten Viertel des 12. Jahrhunderts auf,6 und auch der Vorgang selbst war im
Bewusstsein der Zeitgenossen; erinnert sei an den Mainzer Hoftag von 1184,
auf dem die Söhne Barbarossas das Schwert als Zeichen der Ritterwürde
empfingen.
Die zweite Aventiure schließt wieder mit einer bemerkenswerten Strophe
(43); es heißt dort, dass Siegfried nicht Landesherr werden will, solange seine
Eltern noch leben, dass er vielmehr die Absicht hat, die Schutzpflicht des Her-
ren gegen alle unrechtmäßigen Gewaltakte im Lande zu erfüllen. Das erinnert
an den bereits in der zweiten Strophe gegebenen Ausblick auf seine im Einzel-
nen nicht berichteten ritterlichen Bewährungsproben (22). Erneut werden also
Zeit und Art künftiger Taten exponiert – zu denken ist hier an die Kämpfe
beim Erwerb des Nibelungenhorts und gegen einen Drachen, worüber Hagen
später berichten wird. Auch damit wird der ritterlich-höfische Horizont eher
unterstrichen als verlassen. Dem höfischen Roman ist es ja ebenso durchaus
geläufig, die ordnungsbedrohenden Elemente in Gestalt von Drachen, Riesen
und Zwergen darzustellen. Gleichzeitig wird mit dem nachdrücklichen Hin-
weis auf die Ritterpflicht, rechtswidrige Gewalt zu unterdrücken, unmissver-
ständlich vorausgedeutet auf die später von Siegfried gegenüber Gunther gel-
tend gemachte Herrschaftslegitimation, dass der König fähig sein müsse, Frie-
de und Recht im Lande zu sichern.
Man sieht, dass der Dichter seine Gestalt in feudalaristokratischen Lebens-
formen gesehen wissen will, wie er sie mit Zügen ausstattet, die ihre künftigen
Handlungen erklären, und wie er auf die Zusammenhänge der Handlungen
achtet. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man der Fortsetzung des Erzähl-
geschehens in der dritten Aventiure folgt. Sie wird zeigen, wie sich das er-
wähnte „versuochen der rîche“ (21), also der Machtvergleich mit anderen Für-
sten, konkret abspielt.
Zuvor sei aber noch ein Blick auf die für das Gesamtpersonal des Nibelun-
genlieds charakteristischen Eigenschaften und Wertorientierungen geworfen.
Wegen der Offensichtlichkeit kann auf Einzelnachweise verzichtet werden:
Die Männer wie die Frauen im Nibelungenlied verfügen über ein ausgeprägtes
Selbstgefühl, sie sind stolz, geltungsbedürftig und machtbewusst. Bestimmend
für ihr Dasein sind hochadlige Geburt, Herrschaft, Macht, Reichtum und Anse-
hen. Der Dichter hebt das nicht kommentierend hervor, sondern zeigt es in Re-
den und im Verhalten der Figuren. Auch in dieser generellen Kennzeichnung
der Personen bekundet sich, dass seine Stoffinterpretation auf die mentale
Verfassung der Menschen seiner Zeit zielt. Genau so stellen sie sich nämlich in

6 Vgl. dazu Joachim Bumke: Höfische Kultur – Literatur und Gesellschaft im hohen Mit-
telalter, Bd. 1, München 1986, S. 318ff.
102 Günter Eifler

der Sicht der zeitgenössischen Lehrdichtung dar. In einer höfischen Erzie-


hungslehre aus dem Jahr 1215 diskutiert Thomasin von Zerclaere die leitenden
Werte des Adels und ordnet jedem ein sittliches Gegensatzpaar zu. Der Wert
der ‚hêrschaft‘ bricht sich in dem sittlichen Gegensatz von ‚diumuot‘ und
‚übermuot‘; der Wert von ‚rîchtuom‘ in demjenigen von ‚milte‘ und ‚erge‘;
‚maht‘ (im Sinne von ‚Stärke’) kann mit ‚senfte‘ tugendhaft, mit ‚zorn‘ laster-
haft gebraucht werden; über den Wert von ‚name‘ (im Sinne von ‚Ruf’, ‚êre’)
entscheidet, ob er auf ‚wârheit‘ beruht oder auf ‚ruom‘ (im Sinne von ‚Prahle-
rei’); ‚adel‘ ist sittlich durch ‚nît‘, dass ein anderer höher stehen könnte, ge-
fährdet; ‚gelust‘ (im Sinne von ‚Begierde’) schließlich führt die sittlichen Kor-
relate ‚unreht tuon‘ und ‚reht tuon‘ mit sich (5947ff.).7 Es ist gerade die Ambi-
valenz dieser (Güter-)Werte zwischen lasterhaftem und tugendhaftem, zwi-
schen bösem und gutem Gebrauch, die Thomasins Analyse im Hinblick auf
das Nibelungenlied so interessant macht. Man könnte es von dieser Grundlage
aus nach zeitgenössischen Kriterien ethisch interpretieren: die Ambivalenz
aller Werte ist ja charakteristisch für diese Dichtung.

Siegfrieds Werbungsentschluss

Siegfried hört von Kriemhilts unvergleichlicher Schönheit und von dem Stolz,
mit dem sie alle Männer abweist (44-46). Ein so hohes, schwer zu erringendes
Liebesziel (hôhe minne) fordert ihn heraus. Sein Entschluss ist rasch gefasst:
„sô wil ich Kriemhilden nemen“ (48). Der Text gibt auch das Motiv der ehr-
geizigen Partnerwahl zu erkennen: „Kein Kaiser“, so begründet Siegfried seine
Entscheidung gegenüber den abratenden Verwandten, „kann je so mächtig sein
[...], dass Kriemhilt nicht als Frau für ihn angemessen wäre“ (49). Das wirft
Licht auf seine Selbsteinschätzung. Und diese Selbsteinschätzung wird im
Fortgang des Geschehens immer deutlicher. Die Eltern sind bestürzt über die
Wahl ihres Sohnes. Die Brautwerbung beim Wormser Hof ist ein gefährliches,
lebensbedrohendes Unternehmen. Man kennt in Xanten „Gunthern und sîne
man“ (51), man weiß, dass der König und seine Vasallen sich ganz oben dün-
ken, besonders einer, Hagen, „kan mit übermüete der hôchverte pflegen“ (54).
Siegfried lässt sich von der ‚übermüete‘ der Wormser nicht schrecken, er setzt
seine Selbstgewissheit dagegen: „Was ich bei ihnen nicht im Guten erbitte, das
werde ich durch Mannhaftigkeit erreichen. Ich traue mir zu, ihnen ‚liute unde
lant abzuzwingen‘“ (55). Brautwerbung durch Gewalt, durch Krieg – passt das
zur höfischen Kultur? – In höfischen Dichtungen der Zeit begegnen durchaus
vergleichbare Konstellationen. So zum Beispiel im Parzival, wo Clamidê

7 Heinrich Rückert (Hg.): Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, mit einer Einleitung
von Friedrich Neumann, Berlin 1965.
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 103

Krieg gegen Pelrapeire führt, um Condwiramurs zur Frau zu gewinnen (Parz.


194,12-195,1); genauso will ein Herzog in Hartmanns Gregorius der in seiner
Nachbarschaft herrschenden Fürstin durch Verwüstung ihres Landes und Be-
lagerung ihrer Hauptstadt abdringen, dass sie ihn heiratet (Greg. 899-922;
1842-1846; 1999-2022).
Siegfrieds Vater findet dann auch nichts Befremdliches an der Gewalt-
strategie des Sohnes und ist bereit, dessen Werbung durch Heeresaufgebot zu
unterstützen (57). Siegfried lehnt das ab; er sei allein Manns genug, sein Ziel
zu erreichen (59). Sein späteres Handeln in Worms wird den hier geäußerten
Plänen genau entsprechen. Wichtig ist aber noch ein Zweites: Dass Siegfried
auf jegliche Hilfe bei seiner Werbung verzichtet, exponiert bereits hier den für
alles weitere Geschehen entscheidenden Gegensatz zu Gunther, der für seine
Werbung um Prünhilt ausdrücklich auf Hilfe, und zwar auf die Hilfe Siegfrieds
angewiesen war. Die Genauigkeit, mit der der Dichter Handlungsführung und
Konfliktbildung überblickt, tritt in solchen Verbindungslinien zwischen Frühe-
rem und Späterem eindrücklich zu Tage.
In Begleitung von elf Rittern, deren Repräsentationsaufwand Adel, Macht
und Reichtum demonstriert, trifft Siegfried am Hof Gunthers ein (71ff.). Ha-
gen wird zur Identifikation der Fremden herbeigerufen. Einer unter ihnen fällt
ihm besonders auf. Nach der Art seines Auftretens vermutet er, dass es sich um
Siegfried handelt (82ff.). Über den aber weiß er wichtige Dinge, „niuwemære“
(87), zu berichten.

Nibelungen-Hort und Drache

Der Bericht Hagens ist nun von höchstem Interesse für den Umgang des Dich-
ters mit dem Sagenstoff. Hortgewinn und Drachentötung sind, wie wir aus der
nordischen Überlieferung und auch aus dem Hürnen Seyfried wissen, offenbar
Kernbestand reich ausgestalteter Jung-Siegfried-Sagen. Der Dichter des Nibe-
lungenlieds vermeidet im eigenen Erzählzusammenhang die Entfaltung dieser
Erlebnisse Siegfrieds. Er lässt lediglich die Fakten durch Hagen vortragen.
Aber auch dabei achtet er noch darauf, dass sie mit der Existenz des feudalad-
ligen Königssohns kompatibel bleiben. Der Hort fällt Siegfried nach den Wor-
ten Hagens zu, als er von den Königssöhnen Schilbung und Nibelung gebeten
wird, ihren Erbstreit zu schlichten. Die Teilung misslingt. Man gerät in Zorn.
Es kommt zur bewaffneten Auseinandersetzung, in deren Verlauf Siegfried die
beiden Könige erschlägt. Ihre Helfer, zwölf Riesen, tötet er ebenso, überwindet
den Zwerg Alberich, nimmt ihm die Tarnkappe ab und wird schließlich zum
Herrn der nibelungischen Ritter, Burgen, Territorien sowie des Nibelungen-
horts. – Dies alles und dazu noch die nur kurz erwähnte Tötung des Drachens
berichtet Hagen wie eine ritterliche ‚aventiure‘ (88-100). Hier ist daran zu
104 Günter Eifler

erinnern, dass der Dichter die Eingliederung dieser Taten in Siegfrieds Leben
lange vor der Ankunft in Worms vorsorglich berücksichtigt hatte. Der Sagen-
stoff ist in der Neugestaltung voll adaptiert. Sie verleiht aber darüber hinaus
den aus der Sage stammenden Zügen, also der exorbitanten Kampfstärke Sieg-
frieds, seiner beim Bad im Drachenblut erworbenen Unverwundbarkeit und
dem Hort in der aktuellen Situation am Wormser Hof einen neuen funktionalen
Sinn, der die folgenden Ereignisse genau begreiflich macht. Hagen beschließt
nämlich seinen Bericht mit den folgenreichen Worten: „Wir suln den herren
enpfâhen deste baz, daz wir iht verdienen des jungen recken haz“ (101), – der
Mann, von dem man in Xanten sagte, dass er „mit übermüete der hochverte
pflege“, gibt jetzt die Devise aus: Man muss diesem Ankömmling unbedingt
entgegenkommen und darf ihm keinen Anlass zu feindlichem Verhalten geben.
Es ist die für Hagen typische Reaktion, seine Ratschläge und sein Verhalten
vom nüchternen Blick auf die Realitäten leiten zu lassen, und Realität ist, dass
jede Auseinandersetzung mit dem überstarken, unverwundbaren Siegfried nur
zur Niederlage führen könnte.

Die Provokation

Schon vor der Abreise nach Worms hatte Siegfried sich für seine Werbung auf
eine Gewaltstrategie festgelegt. Es ist selbstverständlich für ihn, dass der Weg
zu einer Königstochter vom Range Kriemhilts über den Beweis der eigenen
Macht und Königswürde führt, und das heißt auch über den vollen Beweis
eigener Herrschaftslegitimation. Deshalb liegt es in der Handlungslogik seines
Plans, den Machtvergleich mit König Gunther im Wettstreit um das ritterliche
Kriterium der Herrschaftslegitimation zu suchen. Die Herausforderung lautet
also: Wer von uns beiden Königen ist in der Lage, durch seine persönliche
Tapferkeit dem Land den Frieden zu sichern? Siegfried lässt dieses Kriterium
ausdrücklich auch bezüglich der eigenen Erblande gelten (113), und es ist
wiederum daran zu erinnern, dass er schon in Xanten das väterliche Kö-
nigserbe nur unter der Bedingung antreten wollte, die Herrschaft zuvor durch
die Sicherung von Friede und Recht persönlich verdient zu haben (43). Die
Position, die er vertritt, ist demnach: Der Erbanspruch gilt, aber ohne die Ido-
neität der Königsperson fehlt der Herrschaft der feste Grund. Man braucht sich
im Nibelungenlied nicht lange umzusehen, um auf die vergleichbare Heraus-
forderung der Wormser Herrschaft durch die Dänen und Sachsen zu stoßen.
Die Könige Liudegêr und Liudegast lassen durch ihre Boten Fehde ansagen
und bedrohen den Frieden der burgundischen Lande und Städte (139ff.). Im
politischen Vorstellungsbereich des Liedes stellen derartige Fehdeansagen
nichts Befremdliches dar. Es ist also unbegründet, im Verhalten Siegfrieds den
usurpatorischen Auftritt eines landlosen Recken zu sehen, der als unbewältig-
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 105

tes Relikt der Sage störend in dem neuen höfisch-ritterlichen Kontext stehen
geblieben sein soll.8 – Die Verknüpfung der Brautwerbung mit der durch
Tapferkeit erwiesenen Herrschaftslegitimation ist im Übrigen auch dem höfi-
schen Roman nicht fremd. Als Beispiel sei nur die Ehe zwischen Laudine und
Iwein erwähnt. Nach grundloser Aggression tötet Iwein den legitimen König
Askalon. Seiner Witwe wird wenig später von Lunete, ihrer engsten Vertrau-
ten, geraten, dem Liebeswerben Iweins nachzugeben, da Iwein durch die Be-
siegung Askalons bewiesen habe, dass er der bessere Ritter und folglich der
geeignetere König und Verteidiger des Landes sei (Iwein, 1959-1970).
Die Reaktion des Wormser Kronrats auf Siegfrieds Herausforderung ist
nach Hagens Bericht über den Ankömmling völlig klar. Nicht eine neue Qua-
lität überlegener höfischer Diplomatie, sondern die bare Unterlegenheit be-
stimmt das Handeln Gunthers. An einer Abwiegelungsstrategie führt kein Weg
vorbei. Es ist Gernôt, der die Wende einleitet. Er bremst den trotzig aufbrau-
senden Ortwin von Metz und schlägt friedliche Töne an: „Es ist rühmlicher für
uns“, sagt er, „Siegfried zum Freund zu haben“ (120). Selbstbewusste (über-
müete) Reden verbietet er seinen Leuten (123). – Diese unerwartete Nachgie-
bigkeit besänftigt Siegfried. Gunthers Worte „allez daz wir hân, [...] daz sî iu
undertân, und sî mit iu geteilet“ (127) kann er als Demutsgeste werten; der
politische Weg für seine Werbung ist damit frei. Er willigt in das Freund-
schaftsangebot ein, bleibt als Gast am Wormser Hof, in der Nähe Kriemhilts,
aber nun weiß er nicht, wie er an sie herankommen soll (136). Allmählich
gleitet er in eine Abhängigkeit von der Königsfamilie (137).

Ungewollte Dienstrolle

Es ist eine Meisterleistung feudalhöfischer Adaptation des Stoffes, wie der


Nibelungenlieddichter im weiteren Handlungsverlauf das Konfliktthema der
gesellschaftlichen Rangordnung am Wormser Hof aufkommen lässt, wie er die
unterschiedlichen Interessen Gunthers und Siegfrieds miteinander verflicht –
das Interesse Gunthers, diesen starken Verbündeten dauernd bei sich zu haben,
und das Interesse Siegfrieds, in Kriemhilts Nähe zu bleiben. Der Krieg gegen
Sachsen und Dänen bietet beiden Seiten eine gern ergriffene Gelegenheit, sich
den eigenen Zielen zu nähern. Hagen schlägt vor, Siegfrieds Waffenhilfe ge-
gen die Feinde in Anspruch zu nehmen (151), und Siegfried steht zur Verfü-
gung, wie man es von einem treuen Vasallen nur erwarten könnte: „iu sol mit
triuwen dienen immer Sîvrides hant“ (161). Das sind gefährliche Worte, in

8 Die scheinbare Widersprüchlichkeit der Siegfried-Figur hat die Forschung immer wieder
irritiert. Entsprechende Literaturnachweise bei Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied –
Epoche – Werk – Wirkung, München 1987, S. 117.
106 Günter Eifler

denen Freundschaft und Rechtsverhältnis zusammenfließen. Siegfrieds Tap-


ferkeit beschert den Burgunden einen glänzenden Sieg. Nach den Kampfhand-
lungen denkt Siegfried daran, Worms zu verlassen, aber Gunther bittet ihn zu
bleiben. Nur wegen der Königsschwester folgt Siegfried der Bitte. Der Erzäh-
ler nennt dieses Motiv ausdrücklich, und ebenso nennt er das Motiv der Kö-
nigsfamilie: „die heten daz gesehen, waz von sînen kreften in dem strîte was
gescehen“ (258f.). Und natürlich hat man in Worms bemerkt, was mit Sieg-
fried los ist: Gunther „was daz wol erkant, wie rehte herzenlîche der helt von
Niderlant sîne swester trûte“ (272). Man kann über eine lange Textstrecke hin
genau verfolgen, wie Kriemhilt als Verlockung für Siegfried instrumentalisiert
wird. Ihr gegenüber gebraucht Siegfried dann, als er sie endlich sehen darf,
Worte, die einer faktischen Unterordnung gegenüber den Königen gleichkom-
men: „Ich sol in immer dienen [...] und enwil mîn houbet nimmer ê gelegen,
ich enwerbe nâch ir willen, sol ich mîn leben hân.“ Seine reservatio mentalis: –
„daz ist nâch iuwern hulden, mîn frou kriemhilt, getân“ (304) hat keine Au-
ßenwirkung. Der Dichter macht Siegfrieds Abhängigkeit von seiner Liebe zu
Kriemhilt und damit den eigentlichen Grund aller kommenden Konflikte nach-
drücklich deutlich. Sowohl die einheitsgebende Konstante der Person als auch
die daraus hervorgehende Logik ihrer Entscheidungen und Handlungen kom-
men erzählerisch überzeugend zum Ausdruck. Dabei kann mitten im Ge-
schehen und noch lange vor seiner äußersten Eskalation auf das in solchen
Voraussetzungen begründete Ende vorausgeblickt werden. Die letzte Strophe
der 5. Aventiure (324) lautet: „Wegen ihrer [sc. Kriemhilts] unvergleichlichen
Schönheit blieb Siegfried in Worms. Mit den verschiedensten Unterhaltungen
vertrieb man sich die Zeit, nur die Liebe zu ihr bedrängte ihn, daran litt er
immerzu. Aus diesem Grunde fand der Tapfere später in jammervoller Weise
den Tod“. – Es ist unbegreiflich, wie angesichts solcher erzählerischer Durch-
sichtigkeit die Einheit der Figuren und die Konsistenz der Konfliktbildung
immer wieder bestritten werden können.

Der Betrug

Die soeben zitierte Strophe steht an der Schwelle zu den Handlungen, von
denen es kein Zurück mehr geben wird. Kein Zurück mehr – nicht weil ein
Verhängnis, ein Schicksal oder, noch schlimmer, der bloße Zwang des Sagen-
stoffs das Geschehen diktierte, sondern weil die handelnden Personen sich so
entscheiden, wie sie sich entscheiden, und weil sie glauben, ihre Ziele mit den
von ihnen gewählten Mitteln sicher zu erreichen. Eine fatale Entscheidung
steht am Anfang der weiteren Begebenheiten. In Worms verbreitet sich die
Kunde von einer unvergleichlich schönen Königin, die über außergewöhnliche
Kraft verfügt. Sie macht ihre Liebe davon abhängig, dass man sie im Kampfe
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 107

überwindet (326). Es geht wieder um ‚hôhe minne‘, um ein Liebesziel, das nur
um den Preis schwerster Tapferkeitsproben zu erlangen ist. Diese Konstellati-
on ist eine Wiederholung. Siegfried befand sich in derselben Lage, als er sich
für die gefährliche Werbung um Kriemhilt entschied.
Gunther entschließt sich, um Prünhilt zu werben. Siegfried weiß Bescheid
über die näheren Umstände des Wagnisses; er rät dringend ab. Wie schon im
Falle des Sachsenkrieges schlägt Hagen vor, auf Siegfrieds Hilfe zu bauen.
Zwei Wünsche, die jeweils aus eigenem Vermögen unerfüllbar sind, können
scheinbar in gegenseitigem Einvernehmen Wirklichkeit werden. In dieser
Zuversicht beschließen Siegfried und Gunther ihren Handel: „Hilfst du mir“,
fragt Gunther Siegfried, „die Liebe Prünhilts zu erringen?“ Und Siegfried
antwortet: „Gibst du mir deine Schwester, dann will ich es tun“ (332f.). Eine
irreversible gegenseitige Abhängigkeit der beiden Männer nimmt hier ihren
Ausgang. Beide sind sich darüber im Klaren und befestigen durch Eide, wozu
sie sich verpflichtet haben. Es liegt in der Konsequenz dieses Handels, dass
Prünhilt betrogen werden muss. – Das weckt bei den Beteiligten keine morali-
schen Bedenken, und auch der Erzähler gibt keinen moralischen Kommentar.
Er bleibt in der Haltung des objektiv Berichtenden, lenkt die Rezeption nicht
und überlässt das Urteil dem Rezipienten. Wie die Dinge liegen, kann aber
kein Zweifel daran bestehen, dass Siegfried die größere Verantwortung trägt,
denn er allein ist zur Durchführung des Betrugs befähigt. Er ist im Besitz der
Tarnkappe. Er ersinnt den Plan, wie man zu Werke gehen soll.
In diesem Plan setzt sich nun auf eigentümliche Weise fort, was sich im
Verhältnis Siegfrieds zum Wormser Hof schon länger angebahnt hatte, näm-
lich seine schleichende Unterordnung unter Gunthers königlichen Vorrang.
Das ist deshalb eigentümlich, weil ein solches Verhältnis bis dahin keinesfalls
dem Willen Siegfrieds und schon gar nicht den Tatsachen entsprach. Wie ist
das möglich? – In Sichtweite der Burg Prünhilts und kurz vor Beginn des ge-
fährlichen Täuschungsmanövers schwört Siegfried seine Begleiter – Gunther,
Hagen und Dancwart – ein, zusammenzuhalten und mit einer Sprache zu spre-
chen. Er gibt die folgende Sprachregelung aus: „Wenn wir Prünhilt im Kreis
ihrer Leute sehen, dann sollt ihr [...] nur dies eine aussagen, Gunther sei mein
Herr, und ich sei sein Vasall“ (386). Siegfried hält es in diesem Augenblick
jedoch für notwendig, gegenüber den Komplizen noch eine Erklärung nachzu-
schieben. An Gunther gewandt sagt er: „Glaub mir, ich lasse mich auf diese
Vereinbarung nicht in erster Linie aus Liebe zu dir ein, sondern um deiner
Schwester, des schönen Mädchens willen; diu ist mir sam mîn sêle und sô mîn
selbes lîp. Ich will daz gerne dienen, daz si werde mîn wîp“ (388). Nach-
drücklicher kann das zentrale Motiv, das Siegfried auch bei der bevorstehen-
den heiklen Handlung, dem Betrug an Prünhilt, leitet, nicht ausgedrückt wer-
den. – Einer Begründung bedürftig ist aber auch die offensichtlich nicht
selbstverständliche Einwilligung der Begleiter, bei einer so schwerwiegenden
108 Günter Eifler

Fälschung der ständischen Hierarchie mitzuwirken. Der Erzähler fährt nämlich


in der folgenden Strophe fort: „[seine Begleiter] waren bereit, das Versprechen
zu erfüllen, das er ihnen abverlangte“ – und er kommentiert diese Bereitschaft
mit den Worten: „durch ir übermüete unterließ es keiner von ihnen, alles zu
sagen, was Siegfried wollte; das kam ihnen zu Gute, als der König Gunther der
schönen Prünhilt gegenüberstand“. Der kritische Unterton ist hier keinesfalls
zu überhören. Der Erzähler hat wie immer die langfristigen Folgen der Zu-
stimmung zum Betrug im Auge. ‚Übermüete‘ bedeutet, dass die Akteure, die
nur auf den momentanen Erfolg ihres Vorhabens fixiert sind, genau diese Fol-
gen, nämlich die Gefahren der Standesfälschung nicht bedenken. Der Kom-
mentar des Erzählers ist also so zu verstehen, dass er das zustimmende Ver-
halten der Begleiter Siegfrieds als leichtfertig kritisiert. – Dem Interpreten
stellt sich hier aber noch eine weitere Frage. Nämlich: warum Siegfried über-
haupt auf die Idee der Vasallenfiktion verfällt, um Prünhilt zu täuschen. Dar-
über erfahren wir in der besprochenen Stelle noch nichts.
Um die Frage zu beantworten, ist es erhellend, einen Blick auf den Sagen-
stoff zu werfen. Für diesen ist der folgende Zusammenhang konstitutiv: Gun-
ther will Prünhilt zur Frau, ist aber unfähig, die dafür notwendige Freierprobe
zu bestehen. Dazu ist niemand außer Siegfried in der Lage. Damit Gunther zu
seinem Ziel gelangt, muss also Siegfried an seiner Stelle handeln. Diese
„Stellvertretung“ darf von Prünhilt keinesfalls bemerkt werden. Die älteren
nordischen Überlieferungen lösen dieses Problem, indem Siegfried und Gun-
ther die Gestalt tauschen. Im Nibelungenlied bedient Siegfried sich der Tarn-
kappe. Folge des Betrugs ist auch im Sagenstoff, dass das Rangverhältnis bei-
der Männer verfälscht wird: Gunther, der de facto Schwächere, erscheint als
der Überlegene; Siegfrieds Ausnahmeleistung bleibt verborgen. Weiterhin ist
für den Sagenstoff wesentlich, dass der Betrug durch einen Rangstreit der
beiden Frauen herauskommt.
Man muss das nicht wissen, um den Erzählgang des Nibelungenlieds zu
verstehen. Aber vor dem Hintergrund des im Sagenstoff vorgegebenen Struk-
turmusters erkennt man wieder sehr gut, auf welche Weise und mit welcher
umsichtigen Konsequenz der Dichter seine zeitgenössische Perspektive bei der
Behandlung des Stoffes einbringt. Die im Stoff strukturell vorgegebene,
scheinbare Werterhöhung, die Gunther nur der Leistung Siegfrieds verdankt,
interpretiert er erzählerisch in rechtlichen Kategorien der Feudalgesellschaft
als den Vorrang des Königs gegenüber seinem Vasallen. Siegfried hat auch
gute Gründe, sich gegenüber Prünhilt durch eindeutige Symbolhandlungen und
ebenso eindeutige Aussagen als Gunthers Vasall auszugeben. Er muss dem
Eindruck entgegenwirken, dass er selbst der Brautwerber ist. Das zeigt sich bei
der Ankunft der Wormser Werbungsdelegation in Prünhilts Burg. Siegfried
sticht offensichtlich durch seine Erscheinung so sehr von seinen Begleitern ab,
dass er von einem Ritter der Königin, obwohl der keinen der Ankömmlinge
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 109

kennt, ohne Umschweife als der berühmte Siegfried identifiziert wird (411).
Darauf kann Prünhilt sich einen Reim machen: „Wenn der starke Siegfried ins
Land gekommen ist, um meine Liebe zu erringen, dann geht es ihm ans Le-
ben“ (416). Siegfried ist es dann auch, den sie als ersten begrüßt (419). Nur
vermöge der Rangfälschung gelingt es, Gunther als den wahren Werber zu
präsentieren.
Es ist festzuhalten: Siegfrieds Täuschungsstrategie erweist sich in der ge-
gebenen Situation als ebenso notwendiges wie geeignetes Mittel, um mo-
mentan zum Ziel zu gelangen. Aber diese Täuschung ist von solcher Art, dass
sie nicht auf den Augenblick ihres nützlichen Einsatzes zu begrenzen ist. Die
scheinbare Nachordnung Siegfrieds gegenüber Gunther kann ja nur als Aus-
druck eines dauerhaften Rechtsverhältnisses vorgeschoben werden. Wenn es
gelang, Prünhilt für den Augenblick damit zu täuschen, dann musste diese
Täuschung entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten auch in alle Zukunft
aufrechterhalten werden. So entsteht eine unentrinnbare Bindung an die Lüge.
Darin liegt der gefährliche, nicht mehr aus der Welt zu schaffende Zündstoff
des Betrugsmanövers.
Der Dichter hat mit dieser Interpretation des im Stoff vorgegebenen Be-
trugsgeschehens die Leitlinien für die Handlungslogik gewonnen, die den
Fortgang bis zur Tötung Siegfrieds beherrschen und vorantreiben. Die Ent-
wicklung ist umso erregender, als sie der gesellschaftlichen Ein- und Unter-
ordnung Siegfrieds, die vorher nicht mehr als ein Nebeneffekt seiner Verliebt-
heit war, nun, als Folge des planvollen Handelns bei der Prünhilt-Werbung,
den Schein objektiver Tatsächlichkeit verleiht. Noch einmal sei unterstrichen,
dass die Akteure sich durch klar motivierte persönliche Entscheidungen in
diese Lage versetzt haben und dass die damit dramatisch fortschreitende Ver-
engung ihrer Handlungsspielräume nur aus ihrem eigenen Tun hervorgeht.

Verstrickung

Es kommt, wie es kommen muss. Nach der Rückkehr nach Worms werden die
edlen Fürsten von den Folgen ihres Handels rasch eingeholt. Siegfried erinnert
Gunther an den Eid, demzufolge er Kriemhilt als Lohn für die Werbungshilfe
erhalten soll. In dieser Situation ist von der Vasallenrolle nichts mehr zu spü-
ren. Bei der Vereinbarung, sich gegenseitig zu helfen, waren beide Männer ja
auch gleichrangige Partner und Siegfried noch dazu der stärkere. Entsprechend
deutlich ist seine Forderung: „Wo sind die Eide hingekommen? Euer Unter-
nehmen hat mich große Mühe gekostet“ (608). Gunther ist loyal und löst ohne
Umschweife ein, was er zugesichert hat. Aber die Situation gerät außer Kon-
trolle, als man Kriemhilt in den Saal führt und der König die Verlobung seiner
Schwester mit Siegfried formgerecht vollzieht (611ff.). Prünhilt bricht in Trä-
110 Günter Eifler

nen aus. Sie begreift nicht den königlichen Auftritt Siegfrieds mit seinem Ge-
folge, sie begreift nicht die Ehrung, die Gunther ihm angedeihen lässt (617),
sie ist fassungslos darüber, dass die Königsschwester durch die Ehe mit einem
Mann niederen Ranges „sol [...] alsô verderbet sîn“ (620). Diese Reaktion
Prünhilts hätte man voraussehen können. Aber die Männer hatten bei der Vor-
bereitung des Betrugs nicht so weit gedacht. Die Konsequenzen ihres früheren
Tuns entgleiten nun ihren Händen. Die Situation eskaliert: Prünhilt droht Gun-
ther mit Verweigerung des ehelichen Beilagers, wenn er ihr nicht sagt, wieso
Kriemhilt die Geliebte Siegfrieds ist (622). Die ausweichenden Auskünfte des
Königs stellen sie nicht zufrieden, und sie macht ihre Drohung wahr.
Die schlimme Brautnacht Gunthers dürfte zu den bekanntesten Szenen des
Nibelungenlieds gehören. Sie steht im Zeichen der unbeantworteten Frage
nach der Verbindung zwischen Siegfried und Kriemhilt. Diese beiden – der
Nibelungendichter ist ein Meister des Kontrastes – verbringen zur gleichen
Zeit eine glückliche Nacht miteinander. Die strikte Parallelführung der beiden
Paare seit den jeweiligen Werbungsentscheidungen verdeutlicht die unter-
schiedliche Charakterisierung der Figuren und den aus ihrer Gegensätzlichkeit
heranreifenden Konflikt. – Das Gunther in der Nacht widerfahrende Unglück
darf nicht als burleske Szene missverstanden werden. Unter veränderten Um-
ständen steht wie seinerzeit bei Siegfrieds Ankunft in Worms erneut die Trag-
fähigkeit des Fundaments, auf das Gunther seine königliche Existenz gegrün-
det hatte, auf dem Spiel, diesmal wegen der nur mit fremder Hilfe ermöglich-
ten ehrgeizigen Ehe. Es droht, an den Tag zu kommen, dass nicht er die Frei-
erprobe bestanden hat, dass er nicht der zu Prünhilt passende Mann ist. Das
Ruchbarwerden des Betrugs wäre vernichtend für ihn.
Die Verstrickung, in die Gunther sich begeben hat, zwingt ihn, sich wieder
um Hilfe bittend an Siegfried zu wenden. Er weiß, dass er sich damit vollends
in dessen Hand begibt. Im Vertrauen auf Siegfrieds großmütiges Wohlwollen –
„ûf genâde“, sagt der Text! – klagt er ihm sein Leid (650). Siegfried ist zur
Fortsetzung des Betrugs bereit. Er wird Gunther ‚tougenlîchen‘, geheim, mit
der Tarnkappe zur Seite stehen, „daz sich mîner liste mac niemen wol verstên“
(653). – Auch jetzt kommt es nur darauf an, das richtige Mittel zur Krisenbe-
wältigung zu finden. Weder die Handelnden noch der Erzähler halten sich mit
moralischer Bewertung des Geschehens auf.

Ring und Gürtel

Wieder gelingt der Plan. Prünhilt wird erneut das Opfer des Betruges. Aber so
glatt, wie Gunther es sich erhofft hatte, ist die Lösung diesmal nicht. Siegfried
tut etwas, das man nicht ohne weiteres versteht. Unbemerkt zieht er der über-
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 111

wundenen Prünhilt einen goldenen Ring vom Finger und nimmt ihr außerdem
den Gürtel weg, mit dem sie in der Nacht zuvor Gunther gebunden und jetzt, in
dieser Nacht, Siegfried vergeblich zu binden versucht hatte, – wieder wird die
höchst bezeichnende Kontrastierung der beiden Männer deutlich. Der Erzähler
unterstreicht das Außergewöhnliche an Siegfrieds Verhalten. Er schaltet sich
ein mit der tastenden Vermutung „ine weiz, ob er daz tæte durch sînen hôhen
muot“ (680). Dabei bleibt es, obwohl der Vorgang folgenreich ist. Präzise wird
der Bericht wieder mit der Angabe darüber, was Siegfried mit den beiden
symbolträchtigen ‚Beutestücken’ macht. Er gab Ring und Gürtel seiner Frau
Kriemhilt, allerdings nicht unmittelbar, nachdem er von dem Gewaltakt an
Prünhilt zu ihr zurückkam. „Lange verbarg er vor ihr, was er ihr mitgebracht
hatte (daz er ir hete brâht), bis sie in seinem Lande die Krone trug. Was er ihr
schuldig war, das enthielt er ihr nicht vor“ (684). Die Aussage des Erzählers,
den Grund für Siegfrieds Tun nicht zu wissen, stellt gewissermaßen dem Zu-
hörer anheim, sich darüber Gedanken zu machen. Sie werden aber durch die
Andeutung, es sei möglicherweise „durch sînen hôhen muot“ geschehen, auf
eine zum Gesamtbild der Siegfried-Figur passende Fährte gelenkt: Nimmt
Siegfried Ring und Gürtel der Frau Gunthers, die er für diesen zweimal erobert
hat, als Beweisstücke seiner wahren Überlegenheit mit? Ist der ‚hôhe muot‘
also der Stolz des Stärkeren, der Kriemhilt zeigen will, dass er Gunther über-
ragt, oder ist er die Leichtfertigkeit, die zu dem Glauben führt, dass in Xanten,
weit weg von Worms, das zuvor gehütete Geheimnis („er hal si vil lange“
[684]) gelüftet werden kann, weil hier und jetzt keine Gefahr mehr davon
ausgeht? Der Epiker gibt darüber keine bestimmte Auskunft: niemand, auch er
nicht, sieht in das Herz der Menschen. – Aber der später von Kriemhilt im
Streit mit Prünhilt so nachdrücklich reklamierte Vorrang Siegfrieds vor Gun-
ther und die Tatsache, dass sie Ring und Gürtel Prünhilts im Reisegepäck
mitführt, würden zu diesem durch den Dichter nahe gelegten Erklärungsver-
such gut passen. Die Psyche offenbart sich im Epos in Handlungen und Ver-
halten, sie ist nicht Gegenstand direkter Darstellung.

Siegfried muss sterben

Zehn Jahre vergehen, während derer Kriemhilt und Siegfried in Xanten, Gun-
ther und Prünhilt in Worms weit voneinander getrennt leben. Aber die Ruhe
täuscht. Prünhilts Gedanken kommen nicht los von der ohne befriedigende
Antwort gebliebenen Frage nach dem sozialen Status Siegfrieds. Sie muss ihn
für Gunthers Vasallen halten, muss von der dadurch gegebenen ständischen
Minderung Kriemhilts ausgehen und wundert sich mit Recht darüber, dass
Siegfried „uns nu vil lange lützel dienste getân [hât]“ (724). Sie beklagt sich
bei Gunther über die ausbleibenden Dienstleistungen, doch der hat es leicht,
112 Günter Eifler

seinen Verzicht mit der großen Entfernung zwischen Xanten und Worms zu
erklären. Da versucht sie es mit List auf sanftem Wege. Sie regt eine Festein-
ladung der Verwandten an und hat damit Erfolg bei dem arglosen König. Alles
lässt sich freundlich an, allein Prünhilt empfängt die Gäste mit dem Hinterge-
danken, die Ungereimtheiten um Siegfrieds Vasallität zu beseitigen (803).
Beim abendlichen Turnier kommt es zu dem berühmten Streit der Köni-
ginnen. Er spitzt sich schnell auf den für Angehörige der Feudalaristokratie
entscheidenden Punkt zu, welcher der beiden Männer der Mächtigste, der Vor-
nehmste, der Glänzendste ist. Der für Prünhilt bei der Werbung Gunthers er-
weckte Schein, dass Siegfried Gunthers Vasall ist, prallt auf Kriemhilts Kennt-
nis der wahren Verhältnisse. Sie muss sich durch die behauptete Herabsetzung
Siegfrieds in ihrem Standesbewusstsein verletzt fühlen und will Prünhilt durch
öffentliche Rangprobe vor Augen führen: „ich bin adelvrî“ (828). Auf den
Stufen des Münsters gibt Kriemhilt der Auseinandersetzung dann vor der ver-
sammelten Hofgesellschaft eine ganz unerwartete Wendung. Sie schmäht
Prünhilt mit der Enthüllung, die Geliebte Siegfrieds gewesen zu sein, und sagt,
es sei Siegfried gewesen, „der dir den magetuom an gewan“ (840). Das Zent-
rum der persönlichen Ehre des Wormser Königspaars ist damit getroffen.
Prünhilt sieht sich in die Defensive gedrängt. Ihre Aufforderung, Kriemhilt
solle diese ungeheuerliche Anschuldigung beweisen, endet in einem Fiasko:
Triumphierend hält Kriemhilt ihr die (vermeintlichen) Beweisstücke Ring und
Gürtel entgegen: „ich erziuge ez mit dem gürtel [...], jâ wart mîn Sîfrit dîn
man“ (849).
Schon während des Streites geht es Prünhilt durch den Kopf, Siegfried zu
töten, wenn er die Quelle der Behauptungen Kriemhilts ist (845). Die mehr als
halbherzige Bereinigung der skandalösen Situation seitens der Männer ver-
schafft ihr keine Klarheit und hinterlässt auch unter Gunthers Leuten großen
Unmut (871). Hagen nimmt sich der tief verletzten Königin an; er schwört ihr,
an Siegfried Rache zu nehmen (864). Er sieht deutlicher als alle anderen die
von Siegfried und Kriemhilt ausgehende tödliche Bedrohung der burgundi-
schen Königsmacht: Das Gerücht einer Beziehung Siegfrieds zu Prünhilt muss
die Erbfolge in der Herrschaft in Verruf bringen (867), das ungeklärte Rang-
verhältnis zwischen Siegfried und Gunther, an dessen Zustandekommen Hagen
selbst beteiligt war, hatte im öffentlichen Streit der Königinnen seine Gefähr-
lichkeit bewiesen, und mit Siegfrieds Tod wüchse Gunther die Herrschaft über
das Land vieler Könige zu. Die Situation ist gründlich verfahren. Ihre Voraus-
setzungen liegen in dem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, das Gunther
und Siegfried im Interesse ihrer Brautwerbungen eingegangen waren, in dem
Betrug, auf den beide Könige sich einließen, um Prünhilt zu gewinnen, in der
unzulänglichen und leichtfertigen Ausführung dieses Betruges und in der da-
durch verursachten Verunklärung der Macht- und Rangverhältnisse. All das
ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Es blieb nur die Flucht nach vorn:
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 113

Die Beseitigung des Mitwissers und Machtkonkurrenten erschien als geeigne-


tes Mittel, die Schatten der Vergangenheit endgültig zu bannen. Hagen über-
nimmt die Ausführung. Sein Macht- und Ordnungskalkül gewinnt die Ober-
hand. Mit Bedenken halten sich, Giselher ausgenommen, die hochadligen
Fürsten nicht lange auf. Was man will, das tut man, und man vertraut darauf,
das Geschehen in der Hand zu haben. Anders als bei den früheren Entschei-
dungen, von denen das Lied erzählt, mischt sich bei dem Tötungsplan der
Erzähler mit eigener Wertung ein: „Es war übele, dass der König Hagens Vor-
schlag folgte“ (876). Noch deutlicher als den Plan selbst verurteilt er anschlie-
ßend die Art, wie die Tötung Siegfrieds vorbereitet und durchgeführt wird.
Aber sein Urteil ist deutlich situations- und aktionsbezogen. Eine nachhaltige
moralische Verurteilung der beteiligten Personen leitet er nicht daraus ab.

Weg in die Katastrophe

Die Handlungsspielräume für den weiteren Gang der Geschehnisse sind mit
der Tötung Siegfrieds abgesteckt. Die Täter hoffen, durch ihre Tat wieder Herr
der Situation und ihrer künftigen Entscheidungen geworden zu sein. Wie schon
beim Werbungsbetrug täuschen sie sich aufs Neue. Wiederum ist die innere
Dynamik der unvorhergesehenen Folgen stärker.
Die mit der Tötung des Königsgatten und des geliebten Mannes verur-
sachte Entehrung, Entmachtung und Verletzung Kriemhilts sind so tief und
einschneidend, dass der Gedanke an Rache und Genugtuung sie nicht mehr
loslässt. Hagen und Gunther sind fortan ihre Todfeinde. Das bleibt auch wäh-
rend der Zeit der Trauer, die vorerst eine Zeit der Ohnmacht ist, ein durchge-
haltenes und der Gestalt unverwechselbare Einheit verleihendes Motiv. Es
braucht hier nicht mehr genauer nachgezeichnet zu werden, wie Kriemhilt in
der Brautwerbung Etzels um sie die Möglichkeit erkennt, die Mittel für ihre
Rache in die Hand zu bekommen. Der Entscheidungsprozess fällt ihr, die
durch dreizehnjährige Trauer um Siegfried seelisch fast vernichtet ist, nicht
leicht. Schritt für Schritt stellt der Erzähler dar, wie ihr Rachebedürfnis ob-
siegt. Vollends die Selbstverpflichtung Rüdigers, der neuen Herrin bedin-
gungslos zur Verfügung zu stehen, scheint Kriemhilt den Weg zu ihrem Ra-
cheziel zu ebnen, dem einzigen Ziel, das in ihrem Leben noch von Belang ist.
Auch sie hält sich nicht mehr mit moralischen Überlegungen auf. Klug baut sie
ihre Macht und ihren Einfluss am Hof Etzels aus, bis sie sich ihrer Sache ge-
wiss wähnt. Listig fädelt sie die Einladung ihrer Brüder und Hagens ein. Aber
auch Kriemhilt verrechnet sich. Die Helfer, auf die sie zählte, verweigern sich
ihrem Rachevorhaben, teils aus Loyalität gegenüber den Burgunden, teils aus
Furcht vor ihnen. Die unmittelbare Begegnung mit Hagen steigert ihren Hass
ins Unermessliche. Unter dem Antrieb ihres Vernichtungswillens entgleitet
114 Günter Eifler

während der hin- und herwogenden Kämpfe das Geschehen immer mehr ihren
Händen. Als von Freund und Feind nur noch Gunther, Hagen, Dietrich, Hilde-
brant und Etzel am Leben sind, tötet sie Gunther und Hagen eigenhändig und
fällt dann selbst durch das Schwert des von ihrer Raserei entsetzten Hildebrant.

Schluss

Die Nachzeichnung des im Nibelungenlied berichteten Geschehens lässt kei-


nen Zweifel zu: Vom Anfang bis zum Ende wird eine kohärente Abfolge von
Handlungen erzählt. Sie entspringen durchweg aus zielgerichteten und klar
motivierten Entscheidungen der agierenden Personen. Die Entscheidungen
zeitigen Konsequenzen, an die die Handelnden bei der Verfolgung ihrer Ziele
nicht gedacht hatten und die eine Umkehr nicht mehr erlauben. So werden die
Spielräume des Handelns immer enger. Schritt für Schritt verselbständigt sich
die nicht mehr beherrschbare Dynamik des Geschehens, bis sie schließlich in
die Katastrophe führt. Das alles folgt einer unentrinnbaren Logik. Diese
kommt zum Ausdruck in den die ganze Erzählung begleitenden Vorausdeu-
tungen des Dichters auf das furchtbare Ende.
Personen, Handlungen und Geschehnisse werden unzweideutig aus feu-
daladliger Perspektive dargestellt und begreiflich gemacht. Am Anfang steht
die lichtvolle Inszenierung höfischer Pracht an den Herrschaftssitzen in Xanten
und Worms. Höfische Kultur wird zelebriert durch Feste, Empfänge, luxuriöse
Bekleidung und durch die Demonstration feiner Gesittung. Die Frauen strahlen
durch Schönheit, die Männer imponieren durch Stärke, die sich in Turnieren
und ernsten Kämpfen spektakulär beweist. Dies alles ist keine bloße Äußer-
lichkeit, kein bloßer Verputz, keine ‚Verritterung‘, die ein archaisches und
barbarisches Geschehen notdürftig überdeckt, wie man gesagt hat.9 Es ist der
homogene Rahmen, in dem sich die Probleme entwickeln. In dieser Kultur und
bei diesen Menschen ist alles auf Außenwirkung, auf ‚êre‘ angelegt; und ‚êre‘
ist Ausdruck der Bewunderung, Ausdruck der Geltung, die man in den Augen
der Mitwelt besitzt. Das ist gemeint, wenn das feudalhöfische Dasein als ein
Leben ‚in disen hôhen êren‘ auf die knappste Formel gebracht ist.
Die Ausrichtung des höfischen Daseins nach außen, das ihm wesentlich
innewohnende Geltungsbedürfnis, ja die Geltungskonkurrenz, zu der es an-
treibt, – darin liegt zugleich seine tiefe Gefährdung. Nichts deutet jedoch dar-
auf hin, dass diese Gefährdung allein und ohne das freie Zutun der Menschen
schon mit Notwendigkeit in die Katastrophe führt, also in der Perspektive des

9 Vgl. dazu unter vielen gleichlautenden Stimmen Andreas Heusler: Nibelungensage und
Nibelungenlied – Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos, Dortmund 21922, S.108f.;
Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16.
Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 398.
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Zur Authentizität von Dichtung 115

Nibelungenlieds höfische Kultur als Inbegriff von „Spielregeln für den Unter-
gang“ dargestellt ist.10 So ist diese Dichtung nicht zu lesen. Wohl aber führt sie
den Zeitgenossen vor Augen, wie hervorragende Männer und Frauen der feu-
daladligen Gesellschaft durch ihr eigenes Verschulden, ungewollt natürlich
und infolge ihrer Selbstgewissheit scheitern können. Vom positiv verstandenen
‚hôhen muot‘, den die Dichtung zustimmend feiert, von der standesspezifi-
schen mentalen Verfassung der ‚übermüete‘ ist der Weg zur gefährlichen
Selbstüberschätzung sehr kurz. Die Ambivalenz dieser Eigenschaften im Text
offenbart den kritischen Übergang von Tugend zum Laster, ohne dass diese
Begriffe ausdrücklich bemüht werden. Das darin gleichwohl enthaltene mora-
lische Problem unterscheidet sich nicht grundsätzlich von demjenigen der
Personen des höfischen Romans. Auch ein Iwein, ein Erec, ein Parzival gera-
ten durch ihr Verhalten in diese gesellschaftsspezifische Schuld des Ritters, der
nur auf sich, auf seine ‚êre‘ oder Liebe bedacht ist, der Steigerung und Feier
des eigenen Selbst im Höchstwert der Anerkennung durch die Artusgesell-
schaft zu erringen sucht. Aber sie erfahren in ihrer dadurch ausgelösten Krise
ihre Periagoge, bekommen dank der Einsicht in ihre Verfehlung eine zweite
Chance. Siegfried, Gunther, Kriemhilt und Hagen bleibt diese zweite Chance
versagt, – versagt nicht von einem unbegreiflichen Schicksal, sondern weil sie
handeln, wie sie handeln, nicht Herr der Folgen ihres Tuns und im Falle
Kriemhilts auch nicht mehr Herr ihrer selbst sind.
In dem teilnehmenden Bericht über das selbstverschuldete Scheitern der
feudaladligen Menschen des Nibelungenlieds ist, auch ohne dass es durch
Kommentare des Erzählers ausdrücklich betont wird, der moralische Sinn
dieser Dichtung zu erblicken. Sie endet angesichts eines tragischen Gesche-
hens im Gestus der Klage: „Diu vil michel êre was dâ gelegen tôt. Die liute
heten alle jâmer unde nôt“, und sie sieht die skeptische Menschheitserfahrung
bestätigt, dass „ie diu liebe leide z’aller jungeste gît“ (2378). Es ist die Absicht
der vorstehenden Ausführungen, diesen Sinn des Nibelungenlieds aufzuzeigen.
Wenn das ohne „werkfremde Sinnunterstellung“11 gelungen wäre, dann hätten
sie ihr Ziel erreicht, nämlich darzutun, dass das hochmittelalterliche Nibelun-
genlied eine große und authentische Dichtung ist, die mit Recht zur Weltlite-
ratur gerechnet wird.

10 Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang – Neue Lektüren des „Nibelungenliedes“,
Tübingen 1998.
11 Heinzle: Das Nibelungenlied (Anm. 2), S. 92.
ROCHUS LEONHARDT

„McDonalds ist einfach gut.“


Der neuzeitliche Niedergang des klassischen
‚beatitudo‘-Verständnisses – und seine aktuelle
Unverzichtbarkeit

Wenn in der Themenformulierung vom klassischen ‚beatitudo‘-Verständnis


die Rede ist, so ist damit in erster Linie an die Lehre des Thomas von Aquin
vom Glück bzw. der Glückseligkeit als dem Letztziel (finis ultimus) des
menschlichen Lebens gedacht.1 Von paradigmatischer Bedeutung für die euro-
päische Geistesgeschichte – und deshalb von klassischem Rang – ist dieser
Ansatz deshalb, weil er den anspruchsvollen Versuch darstellt, die philosophi-
sche Tradition des Nachdenkens über das Glück in Gestalt der aristotelischen
‚eudaimonia‘-Lehre mit der christlichen Perspektive zu verbinden.
Klärungsbedürftig sind auch die Wörter ‚Niedergang‘ und ‚Unverzicht-
barkeit‘. Zunächst: die Formulierung meint nicht die Unverzichtbarkeit des
Niedergangs der klassischen ‚beatitudo‘-Lehre, sondern – ganz im Gegenteil –
die Unverzichtbarkeit dieser Lehre. Allerdings soll weder durch den Hinweis
auf die Klassizität des thomanischen Ansatzes noch durch die Behauptung
ihrer Unverzichtbarkeit die nostalgische Verklärung einer nicht nur rund 750
Jahre alten, sondern durch die Repristinationsversuche des Neuthomismus
zusätzlich ins Gerede gekommenen Lehre angezeigt werden – auch wenn im
Fall des Thomas von Aquin die Versuchung einer Idealisierung vielleicht be-
sonders nahe liegt. Dies zeigen zum Beispiel einige Formulierungen von Josef
Pieper. Pieper hat im Hinblick auf das 13. Jahrhundert im Allgemeinen und
das Werk des Thomas von Aquin im besonderen von einem „Augenblick“
gesprochen, in dem „so etwas wie Einklang und ‚klassische Fülle‘ erreicht
worden“ sei; und dieser Augenblick, so Pieper weiter, „scheint, obwohl er
natürlich vergangen ist und auf keine Weise noch einmal herbeigeführt werden
kann, in der Erinnerung der abendländischen Christenheit mit Recht fortzule-
ben als etwas Paradigmatisches und Musterhaftes, als eine Art Modell-Vor-
stellung, als eine Norm, die, freilich unter veränderten Bedingungen und also
auf neue Weise, ‚eigentlich‘ sollte erfüllt werden, wenn es mit rechten, glück-
lichen Dingen zugeht. Nun, in diesen kurzen geschichtlichen Augenblick fällt

1 Vgl. dazu Rochus Leonhardt: Glück als Vollendung des Menschseins – Die beatitudo-Lehre
des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems, Berlin u. New York 1998
(Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 68).
118 Rochus Leonhardt

das Werk des Thomas von Aquin. Vielleicht kann man sagen, sein Werk ver-
körpere diesen Augenblick.“2
Im Folgenden geht es nicht darum, die thomanische ‚beatitudo‘-Lehre im
Sinne Piepers als eine Art Modell-Vorstellung bzw. als eine Norm schlechthin
zu begreifen oder gar darum, Wege zur gegenwärtigen Erfüllung dieser Norm
aufzuweisen; vielmehr ist zu zeigen, dass sich auch aktuell nicht sinnvoll von
Glück sprechen lässt, ohne auf die im Werk Thomas von Aquins paradigma-
tisch manifestierte ‚alteuropäische‘ Tradition Bezug zu nehmen – nota bene:
auf sie Bezug zu nehmen, nicht: sie zu übernehmen. Dass eine solche Bezug-
nahme für ein sachgerechtes Nachdenken über das menschliche Glück auch
gegenwärtig hilfreich, ja sogar unvermeidlich ist, soll im dritten Teil deutlich
werden. Zuvor ist allerdings erstens zu zeigen, welche Probleme bzw. Aporien
sich aus der Verabschiedung des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses in der
Neuzeit ergeben. Und zweitens sind die entscheidenden Konturen der mit
Recht als klassisch geltenden Lehre des Thomas von Aquin zu skizzieren.

Verabschiedung des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses


in der Neuzeit und ihre Folgen

Aus Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung (1888) stammt die Formulie-


rung „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.“3 Wie
ernst dieser Aphorismus allerdings zu nehmen ist, kann dahingestellt bleiben;
das Zitat soll hier nur als Indiz für eine spezifisch deutsche Aversion oder
wenigstens für eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Auffassung vom
Streben nach Glück als Grundlage menschlicher Moral dienen, wie sie etwa
dem englischen Utilitarismus zu Grunde liegt. In diesem Sinne formuliert
Nietzsche an anderer Stelle: „Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen
unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump und ehrenwert in den
Fußstapfen Benthams daherwandeln [...] Zuletzt wollen sie alle, dass die engli-
sche Moralität recht bekomme: insofern gerade damit der Menschheit, oder
dem ‚allgemeinen Nutzen‘ oder ‚dem Glück der Meisten‘, nein! dem Glücke
Englands am besten gedient wird; sie möchten mit allen Kräften sich bewei-
sen, dass das Streben nach englischem Glück [...] zugleich auch der rechte
Pfad der Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat,
es eben in einem solchen Streben bestanden habe.“4 Sucht man nach den tiefe-

2 Josef Pieper: Thomas von Aquin – Leben und Werk, München 1959, S. 16f.
3 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert
(1888), in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 1954, Bd. 2, S.
939-1033, hier S. 944.
4 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (1886), in: ders.: Werke in drei Bänden, hg.
von Karl Schlechta, München 1954, Bd. 2, S. 692.
„McDonalds ist einfach gut“ 119

ren Wurzeln dieser deutschen Zurückhaltung in Sachen Glück, so ist man zum
einen auf die Reformation im 16. Jahrhundert, speziell auf die Theologie Lu-
thers, zum anderen auf die Aufklärung im 18. Jahrhundert, insbesondere auf
die Moralphilosophie Kants, verwiesen. Beide haben auf unterschiedliche
Weise, aber mit vergleichbarem Nachdruck den antiken und mittelalterlichen
‚common sense‘ aufgekündigt, wonach das Letztziel des menschlichen Lebens
im durch tugendhafte Handlungen erreichbaren Glück besteht. Und beide ha-
ben durch diese Aufkündigung des genannten ‚common sense‘ auf ihre je
eigene Weise zur Verabschiedung des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses,
konkret: zur Ausblendung des klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs aus dem ethi-
schen Diskurs, beigetragen.

Ausblenden des klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs aus dem ethischen Diskurs

Martin Luthers theologisch motivierte Diskreditierung der Scholastik und des


mittelalterlichen Aristotelismus5 hat sich auch auf die tradierte Lehre von der
‚beatitudo‘ ausgewirkt. Diese Konstellation soll hier an zwei Punkten verdeut-
licht werden.
(1) Das Streben nach Glück(seligkeit) als dem Letztziel menschlichen
Handelns, das als jenseitige Gottesgemeinschaft vorgestellt wurde, bringt nach
Luther keineswegs eine natürliche Orientiertheit des Geschöpfes, sondern die
sündige Selbstbezogenheit des Menschen zum Ausdruck. Wer Gott wirklich
liebt, der verlangt nämlich gerade nicht nach der Vollendung des eigenen Le-
bens, er wird sich selbst vielmehr hassen: „Diligere deum est seipsum odisse et
praeter deum nihil novisse.“6 Deshalb gilt diejenige Liebe als die stärkste, die
sich im Selbsthass zu Gunsten des Geliebten manifestiert: „Est enim hec dilec-
tio [...] fortissima et extrema, ubi per summi in seipsum odii signum summam
ostendit dilectionem in alterum.“7
Nach Karl Holl, einem der wichtigsten Vertreter der sogenannten Luther-
Renaissance nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland, war Luther
der Erste, der die Differenz zwischen dem Glücksstreben des Menschen (das
auf sündhafter Selbstbezogenheit beruht) und der wahrhaft christlichen Moral
(die in der Hingabe an Gott und den nächsten besteht) hinreichend deutlich

5 Vgl. dazu jetzt Theodor Dieter: Der junge Luther und Aristoteles – Eine historisch-syste-
matische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin u. New York
2001 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 105).
6 Martin Luther: Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), These 95, in: ders.: Werke
– Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff., Bd. 1, S. 228 (Weimarer Ausgabe, künftig zi-
tiert: WA).
7 Ders.: Diui Pauli apostoli ad Romanos epistola (Die Vorlesung über den Römerbrief
1515/16), WA, Bd. 56, S. 390.
120 Rochus Leonhardt

expliziert hat: „Niemand hat vor ihm [sc. Luther] den Gegensatz zwischen
Sittlichkeit und Glücksverlangen so klar herausgearbeitet.“8
(2) Die Rechtfertigungslehre Luthers, das Herzstück der reformatorischen
Theologie, bringt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass der Mensch zur Erlan-
gung seines Heils von sich aus nichts beitragen kann, sondern dass die dafür
vorauszusetzende Annahme des Menschen durch Gott, eben seine Rechtferti-
gung, ausschließlich als ungeschuldeter Akt göttlicher Gnade gedacht werden
muss (sola gratia), die in Jesus Christus offenbar geworden ist. Daraus ergibt
sich ein spezifisches Verständnis christlicher Sittlichkeit. Moralisch-
tugendhaftes Handeln kann nämlich, wenn der für Luthers Theologie zentrale
Grundsatz von der Alleinwirksamkeit Gottes bei der Begnadung des Menschen
gewahrt bleiben soll, keinesfalls als Beitrag zur Erlangung des Heils verstan-
den werden. Der in der tradierten ‚beatitudo‘-Lehre zentrale Gedanke, nach
dem die in der Gottesgemeinschaft bestehende Glückseligkeit durch tugend-
hafte Handlungen des Menschen erreicht werden müsse, steht deshalb der
Rechtfertigungslehre diametral entgegen: „Denn das kan das gnaden reich
nicht leiden, das wir Got geben, verdienen oder bezalen wolten mit unseren
wercken, Sondern ist die grossest lesterung und abgötterey und nichts anders
denn Gott verleugnen und spotten dazu [...] Denn wer mit wercken will ver-
dienen und gewinnen, der denckt freilich nichts umb sonst odder aus gnaden
zu entpfahen, Sondern wil mit Gott hantieren und rosteusschen.“9
Dass Immanuel Kant die ethischen Relevanz des menschlichen Glücks-
strebens bestreitet, wurzelt letztlich in seiner erkenntnistheoretischen Voraus-
setzung, nach der die von uns wahrgenommenen Gegenstände nicht die Dinge
an sich sind, sondern nur als deren Erscheinungen gelten können. Der Mensch
ist nun ein ‚Bürger zweier Welten‘. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Welt
der Erscheinungen (als ‚phaenomenon‘) ist sein Handeln restlos der Naturkau-
salität unterworfen. Nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt
(als ‚nooumenon‘) kommen ihm Freiheit und damit Sittlichkeit zu. Deshalb
aber kann nichts, was mit der Sinnenwelt in Zusammenhang steht, zur Grund-
legung der Ethik taugen. Der Gedanke des menschlichen Glücks gilt Kant nun
grundsätzlich als empirisch bedingt, und deshalb gibt, wer dem menschlichen
Glücksstreben ethische Relevanz zuerkennt, den Gedanken der Sittlichkeit
letztlich preis. Das Wesen des Sittlichen besteht deshalb nach Kant darin, dass

8 Karl Holl: Der Neubau der Sittlichkeit (1919), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kir-
chengeschichte I (Luther), Tübingen 1927, S. 155-287, hier: S. 205. Eine zeitgenössische
Fortschreibung dieser rechtfertigungstheologisch motivierten Kritik an einer Glücksethik
liegt vor bei Gunda Schneider-Flume: Leben ist kostbar – Wider die Tyrannei des gelin-
genden Lebens, Göttingen 2002. Eine positive Anknüpfung an den Glücksbegriff aus evange-
lisch-theologischer Perspektive unternimmt Jörg Lauster: Gott und das Glück. Das Schicksal
des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004.
9 Martin Luther: Der 117. Psalm ausgelegt (1530), WA, Bd. 31/I, S. 252.
„McDonalds ist einfach gut“ 121

reine Vernunft für sich allein praktisch wird, dass sie also ihre Handlungs-
grundsätze unabhängig von allen der Sinnenwelt verhafteten Beweggründen
formuliert. Für die sittliche Selbsterfahrung des Menschen ist nämlich gerade
das Bewusstsein der Freiheit als der Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben
konstitutiv:
Man darf nur das Urtheil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmä-
ßigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit finden, daß, was auch die
Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und
durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit
an den reinen Willen halte, d.i. an sich selbst, indem sie sich als a priori praktisch
betrachtet.10
Das Einbeziehen des Glücksgedankens zerstört dagegen sittliches Handeln, da,
was Glück bedeuten kann, nur unter Rekurs auf die Sinnenwelt zu konkretisie-
ren ist: Wenn „Eudämonie (das Glückseligkeitsprincip) statt der Eleutherono-
mie (des Freiheitsprincips der inneren Gesetzgebung) zum Grundsatze aufge-
stellt wird, so ist die Folge davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller Moral.“11

Etablierung eines verkürzten Glücksbegriffs

Es hat sich gezeigt: Wo sittliches Handeln im menschlichen Verlangen nach


Glückseligkeit wurzelt, da wird nach Kant wie nach Luther Sittlichkeit letzt-
lich zerstört. Angesichts dieser Kritik an der ethischen Relevanz des menschli-
chen Glücksstrebens war eine unbefangene Anknüpfung an die klassische
‚beatitudo‘-Lehre nicht mehr ohne weiteres möglich. Falsch wäre es aber zu
sagen, damit sei das Glück als Thema neuzeitlichen Denkens überhaupt dis-
kreditiert oder gar erledigt gewesen. Man muss fast sagen: Das Gegenteil ist
richtig. Es scheint so, als stelle der Satz ‚Alle Menschen wollen glücklich sein‘
seine Triftigkeit gerade angesichts der recht weitgehenden Ausblendung des
klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs aus dem philosophisch- wie theologisch-
ethischen Diskurs immer deutlicher unter Beweis.12

10 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Akademie-Textausgabe, Bd. 5, S.


32.
11 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademie-Textausgabe, Bd. 6, S. 378.
Bezüglich der kritischen Haltung Kants gegenüber der normativen Relevanz des Glücksbeg-
riffs für die philosophische Ethik ist zwar schon seit längerer Zeit eine Revision im Gange.
Trotzdem sah sich Dieter Thomä noch 1996 „[z]ur Verteidigung des Glücks gegen die Gebil-
deten unter seinen Verächtern“ genötigt; in: Neue Rundschau 107 (1996), S. 134-142.
12 Einige Beispiele: Der ‚Klassiker‘ von Mihaly Csikszentmihalyi: Flow – Das Geheimnis des
Glücks ist im Jahr 2001 bereits in 9. Auflage erschienen. Auf der Bestsellerliste des Spiegels
standen im Jahre 2002 mehrere Titel zum Thema ‚Glück‘ jeweils über längere Zeit auf Platz
1 (Dalai Lama: Der Weg zum Glück – Sinn im Leben finden, Freiburg i. Br. 2002; Stefan
Klein: Die Glücksformel – Oder: Wie die guten Gefühle entstehen, Reinbek bei Hamburg
122 Rochus Leonhardt

Die Abkopplung der neuzeitlichen Reflexion


über das Glück von der ‚alteuropäischen’
Tradition führte und führt allerdings sowohl
im Alltagsverständnis als auch im philoso-
phischen Diskurs zur Etablierung eines ver-
kürzten Glücksbegriffs, dessen Aporien
meines Erachtens durch einen Rückbezug
auf die klassische Lehrform überwunden
werden könnten. Dieser verkürzte Glücks-
begriff soll im folgenden anhand zweier
Beispiele dargestellt werden.
(1: Die Reduktion von Glück auf Wohl-
gefühl) Am Anfang des 11. Kapitels seines
berühmten Leviathan (1651) hat Thomas
Hobbes die Existenz jenes Letztziels des
menschlichen Lebens, von dem, wie er sagt, „in den Schriften der alten Philo-
sophen die Rede ist“, ausdrücklich bestritten. Was wir ‚Glückseligkeit‘ nen-
nen, ist im Grunde nur „ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem
Gegenstand zu einem anderen“: „Felicity is a continual progress of the desire
from one object to another.“13 Es entspricht dieser Auffassung des Glücks als
nie letztlich befriedigtem, sondern immer nur vorübergehend gesättigtem Ver-
langen, wenn, etwa in Illustrierten und Nachrichtenmagazinen, das Glück als
ein ‚Gefühl‘ beschrieben wird, das durch bestimmte Mechanismen zeitweilig
erzeugt werden kann (vgl. Der Spiegel, Nr. 53/1996). Folgerichtig konnte sich
unter dem Namen ‚Happyologie‘ eine ‚empirische Glücksforschung‘ etablie-
ren, die vorwiegend neurobiologisch interessiert ist. Es entspricht diesem An-
satz, dass eine 3sat-Sendung vom 2. Dezember 1999 mit dem Titel Glück ist
Chemie die Frage nach dem Glück zu einer Frage der Hormone erklärte, eine
Diagnose – von der es zum Glück auf Rezept (vgl. Focus, Nr. 16/1994) nur
noch ein unbedeutender Schritt ist. Nicht auf der neurobiologischen, aber je-
denfalls auf der biologischen Ebene ist auch der Werbeslogan „McDonalds ist
einfach gut“ angesiedelt. Übersetzte man das ‚einfach gut‘ ins Lateinische,
käme man wohl auf ‚bonum simpliciter‘, ein traditionell mit dem ‚summum
bonum hominis‘, also der ‚beatitudo‘ in Verbindung gebrachter Begriff. Das

2002). Schließlich hat das Institut für Demoskopie Allensbach aufgrund einer im Februar
2002 durchgeführten Umfrage festgestellt, dass 68% der Befragten den Sinn des Lebens in
erster Linie darin erblicken, glücklich zu sein und viel Freude zu haben; 1974 waren es noch
20% weniger (genaueres unter http://www.ifd-allensbach.de/pdf/prd_0206.pdf).
13 Thomas Hobbes: Leviathan, ore The Matter, Forme & Power of a Common-Wealth Ecclesi-
asticall and Civill (1651), dt.: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und
bürgerlichen Staates, hg. und übers. von Iring Fetscher, Frankfurt a.M. 1966, Neuausgabe
1984, S. 75.
„McDonalds ist einfach gut“ 123

Besondere an diesem Slogan ist, dass er einerseits (wenn auch eher implizit
und vielleicht sogar unbewusst) die Präsenz des klassischen ‚beatitudo‘-
Begriffs signalisiert und dass er andererseits die dem älteren ‚summum bo-
num‘ eigene Unüberbietbarkeit mit der unvermeidlich stets vorübergehenden
Sättigung durch bestimmte Nahrungsmittel verbindet.
Die Reduktion des Glücks auf ein wie auch immer stimuliertes und jeden-
falls zeitlich begrenztes Wohlgefühl führt aber sofort zur Destruktion des
Glücksbegriffs überhaupt. Dies hat vor einigen Jahren Karl Heinz Bohrer vor-
geführt. Jeder Moment glückhafter Erfüllung ist nach Bohrer ein bereits ge-
genwärtig vorübergehender Moment und insofern jedenfalls virtuell schon zu
Ende, bevor er begonnen hat. Es ist offensichtlich, dass diese Einschätzung,
die Bohrer dann zur Suche nach „Möglich-
keiten einer nihilistischen Ethik“14 geführt
hat, auf einer Verengung des Glücksbeg-
riffs auf die Ekstase des Augenblicks be-
ruht – eben auf der Reduktion des Glücks
auf Wohlgefühl.
(2: Die Trennung von Glück und Identität)
Mit dem Hinweis auf Karl Heinz Bohrer ist
bereits der Schritt vom Alltagsverständnis
zum philosophischen Diskurs vollzogen.
Einen der wichtigsten größeren Beiträge
aus diesem Bereich hat 1992 der Tübinger
Philosoph Hans Krämer vorgelegt.15 Krä-
mer zielt zunächst – in Abgrenzung zu dem
von ihm diagnostizierten Monopolanspruch der Sollensethik Kantischer Prä-
gung – auf die „Reetablierung und zeitgemäße Erneuerung des Typus der
Strebens-, Selbst- und Glücksethik.“16 Diese ist aber ausdrücklich nicht am
antik-mittelalterlichen Vorbild orientiert; die ältere Ethik ist nach Krämer
„nicht wiederholbar [...], weil sie in den Sturz der älteren Ontologie und Teleo-
logie hineingezogen worden ist. [...] Wir können deshalb nicht einfach zu
Platon, Aristoteles, Thomas, Epikur oder den Stoikern und ihren modernen

14 Karl Heinz Bohrer: Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik (I), in: Merkur 51 (1997), S. 1-
19; ders.: Poetischer Nihilismus und Philosophie – Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik
(II), in: Merkur 51 (1997), S. 406-421.
15 Hans Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1992; vgl. auch ders.: Replik – Die „Inte-
grative Ethik“ in der Diskussion, in: Martin Endreß (Hg.): Zur Grundlegung einer inte-
grativen Ethik – Für Hans Krämer, Frankfurt a.M. 1994, S. 205-249; ders.: Integrative Ethik,
in: Joachim Schummer (Hg.): Glück und Ethik, Würzburg 1998, S. 94-107. Vgl. zur kriti-
schen Analyse Rochus Leonhardt: Paradigmenwechsel in der Philosophischen Ethik? – Eine
kritische Würdigung des Entwurfs von Hans Krämer, in: Theologie und Philosophie 73
(1998), S. 415-428.
16 Hans Krämer: Integrative Ethik (Anm. 15), S. 122.
124 Rochus Leonhardt

Nachfolgern zurückkehren.“17 Bei der Darstellung seines eigenen Ansatzes ist


Krämer sichtlich darum bemüht, die neuzeitliche Verabschiedung teleologi-
schen Denkens radikal ernst zu nehmen. So proklamiert er: „Die Vorstellung
vom eudämonischen Lebensziel als einem starren, inflexiblen Optimum und
Perfektissimum wird durch einen prinzipiellen Infinitismus ersetzt.“18 Dement-
sprechend geht Krämer von einer prinzipiellen „Mannigfaltigkeit möglicher
Lebensziele, Güterhierarchien und Wertordnungen“ aus.19 Diese postteleolo-
gisch bedingte Erweiterung des Zielspektrums bricht vor allem mit der Vor-
aussetzung,
daß das Leben unter einem einheitlichen Plan stehen und in sich konsistent und
konsequent sein müsse. [...] Die jüngere Moderne neigt stattdessen zunehmend zu
einem Polyzentrismus, ja einem dissoluten, pluralistischen Antistil des Lebens, bis
hin zur Entgrenzung und Aufhebung der Identität. Die Einheitlichkeit des Lebens-
plans und die hierarchische Ordnung der Ziele ist also nicht mehr als oberste Le-
bensregel aufzufassen.20
Die von Krämer im Namen des postmodernen Pluralismus geforderte Ab-
kopplung der Idee des guten Lebens von der Einheit der Biographie zugunsten
einer Entgrenzung und Aufhebung der Identität ist nicht nur deshalb problema-
tisch, weil auch hier ein verkürzter Glücksbegriff im Hintergrund steht; son-
dern diese – übrigens höchst contraintuitive – Forderung führt auch die Idee
des guten Lebens und damit den Glücksbegriff überhaupt ad absurdum, denn
in Bezug worauf, wenn nicht im Hinblick auf das Ganze eines Lebens, nennen
wir jemanden glücklich?

‚beatitudo‘-Lehre des Thomas von Aquin

Die Bedeutung der thomanischen ‚beatitudo-Lehre beruht vor allem darauf,


dass sie den Versuch darstellt, die – erst seit dem 12. Jahrhundert im Abend-
land überhaupt bekannte – Ethik des heidnischen Philosophen Aristoteles mit
der christlichen Lehre von der eschatologischen Gottesschau als der jenseitigen
Vollendung des menschlichen Lebens zu verbinden.21 Der thomanische Ansatz
kann folgendermaßen charakterisiert werden: Einerseits muss die aristotelische
‚eudaimonia‘, die sich natürlich nur auf dieses irdische Leben bezieht, von der
‚beatitudo‘, die die Christen nach diesem Leben erwarten, unterschieden wer-
den; es gibt keine Identität. Andererseits besteht auch kein Gegensatz; denn

17 Ebd., S. 127.
18 Ebd., S. 128.
19 Ebd., S. 130.
20 Ebd., S. 188f.
21 Vgl. zum historischen Bezugsrahmen Rochus Leonhardt: Glück als Vollendung des
Menschseins (Anm. 1), S. 61-96.
„McDonalds ist einfach gut“ 125

das irdische Glück, Thomas von Aquin nennt es ‚beatitudo imperfecta‘, ist eine
Art Beginn der wirklichen ‚beatitudo‘, eine allerdings notorisch defiziente
Vorform. Das wohl bedeutendste Ergebnis dieses Ansatzes dürfte darin beste-
hen, dass die antike Lehre vom gelingenden Leben in die christliche Ethik
integriert wurde.
Im Folgenden sind lediglich zwei besonders wichtige Aspekte der thoma-
nischen Lehre darzustellen. Zugleich soll gezeigt werden, dass Thomas von
Aquin seine Argumentation streng rational aufgebaut hat, das heißt dass er –
soweit es die hier zu erörternden Aspekte betrifft – auf der Ebene der natürli-
chen Vernunft und nicht hinsichtlich göttlicher Offenbarung argumentiert.

Einzigkeit des Letztziels

Im 4. Artikel der ersten ‚quaestio‘ des zweiten Teils der Summa Theologiae
stellt Thomas von Aquin die Frage, ob es ein Letztziel für das menschliche
Leben gibt. Zur Begründung seiner Auffassung, dass es ein solches Letztziel
geben muss, beruft er sich auf die Ablehnung eines ‚regressus in infinitum‘,
wie sie Aristoteles etwa in seiner Metaphysik und in seiner Physik dargestellt
und begründet hat. Auf diese Weise gewinnt Thomas das entscheidende Ar-
gument für seinen Beweis der Existenz eines Letztziels des menschlichen
Lebens. Denn, so stellt er fest, in beiden Ordnungen, die im Bereich der Ziel-
setzungen existieren – in der der Absichten (intentiones) und der der Ausfüh-
rungen (executiones) – muss es ein ‚primum‘ geben. Als dieser unverzichtbare
Ursprung gilt nach Thomas von Aquin im ‚ordo intentionis‘ der ‚finis ultimus‘
und im ‚ordo executionis‘ das erste derjenigen Dinge, die sich auf diesen be-
ziehen. Denn ließen sich nicht alle Handlungsabsichten auf einen ersten Ur-
sprung zurückführen, würde gar nichts angestrebt werden, gäbe es also kei-
nerlei ‚appetitus‘ auf irgendetwas hin. Und wenn nicht alle Ausführungen auf
ein ‚primum‘ zurückgehen würden, könnte gar keine Handlung beginnen.
Es ist grundsätzlich und in jeder Hinsicht unmöglich, bei der Zielwahl ins Unend-
liche fortzuschreiten. Bei allen Dingen nämlich, die untereinander in einer Zielord-
nung stehen, müssen, wenn das erste Ziel wegfällt, die darauf bezogenen [Ziele
ebenfalls] wegfallen. Deshalb beweist der Philosoph, dass es nicht möglich ist, bei
den Bewegungsursachen ins Unendliche fortzuschreiten [Phys VIII 5: 256 a4-21].
[…] Im Bereich der Zielsetzungen gibt es aber eine zweifache Ordnung: eine der
Absicht (ordo intentionis) und eine der Ausführung (ordo executionis), und in bei-
den muss es ein Erstes geben. Denn das Erste in der Ordnung der Absicht ist
gleichsam der die Neigung (appetitus) bewegende Ursprung (principium). Daher
würde, bei Wegfall des Ursprungs, die Neigung von nichts bewegt werden. Der
Ursprung in der Ordnung der Ausführung aber ist das, womit die Tätigkeit (opera-
tio) beginnt. Daher würde, bei Wegfall des Ursprungs, niemand beginnen, irgend-
etwas zu tun. – Der Ursprung der Neigung aber ist das Letztziel (finis ultimus); der
126 Rochus Leonhardt

Ursprung der Ausführung aber ist der Beginn der Dinge [sc. Handlungen], die sich
auf das Ziel richten. So ist es also in keine Hinsicht möglich, ins Unendliche fort-
zuschreiten. Denn wenn es kein Letztziel gäbe, könnte nichts erstrebt werden, kei-
ne Handlung (actio) könnte beendet werden, und die Neigung keines Wirkenden
(agens) könnte zur Ruhe kommen. Wenn es aber bei den Dingen, die sich auf das
Ziel richten, kein Erstes gäbe, könnte niemand anfangen, etwas zu tun; es würde
auch keine Überlegung zum Ende kommen, sondern endlos fortgesetzt werden.22
In den nächsten Artikeln zieht Thomas von Aquin aus der in 1,4 erwiesenen
Existenz eines ‚ultimus finis humanae vitae‘ verschiedene Konsequenzen.
Zunächst (Artikel 5) stellt er fest, dass sich ein Mensch unmöglich zugleich zu
mehreren Dingen wie zu einem Letztziel verhalten kann. Es folgt aus dieser
Behauptung einer formalen Gemeinsamkeit aller Willensakte, dass auch jedes
einzelne Wollen auf den ‚finis ultimus‘ ausgerichtet ist. Folglich stellt Thomas
von Aquin in Artikel 6 heraus, dass der Mensch alle von ihm erstrebten Ein-
zelziele letztlich um des ‚finis ultimus‘ willen verfolgt: Ein angestrebtes ‚bo-
num imperfectum‘ wird gewollt als etwas, das zum ‚bonum perfectum‘ hin
tendiert, da es letztlich der ‚finis ultimus‘ als ‚primum appetibile‘ ist, der die
Neigung zu den ‚secunda appetibilia‘ ermöglicht und strukturiert.
Notwendig erstrebt der Mensch alles, was er erstrebt, um des Letztziels willen. Das
erhellt aus zwei Gründen. Erstens: weil der Mensch alles unter dem Gesichtspunkt
des Guten erstrebt. Was nämlich nicht als vollendetes Gut, also als Letztziel, er-
strebt wird, muss als etwas zum vollendeten Gut hin Tendierendes erstrebt werden,
weil der Anfang von etwas immer auf dessen Abschluss ausgerichtet ist, wie es
sowohl bei Naturdingen als auch bei Artefakten offensichtlich ist. Und von daher
ist jeder Vollendungsbeginn (inchoatio perfectionis) ausgerichtet auf die abge-
schlossene Vollendung (perfectio consummata), die durch das Letztziel [sc. durch
dessen Erreichen] erfolgt. Zweitens: weil sich das Letztziel beim Anregen der Nei-
gung (in movendo appetitum) so verhält, wie sich bei anderen Bewegungen das
Erstbewegende (primum movens) verhält. Es ist aber klar, dass die bewegenden
Zweitursachen (causae secundae) nur insofern bewegen, als sie vom Erstbeweger
bewegt werden. Daher regt [auch] das Zweiterstrebte [sc. das, was nicht als voll-
endetes Gut erstrebt wird] die Neigung nur an im Sinne einer Hinordnung auf das
Ersterstrebte, welches das Letztziel ist.23

Irdische Unerreichbarkeit des Letztziels

Es wurde schon erwähnt, dass nach Thomas von Aquin die Vollform des
Glücks erst nach diesem Leben erreichbar ist. Zwar folgt er mit dieser Einsicht
der christlichen Tradition, die das Thema der ‚beatitudo‘ gewöhnlich in der
Eschatologie verhandelte. Zugleich aber, und das gehört zweifellos zu den

22 Thomas von Aquin: Summa Theologiae Ia-IIae 1,4 corp. art (vom Verf. übersetzt).
23 Ebd., Ia-IIae 1,6 corp. art (vom Verf. übersetzt).
„McDonalds ist einfach gut“ 127

interessantesten Aspekten der thomanischen Lehre, hat er die These von der
Unvollendbarkeit des irdischen Glücks auch als Pointe der aristotelischen
Ethik verstanden. So hat er sich etwa in seinem Kommentar zur Nikomachi-
schen Ethik um den Nachweis bemüht, dass der aristotelische Glücksbegriff
für eine Bezugnahme und eine Weiterführung seitens der christlichen Theolo-
gie offen und geeignet ist. Nach der Interpretation des Thomas von Aquin hat
nämlich Aristoteles selbst bereits eine Differenz zwischen seinem ‚eudaimo-
nia‘-Begriff und der Realisierbarkeit dieser ‚eudaimonia‘ unter den Bedingun-
gen dieses Lebens gespürt.24
Diese Differenz zwischen dem Begriff einer ‚felicitas perfecta‘ und dem
unter den Bedingungen der ‚conditio humana‘ erreichbaren Glück nimmt
Thomas von Aquin in der Summa contra Gentiles zum Anlass, die Frage zu
stellen, ob die perfekte Glückseligkeit überhaupt erreichbar ist. In der Nikoma-
chischen Ethik habe Aristoteles das dem Menschen erreichbare Glück auf eine
‚felicitas modo humano‘ reduziert. Diese Reduktion hält Thomas von Aquin
jedoch für unangemessen: Das natürliche Verlangen nach einer alles irdisch
erreichbare Glück transzendierenden ‚felicitas perfecta‘ kann nicht ins Leere
gehen. Denn, so Thomas von Aquin, Aristoteles sagt selbst, die Natur tue
nichts umsonst. Entscheidend ist hier, dass Thomas von Aquin seine Kritik an
der ‚eudaimonia‘-Lehre des Aristoteles unter Berufung auf Aristoteles selbst
begründet: Das vom Philosophen formulierte ‚Ökonomieprinzip‘ (Gottes und)
der Natur widerspricht der in der Nikomachischen Ethik vollzogenen Reduk-
tion des menschlich erreichbaren Glücks. – Könnte der Mensch die Vollform
des Glücks nicht erreichen, wäre sein unbestreitbares Begehren danach ver-
geblich (frustra).
Thomas von Aquins Gedankengang lässt sich also folgendermaßen zu-
sammenfassen:
(1) Das vollendete Glück muss erreichbar sein (andernfalls wäre das menschli-
che Verlangen vergeblich, was unmöglich ist).
(2) Das vollendete Glück ist in diesem Leben unerreichbar (denn zu finden ist
es nur in der Erkenntnis Gottes, die irdisch jedoch nur höchst unvollkommen
möglich ist).
(3) Das vollendete Glück muss nach diesem Leben erreichbar sein:
Wenn also jemand das Glück (felicitas) erreicht, erreicht er zugleich Dauerhaftig-
keit und Ruhe. […] In diesem Leben gibt es aber keine Dauerhaftigkeit: Jeden
nämlich, als wie glücklich er auch gelten mag, können Krankheit und Unglück
treffen, durch die er an dem Vollzug gehindert wird, in dem das Glück besteht,
welcher dies auch sei.
Unmöglich ist das natürliche Begehren (desiderium naturale) [sc. des Menschen

24 Vgl. zu den Einzelheiten Rochus Leonhardt: Glück als Vollendung des Menschseins (Anm.
1), S. 125-153.
128 Rochus Leonhardt

nach dem Glück] vergeblich: Die Natur tut nämlich nichts umsonst [Aristoteles.
De caelo I 4: 271 a33]. Es wäre aber ein vergebliches Begehren der Natur, wenn es
niemals erfüllt werden könnte. Also ist das natürliche Begehren des Menschen er-
füllbar. – Aber nicht in diesem Leben, wie gezeigt wurde. Notwendigerweise muss
es also nach diesem Leben erfüllt werden. Das höchste Glück des Menschen (feli-
citas ultima hominis) tritt also nach diesem Leben ein.25
Anknüpfend an diese Hinweise zur ‚beatitudo‘-Lehre des Thomas von Aquin
ist abschließend kurz zu skizzieren, was von dieser mittelalterlichen Theorie in
die zeitgenössische Diskussion über Glück oder gelingendes Leben einge-
bracht werden kann.

Relevanz des klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs für


eine sachgemäße Theorie gelingenden Lebens

Thomas von Aquins Behauptung der Einzigkeit des Letztziels des menschli-
chen Lebens bringt in noch heute nachvollziehbarer Weise die Erfahrung zum
Ausdruck, dass so etwas wie ein konsistenter Lebensentwurf (auch gegenwär-
tig) als notwendige Bedingung dafür anzusehen ist, dass der Mensch ein au-
thentisch-selbstbestimmtes und mithin ein glückliches Leben führen kann.
Entgegen Krämers Hinweis auf die spezifisch moderne Möglichkeit einer
Dissolution unserer Identität erinnert Thomas von Aquin mit Recht daran, dass
wir Menschen unsere personale Identität und damit die Einheit unserer Bio-
graphie gar nicht aufheben können. Wir können viele verschiedene Dinge tun,
wir können uns dabei auch gravierend ändern, aber auch als noch so gravie-
rend Geänderte sind wir kein Anderer. Im Gegenteil – gerade wenn wir uns
geändert haben, beziehen wir doch unseren neuen Zustand retrospektiv auf den
vorigen, indem wir etwa feststellen, dass es uns jetzt besser oder auch schlech-
ter geht, dass die Veränderung also positive oder auch negative Folgen hat.
Unsere personale Identität, mit der wir uns demnach selbst permanent behaften
und mit der wir bekanntlich auch von anderen immer wieder behaftet werden,
‚erzwingt‘ also gleichsam die Einheit unserer Biographie. Man muss sogar
sagen, dass das Lebensglück des Einzelnen letztlich davon abhängt, ob und
inwieweit er rückblickend sein Leben als eine irgendwie konsistente Einheit
begreifen kann – ein Umstand, den bereits Aristoteles in der Nikomachischen
Ethik reflektiert hat.26 Diesen Gedanken hat zwar auch Krämer ausdrücklich
formuliert,27 er steht bei ihm aber seltsam unverbunden neben der oben zi-
tierten Behauptung eines (post)modern unvermeidlichen Polyzentrismus

25 Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles III 48 (vom Verf. übersetzt).
26 Vgl. I 11; 1101 a 15-17.
27 Vgl. Hans Krämer: Integrative Ethik (Anm. 15), S. 157-168, bes. S. 159f.
„McDonalds ist einfach gut“ 129

humaner Lebensorientierung, der seines Erachtens aus dem zeitgenössischen


Wertepluralismus folgt. Dabei ist doch, damit der Wertepluralismus nicht zu
einem Pluralismus der Beliebigkeit verkommt, die Vergewisserung einer Ge-
samtperspektive, an der sich das eigene Leben orientiert, notwendig.28
Wenn gerade von der Unverzichtbarkeit eines konsistenten Lebensent-
wurfs die Rede war, so ist allerdings an die Problematik zu erinnern, die sich
aus der Verwendung des Wortes ‚Lebensentwurf‘ ergibt: Wir stehen ja nicht
vor unserem Leben wie vor neu erschlossenem Bauland, auf dem wir ein auf
einem bereitliegenden Plan entworfenes Gebäude errichten könnten; vielmehr
sind Bauherr und Gebäude gewissermaßen eins, weil wir unserem Leben im
Vollzug nicht gegenüberstehen.29 Dennoch – und deshalb macht das Wort
‚Lebensentwurf‘ durchaus auch Sinn – gibt es ein solches ‚Gegenüberstehen‘.
Nicht im Vollzug des Lebens, wohl aber im bilanzierenden Rückblick, sei er
auf bestimmte Lebensabschnitte bezogen oder auf die Biographie insgesamt,
stehen wir uns sozusagen selbst gegenüber. Hier ist nun, wie schon gesagt, das
Sichtbarwerden einer gewissen Konsistenz unverzichtbar, wenn unser Leben
als ein gelungenes bilanzierbar sein soll.
Die Formulierung ‚Unverfügbarkeit des Glücks‘, mit der hier der zweite
Relevanzpunkt des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses benannt ist, ver-
weist dagegen gerade darauf, dass wir unser Leben als ein ganzes eben nicht in
der Hand haben und entspricht damit der thomanischen Lehre von der irdi-
schen Unerreichbarkeit der ‚beatitudo perfecta‘. Deutlich wird der Zusammen-
hang anhand der bekannten Erfahrung, dass wir zwar einzelne Glücksgüter,
nicht aber das Glück selbst intendieren können. Für den aristotelischen ‚eu-
daimonia‘-Begriff ebenso wie für das thomanische ‚beatitudo‘-Verständnis gilt
nämlich, dass das Glück nicht als ein Einzelgut neben anderen verstanden
wird. Es ist vielmehr das ‚Worumwillen‘ für die Wahl aller Einzelgüter, der

28 Vgl. dazu Rochus Leonhardt: Kompaß im Pluralismus – Der Monotheismus gibt dem Men-
schen Orientierungshilfe, in: Evangelische Kommentare 2 (2000), S. 41-43. Mit dem Stich-
wort ‚Pluralismus der Beliebigkeit‘ wird hier angeknüpft an Eilert Herms: Pluralismus aus
Prinzip (1991), in: ders.: Kirche in der Welt – Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen
im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, S. 467-485, hier: S. 477-479: „Auf der Ebene
des sozialen Gesamtsystems ist das grundlegende Merkmal des Pluralismus der Beliebigkeit
die programmatische Privatisierung aller Fragen der ethisch-orientierenden Überzeugung [...]
Im Zusammenhang des Persönlichkeitssystems entspricht ihr [dieser Privatisierung, R.L.] das
Ungewißwerden der jeweils eigenen Lebensperspektive. [...] [Daraus folgt schließlich:] Die
zunehmende weltanschaulich-ethische Ungewißheit und Verunsicherung einer zunehmenden
Anzahl von einzelnen vergrößert ständig denjenigen Bevölkerungsanteil, der nur noch zur
Anpassung an beliebige Trends fähig ist, wenn diese nur mit einem eindrucksvollen Domi-
nanzgestus auftreten. Die Möglichkeiten einer manipulativen Formierung von öffentlicher
Meinung – und zwar gerade in Grundsatzfragen – nehmen zu.“
29 Hier liegt die Wurzel jener „Antinomien des Glücks“, die Robert Spaemann herausgearbeitet
hat: Glück und Wohlwollen – Versuch über Ethik (1989), Stuttgart 21990, S. 85ff.
130 Rochus Leonhardt

Maßstab für diese Wahl, der seinerseits nicht noch einmal an etwas anderem
gemessen werden kann. ‚Eudaimonia/beatitudo‘ fungiert als streng formales
Regulativ menschlichen Handelns, als „Begriff kriteriologisch begründender
Reflexion.“30 Sie ist deshalb einerseits etwas, was jeder zwingend wollen muss
– das, „was niemand umhin kann zu wollen.“31 Und sie ist andererseits erstre-
benswerter als alle Einzelgüter, da sie in eine ganz andere Kategorie gehört –
Glück ist „nicht als Summand in einer Reihe mit anderen Gütern denkbar.“32 –
Man kann eben nicht sagen, „Ich wünsche mir dies und jenes und dazu noch
Glück“ oder „Ich wäre zufrieden mit Glück, wünsche mir darüber hinaus aber
noch dies und jenes.“33
Es ist offensichtlich, dass diese Dimension des Glücksbegriffs nicht nur in
den oben herangezogenen Äußerungen von Luther und Kant, sondern auch bei
Krämer nicht präsent, für ein sachgerechtes Nachdenken über gelingendes
Leben aber unverzichtbar ist. Denn nur diese Unterscheidung zwischen dem
Glück schlechthin und verschiedenen Glücksgütern erlaubt es, etwa die Erfah-
rung von Enttäuschungen trotz erreichter Strebensziele oder die Änderung von
Zielpräferenzen nachvollziehbar zu erklären. Die sowohl alte als auch unüber-
bietbar aktuelle Einsicht in die Unverfügbarkeit des Glücks kann daher auch
als säkulare Reformulierung der Lehre des Thomas von Aquin gelesen werden,
nach der das vollendete Glück erst nach diesem Leben erreichbar ist – und wir
dafür der göttlichen Gnade bedürfen.

30 Klaus Jacobi: Aristoteles’ Einführung des Begriffs eudaimonia im I. Buch der Nikomachi-
schen Ethik – Eine Antwort auf einige neuere Inkonsistenzkritiken, in: Philosophisches Jahr-
buch 86 (1978), S. 300-325, hier: S. 320.
31 Vgl. Robert Spaemann: Die Zweideutigkeit des Glücks, in: ders. u.a. (Hg.): Zweckmäßigkeit
und menschliches Glück, Bamberg 1994, S. 15-34, hier: S. 16.
32 Klaus Jacobi: Einführung des Begriffs (Anm. 30), S. 318. Damit wird die Intention des
Aristoteles präzise zum Ausdruck gebracht, der gesagt hatte, Glück sei „erstrebenswerter [...]
als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf eine Linie mit den anderen gereiht“ (‚me sy-
narithmoumenen‘: Nikomachische Ethik I 5; 1097b 16f).
33 Vgl. nochmals Klaus Jacobi: Einführung des Begriffs (Anm. 30), S. 318.
RAINER STILLERS

„Mit einem Füllhorn voller Erfindungen geht


die Dichtung stets einher“. Anthropologische Poetik und
Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio
Amplissima quidem fingendi est
area, et pleno semper fictionum
cornu poesis incedit.1

Im folgenden Beitrag versuche ich, die Poetik der italienischen Frührenais-


sance in einer Perspektive zu zeigen, die bisher vernachlässigt wird. Die Poetik
dieser Zeit – ich denke dabei an Trecento und frühes Quattrocento – wird gern
als ‚theologische Poetik‘ gekennzeichnet – ein Begriff, der durchaus einen
ihrer wesentlichen Argumentationsstränge trifft. Unter ‚theologischer Poetik‘
ist eine Legitimation der Dichtung zu verstehen, nach der diese auf einen gött-
lichen Ursprung oder göttliches Einwirken zurückgeführt und dichterische
Texte von ihren Mitteln und ihren Zielen her in Analogie zu biblischen Texten
gesehen werden. Zur literarhistorischen Phase der ‚theologischen Poetik‘ wer-
den theoretische Positionen von Mussato über Petrarca und Boccaccio bis hin
zu Salutati gerechnet.2 Die bei diesen Autoren entwickelten Argumente wirken
aber in vielfältiger Weise über das Quattrocento hinaus bis in das Cinquecento
nach, sind also auch noch in den beiden nachfolgenden Phasen der Renais-
sancepoetik zu finden: in der humanistischen Poetik, die vor allem das 15.
Jahrhundert bestimmt,3 und in der Zeit der systematischen Poetik, die von der

1 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium, a cura di Vittorio Zaccaria, in: ders.:
Tutte le opere, a cura di Vittore Branca, vol. VII/VIII, Milano 1998, S. 1450-52.
2 Grundlegend hierzu noch immer August Buck: Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter
bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische
Philologie, Bd. 94), Kap. III, 2: „Die Verteidigung der Poesie“, S. 67-87; von den umfangrei-
cheren Studien sei verwiesen auf Giorgio Ronconi: Le origini delle dispute umanistiche sulla
poesia (Mussato e Petrarca), Roma 1976 (Strumenti di ricerca, Bd. 11) und Claudio Méso-
niat: Poetica theologia – La “Lucula Noctis“ di Giovanni Dominici e le dispute letterarie tra
’300 e‚’400, Roma 1984 (Uomini e dottrine, Bd. 27).
3 Vgl. zu diesem Zeitraum u.a. Concetta Carestia Greenfield: Humanist and Scholastic Poetics,
1250-1500, Lewisburg u.a. 1981.
132 Rainer Stillers

Horaz- und Aristoteles-Rezeption geprägt ist und sich von Bartolommeo della
Fonte an durch das ganze 16. Jahrhundert zieht.4
Was nun die erste Phase der Renaissancepoetik betrifft, so sollen im Fol-
genden zwei Aspekte herausgestellt werden, die in der bisherigen Forschung
zu wenig Beachtung gefunden haben. 1. Ich möchte zeigen, dass neben der
dominierenden ‚theologischen‘ Poetik hiervon divergierende Argumentationen
auszumachen sind, die ich als ‚anthropologisch‘ bezeichne. Ich wähle diesen
Begriff, weil in den Argumenten, die dargestellt werden sollen, der Bezug der
Dichtung auf einen göttlichen Ursprung und ihre Vergleichbarkeit mit der
Theologie in Konkurrenz zu einer Auffassung treten, nach der Dichtung ihren
Ursprung im Menschen, in seinem Erkenntniswillen und in seinen Bedürfnis-
sen hat und deshalb als etwas vom Menschen für Menschen Gemachtes gese-
hen wird. Die Beobachtungen werden sich auf die theoretischen Schriften
Boccaccios konzentrieren, den Trattatello in laude di Dante, die Esposizioni
sopra la Comedia und die Genealogie deorum gentilium.5
Boccaccio ist nicht der Einzige in seiner Zeit, der eine solche ‚anthropolo-
gische‘ Richtung propagiert; er vertritt sie aber – verglichen mit seinen Vor-
gängern, Zeitgenossen und auch Nachfolgern – mit einem Nachdruck und
einer systematischen Differenziertheit, die in dieser Epoche ihresgleichen
sucht. 2. Im Zusammenhang hiermit soll sodann gezeigt werden, dass diese
Ansätze zu einer anthropologischen Poetik bei Boccaccio eng mit einer zwei-
ten zentralen Überzeugung verknüpft sind: Die Bildhaftigkeit von Dichtung,
das heißt der visuelle, imaginative Charakter ihrer Darstellungsweise ist nicht
ein beiläufiges, sondern ein essentielles, konstitutives Merkmal, das die Dich-
tung an den menschlichen Erkenntniswillen und sein Erkenntnisbedürfnis
bindet.
Man mag an dieser Stelle einwenden, dass es in der ‚theologischen Poetik‘
ohnehin in hohem Maße um die Allegorie als bildhafte Rede geht, weil die
Analogie zwischen Theologie und Poetik weitgehend über die figurative Rede
als ‚tertium comparationis‘ hergestellt wird. Trotzdem lohnt es sich, die Per-
spektiven zu beachten, unter denen die Allegorie als bildhafte Rede beurteilt
und argumentativ eingesetzt werden kann. Die Struktur der Allegorie besteht
in der Koppelung einer bildhaft-anschaulichen Darstellung an einen im Allge-
meinen nicht anschaulichen, abstrakten Sinn; dabei kann man die Relation der

4 Standardwerke zu dieser Phase der italienischen Renaissance sind weiterhin Bernard


Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2 Bde., Chicago 1961,
und Baxter Hathaway: The Age of Criticism – The Late Renaissance in Italy, Ithaca u.
NewYork 1962.
5 Obwohl ‚genealogie‘ ursprünglich wohl als Genitiv zu ‚libri‘ zu verstehen ist (Genealogie
deorum gentilium libri XV) folge ich dem Usus, den Titelbegriff als Plural zu lesen; auch der
Herausgeber der neuesten kritischen Edition in der Gesamtausgabe von Boccaccios Werken
(Anm. 1), Vittorio Zaccaria, hat sich für diese Lesart entschieden.
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 133

beiden Komponenten als semiotische Verweisung bestimmen: „aut aliud ver-


bis aliud sensu ostendit“ – mit dieser Formel charakterisiert bereits Quintilian
die Allegorie.6 Nun kann man eben diese Verweisung des bildhaften Substrats
auf den ‚höheren‘, ‚eigentlichen‘ Sinn betonen.
Eine solche Perspektive drückt sich exemplarisch in Dantes Bestimmung
der Allegorese im Convivio aus. Wenn der allegorische Sinn eine „veritade
ascosa sotto bella menzogna“ ist,7 dann bedeutet eben die „Wahrheit“ des
allegorischen Sinns das Ziel und Zentrum der dichterischen Darstellung, wäh-
rend der Litteralsinn eben nur einen ‚falschen‘ Sinn, eine „menzogna“, wenn-
gleich eine „schöne“ Lüge darstellt. Diese Blickrichtung ist vorrangig in der
Diskussion um die theologische Poetik im Spiel, denn dabei geht es um den
Nachweis, dass die Funktion der Dichtung sich eben nicht in den fiktionalen
Bildern erschöpft, sondern ihren eigentlichen Wert erst aus einem anderen,
zum Beispiel moralischen oder epistemologischen Sinn gewinnt, für den das
bildhafte Substrat als transparentes, verweisendes Zeichen fungiert. Unter
einem anderen Vorzeichen erscheint die Allegorie jedoch, wenn nach dem
Nutzen des bildhaften Substrats selbst, nach seiner Legitimität, seiner Wirkung
gefragt wird. Der Blick geht hierbei umgekehrt vom abstrakten Sinn dichteri-
scher Texte auf das bildhafte Verfahren zurück, das diesen Sinn vermittelt –
und damit auf die spezifische Leistung, den Eigenwert dieses Verfahrens, das
dadurch eine gewisse Opazität gewinnt.

II

Nun wird man in Boccaccios poetologischen Schriften vergeblich nach Passa-


gen suchen, in denen explizit und ausführlich die Bildhaftigkeit der Dichtung,
die ‚imagines‘ oder die ‚immagini‘, thematisiert oder gar problematisiert wür-
den. Selbst wenn wir hier die an sich grundlegende Tatsache ausklammern
müssen, dass die Visualität ohnehin eine prägende Bedeutung in der abendlän-
dischen Kultur besitzt,8 können wir davon ausgehen, dass die bildhafte Rede
fiktionaler Literatur im späten Mittelalter, somit auch zu Boccaccios Zeit, so
selbstverständlich war, dass er sie nicht hervorzuheben brauchte. Wolfgang

6 Institutio oratoria, VIII, 6, 44. Hervorhebung des Autors.


7 Dante Alighieri: Convivio II, I, 3. Le opere di Dante, testo critico della Società Dantesca
Italiana, a cura di Michele Barbi […], Firenze 1960, S. 167.
8 Stellvertretend sei verwiesen auf die Sammelbände Visual Culture, ed. by Chris Jenks,
London u. New York 1995 sowie Olaf Breidbach u. Karl Clausberg (Hg.): Video ergo sum –
Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, Hamburg
1999. Zur Visualität speziell in der Literatur vgl. Manfred Schmeling u. Monika Schmitz-
Emans (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999 (Saarbrücker Beiträge
zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 8).
134 Rainer Stillers

Harms und Klaus Speckenbach dokumentieren dies exemplarisch mit ihrem


Sammelband zur „bildhaften Rede“.9 Aber auch Horst Wenzels umfassende
Studie Hören und Sehen, Schrift und Bild zeigt, wie präsent in mittelalterlicher
Literatur und Kultur die Nähe, Verschränkung, ja Austauschbarkeit von Text
und Bild sind, so dass man geradezu von einer mittelalterlichen „Poetik der
Visualität“ sprechen kann.10 In Bezug auf Boccaccio muss auch an die heraus-
ragende Rolle erinnert werden, die die Visualität bei Dante besitzt11 – neben
Ovid ohne Zweifel der herausragende Referenzautor für Boccaccio.12 Es gibt
weitere Gründe, die den selbstverständlichen Stellenwert des Bildhaften in
Boccaccios Zeit nahe legen. So scheint mir die mittelalterliche Rezeption der
aristotelischen Poetik ein geeignetes Indiz zu liefern. Deren genauere Erfor-
schung stellt allerdings immer noch ein dringliches Desiderat dar. Wenn im-
mer wieder vermutet wird, die mittelalterlichen Versionen der aristotelischen
Poetik seien wenig bekannt und daher in ihrer Wirkung unbedeutend gewe-
sen,13 dann spricht dagegen, dass sich so unterschiedliche Autoritäten wie
Thomas von Aquin oder Petrarca auf sie berufen.14 Es ist in jedem Fall signifi-
kativ, dass die von Hermannus Alemannus übertragene Averroës-Paraphrase
das zentrale Mimesis-Konzept in Richtung auf eine grundsätzliche Bildhaftig-
keit von Dichtung verschiebt, wenn sie die nachahmende Funktion, die hier
meistens ‚repraesentatio‘ heißt, mit einer imaginativen Form dichterischer

9 Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach (Hg.): Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neu-
zeit – Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, Tübingen 1992.
10 Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild – Kultur und Gedächtnis im Mittelalter,
München 1995.
11 Willi Hirdt: Wie Dante das Jenseits erfährt – Zur Erkenntnistheorie des Dichters der Göttli-
chen Komödie, Bonn 1989.
12 Vgl. Robert Hollander: Boccaccio’s Two Venuses, New York 1977, S. 6.
13 Vgl. Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darm-
stadt 1980, S. 40f.
14 Thomas von Aquin verweist in der Quaestio „De causa delectationis“ der Summa theologiae
in dem Artikel „Utrum admiratio sit causa delectationis“ (II, I, q. 32, a. 8) auf die aristoteli-
sche Poetik, um die Freude des Menschen an nachahmenden Darstellungen, deren Erkennen
immer ein Vergleichen impliziert, zu belegen: „gaudet enim anima in collatione unius ad al-
terum, quia conferre unum alteri est proprius et connaturalis actus rationis, ut Philosophus di-
cit in sua Poetica“ (Summa theologiae, hg. von Petrus Caramello, pars prima et prima secun-
dae, Torino 1952, S. 157). Die gemeinte Aristoteles-Stelle ist Poetik 1448b. – Petrarca zieht
die Poetik des Aristoteles im 3. Buch der Invectivae contra medicum, das eine polemische
Verteidigung der Dichtung enthält, heran. Mit dem Hinweis darauf, dass ein bedeutender und
unangefochtener Philosoph wie Aristoteles eine Abhandlung zur Dichtung verfasst und darin
außerdem den Dichter Homer kommentiert habe, will er den philosophischen Rang der Dich-
tung belegen: „Quod nisi ita esset, nunquam Aristotiles [...] librum de poetica edidisset [...].
Nunquam aut Homerum poetam Aristotiles idem exposuisset, aut Cicero transtulisset“. Fran-
cesco Petrarca: Invective contra medicum, edizione critica a cura di Pier Giorgio Ricci, ap-
pendice di aggiornamento a cura di Bortolo Martinelli, Roma 1978 (Storia e letteratura, Bd.
32), S. 64.
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 135

Rede verknüpft. So folgt – um nur ein prägnantes Beispiel zu nennen – auf die
Bestimmung der ‚poetria‘ als einer der ‚artes repraesentativae‘, die sich im
dritten Absatz der Averroës-Poetik findet, im nächsten Satz die Feststellung:
„Et sermones poetici sermones sunt imaginativi.“15
Soviel zum Hintergrund, den man bei Boccaccio voraussetzen darf. Dass
Boccaccio selbst die Dichtung als ein wesensmäßig bildhaftes Medium ver-
steht, lässt sich sowohl anhand expliziter Äußerungen, u.a. in den Genealogie
deorum gentilium, als auch anhand der impliziten Poetik einiger seiner narrati-
ven Werke zeigen. Zunächst zur expliziten Poetik. Die Bedeutung der Genea-
logie, und zwar weit über das 14. Jahrhundert hinaus, beruht nicht zuletzt dar-
auf, dass Boccaccio zwei gleichermaßen neuartige Absichten miteinander
verknüpft: eine umfassende Beschreibung und Deutung der zu seiner Zeit
bekannten antiken Mythen mit einer gegliederten poetologischen Systematik.
Die beiden letzten Bücher des Werks (XIV und XV) sind nicht nur das umfas-
sendste und vollständigste dichtungstheoretische Kompendium unter Boccac-
cios Schriften, sondern auch in der europäischen Frührenaissance.16 Das
Grundanliegen dieses Werks besteht gerade darin, die Dichtung zugleich mit
den Mythen zu rechtfertigen. Dichter, so lautet eine Grundansicht Boccaccios,
sind Erfinder von Fiktionen, sie sind „fabularum compositores“.17 Dies ist
zwar nicht ihr eigentliches Ziel, aber nähme man ihnen die Freiheit des Fingie-
rens, dann würde sich ihre Aufgabe in nichts auflösen: „si auferatur eis va-
gandi per omne fictionis genus licentia, eorum officium omnino resolvetur in

15 Aristoteles latinus, XXXIII, De arte poetica, ed. Laurentius Minio-Paluello, Leiden 1968, S.
42.
16 Die Verteidigung der Dichtung in den Büchern XIV und XV ist in der Forschung oft darge-
stellt worden, so dass hier ein Hinweis auf die wichtigste Literatur genügen kann: Charles G.
Osgood: Boccaccio on Poetry – Being the Preface and the Fourteenth and Fifteenth Books of
Boccaccio’s ‚Genealogia Deorum Gentilium‘, with introductory essay and commentary,
Princeton 1930; Guido Martellotti: La difesa della poesia nel Boccaccio e un giudizio su Lu-
cano, in: Studi sul Boccaccio 4 (1967), S. 265-279; Ermanno Scuderi: Boccaccio e la difesa
della poesia, in: Orpheus 15 (1968), S. 183-199; August Buck: Boccaccios Verteidigung der
Dichtung in den ‚Genealogie deorum‘, in: Gilbert Tournoy (Hg.): Boccaccio in Europe –
Proceedings of the Boccaccio Conference, Louvain, December 1975, Leuven 1977, S. 53-65;
Brigitte Hege: Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den ‚Genealogie deorum
gentilium‘, Buch XIV, Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung, Tübingen 1997;
prägnante Analysen von Boccaccios Auffassung vom Zusammenhang der Dichtung mit den
Mythen bringen Bodo Guthmüller: Bersuire und Boccaccio. Der Mythos zwischen Theologie
und Poetik, in: ders.: Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance, Wein-
heim 1986, S. 21-33, und Sebastian Neumeister: Boccaccios Literaturbegriff (‚Genealogie
deorum gentilium‘ XIV), in: Ute Ecker u. Clemens Zintzen (Hg.): Saeculum tamquam au-
reum – Internationales Symposion zur italienischen Renaissance des 14.-16. Jahrhunderts
am 17./18. September 1996 in Mainz, Hildesheim 1997, S. 233-243.
17 Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1410-12.
136 Rainer Stillers

nihilum.“18 Mythen aber sind die dichterischen Stoffe, das heißt erfundenen
Fiktionen par excellence. Die Begriffe Mythos („fabula“)19 und Fiktion (fictio,
figmentum) begegnen immer wieder als synonym beziehungsweise austausch-
bar, so zum Beispiel, wenn Boccaccio eine Definition Isidors zitiert: „Fabula
est exemplaris seu demonstrativa sub figmento locutio“,20 oder wenn der theo-
logische Begriff der „figura“ sowohl mit „fabula“ als auch mit „fictio“ gleich-
gesetzt wird.21 Mythen sind aus der Imagination der Dichter hervorgegangen
und verweisen somit auf die wesensmäßige imaginative Komponente der
Dichtung. Allein dieser konzeptuelle Zusammenhang von Mythographie und
Poetik in den Genealogie deorum gentilium zeigt, dass Boccaccio nicht von
den Mythen zu einem abstrakten Sinn wegführen will, den er aus ihnen herlei-
tet, sondern umgekehrt den Blick auf die Mythen als Inventar bildhaft-
anschaulicher Figuren und Geschichten hinzulenken beabsichtigt.
Dass Boccaccio hierbei ‚fabulae‘ und ‚fictiones‘ als bildhaft versteht, zeigt
sich in der erwähnten Gleichsetzung der Begriffe mit dem theologischen Beg-
riff der ‚figura‘. Noch deutlicher macht er seine Auffassung, indem er die
grundlegende Fiktionalität von Dichtung (und deren Legitimität) durch Bei-
spiele bildhafter Darstellungen vor Augen führt. Im 14. Kapitel des XIV.
Buchs betont er die Notwendigkeit eines weiten Spielraums der Fiktion („Am-
plissima quidem fingendi est area, et pleno semper fictionum cornu poesis
incedit“),22 um dann Beispiele dieser ‚Fülle‘ von Möglichkeiten der fingie-
renden, das heißt verbildlichenden Einkleidung vorzuführen. So seien Jupiter
als Feuer, Adler oder Mensch, Gott als Sonne, Feuer, Löwe, Schlange, Lamm,
Wurm oder Stein, die Kirche als Frau, Wagen, Schiff, Arche, Haus oder Tem-
pel dargestellt worden.23
Liegt hier der Akzent auf der bildhaften Darstellung, so betont Boccaccio
an anderer Stelle, dass die Fiktionen aus der – ihrerseits bildhaften – mentalen
Vorstellung des Dichters hervorgehen. Das charakteristische Tun des Dichters,
so heißt es im 7. Kapitel des XIV. Buchs, liege nämlich darin, das geistig
Erdachte („inventiones excogitare“) mit Hilfe rhetorischer Verfahren in eine
fiktionale Darstellungsform („velamentum fabulosum“) zu bringen:

18 Ebd., S. 1438; der Herausgeber der kritischen Edition, Vittorio Zaccaria übersetzt – sinn-
gemäß wohl richtig – „omne fictionis genus“ mit „ogni genere d’immaginazione“.
19 Zum Begriff ‚fabula‘ bzw. ‚favola‘ (= Mythos) vgl. auch Michael Thimann: Lügenhafte
Bilder – Ovids „favole“ und das Historienbild in der italienischen Renaissance, Göttingen
2002 (Rekonstruktion der Künste, Bd. 6), unter anderem S. 21ff.
20 Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1412.
21 Ebd., S. 1414: „quod poeta fabulam aut fictionem nuncupat, figuram nostri theologi voca-
vere.“
22 Ebd., S. 1450-52.
23 Vgl. ebd., S. 1452-54.
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 137

peregrinas et inauditas inventiones excogitare, meditatas ordine certo componere,


ornare compositum inusitato quodam verborum atque sententiarum contextu, ve-
lamento fabuloso atque decenti veritatem contegere.24
Um keinen Zweifel an seinem Verständnis der Fiktion als bildhafter Erfindung
zu lassen, bringt Boccaccio im Anschluss an diese Definition Beispiele, die
ihrerseits das Prinzip der Anschaulichkeit vor Augen führen:
Preterea, si exquirat inventio, reges armare, in bella deducere, e navalibus classes
emictere, celum, terras et equora describere, virgines sertis et floribus insignire, ac-
tum hominum pro qualitatibus designare.25
Und ganz ähnlich formuliert Boccaccio noch einmal im 17. Kapitel, dass der
Dichter das mental Konzipierte nicht in philosophischer, argumentativer, son-
dern in fiktional-bildhafter Form darstellen müsse: „poeta, quod meditando
concepit, sub velamento fictionis, silogismis omnino amotis, quanto artificio-
sus potest, abscondit.“26
Wie erwähnt führt Boccaccio die essentielle Bildhaftigkeit der Dichtung –
vielleicht noch prägnanter als in der theoretischen Darlegung – auch über die
implizite Poetik einiger seiner narrativen Werke vor. Dabei ist zu betonen, dass
die Werke, die hier vor allem zu erwähnen sind – nämlich Teseida, Ameto und
Amorosa visione –, chronologisch vor den theoretischen Äußerungen Boccac-
cios entstanden. Sie könnten daher erklären, warum der Autor in den poetolo-
gischen Schriften die Bildhaftigkeit der Dichtung nicht mehr ausdrücklich
analysiert; er hat ihr ‚Funktionieren‘ als Dichter ja bereits mehrfach vor Augen
geführt. Beim Teseida – um 1339-1341 entstanden – handelt es sich um das
erste Epos in italienischer Sprache.
Boccaccio versucht hier, die Tradition der volkssprachlichen Ritterepik
mit einer Nachahmung der antiken Heldenepik zu verbinden. Den Handlungs-
rahmen bildet – daher rührt der Titel – die Herrschaft des Theseus über Athen.
Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Thebaner Arcita und Palemone, die
um die Amazone Emilia werben. In poetologischer Hinsicht ist vor allem das
elfte der insgesamt zwölf Bücher interessant. Im Gefolge eines Wettkampfs
der Protagonisten um Emilia kommt Arcita ums Leben; sein ehemaliger
Freund und Rivale errichtet zu seinem Gedenken einen Tempel, der in der
Manier des Junotempels der Aeneis im Innern ausgemalt ist. In Form eines
Zyklus von Wandmalereien wird hier die gesamte bis dahin berichtete Ge-
schichte des Epos wiederholt. Was Boccaccio zuvor durch textuelles Erzählen
vermittelt hatte, erscheint nun noch einmal in anderer Form, als Ekphrasis,
das heißt als Narration durch Bilder. Der Autor fordert den Leser dadurch auf,

24 Ebd., S. 1398; ‚excogitare‘ bzw. ‚meditatas‘ übersetzt Vittorio Zaccaria mit „immaginare“
bzw. „immaginate“, was der Sache nach wohl wiederum zutrifft.
25 Ebd.
26 Ebd., S. 1468.
138 Rainer Stillers

sich das Geschehen noch einmal vor seinem inneren Auge zu vergegenwärti-
gen, und lenkt die Aufmerksamkeit auf den imaginativen Anteil von Darstel-
lung und Rezeption des Textes.
Eine andere Form der Bildhaftigkeit macht Boccaccio im Ameto, einem
1341-1342 verfassten Prosimetrum, bewusst. Der Text erzählt von dem unkul-
tivierten Jäger Ameto, der sieben Nymphen begegnet, die als Verkörperungen
der vier Kardinal- und drei theologischen Tugenden verstanden werden kön-
nen. Während die äußere Schönheit dieser Nymphen den Protagonisten zu-
nächst erotisch anzieht, gelangt er allmählich zu der Erkenntnis, dass die Be-
trachtung der körperlichen Schönheit ihn zur moralischen Qualität der Nym-
phen führt. Die Tatsache, dass Ameto zunächst ganz im Bann der Faszination
des Visuellen steht, macht Boccaccio hier zur Bedingung für eine moralische
Entwicklung. Zugleich erweist sich – auf poetologischer Ebene – der Text
selbst als eine allegorische Einkleidung des bildhaften Verfahrens der Litera-
tur: Ameto ist gewissermaßen als eine Allegorie des Lesers zu verstehen.27
Das kurioseste und schlagkräftigste der drei Beispiele ist jedoch die Amo-
rosa visione, ein Epos in Terzinen, das wie der Ameto um 1341-1342 entstan-
den ist. Der Erzähler berichtet hier von einer Traumvision, in der er von einer
„donna gentile“ durch ein Schloss und dessen Lustgarten geführt wird. Der
weitaus größte Teil des Werks umfasst die Beschreibung der Säle des Schlos-
ses, die mit allegorischen Wandmalereien ausgestattet sind. Diese Malereien
dienen zwar – als Teil der erlebten Vision – der moralisch-allegorischen Er-
kenntnis des Protagonisten.
Unter poetologischem Aspekt betrachtet unterstreichen sie aber darüber
hinaus nicht nur den visuellen Charakter der Traumbilder, sondern den des
Textes beziehungsweise der Literatur schlechthin. Denn was der Träumende
anschaut, sind größtenteils aus der Literatur bekannte, vor allem mythologi-
sche Gestalten und Geschichten. Auch hier wird der Text zu einer Allegorie
der Bildhaftigkeit von Dichtung; das Schauen des Protagonisten ist eine Alle-
gorie der imaginativen Textrezeption.28
Diese drei Beispiele zeigen, dass für Boccaccio die Bildhaftigkeit fiktio-
naler Texte in der Tat eine übergreifende Qualität darstellt, unter die verschie-
dene rhetorische und poetische Verfahren subsumiert werden können, unter
anderem Allegorie, Ekphrasis und Anschaulichkeit (enargeia, evidentia). Sie
zeigen aber auch, dass immer mehrere Verfahren zusammenwirken, so dass es

27 Vgl. hierzu meinen Beitrag: Ametos Verwandlung: Poetik der Bildlichkeit in Boccaccios
Comedia delle ninfe fiorentine (1341-1342), in: Peter Kuon und Barbara Marx (Hg.): Meta-
morphosen – Akten der Tagung des Deutschen Italianistenverbands, Dresden, 8.-10. Novem-
ber 2001 (im Druck).
28 Vgl. hierzu meinen Beitrag L’„Amorosa visione“ e la poetica della visualità, in: Michelange-
lo Picone (Hg.): Autori e lettori di Boccaccio – Atti del Convegno internazionale di Certaldo
(20-22 settembre 2001), Firenze 2002, S. 327-342.
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 139

für unsere Zwecke ratsam ist, ihre Gemeinsamkeit – eben die imaginativ-bild-
hafte Seite der Produktion und Rezeption fiktionaler Texte – in den Vorder-
grund zu stellen.

III

Bevor ich nun zu einer genaueren Betrachtung von Boccaccios Poetik über-
gehe, erscheint es mir sinnvoll, wenigstens skizzenhaft an die frühhumanisti-
sche Vorgeschichte zu erinnern, die ich eingangs mit dem Schlagwort ‚theolo-
gische Poetik‘ angesprochen habe. Der Hintergrund dieser oft polemisch vor-
getragenen Poetik, die im frühen 14. Jahrhundert ihren Anfang nimmt, ist
bekannt.29 Es ging darum, der Poetik (beziehungsweise Dichtung), die in mit-
telalterlichen Systemen der ‚Artes‘ oder ‚Scientiae‘ meist einen unbedeu-
tenden, nicht genau definierten Standort hatte, einen Rang zu geben, der sie
neben die anerkannten Wissenschaften stellte; und es ging gleichzeitig darum,
sie gegenüber der scholastischen Geringschätzung zu verteidigen. Die be-
kannteste theologische Kritik an der Dichtung, speziell ihrer Bildhaftigkeit,
findet sich im Kommentar des Thomas von Aquin zu den Sentenzen des Petrus
Lombardus.
Thomas von Aquin setzt hier die bildhafte Rede der Poesie radikal von
derjenigen der Bibel ab, indem er folgendermaßen argumentiert: Die Gegen-
stände, von denen die biblischen Texte reden und die auf offenbarter Wahrheit
beruhen, übersteigen die menschliche Ratio. Daher müsse diese „per sensibi-
lium similitudines“ an die Wahrheitserkenntnis herangeführt werden (manudu-
catur):
Quia etiam ista principia non sunt proportionata humanae rationi secundum statum
viae, quae ex sensibilibus consuevit accipere, ideo oportet ut ad eorum cognitio-
nem per sensibilium similitudines manuducatur: unde oportet modum istius scien-
tiae esse metaphoricum, sive symbolicum, vel parabolicum.30
Die Dichtung dagegen habe unter allen „Wissenschaften“ den geringsten
Wahrheitsgehalt, deshalb weiche sie im höchsten Maß von der Theologie ab:
„Sed Poetica, quae minimum continet veritatis, maxime differt ab ista scientia,
quae est verissima.“31 Sie gehöre zu den „scientiae“, die wegen ihres Mangels
an Wahrheit vom Verstand nicht begriffen werden können, so dass hier die
bildhafte Rede dazu diene, die Ratio zu verführen – „seducatur“ ist das mit
Bedacht gegen das „manuducatur“ der biblischen Bildhaftigkeit gesetzte Verb:

29 Vgl. hierzu u.a. die in Anm. 2 und Anm. 3 erwähnten Darstellungen.


30 Thomas von Aquin: Commentum in quatuor libros sententiarum magistri Petri Lombardi,
vol. I, Parma 1856, S. 8f.
31 Ebd., S. 8.
140 Rainer Stillers

„poetica scientia est de his quae propter defectum veritatis non possunt a rati-
one capi; unde oportet quod quasi quibusdam similitudinibus ratio sedu-
catur“.32
Seit Albertino Mussato ging es den Frühhumanisten darum, diese extreme
Wahrheitsferne der Dichtung zu widerlegen, indem sie etwa behaupteten,
Dichtung sei eine ‚zweite Theologie‘: „Illa igitur nobis stat contemplanda poe-
sis / altera que quondam theologia fuit“,33 schreibt Mussato in seiner VII.
Versepistel, und ähnlich in der XVIII.: „pur fuit a primis ars ista theologa
mundi / principiis, manet ipsa tamen divinaque semper subiectumque bo-
num“.34 Auch die Dichtung vermittle von ihrem Ursprung her Wahrheit, und
sie tue dies mit sprachlichen Darstellungsformen, derer sich auch die bibli-
schen Autoren bedienten. Gemeint ist hierbei vor allem die figurative Darstel-
lung. Geradezu topisch ist im Zusammenhang solcher Argumentationen auch
die auf einem Missverständnis des Textes beruhende Berufung auf Aristoteles,
der im ersten Buch der Metaphysik behaupte, die ersten „theologesantes“ seien
Dichter gewesen.35 Die aus solchen Grundpositionen herrührenden polemi-
schen Debatten wiederholen sich mehrfach bis ins 15. Jahrhundert hinein und
finden in der Auseinandersetzung zwischen dem Humanisten Coluccio Salutati
und dem Kleriker Giovanni Dominici ihre breiteste Entfaltung.36 Das Postulat
einer Vergleichbarkeit von Poetik und Theologie bzw. dichterischer und sakra-
ler Rede hat jedoch niemand gleichermaßen kühn zugespitzt wie Boccaccio –
und zwar in der 1351 entstandenen Erstfassung des Trattatello in laude di
Dante. Boccaccio greift dort auf die – wiederum seit Mussato gängige – An-
schauung einer indirekten göttlichen Offenbarung vor der Offenbarung durch
die Bibel zurück. Der Hl. Geist habe seine Wahrheit zunächst durch die Stim-

32 Ebd., S. 9.
33 Mussato, Ep. VII, 21f.; zitierte Ausgabe: Enzo Cecchini: Le epistole metriche del Mussato
sulla poesia, in: Tradizione classica e letteratura umanistica – Per Alessandro Perosa, a cura
di Roberto Cardini […], vol. 1, Roma 1985, S. 95-119; hier: S. 116.
34 Mussato, Ep. XVII, 83-85; ebd., S. 112.
35 Vgl. z.B. Petrarca : Familiares X, 4: „illic de Deo deque divinis, hic de diis hominibusque
tractatur, unde et apud Aristotilem primos theologizantes poetas legimus.“ Francesco Petrar-
ca: Le Familiari, a cura di Ugo Dotti, vol. I/2, Urbino 1974, S. 1091. – Die gemeinte Passage
findet sich im I. Buch, 3. Kap. der aristotelischen Metaphysik (938b 27): „Manche meinen
auch, dass die Alten, welche lange vor unserer Generation und zuerst über die göttlichen
Dinge geforscht haben (die ersten Theologen), ebenso über die Natur gedacht hätten; denn
den Okeanos und die Tethys machten sie zu Erzeugern der Entstehung und den Eid der Göt-
ter zum Wasser, das bei den Dichtern Styx heißt“. Aristoteles: Metaphysik, Bücher I-VI,
Griechisch-Deutsch, übers. von Hermann Bonitz, hg. von Horst Seidl, Hamburg 21982 (Phi-
losophische Bibliothek, Bd. 307), S. 19. – Aristoteles zielt mit seiner Beobachtung vermut-
lich gerade nicht auf eine Aufwertung der metaphysisch spekulativen Dichter ab, sondern auf
eine Abwertung ihrer Bemühungen als vorwissenschaftlich. Vgl. hierzu auch Greenfield:
Humanist and Scholastic Poetics (Anm. 3), S. 45ff.
36 Vgl. Mésoniat: Poetica theologia (Anm. 2).
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 141

men von Menschen geäußert, die er unter einem Schleier habe reden lassen,
bevor er später, in den biblischen Schriften, die Wahrheit ohne jeden Schleier
offenbart habe. Insofern – so fährt Boccaccio fort – verführen die Dichter nicht
anders als der Hl. Geist, ja sie ahmten ihn geradezu nach, wenn auch sie sich
unter einem Schleier, nämlich der Hülle von Fiktionen artikulierten. Biblische
und dichterische Texte unterschieden sich zwar im Zweck, stimmten aber in
der Redeweise, im „modo del trattare“37 bzw. der „forma dell’operare“38 über-
ein. Wer demnach die Darstellungsform der Dichtung, ihre fiktional-bildhafte
Rede kritisiere, der tadle damit auch den Heiligen Geist. „Dunque bene ap-
pare,“ – so die pointierteste Passage – „non solamente la poesì essere teologia,
ma ancora la teologia essere poesia.“39

IV

Boccaccio spitzt zwar die Analogie von Poetik und Theologie hier am kühn-
sten zu, er ist in der Frührenaissance aber auch derjenige, der – vielleicht ge-
rade aufgrund seiner ebenso pointierten wie elaborierten Argumentation – die
Aporien dieser Analogie am deutlichsten erkennt. Bezeichnenderweise wird er
die soeben zitierte Formulierung sowohl in den beiden späteren Redaktionen
des Trattatello, als auch in den anderen poetologischen Schriften zurückneh-
men. So werden Dichtung und Theologie (das heißt Bibel) in der dritten Re-
daktion des Trattatello nicht mehr als vom Verfahren her identisch, sondern
nur noch als vergleichbar bezeichnet: „credo che è chiaro la teologia e la poe-
sia nel modo del nascondere i suoi concetti con simile passo procedere, e però
potersi dire simiglianti.“40
Gleichzeitig – und das scheint mir noch bedeutsamer zu sein – schafft
Boccaccio in allen seinen poetologischen Schriften, auch schon in der ersten
Redaktion des Trattatello, durch alternative Argumente ein Gegengewicht zur
theologischen Poetik. Diese hatte ja in der Tat eine fundamentale Schwäche,
die auch den kontinuierlichen Widerspruch der Gegner erklärt: Wenn Dichtung
den sakralen Texten vergleichbar ist, diese aber – was niemand in dieser Epo-
che bezweifelte – die Wahrheit bereits in ihrer höchsten Form vermitteln, dann
ist die Dichtung als „altera theologia“, das heißt als ein möglicher Erkenntnis-
weg, redundant. Ich möchte im Folgenden auf zwei Felder der Argumentation
bei Boccaccio eingehen, in denen insofern ein Neuansatz zu sehen ist, als sie
den Eigenwert der Dichtung gegenüber anderen Disziplinen, Künsten oder

37 Giovanni Boccaccio: Trattatello in laude di Dante, a cura di Pier Giorgio Ricci, in: ders.:
Tutte le opere, a cura di Vittore Branca, vol. 3, Milano 1974, S. 437-496; hier: S. 472.
38 Ebd., S. 474.
39 Ebd., S. 475.
40 Ebd., S. 519f.
142 Rainer Stillers

Wissensbereichen hervortreten lassen: 1. Boccaccio bindet das Literaturver-


ständnis stärker an den Menschen, das heißt er bezieht Voraussetzungen und
Wirkungen der Dichtung auf menschliche Fähigkeiten und Interessen; 2. er
begründet im Zusammenhang hiermit die bildhafte Fiktion als charakteristi-
sche Darstellungsform, die die Dichtung wesensmäßig von anderen menschli-
chen Disziplinen abhebt.
Besonders ausgeprägt begegnet der Übergang von der theologischen zur
anthropologischen Poetik in einer mehrfach wiederkehrenden Erzählung vom
Ursprung der Dichtung aus dem menschlichen Streben nach Erkenntnis. Boc-
caccio betont, er übernehme sie von seinem geistigen „padre e maestro“
Petrarca;41 tatsächlich geht sie im Kern auf Isidor zurück, der sich seinerseits
auf Varro und Sueton beruft.42 Boccaccio hatte eine offensichtliche Vorliebe
für diese Ursprungstheorie; er bringt sie mit leichten Variationen in allen theo-
retischen Schriften.43 Da jeder Mensch von Natur aus die Wahrheit zu erken-
nen begehre – so berichtet Boccaccio im Trattatello in laude di Dante –, hätten
auch die Menschen in einer archaischen Zeit – „[l]a prima gente ne’ primi
secoli“44 –, obwohl noch roh und unzivilisiert, die Welt beobachtet und wahr-
genommen, dass diese nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten geordnet sei.45
Daraus leiteten sie als Urheberin dieser Ordnung eine höhere Kraft ab, der
keine andere überlegen sei („sì come potenzia da niuna altra potenziata“) und
der sie den Namen „Gottheit“ („divinità“ bzw. „deità“)46 gegeben hätten. Zur
Verehrung dieser Instanz richteten sie einen Kult ein; man baute Tempel, setz-
te Priester ein und bildete Statuen zur Darstellung der göttlichen Instanz. Ins-
besondere schuf man eine Sprache, die jedem alltäglichen oder öffentlichen
Reden überlegen war – eine kunstvolle Redeweise, die ‚artificiosa‘, ‚esquisita‘
und ‚nuova‘ war und die man ‚poetisch‘ genannt habe. Diejenigen, die diese
Sprache benutzten, hießen entsprechend ‚poeti‘.

41 Es handelt sich um Petrarcas Brief an seinen Bruder, Familiares X, 4.


42 „Poetae unde sint dicti, sic ait Tranquillus (de poet. 2): ‚Cum primum homines exuta feritate
rationem vitae habere coepissent, seque ac deos suos nosse, cultum modicum ac sermonem
necessarium commenti sibi, utriusque magnificentiam ad religionem deorum suorum excogi-
taverunt. Igitur ut templa illis domibus pulchriora, et simulacra corporibus ampliora facie-
bant, ita eloquio etiam quasi augustiore honorandos putaverunt, laudesque eorum et verbis in-
lustrioribus et iucundioribus numeris extulerunt. Id genus quia forma quadam efficitur, quae
ʌȠȚȩIJȘȢ dicitur, poema vocitatum est, eiusque fictores poetae.‘“ Isidori Hispalensis Episcopi
Etymologiarum sive Originvm libri XX, ed. W. M. Lindsay, 2 Bde., Oxford 1962, Bd. 1, VIII,
VII, 1-2.
43 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469f.; Esposizioni sopra la Comedia di Dante, a cura di
Giorgio Padoan, in: G. B.: Tutte le opere, a cura di Vittore Branca, vol. 6, S. 35; Genealogie
deorum (Anm. 1), Buch XIV, Kap. 8, S. 1404-6.
44 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469.
45 Boccaccio greift hier zweifellos auf den Anfang von Aristoteles’ Metaphysik zurück.
46 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469.
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 143

Natürlich sind wir mit dieser Legende doch wieder bei der theologischen
Poetik: Dichtung hat einen letztlich theologischen Ursprung. Worauf es jedoch
ankommt, ist die Perspektive, in der Boccaccio diese Legende erzählt. Dieser
spezifische Blickwinkel wird besonders deutlich, wenn man den Text des
Trattatello mit dessen direkter Vorlage, Petrarcas Brief an seinen Bruder Ghe-
rardo, vergleicht. Boccaccio erweitert die rund 17 Zeilen umfassende Ur-
sprungserzählung Petrarcas auf rund 45 Zeilen, also fast den dreifachen Um-
fang; diese Erweiterung beruht zu einem Teil auf einer ‚amplificatio‘ durch
Steigerung der Anschaulichkeit, das heißt der rhetorischen Qualität der ‚evi-
dentia‘. Stärker noch resultiert sie aber daraus, dass Boccaccio einige signifi-
kante Aspekte anders akzentuiert als Petrarca oder Neues hinzufügt. Petrarcas
Gedankengang führt zügig zu der Hauptfrage nach dem Ursprung dichterischer
Rede und des Begriffs ‚poeta‘ hin, während Boccaccio sich ausführlicher mit
dem Weg dorthin befasst, dadurch aber auch gerade die Entstehung von Dich-
tung in einem anderen Licht erscheinen lässt. So stellt Petrarca, am Anfang der
Ursprungserzählung, die bloße Einsicht der archaischen Menschen in die Exis-
tenz einer höchsten Macht fest;47 Boccaccio betont demgegenüber die von den
Menschen ausgehenden Beobachtungen und Überlegungen, die zu dieser Ein-
sicht führten. Die Einsicht erscheint dadurch, mehr als bei Petrarca, als meta-
physische Hypothese:
La quale [prima gente] veggendo il cielo muoversi con ordinata legge continuo, e
le cose terrene avere certo ordine e diverse operazioni in diversi tempi, pensarono
di necessità dovere essere alcuna cosa, dalla quale tutte queste cose procedessero, e
che tutte l’altre ordinasse, sì come superiore potenzia da niuna altra potenziata.48
Sodann beschränkt sich Petrarca, wenn es um die Entstehung der Gottesvereh-
rung geht, wiederum auf eine bündige Formulierung;49 Boccaccio hingegen
hebt an der entsprechenden Stelle erneut die menschliche Projektion hervor:
man habe für die höchste Macht die Bezeichnung „divinità“ oder „deità“ ge-
wählt und man habe sich vorgestellt (!), dass diese in außergewöhnlicher Wei-
se zu verehren sei:
s’immaginarono quella, la quale ‚divinità‘ ovvero ‚deità‘ nominarono, con ogni
cultivazione, con ogni onore e con più che umano servigio esser da venerare.50
Den Bau von Tempeln und die Herstellung von Bildnissen als Teil der Instau-
ration eines Kults hält Petrarca wiederum in wenigen Worten fest,51 während

47 „cogitare cepissent esse superiorem aliquam potestatem per quam mortalia regerentur“.
Francesco Petrarca: Fam. X, 4, 3; zitiert nach der Ausgabe Le Familiari (Anm. 35), S. 1093.
48 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469.
49 „dignum rati sunt illam [potestatem] omni plusquam humano obsequio et cultu augustiore
venerari“ (Petrarca: Le Familiari [Anm. 35], S. 1093).
50 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469; Hervorhebung des Autors.
51 „Itaque et edes amplissimas meditati sunt, que templa dixerunt, […] et magnificas statuas“.
Petrarca: Le Familiari (Anm. 35), S. 1093.
144 Rainer Stillers

Boccaccio erneut die Urteile der Menschen hervorhebt, die diesen Erfindungen
zugrunde lagen, und vor allem darauf insistiert, dass die Einrichtung eines
Kults auf menschlicher Vorstellung beruhte und daher die Bildnisse, die man
von der Gottheit anfertigte, der Repräsentation des Imaginierten dienten: „in
rappresentamento della imaginata essenzia divina, fecero in varie forme
magnifiche statue“.52
Die Erfindung einer dichterischen, ursprünglich kultischen Sprache, die der
Zielpunkt dieser Entwicklung ist, markiert Boccaccio so deutlich als Men-
schenwerk – und zwar signifikant anders als Petrarca –, dass die Dichtung
kaum mehr in den Verdacht gerät, es handle sich um die Sprache der geoffen-
barten Religion.
Bezeichnend ist des Weiteren die Fortsetzung, die Boccaccio der Ur-
sprungserzählung gibt; sie mutet auf den ersten Blick wie eine Degeneration
der ursprünglichen Erhabenheit der Dichtung an, dient aber dazu, die Säkulari-
sierung der Dichtung zu begründen. Durch eine Vervielfachung der Gottheiten
wird das Göttliche zunächst auf alle den Menschen nützlichen Dinge übertra-
gen, so dass diese zum Gegenstand von Dichtung werden können. Einen weite-
ren Schritt stellt die Entstehung von Herrschaft dar, in deren Folge Herrscher
auf eine solche Weise verehrt werden, dass sie den Menschen wie Götter er-
scheinen und gleichfalls zum dichterischen Gegenstand werden. Man erkennt
unschwer hinter diesem Abriss der Zivilisations- und Dichtungsgeschichte eine
Theorie sowohl der Entstehung heidnischer polytheistischer Mythologie als
auch die Absicht, ein säkularisiertes Verständnis mythologischer Dichtung
herzuleiten.
In der Tat – und das ist ein nächster wesentlicher Punkt in Boccaccios An-
sätzen zu einer anthropologischen Poetik – vollzieht Boccaccio einen für die
poetische Allegorie entscheidenden Schritt, der sich in seinem Verständnis der
heidnischen Mythologie zeigt. Seine Mythendeutung unterscheidet sich grund-
sätzlich von der gängigen spätmittelalterlichen, aber auch noch von gleichzei-
tig – etwa von Pierre Bersuire (Petrus Berchorius) in seinem Reductorium
morale – praktizierter Mythenallegorese.53 Mythen sind von Dichtern erfun-
dene Geschichten, sie sind dichterische Fiktionen, die keine christlich-religiö-
sen Inhalte ausdrücken. Sie dienen vielmehr dazu, naturphilosophische, mora-
lische oder historische Erkenntnisse zu vermitteln: „gli alti effetti della natura,
le moralità e i gloriosi fatti degli uomini“, wie es in einer der Versionen des
Trattatello heißt.54

52 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469.


53 Vgl. hierzu Guthmüller: Bersuire und Boccaccio (Anm. 16); ders.: Concezioni del mito
antico intorno al 1500, in: ders.: Mito, poesia, arte – Saggi sulla tradizione ovidiana nel Ri-
nascimento, Roma 1997, S. 37-64, und auch S. 44ff. (Bersuire) sowie S. 51ff. (Boccaccio).
54 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 521. – Im XV. Buch, 8. Kap. der Genealogie heißt es
entsprechend, die hervorragenden Dichter verbergen unter den Fiktionen „naturalia [...] atque
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 145

Mit diesem Schritt ist die Konkurrenz von Poetik und Theologie entschärft,
denn Dichtung dient nun ausdrücklich anderen Inhalten als sakrale Texte.
Dennoch entsteht mit dieser Behauptung ein neues Rechtfertigungs- bzw.
Abgrenzungsproblem, denn nun gerät die Dichtung in die Gefahr, gegenüber
anderen Disziplinen, nämlich Philosophie und Historiographie, redundant zu
sein. Hier gewinnt nun, mehr noch als in den bisherigen Argumentationen, die
Bildhaftigkeit von Fiktionen ein besonders großes Gewicht in Boccaccios
Überlegungen. Als charakteristische Darstellungsform, die die Dichtung es-
sentiell von anderen menschlichen Disziplinen abhebt, wird sie zum aus-
schlaggebenden Argument für die Legitimation der Dichtung. Im letzten Teil
dieses Beitrags geht es deshalb um solche Argumente, die mehr als die bereits
dargestellten – und als Voraussetzungen gleichwohl unübergehbaren Gesichts-
punkte – auf die Frage antworten: Was ist die spezifische Leistung von Dich-
tung bzw. Literatur?
Nicht zufällig findet sich eine wichtige Überlegung hierzu in einem zent-
ralen Kapitel der Genealogie mit dem Titel „Quid sit poesis, unde dicta, et
quod eius officium“ (XIV, 7). Das Kapitel bringt grundlegende Definitionen
der Dichtung und der Dichter, u.a. auch ihrer Abgrenzungen nach außen hin.
So räumt Boccaccio am Ende des Kapitels ein, dass es bildhafte Fiktionen, die
er zuvor dem „officium“ der Dichter, der „fabularum compositores“ zuge-
schlagen hatte, auch in anderen Disziplinen gebe. Auch die Rhetorik benötige
die Erfindung, die „inventiones“, und daher scheine die Poesie im Grunde in
der Rhetorik aufzugehen. Aber: „verum apud integumenta fictionum nulle sunt
rethorice partes“; sie hat mit der besonderen verhüllenden Form dichterischer
Erfindungen nichts zu tun; „mera poesis est, quicquid sub velamento compo-
nimus“.55 Das bedeutet, dass die Verwendung von Fiktionen wohl auch außer-
halb der Dichtung begegnet, aber dort kein essentielles Element ist, während
sie in der Dichtung unabdingbar ist, weil sie per definitionem deren Wesen
ausmacht.
Auch von der Philosophie versucht Boccaccio die Dichtung abzugrenzen,
und zwar in einem Kapitel, das sich mit dem alten Vorwurf auseinandersetzt,
die Dichter seien Affen der Philosophen, das heißt sie leisteten nichts Eigen-
ständiges im Vergleich zur Philosophie. Boccaccio räumt nicht nur ein, dass

moralia et virorum illustrium gesta et non nunquam, que ad suos deos spectare videntur“
[Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1546]. – Ähnlich hatte schon Petrarca in der Rede an-
lässlich seiner Dichterkrönung formuliert: „si tempus non deforet [...], possem facile demon-
strare poetas, sub velamine figmentorum, nunc fisica, nunc moralia, nunc hystorias compre-
hendisse“ (Carlo Godi: La “Collatio laureationis“ del Petrarca, in: Italia medioevale e umani-
stica 13 [1970], S. 1-27; hier: S. 20f.).
55 Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1403.
146 Rainer Stillers

die Dichter in der Tat ausschließlich solche Inhalte vermittelten, die mit der
Philosophie übereinstimmten; er hebt dies sogar als eine besondere Auszeich-
nung der Dichter hervor. Dennoch seien die Wege der Dichter und der Philo-
sophen zur Erkenntnis grundsätzlich verschieden. Während der Philosoph alles
Unwahre verwerfen und die Wahrheit offen darlegen müsse – daher schmuck-
lose Prosa schreibe – arbeite der Dichter mit Fiktionen, die der kunstvollen
Einkleidung der Inhalte dienten. Boccaccio nutzt dieses Thema auf überra-
schende Weise auch dazu, die allegorische Poetik, die hier natürlich vorrangig
im Spiel ist, mit einer mimetischen zu verknüpfen. Die Dichter sind für ihn
zwar keine Nachahmer der Philosophen, stattdessen aber Nachahmer der Na-
tur, denn sie messen sich in ihrer Kunst an allem, was die Natur hervorbringt –
und nun folgt eine lange Aufzählung, die deutlich macht, dass die bildhafte
Seite der Dichtung, in der die Vielfalt der Wirklichkeit durch das Medium der
Schrift anschaulich wird, nicht in der dienenden Funktion für die Allegorie
aufgeht, sondern einen ästhetischen, nämlich mimetisch-illusionserzeugenden
Eigenwert hat:
Quod si intuerint velint isti [gemeint sind diejenigen, die die Dichter als „simiae
naturae“ kritisieren], videbunt formas, mores, sermones et actus quorumcunque a-
nimantium, celi syderumque meatus, ventorum fragores et impetus, flammarum
crepitus, sonoros undarum rumores, montium celsitudines et nemorum umbras at-
que discursus fluminum adeo apte descriptos, ut ea ipsa parvis in licterulis carmi-
num inesse arbitrentur.56
Warum aber – diese Frage ist noch immer offen – sollen die dichterischen
Bilder überhaupt sinnvoll sein, wenn man das, was Dichter sagen, auch anders
ausdrücken kann? Boccaccio greift, um dies zu beantworten, auf eine Begrün-
dung zurück, die man als die ‚anthropologischste‘ und zugleich die ‚bocca-
cceskeste‘ bezeichnen kann. Sie bezieht ihre Stärke gewissermaßen daraus,
dass sie nicht mehr hintergehbar ist, denn sie beruft sich auf die Beobachtung
der Vielfalt der menschlichen Natur.
Boccaccio verwendet das Argument in zweierlei Hinsicht: in Bezug auf
den Dichter und in Bezug auf den Leser. Hinsichtlich des Dichters begegnet es
in der prägnantesten Weise bereits im ersten Buch der Genealogie, und zwar
im dritten Kapitel. Boccaccio hat dort mythographische Zeugnisse über Liti-
gius zusammengetragen, den Sohn des Demogorgon, den er für den Welt-
schöpfer und Vater aller Götter hält. Anschließend daran wendet er sich an
seinen Adressaten, den König von Zypern, und unterstellt diesem eine Frage,
die die Frage jedes Lesers sein könnte: Die mythologische Geschichte, die man
soeben gelesen hat, mutet den modernen Leser lächerlich an. Warum verwen-
den die Dichter derartige Geschichten? Können sie ihre Inhalte nicht anders
vermitteln?

56 Ebd., S. 1468.
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 147

Habes, rex inclite, ridiculam fabulam, verum eo ventum est ubi oportunum sit a ve-
ritate amovere fictionis corticem, sed prius respondendum est persepe dicentibus:
‚Quid poete Dei opera vel nature vel hominum hoc sub fabularum velamine tradi-
dere? Non erat eis modus alter?‘57
Gewiss gibt es andere Wege, räumt Boccaccio sofort ein. Doch wie alle Men-
schen ein anderes Aussehen haben, so unterscheiden sie sich auch in ihren Ent-
scheidungen und Urteilen (in den „animorum iudicia“). So habe Achilles die
Waffen der Muße vorgezogen, Ägisth den Müßiggang den Waffen, Platon die
Philosophie allen anderen Tätigkeiten; Phidias habe sich dafür entschieden,
mit dem Meißel Statuen zu bilden, Apelles dafür, mit dem Pinsel Bilder zu
malen. Und entsprechend erfreue sich der Dichter eben daran, die Wahrheit in
Fabeln einzukleiden.
In der scheinbar zufälligen Aufzählung steckt offensichtlich ein System:
Tugend kontrastiert mit Untugend, die ‚vita activa‘ mit der ‚vita contempla-
tiva‘, nicht-künstlerisches Tun mit künstlerischem. Zudem wird die Dichtung
als eine unter zahlreichen Möglichkeiten menschlicher Tätigkeit einerseits aus
ihrem Absolutheitsanspruch, den die theologische Poetik für sie beanspruchte,
herausgelöst; ihr soll aber andererseits versteckt eine gewisse Überlegenheit
zugesprochen werden, da die drei ersten Beispiele – mythologische Gestalten
bzw. Philosophie – als Gegenstände der Dichtung verstanden werden können,
während die künstlerischen Beispiele als Hinweis auf die Bildhaftigkeit zu
verstehen sind, die Dichtung, Bildhauerei und Malerei miteinander verbindet.
Auf eine ähnliche Argumentation greift Boccaccio auch im Kommentar zu
Dantes Commedia zurück. Hier stellt sich die Verschiedenheit menschlicher
Begabungen sogar als gottgewollt dar. Die Menschheit – das ist von der
Schöpfung so vorgesehen – kann ihrem umfassenden Zweck nur gerecht wer-
den, wenn die vielfältigen sich ihr stellenden Aufgaben (die „offici“) gewis-
sermaßen ‚arbeitsteilig‘ getragen werden. Deshalb hat die Natur für jeden
Menschen eine spezifische Begabung vorgesehen, und es entspricht wiederum
der Natur, der individuellen Begabung zu folgen. Dafür zieht Boccaccio an
dieser Stelle natürlich – er erläutert ja Dantes Werk – Dante selbst als Beispiel
heran; im letzten Buch der Genealogie, in dem Boccaccio von seiner eigenen
Berufung zum Dichter spricht, wird er dasselbe Recht für sich beanspruchen.
Wenn an diesen Stellen die Produktion von Dichtung aus der natürlichen
Vielfalt menschlicher Neigungen abgeleitet wird, dann beansprucht Boccaccio
eine entsprechende Begründung immer wieder auch für die Rezeption. In die-
sen Zusammenhang gehört eine besonders interessante Passage aus dem Trat-
tatello, in der Boccaccio das Argument der Verschiedenheit der „ingegni“ mit
der Abgrenzung der Dichtung von anderen Disziplinen verknüpft. Auf die
Frage, ob die spezifische Darstellungsweise der Dichtung nun nützlich oder

57 Ebd., S. 82.
148 Rainer Stillers

nutzlos sei, folgt die Feststellung, dass die Verschiedenheit der menschlichen
„ingegni“ auch verschiedene Arten, Lehren zu vermitteln, erfordere. So gebe
es Menschen, die keine syllogistische Beweisführung, jedoch eine Überzeu-
gungsrede verständen und umgekehrt. Und ebenso gebe es Menschen, die
schon vor dem Wort „Philosophie“ zurückschreckten, die aber mit Vergnügen
zu den „favole“ der Dichter griffen, gerade weil sie dahinter keine Philosophie
vermuteten. Trotzdem seien gerade unter diesen viele, die von der Neuartigkeit
der fiktiven Geschichte angezogen und auf diesem Wege zu Wahrheitssuchern
und Freunden der Philosophie würden.
Sono altri, li quali solo il nome della filosofia, non che la dottrina, spaventa, e che
con sommo diletto alle lezioni delle favole correranno, non estimando sotto quella
alcuna particella di filosofia potersi nascondere [...]. Di questi cotali – non è dub-
bio – già assai, dalla novità delle favole mossi, divennero investigatori della verità
e domestici della filosofia.58
Noch deutlicher stellt Boccaccio an anderer Stelle des Trattatello die spezifi-
sche Erkenntnischance heraus, die die bildhaften Fiktionen der Dichtung dem
Leser bieten: Dichter erfinden ihre Geschichten, um durch deren Schönheit,
also den ästhetischen Reiz, bei jenen Menschen Interesse zu wecken, die weder
die philosophischen Beweisführungen noch die Überzeugungsrede anziehen
konnten. Auch in Bezug auf diese Stelle ist hervorzuheben, dass Boccaccio
damit keine Werteskala der aufgezählten Erkenntniswege postuliert:
e perciò favole fecero, più che altra coperta, perché la bellezza di quelle attraesse
coloro, li quali né le dimostrazioni filosofiche, né le persuasioni avevano potuto a
sé tirare.59
Hinter solchen Äußerungen steht eine Überzeugung von der doppelten Kodie-
rung dichterischer Texte, die ursprünglich aus der Bibelexegese stammt. Ich
denke dabei an den Vergleich des Bibeltextes mit einem zugleich tiefen und
seichten Gewässer, den Gregor der Große in seinem Kommentar zum Buch
Job als Bild für die hermeneutische Unerschöpflichkeit des Sinns heranzieht.
Das Wort Gottes, so schreibt er in dem Widmungsbrief zu diesem Kommentar,
diene wie ein Geheimnis den Weisen zur Übung (des Geistes) und gleichzeitig
den Einfältigen zur Stärkung; was es offen darlegt (im Litteralsinn), ernähre
die Kleinen, was es insgeheim bewahrt (im allegorischen Sinn), erhebe die
großen Geister zur Bewunderung. Deshalb sei es wie ein zugleich seichter und
tiefer Fluss, durch den das Lamm waten und der Elefant schwimmen könne.60

58 Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 521f.


59 Ebd., S. 475.
60 „Diuinus etenim sermo sicut mysteriis prudentes exerciet, sic plerumque superficie simplices
refouet. Habet in publico unde paruulos nutriat, seruat in secreto unde mentes sublimium in
admiratione suspendat. Quasi quidam quippe est fluuius, ut ita dixerim, planus et altus, in quo
et agnus ambulet et elephas natet“, (Sancti Gregorii Magni Moralia in Iob – Libri I-X, hg.
von Marcus Adriaen, Turnhout 1979 [Corpus Christianorum. Series Latina, Bd. 143], S. 6).
Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio 149

Wenn Boccaccio diesen Vergleich von den biblischen auf profane Texte
überträgt,61 so impliziert er damit zweierlei: eine erneute Rechtfertigung der
bildhaften Fiktion zum einen und eine daraus resultierende didaktische Potenz
dichterischer Werke zum anderen. Aufschlussreich ist nämlich der Kontext, in
dem bei Gregor der von Boccaccio zitierte Passus steht. Der Autor warnt dort
davor, bei der Exegese der Bibel allzu schnell vom Wortsinn zur Allegorie
weiterzugehen; man beraube sich wichtiger Erkenntnisse – in diesem Fall mo-
ralischer Art –, die der Litteralsinn enthalte.62 Nun hatte der Litteralsinn bibli-
scher Texte insofern einen grundsätzlich anderen Stellenwert als der poetischer
Texte, als er historische Wahrheit beanspruchen konnte. Umso kühner ist es,
wenn Boccaccio mit dem Gregor-Zitat den Eigenwert des Wortsinns implizit
auch für dichterische Texte postuliert. Da diese als Fiktionen aber nicht histo-
risch wahr sind, kann Boccaccio nur auf die Bildhaftigkeit der dichterischen
Erfindung abzielen. Doch nicht nur der Eigenwert des Bildhaften folgt aus
dem Gregor-Zitat, sondern auch – wie erwähnt – ein weiterführender didakti-
scher Wert. Wenn Dichtung mit ihren Fiktionen den ungelehrten und mit ih-
rem philosophischen Sinn den gelehrten Leser anzusprechen vermag, dann
bietet sie dem ungelehrten Leser geradezu die Chance einer geistigen Ent-
wicklung, einer Steigerung seiner Erkenntnisfähigkeit. Ja, man möchte fast
etwas anachronistisch behaupten, Boccaccio spreche der Dichtung einen e-
manzipatorischen Wert zu. Der ästhetische Reiz der Bildlichkeit öffnet denje-
nigen einen mittelbaren Zugang zur Erkenntnis, denen die wissenschaftlich-
gelehrten Wege dorthin verwehrt sind. In jedem Fall treffen sich hier Boccac-
cios theoretische Postulate mit der impliziten Poetik der narrativen Texte, von
denen weiter oben die Rede war. Weder im Ameto noch in der Amorosa visi-
one wählt Boccaccio geistig oder moralisch herausragende Protagonisten; in
dem einen Text handelt es sich um einen unkultivierten, im anderen um einen
Menschen, dessen Geist – mit der biblischen Formel gesprochen – zwar willig,
dessen Fleisch aber schwach ist. Beide gelangen jedoch zu einem moralischen
bzw. einem Erkenntnisfortschritt, gerade weil sie sich der ästhetischen Attrak-
tion durch das Schauen und durch die Bilder hingeben. So tritt Boccaccio
schon in diesen narrativen Texten für eine nachdrückliche Aufwertung der
Bildhaftigkeit ein, für die er in den späteren poetologischen Texten, wie hier
gezeigt werden konnte, die theoretische Begründung liefern sollte.

61 Vgl. Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 472. Boccaccio greift auf dasselbe Zitat noch
einmal in seinem Dante-Kommentar zurück, und zwar in der allegorischen Erläuterung von
Inferno I; vgl. Esposizioni sopra la Comedia (Anm. 43), S. 58.
62 Gregor zitiert Job 31, 16-20 und bemerkt: „Quae uidelicet si ad allegoriae sensum uiolenter
inflectimus, cuncta eius misericordiae facta uacuamus“, (Moralia in Iob [Anm. 60], S. 6).
KATHARINA MÜNCHBERG

Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines


ästhetischen Grundbegriffs

Kaum ein anderer Begriff ist in der Literaturwissenschaft so vehement umstrit-


ten wie der Begriff der ‚ästhetischen Immanenz‘. Der Gedanke, dass Literatur,
bildende Kunst oder Musik einen immanenten Sinn- und Erfahrungsraum
eröffnen, der sich durch eine konstitutive Differenz von der Lebenswelt ab-
hebt, konnte sich nie dem ihm entgegengebrachten Zweifels entziehen, dass
hier eine prekäre Unterscheidung von Kunstwerk und Nicht-Kunstwerk zu
Grunde liege. Immanenz scheint eine tautologische Kategorie zu sein: Ein
Kunstwerk ‚ist‘ ein Kunstwerk, weil es das Kunstwerk ‚gibt‘. Die substantia-
listische Einheit des Kunstwerks, die durch die Evidenz der ästhetischen Erfah-
rung angezeigt wird, gilt als entscheidendes Kennzeichen der Immanenz: Cro-
ce definiert in seiner Estetica das Kunstwerk durch eine innere Konsistenz, in
welcher der betrachtende Geist im Akt ästhetischer Erfahrung zu einer (he-
gelianisch gedachten) Synthese komme.1 Warren und Wellek proklamieren
eine ‚innere Form‘ des literarischen Werkes, die sich in dessen semantischen,
syntaktischen und phonischen Sprach-Schichten („system of strata“) als Ein-
heit in der Vielheit ausprägt.2 Blumenberg erklärt die Immanenz des literari-
schen Werkes durch die Vieldeutigkeit und „Oppositionsqualität der poeti-
schen Sprache“, die sich mit einer „positive[n] formale[n] Determination“
verbinde,3 und spricht von einer „Konsistenz des Inkonsistenten, Wahrschein-

1 Croce beschreibt die Immanenz des Kunstwerkes durch dessen Ablösung vom lebensweltli-
chen Bezugsrahmen: „l’opera d’arte è sempre interna; e quella che si chiama esterna non è
più opera d’arte“. Seine Forderung nach der Unhintergehbarkeit ästhetischer Erfahrung, die
den Immanenz-Begriff ergänzt, geht letztlich auf eine idealistische Subjekt-Theorie zurück.
Das Kunstwerk ist für ihn Ausdruck innerer Bewusstseinsakte. (Benedetto Croce: Estetica
come scienza dell’espressione e linguistica generale. Bari 1941, S. 56f.).
2 René Wellek u. Austin Warren: Theory of Literature. New York 31942, S. 27. Zum Begriff
der ‚inneren Form‘, der dem Neuplatonismus entlehnt ist, vgl. ebd., S. 151.
3 Hans Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik, in: ders.: Ästhetische und me-
taphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, S. 120-135,
hier: S. 133.
152 Katharina Münchberg

lichkeit aus Unwahrscheinlichem“.4 Staiger, der die Einheit des literarischen


Werkes im Stil verwirklicht sieht, fordert gleichzeitig ein subjektives Sich-
Versenken in das Werk.5 Am eindringlichsten hat Peter Szondi das Problem,
das aus der Immanenz des literarischen Werkes für die Literaturtheorie er-
wächst, formuliert: „Es scheint das Dilemma der Literaturwissenschaft zu sein,
dass sie nur in solcher Versenkung das Kunstwerk als Kunstwerk zu begreifen
vermag“.6
Immanenz setzt also die Differenz von Kunstwerk und Nicht-Kunstwerk
voraus sowie die verdichtete Identität eines Sprach-Raums, dessen vielfältiger
Einheit und einheitlicher Vielfalt der Interpret sich nur in einer rückhaltlos
subjektiven Erfahrung anzunähern vermag. Die Probleme einer solchen sub-
stantialistischen Bestimmung von Immanenz treten aber dort hervor, wo der
Begriff der Repräsentation ins Spiel kommt. Muss das immanente Kunstwerk,
das seine raison d’être ‚in‘ sich hat, sich nicht der Funktion verweigern, Aus-
druck ‚von‘ etwas zu sein? Wie bestimmt sich die Relation von Immanenz und
Repräsentation?
In seinem Buch Die Struktur literarischer Texte hat Jurij Lotman versucht,
die Immanenz ästhetischer (das heißt: bildlicher, musikalischer und literari-
scher) Texte aus ihrer semiotischen Struktur zu erklären. Das ästhetische Werk
als begrenzter (‚geschlossener‘) Text differenziere sich von anderen unbe-
grenzten (‚offenen‘) Texten der kulturellen Rede durch das „Prinzip einer
immanenten Kopplung von Ausdruck und Inhalt“.7 Jeder literarische Text steht
damit für Lotman im Zeichen einer verdichteten ‚Sinnsättigung‘.8 Der ästheti-
sche Text (als Kunstwerk) unterscheidet sich von nicht-ästhetischen Texten
(als Nicht-Kunstwerken) durch seine ‚äußere‘ Grenze, welche der ‚inneren‘
Verdichtung, ja konträren Korrelation der Strukturebenen entspringt. Für Lot-
man schließt die Immanenz des ästhetischen Textes jedoch prinzipiell die
Möglichkeit der Repräsentation ein. Repräsentation bedeutet nach Lotman
keine Nachahmung von Wirklichkeit, sondern deren Modellierung. Als ‚se-
kundäres modellbildendes System‘ baut der Text ein ‚Sujet‘ auf, das einem
‚sujetlosen‘ Text überlagert ist, dem primäre semantische Felder zugrunde

4 Ebd., S. 135.
5 Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich
1955, S. 14 und S. 19.
6 Peter Szondi: Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft, in: Die Neue Rund-
schau 73 (1962), S. 146-165, hier: S. 157.
7 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. von Rolf-Dietrich Keil, München
2
1982, S. 40.
8 „Der Text hat die Eigenschaft, begrenzt zu sein. In dieser Beziehung steht er einerseits in
Opposition zu allen materiellen Zeichen, die ihm nicht angehören [...]. Andererseits steht er
in Opposition zu allen Strukturen, die nicht über das Merkmal Grenze verfügen, also sowohl
der Struktur der natürlichen Sprache als auch der Unbegrenztheit (‚Offenheit‘) ihrer Rede-
Texte“ (ebd., S. 84).
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs 153

liegen, deren dichotomische Ordnung ‚ereignishaft‘ überschritten wird.9 Eine


solche ‚Weltmodellierung‘ kommt nach Lotman jedem Text zu. Daher kann
Lotman sagen, dass auch der begrenzte ästhetische Text ein Modell der unbe-
grenzten Welt ist.10
Begriffen als semiotische ‚Weltmodellierung‘ (das heißt: als Konstruktion
einer konsistenten Welt aus der inkonsistenten Semantik des allgemeinen Dis-
kurses) ist Repräsentation kein Gegenpart, sondern das Generationsfeld der
Immanenz. Die Profilierung der ‚thematischen‘ Figur in der Repräsentation
erlaubt die Verdichtung der ‚formalen‘ Figur des Werkes in der Immanenz.
Verdichtung ist der Ausdruck des Werkes im Werk selbst. Dadurch grenzt sich
das Werk gegen die Repräsentation ab, in der es sich ausdrückt, indem es
zugleich den Anspruch der Repräsentation, eine Welt darzustellen, zurück-
nimmt oder zumindest umbiegt auf das Sich-Selbst-Setzen des Werkes.
Anders als die substantialistische steht die semiotische Definition der Im-
manenz damit aber vor einem neuen Problem: dem der ‚Dialektik zwischen
Grenze und Verdichtung‘. Indem das Werk sich nach außen abgrenzt, ver-
dichtet es sich nach innen. Doch die Verdichtung ist nicht weniger die Bedin-
gung dafür, dass es überhaupt eine äußere Grenze gibt. Lotman vermag die
Prämisse der geschlossenen Struktur des Kunstwerkes nur aufrechtzuerhalten,
wenn sie das offene Ereignis der semantischen Grenzüberschreitung impliziert.
Mündet die Theorie der Immanenz dann aber nicht in einer Aporie?
Es ist erstaunlich und faszinierend zu sehen, dass diese Aporie kein genui-
nes Problem der Moderne ist. Die Denkform von Verdichtung und Grenze, von
Innen und Außen wird seit alters her an das Kunstwerk herangetragen. Unaus-
gesprochen regiert sie bereits die platonische Theorie der Kunst als eines on-
tologischen Abbildes eines Urbildes und geht in der Poetik des Aristoteles in
den Begriff der Mimesis über, der weniger die Nachahmung der ‚äußeren‘
Wirklichkeit als vielmehr die ‚innere‘ Logik der fiktionalen Handlungswelt
bezeichnet. Mit Beginn der Aristoteles-Rezeption in der italienischen Spät-
renaissance wird die Literaturtheorie erstmals eine eigene poetologische Spra-
che für die Denkform der Immanenz finden. Es ist Torquato Tasso, der in
seiner neuen Ästhetik und Poetik – verborgen im Schatten des Aristoteles – die
Immanenz der Literatur zu denken beginnt.
Im Folgenden wird Tassos Poetik der Immanenz vor dem Hintergrund der
Auseinandersetzung mit Aristoteles dargestellt. Ausgehend von dem bestim-
menden Motiv der ‚diskordanten Konkordanz‘, das Tasso aus dem Neuplato-
nismus entlehnt, wird dann Tassos Epos Gerusalemme liberata mit Blick auf
die Dialektik zwischen Vielheit und Einheit, Materialität und Form, Ord-
nungslosem und Ordnung untersucht. Tassos Poetik ist die Folie, vor der das

9 Ebd., S. 332.
10 Ebd., S. 301.
154 Katharina Münchberg

Problem der Immanenz, das sich in der modernen Literatur-Theorie zur Aporie
erweitert, seine geschichtlichen Voraussetzungen preisgibt. Kann man sich des
Begriffs der Immanenz bedienen, als hätte er keine Geschichte? Muss man
nicht zuerst fragen, woher er kommt? Ist Immanenz nicht eine Denkform,
deren Herkunft und Geschichte vergessen sind?

II

In seinen Discorsi dell’arte poetica (1587 veröffentlicht) nennt Torquato Tasso


drei Momente, die für die epische Dichtung („poema eroico“) notwendig sind:
die Materie („materia“), die Form („forma“) und das rhetorische Ornament.11
„Formare la materia“ heißt für Tasso die Zauberformel, mit der sich das Kunst-
werk bestimmen lässt. Offenkundig ist Tassos Literaturtheorie vom Gedanken
einer Synthese beherrscht, welche die metaphysische Opposition von Materie
und Form aufhebt und sie in die poetische Einheit des Kunstwerks überführt.
Zwischen Materie und Form entfaltet sich eine spannungsgeladene Dialektik:
Tasso erklärt, dass zwar die „materia nuda“ eine Disposition zur Form hat,
doch erst durch die Kunst jene Form verliehen bekommt, aus der die Einheit
des poetischen Werkes hervorgeht. Die Materie (oder auch der thematische
Stoff) muss eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen, um für die Form der
epischen Dichtung geeignet zu sein: Der Stoff muss aus der Geschichte ent-
nommen sein („l’autorità dell’istoria“), er hat die christliche Religion zum
Inhalt („la verità della religione“), zugleich aber muss er der Imagination einen
Freiraum lassen („la licenza del fingere“) und über eine heroische Aura verfü-
gen („la qualità de’ tempi accomodati e la grandezza de gli avvenimenti“).12
Prinzip und Motor der poetischen Synthese aber ist die Mimesis („imitazi-
one“). Tasso versteht unter „imitazione“ eine poetische Basiskategorie, die
sich wiederum in Erzählung („narrazione“) und dramatische Darstellung („ra-
ppresentazione“) untergliedert. Entscheidendes Differenzkriterium ist die An-
wesenheit des Dichters im epischen Erzählen und seine Abwesenheit in der
dramatischen Repräsentation.13 Es ist unverkennbar, dass Tasso sich hier auf
die Aristotelische Poetik bezieht: Schon Aristoteles bestimmt die Nachahmung
(„mímhsiß“) als Grundprinzip aller literarischer Gattungen und unterscheidet
dafür zwei Darstellungsweisen der Nachahmung: das mittelbare Erzählen oder
das unmittelbare Auftreten von Figuren, die als Stellvertreter der dargestellten
Handelnden fungieren.14 So konform Tassos Nachahmungs-Begriff mit dem

11 Torquato Tasso: Discorsi dell’arte poetica, in: ders.: Prose, a cura di Ettore Mazzali, Milano
u. Napoli 1959, S. 349-410, hier: S. 349.
12 Ebd., S. 362.
13 Ebd., S. 359.
14 Aristoteles: Poetik, 1448 a21-24.
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs 155

Aristotelischen Begriff der Mimesis auf den ersten Blick erscheinen mag, er
verschiebt und zerrüttet doch auf eigentümliche Weise die Koordinaten des
Aristotelischen Systems – bedingt geradezu dessen Erosion. Was bedeutet die
zweifache Semantik von „imitazione“ und „rappresentazione“? Warum ist die
epische Dichtung zwar Nachahmung, nicht aber Darstellung (Repräsentation)?
Ist die An- oder Abwesenheit einer medialen Instanz wirklich das entschei-
dende Kriterium für diese eigentümliche Differenz?
Tasso hat den aristotelischen Begriff der Mimesis aufgegriffen, erweitert
und umbesetzt, indem er zugleich ein mehr neuplatonisches als platonisches
Modell der Mimesis restituiert hat. Erinnert sei zunächst an das, was Aristote-
les in der Poetik unter Mimesis versteht: die Nachahmung von Handlung
(„práceoß“). Da die Handlungen vielgestaltig und diffus sind, in der Dichtung
aber modellhaft gestaltet werden sollen, bedarf es des Mythos’ als Generator
von Ordnung („práceoß ¦ mûqoß £ mímhsiß“); der Mythos, so sagt Aristoteles
auch, ist die logische Zusammensetzung der Geschehnisse („súnqesin tôn
pragmátwn“).15 Aristoteles kann darum fordern, dass die Nachahmung auf
eine einzige und ganze Handlung („tò †lon“) bezogen sein soll.16 Genau
durch diese strukturale und konzeptuelle Modellierung von Handlung
(„mûqoß“) bestimmt sich Dichtung – nicht durch ihre prosodische und rhetori-
sche (Sprach-)Figur. Unter dem Deckmantel der Nachahmung bringt Aristote-
les somit das imaginative Potential der Dichtung ins Spiel. Denn das Wesentli-
che der Dichtung ist es, auch das wirklich Geschehene ‚poetisch‘ darzustellen
(„poieîn“). Die Kategorie der Nachahmung löst sich damit von der ‚Wirklich-
keit‘ des Dargestellten und öffnet sich der imaginativ-potentialen Dimension
der Darstellung im Sinne poetischer Wahrscheinlichkeit.17
Wenngleich Tasso den Aristotelischen Nachahmungs-Begriff übernimmt,
so indiziert dessen Verknüpfung mit der Denkfigur von Materie und Form
doch den verborgenen Neuansatz von Tassos Poetik. Auch diese Verknüpfung
hat ihre historische Genealogie. Platon spricht von der Darstellung („mímhsiß“)
im Sinne einer Nachahmung, die nicht die eine (Wesens-)Form („eÎdoß“)
erfasst, sondern nur die Schattenbilder der materialen Erscheinungen („eÌ-
dwlon“, „fainómena“).18 Im platonischen Sinne ist die Form (oder das Urbild)
der Darstellung (oder Nachahmung) entzogen. Anders hingegen bei Plotin:
Der Begriff ‚Mimesis‘ bezeichnet für ihn die Partizipation an der Form („eÎ-
doß“) – was bedeutet, dass die gestaltlose Materie („‰le“) ‚in‘ der Form
gestalthaft wird.19 Die geformte Materie hat an der Form (oder dem Einen) teil
im Sinne der Immanenz: Die Materie (das Viele) trägt die Form (das Eine) in

15 Ebd., 1450 a4-6.


16 Ebd., 1451 a30-36.
17 Ebd., 1451 b6-8.
18 Platon: Politeia, 598b.
19 Plotin: Schriften, gr.-dt., übers. von Richard Harder, Hamburg 1956, I 6, 12.
156 Katharina Münchberg

sich. Damit sind die Künste selbst im ‚geistigen‘ Besitz der ‚wesenhaften‘
Schönheit: sie sind autonom, das heißt unabhängig von einem sinnlich-körper-
lichen Modell, weil sie an der (Wesens-) Form partizipieren.20 Im Neuplatonis-
mus bedeutet Mimesis also Partizipation an der Form oder Immanenz: Das
Sein ist in allen Seienden anwesend und begreift alle Seienden in sich. Es ist
ein univokes Sein: ‚Ein‘ Sein, das sich durch seinen immanenten Ausdruck als
‚Eines‘ in der diffusen Materie expliziert.21
Tassos Nachahmungs-Begriff ist Resultat und Residuum dieses Denkens
der Immanenz. Nicht als Darstellung, nicht als Repräsentation einer entzoge-
nen Präsenz bestimmt Tasso die poetische Nachahmung, sondern als Imma-
nenz. Im Zuge dieser Depotenzierung der Repräsentation als eines ‚Verwei-
sens-auf-Anderes‘, muss und kann Tasso die Dichtung durch eine intrinsische
Kategorie bestimmen: Es ist die Einheit der Handlung („unità della favola“),
die Materie und Form zu ‚einem‘ Werk-Ganzen verbindet.
Wieder knüpft Tasso an den Aristotelischen Begriff der Handlung
(„mûqoß“) an. Auch Tasso versteht die „favola“ als eine logische und in sich
konsistente Handlungs-Struktur, die nach immanenten Gesetzen organisiert ist:
„intiera è quella favola che in se stesso ogni cosa contiene ch’a la sua intelli-
genza è necessaria“.22 Doch wieder wird dieser Begriff bei Tasso verschoben
und erhält eine essentialistische Konnotation. Denn Tasso bezeichnet die „fa-
vola“ als Wesensform („forma essenziale“) des epischen Werks: „la favola è la
forma essenziale del poema“.23 Aristoteles hingegen spricht vom „mûqoß“ als
Fundament („˜rxç“) und Seele („yuxç“) der Tragödie.24 „Est igitur princi-
pium, ac uelut anima Tragoediae, fabula“, so heißt es bei Robortello.25 Tassos
Begriff der „favola“ hat nichts mit der Repräsentation im Sinne einer Darstel-
lung von etwas, das außerhalb des poetischen Werks liegt, zu tun. Er bezieht
sich auf die Nachahmung als ein ‚inneres Sich-Setzen‘ des Werks selbst. Wie
aber kann es eine ‚Selbstsetzung‘ der Nachahmung geben? Heißt Nachahmung
nicht gerade, dass das Kunstwerk sich auf das Außen, das Andere und Fremde
bezieht?

20 Plotin: Schriften, V 8, 1.
21 Deleuze hat das Problem des ‚immanenten Ausdrucks‘ herausgearbeitet – vgl. Gilles Deleu-
ze: Spinoza et le problème de l’expression, Paris 1968, S. 157-159.
22 Tasso: Discorsi dell’arte poetica (Anm. 11), S. 369.
23 Ebd., S. 374.
24 Aristoteles: Poetik, 1450 a40-41.
25 Francesco Robortello: In librum aristotelis de arte poetica explicationes, München 1968
(Florenz 1548), S. 63. Mit der essentiellen Bindung der ‚favola‘ an die Nachahmung geht
Tasso über Robortellos Mimesis-Begriff hinaus, in welchem es zu einer Gleichsetzung von
Mimesis und Nachahmung des Wirklichen kommt. Vgl. Arbogast Schmitt: Mimesis bei
Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance – Zum Wandel des Gedankens
der Nachahmung der Natur in der frühen Neuzeit, in: Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann
(Hg.): Mimesis und Simulation, Freiburg 1998, S. 17-52, hier: S. 44.
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs 157

Nochmals muss man sich dem Begriff der Nachahmung in einer weiteren
Querverbindung widmen, um die weit gefächerte Bedeutungs-Valenz zu er-
kennen, die er in Tassos Literatur-Theorie annimmt: der Koppelung von Nach-
ahmung („imitazione“) und Wahrscheinlichem („verisimile“). Auch der Beg-
riff des „verisimile“ ist bei Tasso essentialistisch aufgeladen. Tasso spricht
davon, dass das „verisimile“ mehr noch als der ‚äußere‘ rhetorische Rede-
schmuck dem Wesen („essenza“) der Dichtung intrinsisch ist und das poeti-
sche Werk vollkommen durchzieht:
La poesia non è in sua natura altro che imitazione [...] e l’imitazione non può es-
sere discompagnata dal verisimile, però che tanto significa imitare, quanto far si-
mile: non può dunque parte alcuna di poesia esser separata dal verisimile; ed in
somma il verisimile non è una di quelle condizioni richieste nella poesia a maggior
sua bellezza ed ornamento, ma è propria ed intrinseca dell’essenza sua.26
Tassos Bestimmung des „verisimile“ bezieht sich auf die literaturtheoretische
Diskussion der Zeit, die durch die Rezeption der Aristotelischen Poetik geprägt
ist.27 Obgleich für Tasso das „verisimile“ – hierin Aristoteles folgend – die
Funktion hat, das (geschichtlich) Partikuläre zu einem (philosophisch) Allge-
meinen zu erheben, so mündet seine Argumentation nicht darin, die Reprä-
sentation dieses Allgemeinen (sei es als typisches Handlungsmuster, sei es als
exemplarischer Fall) zum Inbegriff der Bestimmung der Literatur zu machen.
Es geht Tasso auch hier um die Frage nach der Immanenz des Ästheti-
schen, die zwar über den gängigen Gedanken des „verisimile“ beantwortet,
doch mit Entschiedenheit in einer neuen Metaphysik der Kunst verankert wird.
Einen signifikanten Ausdruck hat dies in Tassos Forderung gefunden, das
„verisimile“ müsse mit dem „maraviglioso“ grundsätzlich vereinbar sein – eine
Forderung, die Tasso mit einer hybriden Überlagerung von aristotelischen und
christlichen Denkfiguren begründet. Denn die Unwahrscheinlichkeit des „ma-
raviglioso“ lässt sich über seinen Ursprung aus der ‚übernatürlichen‘ Wahrheit
der christlichen Heilsgeschichte („vera istoria“) wiederum als (zumindest me-
taphysische) Wahrscheinlichkeit verbürgen.28 Diese Verknüpfung von „veri-
simile“ und „verità“ zeigt an, wie die aristotelischen Begriffe im Rahmen der
christlichen Metaphysik so verschoben und depotenziert werden, dass sie zu
Bausteinen für eine neue ästhetische Metaphysik geraten.
„La poesia non è altro che imitare“ – Wenn Tasso die Nachahmung zu ei-
ner poetischen Fundierungskategorie macht, so schließt dies also weit mehr als

26 Tasso: Discorsi dell’arte poetica (Anm. 11), S. 354-355.


27 Vgl. Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, Chicago
1961.
28 Torquato Tasso: Discorsi del poema eroico, in: ders.: Prose, S. 538. Zum Wahrheitsan-
spruch, den Tasso mit der Kategorie des „verisimile“ verbindet, vgl. Andreas Kablitz: Dich-
tung und Wahrheit – Zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento, in: Klaus
W. Hempfer (Hg.): Ritterepik der Renaissance, Stuttgart 1989, S. 77-122, bes. S. 108-111.
158 Katharina Münchberg

bei Aristoteles und dem Aristotelismus des Secondo Cinquecento einen essen-
tialistischen Dichtungsbegriff ein. Nachahmung ist für Tasso Teilhabe am
Sein. In letzter Konsequenz bedeutet Tassos Nachahmungs-Begriff zwar eine
quasi-moderne Option für das Ästhetische als Ästhetisches unabhängig von der
Darstellungsfunktion des Kunstwerks, doch resultiert er aus einer Denkform,
die in allen ihren Zügen ein neuplatonisches Profil trägt: Die Immanenz des
Kunstwerks (gegeben in der Einheit von Materie und Form) ist ein ‚immanen-
ter Ausdruck‘ des Seins. Tassos Literaturtheorie wird von einem ganz be-
stimmten Ort aus formuliert: Es ist die Überkreuzung der aristotelischen Poetik
und der neuplatonischen Metaphysik. Aus dieser Überkreuzung entspringt eine
hybride poetologische Kategorie, die zutiefst von unlösbaren Widersprüchen
durchzogen ist: die Immanenz des Ästhetischen.
Aporie, Widerstreit und Widerspruch scheinen Tassos Entdeckung der Im-
manenz zu begleiten. Sie haben ihren Gipfelpunkt und exponierten Ausdruck
in Tassos Formel der diskordanten Konkordanz („discorde concordia“). Tasso
bezeichnet damit die Inklusion des Vielen ‚im‘ Einen, der pluralen Motiv-,
Themen-, und Erzähl-Stränge ‚in‘ der Form des epischen Werkes. Damit er-
scheint die Struktur des Epos’ als analoges Modell der Struktur des Kosmos’,
in dem sich Materie und Form, Vieles und Eines in einer heterogenen Synthese
zusammenfinden:
uno è il mondo che tante e sì diverse cose nel suo grembo rinchiude, una la forma e
l’essenza sua, uno il modo dal quale sono le sue parti con discorde concordia in-
sieme congiunte [...] così parimente giudico che da eccellente poeta (il quale non
per altro divino è detto se non perché, al supremo Artefice nelle sue operazioni as-
somigliandosi, della sua divinità viene a partecipare) un poema formar si possa nel
quale, quasi in un picciolo mondo, qui si leggano ordinanze d’eserciti, qui battaglie
terrestri e navali, [...] qui tempeste, qui incendii, qui prodigii.29
Diese Analogie von Dichtung und Welt gibt Tassos Begriff der Nachahmung
eine letzte neuplatonische Facette: Ihre Relevanz liegt in der Gleichsetzung
von Natur und Kunst unter dem Aspekt der schöpferischen Hervorbringung. In
dem Dialog Il Ficino overo del arte lässt Tasso den Neuplatoniker Ficino die
paradoxe Formel aussprechen, dass die Natur die Kunst nachahme: „La natura
può imitar l’arte, ma non ogni arte, ma la divina solamente“.30 Dies bedeutet
mehr als die provokante Reversion des tradierten literarischen Mimesis-Be-
griffs. Es bedeutet die Depotenzierung und Demontierung der metaphysischen
Opposition von Transzendenz und Immanenz. Es ist die Formel einer radikalen
Immanenz, in der sich das Sein in der Vielzahl der differenten Seienden pro-
duziert. Sie führt zu dem Horizont einer prä-aristotelischen Metaphysik zurück

29 Tasso: Discorsi dell’arte poetica (Anm. 11), S. 387.


30 Torquato Tasso: Il Ficino overo de l’arte, in: ders.: Dialoghi, edizione critica a cura di Ezio
Raimondi, Firenze 1958, S. 891-912, S. 898.
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs 159

– zu dem Gedanken eines in den Welt-Phänomenen erscheinenden Seins, der


nun für das Kunstwerk in Anspruch genommen wird. Ist das Kunstwerk aber
Immanenz in diesem radikalisierten Sinne, so ist es nicht nur Einheit, sondern
auch ein unendlicher Spielraum der Pluralität und der Differenzen.

III

Die Verschiebung und Subversion, welche die Aristotelischen Grundbegriffe


in Tassos Literaturtheorie erfahren, werden allerdings erst auf der Ebene ihrer
literarischen Reflexion ganz erkennbar: in dem Epos Gerusalemme liberata.
Bereits Tassos pseudo-aristotelisches Postulat der (Handlungs-)Einheit erweist
sich hier als problematisch. Karlheinz Stierle hat gezeigt, dass Tassos Erneue-
rung des Epos’ zwar eine Gegenbewegung zum ‚verwilderten‘ Erzählen des
rinascimentalen Romanzo darstellt, doch dessen Pluralität und Heterogenität
einschließt.31 Tassos (offizielle) Poetik der Einheit öffnet sich in der Gerusa-
lemme liberata der Dialektik von Einheit und Vielheit.32 Die poetologische
Konstruktion der Opposition von Epos und Romanzo, die Tasso in seinen
literaturtheoretischen Schriften proklamiert, und die poetische Dekonstruktion

31 Zu der grundlegenden These, dass die Pluralität des Romanzo als hybride, in sich wider-
sprüchliche Gattungssynthese von (auf kollektive Erfahrung bezogener) ‚chanson de geste‘
und (auf individuelle Erfahrung bezogenem) ‚romanz‘ zu begreifen sei, die das Ziel verfolge,
neue fiktionale und narrative Möglichkeiten des Erzählens zu gewinnen, vgl. Karlheinz Stier-
le: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeiten, in: Hans Ulrich Gum-
brecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, Heidelberg 1980 (Begleitrei-
he zum GRLMA 1), S. 253-313, hier: S. 258. Mit Blick auf Tassos Gerusalemme liberata hat
Stierle ferner gezeigt, wie Theorie des Epos und Werkstruktur in der „immanente[n] Theorie
des Werks“ ineinander greifen (Karlheinz Stierle: Erschütterte und bewahrte Identität – Zur
Neubegründung der epischen Form in Tassos „Gerusalemme liberata“, in: Susanne Knaller
(Hg.): Das Epos in der Romania, Festschrift für Dieter Kremers, Tübingen 1986, S. 383-414,
hier: S. 394): „So wird, was auf der Ebene der narrativen Struktur als ein Verhältnis von nar-
rativer Linearität und narrativer Digression, von epischer Einheit und romanesker Vielfalt be-
schreibbar ist, auf der Ebene des Werks zur Darstellung von Erscheinungsformen der gefähr-
deten und der geretteten Identität, in denen sich gefährdetes und gerettetes Epos spiegeln“
(ebd., S. 395).
32 Inwieweit Tasso sein Einheits-Postulat in der Gerusalemme liberata einlöst, wird in der
Forschung kontrovers diskutiert. Die These einer Reduktion des Vielen auf das Eine im Zuge
einer repressiven konterreformistischen Tendenz vertritt Sergio Zatti: L’uniforme cristiano e
il multiforme pagano nella „Gerusalemme liberata“, in: Belfagor 31 (1976), S. 387-413. Zur
These der Subordination des Vielen unter eine ideologische (ethische) Einheit vgl. Georges
Güntert: L’Epos dell’ideologia regnante e il romanzo delle passioni – Saggio sulla „Gerusa-
lemme Liberata“, Pisa 1989, S. 62. Mit Blick auf Tassos Poetik generell spricht Gerhard
Regn von manieristischen Tendenzen, die den „Normen des rinascimentalen Klassizismus“
unterstellt sind (Tasso und der Manierismus in: Romanistisches Jahrbuch 38 [1987], S. 99-
129, hier: S. 125).
160 Katharina Münchberg

dieser Opposition stehen in einem Korrespondenzverhältnis. Die Debatte um


Epos und Romanzo bezeichnet bei Tasso mehr und anderes als eine rein gat-
tungstheoretische Reflexion: Sie indiziert die ‚ästhetische Dialektik des
Kunstwerks‘, die paradoxen und heterogenen Synthesen, die sich im Feld
seiner Immanenz entfalten.
Pluralität ist in der Gerusalemme liberata allgegenwärtig; in den abbre-
chenden und immer neu sich verknüpfenden Handlungssequenzen, die mit der
Figur des Rinaldo verbunden sind, hat dies einen besonderen Ausdruck gefun-
den.33 Rinaldo, der jüngste und wagemutigste der Ritter aus Goffredos christli-
chem Heer, betritt nach einer langen Irrfahrt im 16. Gesang die heidnische
Zauberwelt der Armida auf den glückseligen Inseln („Isole fortunate“). Die
Perspektivierung dieser Zauberwelt geschieht durch die beiden christlichen
Ritter Carlo und Ubaldo, die Rinaldo zum Heer Goffredos zurückbringen sol-
len. Nachdem Carlo und Ubaldo in den Garten im Innern des labyrinthischen
Palastes der Armida eingedrungen sind, bietet sich ihnen ein ebenso reizendes
wie erschreckendes Schauspiel: Inmitten einer poetisch-magischen Natursze-
nerie, in der die Bäume gleichzeitig Früchte und Blüten tragen und ein Papagei
in menschlicher Sprache ein Liebeslied singt, erblicken sie Rinaldo – die ge-
liebte Armida umschlungen haltend –, der im Taumel des vollkommenen Lie-
besglücks seine christlich-kriegerischen Pflichten vergessen hat.
Dieses Bild der Liebenden stellt eine poetisch-philosophische Metapher
der Immanenz dar. Denn wie Armida sich in dem Spiegel, den ihr Rinaldo hin-
hält, selbst betrachtet, so spiegelt sich Rinaldo in den Augen der Geliebten:
ella del vetro a sé fa specchio, ed egli
gli occhi di lei sereni a sé fa spegli.34
Armida wiederum kann in der von Liebe entflammten Gestalt Rinaldos ihre
Schönheit ablesen:
la forma lor, la meraviglia a pieno
piú che il cristallo tuo mostra il mio seno
(XVI, 21, 7-8).
Rinaldo versichert ihr, dass ihre Schönheit so übergroß ist, dass sie kein Spie-
gelbild zu fassen vermag, sondern allein im Kosmos, im Himmel und den
Sternen, angemessen widerstrahlen kann:

33 Zur Rinaldo-Handlung als Rekurs auf die Welt des ‚romanzo‘ und ihrer komplexen Rück-
bindung an das ‚poema eroico‘ vgl. Gerhard Regn: Schicksale des fahrenden Ritters – Tor-
quato Tasso und der Strukturwandel der Versepik in der italienischen Spätrenaissance, in:
Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 45-
68, hier: S. 48.
34 Torquato Tasso: Gerusalemme liberata, a cura di Lanfranco Caretti, Milano 1979, XVI, 20,
7f. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert.
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs 161

Non può specchio ritrar sí dolce imago,


né in picciol vetro è un paradiso accolto:
specchio t’è degno il cielo, e ne le stelle
puoi riguardar le tue sembianze belle
(XVI, 22, 5-8).
Die Schönheit ist der Liebenden, dem Geliebten und dem Kosmos immanent.
Tasso spielt hier mit der zweifachen Semantik des Schönen: als Metapher der
ontologischen und ästhetischen Immanenz.
Es ist in der Forschung wiederholt auf die poetisch-poetologische Selbstre-
flexivität dieser Szene hingewiesen worden.35 Denn Armidas Zauberwelt ist
explizit eine Welt der Kunst und des künstlichen Scheins. Sie ist das Simulac-
rum eines ursprünglichen Paradieses,36 das den Inbegriff allen Glücks als ent-
grenzte Sinnlichkeit und als Taumel vor der körperlichen Schönheit erfahrbar
macht – und damit jenen Vorwurf gegenüber der Kunst reproduziert, der ihr
seit alters her gemacht wurde: Sie sei bloß Schein, nicht Anwesenheit des
Seins. Doch dieses singuläre Motiv des ästhetischen Scheins ist nicht von einer
zweiten Motivik zu lösen, die das Ganze des Werkes durchzieht: dem Sein der
historischen Wirklichkeit. Auch Carlo und Ubaldo halten Rinaldo einen Spie-
gel vor: das Schild des Zauberers von Ascona. Wenn der Spiegel Armidas als
selbstreflexive Metapher für das Wahrscheinliche („verisimile“) ästhetischer
Schönheit verstanden werden kann, so ist das Schild eine Metapher für die
Wahrheit („verità“) christlicher Historie. Als Rinaldo sich darin betrachtet,
wird er beim Anblick seiner unritterlichen, verweiblichten Gestalt von Reue
ergriffen und verlässt die Geliebte. Der Zauber Armidas ist nun gebrochen. Er
ist in dem Moment gebrochen, in dem die Immanenz des Schönen als Schein
bezogen auf die Immanenz des Schönen als Sein wird. So muss Armidas Zau-
berreich letztlich zerfallen, doch nur, um im Reich der Kreuzzüge neu und
gewandelt aufzuleben.
Die Liebesidylle erweist sich damit als eine singuläre Episode, die in das
Sinnganze des Epos integriert ist und ihm doch widerstreitet. Aus dieser defi-
gurativen Konfiguration von singulärer Episode und epischem Ganzen, von
Diskontinuität und narrativer Kontinuität entspringt die differentielle Imma-
nenz des Werkes.
Die Figur des Rinaldo ist wie keine andere Figur der Gerusalemme libe-
rata ein Beispiel für die Wiederholung und Varianz der Opposition von Täu-
schung und Enthüllung, von Maskierung und Demaskierung, von Schein und

35 Vgl. Jo Ann Cavallo: Armida – La funzione della donna-maga nell’epica tassiana, in: Tor-
quato Tasso e la cultura estense, a cura di Gianni Venturi, Firenze 1999, 3 Bde., Bd. 1, S. 99-
114, zum Spiegelmotiv vgl. im selben Band Gianni Venturi: Armida come un paesaggio, S.
203-217.
36 Zum Thema von Simulation und Dissimulation in dieser Szene vgl. Sergio Zatti: L’ombra del
Tasso – Epica e romanzo nel Cinquecento, Milano 1996, S. 139.
162 Katharina Münchberg

Sein. Aus Zorn und Scham darüber, dass Rinaldo sie verlassen hat, fasst Ar-
mida im 17. Gesang den Entschluss, im Heer der Heiden gegen die Christen zu
kämpfen. Sie begibt sich im Glanz ihrer Waffen und eines großen Gefolges
nach Gaza, wo der ägyptische König ein großes völkerreiches Heer um sich
gesammelt hat. Unterdessen sind Rinaldo und seine Gefährten dem Bann der
glückseligen Inseln entronnen und haben bei Einbruch der Nacht das Gestade
Palästinas erreicht, wo sie der Zauberer von Ascona erwartet. In seinen Gruß-
worten erinnert er Rinaldo an seinen historischen Auftrag. Die Sünden, die
Rinaldo begangen hat – den zorngeleiteten Totschlag an dem christlichen Rit-
ter Gernando und die Preisgabe der Vernunft an die Sinneslust –, soll er durch
seine Bewährung im Kampf und durch den von Gott ihm vorbestimmten Ruhm
auslöschen.
Der folgende 18. Gesang ist dem Aufbruch Rinaldos vom Heerlager
Goffredos und dem Brechen des Zauberbanns gewidmet, der über dem Wald
liegt, in dem die Christen das Holz für ihre Kriegsgeräte schlagen. Allein ver-
lässt Rinaldo im Morgengrauen das Heerlager, um den Ölberg zu besteigen.
Rinaldos tiefer Demut im Gebet entspricht die gewaltige Schönheit der aufge-
henden Sonne, deren rötliches Licht sich auf seiner Rüstung und an den umge-
benden Hügeln spiegelt. Benetzt vom Tau des Himmels erglänzt Rinaldos
aschenfarbenes Gewand plötzlich in hellem, reinen Weiß:
La rugiada del ciel su le sue spoglie
cade, che parean cenere al colore,
a sí l’asperge che ’l pallor ne toglie
e induce in esse un lucido candore
(XVIII, 16, 1-4).
Die innere Verwandlung Rinaldos wird hier nicht nur durch ein äußeres (sicht-
bares) Zeichen – der Veränderung seiner Kleidung – verdeutlicht. Es ist dies
zugleich eine Reminiszenz an die Transfiguration Christi auf dem Berg Tabor,
wie sie das Matthäus-Evangelium erzählt.37 Die Veränderung des Gewandes
steht dabei für die unsichtbare, innere „glorificatio Christi“. Wenn sich Tasso
an dieser Stelle auf eine christologische Bedeutungsschicht bezieht, so wird
diese jedoch im literarischen Text keineswegs ausgespielt, sondern ist diesem
in ‚allegorischer‘ Opazität impliziert.38 Die christliche, transzendente Bedeu-
tung ist in den Episoden gleichsam eingeschlossen, ohne deren singulären,
punktuellen und intensiven Charakter zu sprengen.
In der Gerusalemme liberata entfaltet sich die epische Einheit in episodi-
scher Dynamik. Daher kann Tasso die Beschreibung von Rinaldos Reue und

37 Mt.17,1.
38 Im Zuge der konterreformistischen Zensur, legitimiert Tasso die Obskurität des poetischen
Textes über dessen allegorische Struktur. Vgl. Torquato Tasso: Giudicio sovra la „Geru-
salemme“ riformata, a cura di Claudio Gigante, Rom 2000, S. 18.
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs 163

Buße unmittelbar in die romaneske Darstellung seines Eindringens in den


Zauberwald überführen. Diese Szene ist intertextuell so aufgeladen, dass ihr
ästhetisch-artifizieller Charakter herausgestellt wird.39 Schon als Rinaldo sich
dem Wald nähert, hört er eine harmonische Melodie erklingen, in der viele
einzelne Stimmen – von Wind, Gewässern, Vögeln, Menschen und Instru-
menten – zusammenklingen. Eingedrungen in das Dickicht des Waldes, dessen
Artifizialität an Armidas Zauberreich erinnert, stößt er auf einen wunderlichen
Myrtenbaum, der die anderen Bäume überragt. Plötzlich beginnt sich der Myr-
tenbaum zu öffnen und entlässt das Scheinbild der geliebten Armida: „donna
mostrò ch’assomigliava a pieno / nel falso aspetto angelica beltade“ (XVIII,
30, 5-6). Wie in Armidas Zauberreich verbirgt auch hier die zum ästhetischen
Schein gewandelte Materie die ‚immanente Form‘ dämonischer Geister. Doch
Rinaldo lässt sich diesmal nicht betören. Er greift zum Schwert, um den Myr-
tenbaum zu fällen. Als der Baum gefällt ist, löst sich der Zauber, und der Wald
kehrt in seinen Naturzustand zurück.
Im Getümmel der Schlacht um Jerusalem kommt es im Schlussgesang zu
einem letzten Zusammentreffen von Armida und Rinaldo und zu einer prekä-
ren, eigenartig offenen Lösung des vorangegangenen Konflikts zwischen indi-
viduellem Liebesglück und geschichtlichem Auftrag. Rinaldo tritt inmitten des
feindlichen Heeres Armida entgegen. Schon legt sie einen Pfeil auf den Bogen,
um Rinaldo zu töten. Doch an Rinaldos Rüstung prallen die zu sanft gesende-
ten Pfeile ab. Nachdem die heidnischen Truppen besiegt sind, nimmt Rinaldo
die Verfolgung der flüchtenden Armida auf, bis er sie in einem dunklen Tal
einholt und umarmend festhält. Armida ist von einem tiefen inneren Zwiespalt
zerrissen. Schmerz und Freude über die Anwesenheit des Geliebten, Zorn und
Liebe, Furcht und Glück fallen in ‚einem‘ konträren Moment zusammen. Doch
Rinaldo schwört ihr ritterlichen Beistand und bittet sie um ihre Konversion
zum Christentum. Diese Schlussszene ist so oft als ‚Happy End‘ verstanden
worden, dass man vergisst, wie unpräzise und voller utopischer Zukunftsmusik
sie ist. Die prekäre Balance zwischen Heidentum und Christentum, Magie und
Wirklichkeit, Liebeswahn und Kriegsgewalt wird auch hier noch in der
Schwebe gehalten.
Das zweideutige Ende der Rinaldo-Handlung ist ein letztes Beispiel und
poetisches Bild für das verborgene Erzählprinzip der Gerusalemme liberata:
die Immanenz. Im Vielen ist das Eine expliziert, das Eine wiederum impliziert
das Viele. Diese Dialektik von Vielem und Einem vollzieht sich in pluralen,
episodischen Synthesen, die sich der ‚einen‘ Synthese des Werkes als Ganzem
einzeichnen, sie erschüttern und aufbrechen. Die geschlossene Struktur der

39 Auf Lukians Pharsalia als Hypotext der Zauberwald-Episode hat Vincenzo di Benedetto
hingewiesen (Gerusalemme liberata XVIII – tra storia e invenzione, in: Belfagor 42 [1987],
S. 570-580, hier: S. 575).
164 Katharina Münchberg

Gerusalemme liberata öffnet sich in ihrem Innern einer strukturlosen Dyna-


mik. Die Struktur wird zum Ereignis, zur ästhetischen Setzung des Kunst-
werks, das die Unbedingtheit dieser Setzung zugleich widerruft.

IV

Tassos Gerusalemme liberata erzählt vom Sieg des Christentums über das
Heidentum, des Epos’ über den Romanzo, des Einen über das Viele. Doch
diese hierarchische Opposition wird immer wieder durchbrochen. Tassos Er-
neuerung des Epos’ stellt keine Restitution einer ideologischen Ordnung des
Einen dar, die im Bann ihres unwiederbringlichen Verlustes nochmals aufgeru-
fen und im Medium der Kunst erneut inszeniert würde. Sie bedeutet im Ge-
genteil eine Öffnung auf das Viele, Singuläre und Differente. Im Feld des
Ästhetischen reflektiert die Gerusalemme liberata somit jene theoretische
Figur, die Tasso im Feld des neuplatonischen Denkens entdeckte: die der
diskordanten Konkordanz. Es ist die Formel der Immanenz, unter welche die
Kategorien von Einheit und Vielheit ‚gemeinsam‘ fallen, ohne ihre ‚konträre
Spannung‘ zu verlieren.
Dass Immanenz von einer metaphysischen zu einer ästhetischen (Denk-)
Figur wird, geschieht nicht zufällig in einer Epoche, in der die wieder ent-
deckte Aristotelische Poetik die Folie für das neue Reflexiv-Werden der Lite-
ratur bildete. Das Paradigma der Repräsentation, das für die mittelalterliche
und nachmittelalterliche Literatur gültig war und diese unter das Zeichen des
‚Sich-Darstellens‘ eines transzendenten Sinns stellte, der im Grunde undar-
stellbar bleiben musste, wird abgelöst durch das Paradigma einer neu verstan-
denen, ästhetisch besetzten Repräsentation. Bereits in Ariosts Orlando furioso,
jenem großartigen, vielschichtigen und verwirrenden Romanzo, ist es nicht
mehr ein transzendenter Sinn, sondern sind es die Verknüpfungen des Imagi-
nären, die zum Ariadnefaden in den labyrinthischen Verzweigungen der Er-
zählung werden.
Bei Ariost fügt sich die Vielfalt der Erzählmomente durch das Imaginäre
zu einer poetischen Synthese. Doch erst Tassos Restriktion der Pluralität des
Romanzo und die Rückbindung des Imaginären an die Einheit des epischen
Gedichts erlaubt die Entdeckung der Immanenz als eines Grundbegriffs und
einer Grundfigur des Ästhetischen. Erst Tassos so restaurativ erscheinendes
Epos agiert das doppelte Profil der Immanenz aus: ihr Innen und ihr Außen,
ihren imaginär besetzten Schein und ihr ästhetisches Sein.
In der modernen Literaturtheorie sind die geschichtlichen Spuren dieser
Entdeckung nicht mehr sichtbar. Dennoch kehren die Probleme wieder, die
bereits Tasso zur unruhevollen Auseinandersetzung mit der Aristotelischen
Poetik trieben und die er nicht anders zu lösen vermochte als mit einer zwei-
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs 165

deutigen Umbesetzung ihrer Begriffe. Jenseits ihres historischen Kontextes –


des unausgesprochenen Streites zwischen Aristotelischer Dichtungslehre und
Neuplatonischer Seinslehre – sind Tassos Literatur-Theorie und ihre literari-
sche Reflexion in der Gerusalemme liberata ein leitendes Beispiel für die
Fragen, die sich bei einem ‚überhistorischen‘ Blick auf die Literatur stellen.
‚Immanenz‘ ist ein Begriff, der in der literaturtheoretischen Debatte des
20. Jahrhunderts – sei es im substantialistischen (Croce und Staiger), sei es im
formalistisch-strukturalistischen (Lotman) Lager – mit einer Reihe von frag-
würdigen Prämissen belegt wird. Bedeutet Immanenz die Selbst-Setzung des
Kunstwerks? Wie aber kann das Kunstwerk sich selbst setzen? Schließt nicht
eine solche Setzung zugleich eine setzungslose Dialektik ein, eine Bewegung
zwischen These und Anti-These, zwischen Werk und Wirklichkeit, zwischen
Form und Materie? Und kann die Synthese aus diesen Gegensätzen nicht nur
eine aporetische Synthese sein, eine unmögliche Synthese, die an ihren meta-
physischen Grund-Oppositionen scheitern muss?
Im gegenläufigen Spiel von Setzung und ihrer dialektischen Aushöhlung
erweist sich das ästhetische Werk (erweist sich Tassos Werk) als ein Ereignis.
Was heißt Ereignis? Es ist das Aufscheinen eines potentiellen Sinns, vorhan-
den in den Relationen der Zeichen, der sich dennoch nie aktualisiert. Es ist die
Eröffnung einer potentiellen Form, die sich in der Materialität der Sprache
herauskristallisiert und doch nie eine definitive Gestalt annimmt. Das Ereignis
ist ein unendliches Übergehen, Überschreiten und Durchkreuzen der Grenzen,
in denen es sich vollzieht. Es ist nicht der Sinn und nicht das Zeichen, nicht die
Form und nicht die Materie, sondern deren Ineinander-Greifen: Es ist die dia-
lektische Bewegung der Immanenz. Über seine Grenzen von Innen und Außen
hinweg ermöglicht das Kunstwerk das Ereignis der Immanenz.
Der Tiefenhorizont der Potentialität, in welchem sich das Ereignis der
Immanenz abspielt, lässt sich mit den Mitteln der strukturalen Analyse weder
beschreiben noch erkennen. Er entzieht sich dem Theorie-Paradigma der
Struktur. Zwar hat das Kunstwerk die Möglichkeit, seine strukturelle Oberflä-
che offen zu legen, doch durchschlägt es sie zugleich und muss seiner inneren
Verdichtung Raum geben, die potentiell bleibt und allein in einer endlosen
Reihe ‚imaginärer Synthesen‘ hervortritt.40 Das Kunstwerk – in seiner verdich-
teten, poetischen Potentialität – öffnet sich einer strukturlosen Bewegung, die
zwischen den singulären Elementen, den poetischen Bildern und Figuren hin-
und hergeht, ohne eine Konfiguration aufzuzeichnen, die nicht auch Defigura-
tion ist, ohne eine Zentrierung zu produzieren, die nicht auch Dezentrierung

40 Zum Imaginären als Korrelat der ästhetischen Immanenz vgl. Karlheinz Stierle: Die Ab-
solutheit des Ästhetischen und seine Geschichtlichkeit, in: ders.: Ästhetische Rationalität –
Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997, S. 42-64, hier: S. 53.
166 Katharina Münchberg

ist. Je mehr das Ereignis der Immanenz sich aber in der Tiefe der ästhetischen
Potentialität abspielt, desto weniger kann es durch eine andere, fremde Ord-
nung der Sprache oder des Seins erfasst werden. Immanenz, ein Residuum der
Metaphysik, ist sich im Feld der ästhetischen Theorie fremd. Dennoch ist Im-
manenz eine Kategorie, die wie keine andere das Ästhetische bezeichnet. Sie
ist es deshalb, weil hier der unausgesprochene Impetus ästhetischer Werke –
ein Kunstwerk als Kunstwerk zu sein – als dessen Selbstwiderspruch (nicht als
dessen Selbstreflexion) und dessen Möglichkeit (nicht dessen Wirklichkeit) in
den Blick der Theorie tritt.
BRIGITTE KAPPL

‚Exemplar vitae‘ – Der Gegenstand von Dichtung bei


Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento

Es dürfte kaum eine Epoche der europäischen Geistesgeschichte geben, in der


die Frage, wie Literatur zu bestimmen sei, so virulent gewesen ist wie im 16.
Jahrhundert in Italien, und nicht zu Unrecht ist das Cinquecento deshalb als
„Age of Criticism“ bezeichnet worden.1 Die Literaturtheorie dieser Zeit beein-
druckt nicht nur durch ihren bloßen Umfang – das Verzeichnis der Primärlite-
ratur in Weinbergs Standardwerk The History of literary criticism in the Italian
Renaissance füllt 42 Seiten –, sondern auch durch die inhaltliche Breite und
Intensität der Diskussion, was ihr eine durchschlagende Wirkung auf die Fol-
gezeit beschert hat: Die gesamte europäische Poetik bis ins 18. Jahrhundert,
insbesondere die Doctrine classique in Frankreich, ist ihr verpflichtet, und
selbst in gegenläufigen Bewegungen wie der Genieästhetik lebt sie als Feind-
bild fort.
Der strahlende Leitstern in der weit verzweigten Diskussion des Secondo
Cinquecento ist die Poetik des Aristoteles – selbst Scaliger, der in seinen ein-
flussreichen Poetices libri septem Aristoteles häufig kritisiert, tituliert den
griechischen Philosophen als „imperator noster, omnium bonarum artium dic-
tator perpetuus“.2 Zwischen 1548 und 1575 entstehen fünf große Kommentare
zur Poetik des Aristoteles,3 daneben eine Fülle von eigenständigen Traktaten,
die mehr oder weniger stark auf sie rekurrieren.
Dass die Rezeption des Aristotelestextes mit einer tief greifenden Verän-
derung in zentralen Aspekten der Theorie einhergeht, kann mittlerweile als
‚communis opinio‘ der Forschung gelten; die Beschreibung dieser Verände-

1 So der Titel einer wichtigen Monographie zum Thema: Baxter Hathaway: The Age of Criti-
cism: The Late Renaissance in Italy, Ithaca, New York 1962.
2 Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem, Neudruck der Ausgabe von 1561, eingel. von
August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 359.
3 Francesco Robortello: Explicationes in Librum Aristotelis, qui inscribitur De Poetica (1548),
München 1968, Vincenzo Maggi u. Bartolomeo Lombardi: In Aristotelis Librum De Poetica
Communes Explanationes (1550), München 1969, Pietro Vettori: Commentarii in Primum
Librum Aristotelis de Arte Poetarum (1560), München 1967, Lodovico Castelvetro: Poetica
d´ Aristotele Vulgarizzata e Sposta, hg. von Werther Romani, 2 Bde., Roma u. Bari 1978f.,
Alessandro Piccolomini: Annotationi nel libro della Poetica d´Aristotele, Vinegia 1575.
168 Brigitte Kappl

rung bedarf jedoch der Präzisierung, weil sie ihrerseits auf einem einseitigen
Aristotelesverständnis beruht. Aristoteles wird nämlich in der Regel als Expo-
nent einer ‚ästhetischen‘ Dichtungskonzeption vereinnahmt, die dem literari-
schen Werk einen autonomen Status zubilligt und allein nach den internen
Strukturmerkmalen des ästhetischen Gebildes fragt. Demgegenüber binde die
Theorie des Cinquecento die Dichtung an ihr äußerliche Kriterien, indem sie
ihr eine moralische Zwecksetzung aufoktroyiere und sie auf rational erfassbare
Regeln festlege. Rhetorisierung, Rationalisierung, Moralisierung – so lautet die
Diagnose, mit der die Literaturtheorie der Renaissance meist sofort als unheil-
barer Patient ins Sterbezimmer abgeschoben wird.4
Tatsächlich müsste aber nach diesen Kriterien Aristoteles selbst ein ähnli-
ches Verdikt treffen.5 Denn auch seine Poetik ist um die Formulierung rational
fassbarer Kriterien für den dichterischen Produktionsprozess bemüht. Dass
ferner Kunst grundsätzlich von ethischer Relevanz ist, kommt nicht nur im
achten Buch der Aristotelischen Politik zum Ausdruck; auch in der Poetik wird
eine ethische Dimension von Dichtung deutlich: Gegenstand von Dichtung ist
das Handeln von Menschen, das zu Glück oder Unglück führt, und erst der
erkennende Mitvollzug der Handlung auf Seiten der Zuschauer löst die ent-
sprechenden Emotionen aus. Die emotionale Wirkung der Dichtung beruht
also auf einer bestimmten Art von Erkenntnis, die sich auf ethisch relevante
Gegenstände bezieht. Und schließlich erklärt Aristoteles die Dichtung auch
nicht zu einer ‚ontologiefreien Zone‘.
Auch wenn der Dichter sich nicht an einer äußeren Wahrscheinlichkeit o-
der an den Bedürfnissen des Publikums orientiert, schafft er doch mitnichten
eine autonome Welt, die von den Gesetzen der Realität unabhängig wäre.
Denn wenn er versucht, einen Charakter in seinen Äußerungen und Handlun-
gen möglichst prägnant herauszuarbeiten, so dass in einer Szene zum Vor-
schein kommt, wes Geistes Kind einer ist – eben dies ist bei Aristoteles die
Aufgabe des Dichters –, geht er gerade dem faktischen Handeln der Menschen
auf den Grund; er entführt den Leser nicht in eine andere, schönere Welt, son-
dern erschließt ihm seine eigene.

4 Vgl. z.B. Daniel Javitch: The assimilation of Aristotle´s Poetics in sixteenth-century Italy, in:
The Cambridge History of Literary Criticism, hg. von Glyn Norton, Cambridge 1999, S. 53-
65, hier: S. 56 und S. 58, August Buck: Dichtungslehren der Renaissance und des Barock, in:
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 9, hg. von August Buck, Frankfurt a.M.
1972, S. 28-65, hier: S. 42f. und S. 45, Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in
the Italian Renaissance, 2 Bde., Chicago 1961, Bd. 1, S. 350-352, ebenso Danilo Aguzzi-
Barbagli: Humanism and Poetics, in: Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Leg-
acy, hg. von Albert Rabil Jr., Bd. 3: Humanism and the Disciplines, Philadelphia 1988, S. 85-
169, hier: S. 108 und S. 112f.
5 In der Tat schätzt z.B. Galvano della Volpe die Aristotelische Poetik als rationalistische
Theorie (gegenüber idealistisch-romantischen Ansätzen) ein – er wertet dies allerdings posi-
tiv, vgl. Galvano della Volpe: Poetica del Cinquecento, Bari 1954, S. 20-25.
Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten 169

Es ist deshalb nicht statthaft, die Entwicklung der Poetik von Aristoteles
hin zu seinen Renaissance-Kommentatoren auf den Gegensatz Autonomie –
Außenbezug, ästhetisch – ethisch oder ähnliches zu reduzieren. Im Folgenden
soll nun versucht werden, einige Aspekte des Wandels unter Verzicht auf diese
oben genannten Kategorien zu beschreiben. Im Mittelpunkt wird dabei die
Frage nach dem Gegenstand der Dichtung und nach ihrem Verhältnis zur Rea-
lität stehen. Dazu soll zunächst die aristotelische Position skizziert6 und dann
vor diesem Hintergrund einige charakteristische Konturen der Renaissance-
deutung sichtbar gemacht werden.7
Am Anfang der Poetik bezeichnet Aristoteles die spezifische Leistung
(dúnamiß) der Dichtung als Nachahmung (mímhsiß),8 und zwar, wie es im
zweiten Kapitel heißt, als Nachahmung menschlichen Handelns.9 Für die Fra-
ge, welchen Sinn der Begriff Mimesis in der Poetik hat, ist das vierte Kapitel
grundlegend. Aristoteles nennt dort folgende Ursachen für die Entstehung der
Dichtung: Der Mensch sei mehr als alle anderen Lebewesen zur Mimesis befä-
higt, und auch die Kinder lernten zunächst durch Mimesis. Außerdem freuten
sich die Menschen über Nachgeahmtes (mimëmata). Und diese Freude deutet
Aristoteles als Freude am Lernen. So betrachteten wir sogar die treffende Dar-
stellung von Dingen, vor denen wir in der Realität Abscheu empfänden, mit
einer gewissen Lust, weil wir mit Hilfe der Darstellung die Sache besonders
gut erkennen könnten.10
Gelungene Mimesis vermittelt also Erkenntnis. Grundsätzlich erkennt man
eine Sache dann, wenn man weiß, was immer und nur zu genau dieser Sache
gehört, das heißt wenn man ihre sachliche Bestimmtheit (eÎdoß) erkennt. Für
den Dichter, dessen Gegenstand menschliches Handeln ist, bedeutet das: Er
muss Handeln so darstellen, dass es durchsichtig wird auf sein Bestimmtsein
hin. Seine Bestimmtheit erhält das Handeln aber nach Aristoteles dadurch,
dass es Äußerung eines in bestimmter Weise profilierten Charakter ist und dass
sich in ihm zeigt, was ein Mensch vorzieht oder meidet.
Im Unterschied zum Philosophen beschäftigt sich der Dichter nicht mit
den charakterlichen Prämissen als solchen und der Frage, inwiefern sie Aus-
formungen menschlicher Seelenvermögen im Allgemeinen sind, sondern er
zeichnet konkrete Handlungsverläufe. Aber er tut dies in der Weise, dass die

6 In meiner Skizze folge ich der Aristoteles-Interpretation von Arbogast Schmitt: Die Literatur
und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas Buchheim u.a. (Hg.): Kann man
heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, S. 184-219.
7 Zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Poetikkommentaren des Cinquecento, die
auch die Hamartia- und Katharsisproblematik einbezieht, siehe Verf.: Die Poetik des Aristo-
teles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Diss. Marburg 2001.
8 Aristoteles: Poetik, 1447 a8-16.
9 Ebd., 1448 a1. Vgl. 1449b 24 und 36f.
10 Ebd., 1448 b4-17.
170 Brigitte Kappl

Handlung aus den charakterlichen Anlagen der Agierenden heraus verständlich


werden; nur ein solches Handeln ist bei Aristoteles im eigentlichen Sinne
menschliches Handeln.11
Der skizzierte Zusammenhang von Charakter und Handlung ist von funda-
mentaler Bedeutung für das Aristotelische Dichtungsverständnis. Erst von
dieser Basis aus gewinnen die Begriffe, die Aristoteles im wichtigen neunten
Kapitel der Poetik zur Bestimmung der Aufgabe des Dichters gebraucht, ihren
Sinn. „Nicht das zu sagen, was geschehen ist, ist die spezifische Aufgabe (Ér-
gon) des Dichters“, heißt es dort, „sondern das, was geschehen könnte, und das
Mögliche, wie es wahrscheinlich oder notwendig ist.“12 Aus diesem Grund sei
die Dichtung auch „philosophischer“ als die Geschichtsschreibung; denn mehr
als diese stelle sie ein „Allgemeines“ (kaqólou) dar.13 Und dieses Allgemeine
bestehe darin, dass „es dem in bestimmter Weise Beschaffenen zukommt, in
bestimmter Weise zu reden oder zu handeln, wie es wahrscheinlich oder not-
wendig ist.“14
Schon die Formulierung dieses Satzes weist darauf hin, dass „Wahrschein-
lichkeit“ und „Notwendigkeit“ das Verhältnis zwischen einem Charakter und
seinen Handlungen beschreiben, nicht etwa eine statistischen Erhebungen oder
Naturgesetzen gehorchende Abfolgen äußerer Ereignisse. Gleiches gilt für den
Begriff des Möglichen: Er sagt in diesem Kontext nicht aus, dass ein Ereignis
keinem der Naturgesetze zuwiderläuft und deshalb im Bereich des überhaupt
Möglichen liegt, sondern bezeichnet das einem bestimmten Charakter Mögli-
che.15 Ein Charakter lässt sich ja beschreiben als ein relativ stabiles, komplexes
System von Vorlieben und Abneigungen, die ein Mensch im Laufe seines
Lebens durch Übung, Erfahrung, Bildung usw. erworben hat.16 Diese allgemei-
nen Handlungstendenzen stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die
Einzelhandlungen realisieren können. Das Profil eines Charakters eröffnet so
die für ein Individuum spezifischen Handlungsmöglichkeiten – und es macht
zugleich ein konkretes Handeln in einer gegebenen Situation wahrscheinlich
oder sogar notwendig. Wer sich zum Beispiel über Jahre hinweg eine Neigung
zu süßen Speisen angeeignet hat, wird im Café eher zur Sachertorte greifen als
zu den Käsehäppchen, es sei denn, andere Prämissen, beispielsweise diejenige,
nicht als Schlemmer gelten zu wollen, stehen dagegen.
Es wird im neunten Kapitel folglich nicht das historisch Faktische als Ge-
genstand der Geschichtsschreibung der möglichen und damit plausiblen Fik-

11 Zu diesem prägnanten Handlungsbegriff vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand
(Anm. 6), S. 202ff.
12 Aristoteles: Poetik, 1451 a36-38.
13 Ebd., 1451 b5-7.
14 Ebd., 1451 b8f.
15 Vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 6), S. 205ff.
16 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1103 a14-26.
Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten 171

tion der Dichtung gegenübergestellt. Der Dichter darf durchaus, wie Aristote-
les wenig später ausdrücklich sagt, tatsächlich Geschehenes aufgreifen, vor-
ausgesetzt, es genügt den genannten Anforderungen.17 Die Darstellung von
Handlung, die die Handlung als Äußerung eines Charakters begreifbar macht,
ist insofern zugleich die Darstellung eines Allgemeinen, als das charakterliche
Profil selbst etwas Allgemeines gegenüber den konkreten Handlungen ist:18
Derselbe Habitus ‚Tapferkeit‘ kann sich in vielen verschiedenen, ja sogar ge-
gensätzlichen Einzelhandlungen verwirklichen. Es kann Zeichen von Tapfer-
keit sein, vor einem Feind standzuhalten; es kann aber auch Zeichen von Tap-
ferkeit sein, die Flucht zu ergreifen, zum Beispiel wenn ein Panzer auf mich
zurollt und ich nicht James Bond heiße. Dennoch ist es derselbe, klar unter-
scheidbare Habitus, der in all diesen Handlungen wirksam ist.
Im Hinblick auf die Renaissancekommentare gilt es dabei festzuhalten,
dass Aristoteles nirgends andeutet, „der in bestimmter Weise Beschaffene“ sei
ein Typus, etwa der typische Sklave, oder ein Ideal. Das Gebot der Wahr-
scheinlichkeit erfordert nicht die Konformität mit einem Standard, sondern die
Plausibilität einer Handlung als Handlung genau dieses Individuums. Und
wenn Aristoteles der Dichtung im Vergleich zur Geschichtsschreibung das
Prädikat ‚philosophischer‘ zuerkennt, dann nicht deshalb, weil ihre Figuren
Inkarnationen ‚der‘ Tapferkeit oder ‚der‘ Klugheit schlechthin seien, sondern
deshalb, weil in ihr das offen gelegt wird, was das konkrete Handeln eines
Individuums zu dem macht, was es ist.19 In der Vermittlung einer so gearteten
Erkenntnis besteht das Proprium der Dichtung; weder die subjektiv überzeu-
gende Gestaltung einer möglichen Fiktion noch formalästhetische Kriterien
wie die Verwendung einer besonderen Sprache sind geeignet, diese Eigenart
zu beschreiben: „Der Dichter ist Dichter kraft Mimesis“.20
1548 erschienen die Explicationes zur Aristotelischen Poetik von Fran-
cesco Robortello. Als der erste neuzeitliche Kommentar des Textes setzten die
Explicationes den Maßstab für die weitere Diskussion. Robortello stellt an den
Beginn seiner Erklärungen eine Systematik aller Künste, die sich der Sprache
bedienen, geordnet nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit. Auf dem letzten Platz
in dieser Liste, die angeführt wird von der Beweiskunst, rangiert die Dicht-
kunst; ihr Gegenstand, so Robortello, ist das Falsche oder Märchenhafte („fal-
sum seu fabulosum“).21 Dichtung ist erfundene, falsche, ja lügnerische Rede
(„oratio ficta et fabulosa / falsa seu fabulosa et mendaciorum plena“).22 Wäh-
rend die Geschichtsschreibung wahre Handlungen (actiones verae) wiedergibt,

17 Aristoteles: Poetik, 1451 b29-32.


18 Vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 6), S. 193f.
19 Ebd., S. 191f.
20 Aristoteles: Poetik, 1451 b27-29.
21 Robortello: Explicationes (Anm. 3) , S. 1.
22 Ebd., S. 2.
172 Brigitte Kappl

so Robortello in seinem Kommentar zum neunten Kapitel, entfernt sich der


Dichter von dieser Wahrheit des Faktischen, er erfindet: ‚confingit‘ (bzw.
erfindet hinzu).23 Die Leistung des Dichters besteht folgerichtig darin, auf
angemessene Weise zu lügen („mendacia apte confingere“)24. Mit diesem
Eröffnungszug sind für den Rest der Partie bereits die entscheidenden Züge
vorgezeichnet. Denn mit der Bestimmung der Dichtung als Sprache, die Un-
wahres zum Ausdruck bringt, tritt sofort das Problem der Legitimität und der
Glaubwürdigkeit solcher Lügen auf den Plan. Auf angemessene Weise lügen
muss deshalb heißen: so lügen, dass das Erfundene glaubhaft ist.
Obwohl also das Fiktive das eigentliche Metier des Dichters ist, darf er
nicht munter ‚drauflosphantasieren‘ und Kühe durch die Landschaft fliegen
lassen. Nicht jede Art von Fiktion ist dem Dichter gestattet, sondern nur dieje-
nige, die Glauben beanspruchen kann.25 Glaubwürdig wiederum ist das, was
nicht dem empirisch Gegebenen entspricht, genau dann, wenn es diesem empi-
risch Gegebenen ähnelt.
Man befindet sich also in der paradoxen Situation, dass einerseits die Ab-
weichung vom Faktischen zum Wesen der Dichtung erklärt wird, andererseits
diese Abweichung legitimiert werden muss durch eine möglichst große Ähn-
lichkeit mit dem Faktischen. Besonders deutlich tritt dieser Ansatz im Kom-
mentar des Lodovico Castelvetro hervor, der in erster Auflage 1570 in Wien
herausgegeben wurde. Dichtung und Geschichtsschreibung unterscheiden sich
dadurch, dass diese ihren Gegenstand vorfindet, jene ihn erst erschafft.26 Den-
noch bleibt das Geschaffene strikt auf die ihm zugrunde liegende empirische
Wirklichkeit bezogen: Dichtung ist in den Worten Castelvetros nichts anderes
als Abbild der Historie („similitudine o rassomiglianza dell´istoria“).27
Es ist nicht schwer zu erraten, welche Bedeutung in diesem Kontext die
von Aristoteles gebrauchten Begriffe ‚Mögliches‘, ‚Wahrscheinliches‘ und
‚Notwendiges‘ erhalten. Während sie bei Aristoteles, wie gesehen, in der
Poetik das Verhältnis zwischen einem bestimmten Charakter und seinen Äuße-
rungen beschreiben, werden sie jetzt zu Kriterien gelungener, weil glaubwür-
diger Fiktion. Das Erfundene muss wahrscheinlich oder notwendig sein (damit
ist es zugleich möglich), das heißt dem entsprechen, was in der Regel ge-
schieht oder von den Naturgesetzen erzwungen ist. Wer am Kopf verwundet
wird, stirbt in der Regel, wer am Herzen verwundet wird, stirbt notwendig, so

23 Ebd., S. 86f. Vgl. S. 96f.: „poietes est, qui poiei, idest fingit. Quatenus igitur fingit in rebus
verisque actionibus vel ipsas augens vel exornans ex versimili, neque narrans sicuti sese ha-
bent, ex hoc satis patet esse poetam.“
24 Ebd., S. 2.
25 Ebd., S. 2 und S. 87.
26 Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 44 und S. 94; vgl. auch S. 240 und S. 289.
27 Ebd., S. 46; vgl. S. 13f.
Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten 173

das Beispiel bei Castelvetro.28 Weil Dichtung sich gegenüber der Geschichts-
schreibung durch ihre Fiktivität definiert, müssen die von ihr dargestellten
Handlungen zumindest möglich sein. Die so verstandene Möglichkeit (possi-
bilità) avanciert bei Castelvetro folglich zum Wesensmerkmal des Plots.29 Ein
Ergebnis dieser Verpflichtung der Dichter auf Wahrscheinlichkeit im Ablauf
des Geschehens ist unter anderem die berühmt-berüchtigte Lehre von den drei
Einheiten – der Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung –, wie sie zuerst
von Castelvetro formuliert worden ist. Obwohl Aristoteles nur von der Einheit
der Handlung spricht – und auch dies nicht im Sinne einer wahrscheinlichen
Geschehensfolge,30 geistert diese Trinität fortan als aristotelische Vorschrift
durch die Literaturtheorie.31 Da die Bühnenhandlung für reale Handlung steht,
dürfen Aufführungsdauer und Echtzeit Castelvetro zufolge nicht auseinander
fallen; der Ort ist durch die Dimensionen der Bühne abgesteckt.32 Erst daraus
folgt die Einheit der Handlung.33 Auch bei anderen Autoren findet sich der
Hinweis, der Bühnendichter solle plötzliche Ortswechsel und Zeitsprünge
vermeiden, um die Glaubwürdigkeit zu gewährleisten.34
Bezogen auf das Handeln von Charakteren heißt Wahrscheinlichkeit die
Übereinstimmung mit typischen Verhaltensmustern bestimmter Personenklas-
sen. Dass Dido Selbstmord begeht, ist zum Beispiel in den Augen Robortellos
wahrscheinlich, weil sitzen gelassene Frauen eben in aller Regel zu Radikallö-
sungen neigen.35 Sklaven sind grundsätzlich betrügerisch, alte Männer geizig
etc. In der wohl berühmtesten Poetik des Cinquecento, den bereits erwähnten
Poetices libri septem des Julius Caesar Scaliger, findet sich folgende Charakte-
ristik der Frau an sich: „Die Frau ist unzuverlässig, mißtrauisch, wankelmütig,
hinterhältig, heuchlerisch, abergläubisch. Wenn sie über Macht verfügt, wird
sie unerträglich [...] Sie wagt alles, aber nicht aus Tapferkeit und richtiger
Einschätzung der Situation, sondern aus Wahn und verkehrtem Urteil heraus“
usw. Scaliger kennt freilich auch weibliche Tugend: Keuschheit und Schamge-

28 Ebd., S. 251.
29 Sie ist die „sostanzia della favola“, ebd., S. 247. Die unter anderen von Robortello und
Castelvetro bezogene Position, Gegenstand der Dichtung sei das Falsche bzw. Fiktive, bleibt
nicht unwidersprochen. Aber auch die Autoren, die die Alternative faktisch – fiktiv ablehnen,
wie Piccolomini oder Tasso, sind peinlich auf Wahrscheinlichkeit im erläuterten Sinne be-
dacht.
30 Vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 6), S. 203f.
31 Zur Geschichte der drei Einheiten vgl. Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersu-
chungen über die Theorie der Tragödie, Frankfurt a.M. 1940, S. 286-308.
32 Castelvetro: Poetica (Anm. 3), S. 148f. und S. 220f.
33 Ebd., S. 240f.
34 Vgl. Maggi u. Lombardi: In Aristotelis Librum (Anm. 3), S. 94; Julius Caesar Scaliger:
Poetices libri septem, hg. von Luc Deitz, Bd. 2 , Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 28 und S.
30.
35 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 83.
174 Brigitte Kappl

fühl, im Haushalt Sorgfalt, Fleiß, Sparsamkeit. Vergil habe sich bei der Zeich-
nung der Frauen an dieses Schema gehalten und sich somit auch in diesem
Punkt als das Maß aller Dinge in Sachen Dichtung erwiesen.36 Es ist die aus
der Antike stammende Lehre vom Decorum, dem Angemessenen, die hier in
‚poetologisches Kleingeld‘ umgemünzt wird. In die Poetik des Cinquecento
findet sie Eingang vor allem durch Horaz, dessen Ars poetica immer wieder
zur Erklärung des schwierigen Aristotelestextes herangezogen wird.37 Gleich
zu Beginn wird dort die zentrale Rolle des Decorum begründet, wenn es heißt,
der Dichter habe zwar die Lizenz zum Fingieren, aber nicht in der Weise, dass
er Tiger mit Lämmern paaren dürfe.38 An späterer Stelle schreibt Horaz, der
Dichter müsse die charakteristischen Merkmale jeder Altersstufe beachten, und
liefert eine Reihe von Beispielen, wie Kinder, Jugendliche, Erwachsene und
Alte sich typischerweise geben. Ebenso müssten Stand, Beruf und Herkunft
berücksichtigt werden.39 In der Renaissance wird das solchermaßen bei Horaz
Angelegte zu einem Regelwerk weiterentwickelt. So liefert Castelvetro, der
eine ausgeprägte Schwäche für Systematik hat, eine umfassende Liste von
Kategorien (Geschlecht, Alter, soziale Stellung etc.), mit denen je bestimmte
Merkmale identifiziert werden und durch deren Mischung jede beliebige Figur
erzeugt werden könne.40
In diesen Zusammenhang wird nun auch die Aussage des Aristoteles ein-
bezogen, die Dichtung stelle etwas Allgemeines dar und sei deshalb philoso-
phischer als die Historiographie. Vettori und Castelvetro identifizieren die dem
Decorum entsprechenden Verhaltensmuster unmittelbar mit dem ‚katholou‘
der Poetik: Sofern es sich um typische Verhaltensweisen handelt, sind sie auch
allgemein zu nennen, weil sie auf viele zutreffen können.41 Die meisten Theo-
retiker gehen allerdings noch einen Schritt weiter. So erklärt Robortello, einem
humanistischen Topos folgend, Dichtung habe eine positive moralische Wir-
kung, weil sie Exempel guten und schlechten Handelns statuiere und so die
Rezipienten zur Tugend ansporne bzw. vom Laster abschrecke.42 Der Dichter
ist deshalb gehalten, seine Charaktere zum Guten (oder zum Schlechten) hin
zu stilisieren. Im Gegensatz zum Geschichtsschreiber, der zum Beispiel von
einem real existierenden König berichtet, lässt der Dichter den idealen König

36 Scaliger: Poetices (Anm. 34), S. 180-190.


37 Der ‚Entdeckung‘ der Aristotelischen Poetik ging eine intensive Beschäftigung mit der Ars
Poetica des Horaz voraus. Sie bildete, neben der rhetorischen Theorie, die Basis, von der
ausgehend der ‚neue‘ Text interpretiert wurde. Dazu grundlegend Marvin T. Herrick: The
Fusion of Horatian and Aristotelian Literary Criticism, 1531-1555, Urbana 1946.
38 Horaz: Ars poetica, vv. 1-13.
39 Ebd., vv. 154-178 und 114-118. Auch entsprechende Passagen aus der Rhetorik des Aristote-
les (II 12-17) werden hierher importiert, vgl. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 168.
40 Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 422f.
41 Vettori: Comentarii (Anm. 3), S. 94; Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 250.
42 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 3.
Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten 175

auftreten.43 Die Formulierung „was geschehen könnte“ (oˆa Àn génoito), die


Aristoteles im neunten Kapitel verwendet, wird unter der Feder Robortellos
kurzerhand zu „was geschehen sollte“ / „wie es hätte getan werden müssen“
(„[res] quales fieri oportet / ut geri debuerint“).44 Kurz darauf heißt es, der
Dichter solle „auf etwas Allgemeines und Gemeinsames schauen, wenn bei-
spielsweise das kluge Handeln des Odysseus dargestellt werden soll, so darf
man nicht in Betracht ziehen, was für ein Mensch Odysseus ist, sondern man
muss unter Vernachlässigung der besonderen Umstände zu einem Allgemeinen
übergehen und die Figur so bilden, wie die Philosophen einen in jeder Hinsicht
vollkommen Klugen zu beschreiben pflegen.“45 Was nach Aristoteles Aufgabe
des Dichters wäre: einen individuellen Charakter in für ihn spezifischen Äuße-
rungen zu zeigen, wird von Robortello zum Geschäft des Geschichtsschreibers
erklärt. Dieser schaue dort, wo er nicht unmittelbar das Faktische wiedergebe,
nämlich in der Komposition der Reden, darauf, dass er nicht von der Natur
desjenigen abweiche, von dem er berichtet.46 Der Dichter dagegen strebt bei
Robortello ein von allem Besonderen isoliertes abstraktes Ideal an.47
Wenn Robortello vom Dichter verlangt, er müsse auf ein Allgemeines
bzw. auf eine Idee schauen, so steht hier nicht nur Platons Sophistes, den Ro-
bortello ausdrücklich nennt, sondern auch eine Formulierung aus der Ars poe-
tica im Hintergrund. Auch Horaz fordert, „auf ein Idealbild des Lebens und
des Verhaltens zu schauen“ („respicere exemplar vitae morumque“).48 Die
Erwartung, der Dichter könne und solle Idealbilder zum Ausdruck bringen, ist
Allgemeingut in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Allenthalben wird
darauf verwiesen, dass Odysseus die vollkommene Verkörperung der Klugheit
sei und in Achill die Idee der Tapferkeit Gestalt gewonnen habe.49 In Aeneas
sieht Scaliger gar das Bild des perfekten Menschen überhaupt: „habemus igitur

43 Ebd., S. 87.
44 Ebd., S. 86.
45 „[R]espicere ad generale quoddam et commune, ut si sit effingendus prudens in rebus agendis
Ulysses, non qualis ipse sit esse considerandum, sed relicta circumstantia transeundum ad u-
niversale et effingendum esse, qualis prudens callidusque ab omni parte absolutus describi
solet a philosophis. Hinc Plato in Sophista de pictoribus ait, oportere illos semper ad ideam
respicere et pulchriora omnia pingere quam sint“ (ebd., S. 91).
46 „Historia [...] ita tamen confingit, ut non discedat a natura eorum hominum, quorum effingit
sermones et circa quos versatur“ (ebd.).
47 Zum Begriff des Allgemeinen bei Robortello und Scaliger vgl. Ulrike Zeuch: Das Allgemei-
ne als Gegenstand der Literatur – Scaligers Begriff des Allgemeinen und seine stoischen Prä-
missen, in: Poetica 34 (2002), S. 99-124.
48 Horaz: Ars poetica, vv.312-318.
49 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 181; Maggi u. Lombardi: In Aristotelis librum (Anm.
3), S. 175. Dabei wird es nötig, die problematischen Züge von Achills Charakter ‚wegzuer-
klären‘. Vgl. die Bemühungen im „Discorso“ des Giason Denores in: Trattati di Retorica e
Poetica del Cinquecento, hg. von Bernard Weinberg, 4 Bde., Bari 1970-1974, Bd. 3, S. 373-
419, hier: S. 383f.
176 Brigitte Kappl

uno in Aenea tamquam ideam illam Socraticam cuiuscumque personae.“50 Auf


dieser Basis wird der Dichtung von vielen Theoretikern eine besondere Digni-
tät zugesprochen. Sofern sie die Ideen selbst zur Anschauung bringt, ist sie
nicht nur philosophischer als die Geschichtsschreibung, sondern, da sie es in
sehr anschaulicher und mitreißender Form tut, noch höher zu bewerten als die
Philosophie, die mit ihren trockenen Beweisgängen die Herzen kalt lässt.51
Wenn man von diesem Punkt aus auf das von den Renaissancetheoretikern so
oft beschworene Wahrscheinlichkeitsgebot zurückblickt, scheint sich hier ein
gewisser Widerspruch aufzutun. War eben davon die Rede, die Dichtung müs-
se der Wahrscheinlichkeit Genüge tun, das heißt sich an dem orientieren, was
in der Regel so zu sein pflegt, so soll Dichtung nun Ausdruck eines Ideals sein
– und Ideale sind bekanntlich in dieser Welt eher selten.
Einige Autoren benennen dieses Problem und führen es einer Lösung zu,
die aufschlussreich ist dafür, wie die Autoren ‚Realität‘ verstehen. Alessandro
Piccolomini setzt im Proömium seines Poetikkommentars von 1575 die Be-
griffe ‚Wahrscheinliches‘ und ‚Allgemeines‘ (im Sinne des Idealen) mit der
Begründung gleich, dass die empirische Natur selbst auf Vollkommenheit hin
angelegt ist, de facto aber nur selten das in ihr Angelegte verwirklicht.52 Was
jetzt nur selten der Fall ist, wäre in einer optimalen Welt die Regel und damit
wahrscheinlich.53 In demselben Sinn schreibt Scaliger zum Verhältnis zwi-
schen Kunst und Natur: Die Natur enthält die Vollkommenheit in ihrem gan-
zen Umfang, aber sie kann sie aufgrund diverser störender Einflüsse nicht
verwirklichen. Das Kunstwerk ist aus diesem Grund der Natur voraus. Wäh-
rend es dieser nicht gelingt, in einem Individuum alle Vorzüge zu vereinen
(eine Frau hat vielleicht den perfekt geformten Mund, aber dafür eine ‚Knol-
lennase‘), ist der Dichter in der Lage, die „disiecta membra“ der Vollkommen-
heit in einer einzigen Figur zu versammeln.54
Pomponio Torelli findet in seinem Traktat über die Lyrik am Ausgang des
Jahrhunderts die vielleicht pointierteste Formulierung: Wer ein Ideal formt,

50 Scaliger: Poetices (Anm. 34), S. 176. Vgl. ebd., S. 140, wo Aeneas das Prädikat „perfectis-
simus“ erhält. Ähnlich Torquato Tasso: Discorsi dell´Arte Poetica e del Poema Eroico, hg.
von Luigi Poma, Bari 1964, S.155ff.
51 So schon Bartolommeo della Fonte in seiner Poetik (1490/92), siehe Charles Trinkaus: The
Unknown Quattrocento Poetics of Bartolommeo della Fonte, in: Studies in the Renaissance
13 (1966) S. 40-122, S. 101, Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 3f. und besonders Anto-
nio Sebastiano Minturno: De poeta (1559), München 1970, S. 12f., S. 38f. und S. 44. Es
klingt hier der antike Topos von der magischen Kraft der Poesie an. Für die Renaissance sind
insbesondere Ciceros Enkomion auf die Rhetorik zu Ungunsten der Philosophie aus De ora-
tore maßgeblich – die Gedanken werden einfach von der Redekunst auf die Dichtung über-
tragen – sowie Horazens Lob der Dichtung in seiner Ars poetica.
52 Piccolomini: Annotationi (Anm. 3), Proemio [S. 5].
53 Ebd., S. 154.
54 Scaliger: Poetices (Anm. 34), S. 310.
Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten 177

ahmt die Natur mehr nach als einer, der das faktisch Gegebene nachbildet.
„Denn am meisten ahmt der die Natur nach, der sich am meisten an ihre Inten-
tion angleicht, die in nichts anderem besteht als in der Vollkommenheit.“55 Die
Natur kommt nur in wenigen Fällen zu ihrem Ziel und damit zu sich selbst –
ein Beispiel für diesen seltenen Fall irdischer Vollkommenheit ist nach Torel-
lis Auffassung die Liebe zwischen Petrarca und seiner Laura gewesen;56 die
Kunst dagegen entpuppt sich, da sie die Natur zu ihrem Ziel kommen lässt, als
die natürlichste Natur. Sowohl der mürrische, geizige, pessimistische Alte als
auch der perfekte Held Aeneas können so als wahrscheinliche Charaktere
gelten – der Alte aus der Perspektive der Außenseite der Natur (natura natu-
rata), Aeneas aus der Perspektive ihrer Innenseite (natura naturans). In beiden
Fällen freilich bildet die empirische Natur das Richtmaß. Im einen Fall wird
das empirisch Gegebene zu einem Durchschnittswert abstrahiert, im anderen
Fall aus dem empirisch Gegebenen das ihm immanente Ideal extrahiert. Was
der Dichter zum Ausdruck bringt, liegt im Existenten – ein für allemal kodifi-
ziert – bereits vor, auch wenn es an der Oberfläche nicht vollständig sichtbar
wird, sondern allein dem Blick des Dichters zugänglich ist.
Aus der dargelegten Konzeption von Dichtung als Fiktion, die wahrschein-
lich ist und das im Einzelnen verborgene Ideal zur Anschauung bringt, ergeben
sich nun charakteristische Folgen und Probleme. So gilt plötzlich die Komödie
als privilegierte Form von Dichtung, weil sie im Gegensatz zu Epos und Tra-
gödie ihren Stoff gänzlich erfindet und ihre Charaktere am reinsten das Deco-
rum verkörpern. Es irritiert die Renaissanceinterpreten, dass Aristoteles dem
Dichter ausdrücklich erlaubt, auch historische Stoffe aufzugreifen.57 Der Un-
terschied zum Geschichtsschreiber scheint hier zu verschwinden. Man tröstet
sich deshalb mit dem Argument, der Dichter habe in der Ausgestaltung der
‚Episodia‘ noch genügend Spielraum, sein schöpferisches Ingenium unter
Beweis zu stellen.58 Da die Tragödie den Zuschauer außerdem zu unangeneh-
men Affekten bewegen solle, sei sie in besonderem Maße auf eine glaubwür-
dige Basis angewiesen, und da ihr Personal sich beispielsweise aus Königen
rekrutiere, erfundene Könige aber als unglaubwürdig erscheinen würden, sei
der Dichter geradezu gezwungen, historische Figuren aufzugreifen.59 Ebenso

55 Vgl. Pomponio Torelli: Trattato della poesia lirica [1594], in: Weinberg (Hg.): Trattati di
Retorica (Anm. 49), Bd. 4, S. 237-317, hier S. 289f.: „Questo provo perché si vien a immitar
l´Idea, ch´è più naturale che la particolar materia, e molto più immita la natura chi più
all´intenzion di quella s´accosta, ch´altro non è che la perfezione“.
56 Ebd., S. 304f.
57 Aristoteles: Poetik, 1451 b29-32.
58 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 86, S.89f. und S. 96f., Castelvetro: Poetica (Anm. 3),
Bd. 1, S. 101f., vgl. auch ebd., S. 286.
59 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 93; Vettori: Commentarii (Anm. 3), S. 96; Piccolomi-
ni: Annotationi (Anm. 3), S. 141-152.; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 4f.
178 Brigitte Kappl

wird es zum Problem, dass das antike Epos von extrem unwahrscheinlichen
Dingen wie Zyklopen, Sirenen oder in Nymphen verwandelten Schiffen be-
völkert wird und derlei Staunen Erregendes auch nach Meinung der Renais-
sancekritiker ein wesentliches Ingrediens der Dichtung darstellt. Der Wahr-
scheinlichkeitsbegriff wird deshalb erweitert durch Bezugnahme auf die Dis-
position des Publikums. Wahrscheinlich sei, was einem bestimmten Publikum
wahrscheinlich erscheint. Da aber dem Weltbild der Leute Fabelwesen und
göttliche Handlungen, die jedes menschliche Maß übersteigen, nicht fremd
seien, dürfe der Dichter Derartiges in sein Werk aufnehmen.60
Die am weitesten reichenden Konsequenzen zieht der Glaube nach sich,
die Natur selbst gebe in dem, was sie ihrem Innersten nach ist, ein für alle
Zeiten gültiges Ideal vor, das sich in Regeln fassen lässt.61 Nach Aristoteles
gliche das dem Versuch, beispielsweise einen Mahagonitisch mit einer Bein-
höhe von 70 cm und einer Tischplatte der Größe 60 x 150 cm zum idealen
Tisch zu erklären und sämtliche Möbelhäuser auf den Verkauf dieses Modells
zu verpflichten. Nichts anderes unternimmt die Renaissancepoetik, wenn sie
festschreibt, dass zum Beispiel eine Frau nicht tapfer sein darf oder dass Kö-
nigstöchter ihre Wäsche nicht eigenhändig waschen dürfen (wie es Nausikaa in
der Odyssee tut),62 und die Befolgung derartiger Regeln zur obersten Pflicht
des Dichters erklärt.63
Abgesehen davon, dass damit der Dichter in seinem ureigensten Gebiet
entmündigt wird, ändern sich auch die Charakteristika der literarischen Gat-
tungen. Das wird nicht nur beim Epos deutlich, das nunmehr vor allem der
Heldenschau dient, sondern auch bei der Tragödie. Wenn es bei Aristoteles das
Ziel der Tragödie ist zu zeigen, wie ein sittlich guter, doch nicht vollkommener
Mensch durch ein Fehlverhalten (¡martía), das er selbst zu verantworten hat,
auch wenn es verzeihlich ist, in übergroßes Unglück gerät, so macht dies eine
differenzierte Charakterdarstellung notwendig. Der tragische Held ist weder
ein Tugendbold, der durch blindes Wüten des Schicksals oder einen unvorher-
sehbaren Lapsus zu Fall kommt, noch ein Verbrecher, den seine Missetaten ins

60 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 87f.; Maggi u. Lombardi: In Aristotelis librum (Anm.
3), S. 267f.; Giovambattista Giraldi Cinzio: Scritti critici, hg. von Camillo Guerrieri Crocetti,
Mailand 1973, S. 76; Giovanni Antonio Viperano: De poetica libri tres (1579), München
1967, S. 47; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 6-8.
61 Zu dem hier implizierten Realitätsverständnis im Vergleich zu Aristoteles vgl. Arbogast
Schmitt: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance, in: Mi-
mesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann, München 1998, S. 17-
53.
62 So Giraldi: Scritti critici (Anm. 60), S. 52; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 32f.
63 An diesem Punkt zeigen sich deshalb schon im Cinquecento selbst Auflösungstendenzen hin
zu einer Historisierung des Decorum, vgl. Giraldi: Scritti critici (Anm. 60), S.77; Viperano:
De poetica (Anm. 60), S. 52; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 29-33 und S. 132-134.
Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten 179

wohlverdiente Verderben stürzen, sondern ein „mittlerer“ Charakter.64 Der


Raum, den Aristoteles hier für eine Charakterdarstellung, die ihr Augenmerk
auf innerseelische Konflikte richtet, eröffnet, wird im Cinquecento mit der
Forderung nach Idealisierung beziehungsweise Typisierung der Figuren ver-
schlossen. So hält zwar Robortello noch am Begriff des mittleren Charakters
fest; den Fehltritt des tragischen Helden jedoch siedelt er ganz und gar außer-
halb des Charakters an. Der Agierende ist lediglich objektiv schuldig, sofern er
sich tatsächlich vergangen hat, aber subjektiv unschuldig, da er ohne schlechte
Absicht gehandelt hat. Ödipus hat zwar seinen Vater erschlagen, aber er wuss-
te nicht, dass es sein Vater war.65 In der real existierenden griechischen Tragö-
die sieht Robortello ohnehin fast ausschließlich tadellose Charaktere oder
Verbrecher (wie Aigisthos und Klytaimnestra) am Werk.66 Castelvetro zieht
nur die Konsequenzen, wenn er erklärt, eine Tragödie könne auch ohne Ha-
martia auskommen.67 Und Minturno lässt in seinem monumentalen Werk De
poeta den Hauptredner im einzelnen darlegen, dass selbst die Passion Christi,
der ja nun als sittlich vollkommener Charakter par excellence gelten darf, ein
geeigneter Gegenstand für eine Tragödie sein könne, da sie genug Schrecken
und Mitleid erregende Ereignisse zu bieten habe.68 Der bei Aristoteles grund-
legende Zusammenhang zwischen Charakter und Handlung ist hier völlig
zerrissen.
Mit der Schrift des Aristoteles haben wir eine Poetik vor uns, die die spe-
zifische Leistung des Dichters und die Herausforderung an ihn darin erblickt,
aus der Fülle der Möglichkeiten, wie die verschiedenen dem Menschen eigen-
tümlichen Seelenvermögen ausgebildet sein können, einen individuellen Cha-
rakter zu formen, der die Anforderungen der jeweiligen Dichtungsgattung
erfüllt, und die für diesen Charakter kennzeichnenden Handlungen so zu ge-
stalten, dass offenbar wird, warum dieser Mensch als der, der er ist, Erfolg hat
oder scheitert. In der Deutung des Cinquecento – um das abschließend so poin-
tiert zu formulieren – wird daraus ein Konzept von Dichtung, in dem sich die
Darstellung von Charakteren in der Anwendung von der Natur selbst vorgege-
bener idealer Schemata erschöpft; es handelt sich also um eine Nachahmungs-
poetik im gebräuchlichen pejorativen Sinn. Das Ingenium des Dichters sucht
Zuflucht in anderen Bereichen: bei der Anschaulichkeit, der sprachlichen Fi-
nesse, der delikaten Versöhnung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen.
Die Aristotelesdeutungen, die das Cinquecento hinterlassen hat, entpuppen
sich so als eine Neubegründung der Poetik, an deren Aporien die Folgezeit

64 Aristoteles: Poetik, 1452 b34-53 a 12.


65 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 130f. Vgl. Maggi u. Lombardi: In Aristotelis librum
(Anm. 3), S. 154, Giraldi: Explicationes (Anm. 60), S. 182.
66 Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 133.
67 Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 361.
68 Minturno: De poeta (Anm. 51), S. 183f.
180 Brigitte Kappl

dann laboriert – und damit nicht genug: Wer die Renaissancekommentare mit
Poetik-Interpretationen des späten 20. Jahrhunderts vergleicht, dürfte mehr als
ein Déjà-vu erleben, etwa wenn er liest, die Dichtung stelle nicht Individuen
dar, sondern Typen von Menschen und standardisierte Verhaltensmuster.69 Die
Beschäftigung mit den Anfängen der neuzeitlichen Poetik-Kommentierung ist
deshalb kein selbstvergessenes Kramen im Kuriositätenkabinett der Geistesge-
schichte, sondern bietet vielfältigen Anlass, sich über den eigenen Standpunkt
klar zu werden.

69 Vgl. beispielsweise Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, Darmstadt 1992,
S. 31f. und John M. Armstrong: Aristotle on the Philosophical Nature of Poetry, in: Classical
Quarterly 48 (1998) S. 447-455.
ULRIKE ZEUCH

Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit1


Francesco Robortellos In librum Aristotelis De arte
poetica explicationes und die Folgen

Die Poetik des Aristoteles ist neben der Ars poetica des Horaz der wichtigste
literaturtheoretische Text für die Formulierung literaturtheoretischer Grundpo-
sitionen in der Frühen Neuzeit. Das gilt für die Bestimmung des Gegenstandes
der Literatur, für die Bestimmung des Verhältnisses des in der Literatur darge-
stellten Gegenstandes zur Wirklichkeit, die für die Erzeugung eines literari-
schen Werkes erforderliche Disposition, Fertigkeit oder ‚ars‘ des Dichters, für
den Zweck von Literatur sowie für die beim Rezipienten zu erzielende Wir-
kung. Die Poetik ist dabei nicht nur verbindliche Autorität, sondern dient eben-
so als Ausgangspunkt für die Profilierung eigener Positionen. Die auslegende
Kommentierung der Poetik, die Bezugnahme auf bestimmte Positionen der
Poetik und deren Integration in die eigene poetologische Argumentation, die
Bezugnahme ohne Namensnennung sowie die inhaltliche Umdeutung bei
gleich bleibender Begrifflichkeit in wesentlichen Punkten sind einige der As-
pekte der eminent fruchtbaren Wirkungsgeschichte der Poetik in der Neuzeit.
Wenn es im Folgenden um Aporien in der Literaturtheorie der Frühen
Neuzeit geht, dann hinsichtlich einer für die Theorie zentralen Frage – derjeni-
gen nach dem Gegenstand der Literatur. Meine Ausführungen gelten dem
Nachweis, dass sich die Aporien aus der Umdeutung der Poetik des Aristoteles
in den für diese Frage relevanten Stellen ergeben. Sie sind aber nicht nur Teil
der Wirkungsgeschichte der Poetik, sondern – was für die Literaturtheorie der
Neuzeit insgesamt viel entscheidender ist – für die Weiterentwicklung der
allgemeinen Theorie grundlegende Vorgaben, ohne dass dies von den Litera-
turtheoretikern selbst gesehen würde, und zwar weder, wenn sie sich auf Aris-
toteles positiv beziehen, noch, wenn sie sich gegen ihn absetzen und neu posi-
tionieren.
Dass grundlegende Vorgaben hinsichtlich der Gegenstandsbestimmung
der Literatur, die der Umdeutung der Poetik des Aristoteles in den hierfür
zentralen Aspekten geschuldet sind, als solche nicht erkannt werden, liegt zum

1 Für Anregungen und wertvolle Hinweise danke ich Markus Schmitz.


182 Ulrike Zeuch

einen, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, an den stoischen
Prämissen des Allgemeinbegriffs seit der Frühen Neuzeit,2 zum anderen an
bewusstseinsphilosophischen Prämissen der Literaturtheorie seit dem 17. Jahr-
hundert.3 Verstärkt wird diese Tendenz durch den immer wieder formulierten
endgültigen Abschied von der Poetik des Aristoteles als eines für die Literatur-
theorie nicht (mehr) relevanten Textes – mit der Begründung, eine normative
Poetik sei nicht mehr zeitgemäß, der Mimesisbegriff, verstanden als Wieder-
gabe von real Gegebenem, obsolet und die Einheit des Subjekts in seiner Ver-
antwortlichkeit für seine Gedanken, Gefühle und Handlungen passé.4
Gleichwohl bezieht sich Joachim Küpper bei seiner Frage „Was ist Lite-
ratur?“ erst jüngst, nämlich 2001, explizit auf Aristoteles5 und misst der Poetik
eine wesentliche Bedeutung für die Beantwortung dieser Frage bei. Und in der
Forschung zu einzelnen Autoren selbst des 20. Jahrhunderts wird bei dem
Versuch, deren Intention literaturtheoretisch zu fundieren, auf Aristoteles’
Poetik verwiesen – wenn auch mit der Einschränkung, dass sie nur für solche
Gattungen gelte, die literarisch ‚traditionell‘ seien (gemeint ist die von einem
Subjekt erzählte Lebensgeschichte).6 Eben diese Frage, was der Gegenstand

2 Verf.: Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur. Scaligers Begriff des Allgemeinen und
seine stoischen Prämissen, in: Poetica 34 (2002), S. 99-124.
3 Verf.: Bewußtseinsphilosophische Prämissen der Literaturtheorie vor 1800. Am Beispiel von
Gottscheds ‚Versuch einer Critischen Dichtkunst‘ und deren Folgen, in: Zeitschrift für Ästhe-
tik und allgemeine Kunstwissenschaft 46 (2001), S. 53-75.
4 Bezeichnenderweise kommt in Dietrich Harth u.a. (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien,
Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1982, der Aspekt, dass Literatur
Einsicht in menschliches Handeln und dessen Ursache, den Charakter des handelnden Sub-
jekts, vermitteln kann, überhaupt nicht vor. Zum Mimesisbegriff des Aristoteles heißt es le-
diglich, der Dichter habe gemäß der Poetik „nach Maßgabe der Faktizität und einer als un-
veränderlich gedachten Natur zu gestalten“ (S. 28). Dass es sich bei diesem Urteil um das
Ergebnis einer frühneuzeitlichen Rezeption handelt, erhellt sich, so hoffe ich, aus dem Fol-
genden.
5 Joachim Küpper: Was ist Literatur?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwis-
senschaft 45 (2001), S. 187-215.
6 Hille Haker: Moralische Identität. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer
Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson, Tübingen u. Basel
1998, S. 167, Anm.7; Haker begründet dies wie folgt: „Literarische Lebensgeschichten stel-
len die Geschichte von Menschen über einen gewissen Zeitraum dar. Ihr Gelingen hängt –
zumindest nach der aristotelischen Poetik, die in bezug auf die fiktiv-biographische Gattung
nichts an Aktualität eingebüßt hat – an der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit des
Geschehens“ (S. 167). Haker deutet Aristoteles’ Rede vom Wahrscheinlichen bzw. Notwen-
digen folgendermaßen: „die Lebensgeschichte muß, um plausibel zu sein, das Bild eines
Menschen zeichnen, das einem Menschenleben möglichst angemessen ist; dies erscheint als
ein Leben, das sowohl auf zufälligen Ereignissen wie individueller Lebensplanung beruht,
ein Leben, in dem Zwänge, Verletzlichkeiten und Widersprüche neben autonomer Souveräni-
tät und Konsistenz bestehen können“ (ebd.). Dass Haker hier Aristoteles frei bzw. auf John-
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 183

der Literatur ist, und damit die Frage, wie eines der möglichen Spezifika litera-
rischer Texte diese gegenüber Texten sonstiger Art unterscheidet, beschäftigt
die gegenwärtige Literaturtheorie seit 1980 intensiv; ihre Nichtbeantwortbar-
keit wird sogar als Zeichen für die Krise des Faches Literaturwissenschaft
gewertet.7 Mithin handelt es sich dabei um eine Frage, die weder obsolet noch
nebensächlich ist.
Wenn es im Folgenden um diese Frage geht, dann im Lichte der Auseinan-
dersetzung mit bestimmten Passagen der Poetik des Aristoteles in der Frühen
Neuzeit. Zwar ist die Möglichkeit einer epochalen Abgrenzung ‚Frühe Neu-
zeit‘ von Germanisten erst jüngst wieder in Zweifel gezogen worden: die Frü-
he Neuzeit sei zu heterogen, um sie auf eine Tendenz innerhalb der Literatur
reduzieren zu können; die Einheitlichkeit der Epoche sei ein Konstrukt des 19.
Jahrhunderts.8 Die genannten Gründe für den Zweifel mögen in Bezug auf
literarische Werke der Frühen Neuzeit berechtigt sein. In Bezug auf die Theo-
rie jedoch lässt sich, wie ich zu zeigen versuchen werde, eine einheitliche
Tendenz erkennen.
Der für die Rezeption der Poetik in der Frühen Neuzeit erste zentrale Text
ist der Kommentar von Francesco Robortello In librum Aristotelis De arte
poetica explicationes.9 Robortello stellt in seinem Kommentar entscheidende
Weichen für die Interpretation der in Bezug auf die oben angesprochene Frage
zentralen Stellen in der Poetik des Aristoteles; zur Poetik selbst sei verwiesen
auf die Forschungen von Arbogast Schmitt.10 Mein Anliegen ist es zu zeigen,
(1) worin die von Robortello vorgenommenen Umdeutungen bestehen und (2)
dass Robortellos Umdeutungen zu Widersprüchen hinsichtlich der Bestim-
mung des Gegenstandes der Literatur und damit zu einer für die Literaturtheo-
rie problematischen Inkonsistenz führen, ohne dass diese Inkonsistenz von ihm
selbst gesehen würde. Ferner möchte ich (3) anhand einiger Beispiele nach-
weisen, dass Robortellos Umdeutungen für die Literaturtheorie bis 1800 be-

son zugeschnitten auslegt, wird im Folgenden deutlich (s.u.); denn Aristoteles geht es gerade
nicht um die Darstellung des Kontingenten, sondern um etwas Allgemeines.
7 Vgl. Wilfried Barner: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?, in:
Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 457-462, und die sich an seine
Frage im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 und 43 anschließende Diskussion.
8 Peter Strohschneider u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Epochen, in: Mitteilungen des Deutschen
Germanistenverbandes 49 (2002), Heft 3; vgl. ebd. die Beiträge von Christian Kiening: Zwi-
schen Mittelalter und Neuzeit. Aspekte der Epochenschwellenkonzeption, S. 264-277, und
Wolfgang Harms: Zur Festlegung von Epochensignaturen aus literaturwissenschaftlicher
Sicht. Konkurrenzen von Heterogenem im Zeitraum der Frühen Neuzeit, S. 278-293.
9 Francesco Robortello: In librum Aristotelis de arte poetica explicationes, München 1968
(Poetiken des Cinquecento, Bd. 8), (ND der Ausgabe Florenz 1548).
10 Arbogast Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas
Buchheim u.a. (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003,
S. 184-219.
184 Ulrike Zeuch

stimmend sind und die Literaturtheorie sich an den Folgen abmüht, da die
Widersprüche immanent nicht auflösbar sind. Der letzte Abschnitt (4) gilt
Überlegungen, wie ein Ausweg aus den Aporien der Theorie aussehen könnte.

Robortellos Umdeutungen

Aristoteles bestimmt in der Poetik,11 dass der Dichter in der Tragödie mensch-
liche Handlungen nachahme (Poetik 1451 b29) und diese Nachahmung im
Unterschied zur Geschichtsschreibung etwas Allgemeines (1451 b5-7) und
damit Philosophischeres mitteile. Die Tragödie nennt Aristoteles deswegen,
weil er meint, sie habe zu seiner Zeit als Gattung die in ihr liegenden Möglich-
keiten bereits voll entwickelt (1449 a14-15) und das Ziel, um das es ihm hier
geht, am besten verwirklicht: nämlich im Sinne angewandter Ethik, die zur
praktischen Philosophie zählt, mit Hilfe der Darstellung bestimmter Handlun-
gen einzelner Menschen von bestimmter charakterlicher Beschaffenheit ein-
sichtig zu machen, welche Charaktertendenzen zu welchem ethisch relevanten
Verhalten und damit auch Fehlverhalten führen. Aristoteles will damit nicht
den Schluss nahe legen, es gebe abgesehen von menschlicher Handlung keinen
anderen Gegenstand der Literatur. Er lässt lediglich die Mimesis anderer Ge-
genstände wie zum Beispiel diejenigen der Natur – etwa in der Lyrik – oder
diejenigen der Götter – etwa in den Götterhymnen – aus dem genannten Grund
unberücksichtigt und konzentriert sich auf die nähere Bestimmung dessen, was
unter Handlung und deren Wirkung zu verstehen ist.
Das heißt aber: An erster Stelle steht für Aristoteles das Ziel, auf vermit-
telte Weise (durch die eine bestimmte Handlung darstellende und zugleich
angenehme, das heißt ästhetisch ansprechende Mimesis), den Leser bzw. Zu-
schauer Einsicht gewinnen zu lassen in ethisch relevantes Verhalten einzelner
Menschen, ohne dass dieser selbst die – in der Tragödie zumindest zum größ-
ten Teil – leidvolle Erfahrung machen muss. Diesem bestimmten Ziel genügt
von den Künsten, die Aristoteles zu Beginn der Poetik nennt und denen allen
Nachahmung menschlicher Handlung gemeinsam ist, am meisten die Literatur
und innerhalb derselben am meisten die Tragödie.
Das in der Poetik gemeinte Allgemeine der Tragödie bedeutet, dass ein in
seinem charakterlichen Habitus bestimmter Mensch in einer bestimmten Situa-
tion auf bestimmte Weise handelt – etwa dass ein zu übermäßigem Zorn Nei-
gender, wenn er sich in seiner Ehre verletzt fühlt, auch übermäßig zornig han-
delt (1451 b8-10). Es ist ein konkret Allgemeines; nicht Handlung als solche

11 Aristoteles: De arte poetica liber, hg. von Rudolf Kassel, Oxford 1965.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 185

ist gemeint, sondern eine bestimmte Handlung einer bestimmten Person in


einer bestimmten Situation (1449 b36-1450 a1).12
Allgemein ist die Handlung insofern, als es weder um bloß zufällige oder
nebensächliche Handlungen oder historisch einmalige Handlung geht, deren
Umgebung und Umstände jeweils andere sind; mit ‚allgemein‘ ist auch nicht
der kleinste gemeinsame Nenner von für den Menschen üblichen Handlungen
wie Schlafen oder Essen gemeint (zumal diese Handlungen auch von anderen
Lebewesen ausgeführt werden) oder Kochen und ein Handwerk Verrichten.
Diese Aktivitäten sind nach Aristoteles Sache der Geschichtsschreibung (1451
b6-7, 1459 a21-24). Gegenstand der Nachahmung ist laut Aristoteles, was sich
aus dem aus anfänglich vorhandenen Anlagen ausgebildeten Charakter (Habi-
tus) eines einzelnen Menschen mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit als
Handlung in einer bestimmten Situation ergibt (1454 a33-36).13 Da es nicht um
den einzelnen Menschen in seiner Prägung durch bestimmte Umstände und als
Subjekt beliebiger Tätigkeiten geht, sondern um einzelne wichtige Handlungen
als unabdingbare Elemente einer Gesamthandlung, stellen sie eine bestimmte
Möglichkeit von menschlichem Handeln allgemein dar.14
Auf welche Weise deutet Robortello Aristoteles’ Bestimmung des Gegen-
standes der Literatur um? Auf den ersten Blick könnte man annehmen, er treffe
Aristoteles’ Intention, da er sich in seinem Kommentar zur Poetik, indem er
den Text auslegt, wie dieser selbst auf die Nachahmung menschlicher Hand-
lung und deren Bedeutung konzentriert. In der Einleitung zu seinen Explicati-
ones betont Robortello aber, nicht allein menschliches Handeln, sondern alle
Dinge könnten Gegenstand literarischer Mimesis sein: „Nam poetice loquitur
de iis tantum rebus, aut quae sunt, aut quae esse possunt. Aut quae vetus est

12 Arbogast Schmitt: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance.
Zum Wandel des Gedankens von der Nachahmung der Natur in der frühen Neuzeit, in: And-
reas Kablitz u. Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation, Freiburg i.Br. 1998 (Rom-
bach Litterae, Bd. 52), S. 17-53, hier: S. 31ff. Siehe dagegen die Fehldeutung von Jürgen H.
Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung, München 2000, S. 49, dass laut Aristoteles der
dargestellte Gegenstand „das eigentliche Wesen der Dichtung [...] nicht [tangiere], was
[nicht] nur abermals jede Nachahmungstheorie ins Abseits stellt, sondern uns auch deutlich
macht, dass es um die Darstellungsart geht, wenn mit dem Begriff der Mimesis das Poetische
vom Nicht-Poetischen unterschieden werden soll“.
13 Dabei bezeichnet das Wahrscheinliche und Notwendige, wie Viviana Cessi: Erkennen und
Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987 (Beiträge zur
klassischen Philologie, Bd. 180), S. 264, darlegt, „den kausalen Zusammenhang zwischen der
charakterlichen Verfassung des Handelnden und der aus ihr folgenden Handlung“.
14 Zum Begriff des Möglichen im Zusammenhang mit dem menschlichen Charakter vgl. Arbo-
gast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles
Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Karlheinz Stierle u. Rainer Warning (Hg.):
Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 16), S.
528-563, hier: S. 531ff.
186 Ulrike Zeuch

apud homines opinio, esse“ (Explicationes, S. 2). Damit zielt Robortello


anders als Aristoteles auf eine universale Erweiterung des Gegenstandsbe-
reichs der Literatur ab.
Indem Robortello meint, alles könne Gegenstand literarischer Mimesis
sein, schließt er sich einer Position an, die schon Horaz in der Ars poetica
vertritt: Der Dichter könne sich jeden Stoff erwählen, den kunstfertig in Worte
zu fassen er sich zutraue: „sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam /
viribus et versate diu, quid ferre recusent, / quid valeant umeri“ (Ars poetica,
Ze. 38-40).15 Robortello fügt präzisierend hinzu, es gehe um die „repraesenta-
tionem, descriptionem, & imitationem omnium actionum humanarum; omnium
motionum; omnium rerum tum animatarum, tum inanimatarum“ (Explicatio-
nes, S. 2). Robortellos Formulierung ist reich an Implikationen; zunächst gilt
es zu klären, was Robortello mit „repraesentatio“ meint, der die ‚descriptio‘
bzw. ‚imitatio‘ folgt.
In der Einleitung zu den Explicationes, der die Formulierung entnommen
ist, thematisiert Robortello direkt im Anschluss an die Behandlung der Auf-
gabe der Literatur (nämlich ‚repraesentare‘) die Fragen, durch welches Me-
dium die ‚repraesentatio‘ erfolge und wie das Denken zu seinen Gegenständen
komme. Robortello gibt als Antworten, dass die ‚repraesentatio‘ durch das
Wort erfolge und dass das Denken (oder die ‚cogitatio‘) seine Gegenstände
bzw. genauer die Bilder (imagines) derselben von außen empfange. Dann
verknüpft er die beiden Antworten im Sinne einer Kausalfolge dahingehend,
dass das Wort alle die Bilder zum Ausdruck bringe, die das Denken empfan-
gen habe. Robortello begreift den Vorgang der Vergegenwärtigung als rezeptiv
(„rerum imagines cogitatio recipit“, Explicationes, S. 2). Dass mit diesem
rezeptiven Vorgang tatsächlich alles bildlich bzw. in der menschlichen Vor-
stellung präsent sein soll, was an Dingen in der Welt nur vorstellbar ist, wird
aus Robortellos Äußerung ersichtlich, mittels der Sprache, die sich auf die im
Denken gegebenen ‚imagines‘ bezieht, könne man alle Dinge ‚repraesentare‘.
Allerdings wird die Gültigkeit dieser Aussage eingeschränkt bzw. präzisiert:
Mit ‚alle Dinge‘ ist gemeint: alle Dinge, die dem Auge wahrnehmbar sind. Es
wäre im Sinne der aristotelischen Wahrnehmungstheorie zu präzisieren: spezi-
fisch für das Auge die primäre Qualität, eine bestimmte Farbe, sowie die se-
kundären Qualitäten, Ruhe, Bewegung, Zahl, Gestalt und Größe, die von meh-
reren bzw. allen Sinnen gleichermaßen wahrgenommen werden, im Falle des
Auges farbiges Ruhendes, farbiges Bewegtes, Farbiges von bestimmter Zahl,
Gestalt oder Größe.16

15 Q. Flaccius Horaz: Opera, hg. von Friedrich Klingner, 6. Aufl. Leipzig 1982.
16 Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles. Versuch
einer Bestimmung der spontanen Erkenntnisleistung der Wahrnehmung bei Aristoteles in Ab-
grenzung gegen die rezeptive Auslegung der Sinnlichkeit bei Descartes und Kant, Baden-
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 187

Zwar meint Robortello, in diesem Sinne – da an der äußeren Erscheinung


orientiert – konsequent, dass die Sprache nicht die innere Haltung oder Gesin-
nung, sei es eine tugendhafte oder lasterhafte, sondern lediglich die äußeren
Handlungen, welche in diesen ihre Ursache hätten, ‚repraesentare‘ könne; denn
der Charakter selbst sei verborgen und der optischen Wahrnehmung nicht
zugänglich (Explicationes, S. 2). Robortello nennt zudem weitere Quellen der
Erkenntnis: nämlich neben dem optisch Wahrnehmbaren wie Gesichtsausdruck
und Gesten auch Akustisches wie Stimme, Aussprache und Tonlage. Demnach
meint ‚repraesentatio‘ sowohl die Vorstellung von einer Sache im Denken
aufgrund von Wahrnehmungsmomenten wie Akustischem und Optischem als
auch die neuerliche Versinnbildlichung von Vorgestelltem für eine sekundäre
Wahrnehmung durch den Rezipienten.
Aristoteles zufolge ist aber selbst eine äußere Handlung in dem Sinne, dass
ihre Ursache – der Charakter – verborgen ist, nicht Gegenstand der Wahrneh-
mung. Das, was Auge und Ohr wahrnehmen, sind etwa die (Gesichts-)Farbe
rot oder blass, der hohe oder tiefe Ton der Stimme. Aus diesen Wahrneh-
mungsmomenten kann das Denken auf bestimmte Gemütsverfassungen und
Handlungen schließen: etwa aus der Rötung des Gesichts auf Zorn, aus der
hohen Stimme auf seelische Erregtheit usf.; die Wahrnehmung selbst leistet
dies nicht.17 Wenn aber das Denken, wie Robortello meint, lediglich Informa-
tionen der Wahrnehmung von außen empfängt und von sich aus abgesehen von
diesem rezeptiven Akt keine Eigenleistung vollzieht, wie kommt das Denken
dann dazu, die Bedeutung von Gesten, von Körperbewegungen, von Gesichts-
zügen oder gar von Worten zu verstehen? Ja, mehr noch, wie kommt es dazu,
aus dem, was gesagt wird, auf eine innere Haltung oder Gesinnung zu schlie-
ßen? Von diesen spricht Robortello aber in seinen Kommentaren zu Textpas-
sagen der aristotelischen Poetik (Explicationes, S. 67ff. zu ‚mores‘ und ‚sen-
tentia‘; auch S. 174ff.). Wäre das Denken auf den – ihm von Robortello unter-
stellten – rein rezeptiven Akt beschränkt, würden derartige Schlüsse nicht
möglich sein; denn das Denken hätte abgesehen von dem in der Vorstellung
Gegebenen keinen weiteren Inhalt.
Robortello folgt mit seiner Annahme der Rezeptivität der Wahrnehmung
der stoischen Typosislehre; signifikant für diese ist die Umdeutung der
Wachsmetapher aus Aristoteles’ De anima im Sinne materieller Impression.18

Baden 1988 (Saecula spiritalia, Bd. 19), S. 87ff.; Verf.: Umkehr der Sinneshierarchie. Her-
der und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000 (communicatio,
Bd. 22), S. 60f.
17 Bernard: Rezeptivität und Spontaneität (Anm. 16), S. 69ff., zur akzidentellen Wahrnehmung
vgl. ebd., S. 75ff.
18 Zur stoischen Auslegung des von Aristoteles in De anima 429 b29, 429 b30, 430 a1 und 430
a2 mit der Wachsmetapher Gemeinten Malte Hossenfelder: Stoa, Epikureismus und Skepsis,
München 1985 (Die Philosophie der Antike, Bd. 3), S. 70. Siehe ferner Leen Spruit: Species
188 Ulrike Zeuch

Die stoische Typosislehre hat ihre sachliche Entsprechung in Positionen der


spätmittelalterlichen Wahrnehmungstheorie, etwa der des Johannes Duns Sco-
tus’. Duns Scotus wandelt die ‚species‘-Theorie, wie sie sich bei Thomas von
Aquin in seiner Auslegung der aristotelischen Schrift De anima findet, in eine
Repräsentationstheorie um. Im Denken liegen dieser Theorie zufolge Bilder
vor (diese werden im Denken repräsentiert), mit oder in denen ein äußerer
Gegenstand abgebildet und in der Seele gegenständlich nachgebildet wird.19
Laut Thomas von Aquin und Aristoteles hingegen ist die Wahrnehmung ein
Akt zwar unmittelbaren, aber aktiven Erkennens, indem das Wahr-
nehmungsvermögen eine Unterscheidungsleistung erbringt, die Bestimmtheit
von Wahrnehmbarem aus dem Unbestimmten herauslöst und dieses Wahr-
nehmbare im Lichte der ‚species‘, etwa der der Farbe, als eine bestimmte
Verwirklichung, etwa rot, erkennt20 (Analyt. Post. 87 b28-30). 21
Dass Robortello der stoischen Typosislehre folgt, hat Konsequenzen für
seine Bestimmung des Gegenstandes der Literatur. Zwar stimmt er dahinge-
hend mit Aristoteles überein, dass die ‚phantasia‘ oder ‚imaginatio‘ die Vor-
stellung eines einzelnen äußeren Objektes ohne Anwesenheit des Gegenstan-
des ist. Während Aristoteles zufolge aber das Denken das Wesen einer Sache
begreift (wovon die ‚phantasia‘ immer nur eine einzelne Instanz bietet und
darüber hinaus vieles, was nicht zur Sache selbst gehört), müsste für Robor-

intelligibilis. From Perception to Knowledge, Bd. 1, Leiden u.a. 1994, zur stoischen Ty-
posislehre S. 54ff., und ebd., S. 56, Anm. 109: „With the Stoics, the metaphor of the impres-
sion on a waxtablet, interpreted as fact, becomes the basis of a philosophical psychology. In
Aristotle, the metaphor of the waxseal was meant to highlight also the immaterial aspects of
sense perception, because the wax takes on the form of the seal without its matter“; zur Ty-
posislehre des Stoikers Zenon aus Kition siehe Peter Steinmetz: Die Stoa, in: Helmut Flashar
(Hg.): Die hellenistische Philosophie, Basel 1994 (Die Philosophie der Antike, Bd. 4), S.
491-716, hier: S. 528ff.; zur Typosislehre Epikurs siehe Michael Erler: Epikur – Die Schule
Epikurs – Lukrez, in: Die hellenistische Philosophie (ebd.), S. 29-490, hier: S. 147-149,
sowie Hossenfelder (siehe oben), S. 125ff. Die Übernahme der stoischen Typosislehre durch
Robortello halte ich als Ursache für seine Forderung, Literatur solle Realität repräsentieren
im Sinne von abbilden und beschreiben, für wahrscheinlicher als Petersens Annahme (Mime-
sis [Anm. 12]), S. 265, dass sie Ausdruck eines „tief veränderten Lebensgefühls [sei], das die
Welt nicht mehr als irdisches Jammertal und Bewährungsplatz für die Annahme im Himmel,
sondern als den Inbegriff sinnlicher Schönheit verstand“. Denn dieses historische und inso-
fern für die Frühe Neuzeit, so Petersen, spezifische Lebensgefühl wäre zugleich die Ursache
für Horaz’ Begriff der ‚imitatio‘ in der Ars poetica, der, wie Petersen selbst sagt, auch
„Nachahmung [...] von Wirklichkeit“ (ebd., S. 72) meint.
19 Zu Duns Scotus siehe Spruit: Species intelligibilies (Anm. 18), Bd. 1, S. 257ff.: „the species
presenting the object to the intellect is viewed [sc. by Duns Scotus] as impressed“ (S. 266).
20 Zur Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung laut Aristoteles siehe Bernard: Rezepti-
vität und Spontaneität (Anm. 16), S. 49ff.; zu Thomas von Aquin siehe Verf.: Umkehr der
Sinneshierarchie (Anm. 16), S. 43ff.
21 Aristoteles: Zweite Analytiken, mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Horst Seidl,
Würzburg 1987 (Elementa-Texte, Bd. 1).
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 189

tello der Anfang der Erkenntnis – das im Denken aufgrund von Wahrnehmung
Vorgestellte – konsequenterweise eigentlich auch bereits das Ende sein. Damit
käme man jedoch nicht weit.
So nimmt Robortello an, dass in der Vorstellung mehr als bloß der einzel-
ne äußere Gegenstand, nämlich alle die Bestimmungen gegenwärtig seien, die
zur Bestimmtheit einer Sache gehören; wie dies jedoch zustande komme, wisse
er nicht. Tatsache aber sei, dass durch die Sinne gleichsam die Sache selbst
gezeigt werde: „repraesentatio enim [...] coniungit, nescio quo modo, cum
cogitatione, & phantasia hominum imaginem rei, quae repraesentatur; & agitur
quasi rem ipsam cum sensu“ (Explicationes, S. 3). Grundlage für diese Auffas-
sung ist die bei Duns Scotus nachweisbare und für die Nachfolgezeit wir-
kungsmächtige Wesensverwandtschaft mit der stoischen Erkenntnistheorie.22
Im Gegensatz zu der immer wieder behaupteten Entdeckung der autonomen
Subjektivität profiliert Duns Scotus die ‚phantasía kataleptiké‘ als das eigentli-
che die Welt erfassende oder eher rezipierende Vermögen, wodurch die reine
Verstandestätigkeit nur noch als nachgeordnete Instanz verstanden wird, die
sich auf ein bereits Gegebenes bezieht, um dieses formal abstrakt zu verknüp-
fen. In der Vorstellung soll demzufolge bereits die Sache selbst, das Einzelne
in seinen ihm wesenhaft zukommenden Beschaffenheiten erfasst sein, so dass
dem Denken lediglich die Aufgabe zukommt, das bereits sinnlich Wahrge-
nommene und dann Vorgestellte sich neuerlich und in einem nachgeordneten
Akt auf abstraktere Weise vorzustellen.23
Der zentralen Bedeutung der sinnlichen Vorstellung allgemein als Kon-
stituens des Gegenstandes – und speziell als Konstituens des Gegenstandes der
Literatur – entspricht die zentrale Rolle der ‚phantasia‘ innerhalb der mensch-
lichen Erkenntnisvermögen in der Frühen Neuzeit. Marsilio Ficino ist hierbei
wegweisend.24 Die ‚phantasia‘ wird bei ihm zu einem quasi intellektuellen
Vermögen. Ficino zufolge soll bereits diese und nicht erst der ‚intellectus‘
erkennen können, was die Sache selbst jenseits ihrer akzidentellen Bestim-

22 Arbogast Schmitt: Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche
Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-
Deutung, in: Enno Rudolph (Hg.): Die Renaissance und ihre Antike, Tübingen 1998 (Religi-
on und Aufklärung, Bd. 1), S. 7-34.
23 Spruit: Species intelligibilis (Anm. 18), Bd. 1, S. 262, bezeichnet die Leistung der abstrahie-
renden Vorstellung, wie Duns Scotus sie versteht, als „the intellectual grasp of the universal
nature of the sensual realm“; dieses Allgemeine kann durch den Intellekt erfasst werden,
„when it is appropiately represented“ (ebd.); angemessen repräsentiert wird das Allgemeine,
denn die species „is present in every singular thing“ (S. 263).
24 Verf.: Sensus communis, imaginatio und sensorium commune im 17. Jahrhundert, in: Hans
Adler, in Verbindung mit Ulrike Zeuch (Hg.): Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese
der Sinne, Würzburg 2002, S. 167-184.
190 Ulrike Zeuch

mungen ist.25 Die ‚phantasia‘ gilt Ficino als dasjenige Vermögen, welches alle
nur möglichen Gegenstände der Erkenntnis bereits erfasst hat und auf dessen
Einsicht der ‚intellectus‘ sich lediglich in einem reflexiven und noch weiterge-
hend von Singularitäten abstrahierendem Akt bezieht.26 Nach Ficino werden
die von ihm selbst noch vorgenommenen Unterscheidungen zwischen ‚imagi-
natio‘ als Reservoir der ‚sinnlichen‘ Data und der ‚phantasia‘ als, so Ficino,
Reservoir der ‚rationalen‘ Einsichten eingeebnet zugunsten eines Vermögens,
welches unterschiedslos alles in der Vorstellung Gegebene – vorzugsweise
aber das durch die Wahrnehmung der Vorstellung Gegebene – speichert.27
Zwar betont auch Aristoteles die Bedeutung der Wahrnehmung am An-
fang des Erkenntnisprozesses (Analyt. Post. 100 a10-14). Wenn jemand blut-
überströmt auf der Bühne liegt, dann kann die Wahrnehmung von roter Farbe,
welche als Blut zunächst eines Lebewesens, dann eines Menschen, dann eines
bestimmten Menschen erkannt wird, als Gegenstand der Vorstellung zum Aus-
gangspunkt für die Überlegung werden, wie es zu diesem furchtbaren Blutver-
gießen gekommen ist, ob dieses verdient ist oder nicht und wie dieses mögli-
cherweise hätte verhindert werden können. Aber dies sind alles Akte des Den-
kens, die mit der Wahrnehmung oder gar dem Gegebensein von wahrnehmba-
ren Gegenständen in der Vorstellung nichts mehr zu tun haben bzw. von der
Wahrnehmung lediglich veranlasst sind.28
Da für Robortello ‚repraesentatio‘ die Vergegenwärtigung wie die Ver-
sinnbildlichung von Wahrnehmungsmomenten meint, hat die ‚descriptio‘ bzw.
‚imitatio‘ auch keinen anderen Inhalt. Die Beschreibung und die Nachahmung
haben sich an das in diesem Sinne in der Vorstellung Gegebene zu halten – so
die Theorie. Dass sich dies in der Praxis nicht durchhalten lässt, wird bereits
bei Robortello selbst deutlich, etwa wenn er sagt, dass Literatur vorbildhaftes
Verhalten darstellen soll (Explicationes, S. 67ff. u. 174ff.). Weil Robortello
der Literatur eine allumfassende Funktion – nämlich die Vergegenwärtigung
von allem, ‚was ist‘ – zubilligen will, betont er, dass Literatur alles bildlich
wiederzugeben, zu beschreiben und nachzuahmen imstande sei. Es geht ihm

25 Vgl. zum geistesgeschichtlichen Kontext die Sammelbände von Danielle Lories u. Laura
Rizzerio (Hg.): De la phantasia à l’imagination, Dudley (Mass.) 2003 (Collection d’études
classiques, Bd. 17); Jörn Steigerwald u. Daniela Watzke (Hg.): Reiz – Imagination – Auf-
merksamkeit. Über Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter
(1680-1830), Würzburg 2003.
26 Marsilius Ficino: Theologia platonica de immortalitate animorum, Paris 1559, fol. 106 r:
„Imaginatio neque substantiam rei suspicatur quidem, sed rei superficiem, exterioremque pic-
turam phantasia substantiam saltem auguratur, dum pronunciat. Obvius ille, homo aliquis est,
et Plato“; siehe dazu Verf.: Sensus communis (Anm. 24), S. 170ff.
27 Verf.: Sensus communis (Anm. 24), S. 175ff.
28 Vgl. Bernard: Rezeptivität und Spontaneität (Anm. 16), zur akzidentellen Wahrnehmung S.
75ff.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 191

also in der Einleitung zu den Explicationes nicht um die Spezifik des Gegen-
standes literarischer Mimesis. Das wird auch an der Aufzählung der Gegen-
stände, die es nachzuahmen gilt, deutlich: Neben der Nachahmung menschli-
cher Handlung nennt Robortello Bewegung. Bezieht er sich hierbei nicht auf
die Bewegung von Körpern, sondern auf Bewegung als innerseelischen Vor-
gang, ist damit die Nachahmung von Affekten gemeint, wie Robortello sie
dann auch nennt: Weinen, Lachen, Zorn und Wut (Explicationes, S. 3). In
diesem Punkt folgt Robortello ebenfalls Horaz, ohne sich die Frage nach der
sinnlichen Darstellbarkeit derartiger innerer Vorgänge zu stellen. Die Forde-
rung, Einsicht in die Beschaffenheit seelischer Zustände durch die Beschrei-
bung des Körpers zu vermitteln, findet noch ihren Niederschlag in Diskussio-
nen des 18. Jahrhunderts über die Lesbarkeit der Seele.
Indem Robortello Nachahmung von Handlung gleichwertig mit Nachah-
mung von Bewegung behandelt, bereitet er sachlich die Verlagerung der Auf-
merksamkeit von ‚Handlung‘ zu Bewegung als innerseelischem Vorgang vor
(die im Zusammenhang mit dem Menschen und seinem Handeln steht, inso-
fern sie bildlich wiedergegeben werden kann); in der Folge führt die Verlage-
rung der Aufmerksamkeit von Handlung zu Bewegung zu der Forderung, vor-
rangig innerseelische Bewegung sprachlich der Vorstellung des Lesers zu
präsentieren, wie etwa bei Johann Christoph Gottsched (dazu genauer im Fol-
genden). Schließlich bedeutet Robortellos Forderung an den Dichter, etwas so
darzustellen, dass es bildlich und damit sinnlich vorstellbar sei, eine Auswei-
tung auf alle Gegenstände, insofern sie in diesem Sinne beschreibbar sind;
durch die Wahl des Begriffes ‚describere‘ wird deutlich, dass Mimesis gegens-
tandsgetreue Wiedergabe meint und die Gegenstände der sinnlichen Wahr-
nehmung vorzuliegen haben, um den äußeren Gegenstand so wiedergeben zu
können, ‚wie er ist‘. Vorausgesetzt ist bei dem ‚wie er ist‘, dass (wie bereits im
Zusammenhang mit Duns Scotus gesagt) in der sinnlichen Wahrnehmung auf
irgendeine Weise sämtliche Bestimmungen erfasst sind, die das Wesen des
Gegenstandes und Objekts der Mimesis ausmachen. Durch Wahrnehmung aber
etwas Allgemeines zu erfassen, hält Aristoteles für ausgeschlossen, da sich
seiner Meinung nach Wahrnehmung immer auf einzelne Gegenstände im Hier
und Jetzt richtet; das Allgemeine tue dies hingegen nicht, denn sonst wäre es
kein Allgemeines (Analyt. Post. 87 b28-33; 88 a1-2).
Robortellos Explicationes der Poetik des Aristoteles sind – das lässt sich
an dieser Stelle bereits sagen – ein für die Literaturtheorie der Neuzeit wichti-
ges Zeugnis für die Erweiterung des Gegenstandsbereichs literarischer Mime-
sis, und zwar der Erweiterung des Gegenstandsbereichs in einer bestimmten
Hinsicht: in Hinsicht auf einzelne, wahrnehmbare bzw. aufgrund von Wahr-
nehmung vorstellbare und in diesem Sinne beschreibbare Phänomene. Doch
das ist nicht die einzige, für die Nachfolgezeit wichtige Umdeutung. Es gibt
192 Ulrike Zeuch

noch eine zweite, folgenreichere. Robortello erweitert nämlich nicht nur den
Gegenstandsbereich der literarischen Mimesis. Er engt ihn auch ein: Der Dich-
ter stelle keine Handlung, sondern vielmehr das Subjekt einer Handlung, den
Handelnden, dar – und zwar abgelöst von kontingenten Umständen und Situa-
tionen. Dieses Subjekt aber ist nicht irgendwer, kein beliebiges Subjekt, son-
dern ein ethisch vorbildhafter, „prudens [...] Ulysses“ bzw. der „prudens, calli-
dusque“ Odysseus (Explicationes, S. 91) oder „pius Teucer“, das heißt Aeneas
(S. 175). Mit diesen Eigenschaften ‚pius‘ oder ‚prudens‘ sind keine einzelnen
Eigenschaften beliebiger Charaktere, sondern mit ihnen ist eine allgemeine
Eigenschaft, das heißt eigentlich die Verbindung von Frömmigkeit und Klug-
heit, gemeint, und Odysseus und Aeneas gelten ihm als die sinnlich wahr-
nehmbare und in diesem Sinne repräsentierbare Verkörperung dieser Eigen-
schaften, ohne dass Robortello deren Darstellbarkeit auf eine den Sinnen zu-
gängliche Weise problematisieren würde.
Da es sich dabei um Eigenschaften handelt, die in jeder Lebenslage die
Handlung bestimmen und sich insofern als konstant erweisen, ist statt von
Handlung in einer bestimmten Situation präziser von genereller Haltung zu
sprechen – und zwar von einer Grundhaltung, welche eine gemäß der jeweili-
gen Eigenschaft vorbildhafte Person durchgängig bestimmt. Die Person bzw.
ihre Haltung wird damit zum einheitlichen ‚Ermöglichungsgrund‘ für sämtli-
che Handlungen, sowohl für spezifische wie für unspezifische, zufällige, ne-
bensächliche, beiläufige, beliebige. Die Ursachenforschung wird damit erheb-
lich versimplifiziert: Jede Handlung ist Ausdruck ein und derselben Haltung;
an jeder Handlung lässt sich in sinnlicher Vergegenwärtigung unmittelbar
begreifen, was Frömmigkeit bzw. Klugheit ist, da sich alles im Lichte der
einen, einheitlichen, widerspruchsfreien Haltung vollziehen soll. Die Allge-
meinheit der Literatur besteht für Robortello in der Darstellung dieser allge-
meinen Eigenschaft; die Person selbst als Träger der sie durchgängig, das heißt
konstant bestimmenden Eigenschaft ist letztlich austauschbar.
Aristoteles hält in Bezug auf sein Ziel, auf vermittelte Weise durch die be-
stimmte Handlung darstellende Mimesis den Leser bzw. Zuschauer Einsicht
gewinnen zu lassen in ethisch relevante Handlungen einzelner Menschen, die
charakterliche Beschaffenheit als Stoff der Literatur für sekundär, hingegen
eine bestimmte Handlung für primär (Poetik 1450 a20-23).29 Stoff der Litera-
tur ist keine Charakterstudie in dem Sinne, dass in der Literatur die einzelnen,

29 Insofern ist Stefan Trappens Urteil, dass Aristoteles’ Gegenstand der Literatur „lediglich auf
die ethische Qualität der nachgeahmten ‚handelnden Menschen‘ bezogen“ sei, nicht präzise –
Stefan Trappen: Dialektischer und Klassischer Gattungsbegriff bei Opitz. Ein übersehener
Zusammenhang zwischen Aristoteles, Scaliger und der deutschen Barockpoetik, in: Thomas
Borgstedt u.a. (Hg.): Martin Opitz (1597-1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt, Tübin-
gen 2002, S. 88-98, hier S. 95f.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 193

durchaus heterogenen Eigenschaften eines komplexen Charakters aufgezählt


würden, etwa dass Ödipus (in mancher Hinsicht) zwar durchaus klug ist, aber
zugleich zu übermäßigem Zorn und deshalb zu voreiligen Schlüssen neigt. Bei
Robortello ist dies nicht nur umgekehrt, also die Person primär, die Handlung
sekundär, sondern die Handlung selbst ist auf eine für die Literaturtheorie der
Nachfolgezeit entscheidende Weise abstrakt-allgemein gehalten. Aufgrund des
von Robortello diesem so verstandenen Allgemeinen zugesprochenen Status’
scheint es nicht nötig, nach der sachlichen Bestimmtheit dieses zunächst ledig-
lich generischen Allgemeinen weiter zu forschen. Auch eine Erkenntnis-
leistung des Rezipienten ist nicht nötig. Dieser weiß bereits, was ihn erwartet
und dass dieses immer dasselbe ist: die sinnliche Darstellung einer Haltung,
wie auch immer diese in der Praxis aussehen und realisiert sein mag. Da die
Konstanz der Eigenschaft eine Bedingung dafür ist, dass sie in diesem Sinne
allgemein ist, sind Handlungsalternativen nicht zulässig und nicht vorgesehen.
Es gibt keine Abweichung, keinen Zufall. Die allgemeinen Eigenschaften wie
‚pius‘ oder ‚prudens‘ müssen folglich gemäß dem Notwendigen dargestellt
sein: „debent tunc personarum mores exprimi a poeta, secundum necessarium“
(S. 175); sie disponieren nur zu einem, und zwar zu dem immer gleichen Ver-
halten. Robortello reduziert den Gegenstand der Literatur von der Mannigfal-
tigkeit komplexer und damit individueller, zudem weder ganz guter noch ganz
schlechter, mithin mittlerer Charaktere als Ursache bestimmter Handlung in
einer bestimmten Situation auf ein generisches, abstraktes Allgemeines.
Aus der komplexen Einheit von bestimmtem Charakter, bestimmter Si-
tuation und bestimmter Handlung wird ein immer gleiches Verhalten, das, da
es in jeder Situation richtig sein soll, als generelle Haltung zu bezeichnen ist.
Aus der Wahrscheinlichkeit bzw. Notwendigkeit, mit der eine bestimmte
Handlung aufgrund bestimmter charakterlicher Anlagen eines Menschen in
einer bestimmten Situation anzunehmen ist, wird eine abstrakte Norm. Aristo-
teles’ konkret Allgemeines, welches einen Charakter von bestimmtem Habitus
als ‚Ermöglichungsgrund‘ für eine bestimmte Handlung in einer bestimmten
Situation meint, wird reduziert auf die Zuschreibung einer abstrakten Eigen-
schaft. Scaliger wird von der bei Robortello immer noch implizierten Be-
stimmtheit der einzelnen Eigenschaften abstrahieren, um zu einem der Fröm-
migkeit und der Klugheit gemeinsamen Nenner zu kommen: der Tugendhaf-
tigkeit selbst. Sie gilt es zu repräsentieren.30 Wie das geschehen soll, an diesem

30 Verf.: Das Allgemeine (Anm. 2), S. 113ff. Ein Abstraktum zu versinnbildlichen, dies wird
zur Aufgabe der neuzeitlichen Allegorie; vgl. Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur li-
terarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995 (Studien zur deutschen Li-
teratur, Bd. 131). Zu den stoischen Implikationen dieses Allegoriebegriffs vgl. Wolfgang
Bernard: Spätantike Dichtungstheorien. Untersuchungen zu Proklos, Herakleitos und Plu-
tarch, Stuttgart 1990 (Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 3).
194 Ulrike Zeuch

Problem arbeitet sich die Literaturtheorie in der Nachfolge ab; denn dass die
Tugendhaftigkeit so weit reichende Bedingungen erfüllen könnte, wird spätes-
tens im 18. Jahrhundert zweifelhaft. Was an deren Stelle tritt, wird im Folgen-
den thematisiert. Doch zunächst werden die Widersprüche, die sich aus Robor-
tellos Umdeutungen ergeben, betrachtet.

Widersprüche

Indem Robortello einerseits den Gegenstandsbereich der literarischen Mimesis


auf alle menschlichen Handlungen, alles Beseelte und Unbeseelte, alles Be-
wegte und Unbewegte erweitert, ihn aber andererseits auf eine abstrakte Ver-
haltensnorm, wie sie in einem Menschen anschaulich werden soll, einengt,
begibt er sich in einen theoretischen Widerspruch, den er selbst nicht sieht: in
den Widerspruch nämlich, einerseits empirisch erfahrbares Einzelnes, anderer-
seits ein aus der Wirklichkeit nicht ableitbares Allgemeines als Gegenstand der
Literatur zu postulieren.
Als Verfahren zur Gewinnung eines solchen Allgemeinen gibt Robortello
die analytische Methode an, die induktiv schließe. Oder genauer: Robortello
unterstellt Aristoteles, nach dieser Methode zu Beginn seiner Poetik zu verfah-
ren, um zum Allgemeinen oder ‚universale‘, das heißt zu demjenigen zu ge-
langen, was das Wesen von Literatur ausmacht: „Vult Aristoteles investigare
definitionem artis poeticae, utitur methodo resolvente“ (S. 6). Aristoteles selbst
geht jedoch nicht einmal im ersten Schritt, am Anfang der Poetik, nach dem
‚methodus resolvens‘ – das heißt der analytischen Methode – vor, die, so Ro-
bortello, fortschreite vom Einzelnen zum Einen, Allgemeinen, zu allem Ge-
meinsamen („a singularibus, ad unum universale commune omnibus“, S. 5);
auch sind für Aristoteteles Induktion und analytische Methode zwei verschie-
dene Verfahren, die auch einen unterschiedlichen Gegenstand haben, während
Robortello den Unterschied zwischen theoretischer Analysis und Induktion
nivelliert (zu den Gründen im Folgenden).
Aristoteles zufolge schließt die Induktion etwas Allgemeines aus Einzel-
nem. Das durch die Induktion gewonnene Allgemeine ist allerdings generisch
und damit abstrakt allgemein (Analyt. Post. 100 a2 ff.; 100 b1ff.), etwa die
Aussage, dass alle Menschen Lebewesen sind. Damit ist über den Menschen
als Menschen, das heißt darüber, was den Menschen im Unterschied zu den
übrigen Lebewesen wesensmäßig ausmacht, noch nicht viel gesagt. Aufgabe
der theoretischen analytischen Methode (im Unterschied zur praktischen) hin-
gegen ist das Schließen von der Wirkung auf die Ursache bzw. innerhalb des
Syllogismus vom Schluss auf die Prämissen (78 a22ff.). Auch die Bestimmung
des Menschen als ‚animal rationale‘ ist abstrakt allgemein, wenn man nicht
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 195

weiß, was es für die theoretische Erkenntnis wie für die praktische Lebensfüh-
rung des Menschen bedeutet, ein mit ‚ratio‘ begabtes Wesen zu sein. Anders
also als die Induktion allein verhilft die analytische Methode zur Einsicht in
die sachliche Bestimmtheit des auf diese Weise gefundenen Allgemeinen bzw.
der Prämisse.
Aristoteles bestimmt zu Beginn der Poetik Mimesis zunächst als das allen
Künsten Gemeinsame; man könnte meinen, das sei ein aufgrund von Induktion
gewonnenes, generisches, abstrakt Allgemeines, dessen Bestimmung folglich
nicht hinreichend ist, um das Spezifische der Literatur und damit das zu erken-
nen, was ihr Wesen ausmacht. Aristoteles bleibt dabei aber nicht stehen. Seine
an die erste Bestimmung anknüpfenden weiteren Überlegungen folgen eben-
falls nicht, wie Robortello meint, der analytischen Methode; vielmehr geht
Aristoteles deduktiv synthetisch vor: Er setzt schrittweise die Bestimmungen
zusammen, indem er sie von dem ableitet, was das Ziel ist: nämlich auf ver-
mittelte und zugleich ästhetisch ansprechende Weise durch die eine bestimmte
Handlung darstellende Mimesis den Leser bzw. Zuschauer Einsicht gewinnen
zu lassen in ethisch relevante Handlung einzelner Menschen und deren Ursa-
che in einem bestimmten Charakter.
Neben der Bestimmung, dass alle Kunst Mimesis, und zwar Mimesis
menschlicher Handlung sei (Poetik 1447 a28), nennt Aristoteles ferner, dass
Literatur im Unterschied etwa zur Geschichtsschreibung Mimesis eines kon-
kret Allgemeinen sei, dass die Handlung in bestimmter Weise beschaffen sein
müsse (etwa dass Handlung nicht durch einen auktorialen Erzähler berichtet
werde, sondern sich vor den Augen der Zuschauer bzw. des Lesers vollziehe),
dass jede Teilhandlung notwendig auf die Gesamthandlung bezogen und nicht
beliebig sei, dass sie nicht eine für eine Person beiläufige Handlung, sondern
das der Wahrscheinlichkeit bzw. der Notwendigkeit nach aus einem Charakter
als Ursache Resultierende, dass die Ursache der Handlung, der Charakter, ein
mittlerer sei. Zudem solle die Handlung beim Rezipienten durch eine auf die
Handlung bezogene Erkenntnis bestimmte Affekte auslösen: Furcht, dass es
einem ebenso ergehen könnte, Mitleid wegen des im Verhältnis zur Verfeh-
lung übermäßigen Leides des Handelnden. Des Weiteren sei es wichtig, dass
die sprachliche Gestaltung zur jeweiligen Handlung passe usf. Sämtliche Be-
stimmungen sind erst am Ende der Poetik beisammen.
Zwar setzt Aristoteles’ Bestimmung des Gegenstandes der Literatur in der
Poetik Induktionsschlüsse voraus (das Verfahren legt Aristoteles in der Analyt.
Post. 97 b15 ff. am Beispiel dar, wie man vorgehe, wenn man klären wolle,
was Großmut sei):31 Ohne jemals verschiedene Künste wie Tanz, Musik und

31 Zum Unterschied zwischen wissenschaftlicher und topischer Induktion, der darauf beruht,
dass die Allgemeinaussagen der topischen Induktion Aristoteles zufolge prinzipiell widerleg-
bar sind, während die der wissenschaftlichen Induktion, die in den Analytika posteriora ver-
196 Ulrike Zeuch

Drama gesehen, ohne jemals Literatur gelesen oder gehört zu haben, wäre eine
theoretische Bestimmung dessen, was deren Wesen ausmacht, nicht möglich;
und Aristoteles selbst nennt eine Reihe literarischer Beispiele, deren Kennt-
nisse er voraussetzt und die er selbst kennt. Er wird an sich die Wirkung ver-
schiedener literarischer Werke beobachtet und sich beispielsweise gefragt
haben, warum die Epen Homers und die sophokleischen Tragödien auf ihn
eine im Vergleich mit anderen literarischen Werken besondere Wirkung ha-
ben, welcher Art diese Wirkung ist, was deren Ursachen sind und ob Homers
und Sophokles’ Werke nur auf ihn so wirken und auf andere nicht, oder ob
diese Wirkung allgemein von diesen Werken aufgrund deren spezifischer Be-
schaffenheit ausgeht.
Ohne das Einzelne als Ausgangspunkt für die theoretische Bestimmung
des Gegenstandes der Literatur wäre diese ohne Anhaltspunkt. Gleichwohl ist
bei der Untersuchung, die vom Einzelnen ausgeht, immer schon etwas voraus-
gesetzt, in dessen Licht das Einzelne beurteilt wird; das Einzelne selbst, und
seien es die Epen Homers, kann nicht dasjenige sein, von dem abgeleitet wer-
den kann, was Literatur selbst ist. Nur ist das Vorausgesetzte etwas, das zu-
nächst in seiner inhaltlichen Bestimmtheit erkannt werden muss; und das zu
erkennen, leistet nicht die Induktion, sondern die analytische Methode. Wenn
Robortello schreibt, von Homer leite sich alle Literatur ab („a quo [sc. Ho-
mero] omnis poetice derivata est“, Explicationes, S. 2), dann kann er sich da-
bei auf das seit der Antike geläufige Urteil, Homer sei das Paradigma für Lite-
ratur, beziehen.
Würde Aristoteles nicht von einem Vorausgesetzten, das heißt in diesem
Fall dem Ziel der Darstellung von ethisch relevanter Handlung menschlicher
Charaktere von bestimmtem Habitus, her argumentieren, sondern vielmehr
alles, was als Literatur gilt, sammeln und dann das diesen Texten Gemeinsame
als kleinsten Nenner erschließen, dann käme er etwa zu dem üblichen, aber –
wie er meint – zu pauschalen Schluss, der Vers sei es, der Literatur von Nicht-
Literatur unterscheide (Poetik 1447 b13-16). In jedem Fall könnte er das antike
Lehrgedicht, welches Medizinisches oder Naturwissenschaftliches themati-
siert, aber in Verse gefasst ist, von dem, was Literatur seiner Meinung nach
darstellen soll, nicht so entschieden ausschließen. Aristoteles setzt, indem er
synthetisch deduziert, was Gegenstand der Literatur ist, bereits ein Ergebnis
seiner aus der Methode der theoretischen Analysis gewonnenen Einsichten
voraus; er geht insofern undidaktisch vor, als er nicht zeigt, wie er zu diesem
Ergebnis gekommen ist.

handelt wird, bei der Erkenntnis des wissenschaftlichen Allegemeinen zwar hilft, es aber
nicht qua Induktion erschließt, siehe Markus Schmitz: Analysis und Analytizität (in Manu-
skriptform eingesehen).
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 197

Noch in anderer Hinsicht stützt sich Aristoteles auf induktive Syllogismen


als für die Erkenntnis allgemein bedeutsames Verfahren. Aristoteles vertritt die
Position, dass der Zuschauer bzw. Zuhörer oder Leser der Tragödie, dadurch
dass ihm eine bestimmte menschliche Handlung in einer bestimmten Situation
dargestellt wird, erkennt, wie der Charakter beschaffen ist, der die Ursache für
diese und keine andere Handlung ist. Für das Verfahren des Erkennens steht
der Begriff ‚syllogízesthai‘ (Poetik 1448 b16); von einer einzelnen, bestimm-
ten Handlung in einer bestimmten Situation wird auf die Ursache dieser be-
stimmten Handlung, also auf den Charakter von bestimmtem Habitus, ge-
schlossen. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen, das bereits in die syllo-
gistische Form gefasst ist, wobei der induktive Schluss in der oberen Prämisse
enthalten ist:
Jemanden, bloß weil er den Weg versperrt, zu erschlagen,
ist Ausdruck übermäßigen Zorns.
Ödipus erschlägt jemanden, weil er ihm den Weg versperrt.
Also handelt Ödipus aus übermäßigem Zorn.
Mit demselben induktiven Syllogismus gelangt man auch zur Bewertung die-
ser Handlung:
Im Übermaß zornig zu handeln ist Unrecht.
Ödipus handelt im Übermaß zornig.
Also handelt Ödipus unrecht.
Jeder, der induktive Syllogismen anwendet, muss sich fragen, ob die erste,
durch Induktion gewonnene Prämisse zutrifft und allgemein einsichtig ist;
denn andernfalls ist der Schluss verfehlt. Das gilt auch für die Bestimmung des
Gegenstandes der Literatur, welche Aristoteles in der Poetik nennt: Sie ist
keine subjektive Setzung oder erschlossen aus der allgemeinen zeitgenössi-
schen Überzeugung, sondern es gilt, sie rational auf ihre Richtigkeit und All-
gemeingültigkeit hin zu überprüfen.
Dass bei der analytischen Methode, die vom Einzelnen ausgeht, gleichzei-
tig etwas Allgemeines vorausgesetzt ist, in dessen Licht das Einzelne beurteilt
wird, verkennt Robortello. Zwar sagt er, durchaus im Sinne des Aristoteles, die
analytische Methode solle etwas finden, das bis dahin noch nicht hinreichend
erkannt sei (Explicationes, S. 5); aber das für ihn noch nicht hinreichend Er-
kannte hat den Status des ‚genus‘ bzw. der ‚species‘ (S. 5 und S. 7). Die Be-
griffe ‚genus‘ bzw. ‚species‘, welche Robortello verwendet, entsprechen der
zweiten Substanz der Kategorien, nicht, wie er meint, dem Allgemeinbegriff
der Analytika posteriora als Ergebnis der analytischen Methode. Robortello
nennt die ‚definitio‘ als Ziel seiner Analysis bzw. – und das ist bezeichnend für
die Vermischung des ‚genus‘ mit der ‚definitio‘ – das „genus in definitione“
(S. 6). Er verwendet mit ‚definitio‘ einen Begriff, der in den Analytika posteri-
ora für eine Art der zu findenden Prinzipien steht (90 b3ff.; 90 b30-31). Das
198 Ulrike Zeuch

‚genus‘ und die ‚species‘ aber sind der Aristotelischen Kategorienlehre zufolge
das generische Allgemeine – etwa die ‚species‘ Mensch des ‚genus‘ Lebewe-
sen –, nicht aber das für eine bestimmte Sache, eidetische Allgemeine.32 Das
‚genus‘ ist das im Prozess der Erkenntnis primäre Allgemeine, nicht aber das
tatsächlich Erste im Sinne der sachlichen Bestimmtheit. Etwas als zur ‚species‘
Mensch zugehörig erkannt zu haben, führt noch nicht zu dem, was das Wesen
des Menschen ausmacht.
Diese Frage aber ist, wie Aristoteles explizit am Anfang der Poetik sagt,
Gegenstand seiner Untersuchung. Die von Aristoteles vorgenommene Unter-
scheidung zwischen sachlich Erstem und den Erkenntnisschritten nach Erstem
(Analyt. Post. 71 b33-72 a5) kennt Robortello (Explicationes, S. 6). So hält er
fest, dass die analytische Methode in seinem Sinne, das heißt eigentlich die
Induktion, nicht vom der Sache nach Ersten ausgehe, sondern vom Einzelnen.
Aber Robortello irritiert, dass Aristoteles, obwohl er induktiv vorgehe, wie
Robortello Aristoteles unterstellt, trotzdem behaupte, ein Beweisverfahren zu
verwenden, das vom der Sache nach Ersten seinen Ausgang nehme (ebd.).
Zur Erläuterung, worin sich die beiden Verfahren unterscheiden, führt Ro-
bortello ein Beispiel an (S. 6): Man baut ein Haus, um vor Kälte und anderen
Unbillen des Wetters geschützt zu sein. Das ist die Funktion und zugleich die
Ursache, ein Haus zu bauen. Mithilfe des ‚methodus resolvens‘ werden die für
diesen Zweck notwendigen Bestandteile wie das Dach, die Decken, Wände
und das Fundament gefunden, die es dann in einem zweiten Schritt und in
umgekehrter Reihenfolge zusammenzusetzen gilt. Diese Zusammensetzung
(Synthesis oder ‚compositio‘) führt im Lichte der Funktion, die bereits als
bekannt vorausgesetzt ist, zu einer der möglichen Verwirklichungen von
Schutz vor Unbillen des Wetters.
Robortellos Beispiel wäre Aristoteles zufolge Gegenstand der praktischen
Analysis, insofern es um das Erschließen einer bestimmten Handlung (oder
einer Folge bestimmter Handlungen) geht, die für die Erfüllung eines be-
stimmten Zweckes erforderlich ist und in der Macht des Einzelnen steht. Als

32 Nach Robortello wird die Einebnung des Unterschieds zwischen dem generischen Allge-
meinen und dem sachlich ersten Allgemeinen nicht behoben, sondern man müht sich bis weit
ins 18. Jahrhundert an den Folgen ab, wie die Schwierigkeiten der Literaturtheorie bei der
Klärung des Status von ‚genus‘ im Sinne einer Allgemeinbestimmung von Literatur im Ver-
hältnis zu ‚genera‘ im Sinne von Gattungen sowie bei der eindeutigen Zuordnung einzelner
literarischer Werke zu bestimmten Gattungen bei Scaliger und dann bei Opitz zeigten; zur
Lösung dieser Probleme bzw. zur Legitimation des prekären, weil jederzeit widerlegbaren
Status’ des generischen Allgemeinen bezieht man sich auf die Methode der frühneuzeitlichen
Dialektik, wie sie in der Topik des Aristoteles zur Anwendung kommt, nämlich in Gestalt
von Wahrscheinlichkeitsoperationen, die nicht auf das wissenschaftlich gesicherte Allgemei-
ne abzielen, sondern auf ein stets falsifizierbares Allgemeines; zu Scaligers und in dessen
Nachfolge Opitz’ Bezugnahme auf die Wahrscheinlichkeitslogik der Humanisten siehe Trap-
pen: Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff (Anm. 29), S. 91ff.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 199

Funktion des Hauses nennt Aristoteles (Analyt. Post. 94 b9-10), seine Habe zu
schützen. In der Nikomachischen Ethik nennt Aristoteles als Gegenstandsbe-
reiche der praktischen Analysis anwendungsbezogene Wissenschaften wie die
Medizin, ferner Handwerk und Gewerbe. Um eines seiner Beispiele herauszu-
greifen: Im Falle der Medizin ist der Zweck, nämlich zu heilen, vorausgesetzt.
Die theoretische Analysis erschließt, dass im Hinblick auf die Gesundheit
geheilt wird und was deren sachliche Bestimmtheit ist. Aufgabe der prakti-
schen Analysis hingegen ist es, als Mediziner zu überlegen, wie im Einzelfall
vorzugehen ist, mit welchen Mitteln und auf welchem Weg am besten und
schnellsten; deswegen ist das Letzte der praktischen Analysis das Erste beim
Handeln, wie Aristoteles sagt (NE 1112 b11-25 ff.). 33
Dadurch, dass Robortello den Hausbau und das hierfür erforderliche Ver-
fahren als Erläuterung für die Methode zur Findung des Prinzips der Literatur
nimmt, wird deutlich, dass für ihn der Unterschied zwischen praktischer und
theoretischer Analysis nicht relevant ist. Dabei ist der Unterschied durchaus
von Bedeutung. Gegenstand der praktischen Analysis ist die Überlegung, wie
und durch welches Mittel man etwas Bestimmtes erreicht; sie setzt also die
Kenntnis des Prinzips (der Funktion, des Wesens einer Sache) voraus, er-
schließt es aber nicht. Die theoretische Analysis als Methode dient der Findung
von Prinzipien. Robortello geht also von einem bereits ‚gefundenen‘ Allge-
meinen bzw. – da das Denken seine Inhalte empfängt – von einem in der Vor-
stellung gegebenen Allgemeinen aus. Wäre Aristoteles aber nach der prakti-
schen Analysis in der Poetik vorgegangen, dann hätte er bezweckt, im Lichte
des bereits vorausgesetzten Allgemeinen – desjenigen, was Literatur ausmacht
– eine handlungsanweisende Dichtungslehre zu schreiben. Ihm aber geht es um
die Darlegung der Wesensbestimmungen und damit um das Prinzip der Lite-
ratur. Dahin gelangt man weder mit Hilfe der praktischen Analysis noch aus-
schließlich mit Hilfe der Induktion.
Robortello meint, seine Irritation – die darin besteht, dass er meint, Aristo-
teles ginge induktiv vor, jener aber von sich behauptet, ein Beweisverfahren zu
verwenden, das vom der Sache nach Ersten seinen Ausgang nimmt (Explicati-
ones, S. 6) – anhand der im Zusammenhang mit dem Hausbau dargelegten
Methode folgendermaßen lösen zu können: Aristoteles gebe zwar vor, vom der
Sache nach Primären auszugehen; dieses der Sache nach Primäre habe er aber
erst durch die analytische Methode gewonnen, denn die Deduktion oder der
‚methodus definiens‘ – wie er ihn nennt – könne nur zusammensetzen, was die
Analysis als zu der zu erkennenden Sache gehörige Einzelmomente bereits

33 Aristoteles: Ethica Nicomachea, hg. von Ingram Bywater, Oxford 1984 (1. Aufl. 1894); siehe
Marco Panza: Classical Sources for the Concepts of Analysis and Synthesis, in: ders. u.a.
(Hg.): Analysis and Synthesis in Mathematics, Dordrecht 1997, S. 365-414, zu Aristoteles’
Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer Analysis vgl. ebd., S. 370-383.
200 Ulrike Zeuch

erkannt habe: „postquam resolvente vsus est [sc. Aristoteles], imo dum vtitur,
simul clam adhibet componetem ad inveniendum genus“ (S. 6).
Robortello hat zwar recht, dass Aristoteles in der Poetik dem Leser nicht
Rechenschaft darüber ablegt, wie er zu dem Ergebnis auf der Grundlage der
analytischen Methode gekommen ist, und dass mit Hilfe der analytischen Me-
thode ein Ergebnis erschlossen worden ist, das dann der Ausgangspunkt der
synthetischen Deduktion ist, welche Aristoteles in der Poetik vorführt. Und er
hat auch dahingehend Recht, dass der Analysis (sowohl der praktischen wie
der theoretischen) eine Synthesis korrespondiert, die in umgekehrter Reihen-
folge vorgeht. Aber es trifft weder zu, dass Aristoteles beide Methoden
zugleich, noch, dass er die deduktive ‚heimlich‘ anwendet, noch, dass er damit
das ‚genus‘ zu finden beabsichtigt. Dass Aristoteles vom bereits gefundenen
Prinzip her argumentiert, ohne zu zeigen, wie er es mit Hilfe der theoretischen
Analysis gefunden hat, heißt nicht, dass er beide Methoden gleichzeitig an-
wendet, sondern lediglich, dass er es als ein bereits gefundenes Prinzip voraus-
setzt, da (so lässt sich vermuten) er das zu Findende – das Prinzip – durch die
Dichtungstheorien seiner Vorgänger, vor allem derjenigen Platons, für etwas in
seiner sachlichen Bestimmtheit bereits Erkanntes hält – ganz abgesehen davon,
dass die Poetik auf seiner Psychologie und Ethik fußt.34
Robortello hält als Ergebnis ein abstrakt Allgemeines als ‚universale‘ fest,
die Mimesis, nicht aber, was Gegenstand der Mimesis ist. Er verkennt den Un-
terschied zwischen theoretischer Analysis, die in Bezug auf die Frage, was das
Wesen der Literatur ist, durchaus vom Einzelnen ausgeht, aber etwas Allge-
meines voraussetzt, und der Induktion, die ausschließlich vom Einzelnen aus-

34 Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan Büttner in diesem Band, S. 31-63; vgl. auch ders.: Die
Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u.a. 2000
(Diss. Marburg, 1999), zu den Gemeinsamkeiten von Platons und Aristoteles’ Ansichten zur
Dichtung, S. 379-381; schon Platon unterscheidet in Mittel, Gegenstände und Weise der
dichterischen Darstellung. Auch die Bestimmung des Gegenstandes, die Darstellung han-
delnder Charaktere, ist identisch. Zwar unterscheidet Platon die Charaktere in der Politeia
nach ihrer hierarchischen Stellung: erst Götter und Dämonen, dann Heroen als Mischwesen
aus Mensch und Gott, dann die Menschen; sind diese ihrem Wesen nach auch verschieden, so
gibt es jedoch keinen grundsätzlichen Unterschied in der Charakterdarstellung von Gott und
Mensch: Auch der Mensch, wenn er gut ist, soll als gut handelnd und glücklich gezeigt wer-
den. Hinzu kommt nur noch die Darstellung schlechter Charaktere, die es bei Heroen, Dämo-
nen und Göttern ihrem Wesen nach definitionsgemäß nicht gibt. Platon und Aristoteles haben
auch in Bezug auf die Frage, was das Wesen speziell der Tragödie ist, wie sie und wen sie
darstellt oder welche Affekte sie auslöst, identische Ansichten; allein bezüglich der Einschät-
zung, wie diese Affekte auf die Charakterbildung der Zuschauer wirken, stimmen sie nicht
überein. Beide aber sind von der zentralen Bedeutung der Nachahmung – sowohl der eigenen
als auch der Rezeption der Nachahmung anderer – für die Charakterbildung überzeugt. Lite-
ratur kann unter der Voraussetzung, dass sie Einsicht in die Ursache von in einer bestimmten
Situation richtigem oder falschem Verhalten vermittelt, einen wesentlichen Beitrag zur Cha-
rakterbildung leisten.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 201

geht. Dabei wahrt Robortello begrifflich sehr wohl den Unterschied zwischen
Induktion und analytischer Methode: „Resolvens progreditur a singularibus ad
commune aliquod, et universale per inductionem“ (S. 6). Aber er meint, dass
sich die analytische Methode bei der Findung des Allgemeinen ausschließlich
der Induktion bediene. Damit trifft er Aristoteles’ Intention – auch wenn er
sich auf dessen 2. Buch der Analytika posteriora ohne Stellenangabe (S. 5)
beruft – nicht, denn Robortello bleibt im Unterschied zu Aristoteles bei dem
generischen Allgemeinen stehen. So ebnet er den Unterschied zwischen dem
generischen Allgemeinen als dem im Fortschreiten der Erkenntnis Primären
und dem sachlich bestimmten Allgemeinen als dem der Sache nach Primären
ein. Da es für Robortello neben dem aus dem Einzelnen abgeleiteten Allge-
meinen kein weiteres Allgemeines gibt – etwa ein solches, das der Erfahrung
vorausginge und das bei der Unterscheidung dessen, was etwas ist, von dem,
was diesem nur akzidentell zukommt, leitend wäre –, muss man entweder von
aller Besonderheit des Einzelnen absehen, oder man hat Not zu begründen, wie
etwas höchst Individuelles zugleich etwas Allgemeines sein kann.35
Neben diesem im Vorangegangenen erörterten Widerspruch gibt es noch
einen weiteren, ebenfalls für die Nachfolgezeit folgenreichen: den zwischen
dem in der Erfahrung Gegebenen und dem Fiktiven. Für Aristoteles ist die
Faktizität – etwa dass ein in der Literatur handelnd Dargestellter wirklich ge-
lebt hat und insofern historisch bezeugt ist – nebensächlich und deshalb für das
Spezifische der Literatur irrelevant (Poetik 1451 b15 ff.). Robortello zufolge
soll Literatur hingegen das nachahmen, was in der Vorstellung an Gegenstän-
den aufgrund zuvor gemachter Wahrnehmung bildlich präsent ist; andererseits
hält Robortello das Fiktive für den eigentlichen Gegenstand der Literatur.36 So
legt er zu Beginn seiner Explicationes dar, dass Sprache verschiedene Metho-

35 Bei Robortellos Einebnung der Unterschiede zwischen theoretischer Analysis und Induktion
handelt es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um eine in seiner Zeit allgemeine, wissen-
schaftstheoretisch relevante Tendenz, die sich auch in anderen Disziplinen zeigt; Thomas
Leinkauf: Freiheit und Geschichte. Francesco Patrizi und die Selbstverortung der menschli-
chen Freiheit in der Geschichte, in Rudolph: Die Renaissance und ihre Antike (Anm. 22),
S.79-94, hier: S. 91, weist darauf hin, dass sich Patrizis Methode an den zeitgenössischen ex-
akten Wissenschaften, vor allem der Anatomie, orientiere: Analog zu dieser sei, um in der
Geschichtswissenschaft die Ursache menschlichen Handelns zu erkennen, von den für eine
Handlung konstitutiven Umständen zu abstrahieren, um zur Handlungsursache vorzudringen.
Patrizi bemüht in diesem Zusammenhang das Bild der Zwiebel, deren Schalen zu entfernen
seien, um den eigentlichen Kern enthüllen bzw. herauspräparieren und zur Substanz vordrin-
gen zu können.
36 Petersen: Mimesis (Anm. 12), S. 46f. und 97f. hingegen ebnet diesen fundamentalen Unter-
schied zwischen Aristoteles und Robortello ein, indem er ersterem unterstellt, ihm schon ge-
he es in der Literatur primär um Darstellung von Fiktivem, in der Wirklichkeit nicht Erfahr-
barem, das heißt in diesem Sinne Unmöglichem, und Petersen nimmt den Widerspruch bei
Robortello nicht wahr.
202 Ulrike Zeuch

den anwende – die demonstrative, dialektische, rhetorische, sophistische und


poetische –, in verschiedener Gestalt auftrete und von verschiedenen Gegen-
ständen handele; Sprache allgemein habe die Aufgabe, den Unterschied zwi-
schen Wahrem und Falschem darzulegen; von den fünf genannten Methoden
entferne sich die poetische am meisten vom Wahren. Ihr Gegenstand sei das
Falsche und Märchenhafte („falsum, seu fabulosum“, S. 1), das Lügnerische
(„mendacium“, S. 2); diese Aussage wiederholt Robortello mehrfach; sie
scheint ihm also wichtig zu sein. Wenn Fiktivität aber als Kriterium dafür, was
Literatur ist, zu gelten hat, dann ist sie mit dem, was etwas ist, das heißt mit
der Realität, als dem in der Vorstellung Gegebenen, unvereinbar.
Die von Robortello der Literatur bescheinigte Lügenhaftigkeit bekommt
nur eine Einschränkung auferlegt: Das Unwahre soll doch glaubwürdig sein,
das heißt mit der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Das ‚verisimile‘
diskutiert Robortello ausführlich im Zusammenhang mit der Stelle in der Poe-
tik (1451 a36-38; Explicationes, S. 86f.), nach welcher es nicht Aufgabe des
Dichters sei, mitzuteilen, was geschehen ist, sondern das dem Wahrscheinli-
chen bzw. Notwendigen nach Mögliche darzustellen. Er geht hier jedoch nicht
auf die Stelle gleich im Anschluss (1451 b6-10) ein, die präzisiert, was damit
gemeint ist, nämlich dass es sich dabei um eine bestimmte Handlung handelt,
die ihre Ursache in einem Charakter hat und im Lichte dieses Charakters ent-
weder wahrscheinlich oder sogar notwendig ist.
Nicht nur lässt Robortello in seinem Kommentar zu dieser Stelle das für
einen bestimmten Charakter Wahrscheinliche im Notwendigen – im Sinne
einer immer gültigen Haltung – aufgehen, so dass sich das Problem stellt, wie
Literatur sowohl der Forderung nach Darstellung von Notwendigem – das so
sein muss und nicht anders sein darf – als auch der Forderung nach Darstellung
von etwas, das so oder auch anders sein kann, nachkommen könne; auch be-
reitet er, indem er das Wahrscheinliche bzw. Notwendige abgelöst vom Kon-
text – nämlich der für einen bestimmten Charakter wahrscheinlichen bzw.
notwendigen Handlung – diskutiert, eine Umdeutung der Mimesis von Wahr-
scheinlichem im Sinne der Entfaltung von Möglichkeitswelten vor.

Robortello und die Literaturtheorie bis 1800

Robortellos Erweiterung und Einengung des Gegenstandsbereichs der literari-


schen Mimesis wird in der Nachfolgezeit fortgesetzt und weiter entwickelt; die
bei Robortello bereits erkennbaren Widersprüche werden nicht gelöst, sondern
entweder ignoriert oder unbemerkt übernommen. Auf welche Weise Robor-
tellos Vorgaben weiter entwickelt werden, soll im Folgenden exemplarisch
dargelegt werden.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 203

Die Verallgemeinerung, Literatur habe Möglichkeitswelten zum Gegen-


stand, die mehr oder minder glaubwürdig seien und damit der allgemeinen
Erfahrung mehr oder minder entsprächen, sowie die Ablösung des Sein-Kön-
nens vom Kontext der aufgrund eines bestimmten Charakters möglichen be-
ziehungsweise wahrscheinlichen Handlung vollzieht nicht Robortello selbst,
sondern Iulius Caesar Scaliger.37 Das Sein-Können kann seitdem als Legitima-
tion von Fiktion gelesen werden. So begründet Scaliger die Wertschätzung der
Komödie damit, dass sie ganz und gar Fiktion sei: „In eo [sc. comoedia poe-
mata] enim ficta omnia et materia quaesita tota“ (Poetices libri septem, Buch
1, 5b).38 Das Sein-Können im Sinne von Wahrscheinlichkeit ist aber auch das
einzige Korrektiv einer ansonsten bindungslosen Imagination; so meint Scali-
ger, dass Unwahres als Gegenstand der Literatur „tamen pro vero acceptum
eam admittit vulgo significationem [sc. scientiae]“ (Buch 1, 2a).
Analoges gilt für das Sein-Sollen. Zwar fällt bereits Robortellos abstrakt
generisches Allgemeines mit dem Notwendigen im Sinne einer immer und
uneingeschränkt vorbildhaften Haltung eines Menschen zusammen. Aber er
nennt immerhin noch einzelne Eigenschaften wie Klugheit oder Frömmigkeit.
Scaliger treibt die Abstraktion noch weiter, insofern er nur noch von Tugend-
haftigkeit (Buch 3, 91a) spricht. Auch hält Robortello dieses Allgemeine – in
wenn auch sachlich bereits entfernter Anlehnung an Aristoteles – immer noch
für etwas Notwendiges innerhalb menschlicher Handlung. Bei Scaliger hinge-
gen ist das Sein-Sollen losgelöst von diesem Kontext. So heißt es bei Scaliger
in Erweiterung des Horazischen „aut prodesse volunt aut delectare poetae“
(Ars poetica, Z. 333) als Zweck und Wirkungsabsicht von Dichtung: „Res
omnes nostrae aut necessarii aut utilis aut delectabilis genere comprehendun-
tur“ (Poetices libri septem, Buch 1, 1a). Literatur hat Scaliger zufolge nicht nur
existierende Dinge, sondern auch fingierte zum Gegenstand, und sie verge-
genwärtigt, wie sie sein könnten oder müssten.39

37 Zur Wirkungsgeschichte August Buck: Einleitung, in: Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri
septem, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987 (ND der Ausgabe Lyon 1561), S. V-XX, hier: S. XIIf.;
Luc Deitz: Einleitung, in: Iulius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über
die Dichtkunst, unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. von Luc Deitz u. Gregor Vogt-
Spira, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. XXXVIff.; zitiert wird im Folgenden nach der
Ausgabe von Luc Deitz und Gregor Vogt Spira.
38 Zwar nennt Aristoteles als einen Unterschied zwischen Komödie und Tragödie, dass letztere
auch historisch belegte Personennamen verwende, erstere nicht oder kaum – der Ko-
mödienschreiber vielmehr erst die Handlung gemäß dem Wahrscheinlichen komponiere und
sich dann dazu entsprechende Namen suche (Poetik 1451 b11ff.). Aus der Formulierung
‚gemäß der Wahrscheinlichkeit‘ ist aber ersichtlich, dass es Aristoteles in diesem Passus kei-
neswegs um Fiktionalität als Wesensbestimmung der Komödie geht.
39 Scaliger: Poetices libri septem (Anm. 37), Buch 1, 1b: „Hanc autem poesim appellarunt
propterea, quod non solum redderet vocibus res ipsas quae essent, verum etiam quae non es-
sent quasi essent, et, quo modo esse vel possent vel deberent, repraesentaret“ (Buch 1, 1b).
204 Ulrike Zeuch

Was aber ist der Gegenstand, den es zu vergegenwärtigen (repraesentare)


gilt? In den Exercitationes40 zu Cardanus schreibt Scaliger, die Sinne erfassten
bloß Akzidentien, der Intellekt hingegen abstrahiere Ort, Zeit und Ausdehnung
bzw. Quantität von dem in der Vorstellung Gegebenen und erschließe auf
diese Weise die „species substantialis vniversalis“ (S. 891). Wie der Intellekt
zur Erkenntnis der allgemeinen Substanz kommt, wenn die Sinne selbst nichts
eigentlich Substanzhaftes erfassen, der Intellekt aber keinen anderen Gegen-
stand hat als den durch die Sinne gegebenen, sagt Scaliger nicht: Der Intellekt
ist in Bezug auf den ihm gegebenen Gegenstand passiv: „Quia videtur eodem
recipi tenore species rei in sensum primo, in phantasiam mox, tum in intellec-
tum“ (S. 916). Der Intellekt wird aktiv, indem er die „prima apprehensio notio-
num“ oder das in der Vorstellung Gegebene „agitat, dividit, componit, dedu-
cit“ (S. 917). Zwar sind in den von Scaliger dem Intellekt zugeschriebenen
Aktivitäten die Analysis, die Synthesis und die Deduktion als Verfahren noch
präsent; auch betont Scaliger, der Gegenstand des Intellekts sei ein qualitativ
anderer: aber aufgrund der Rezeptivität und Erfahrungsimmanenz des Er-
kenntnisgegenstandes bleibt offen, wie der Intellekt zu einem derart qualitativ
anderen Gegenstand zu kommen in der Lage ist. So bedeutet ‚repraesentare‘
für Scaliger nicht anders als für Robortello die sinnliche Vergegenwärtigung
eines in der Vorstellung Gegebenen, das dem Anspruch nach aber mehr als die
Vorstellung von ehedem sinnlich Wahrgenommenem sein soll. Noch in ande-
rer Hinsicht schreibt Scaliger Robortellos literaturtheoretische Positionen fort,
indem er sie ins Pragmatische wendet: Scaliger versteht seine Poetices libri
septem als handlungsanweisende Dichtungslehre – eine Position, die bei Ro-
bortello durch die Nivellierung des Unterschieds zwischen theoretischer und
praktischer Analysis zwar bereits angelegt, aber noch nicht vollzogen ist. Sca-
liger hingegen sagt explizit: „Poetice vero scientia, id est habitus ex disposi-

Petersen: Mimesis (Anm. 12) ignoriert den bei Scaliger bestehenden Widerspruch zwischen
Mimesis von sinnlich Vorgestelltem einerseits und Fiktion als Gegenstand der Literatur ande-
rerseits, indem er den bestehenden Widerspruch in seiner Interpretation aufhebt: Petersen zu-
folge meint Scaliger, dass Nachahmung von Wirklichem durch den Akt der Nachahmung
Wirkliches in Fiktives verwandele und die Darstellung umgekehrt diesem Fiktiven den Status
von Wirklichem verleihe: „Insofern bedeutet imitatio bei Scaliger einerseits Nachahmung,
nämlich Nachahmung der Wirklichkeitsaussagen in Gestalt poetischer Seins-Aussagen; da
diese sich aber auf Ausgedachtes, Erfundenes, Fiktives beziehen und es dadurch als seiend
qualifizieren, bringen sie anderseits eine neue Welt hervor und bilden insofern das Gegenteil
von Wirklichkeitsnachahmung“ (S. 129).
40 Iulius Caesar Scaliger: Exotericarum exercitationum liber XV De subtilitate ad Hieronymum
Cardanum, Hannover 1634 (HAB Li 7800); vgl. Spruit: Species Intelligibilis (Anm. 18), Bd.
2, S. 250ff., der hervorhebt, dass Scaliger in den Exercitationes die Position vertritt, „that the
soul forms the species of substances on the basis of species of accidents which originate from
the perceptual faculties“ (S. 251).
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 205

tione praeceptionum quibus docemur ad conformitationem hanc quam poesin


appellamus“ (Buch 1, 6a).
Konsequent setzt Scaliger Robortellos Position, alles sei Gegenstand lite-
rarischer Mimesis, in die Praxis um: Im 3. Buch der Poetices libri septem, das
„Idea“ überschrieben ist, nennt er eine Fülle möglicher Gegenstände.41 Statt
Homer gilt Scaliger Vergil (Buch 3, 82b) als Paradigma der Literatur, dessen
Werk, vor allem der Aeneis, als sekundärem Kosmos alle nur möglichen Ge-
genstände zu entnehmen seien. Neben wirklichen, lebenden Personen (deren
äußerer Erscheinung, Körper, Charakter, Auftreten usf.) nennt Scaliger fiktive
Personen, ferner die durch Gott, die Natur oder den Menschen geschaffenen
Dinge, die Zeit, den Ort, die Werkzeuge, mit denen man handelt oder etwas
ausführt, wie die Ursachen dieser Dinge, die es zu beschreiben gelte – Scaliger
wählt, auch hierin Robortello folgend, den Ausdruck ‚describere‘ (Buch 3,
80a). Dabei sind die Dinge, die Scaliger aufzählt, äußerst heterogen sowohl
hinsichtlich ihrer sachlichen Bestimmtheit wie ihrer Darstellbarkeit. Denn Kör-
per, Auftreten und äußere Erscheinung einer Person lassen sich sehr wohl
beschreiben, kaum aber der Charakter oder gar die Ursachen aller der von ihm
genannten Dinge – von der Letztursache, Gott, ganz zu schweigen.
Scaligers Aufzählung ist geleitet von derselben Intention, die schon bei
Robortello erkennbar ist: möglichst vollständig alle Phänomene zu erfassen,
die in den Bereich der literarischen Wiedergabe fallen, wobei er nicht erörtert,
worin die mögliche Allgemeinheit etwa in der Beschreibung eines Werkzeuges
bestehen könnte. Während Robortello Nachahmung von Handlung in der Ein-
leitung zu seinen Explicationes noch an erster Stelle nennt, spielt diese bei
Scaliger eine untergeordnete Rolle im Vergleich mit der Beschreibung der Per-
son bzw. des sie bestimmenden Affekts im Sinne einer inneren Handlung
(Buch 3, 104a); bezeichnenderweise hält Scaliger die ‚mores‘ für „affectus
animalibus connati“ (ebd.). Scaliger vollzieht damit die Verlagerung von Mi-
mesis menschlicher Handlung zur Mimesis der Person, die in Robortellos
Explicationes bereits angelegt ist.
Martin Opitz bringt Scaligers Intention auf den Begriff,42 wenn er – im
Buch von der Deutschen Poetery auf Scaligers 3. Buch der Poetices libri sep-
tem explizit Bezug nehmend – sagt, dass der Dichter alle Dinge, „die wir vns
einbilden können / [die] Himlischen vnd jrrdischen / die Leben haben vnd
nicht haben“ (S. 360), auch sprachlich fassen könne. Von Mimesis menschli-

41 Trappen: Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff (Anm. 29), S. 96, hebt hervor, dass
Scaliger ab dem 95. Kapitel der Poetices libri septem das Diaphoron ‚res‘ einführe, das ihm
als „Plattform für die Behandlung der klassischen Gattungen“ diene und sich deshalb als das
für Scaliger zentrale Kriterium erweise.
42 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, in: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe,
hg. von George Schulz-Behrend, Bd. 2/1, Stuttgart 1978.
206 Ulrike Zeuch

cher Handlung ist nicht mehr die Rede. Indem Opitz betont, dass es um die
sprachliche Fassung von allem, was man sich nur einbilden könne, gehe, setzt
er Robortellos Intention fort, der Literatur eine umfassende Funktion hinsicht-
lich der Darstellung von Vorstellbarem zuzuweisen; in der Nachahmung von
Belebtem und Unbelebtem setzt sich Robortellos Forderung nach „repraesen-
tationem [...] omnium rerum tum animatarum, tum inanimatarum“ (Explicatio-
nes, S. 2) fort. Explizit liegt der Akzent auf der Vorstellbarkeit als Kriterium
für die Darstellbarkeit, so als sei das der Einbildung Zugängliche auch der
einzige darzustellende Gegenstand der Literatur.
Indem Opitz neben Irdischem auch Himmlisches als Gegenstand der Ein-
bildungskraft nennt, treibt er Robortellos Erweiterung des Gegenstandsbe-
reichs weiter. Dabei setzt er stillschweigend voraus, dass die Einbildungskraft
nicht zwingend an eine zunächst sinnliche Präsenz eines Gegenstandes gebun-
den ist, sondern auch Nichtsinnliches – Götter und Engel und dergleichen –
imaginieren kann; denn Opitz weiß sehr wohl, dass „Gott ein vnbegreiffliches
Wesen“ (Poeterey, S. 344) ist und sich noch viel mehr der Vorstellbarkeit und
damit auch der Darstellbarkeit entzieht. Auf der Grundlage dieser stillschwei-
genden Voraussetzung kann Opitz aber Robortellos theoretischen Widerspruch
übergehen bzw. ignorieren, einerseits Fiktives für den genuinen Gegenstand
der Literatur auszugeben, andererseits die Repräsentierbarkeit an die sinnliche
Präsenz zu binden:43 Ja er selbst übernimmt ihn, wenn er einerseits sagt, die
Literatur stimme „mit der warheit nicht allzeit vberein“ (S. 350), andererseits,
sie bestehe „im nachäffen der Natur“ (ebd.).
Gleichwohl bleibt Robortellos (sinnliche) Vorstellbarkeit als Kriterium für
Darstellbarkeit bindend – nicht nur für die Literaturtheorie des 17., sondern
auch für die des 18. Jahrhunderts. Johann Christoph Gottsched (im Versuch

43 Xaver Stalder: Formen des barocken Stoizismus. Der Einfluß der Stoa auf die deutsche
Barockdichtung. Martin Opitz, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg,
Bonn 1976, S. 40, verkennt, dass die stoische Typosislehre auch für den Mimesis-Begriff von
Opitz relevant ist, wenn er meint, die sprachliche Beschreibung der Dinge, die Opitz im 5.
Kapitel der Poeterey fordert, setze deren Erkanntsein durch die Vernunft voraus; Opitz
spricht am Anfang des 6. Kapitels der Poeterey aber nicht von Vernunft, sondern von Gemüt
als Ort, da die Dinge vom Subjekt erfasst werden. Petersen: Mimisis (Anm. 12), S. 138, kons-
tatiert zwar zu Recht den Widerspruch, lastet ihn aber Opitz allein an (ebd.), ohne zu bemer-
ken, dass er der wirkungsgeschichtlichen Vermittlung, das heißt im Falle von Opitz beson-
ders der Vermittlung durch Scaliger geschuldet ist; dabei sieht Petersen den besonderen Stel-
lenwert von Scaliger für Opitz’ „Nachahmungsformel“ durchaus (ebd.). Dass Opitz den Wi-
derspruch nicht gesehen hat, halte ich für wahrscheinlich: dass er aber – wie Petersen in der
Absicht, Opitz’ Widerspruch aufzuheben, ihm unterstellt – nicht gemeint habe, was er sagte,
und in „Gedankenlosigkeit“ (S. 138) eine Formel übernommen habe, obwohl er eigentlich die
Abkehr von der Nachahmung eines Gegebenen gewollt habe, halte ich wegen der Bedeutung
der sinnlichen Präsenz der Gegenstandswelt für die Mimesis seit der Frühen Neuzeit für un-
wahrscheinlich (S. 145): Opitz war beides wichtig.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 207

einer Critischen Dichtkunst) zufolge nimmt die Literatur oder Poesie (wie er
sie nennt) innerhalb der ‚artes liberales‘ eine Vorrangstellung ein, denn sie
habe ausschließlich den Menschen, seine Natur, seine „Gemüthsneigungen“
(S. 115), und zwar „alle unsere Gemüthsbewegungen“ (S. 116) zum Gegen-
stand.44 Robortellos ‚imitatio omnium motionum‘ korrespondiert dem. Der Be-
griff der menschlichen Natur, die es in der Literatur nachzuahmen gilt, ist
jedoch nur zu Beginn von Gottscheds Critischer Dichtkunst so eindeutig. Der
Begriff der ‚Natur‘ bezieht sich einerseits auf den Menschen, und da vorzugs-
weise auf seine Empfindungen; er meint aber auch die Nachahmung „aller
natürlichen Dinge“ (S. 147), das heißt die Nachahmung aller der Dinge, wel-
che der Mensch „sieht und höret“ (S. 150), kurz: welche er wahrnimmt bzw.
welche er sich sinnlich vorstellt. Johann Jacob Breitinger erklärt in der Criti-
schen Dichtkunst45 die große Wirkung, die von der literarischen Beschreibung
der Natur ausgehe, damit, dass mit ihr beschrieben werde, „was ich gesehen,
was ich gehöret habe; oder was ich mit meinen Augen sehen, mit meinen Oh-
ren hören würde, wenn mir das Original von dieser Sache vor Augen oder zu
Ohren käme“ (Bd. 1, S. 66). Friedrich Schlegel (im Gespräch über die Poe-
sie)46 hält „die Welt der Poesie“ für so „unermeßlich und unerschöpflich“ wie
den „Reichtum der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen
jeglicher Art, Gestalt und Farbe“ (S. 285); eben dieser Reichtum sei der vor-
zügliche Gegenstand literarischer Tätigkeit, ihr Stoff, wie er dem vorrationalen
Bewusstsein der dichterischen „Fantasie“ (S. 319) vorliege.
In konsequenter Fortführung verknüpft Opitz Robortellos allgemeine Ge-
genstandsbestimmung der Literatur, Fiktives darzustellen, mit dessen Forde-
rung, eine Verhaltensnorm zu versinnbildlichen. Dabei bezieht er wie Scaliger
vor ihm Aristoteles’ Formulierung, dass es in der Tragödie um Nachahmung
von bestimmter Handlung gehe, wie sie der Wahrscheinlichkeit nach oder gar
mit Notwendigkeit bei einem Charakter von bestimmter Anlage in einer be-
stimmten Situation zu erwarten sei, ‚auf alle Dinge‘; und er legt Aristoteles’
Bestimmung des Gegenstandes der Tragödie als Mimesis menschlicher Hand-
lung, welche „im nachäffen der Natur bestehe / vnd die dinge nicht so sehr
beschreibe wie sie sein / als wie sie etwan sein köndten oder solten“ (Poeterey,
S. 350), in Robortellos Sinne aus. So verwundert es nicht, dass er von Robor-
tello auch den Widerspruch übernimmt, Literatur habe sich an die Wirklichkeit

44 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst: Erster allgemeiner Theil,
in: Ausgewählte Werke, hg. von Joachim Birke u. Brigitte Birke, Bd. 6/1, Berlin u. New York
1973, S. 115.
45 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst, mit einem Nachwort von Wolfgang Bender,
2 Bde., Stuttgart 1966 (ND der Ausgabe Zürich u. Leipzig 1740), Bd. 1, S. 66.
46 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg.
von Ernst Behler u.a., Bd. 2, München u.a. 1967, S. 284-328.
208 Ulrike Zeuch

zu halten – wobei Opitz dies durch den Ausdruck ‚nachäffen‘ nicht positiv
markiert –, sie müsse gleichzeitig aber auch etwas darstellen, das sein könne
bzw. sein solle. Das Sein-Können lässt sich lesen als Legitimation für literari-
sche Entfaltung von Möglichkeitswelten, das Sein-Sollen bleibt zugeschnitten
auf eine Verhaltensnorm, durch deren Versinnbildlichung Literatur „zue aller
tugend vnnd guttem wandel anführen“ (S. 345), mithin zur Tugendhaftigkeit
selbst anleiten soll.
Indem Opitz den Gegenstand der Nachahmung an die Einbildungskraft
bindet, ihn andererseits auf eine bestimmte, menschliche Verhaltensnorm ein-
engt, steht er vor demselben Dilemma wie Robortello, nämlich etwas Allge-
meines und Normatives aus etwas Einzelnem, deskriptiv Erfasstem erschließen
zu wollen. Denn das will Opitz, sonst würde er nicht die zentrale Bedeutung
der Einbildungskraft als Konstituens des Gegenstandes literarischer Mimesis
betonen. Ungeklärt bleibt nicht anders als bei Robortello auch bei Opitz die
Frage, wie derjenige, der das Sein-Sollen der Dinge literarisch gestalten will,
zur Kenntnis dieser Norm(en) kommt, wenn er andererseits lediglich in Worte
zu fassen hat, was er in der Vorstellung oder Einbildungskraft vorfindet; und
das ist nun zunächst einmal sinnlich Erfahrbares, in jedem Fall aber Einzelnes.
So bleibt angesichts dieses Dilemmas Opitz nur der Sprung in die Invention
bzw. die Idealisierung, die in der Realität ohne Vorbild ist.
Analoges gilt für Gottsched. Um den verschiedenen Forderungen der Mi-
mesis, wie sie seit Robortello unvereinbar nebeneinander bestehen, gerecht zu
werden, unterscheidet Gottsched drei verschiedene Arten der Nachahmung: (1)
die bloße Beschreibung, die sich auf alles Wahrnehmbare, aber auch auf „in-
nerliche Bewegungen des Herzens“ (S. 195) beziehen soll (S. 196), (2) die
Imagination eines Gemüts mit bestimmten Affekten auf der Grundlage selbst
empfundener Gefühle, (3) die Fiktion (S. 202ff.) bzw. die fiktionale Einklei-
dung eines moralischen Lehrsatzes (S. 203).47 Je mehr sich die Mimesis vom
bloßen Beschreiben entfernt, desto höher bewertet Gottsched sie. Zwar hebt er
in Anlehnung an Aristoteles die Nachahmung als anthropologisches Faktum
hervor (S. 150, 178 und 191); aber das Nachäffen (Dichtkunst, S. 150), die
„bloße Beschreibung“ (S. 195), das ‚describere‘, das beispielsweise Robortello
und Scaliger (noch) wichtig ist, um Wirklichkeitsnähe und Gegenstandstreue
zu garantieren, wertet er als gering (S. 196). Als eigentlichen Gegenstand der
Literatur nennt Gottsched stattdessen die Einkleidung eines „moralischen
Lehrsatz[es]“ (S. 203) mit Hilfe der Fiktion, mit Hilfe des – wie er selbst sagt –
Unwahren oder Wunderbaren (S. 244). Der Lehrsatz entspricht dem Sein-Sol-

47 Petersen: Mimesis (Anm. 12) hat zwar Recht, wenn er die von Gottsched angeführten ver-
schiedenen Nachahmungsweisen für „Ungereimtheiten“ (S. 182), das heißt für miteinander
nicht vereinbar hält, aber sie sind keineswegs spezifisch für Gottsched, wie Petersen (ebd.)
meint, sondern sie sind ein wirkungsgeschichtliches Erbe der Frühen Neuzeit.
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 209

len, die Einkleidung dem Sein-Können im Sinne fiktiver Möglichkeitswelten;


letztere ist so zu gestalten, dass „dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich
in die Sinne fällt“ (S. 215). Das Fiktive wird durch Gottsched eigens legiti-
miert: Dem Dichter stünden „alle mögliche[n] Welten zu Diensten“ (S. 206).
Wie sehr die Fiktion noch im 18. Jahrhundert ihrer Legitimation bedarf,
wird an Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst deutlich. Das Neue,
das heißt „alles dasjenige, was nicht durch den täglichen Gebrauch und Um-
gang bekannt und gewohnt ist“, sei der eigentlich Vergnügen bereitende Ge-
genstand der Literatur (Bd. 1, S. 111); obwohl neu, bewahre das Neue aber
dennoch den „Schein des Wahren und Möglichen“ (Bd. 1, S. 130); erst das
Wunderbare lege diesen Schein ab. Aber selbst das Wunderbare muss, so Brei-
tinger, „immer auf die würkliche oder die mögliche Wahrheit gegründet seyn“
(Bd. 1, S. 131), und unter möglicher Wahrheit versteht Breitinger – wie nicht
anders zu erwarten – konsensuell beglaubigte Wahrscheinlichkeit (Bd. 1, S.
134 und 138); folglich ist der von Breitinger konstruierte Unterschied zwi-
schen Neuem und Wunderbarem der Sache nach nicht existent.
Wertet Gottsched auch das Nachäffen eines Gegebenen als gering und löst
sich von der Bindung an die sinnliche Präsenz der Objekte, so folgt er durch
die Betonung, dass der Lehrsatz in die Sinne zu fallen habe, doch dem zweiten
Teil des ganz zu Anfang zitierten Satzes Robortellos von der Repräsentation,
Imitation und Beschreibung der Dinge. Nicht anders sucht Johann Jacob Bod-
mer in seiner Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie48
das Wunderbare (wie etwa die Engel, obwohl sinnlich nicht erfahrbar) durch
ihre „sichtbare und Cörperliche Vorstellung“ (S. 34) als Gegenstand der Lite-
ratur zu rechtfertigen; ja er geht sogar so weit zu behaupten, die sinnliche Dar-
stellung dessen, was nicht wahrnehmbar ist, sei das „Hauptwerck der Poesie“
(S. 32). Breitinger formuliert analog, die Poesie mache „das unsichtbare sicht-
bar“ (S. 19).
Die Forderung nach sinnlicher Präsenz einer allgemeinen und zugleich
notwendigen Handlung, die damit zur generellen Haltung wird, wie Robortello
sie schon formuliert, führt weg von der Darstellung einzelner Menschen zu-
gunsten eines wie auch immer gearteten Exemplarischen. Wenn Friedrich
Schlegel im Gespräch über die Poesie sagt, nicht „das bloße Darstellen von
Menschen, von Leidenschaften und Handlungen“ (S. 318) mache das Wesen
der Poesie aus; vielmehr habe sie zum Gegenstand dasjenige, was „in der Dar-
stellung von Charakteren, Situationen, Leidenschaften das Wesentliche, In-
nere“ sei, der „Geist“ (S. 306), und dieser sei nichts anderes als die Menschheit
selbst (S. 286); dann zieht er aus Robortellos Forderung nach Allgemeinheit
der darzustellenden Person die bis dahin noch nicht gezogene, aber nach Scali-

48 Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, mit
einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966 (ND der Ausgabe Zürich 1740).
210 Ulrike Zeuch

ger durchaus naheliegende Konsequenz; denn er löst die aller inhaltlichen


Bestimmtheit ledige Tugendhaftigkeit zugunsten eines generellen Mensch-
Seins auf. So konstatiert Schlegel, „daß kein Mensch schlechthin nur ein
Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in
Wahrheit sein kann und soll“ (S. 286) – wobei ‚Menschheit‘ inhaltlich unbe-
stimmt gehalten ist.
In praktischer Umsetzung dieser Forderung, dass der Gegenstand der lite-
rarischen Mimesis – die Menschheit allgemein – in die Sinne zu fallen habe,
versucht Novalis im Heinrich von Ofterdingen49 den Inbegriff des Menschen
darzustellen, der alles nur Erfahrbare zu allen Zeiten und in allen Lebensberei-
chen und geographischen Räumen im Traum, das heißt in der vorbewussten
Vorstellung antizipiert, um dieses Erfahrene dann als Spiegel seiner selbst,
nicht in einem abstrakt allgemeinen Begriff, sondern in einem sinnlich erfahr-
baren Bild – der blauen Blume – zu schauen. Gelöst ist damit das Problem, wie
ein einzelner Mensch zugleich der Inbegriff des Menschen sein kann und lite-
rarisch gestaltet sein soll, allerdings keineswegs.
Friedrich Schlegel ersetzt die in einem exemplarischen Menschen versinn-
bildlichte Tugendhaftigkeit oder Verhaltensnorm durch die Versinnbildlichung
der Menschheit; diese Versinnbildlichung soll aber zugleich allgemein und
verbindliche Norm sein, ohne dass Schlegel noch sagen würde, worin das
Sein-Sollen inhaltlich besteht. Sachlich ist Schlegels Verlagerung durch Fried-
rich von Blanckenburg vorbereitet. Für Blanckenburg gilt im Versuch über den
Roman50 von 1774 zunächst, der Gegenstand des Romans als moderner Gat-
tung, die dem antiken Epos korrespondiere, seien „Handlungen und Empfin-
dungen des Menschen“ (S. 17), und zwar solche, die zugleich der „Mensch-
heit“ (S. 19) allgemein seien, das heißt der „nackte[n] Menschheit, die, von
allem, was ihr Sitten und Stand, und Zufall geben können, entblößt“ sei (Vor-
bericht). Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass es Blanckenburg nicht um
Handlungen, sondern um das „Innre des Menschen“, um die „Geschichte sei-
nes Charakters“ geht (S. 401). Ein Einzelner kann in seinem Inneren nur dann
allgemeinmenschlich empfinden, wenn, so Blanckenburg weiter, Verstand und
Tugend „in einem Charakter vereint“ (S. 62) sind.
Dabei geht es Blanckenburg anders als noch Gottsched nicht um morali-
sche Vollkommenheit, „die sich in Menschen, abstrahiert von allen Umständen
und von allen inneren und äußeren Hindernissen, finden kann“ (S. 457), son-
dern um eine Vollkommenheit, die sich „bey Menschen, im Ganzen genom-

49 Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: Schriften Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul
Kluckhohn u. Richard Samuel u.a., 5 Bde., 2., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte u.
verb. Aufl. Darmstadt 1960-1988, Bd.1, S. 195ff.
50 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, mit einem Nachwort von Eberhard
Lämmert, Stuttgart 1965 (ND der Ausgabe Leipzig u.a. 1774).
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 211

men“ (ebd.), findet. Indem Blanckenburg weniger ein Ideal (S. 65) als viel-
mehr den kleinsten gemeinsamen Nenner innerhalb der menschlichen Eigen-
schaften zu finden beabsichtigt, nimmt er implizit vom Aspekt ethischer Vor-
bildhaftigkeit, die ja immer noch eine gewisse Bestimmtheit voraussetzt, Ab-
stand. Allerdings ist Blanckenburg dabei nicht konsequent; denn im gleichen
Zusammenhang fordert er, dass bestimmte Eigenschaften zusammenkommen
sollen – und zwar diejenigen, die „die wesentlichsten und vorzüglichsten“
seien (S. 458). Sie seien – wie schon bei Robortello – zu erschließen durch
„Absonderung, aller [...] heterogenen Theile aus diesem Ganzen eines Charak-
ters“ (458); ohne weitere Begründung nennt er die Eigenschaften Tapferkeit
und Weisheit (S. 460).
An dieser Stelle interessiert nicht so sehr, dass Blanckenburg entgegen
seiner Intention doch bestimmte Eigenschaften nennt, sondern seine Überle-
gung, ob das durch Absonderung aller heterogenen Teile gewonnene Ganze,
das ist das „Ideal eines Charakters“ (S. 459), identisch sei mit dem Allgemei-
nen des Aristoteles, welches dieser „von den dichterischen Charakteren for-
dert“ (ebd.). Blanckenburg führt sogar den entsprechenden Terminus
‚kathólou‘ an. Die Begründung für seine Meinung ist als Beleg für die Um-
deutung des konkret Allgemeinen der Poetik des Aristoteles im Sinne eines
abstrakten, generischen Allgemeinen und die Verlagerung der Mimesis von
Handlung zur Person signifikant.51 Blanckenburg sagt, dass Aristoteles’
Bestimmung der auf alle Menschen gleichermaßen zutreffenden Eigenschaft –
da er nicht von „Grundeigenschaften, die ein Charakter haben oder nicht haben
solle, sondern bloß von dem Maaß, bloß von dem Grade, in welchem er sie
haben und äußern müsse“ (S. 459), rede – so offen gehalten sei, dass sie mit
seinem eigenen Ideal übereinstimme. Sowohl Aristoteles als auch er werteten
„alle Übertreibungen“, das heißt die dem Einzelnen und Besonderen zukom-
menden „Eigenthümlichkeiten“ (S. 459), als diejenigen heterogenen Teile, von
denen zu abstrahieren sei.
Aufgrund der von Blanckenburg zugrundegelegten Methode, der Induk-
tion, ist evident, dass sein Ideal mit Aristoteles’ Begriff des konkret Allgemei-
nen nichts, dafür umso mehr mit dem Begriff des abstrakten, generischen All-
gemeinen zu tun hat, wie er seit Robortello Eingang in die Literaturtheorie
gefunden hat.

51 Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von
Blanckenburg, Stuttgart 1973, spricht deshalb im Zusammenhang mit dem Versuch Blan-
ckenburgs von einer „Konzeption des Charakterromans“ (S. 200); zur moralischen Voll-
kommenheit des darzustellenden Charakters im Sinne eines Perfektibilitätspostulats, ebd., S.
202-204.
212 Ulrike Zeuch

Ausweg aus den Aporien der Theorie

Das bis jetzt Dargelegte genügt, so hoffe ich, um zu belegen, dass Robortellos
Erweiterung und Einengung des Gegenstandsbereichs der literarischen Mime-
sis fortgesetzt und die bereits bei Robortello erkennbaren Widersprüche fortge-
schrieben, aber nicht gelöst werden, weil seine Prämissen trotz Modifikationen
im Wesentlichen unangetastet bleiben. Wenn von Weiterentwicklung von Ro-
bortellos Vorgaben zu sprechen ist, dann lediglich in Hinsicht auf die Zuspit-
zung der ihnen innewohnenden Problematik. Die Theoriedefizite und damit die
Aporien bleiben bestehen.
Die Aporien der Literaturtheorie in der Frühen Neuzeit hinsichtlich der
Bestimmung des Gegenstandes der Literatur bestehen darin, dass das Allge-
meine der Literatur als etwas immer Gleiches, Notwendiges, als abstrakte
Norm verstanden wird. Dadurch verlagert sich die Frage, worin das jeweils
Allgemeine besteht, dahin, wie sich die Darstellung einer Norm zur Mimesis
eines Wirklichen oder gar zur literarischen Invention verhält, ohne dass man
zu einer Entscheidung für eine der unter den gegebenen Voraussetzungen nicht
vereinbaren Forderungen oder gar zu einer Lösung der Aporien käme.
Verstärkt wird das Problem dadurch, dass die Vorstellbarkeit zum Krite-
rium für die Darstellbarkeit wird. Denn vorstellen lassen sich sowohl empi-
risch Erfahrbares wie aus der Erfahrung neu kombiniertes Fiktives. Selbst die
Norm, insofern sie mit Hilfe der Abstraktion abgeleitet ist aus der Erfahrung
von empirisch Einzelnem, hat als Grundlage die Vorstellung. So wird es not-
wendig, Fiktion durch konsensfähige Erfahrung oder Glaubwürdigkeit auf-
grund von Wahrscheinlichkeit zu legitimieren. Das Verhältnis zwischen durch
Beschreibung Erfasstem und Normativem bleibt aber noch in einer anderen
Hinsicht ungeklärt. Das als jeweiliges Ideal Postulierte, ob nun der schlechthin
Tugendhafte oder der schlechthin tapfere Mensch, ist in der Erfahrung so nicht
anzutreffen.
Abschließend sei zumindest angedeutet, wie man doch noch einen Ausweg
finden könnte. Sicher lässt sich die empirische Erfahrung problemlos zum Ge-
genstand von Literatur erklären. Aber dann fragt sich, was sie jenseits der
reinen Reproduktion leistet. Außerdem geht selbst der noch so akribischen
Beschreibung dessen, ‚was ist‘, eine Auswahl voraus, ein Zeitausschnitt wird
gewählt, ein Fokus gebildet usf., wobei diese Fokussierung um der Autonomie
des schreibenden Subjekts willen beliebig sein soll. Aber auch die Darstellung
des Menschen an sich oder eines bestimmten Typus,52 insofern diese überhaupt

52 Die Forderung, durch eine Leidenschaft durchgängig und ausschließlich bestimmte Typen
darzustellen, lässt sich auf Horaz: Ars poetica, Z. 125ff., zurückführen. Noch Gottsched in
der Critischen Dichtkunst (Anm. 44) spricht davon, es gelte, den „Geizigen, Stolzen,
Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes 213

darstellbar sind, ist als ausschließlicher Gegenstand der Literatur ungeeignet.


Auch würde unter dieser Voraussetzung ein Gedicht wie Goethes „Über allen
Wipfeln ist Ruh“, das eine bestimmte seelische Befindlichkeit, eine bestimmte
innerseelische Bewegung in Metaphern der Natur zum Gegenstand hat, nicht
zur Literatur zählen. Wäre aber Literatur gleichzusetzen mit Fiktion, würde sie
sich nicht von anderen Künsten unterscheiden, die auch mit Fiktion arbeiten.
Ein Ausweg aus den Aporien der Theorie bestünde darin, die Vorstellbar-
keit als Kriterium für Darstellbarkeit kritisch zu überdenken und damit die
Unterscheidung zwischen Mimesis von authentisch Erfahrenem, Wahrschein-
lichem im Sinne von konsensuell Beglaubigtem und Fingiertem für eine Ant-
wort auf die Frage nach dem Gegenstand der Literatur als irrelevant zu erken-
nen. Denn um die bestimmte Eigenart eines Naturphänomens, die bestimmte
Funktion eines Gegenstandes, die Handlung eines bestimmten Charakters
darzustellen, bedarf es genauer Kenntnisse, etwa der Biologie, des Handwerks,
der Psychologie, der Handlungstheorie oder Ethik; diese Kenntnisse aber sind
nicht einfach in der Vorstellung gegeben.53
Des Weiteren wäre die Prämisse kritisch zu überdenken, dass das einzige
in der Literatur darstellbare Allgemeine entweder die Abstraktheit einer Ver-
haltensnorm oder das zur inhaltlich unbestimmten Variable mutierte Ideal oder
eine wie auch immer beschaffene Totalität sei. Diese Prämisse kritisch zu
überdenken hieße, sich mit einem Begriff des Allgemeinen als Gegenstand der
Literatur auseinander zu setzen, der – im Wesentlichen seit Schlegel unverän-
dert – auch nach 1800 fortwirkt. Noch Jean-Paul Sartre ist diesem Begriff des
Allgemeinen verpflichtet, wenn er als Gegenstand der Literatur den Menschen,
und zwar den Menschen als „universel singulier“ angibt, wie er es in den Que-
stions de méthode formuliert und im Vorwort zu seiner Interpretation des Idiot
de la famille von Flaubert bestätigt: In jedem Individuum soll zwar nicht – wie
bei Schlegel – die ganze Menschheit, aber immerhin die gesamte Epoche
gegenwärtig sein; der einzelne Mensch als Teil eines Ganzen (das ist des All-
gemeinen) offenbare dabei „zugleich seine eigentliche Homogenität mit allen
anderen Teilen“ (S. 7).54 „Ein Mensch“ , so Sartre weiter, „ist nämlich niemals
ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von
seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er

Verschwendrischen, Zänkischen, Verliebten, Traurigen, Verzagten u.s.w. recht zu cha-


racterisiren“ (S. 156f.).
53 Gottsched betont die Wichtigkeit dieser Kenntnis in der Critischen Dichtkunst (Anm. 44):
„Vor allen Dingen aber ist einem wahren Dichter eine gründliche Erkenntniß des Menschen
nöthig, ja ganz unentbehrlich. Ein Poet ahmet hauptsächlich die Handlungen der Menschen
nach, die von ihrem freyen Willen herrühren, und vielmals aus den verschiedenen Neigungen
des Gemüths und heftigen Affecten ihren Ursprung haben“.
54 Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie I, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. von
Traugott König (Schriften zur Literatur, Bd. 5), Reinbek 1986.
214 Ulrike Zeuch

sie, indem er sich in ihr als Einzelnheit wiederhervorbringt“ (ebd.). Hieraus ist
aber nicht der Schluss zu ziehen, generell die Möglichkeit einer normativen
Bestimmung des Gegenstandes der Literatur zu verwerfen. Es sollte lediglich
Abstand genommen werden von einer problematischen Bestimmung, einer
problematischen insofern, als, wie gezeigt, die so verstandene Norm aus dem
Empirischen abgeleitet und folglich, da von allen heterogenen Bestimmungen
abstrahierend, inhaltlich unbestimmt ist.
FRIEDRICH A. UEHLEIN

Chartæ Socraticæ.
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine
dialogische Literatur

Wenn man sich um Shaftesburys Literaturtheorie bemüht, liegt es nahe, mit


seinem Soliloquy (1710) zu beginnen, trägt diese Schrift doch den Untertitel
Advice to an Author. Nun hat es mit dem Beraten und Unterweisen seine
Schwierigkeiten. Wie kann es gelingen, dass der Rat als ein freies Geschenk
(free Gift, Sol 40,23)1 gegeben und angenommen wird, und nicht vielmehr den
Vorsprung des besseren Wissens von oben herab bekundet und damit unan-
nehmbar wird? In technischen Unterweisungen und den Wissenschaften, zum
Beispiel in der Mathematik oder im Musikunterricht, mag man gerne einen
Lehrmeister haben. Wo es aber um Angelegenheiten der praktischen Vernunft,
der Klugheit und der Lebensführung geht (Wisdom; Understanding and Good
Sense, Sol 42,1), spürt jeder, dass er in selbständiger Weise Einsicht gewinnen
und sein eigener Lehrer sein muss.
Aus dem Ratschlag für einen Schriftsteller wird unversehens eine Überle-
gung, wie man überhaupt raten kann, ohne die Lebensführung des anderen zu
bevormunden und zu beherrschen (gain Mastery, Sol 42,1). Und umgekehrt,
wie kann der Rat eines Anderen in einer Sache angenommen werden, in der
man sein eigener Herr sein beziehungsweise werden muss? Seine Absicht, so
bekennt Shaftesbury, sei also nicht, Ratschläge zu erteilen, sondern vielmehr
die Art und Weise zu bedenken, wie man raten könne. Noch bevor er zum
Thema kommt, das man erwartet, scheint Shaftesbury schon abzuschweifen,
denn was haben diese Überlegungen mit einem Schriftsteller zu tun?

1 Zitiert wird die Shaftesbury Standard Edition (Stuttgart-Bad Cannstatt 1981ff.) nach fol-
gendem Schlüssel: Titelangabe in einem Kürzel [Sol], Bandzahl [I, 1], Seite und Zeile des Zi-
tatbeginns [40,23]. Die Zitate aus dem Soliloquy stehen alle in Bd. I, 1. Sensus Communis:
An Essay on the Freedom of Wit and Humour [SC]; Miscellaneous Reflections [MR]; The
Moralists, A Philosophical Rhapsody [Moral]; The Judgment of Hercules [Hercules]; Plas-
ticks, or the Original, Progress & Power of Designatory Art [Plasticks]. Die Askemata wer-
den nach der Ausgabe von Rand zitiert: The Life, Unpublished Letters and Philosophical
Regimen of Anthony, Earl of Shaftesbury, London u. New York 1900 [Askemata].
Übersetzungen vom Verfasser.
216 Friedrich A. Uehlein

Gerade wenn der Schriftsteller vorgibt, nur zu unterhalten und zu gefallen


(only to please, Sol 42,14), so rät er doch insgeheim und unterrichtet und lehrt
durch die Personen, ihre Lebensweisen, ihre Überzeugungen und Handlungen,
die er darstellt. Er befindet sich, durch den schönen Schein seines Mediums
nur wenig gedeckt, in der prekären Situation des Ratgebers. In der Literatur
seiner Zeit, in Memoiren, Traktaten, Essays, Romanen und Komödien entdeckt
Shaftesbury ein falsches Verhältnis zwischen Autor und Leser. Der Autor
sucht die unbedingte Nähe zum Leser. Er bietet ihm die gewöhnlichsten Vor-
stellungen und Vorurteile, so dass er in allem nur sich selbst findet, ‚übertöl-
pelt‘ ihn und macht ihn abstandslos und kritiklos, um dann um so „ungezügel-
ter von sich selbst zu sprechen“ (Sol 262,6). Das Ziel der Literatur, Personen,
Lebensweisen, Denkungsarten, Entscheidungen und Handlungen, kurz, „Man-
ners and the moral Part“ (SC I, 3: 112,28) dem Leser vorzustellen, so dass er
sie als freies Geschenk frei empfangen kann, ist verkehrt.
Ein solches unfreies Verhältnis zwischen Autor und Leser sieht Shaftes-
bury nicht in jener Literatur gegeben, welche „die Schönheit des Empfindens,
die Anmut der Handlungen, die Beschaffenheit der Charaktere und die Propor-
tionen und Züge eines menschlichen Geistes und Gemüts“ (SC I, 3: 112,7) zur
Darstellung bringt. Denn was den Schriftsteller dabei inspiriert, sind „the Love
of Numbers, Decency and Proportion; and this too, not in a narrow sense, or
after a selfish way (for Who is there that composes for himself?) but in a
friendly social View for the Pleasure and Good of others“ (SC I, 3: 112,21).
Den Schriftsteller inspirieren die Bestimmtheit, die zahlhafte Ordnung und das
Verhältnis der Gemütsbewegungen und Charakterzüge, der Denkungsart und
Handlungen und die Zwecke, das Gute, auf das sie aus sind. Diese Inspiration
verengt nicht und macht nicht selbstsüchtig und selbstherrlich, so dass der
Schriftsteller seinen Leser von oben herab belehrt (dictating and prescribing,
Sol 42,18) oder für sich einnimmt und mit Privatem überfährt. Er handelt
vielmehr als Freund, der die anderen, die Gesellschaft und das gemeinsame
Gute im Blick hat.
In diesem hier nur rhapsodisch vorgetragenen Anfang des Gedankengan-
ges ist eine grundsätzliche Überzeugung enthalten. Der Übersichtlichkeit hal-
ber untergliedere ich sie in zwei Aspekte. (1) Literatur ist auf das Gute gerich-
tet. Sie zielt auf die Erweiterung des Lesers, auf die Loslösung aus falscher
Befangenheit, auf die Bildung seines Urteilsvermögens (judgment; taste),
seiner Gemütsbewegungen (affection, passion) und Empfindungsweisen (sen-
timent, humour), seiner Haltungen und Lebensart (habit, custom, manner,
taste, [good] humour) und seines Charakters (character, [self-same] person,
economical self). Der Horizont solcher Bildung ist die Gesellschaft (common
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur 217

good and interest; the good of society).2 (2) Solche Befreiung und Bildung
kann aber nicht erwirkt, sondern nur selbsttätig geleistet werden. Nicht im
Gegensatz zu ihren biologischen, sozialen, politischen und religiösen Bedin-
gungen, sondern innerhalb ihrer bestimmten Geschichte ist eine Person frei
und kann und wird sich, zu welchem Leben und zu welcher Identität auch
immer, selbst bestimmen.
Die anfängliche Frage, wie man raten könne, lässt sich übersetzen in die
Frage, wie muss eine Literatur für freie Personen beschaffen sein.

Soliloquy

Der Titel der Schrift nennt den Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage.
„Jeder von uns hat einen Daimon, einen Genius, Engel oder Schutzgeist, dem
er vom frühesten Dämmern der Vernunft oder dem Augenblick seiner Geburt
an aufs innigste verbunden und anvertraut ist“ (Sol 60,5). Shaftesbury spielt
die Alten an, er zitiert Epiktet (Gespräche, I, 14, 12) und paraphrasiert Mark
Aurel: „Der Daimon ist eines jeden Geist und Vernunft“ (Wege zu sich selbst,
V,27). Doch er nimmt hier die starke, wörtliche Bedeutung zurück, die er in
anderen Schriften – zum Beispiel den Askemata, der Socratick History und
dem Epiktetkommentar – mit dem Daimon verbindet. Die transzendente Be-
gründung unseres Denkens und sittlichen Urteilsvermögens will er hier nicht
beanspruchen, obgleich sie, wie er hinterhältig anfügt, „der Begründung unse-
res Gedankengangs und unserer philosophischen Überzeugung höchst dienlich
wäre“ (Sol 60,9). Er liest den daimonischen Gefährten als Darstellung unserer
Reflexivität. Kraft des Rückgangs in uns selbst – „by virtue of an intimate
Receß“ – entdecken wir eine bestimmte Duplizität der Seele: Wir unterschei-
den uns in uns selbst in zwei Parteien (Sol 60,22). Im Gespräch mit sich selbst
kann die Person das, was sie ist und was ihr begegnet, vor sich bringen, unter-
scheiden und beurteilen. Die zuvor genannte Empfindung, dass man in den
Angelegenheiten der eigenen Lebenserfahrung keine Instruktionen annehmen
könne, sondern selber einsehen, selber Schüler und Lehrer, Patient und Arzt
(Sol 42,29; 46,12) sein müsse, ist ein noch unklarer Ausdruck dieser ursprüng-
lichen Verfassung. Der Rückgang in sich und das innere Gespräch sind die
grundlegenden Tätigkeiten einer Person, in denen sie sich selbst entdeckt: Sie

2 Die zitierten Begriffe, durch Synonyme vermehrt, kehren in immer neuen Variationen wie-
der. Shaftesbury vermeidet eine strenge Terminologie. Anstelle eines einzigen durch-
gehaltenen Begriffswortes setzt er gleich eine Reihe von Synonymen. Das kritische wache
Denken soll sich nicht auf ein Begriffswort versteifen, sondern muss die jeweils gedachte Sa-
che in den neuen Kontexten von Neuem erfassen, vgl. Erwin Wolff: Die Synonymie bei
Shaftesbury, in: Festschrift für Edgar Mertner, München 1969, S. 201-212.
218 Friedrich A. Uehlein

ist freigelassen und sich selbst übergeben, ihr eigener Gesetzgeber.3 Zum ande-
ren kann in diesem Gespräch geklärt werden, was das ist, was wir erleben, was
uns begegnet, als was es gemeinhin gilt und was es für uns sein kann. Diese
Phase der inneren Auseinandersetzung nennt Shaftesbury krísis fantasiôn
Kritik der Empfindungen, Vorstellungen und Geltungen. Werden diese nicht
zum Sprechen gebracht, damit sie sich in ihrer eigentlichen Gestalt und Person
zeigen und dem Urteil stellen (Sol 84,25), dann bleibt der Mensch ein Spielball
unmittelbarer Triebbedürfnisse, wechselnder Stimmungen und Launen und
dem ausgeliefert, was ihm begegnet und gerade gilt. Er wird umgetrieben in „a
constant flux and alteration“, ist ständig anders bestimmt, von anderem bean-
sprucht; sein Unglück endet im Selbstzerfall.4 Wird das innere Gespräch zur
Haltung5 und zur beständig geübten Kunst der Lebensführung,6 dann kann das
Glück der Selbstübereinstimmung gelingen.
Die Praxis des Selbstgesprächs gilt allgemein für jeden Menschen. Die
Schriftsteller, meint Shaftesbury, müssten sie darüber hinaus für ihre Tätigkeit
bis zur Virtuosität beherrschen: „whom it so highly imports to know them-
selves, and understand the natural Strength and Powers, as well as the Weak-
nesses of a human Mind. For without this Understanding [...] the Poet’s Brain,
however stock’d with Fiction, will be but poorly furnish’d“ (Sol 86,12). Ein
Schriftsteller mag noch so reich mit Erfindungskraft begabt sein, so ist er doch
für seine Arbeit und Aufgabe schlecht ausgerüstet, wenn er nicht Kraft und
Vermögen sowie die Schwächen kennt, die einem menschlichen Geist und
Gemüt (mind)7 von Natur aus zukommen. Und wie soll er diese kennen lernen,
wenn er sie nicht im Rückgang in sich und in der Auseinandersetzung mit sich
begreift. Aus diesem Grunde ist es notwendig, dass er sich selbst erkennt. Was
bedeutet es, sich selbst zu erkennen? Im Rückgang und in der Auseinanderset-
zung begreift die Person nicht etwa nur, was sie gerade ist. Wäre das überhaupt
ein Begreifen? Wie könnte sie sich sonst mit sich auseinandersetzen und ihre

3 Askemata 130: „manumitted by Him, & made thy own“. 116: „legislator to thyself“.
4 Sol 250ff.; vgl. Verf.: Kosmos und Subjektivität. Lord Shaftesburys ‘Philosophical Regimen’,
Freiburg u. München 1976, S. 145ff.
5 Speculative habit, Sol. 94,5; reasoning and thinking habit, MR I, 2: 350,11.
6 Vgl. Verf.: Kosmos und Subjektivität (Anm. 4), S. 153ff.
7 Um Shaftesburys Sprachgebrauch zu entsprechen wird ‚mind‘ mit ‚Geist und Gemüt‘ über-
setzt, denn Empfinden und Fühlen, die emotionale und wahrnehmende Tätigkeit, Verstand,
Urteilskraft, Wille und schließlich das Denken, das jede vorgesetzte Grenze überschreitet
(MR I, 2: 350,8), werden mit ‚mind‘ ausgedrückt. ‚Mind‘ entspricht somit etwa ‚anima / yu-
xë‘ der platonisch-aristotelischen Tradition. Gilbert Ryle bestätigt diese Beobachtung. Bei
der Untersuchung von Jane Austens Romanen kommt er zu dem Ergebnis: „her moral welt-
anschauung was akin to that of Lord Shaftesbury“, und sein Wortgebrauch von ‚mind‘ im
Sinne des aristotelischen Begriffs der Seele finde sich in der Zeit nur bei Jane Austen. – Jane
Austen and the Moralists, The Oxford Review 1966, in: Stanford P. Rosenbaum (Hg.):
English Literature and British Philosophy, Chicago u. London 1971, S. 168-184.
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur 219

jeweilige Beschaffenheit, ihre Empfindungen, Vorstellungen und Überzeugun-


gen kritisieren? Die Person entdeckt vielmehr, was sie von Natur aus ist und
was sie sein kann im Vergleich zu dem, was sie gerade nur ist. Sie entdeckt in
diesem doppelten Selbstbegriff Kraft und Vermögen, sowie die Schwächen,
die einem menschlichen Geist und Gemüt von Natur aus zukommen.
Shaftesbury fährt fort: „Wer Charaktere geben will, muss notwendigerwei-
se seinen eigenen kennen, sonst kennt er nichts“ (Sol 86,19). Wie kann die
Kenntnis des eigenen individuellen Charakters Bedingung für die Darstellung
von Charakteren sein? Wiederum ist der doppelte Selbstbegriff impliziert. Der
Schriftsteller muss in sich, in seinem individuellen Charakter die menschlichen
Seinsmöglichkeiten (inward Form and Structure) erkennen und verstehen,
sonst kann er keine Charaktere entwerfen. Entsprechend heißt es gegen Ende
des Soliloquy: Das Selbstgespräch „lehrt gewiss besser als jede Wissenschaft
sonst die Ausformungen der Gemütsverfassungen und der Leidenschaft, die
Vielfalt und Verschiedenheit der Lebensarten, die rechte Beschaffenheit der
Charaktere und die Wahrheit der Sachen. Wenn wir dies recht verstehen, dann
können wir der Natur gemäß schreiben“ (Sol 258,17).
Die vielleicht bekannteste Stelle aus Shaftesburys Werk, die Bestimmung
des Dichters als des zweiten Schöpfers, bestätigt den Gedankengang und führt
ihn weiter.
Der Mensch, der wahrlich und zurecht den Namen Dichter, Poetes, verdient und
der, als ein wirklicher Meister und Urheber in der Kunst, sowohl Menschen und
Lebensweisen darstellen und eine Handlung in den ihr entsprechenden Verhältnis-
sen verkörpern kann, ist ganz gewiss ein anderes Wesen [als diejenigen Menschen,
die wir modernen Menschen Dichter zu nennen uns begnügen]. Ein solcher Dichter
ist in der Tat ein zweiter Schöpfer: ein wahrer Prometheus unter Zeus. Wie jener
unumschränkte Künstler oder wie die schaffende Natur des Alls formt er ein Gan-
zes, das nach bestimmten Proportionen in sich zusammenhängt und dessen konsti-
tuierende Teile er entsprechend einfügt und unterordnet. Er kennt die Bestim-
mungsgrenzen der Leidenschaften und weiß ihre genaue Spannung, Färbung und
Maße; somit stellt er sie richtig dar, umgrenzt das Erhabene der Gesinnungen und
Handlungen und unterscheidet das Schöne vom Ungestalten, das Liebenswerte
vom Abscheulichen. Der Künstler, der Menschen und Lebensweisen darstellt und
den Schöpfer derart nachahmen kann und die innere Form und Struktur seiner Mit-
geschöpfe derart kennt, wird ganz gewiss sich selbst kennen und der Zahlen nicht
ermangeln, die die Harmonie eines Geistes und Gemüts ausmachen.8

8 „I MUST confess there is hardly any where to be found a more insipid Race of Mortals, than
those whom we Moderns are contented to call Poets, for having attain’d the chiming Faculty
of a Language, with an injudicious random use of Wit and Fancy. But for the Man, who truly
and in a just sense deserves the Name of Poet, and who as a real Master, or Architect in the
kind, can describe both Men and Manners, and give to an Action its just Body and Propor-
tions; he will be found, if I mistake not, a very different Creature. Such a Poet is indeed a
220 Friedrich A. Uehlein

Der ‚moral artist‘ kennt aus dem Rückgang in sich und dem Selbstgespräch die
innere Form und Struktur, die seine Mitgeschöpfe und ihn selbst bestimmen.
Er kennt die Bestimmtheit der Gemütsbewegungen und ihre Verhältnisse.
Somit kann er sie in seinen Geschöpfen, in deren Charakteren, Lebensweisen
und Handlungen darstellen. Er schafft wie die ‚universal Plastick Nature‘ Indi-
viduen, wie sie – und doch zugleich in Differenz zu ihr, als ein zweiter Schöp-
fer und in Nachahmung jenes unumschränkten Künstlers.

Schöpfung und Nachahmung

„All is Invention [...] Creation, Divining a Sort of Prophesying & Inspiration.


the Poetical Extasie & Rapture. Things that were never seen: no nor that ever
were: yet feignd. Painter as Poet a Second Maker. [...] But without all this
Apology & Defense The Poem & Fiction is answer sufficient. The Hyperbole
the Invention essential. The Probable Plausible the poetick Truth“ (Plasticks I,
5: 201,28). In der Inventio findet, diviniert, erschafft der Künstler etwas, was
zuvor noch nie zu sehen, mehr noch, was überhaupt noch nie da war. Wenn die
Inventio zu ihrem Abschluß kommt, ist es da – als fiktionales Werk (feignd,
fiction). Der schöpferische Aspekt künstlerischer Tätigkeit ist aufs Deutlichste
ausgesprochen. Um Shaftesburys Gedanken gerecht zu werden, muss man ihn
mit der Nachahmung in eine Balance bringen. Schöpfung und Nachahmung
werden aufeinander bezogen. Der Schriftsteller schafft Individuen, Lebenswei-
sen und Handlungen, die nie zuvor da waren. Er schafft Neues in der Welt.
Aber die Bestimmtheit der Gemütsbewegungen, das Erhabene, Schöne, Un-
gestalte des Verhaltens und Handelns, die Reflexivität und Urteilsfähigkeit,
Freiheit, Selbstbestimmung und moralische Disposition (moral sense), das
gemeinschaftliche Wesen des Menschen (sensus communis; koinonoemosyne)
und das Denken, das jede gesetzte Grenze überschreitet (MR I, 2: 350, 8),
kurz, die Form der menschlichen Natur (inward Form and Structure, Sol
110,13) schafft er nicht. Er hat sich mit ihr im Selbstgespräch vertraut ge-
macht. Er weiß sie als Werk des ersten unumschränkten Schöpfers und setzt
sie bei seiner Arbeit voraus. Wie die universale plastische Natur schafft er

second Maker: a just PROMETHEUS, under JOVE. Like that Sovereign Artist or universal Pla-
stick Nature, he forms a Whole, coherent and proportion’d in it-self, with due Subjection and
Subordinacy of constituent Parts. He notes the Boundarys of the Passions, and knows their
exact Tones and Measures; by which he justly represents them, marks the Sublime of Senti-
ments and Actions, and distinguishes the Beautiful from the Deform’d, the Amiable from the
Odious. The Moral Artist, who can thus imitate the Creator, and is thus knowing in the in-
ward Form and Structure of his Fellow-Creatures, will hardly, I presume, be found unknow-
ing in Himself, or at a loss in those Numbers which make the Harmony of a Mind.“ (Sol 108,
27).
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur 221

Individuen, nicht ‚in rerum natura‘, wohl aber in der Welt der Intersubjektivi-
tät. Seine Schöpfung ist nicht unumschränkt und voraussetzungslos und er-
zeugt keine welthaften Individuen. Was er schafft, besteht nicht unabhängig
vom Text und ist nicht anders als in diesem Medium zugänglich.9 Folglich ist
er „a second Maker“ und „Copist after Nature“. Er schafft wie die Natur und
der unumschränkte Schöpfer, aber an zweiter Stelle und in Abhängigkeit von
ihnen. Dieser Sachverhalt wird in dem Begriff ‚Nachahmung‘ erfasst. Das
Verhältnis, das im Wort ‚wie‘ zum Ausdruck kommt, zeigt keine Gleichheit,
sondern die Asymmetrie einer Ähnlichkeit an. Prometheus ähnelt Zeus, nicht
umgekehrt und sie sind auch nicht gleich in Bezug auf ein gemeinsames Drit-
tes. Prometheus ähnelt Zeus, weil er ihn nachahmen kann. Er kann schaffen, da
der Vater schon erster unumschränkter Schöpfer ist. Indem er die Seinsmög-
lichkeiten, die er nicht schaffen kann, sondern als erste Schöpfung voraussetzt
und in Charakteren, Lebensweisen und Handlungen neu individuiert, schafft er
und ahmt er nach ineins.
Nachahmung kann somit auch nicht als einfache Nachahmung von Beste-
hendem verstanden werden. „Der bloße Gesichtermaler hat wenig mit dem
Dichter gemeinsam; er kopiert vielmehr, wie der bloße Geschichtsschreiber,
was er sieht, und spürt minutiös jedem Zug und jedem zufälligen Mal nach.
Ganz anders bei Menschen, die erfinden und entwerfen können. [...] Sie lehnen
peinliche Genauigkeit ab und scheuen vor dem Singulären zurück“10. Ihr Werk
droht sonst ins unbestimmt Viele ohne Einheit, ohne Charakter zu verlaufen:
„The Piece sinks [...] into its Nothing, its no Character: it dyes, & becomes
Thoughtless, void of Meaning: and all Art in the World is thrown away“ (Pla-
sticks I, 5: 283,26). Schriftsteller und Maler orientieren ihre Schöpfung nicht
an vorliegendem Einzelnen, das sie in seiner Singularität kopieren, sondern am
„Gegenstand als nachgeahmtem, am Gegenstand als spezifiziertem (dadurch
daß er auf seine wahre Form & spezifische Seinsweise zurückgeführt wird)“
(Plasticks I, 5: 183,20). Wo der beliebige einzelne Zug bedeutend wird, ver-
läuft die Darstellung ins unabschließbar viele Gleichgültige.
Solche Gesichtermalerei berührt nicht und gibt nichts zu erkennen. Erst
indem der Gegenstand durch das Momentane und Beiläufige an ihm hindurch
auf seine spezifische Seinsweise zurückgeführt wird, affiziert er von sich her
und wird er erkennbar. Dadurch dass beispielsweise die Spuren eines gerade
vergangenen Erlebnisses noch gegenwärtig sind (repeal), in der Weise, wie
einer sich hält, und seine Mund- und Augenpartie verraten, was gerade auf ihn
eindringt und somit der Übergang (transition) zu der anstehenden Entschei-
dung (anticipation) als Widerstreit seelischer Bewegungen sichtbar wird, er-
blickt man einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation seines

9 Vgl. die Skizze der Medien oder Characters der Künste (Plasticks I, 5: 214f.).
10 SC I, 3: 122,5 mit Verweis auf die aristotelische Poetik, Kap. 9, 1451 b5-7.
222 Friedrich A. Uehlein

Lebensganges. So hat Shaftesbury das Urteil des Herakles konzipiert und in


den Details durchgearbeitet.11 Der Leib kann „Ausdruck und Schatten eines
Inneren“ sein (das gehört zu seiner spezifischen Seinsform). Als solcher
kommt er in der Fiktion vor, und es zeigt sich an ihm – hier in allegorischer
Überdeutlichkeit – eine prägnante menschliche Möglichkeit.
Die „wahre Form und spezifische Seinsweise“ legt Shaftesbury mit Beg-
riffen der platonisch-aristotelischen Tradition aus. Es ist zum einen das imma-
nente Eidos: „Die Form, der natürliche Habitus, die Verfassung, der Vernunft-
grund der Sache, ihre Wirklichkeit und ihre spezifische Leistung, ihr Ort, ihre
Funktion oder Wirkung in der Natur“.12 Zum anderen ist es die Form, als Ur-
sache gedacht, die eine Sache zu dem macht, was sie ist. Theokles und Phi-
lokles erörtern in dem Dialog The Moralists (II, 1: 330-338) drei Ordnungen
von Formen: das immanente Eidos, das ist die geformte Form sowie die „for-
menden Kräfte“ oder „formenden Formen“, die einerseits in der Natur und
andererseits in der Kunst und in der sittlichen und politischen Welt am Werk
sind. Aber auch Letztere sind nicht rein aus sich und selbstbegründet. Sie be-
ziehen sich zurück (reduce, resolve) auf eine letzte Ordnung, die auch sie
selbst, die formenden Formen, sein lässt. „Daher ist alle Schönheit, die in un-
serer zweiten Ordnung der formenden Formen erscheint oder von hier stammt
und hier erzeugt wird, vorzüglich, ursprünglich und paradigmatisch in dieser
letzten Ordnung der höchsten und unumschränkten Schönheit enthalten. [...]
und alles, was aus der menschlichen Inventio stammt, geht zurück in diese
letzte Ordnung.“ Der Künstler, der erfinden und entwerfen kann und aus die-
sem Grund selbst formende Form ist, schafft kraft seiner Herkunft vom „Prin-
zip und der Quelle“ aller Formen. „Somit haben wir zweifellos die Ehre, Ori-
ginale zu sein“, beendet Philokles in gewohnt leicht ironischem Tonfall dieses
Gespräch über Formen (Moral II, 1: 336,13). Künstler sind original in der
vermittelnden Stellung der begründeten formenden Formen.13

11 A NOTION of the Historical Draught or Tablature, of The Judgment of HERCULES, Bd. I/5,
S. 70-151.
12 Plasticks I, 5: 182,5. Shaftesbury spricht hier in einem Atemzug vom epischen oder dichteri-
schen Werk wie von der Historienmalerei, von der Tierfabel wie von der Tier- und Pflan-
zenmalerei.
13 Zur Begriffsgeschichte des zweiten Schöpfers vgl. Meyer H. Abrams: The Mirror and the
Lamp, Oxford 1953, Kap. X, 3. Dem Anspruch auf unbedingtes Schöpfertum hielte Shaftes-
burys prometheischer Schöpfer entgegen, dass menschliches Schaffen Nachahmung ist.
Shaftesburys Wirkung auf die Genieästhetik resultiert aus einer Umdeutung, vgl. Oskar Wal-
zel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe, München 21932 und Jochen
Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und
Politik 1750-1945, Darmstadt 21988, S. 254ff. Lothar Jordan markiert die Differenz Shaftes-
burys zu seiner Wirkung in der Geniezeit: Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhe-
tik des 18. Jahrhunderts, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 44 (1994), S. 411f.
Die Beziehung zur Genieästhetik deutet vor auf eine Ästhetik, welche die Theorie der Nach-
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur 223

Zweifellos beziehen sich die Schriftsteller auf Reales in ihrem Werk, wie-
derholen es sozusagen, aber nicht um seiner selbst willen und nicht im Rahmen
der ins Unabsehbare verlaufenden natürlichen Welt und der faktischen Ge-
schichte. Sie wählen aus, trennen, ergänzen, verknüpfen, lassen vieles unaus-
gesprochen sein und formen ein überschaubares Ganzes (Whole, tò
e¬súnopton),14 so dass in diesem Ganzen, das sich auf das Reale nur noch
bezieht, etwas erscheint, das nicht real ist, „noch je [real] war, doch als Fiktion
[ist]“. Fingieren ist ein intentionaler Akt und zielt, Shaftesbury zufolge, auf die
Seinsformen, um in seinem Resultat – der fiktiven Welt – eine individuelle
Kontraktion dieser unverfügbar vorausgesetzten Seinsmöglichkeiten zu leisten.
Shaftesburys fortwährende Rede von ‚Characters‘, ‚Characteristicks‘, ‚charac-
terize‘ meint diesen Sachverhalt. Fingieren bedeutet also nicht Erfinden im
Gegensatz zu Realem, sei es dem gesellschaftlichen, politischen Leben, der
Natur oder der Geschichte oder der mythischen, religiösen oder literarischen
Überlieferung entnommen. Literatur enthält das real Gegebene nicht in einfa-
cher Nachahmung und steht folglich auch nicht in einfachem Gegensatz zu
ihm. Dem ‚moral artist‘ und zweiten Schöpfer geht es nicht um die Erfindung
von Irrealem, sondern um die Erfindung und Ausarbeitung eines Ganzen.15
„The Sustasiß, Collocation, Whole Unity“ sei das erste bei der Dichtung,
notiert Shaftesbury unter der Überschrift Invention (Plasticks I, 5: 184,5). In

ahmung radikal in Frage stellt. „In ihren Grundlagen ist die Theorie der Nachahmung [...] nur
dort aufgehoben, wo der Gehalt der Kunst ein solcher ist, der ihr niemals vorliegen kann, sei
es als Natur, als Idee oder als Menschenwesen. Ein solcher Gehalt könnte nur dann gegen-
ständlich werden, wenn zugleich er selbst es ist, der diese Vergegenständlichung leistet“, aus:
Dieter Henrich: Kunst und Natur in der idealistischen Ästhetik, in: Hans Robert Jauß (Hg.):
Nachahmung und Illusion, München 1964. Im Feld der Ästhetik taucht die Frage nach dem
Verhältnis des Menschen zu den anderen gleich ihm und zur Welt („the Whole in which I am
included“ [Askemata 32]) und zum Grund („der alles eint“ und „einzig Eines ist“ [Moral II,
1: 250, 11]) und letztlich von Denken und Sein auf: ob das Seiende überhaupt nur ist, inso-
fern es vorgestellt, das heißt Bewusstsein ist und der Mensch sich als selbstgenügsames sou-
veränes Bewusstsein verstehen kann, oder ob er in seiner Intentionalität und Spontaneität auf
das Sein bezogen ist. Schon die genauere Formulierung dieser Frage, die dem angespielten
transzendentalen Gedanken, seiner idealistischen Vollendung und der metaphysischen Be-
gründung, der Shaftesbury sich anschließt, über die ärgsten Missverständnisse hinaus gerecht
würde, kann hier nicht versucht werden. Im Horizont von Wolfgang Isers literarischer Anth-
ropologie muss Shaftesburys prometheischer Schöpfer als mythologischer Rest gelten. Trotz-
dem ist eine Lektüre Shaftesburys, die [d]as Fiktive und das Imaginäre (Frankfurt a.M. 1991)
im Blick hält, höchst aufschlussreich. Sie zeigt deutlicher, was Shaftesbury (nicht) tut.
14 Dieser aristotelische Begriff (Poetik 1451 a4; 1459 a33, b19; Rhetorik 1409 b1) wird zitiert
und verallgemeinert in Hercules I, 5: 122,22; SC I, 3: 120,18; MR I, 4: 248,24.
15 Deswegen legt Shaftesbury im Unterschied zu manchen seiner Zeitgenossen auch keinen
nachdrücklichen Wert auf das Wunderbare als der Domäne der Literatur. Wird das literari-
sche Werk als ein Ganzes und Eines bestimmt, dann ist die Frage, ob es im Vergleich zur
empirischen Realität als wunderbar oder realistisch erscheinen mag, sekundär.
224 Friedrich A. Uehlein

der Zusammenfügung der Handlungen, Verhältnisse und Geschehnisse zu


einem Ganzen und Einen wird Reales nicht mehr als solches bezeichnet oder
wiedergegeben, sondern umgeformt und in Momenten der fiktionalen Welt
aufgehoben. Die Arbeit der Fiktion, wie sie Shaftesbury im Hercules an einem
Historienbild und in durchgängiger Analogie auch für das literarische Werk
vorgeführt hat, dient dazu, Seinsmöglichkeiten in individuellen Gestalten zur
Anschauung und Einsicht zu bringen. Dieser zweiten Schöpfung entspricht
eine eigentümliche Auffassung seitens der Leser, Zuhörer und Betrachter. Sie
fühlen sich bewegt, „wenn sie der Dichter durch das Labyrinth der Gemütsbe-
wegungen führt“. Zugleich aber geraten sie in eine engagierte Distanz, denn
was sie erleben und erkennen, ist eine Welt, in der alles Reale aufgehoben ist,
und die sie trotzdem angeht und einnimmt. Was in jener Welt zur Darstellung
kommt, sind menschliche Seinsmöglichkeiten, in denen sie sich, fremd und
doch wieder ins Vertraute verschoben, spiegeln können. Die Entsprechung von
Fingieren, individueller Kontraktion der Seinsmöglichkeiten und spezifischer
ästhetischer Rezeption (um es ‚modern‘ zu formulieren) scheint mir das Eigen-
tümliche von Shaftesburys Auffassung auszumachen. Ich nenne es, in Anleh-
nung an einen seiner Lieblingsbegriffe, ‚dialogische Literatur‘16.

Dialogische Literatur

Wird diejenige Literatur, die sich als Nachahmung und Schöpfung versteht,
auch die Literatur für freie Personen sein? Da beide Gedankengänge aus dem
Gespräch mit sich selbst entwickelt werden, zeichnet sich ab, wie sie zusam-
mengeführt werden können.
Shaftesbury nimmt ausdrücklich die aristotelische Poetik in seine Argu-
mentation auf. Seine Musterbeispiele findet er ebenfalls in der Antike: Homer,
die Dramatiker und die Chartæ Socraticæ. Hierunter versteht er die sokrati-
schen Dialoge Xenophons und Platons, ferner Kebes, Mark Aurel, Epiktet und
Xenophons Kyrupädie. Auch Horaz, von dem er den Titel übernommen hat
(Ars poet. 309f.), zählt er unter die Sokratiker.17 TA EIS EAUTON des Kai-

16 Dialog gehört zu den Generalthemen der Shaftesburyforschung. Vgl. aus der neueren Lite-
ratur: Rolf Raming: Skepsis als kritische Methode. Shaftesburys Konzept einer dialogischen
Skepsis, Frankfurt a.M. u.a. 1996, Thomas Fries: Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rous-
seau, Solger, Tübingen u. Basel 1993, Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen
zu Shaftesbury, Diderot, Madam d’Epinay und Voltaire, Würzburg 2002 und Laurent Jaffro:
Éthique de la communication et art d’écrire, Paris 1998, S. 237-245. Im gegenwärtigen Zu-
sammenhang geht es nicht um die Verbindung von Kritik und Dialog und auch nicht um die
literarische Form des Dialogs, sondern um Literatur als dialogische Form.
17 Vgl. den Briefen an Pierre Coste vom 1. X. 1706, in: Rex A. Barrell: Anthony Ashley Cooper,
Third Earl of Shaftesbury (1672-1713) and ‘Le Refuge Français’-Correspondence, Lewis-
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur 225

sers liest er als ein großes Selbstgespräch, die Diatriben Epiktets hat er in ei-
nem Kommentar als Dialoge rekonstruiert.18
Freilich lassen sich weder die Poetik noch die antike Literatur wiederholen
oder fortsetzen. „Wenn du dich mit den Alten in der Phantasie stark beschäf-
tigst und dies oder jenes wieder belebst, dann denk’ daran, dass diese Dinge
ihre Zeit gehabt haben. [...] Etwas anderes mag in späteren Zeiten hervor-
kommen: aber das muss etwas Neues sein und aus neuem Samen“ (Askemata
78). In welchem Sinn können dann die Poetik maßgebend und Homer, Xeno-
phon und Platon mustergültig sein? Es kann sich nicht um das einfache Ver-
hältnis von Muster und Nachbildung handeln. Auch die Vermutung, Shaftes-
bury glaube über den Begriff von Literatur zu verfügen und messe daran ihre
historischen Ausformungen in der Antike und Moderne, trifft nicht zu. Was
Literatur sei und vor allem, wie sie Literatur für freie Personen sein kann, näm-
lich dialogische, weiß er nicht unabhängig von der Erfahrung antiker und mo-
derner Literatur und der Reflexion dieser Erfahrung. Und er weiß es nicht
unabhängig vom Soliloquy und dem, was in dessen Vollzug als „inward Form
and Structure“ des Menschen verstanden wird. Aufgrund dieser Erfahrungen,
der Reflexion dieser Erfahrungen und der philosophischen Selbstbesinnung
gewinnt Shaftesbury aus der Poetik und der antiken Literatur Prinzipien, die
erneut und verschieden angewandt werden können: auf Neues und aus neuem
Samen. Die Verbindung von Homer mit Platon klingt bei Aristoteles an. Als er
am Anfang der Poetik die Kunst der Nachahmung in vielfältiger Weise unter-
scheidet, erwähnt er neben Epos, Drama, den musikalischen Gattungen und
dem Tanz auch die sokratischen Dialoge (1447 a11). Shaftesbury zieht Homer
und Platon energisch zusammen. An ihnen kann er entwickeln, was Literatur
für freie Personen ist.
Der Übersichtlichkeit halber führe ich zuerst an, was Shaftesbury mit Aris-
toteles an Homer hervorhebt und kritisch gegen die Literatur seiner Zeit aus-
spielt und gehe dann auf die Chartæ Socraticæ ein. Der Autor spricht nicht in
eigener Person. Er setzt nicht sich in Szene, sondern Personen in ihrem Han-
deln und Reden. Die Figuren sprechen jede ihre eigene Sprache, sie handeln
verschieden und zeigen sich immer selbst als sie selbst. Der Autor sagt nicht
dazu, was seine Figuren bedeuten sollen und was er mit ihnen intendiert. Alles
ist vielmehr inszeniert und dramatisiert. Eine solche dramatische Darstellung,
so Shaftesbury, ist instruktiver als jeder auktoriale Kommentar, der in die

ton/New York u.a. 1989, S. 161-176. Mit welchem Recht er die römische Stoa, unter aus-
drücklicher Einklammerung Senecas, aus der stoischen Orthodoxie löst und auf Sokrates zu-
rückleitet, wäre ein eigenes Thema. Unter demselben Titel, Chartæ Socraticæ, hat er schließ-
lich eine Darstellung des Lebens und der Lehre des Sokrates aus den antiken Quellen konzi-
piert (Public Record Office, London PRO 30/24/27/14).
18 Public Record Office, London PRO 30/24/27/16.
226 Friedrich A. Uehlein

Szene hineinredet und mit einem Gewicht auftritt – those dictating and master-
ly Airs of Wisdom (Sol I, 1: 96,18) – , das die dargestellten Personen und den
Leser überfährt.
Die modernen Memoirenschreiber und Didaktiker – und das können
durchaus auch Dramatiker und Romanciers sein – zeigen, anstatt Personen zu
vergegenwärtigen, sich selbst. Sie erkaufen in Vor- und Nachworten, Wid-
mungen, Entschuldigungen und zusammenfassenden Exkursen die Gunst des
Lesers. Sie erwecken den Eindruck der Intimität durch die vertrauliche Anrede
und das einschmeichelnde ‚Wir‘19. Sie biedern sich an und ziehen den Leser an
sich, um dann um so „ungezügelter von sich selbst zu sprechen“ und ihm ihre
privaten Ansichten zu insinuieren (Sol I, 1: 262,3). In einer solchen auf Nähe
erpichten Darstellungsweise entstehen aber keine Personen, Handlungen und
Begebenheiten, die individuelle Ausformungen menschlicher Seins-
möglichkeiten sind. Die verbleibenden Ansätze zu Charakteren zeigen kaum
Proportion und Zusammenhang (MR I, 2: 340,24), wogegen der wirkliche
Schöpfer und Nachahmer „ein Ganzes formt, das nach bestimmten Proportio-
nen in sich zusammenhängt.“20 So entstehen keine Menschen von einer be-
stimmten Beschaffenheit. Sie sind nur nach Namen und Titeln charakterisiert
und ausstaffiert mit Qualitäten, die kaum denen eines Wesens aus der mensch-
lichen Gattung gleichen. Im Grunde sind sie alle gleich: willfährige Puppen,
die den Witz des Schriftstellers zur Schau stellen und seine privaten Ansichten
und Maximen demonstrieren (MR I, 2: 340,16).
Auch die Chartæ Socraticæ, vor allem die Dialoge Xenophons und Pla-
tons, sind in Shaftesburys Augen echte Dichtung: „personated Pieces“ (Sol
92,7). Die Personen zeigen die ganze Handlung hindurch ihren Charakter, ihre
Haltungen (habits), ihre besondere Gemütsverfassung (humours), ihr Tempe-
rament und ihre eigentümliche Auffassungskraft (understanding). Dies alles
werde durchgehalten genau, wie es die poetische Wahrheit verlangt. Unter
poetischer Wahrheit versteht Shaftesbury die Proportionen und die Integration
zu einem Ganzen, die eine Person zu einem Menschen von bestimmter Be-
schaffenheit machen, so dass er der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit
nach so und nicht anders redet und handelt. (Die Aufgabe des Dichters sei es,
das der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit nach Mögliche darzustellen,
sagt Aristoteles im neunten Kapitel der Poetik. Diese Auffassung schimmert
erneut in Shaftesburys Sätzen durch.) Auf die Tragödie angewendet, an der

19 Für die eigene Praxis notiert Shaftesbury: „Die Verwendung von Ich untersagt, ausge-
nommen die Abhandlungen im Briefstil. [...] Denn ‚Wer bin ich?‘ Und sogar wir, uns, unser
usw. nicht verwenden, außer um den Leser in gewissem Sinn einzubeziehen, mit dem Autor
zusammen zu arbeiten und selbst, als eine eigene Partei, zu entdecken, zu untersuchen“
(Plasticks I, 5: 168,5).
20 Vgl. Anm. 8.
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur 227

Shaftesbury rühmt, dass sie einen Charakter, eine Hauptrolle und eine durch-
gehaltene Handlung, eine Kette tiefer Reflexionen, aus einem Mund, über
einen einzigen Schicksalsschlag zeige und daher Entsetzen und Mitleid errege
(Sol 192,8), heißt dies: Es ist Hamlet möglich, so zu handeln und zu reden,
nicht weil es irgendwie möglich ist (möglich in einem ganz formalen Sinn), er
hat vielmehr aufgrund seiner Anlagen, seiner Erziehung und Charakterbildung
das Vermögen, dies zu tun und zu sagen, anderes nicht. Seine eigentümliche
Gemütsart, seine Auffassungskraft und die Haltungen, die Lebensart und die
Denkungsart, die er sich ausgebildet hat, machen es ihm möglich und machen
es wahrscheinlich, ja notwendig, dass er dies tut und sagt.21
Als Gespräche und Wiedergabe von Gesprächen und als inszeniertes, dra-
matisiertes Geschehen handeln die Chartæ Socraticæ nicht nur von Menschen,
Lebensweisen und Denkungsarten, sie führen sie lebendig vor. „Und dadurch
lernten wir nicht nur andere Personen kennen, sondern sie lehrten uns – und
das ist das Wichtigste und Wertvollste an ihnen – uns selber zu erkennen“ (Sol
92,20). Der Held, den diese „Gedichte“ inszenieren, ist ein vollkommener
Charakter. Aber er bedrückt nicht, er gibt sich nicht die Aura der Weisheit und
Meisterschaft, die von oben herab diktiert (those dictating and masterly Airs of
Wisdom). Im Gegenteil – was er sagt, ist von einer feinen Ironie und Heiterkeit
(refin’d Raillery), einer Art von lächelndem Spott, vermischt mit Erhabenem.
Er bietet das Erhabene leicht dar, verbindet Hohes und Niedriges und legt
eines durch das andere aus. Die Chartæ Socraticæ vereinen folglich den he-
roischen, den einfachen, den tragischen und den komischen Stil (Sol 92-96).
Die weiteren Personen der Dialoge zeigen Ausformungen der menschlichen
Natur. Sie sind eindeutiger gezeichnet als Sokrates, der sich immer wieder ent-
zieht. Wir können uns in ihnen wie in einem Spiegel entdecken und unsere
feinsten Züge genau umrissen finden. Jeder, der sich nur eine Weile so be-
trachtet, wird mit seinem Herzen vertraut. Wer beständig in diesen magischen
Spiegel blicke, erwerbe eine eigentümliche Haltung, „a speculative habit“ (Sol
94,14), so als trüge er zum ständigen Gebrauch eine Art Taschenspiegel bei
sich, in dem er zwei Gesichter erblickt: das des Sokrates und das seiner Ge-
sprächspartner, denen wir so gleichen. Wir unterscheiden uns, so resümiert
Shaftesbury, in verschiedene Parteien und bleiben dabei nicht unverändert.
Indem der Leser dieser dialogischen Dichtung von allen Parteien engagiert,
aber von keiner schlechthin eingenommen wird, auch nicht von Sokrates, der
ihn fasziniert und doch lächelnd auf Distanz hält, gehört er selber zum dialogi-
schen Geschehen. Er tritt in die dialogische Handlung ein – freilich nicht als
einer der dargestellten Gesprächspartner oder als die Hauptperson. Engagiert

21 Vgl. Arbogast Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in:
Thomas Buchheim u.a. (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Ham-
burg 2003, S. 184-219, hier: S. 205f.
228 Friedrich A. Uehlein

und doch von keiner Partei völlig eingenommen, tritt er der ganzen Handlung
kritisch gegenüber.
„For here [im Dialog] the Author is annihilated; and the Reader being no
way apply’d to stands for Nobody. The self-interesting Partys both vanish at
once. The Scene presents it-self, as by chance, and undesign’d“ (Sol 100,33).
Der Autor verschwindet. Als interessierte Person, die gelten will, die Nähe des
Lesers sucht und sich mitteilen und instruieren will (didactive, preceptive), ist
er vernichtet. Und mit ihm der interessierte Leser.22 Er wird nicht als geneigter
Leser angegangen und vereinnahmt (apply’d to), sondern mit der Handlung
ohne auktoriale Einrede und Absichtserklärung (design) konfrontiert. „The
Scene presents it-self, as by chance, and undesign’d. You are not only left to
judg cooly, and with indifference, of the Sense deliver’d; but of the Character,
Genius, Elocution, and Manner of the Persons who deliver it. These too are
mere Strangers, in whose favour you are no way engag’d“ (Sol 102,2). Es sind
eine fremde Welt und fremde Personen, denen der Leser begegnet. Es liegt an
ihm, die Handlung, die Charaktere, die Szene, kurz, die fiktionale Welt aufzu-
fassen. Und es ist ihm überlassen, die Bedeutung des Ganzen kühl und unvor-
eingenommen zu beurteilen. Nur dann kann die fiktionale Welt für ihn zum
magischen Spiegel werden, in dem er in fremden Personen, Lebensweisen,
Denkungsarten und Zeiten sich selbst erblickt. Dabei genügt es nicht, dass die
Personen zur Sache und sinnvoll (good Sense) sprechen. Es muss sichtbar
werden, aus welchem Grund und Prinzip sie sprechen, aus welchem Fundus
von Erfahrung und Wissen sie schöpfen und was für einen Verstand sie besit-
zen. „Jedes Gesicht muss eines bestimmten Menschen Gesicht sein“ (Sol
102,18). Diese Forderung gilt dem Autor, wenn er menschliche Seinsmöglich-
keiten in der Fiktion zur Anschauung und Einsicht bringt. Sie gilt entsprechend
für den Rezipienten, wenn er die dargestellte Welt auffasst und beurteilt.
In der dialogischen Literatur wird der Leser zum Mitarbeiter des Autors, er
ist beteiligt, er entdeckt, untersucht selbst: „co-operating with the Writer, &
discovering investigating, as a Party, himself“ (Plasticks I, 5: 168,7). Didakti-
sche Literatur bestätigt diesen Zug dialogischer Literatur. Sie lässt die Szene
nicht (ganz) von selbst entstehen, absichtslos. Sie insinuiert. Sie lässt den Le-
ser nicht frei. (So muss Vergil, bei aller Liebe, für Shaftesbury hinter Homer
und Euripides hinter Sophokles zurückstehen). Aber auch der vorbildliche

22 Zum ‚interesselosen Wohlgefallen‘ und der ‚ästhetischen Erfahrung‘ bei Shaftesbury vgl.
David A. White: The Metaphysics of Disinterestedness: Shaftesbury and Kant, in: The Jour-
nal of Aesthetics and Art Criticism 32 (1973/74), S. 239-248, Jerome Stolnitz: On the Origin
of ’Aesthetic Disinterestedness‘, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 20 (1961), S.
131-143; Jerome Stolnitz: ‘The Aesthetic Attitude’ in the Rise of Modern Aesthetics, in: The
Journal of Aesthetics and Art Criticism 32 (1978), S. 409-422, Dabney Townsend: From
Shaftesbury to Kant. The development of the concept of aesthetic experience, in: Journal of
the History of Ideas 48 (1987), S. 287-305.
Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur 229

Charakter ist ein fremder Charakter, „in whose favour you are no way en-
gag’d“, und ein affirmativ gesetzter, vollkommener Charakter wirkt „unpoe-
tisch und falsch“, da sich der Leser die Konflikte und die Kunst der Selbstbe-
herrschung, in denen er sich gebildet hat, nicht erzeugen kann. „Wo aber die
Ursachen notwendigerweise unbekannt und unbegreiflich bleiben, dürfen die
Wirkungen nicht in Erscheinung treten“ (MR I, 4: 232,5), denn Literatur ist
„die gemeinsame Sache von Autor und Leser“.23
‚Dialogische Literatur‘, in dem hier skizzierten Sinn, ist nicht auf be-
stimmte literarische Gattungen beschränkt. Sie bezeichnet vielmehr das Ver-
hältnis von Autor, prometheischer Schöpfung und Leser, in dem die fiktionale
Welt und das, was sie zur Erscheinung bringt, frei gegeben werden und frei
aufgefasst werden können. Indem sie erlaubt, sich selber kennen zu lernen,
rückt sie in die Nähe des Selbstgesprächs. Aber das Selbstgespräch, in dem
man Patient und Arzt wird, kann von der spielerischen Selbsterfahrung im
Spiegeln fremder menschlicher Möglichkeiten ausgehen. Dialogische Literatur
ist Literatur für freie Personen.

23 Der Kontext dieser prägnanten Formulierung spitzt die Mitarbeit des Lesers auf die Kritik zu,
die hier noch nicht zur Debatte stand. „And let the READER withal consider, ‘That when he
unworthily resigns the place of Honour, and surrenders his Taste, or Judgment to an Author
of ever so great a Name, or venerable Antiquity, and not to Reason and Truth, at what ever
haphazard; he not only betrays Himself, but withal the common Cause of AUTHOR and
READER, the Interest of Letters and Knowledg, and the chief Liberty, Privilege, and Preroga-
tive of the rational part of Mankind‘“ (MR I, 4: 296, 27). Die zentrale Bedeutung der Kritik
wurde herausgearbeitet von Barbara Schmidt-Haberkamp: Die Kunst der Kritik. Zum Zu-
sammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury, München 2000.
GOTTFRIED GABRIEL

Der Begriff der Fiktion. Zur systematischen Bedeutung


der Dichtungstheorie der Aufklärung

Der folgende Beitrag verfolgt ein systematisches Ziel in zwei Schritten. Er ver-
teidigt zunächst einen pragmatisch-semantischen Fiktionsbegriff gegen neuere
Versuche, die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen einzuebnen. Da-
bei wird das Auseinanderdriften von behauptendem Logos und vergegenwärti-
gendem Mythos als ein in der Sache begründetes Faktum anerkannt. Auf der
Grundlage der Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität
wird sodann versucht, den Erkenntniswert der Dichtung plausibel zu machen.
In problemgeschichtlicher Perspektive greift die Argumentation auf Unter-
scheidungen zurück, die in der Dichtungstheorie der Aufklärung – insbesonde-
re von Alexander Gottlieb Baumgarten – entwickelt worden sind.
Die Auffassung, dass Dichtung einen wesentlichen Beitrag zur Erkenntnis
der Wirklichkeit leistet, ist nicht selbstverständlich. Sie wird derzeit von zwei
gegensinnig verlaufenden Argumentationslinien in Frage gestellt. So wird von
wissenschaftstheoretischer Seite der Erkenntniswert der Dichtung geleugnet
und die Erschließung der Wirklichkeit einzig den Wissenschaften, vor allem
den Natur- und Sozialwissenschaften, überantwortet. Von literaturtheoretischer
Seite wird diese Auffassung zu Recht als dogmatisch verworfen – allerdings
mit der Übertreibung, den Wirklichkeitssinn insgesamt zu schwächen. Der
Anmaßung der Wissenschaft sucht man dadurch zu begegnen, dass die Unter-
scheidung von Wirklichkeit und Dichtung, von Fakten und Fiktionen, zurück-
genommen wird und im Anschluss an Friedrich Nietzsche einem Panfiktiona-
lismus das Wort geredet wird. So arbeiten Szientismus und Fiktionalismus
einander ungewollt in die Hände. Der Szientismus simplifiziert den Wirklich-
keitsbegriff, und der Fiktionalismus negiert ihn. Beides fügt sich zusammen zu
einer ‚unheiligen‘ Allianz, in deren Verlauf die Anerkennung einer komplexen
Wirklichkeit auf der Strecke bleibt. In der Tat, unsere Wirklichkeit ist so viel-
fältig, dass zu ihrer Erkenntnis die exakten Begriffe der Wissenschaft nicht
hinreichen, sie bleibt aber von Fiktion unterscheidbar. Der Vielfalt der Wirk-
lichkeit lässt sich dadurch in angemessener Weise Rechnung tragen, dass an
ihrer Erschließung die unterschiedlichsten Darstellungsformen von Wissen-
232 Gottfried Gabriel

schaft, Philosophie und Dichtung komplementär beteiligt werden.1 Dabei ist


insbesondere die Fixierung auf den Wahrheitsbegriff aufzugeben und anzuer-
kennen, dass die Erkenntnisvermittlung nicht an wahre Aussagen gebunden ist,
sondern dass es auch nicht-propositionale Erkenntnisse gibt.
Die kategoriale Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen ist in ge-
wissem Sinne selbstverständlich. Jedes Kind trifft diese Unterscheidung –
spätestens im Alter von vier Jahren. Als induktive Basis für meine generelle
Behauptung, kann ich zumindest eigene Erfahrungen mit drei Kindern anfüh-
ren. Es ist kaum zu begreifen, dass erwachsenen Philosophen und Literatur-
wissenschaftlern eine Unterscheidung abhanden kommen konnte, die ihnen –
davon bin ich überzeugt – im Kindesalter selbstverständlich gewesen ist. Auch
wenn die Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit bzw. das Verschwim-
men von deren Grenzen häufig selbst Thema fiktionaler Literatur gewesen ist
(Cervantes’ Don Quijote, Wielands Don Sylvio), das Spiel mit dieser Grenze
als Fiktionsironie bekannt ist und „das Leben ein Traum“ als Topos der Weltli-
teratur gelten darf (Calderón, Hofmannsthal, Lewis Carroll) – die gänzliche
Aufhebung der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen zu behaupten, wäre
doch niemandem in den Sinn gekommen.
Im Unterschied zu unseren gegenwärtigen ‚Wirklichkeitsverschwindlern‘
zeichnen sich die Autoren der deutschen Aufklärung durch einen ‚gesunden’
und gleichwohl differenzierten Wirklichkeitssinn aus, der ihre Überlegungen
gerade heute systematisch interessant erscheinen lässt. Sofern Dichtung fiktio-
nale Literatur ist, hat es die Dichtungstheorie wesentlich mit drei Themen zu
tun: (1) mit einer Analyse des Begriffs der Fiktion, (2) mit einer Analyse des
Begriffs des Literarischen (Poetischen) und (3) mit einer Bestimmung der be-
sonderen Leistung, die von der Dichtung als einzigartiger Verbindung des Fik-
tionalen mit dem Poetischen zu erwarten ist. Zu allen drei Fragen hat sich die
Dichtungstheorie der Aufklärung maßgeblich geäußert.
In Verruf sind ihre Ergebnisse vor allem deshalb geraten, weil man ihr das
Bemühen um eine Regelpoetik berechtigterweise – aber doch zu einseitig – als
Vermischung von Kunst (ars) und Wissenschaft (scientia) angelastet hat. Be-
kanntlich hat Kant in seiner ‚Dritten Kritik‘ mit diesem Missverständnis aufge-
räumt. Da die Folgezeit wesentlich durch die Rezeption der Kantischen Genie-
ästhetik bestimmt war, fanden die Ergebnisse seiner Vorgänger – vor allem
diejenigen Baumgartens, auf denen Kant doch in anderer Hinsicht fußt – nicht
mehr die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Vorab nennen möchte ich die für
Kants Dichtungstheorie zentralen Begriffe der ästhetischen Idee und der re-

1 Ich greife im Folgenden auf Überlegungen zurück, die ausführlicher dargestellt sind in Verf.:
Logik und Rhetorik der Erkenntnis – Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer
Weltauffassung, Paderborn 1997, Kap. 7.
Der Begriff der Fiktion. Zur Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung 233

flektierenden Urteilskraft, die beide ihre Ursprünge in der Ästhetik Baumgar-


tens haben. Doch hiervon später.
Die Dichtungstheorie der Aufklärung war wesentlich durch die philosophi-
sche Debatte über das Verhältnis zwischen oberen und unteren Erkenntnisver-
mögen bestimmt. Das überlieferte Platonische Diktum, dass die Dichter lügen,
stellte kein ernsthaftes Problem mehr dar. Unter Zugrundelegung eines Be-
griffs von Lüge, nach dem nur derjenige lügt, der etwas behauptet, von dem er
weiß, dass es nicht wahr ist, war dieser Vorwurf bereits von Philip Sidney
(1595) mit dem Argument zurückgewiesen worden, dass Dichter schon des-
halb nicht lügen, weil sie gar nicht behaupten.2 In Frage stand daher nicht mehr
die Zulässigkeit der Fiktion, sondern die positive Bestimmung ihrer Funktion.
Diese Funktionsbestimmung ging in der deutschen Aufklärung einher mit der
gleichzeitigen Rehabilitierung der unteren Erkenntnisvermögen und deren
Bedeutung für das Ausarbeiten einer Theorie der Sinnlichkeit als Ästhetik. Die
Ästhetik bildete das Komplement der Logik, verstanden als Theorie der ratio-
nalen Erkenntnis: Ästhetik und Logik wurden zu gleichberechtigten „Schwes-
tern“ (Baumgarten). Im Folgenden beschränke ich mich, dem Rahmenthema
folgend, auf eine Behandlung der Dichtungstheorie: Wie verstand die Aufklä-
rungsphilosophie die beiden Momente der Dichtung, das Fiktionale und das
Poetische, sowie deren Verbindung?
Im Anschluss an die rationalistische Erkenntnistheorie von Gottfried W.
Leibniz und Christian Wolff bestimmte Baumgarten Fiktionen (fictiones, fig-
menta) als Perzeptionen, die aus sinnlichen Vorstellungen der Phantasie oder
Einbildungskraft (facultas imaginandi) gebildet werden, indem sie zu einem
Ganzen (unum totum) zusammengefasst werden.3 Der Einbildungskraft selbst
wird lediglich eine reproduktive Funktion zugewiesen. Sie ruft frühere sinnli-
che Wahrnehmungen als Vorstellungen (repraesentationes) auf: „[N]ihil est in
phantasia, quod non ante fuerit in sensu.“4 Das produktive Vermögen oder die
Fähigkeit zur Neu- und Umbildung wird als das Vermögen des Erdichtens
(facultas fingendi) bestimmt, das durch den Zusatz ‚poetisch‘ bereits in die
Nähe des Dichtungsvermögens im Sinne der (später so genannten) produktiven
oder dichterischen Einbildungskraft gerückt wird. Die Doppeldeutigkeit von
„Dichtung“ – verstanden als Poesie oder als ‚bloße‘ Erdichtung – hält sich bis
in die Gegenwart. Fiktionen sind ganz allgemein das Ergebnis einer Poiesis,
eines ‚Machens‘, das die Gefahr in sich birgt „Chimären“ als für wahr gehalte-

2 Philip Sidney: A Defence of Poetry, hg. von Jan A. van Dorsten, 2. Aufl. Oxford 1971, S. 52.
3 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica, 7. Aufl. Halle 1779, repr. Hildesheim 1969,
repr. §§ 501-623 in: ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik (lat.-dt.), hg. und übers. von
Hans R. Schweizer, Hamburg 1983, hier: § 590.
4 Ebd., § 559.
234 Gottfried Gabriel

ne Fiktionen hervorzubringen.5 Im Rahmen seiner Dichtungstheorie bezeichnet


Baumgarten dann bereits solche Erdichtungen (figmenta) als wahr, die in der
bestehenden Welt möglich sind. Die Erdichtungen, die in der bestehenden
Welt unmöglich sind, unterteilt er sodann in solche, die nur in dieser Welt un-
möglich, in anderen Welten (heterokosmisch) aber möglich sind, und solche,
die in allen möglichen Welten unmöglich sind, und er fügt hinzu: „Nur wahre
und heterokosmische Erdichtungen sind poetisch.“6 Der bereits angesprochene
Wirklichkeitssinn drückt sich in folgender Feststellung aus, „so ist die Ver-
rücktheit (delirium) der Zustand eines Wachenden, der gewohnheitsmäßig die
Einbildungen (imaginationes) für Empfindungen (sensationibus) und die Emp-
findungen für Einbildungen hält.“7
Zu beachten ist, dass das lateinische Verb ‚fingere‘ ursprünglich (ähnlich
wie ‚facere‘) ganz allgemein ‚machen‘ im Sinne der Formung eines Materials
bedeutet. Erst im übertragenen Sinne erhält es die Bedeutung eines ‚Erfindens‘
von Dingen, die es möglicherweise gar nicht gibt. Beide Verwendungen sind
bei Baumgarten auseinander gehalten, verschwimmen aber im modernen Fik-
tionalismus, der das poietische Verständnis der Fiktion im Sinne des ‚Ma-
chens‘ übernimmt, aber nicht hinreichend zwischen den beiden ‚Mach-Arten‘
der Konstitution und der Erfindung unterscheidet.
Die Problemgeschichte von ‚Fiktion‘ im ästhetischen Sinne wird, zumin-
dest in der deutschsprachigen Tradition, nicht unter diesem Terminus verhan-
delt. Hier rücken andere Begriffe wie ‚Dichtung‘, ‚Poesie‘, ‚Einbildung‘ und
‚Illusion‘ in den Vordergrund. Dies ändert sich erst in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts unter dem Einfluss der angelsächsischen Tradition, in der sich
der Terminus ‚fiction‘ – vor allem als Bezeichnung für Prosaerzählungen –
gehalten hat. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Ausdruck ‚Fiktion‘ aller-
dings nicht zur Bezeichnung für eine literarische Gattung verwendet. Bestim-
mend bleibt hier der Gegensatz zu ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wahrheit‘. Gemessen
daran dürfte es nur zu Verwirrungen führen, den Begriff der Fiktion im Sinne
der lateinischen Bedeutung so weit zu fassen, dass alle Weisen des Machens
eingeschlossen bleiben.
Im Sinne einer dementsprechenden Bedeutungseingrenzung hat eine Ex-
plikation des Fiktionsbegriffs zunächst negativ zu bestimmen, was Fiktion
fehlt, um ‚der Wirklichkeit‘ oder ‚der Wahrheit‘ gerecht zu werden. Hierbei
sind zwei Aspekte der Wirklichkeitserkenntnis zu unterscheiden: Dasein und

5 Ebd., § 590.
6 Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema perti-
nentibus (1735), lat.-dt. Ausgabe: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen
des Gedichtes, hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, §§ LI-LIII; ferner Alexander Gottlieb
Baumgarten: Aesthetica, 2 Bde., Frankfurt a. O. 1750-1758, teilweise repr. in: ders.: Theore-
tische Ästhetik, lat.-dt., hg. von Hans R. Schweizer, Hamburg 1983, § 441.
7 Baumgarten: Metaphysica (Anm. 3), § 594.
Der Begriff der Fiktion. Zur Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung 235

Sosein. Es können Individuen oder Personen fingiert sein, die in der Literatur-
wissenschaft bekanntlich ‚Figuren‘ heißen, und es können Beschreibungen und
Handlungszusammenhänge fingiert sein. Wesentlich für einen neutralen Fikti-
onsbegriff ist darüber hinaus die Unterscheidung des Modus der Präsentation
fingierter Sachverhalte (ob sie erkennbar als Fiktionen oder ob sie affirmativ in
täuschender oder lügnerischer Absicht präsentiert werden).
Die Explikation des Fiktionsbegriffs kann mit Blick auf literarische Bei-
spiele vorgenommen werden, sollte aber in der Sache unabhängig vom Litera-
turbegriff erfolgen. So ist die Tradition in ihren Bestimmungen von reproduk-
tiver Einbildungskraft (imaginatio) und produktiver Einbildungskraft (facultas
fingendi) auch verfahren, gibt es doch sowohl nicht-literarische Fiktionen als
auch nicht-fiktionale Literatur. Es empfiehlt sich daher, einen neutralen Begriff
der fiktionalen Rede zu Grunde zu legen. Entsprechend der obigen Unterschei-
dung kann sich das Fingieren auf das Dasein, das Sosein und (oder) die
Präsentation beziehen:
(1) Dasein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und
Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren.
(2) Sosein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt oder
ein Ereignis- und Handlungszusammenhang (zwischen als existierend aner-
kannten Objekten oder Personen) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist.
(3) Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt oder
einen Ereignis- und Handlungszusammenhang in bestimmter Weise präsentiert
(zum Beispiel behauptet), obwohl er dieses gar nicht tut.
Im Rahmen sprachphilosophischer Unterscheidungen lässt sich dies so re-
formulieren, dass fiktionale Rede die Ebenen (1) der Referenz (Denotation),
(2) der Proposition und (3) der Illokution betreffen kann. Fiktionale Rede ist
danach im Falle (1) weder wahr noch falsch, im Falle (2) falsch, im Falle (3)
nicht-affirmativ. Sofern fiktionale Rede keine Ansprüche erhebt, Referenz
(Denotation) zu haben, wahr zu sein und affirmativ zu sein, ist sie bzw. der
Sprecher von der Erfüllung entsprechender Kommunikationsbedingungen
freigestellt bzw. entlastet. (Diese Formulierung stellt eine Verallgemeinerung
der Sidneyschen ‚Entlastung‘ der Dichter vom Vorwurf der Lüge dar.) Es
versteht sich, dass eine solche Freistellung nicht für alle Literatur vom histori-
schen Roman bis zum Märchen in gleicher Weise gilt. Die genannten Bestim-
mungen können aber gerade für eine differenzierte Beschreibung unterschied-
licher Grade von Fiktionalität herangezogen werden.
Ein starkes Motiv, die traditionelle Unterscheidung von Fiktion und Wirk-
lichkeit nivellieren zu wollen, dürfte sein, dass man von ihr eine Depotenzie-
rung der Rolle der Dichtung befürchtet. Unterscheidungen wie diejenige zwi-
schen „eigentlicher“ und „uneigentlicher Rede“ scheinen den Verdacht zu
bestätigen, dass Fiktionen gegenüber Fakten einen defizienten Status haben.
236 Gottfried Gabriel

Nur so ist es zu erklären, dass insbesondere der (soeben zusammenfassend


vorgestellte) sprechakttheoretische Versuch, fiktionale Rede durch ihre Ab-
weichungen von normaler Rede zu definieren, als Ausgrenzungsversuch miss-
verstanden worden ist. John R. Searles Charakterisierung fiktionaler Rede als
„parasitär“ (parasitic) mag diesem Missverständnis Vorschub geleistet haben,8
wobei hinzukommt, dass er es bei einer negativen Charakterisierung belässt,
ohne auf die positiven Möglichkeiten fiktionaler Literatur ausführlicher einzu-
gehen. Diese Selbstbeschränkung eines Autors sollte man aber nicht dem
sprechakttheoretischen Ansatz selbst anlasten. Jedenfalls impliziert eine Expli-
kation fiktionaler Rede durch Abweichung weder eine Ausgrenzung fiktionaler
Rede noch eine hierarchische Ordnung, in der die apophantische Rede über die
fiktionale gestellt würde. Die negative Charakterisierung besagt lediglich, von
welchen Verpflichtungen fiktionale Rede freigestellt ist, damit sie in der Form
von Dichtung – das heißt als fiktionale Literatur – ihre eigentliche Funktion
komplementär zu anderen Erkenntnisformen erfüllen kann. Die Pointe der
sprechakttheoretischen Analyse ist es gerade, im Vergleich mit der Historio-
graphie deutlich machen zu können, dass Dichtung trotz ihrer Fiktionalität
einen Erkenntniswert haben kann.
Nun ist in neuerer Zeit die Unterscheidung von Historiographie und Dich-
tung auch von Seiten der Historiker in Frage gestellt worden.9 Den Anlass
dürften die oben angesprochene Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ‚Fiktion‘ und
die ‚schleichende‘ Ersetzung des engeren Begriffs (der Erdichtung) durch den
weiteren Begriff (des Machens) geliefert haben. So bestimmt etwa der Litera-
turtheoretiker Wolfgang Iser bereits die „Selektion“ der Wirklichkeitselemente
seitens des Autors als „Akte des Fingierens“.10 In diesem Sinne wäre dann
auch Historiographie Fiktion. Damit geht terminologisch die wichtige Unter-
scheidung zwischen Fakten und Fiktionen verloren. Ich plädiere daher für die
Beibehaltung des engeren Fiktionsbegriffs. Dabei bestreite ich nicht, dass
Historiographie (Geschichtsschreibung) insofern ‚gemacht‘ ist, als auch hier
der Autor den Stoff ausgewählt und schon dadurch den Fakten seine Darstel-
lung ‚aufgezwungen‘ hat. Dies gilt für jede Wissenschaft und letztlich sogar
dann, wenn man bestimmte Erfahrungen ‚macht‘, weil diese stets partikulär
sind und nicht die ganze Wirklichkeit wiedergeben können. Eine Auswahl
kann einseitig und dadurch wirklichkeitsverfälschend sein. Indem wir aber
einen solchen Einwand formulieren, bestätigen wir, dass die Kategorie der
Wirklichkeit regulativ in Kraft bleibt, selbst dann, wenn es im Einzelfall
schwierig oder faktisch sogar unmöglich sein sollte, zwischen Fakten und

8 John R. Searle: The Logical Status of Fictional Discourse, in: ders.: Expression and Meaning,
Cambridge 1979, S. 58-75, hier: S. 67.
9 Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986.
10 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt a.M. 1991, S. 25.
Der Begriff der Fiktion. Zur Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung 237

Fiktionen zu unterscheiden. Wesentlich ist einzig, dass Kriterien für diese


Unterscheidung in Kraft sind, und nicht, dass sie in allen Fällen zu einer Ent-
scheidung führen. Und selbstverständlich können auch die jeweiligen Kriterien
selbst in die Diskussion geraten, auf Kriterien überhaupt zu verzichten, ist aber
ein Ding der Unmöglichkeit. Transzendentalphilosophisch gesehen ist die
Unterscheidung von Fakten und Fiktionen eine Bedingung der Möglichkeit
jeder Orientierung in der Welt.
Fälschlicherweise scheint denjenigen, die auf dieser Unterscheidung beste-
hen, ein metaphysischer Realismus unterstellt zu werden. Gegenüber metaphy-
sischen Positionen ist diese Unterscheidung aber völlig neutral. Es geht in die-
sem Zusammenhang nicht um die Frage, was denn die wirkliche Wirklichkeit
sei. Für unsere Unterscheidung benötigen wir keinen externen Bezug auf eine
Welt an sich, es genügt der interne Bezug auf die Welt der Erfahrung. Und in-
nerhalb dieser Welt hat noch niemand auf die Unterscheidung von Sein und
Schein verzichten können.
An dieser Stelle ist eine ganz analoge Rechtfertigung der wirklichkeitsbe-
zeugenden Funktion der Referenz anzubringen. In der Frage nach der Referenz
ist die Frage des Daseins (der Existenz) angesprochen. Sie ist bei der Unter-
scheidung von Fakten und Fiktionen der Frage des Soseins vorgeschaltet. Nur
wenn die Referenz auf Personen oder Sachen zuvor gesichert ist, kann die
Frage, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht besteht, überhaupt sinnvoll beant-
wortet werden. Entsprechend gibt die Suspendierung der Referenzbedingung
ein wichtiges Kriterium für Fiktionalität ab. Auch hier geht es nicht um eine
externe, sondern um eine interne Referenz innerhalb der Welt als Erscheinung.
Die Rede vom ‚Verschwinden der Wirklichkeit‘ ist demnach kategorialer
Unsinn. Was tatsächlich verschwindet oder doch verschwinden sollte, ist die
metaphysische Auffassung, dass wir die Wirklichkeit jenseits der Welt als Er-
scheinung erkennen können; aber dieses Verschwinden ist bereits vor langer
Zeit von Kant eingeleitet worden. Was unseren modernen panfiktionalistischen
‚Wirklichkeitsverschwindlern‘ schlicht abhanden gekommen sein dürfte, ist
die Unterscheidung von ‚Schein‘ und ‚Erscheinung‘.
Das Festhalten an der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen darf also
weder als wissenschaftstheoretischer Szientismus noch als metaphysischer
Realismus gedeutet werden. ‚Das Gegebene‘ gibt es genauso wenig wie die
‚nackten Tatsachen‘. Tatsachen sind in dem Sinne ‚gemacht‘, dass an ihrer
Konstitution das erkennende Subjekt wesentlich beteiligt ist. Konstituieren und
Fingieren sind aber verschiedene Arten des ‚Machens‘. Ersteres unterliegt den
weltimmanenten Bedingungen des Daseins und des Soseins, letzteres nicht.
Dies macht den Unterschied von Historiographie und Dichtung aus.
Die Orientierung an Fakten stellt die Wirklichkeitserkenntnis der Historio-
graphie keineswegs über diejenige der Dichtung. Der Lebenswirklichkeit
238 Gottfried Gabriel

kommt die Dichtung häufig näher als die Historiographie, weil es in ästhetisch
zutreffenden Darstellungen nicht auf das Bestehen singulärer Tatsachen an-
kommt. Der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen bedürfen wir insofern
nicht nur um der Historiographie willen, sondern auch, um den Eigenwert der
Dichtung zu begreifen. In dieser Unterscheidung kann nur derjenige eine Ab-
wertung der Dichtung sehen, der die szientifische Beschränkung des Erkennt-
nisbegriffs auf propositionales Tatsachenwissen noch nicht überwunden hat.
Die Fiktionalität, wie sie hier bestimmt wurde, ist ein negatives Merkmal
der Dichtung; worin besteht aber das positive Merkmal, das aus Erdichtung
Dichtung – Poesie – macht? Hier greift Baumgartens Konzeption der „percep-
tio praegnans“ – einer vielsagenden, (wörtlich genommen) ‚bedeutungs-
schwangeren‘ Perzeption, deren Fülle erkenntnistheoretisch auf ihre ‚Verwor-
renheit‘ zurückgeführt wird.11 Demgemäß sind gerade die ‚verworrenen‘ Be-
schreibungen von heterokosmischen Erdichtungen „besonders poetisch“.12
Terminologisch folgt Baumgarten dabei weitestgehend den Bestimmungen von
Leibniz, der die Verworrenheit als epistemischen Gegenbegriff zur Deutlich-
keit fasst und beide Begriffe dem Begriff der Klarheit unterordnet.13 In diesem
Sinne korrespondiert mit der Verbindung ‚klar und deutlich‘ die Verbindung
‚klar und verworren‘, wobei das ‚und‘ nicht als Konjunktion, sondern als Spe-
zifizierung zu lesen ist. Verworrenheit ist im Unterschied zur Deutlichkeit eine
solche Klarheit (von Erkenntnissen und Begriffen), die es zwar erlaubt, Objek-
te als solche voneinander zu unterscheiden, aber nicht ausreicht, die Unter-
schiede selbst inhaltlich in Form von Merkmalen festzuhalten.
Für Leibniz sind verworrene Begriffe und Erkenntnisse weniger vollkom-
men als deutliche. Als verworren gilt ihm insbesondere die sinnliche Wahr-
nehmung, deren Objekte nicht im Hinblick auf deutliche Merkmale zu analy-
sieren seien. Christian Wolff übersetzt in seiner „Deutschen Metaphysik“ den
Ausdruck ‚confusa‘ mit ‚undeutlich‘ und vermeidet damit die negative Neben-
bedeutung, die dem Ausdruck ‚verworren‘ anhaftet.14 Das hierarchische Ver-
hältnis zwischen der Deutlichkeit von Begriffen und der Verworrenheit der
Sinnlichkeit bleibt gleichwohl bestehen. Erst Baumgarten hat es in ein kom-
plementäres überführt. Danach hat die sinnlich-verworrene Erkenntnis als
‚cognitio clara et confusa‘ ihre eigene Vollkommenheit, die sich nicht nach

11 Baumgarten: Metaphysica (Anm. 3), § 517.


12 Ders.: Philosophische Betrachtungen (Anm. 6), § LV.
13 Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684). Philo-
sophische Schriften, hg. von Carl I. Gerhardt, Bd. 4, Berlin 1880, repr. Hildesheim 1965, S.
422-426, hier: S. 422f.
14 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen
(1720, 11. Aufl. 1751), § 275. Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 2, Hildesheim 1983, S. 152.
Der Begriff der Fiktion. Zur Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung 239

dem Grad intensiver Klarheit (das heißt Deutlichkeit), sondern extensiver


Klarheit im Sinne anschaulicher ‚Fülle‘ bemisst.15
Kants Ablösung der Regelpoetik durch eine Genieästhetik hat vergessen
lassen, dass ein zentrales Lehrstück der Baumgartenschen Ästhetik, nämlich
die Konzeption der ‚perceptio praegnans‘, in Kants Begriff der ästhetischen
Idee Eingang gefunden hat. Für Kant macht „das Vermögen der Darstellung
ästhetischer Ideen“ das Genie aus.16 Die ästhetische Idee bestimmt er als
„diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt,
ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke (sc. Begriff) adäquat sein
kann“.17 Ergänzend nennt er sie
eine, einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, wel-
che mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen in dem freien
Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimm-
ten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Un-
nennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und
mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.
Kant betont, dass der Geist, der hier (produktiv) am Werke ist, nicht willkür-
lichen Assoziationen folgen darf. Soweit die ästhetische Idee ihm „die Aus-
sicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“,18 ist damit
zwar eine unausschöpfbare Quelle an Kreativität angesprochen, gleichzeitig
wird aber auch gesagt, dass dieser Reichtum eine sachliche Grundlage in der
Verwandtschaft der Vorstellungen hat. Das Vermögen, das mit der Feststel-
lung solcher Verwandtschaften oder Ähnlichkeiten befasst ist, heißt in der
Aufklärungstradition ‚Witz‘. Dieser Ausdruck ist die Übersetzung des lateini-
schen Begriffs ‚ingenium‘. Der Begriff des Witzes stellt sich damit als ein
Vorläufer des Kantischen Geniebegriffs dar. Hier haben wir ein weiteres Indiz
dafür, dass Kant die Ästhetik des Rationalismus nicht nur überwunden, son-
dern auch beerbt hat.
Die Gemeinsamkeit ästhetischer Ideen und prägnanter Perzeptionen be-
steht in ihrer Kraft zur konnotativen Entfaltung von ‚Nebenvorstellungen‘. Die
Dichtung nutzt sie zur Gegenstands- und Weltvergegenwärtigung, indem sie
statt propositionaler Erkenntnisse über Gegenstände nicht-propositionale
Kenntnisse von Gegenständen vermittelt.19 Dichtung unterscheidet sich positiv
von bloßer Erdichtung durch ihre Vergegenwärtigungsleistung, die semantisch
aus der Bedeutungsfülle ihrer Sprache erwächst.

15 Baumgarten: Philosophische Betrachtungen (Anm. 6), §§ XV-XVII.


16 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Vgl. die traditionelle Unterscheidung von ‚cognitio rei‘ und ‚cognitio circa rem‘ oder auch
die Unterscheidung von ‚knowledge by acquaintance‘ und ‚knowledge by description‘.
240 Gottfried Gabriel

Allgemein gilt bis heute als Ziel von wissenschaftlichen Explikationen,


verworrene in deutliche Begriffe zu überführen. Komplementär dazu hat aber
für den ästhetischen Bereich die positive Deutung Bestand, die in der prägnan-
ten Verworrenheit einen gebündelten konnotativen Bedeutungsüberschuss am
Werk sieht. Eine solche Verworrenheit, die in gegenwärtigen Literaturtheorien
(Wolfgang Iser) als Moment der ‚Unbestimmtheit‘ charakterisiert wird, ist
nicht als logischer Mangel zu beklagen, sondern als ästhetischer Reichtum zu
begrüßen. An diese Tradition, die über Kants Begriff der ästhetischen Idee,
Goethes Symbolbegriff und Ernst Cassirers Begriff der „symbolischen Präg-
nanz“ bis zu Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation führt, lässt sich
systematisch anknüpfen.20
In Bezug auf die Frage nach der Funktion der Fiktion habe ich deren Er-
kenntniswert verteidigt. Um mich hier nicht dem Vorwurf der Einseitigkeit
auszusetzen, möchte ich abschließend betonen, dass mit dieser Verteidigung
keineswegs eine Reduktion auf den Erkenntniswert vorgenommen werden
sollte. Ich erkenne durchaus die Bedeutung des anthropologischen Wirkungs-
moments der Dichtung an. Eine zur Wirkungsästhetik parallele Entwicklung
zeichnet sich in der analytischen Philosophie ab, in der gegenwärtig (unter
ausdrücklicher Einbeziehung nicht-literarischer Fiktionen) die psychologische
Bedeutung der Einbildungskraft (‚imagination‘, ‚make-believe‘) und der durch
sie ausgelösten Gefühle hervorgehoben wird.21 Mit Blick auf die Tradition
könnte man davon sprechen, dass damit der Aristotelische Gedanke der Ka-
tharsis wieder stärker zur Geltung kommt. Neueste Arbeiten scheinen auf eine
Vermittlung von Erkenntnis- und Katharsisfunktion hinauszulaufen.22 Und
eine solche Sicht entspricht durchaus dem auf Wirkung bedachten rhetorischen
Anliegen der Dichtungstheorie der Aufklärung. Aber dies ist ein neues Thema.

20 Vgl. hierzu Verf.: Kontinentales Erbe und analytische Methode – Nelson Goodman und die
Tradition, in: Erkenntnis 52 (2000), S. 185-198.
21 Vgl. Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe, Cambridge, Mass. 1990, Gregory Currie:
The Nature of Fiction, Cambridge 1990.
22 Vgl. Peter Lamarque u. Stein H. Olsen: Truth, Fiction, and Literature, Oxford 1994, Margit
Sutrop: Fiction and Imagination – The Anthropological Function of Literature, Paderborn
2000.
LUTZ DANNEBERG

Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien.


Zum Hintergrund und zur Entwicklung der
Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der
zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des
19. Jahrhunderts

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,


Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
(Goethe, Urworte. Orphisch)
Wenn der kritische Anatom die schöne Organisation
eines Kunstwerks erst zerstört, in elementarische Masse
analysiert, und mit dieser dann mancherlei physische
Versuche anstellt, aus denen er stolze Resultate zieht:
so täuscht er sich selbst auf eine sehr handgreifliche Weise:
denn das Kunstwerk existiert gar nicht mehr.
(F. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie)

In seinem Dialog über die zwei Weltsysteme, das ptolemäische und das koper-
nikanische, lässt Galilei am zweiten Tag Sagredo die „prächtige Geschichte“
erinnern, wie die Frage des Ursprungs und Ausgangspunktes der Nerven mit
Hilfe einer Leichensektion beantwortet wird. In der erzählten Geschichte sagt
der Philosoph auf die ‚demonstratio ocularis‘: „Ihr habt mir alles so klar, so
augenfällig gezeigt – stünde nicht der Text des Aristoteles entgegen, der deut-
lich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen, man sähe sich zu dem Zuge-
ständnis gezwungen, daß Ihr Recht habt.“1 Simplicio verteidigt die Autorität

1 Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das
kopernikanische [Dialogo {...}, 1632]. Übersetzt und erläutert von Emil Strauß, Leipzig
1891, S. 113. – Ausführlicher zum Hintergrund nicht allein zur Galilei-Passage, sondern auch
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des Aristoteles, die dieser aufgrund seiner „schlagenden Beweise“, seiner „tief-
sinnigen Untersuchungen“ erlangt habe2 – und kennzeichnet sie als die Basis,
auf der das Schließen nach ‚induktiver Rationalität‘ erfolgt.3 Simplicio charak-
terisiert den Darstellungsstil des Aristoteles als nicht für den „großen Haufen“
gedacht – das spielt mehr oder weniger direkt an auf die in der Zeit gängige
Unterscheidung zwischen esoterischer (akroamatischer) und exoterischer Dar-
stellungsweise.4 Aristoteles habe seine Schlüsse nicht „nach elementarer Weise
geordnet“, vielmehr sei die Reihenfolge bisweilen verworren. Auch dieses
Urteil ist nicht sonderlich auffällig. Seit dem 16. Jahrhundert sieht man die
überlieferten Texte in ihrer methodischen Darstellung als insuffizient und
bemüht sich, diese Quellen des Wissens entsprechend aufzubereiten.
Die Verteidigung des Simplicio besteht nun nicht darin, die (bekannten)
Mängel der Schriften des Aristoteles als Entschuldigungen zu nehmen, son-
dern in der Aufforderung eines ‚hermeneutischen‘ Zugangs zu seinem Werk.
Schon an früherer Stelle sagt Simplicio, man müsse Aristoteles erst richtig
verstehen, bevor man gegen ihn ankämpft.5 Doch auch das ist noch nicht die
Pointe, denn dieses Argument ist seit dem 15. Jahrhundert gängig und später
findet es sich etwa bei Johannes de Raey (1622-1707): Hält Descartes den An-
hängern des Aristoteles sarkastisch entgegen, sie könnten glücklich sein, wenn
sie so viel wie ihr Meister über die Natur wüssten, wirft de Raey, ein Cartesia-
ner der ersten Stunde, den Kritikern des Aristoteles vor, seine Philosophie
abzulehnen, ohne von ihr ein wirkliches Verständnis gewonnen zu haben.6
Freilich ist dann nicht unerwartet, dass sich dieses bessere Verstehen als Har-
monisierung mit der neuen cartesianischen Philosophie darbietet.
Die eigentliche Pointe des Rettungsversuchs, den Galilei Simplicio in den
Mund legt, besteht nicht im hermeneutischen Zugang überhaupt, sondern in
der ‚Art‘ dieses Zugangs:
Darum bedarf es jenes großen Einblicks in das Ganze; darum muß man diese Stelle
mit jener kombinieren, diesen Paragraphen mit jenem ganz abgelegenen verglei-

zu Analyse, Synthese, zum ‚ordo inversus‘, zu Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungs-


phantasien bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, vgl. Lutz Danneberg: Die Anatomie des Text-
Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im ‚liber naturalis‘ und ‚supernaturalis‘, Berlin
2002.
2 Galilei: Dialog (Anm. 1). S. 113.
3 Vgl. Lutz Danneberg: Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität, in: ders. u.a.
(Hg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin u. New
York 2002, S. 19-66.
4 Vgl. auch Lutz Danneberg: Erfahrung und Theorie als Problem moderner Wissenschaftstheo-
rie in historischer Perspektive, in: Jürg Freudiger u.a. (Hg.): Der Begriff der Erfahrung in der
Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1996, S. 12-41.
5 Vgl. Galilei: Dialog (Anm. 1), S. 37.
6 Vgl. Johannes de Raey: Clavis philosophiae Naturalis […], Lvgduni Batavorum 1654,
Epistola dedicatoria, unpaginiert.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 243

chen. Es ist kein Zweifel, daß, wer diese Kunst versteht, aus seinen Büchern die
Beweise für alles Erkennbare schöpfen kann; denn in ihnen ist alles enthalten.7
Diese Aussage liefert das Stichwort für Sagredo, der im Dialogo den gebilde-
ten Laien vertritt. Er führt die Auseinandersetzung in zwei Schritten zum rhe-
torischen Höhepunkt:
Aber, lieber Signore Simplicio, wenn Euch das Durcheinanderwürfeln des Stoffes
nicht verdrießt und Ihr durch Vergleich und Kombination einzelner Splitterchen
die Quintessenz zu erlangen vermeint, so will ich die Prozedur, die Ihr und Euere
wackeren Kollegen mit dem Texte des Aristoteles vornehmt, mit den Versen Vir-
gils oder Ovids anstellen, will einen Flicken [centoni] daraus auf einen anderen
setzen und damit alle menschlichen Angelegenheiten und Geheimnisse der Natur
erklären.8
In diesem ersten Schritt scheint Galilei zeigen zu wollen, dass bei der von
Simplicio beschriebenen Art der Interpretation die aristotelischen Texte ihren
‚kanonischen‘ Charakter verlieren: Sie sind nach dieser Prozedur zwar „wahr“,
aber das haben sie anderen Texten gegenüber nicht voraus, bei denen sich
ebenso die „Flicken“ aufeinander setzen ließen und in denen nach demselben
Verfahren ebenfalls ‚alles‘ enthalten sei. Die „Flicken“ spielen auf das Cento
an, eine (vollständig) aus Zitaten bestehende Schrift – ein Verfahren, das zu
Galileis Zeiten noch viele Freunde besaß. Doch anders als im Bild des fremden
Flickens zur Verschönerung, der oft reklamierte ‚purpureus pannus‘ des Horaz,
ist dieses Verfahren der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Flicken sind die
fremden Wissensansprüche, die nur aufgesetzt seien. Doch damit nicht genug
– es kommt zu einer weiteren Steigerung:
Doch wozu brauche ich Virgil oder einen anderen Dichter? Ich besitze ein weitaus
kürzeres Büchlein als den Aristoteles und den Ovid, worin alle Wissenschaften
enthalten sind und wovon man mit geringster Mühe die vollkommenste Übersicht
erlangen kann; es ist das Alphabet. Kein Zweifel, durch richtige Anordnung und
Verbindung dieses und jenes Vokals mit dem und jenem Konsonanten kann man
die zuverlässigste Auskunft über jeden Zweifel erhalten, kann die Lehren aller
Wissenschaften, die Regeln aller Künste gewinnen.9
Dieser zweite Schritt erscheint als noch radikaler: Er soll das Verfahren der
Wissensermittlung via Interpretation ad absurdum führen. Denn bei dem ima-
ginierten Beispiel der Buchstabenkombination fehlt das Wahrheitskriterium:
Entweder hat man die sprachliche Darstellung der betreffenden Wahrheit, dann
ist die erzielte Kombination von Buchstaben nicht mehr als ihre Wiederho-
lung; oder man besitzt sie nicht, dann ist die ‚Darstellung‘ allein nicht hinrei-
chend, um ihre Wahrheit zu erkennen.

7 Galilei: Dialog (Anm. 1), S. 114.


8 Ebd.
9 Ebd.
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Dieser zweite Teil der galileischen ‚reductio ad absurdum‘ beruht auf der
Imagination der Zurückführung eines Textes auf seine kleinsten Elemente, also
Buchstaben, sowie der sich anschließenden kombinatorischen Erzeugung neu-
er Sätze (Wissensansprüche) anhand dieser Elemente. Es handelt sich um ein
Gedankenexperiment, das sich als Echo eines vielfachen Ursprungs darbietet –
zu nennen sind hier Lukrez und Cicero, Plato und Aristoteles mit der Verbin-
dung von ‚Atomen‘, ‚Elementen‘ und ‚Buchstaben‘. Solche kombinatorischen
Imaginationen nehmen im 16. und 17. Jahrhundert nicht allein im Kontext mit
der Interpretation den Charakter einer ‚reductio ad absurdum‘ an: Sie sollen
die Widersinnigkeit eines Atomismus aufzeigen angesichts der Annahme der
Zufälligkeit und der Ordnungslosigkeit bei der Bildung komplexerer Einheiten,
die aus ‚Atomen‘ oder ‚Elementen‘ bestehen. Man könnte versucht sein, diese
Ausführungen Galileis zwar für hochartifiziell, aber für weniger karikaturhaft
zu halten, als sie vor diesem Hintergrund erscheinen mögen – womöglich als
eine Selbstentlarvung, die ein listiges Spiel treibe angesichts des Atomismus,
den Galilei selber vertreten hat. Zumindest nach der Auffassung einer freilich
allein gebliebenen Stimme soll es genau ein solcher Atomismus gewesen sein
(und nicht zuerst ein Kopernikanismus), der den zentralen Grund für seine
Verurteilung bildet: Es sei der Konflikt im Blick auf theologischphilo-
sophische Voraussetzungen der Abendmahlslehre, genauer der Lehre von der
Transsubstantiation.
Wie dem auch sei – das anti-autoritative Argumentationsziel ist bei Galilei
deutlich. Vor allem scheint es gut in die Zeit der aufstrebenden Naturwissen-
schaften zu passen. Doch schon die Frage, welches denn dieses Wahrheitskri-
terium ist, das Galileis Invektiven zugrunde liegt, macht stutzig – mehr noch,
wenn es heißt, man solle die eigenen Augen, sowohl die körperlichen als auch
die geistigen, zum ‚Führer‘ nehmen angesichts einer Werbeschrift für die ko-
pernikanische Theorie, die dem Menschen gerade abverlangt, den gewissesten
sinnlichen Erfahrungen nicht zu trauen und ihn der Korrektur seiner ‚cognitio
communis‘ (‚historica‘, ‚factorum‘ oder ‚sensitiva‘) durch die ‚cognitio philo-
sophica‘ (causarum) aussetzt. Galilei lässt einen Protagonisten denn auch sa-
gen, dass man den Pythagoreern, also den Kopernikanern, nicht genug Bewun-
derung zollen könne, weil sie sich über die offensichtliche Auskunft der Sinne,
selbst der eigenen ‚gewaltsam‘ hinweggesetzt hätten:
Ich kann die Geisteshöhe derer nur bewundern, die sich ihr [scil. der pythagorei-
schen Ansicht von der Bewegung der Erde] angeschlossen und sie für wahr gehal-
ten, die durch die Lebendigkeit ihres Geistes den eigenen Sinnen Gewalt angetan
derart. Daß sie, was die Vernunft gebot, über die offenbarsten gegenteiligen Sin-
nenschein zu stellen vermochten.10

10 Ebd., S. 342.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 245

Der Witz liegt nicht allein darin, dass es sich offenbar um eine Kontrafaktur
einer Bemerkung des Aristoteles über die Pythagoreer handelt: Diese täten
aufgrund ihrer vorgefassten Ansichten der Erfahrung Gewalt an.11 Er liegt
darin, dass die empirische Wahrnehmung, ja auch Experimente nur ‚second
best‘ seien – oder wie Salviati, der Vertreter der neuen Auffassungen, sagt: Sie
bekunden die Richtigkeit für denjenigen, der die „Vernunftgründe nicht ver-
stehen will oder kann.“12 Galilei begründet das unter anderem mit der man-
gelnden Verlässlichkeit unserer Sinne, die uns etwas ‚vorspiegeln‘ und die uns
‚leicht täuschen‘ könnten: „Es ist also geratener vom Scheine abzusehen, über
den wir alle einig sind, und durch Vernunftgründe uns zur Erkenntnis durchzu-
ringen, ob der Schein der Wirklichkeit entspricht oder trügerisch ist.“13
Obwohl sich zahlreiche Passagen in Galileis Werk finden, die ähnlich kri-
tisch mit Aristoteles umgehen, gibt es auch Stellen, in denen er von dem Philo-
sophen mit Achtung spricht. Entscheidend ist, dass Galilei ebenso wie andere
Aristoteles-Kritiker in der Zeit weniger den Meister selbst meinen, der notge-
drungen keine eingreifende Instanz in den zeitgenössischen Verhandlungen
von Wissensansprüchen sein kann. Man meint seine zeitgenössischen Anhän-
ger, die ihn als Autorität anführen. Eindrucksvoll tritt das in einem Gedanken-
experiment zutage, wenn er Sagredo zu Simplicio sagen lässt: „Ihr habt es
immer mit Eurem Aristoteles, der nicht sprechen kann. Ich aber sage Euch,
daß, wenn Aristoteles hier wäre, er entweder von uns überzeugt würde, oder
unsere Gründe wiederlegte und uns eines besseren belehren würde.“14 Solche
kontrafaktischen Imaginationen erlauben zwei Konservierungen: bei der Kritik
an einem Wissensanspruch die Autorität des Trägers und damit die Kontinuität
bei Wissensinnovationen zu wahren. So sind sie fester Bestandteil der episte-
mischen Situation der Zeit, und die zeitgenössische Theorie der Autorität
schafft die Grundlage für solche kontrafaktischen Imaginationen.
Doch das Heterostereotyp vom autoritätsgläubigen Aristoteliker war nie-
mals sein Autostereotyp: Der Aristoteliker, der im Text seines Meisters alles
finden will, ist eine ‚Parodie‘ Galileis. Vermutlich hat es keinen Aristoteliker
gegeben, der eine solche Haltung, ein solches ‚criterium veritatis‘, auch nur
annähernd in dieser Weise formuliert hat. Gleichwohl ist dieser Typ von Vor-
wurf als ‚ad unum referre‘ seit der Antike geläufig. Galilei lässt Sagredo sa-
gen: „gegen eine so augenscheinliche Erfahrung“ bringe der Peripatetiker
„nicht etwa andere Erfahrungen oder Gründe aus dem Aristoteles vor, sondern
nichts als seine Autorität, das bloße ipse dixit.“15 Die lange Tradition dieses

11 Vgl. Aristoteles: De caelo, II, 13 (293a)


12 Galilei: Dialog (Anm. 1), S. 179.
13 Ebd., S. 271.
14 Ebd., S. 137.
15 Ebd., S. 113.
246 Lutz Danneberg

‚ipse dixit‘ braucht hier nicht dargelegt zu werden; denn der einzige Text, der
nicht nur so behandelt, wie es Galilei für die Aristoteliker imaginiert, sondern
für den das auch gefordert wurde, war die Heilige Schrift. Nun wäre es verfüh-
rerisch, einen subversiven Galilei zu kreieren, der über die Naturphilosophie
und die Aristoteliker spricht, aber die Heilige Schrift und die Theologen meint.
Doch das funktioniert aus dem schlichten Grund nicht, da gerade diejenigen
biblischen Stellen, die mit der kopernikanischen Theorie konfligieren, keiner
interpretatorischen Kunststücke bedurften. Sie bieten sich im planen ‚sensus
primarius‘ oder ‚litteralis‘ dar – und gerade darin lag die Ursache des Konflikts
der neuen kosmologischen, aus dem ‚liber naturalis‘ herausgelesenen, mit den
alten, in den ‚liber supernaturalis‘ eingelesenen Wissensansprüchen. Galilei
selbst bietet eine andere Lösung für dieses Problem im Rahmen des Rüchgriffs
auf einen alten frühchristlichen Gedanken, der neu gewendet die Diskussion
des 17. und 18. Jahrhunderts beherrscht – den der Akkommodation.16 Zudem
ist Galilei bemüht, physikalische Argumente zu bieten, mit denen sich die
Überlegenheit der kopernikanischen Theorie eindeutig ausweisen lässt und die
sie gleichsam unabhängig von der Buchautorität machen. In dieser Hinsicht
neu im Dialogo ist die Gezeitentheorie. Es sind die Gezeiten, die zeigten, dass
sich die Erde bewege und das erweist sich als eklatanter Fehlschlag des Be-
weises der doppelten Erdbewegung.
Beide Teile des galileischen Gedankenexperiments ähneln dem zeitgenös-
sischen naturphilosophischen Verfahren par excellence. Zwar verzweigt es
sich in verschiedene Traditionen, doch im Kern besteht es aus der Zerlegung
eines Phänomens in seine Bestandteile, also der analytischen Methode (auch
‚resolutio‘), und der Verbindung dieser Bestandteile, der synthetischen Metho-
de (auch ‚compositio‘). Hinsichtlich seiner verschiedenen Anwendungsberei-
che treten beide als ‚via inventionis vel compositionis‘ und ‚via iudicii vel
resolutionis‘ auf, als ‚naturalis resolutio‘ und ‚compositio‘ (oder ‚via
compositionis‘), als Zerlegung und Zusammensetzung von Begriffen (als
‚divisive‘ und ‚definitive‘ Methode als ‚abstractio per modum compositionis et
divisionis‘). Die Einheiten konnten unterschiedlich sein: Ganzheiten, die
zerlegt werden, aber auch ‚effectus‘ – und das legte nicht selten nahe, beide
Verfahren im Rahmen der aristotelischen Unterscheidung von ‚demonstratio
propter quid‘ und ‚demonstratio quia‘ zu sehen: zusammengefasst als ‚regres-
sus‘. Schließlich kennen das 16. und 17. Jahrhundert auch die Klassifikation
von disziplinären Ganzheiten nach ‚analytica‘ und ‚synthetica‘. Die Gramma-
tik galt als Paradebeispiel sowohl für den analytischen wie den synthetischen
Charakter einer Disziplin. Mit alldem war Galilei ohne Zweifel vertraut. Im
Großen und Ganzen ist im ausgehenden 16., im 17. und noch lange im 18.
16 Vgl. Lutz Danneberg: Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in der
hermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ulrich Barth u. Claus-Dieter Osthöve-
ner (Hg.): 200 Jahre „Reden über die Religion“, Berlin u. New York 2000, S. 194-246.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 247

und Ganzen ist im ausgehenden 16., im 17. und noch lange im 18. Jahrhundert
für das Lesen im ‚liber supranaturalis‘, im ‚liber naturalis‘ wie im ‚liber artifi-
cialis‘ ein vergleichbares Verfahren angenommen worden. ,Gelesen‘ wird, um
allen drei Büchern Wissensansprüche zu entnehmen und dieses ,Lesen‘ erhält
jeweils denselben Namen ‚analysis‘ - und auf den Text bezogen ‚analysis
textus‘. Nicht allein als ‚analysis grammatica‘, ‚rhetorica‘ und ‚logica‘ konnte
sich dann die ‚analysis textus‘ näher gestalten. Sie gehörte zum dominierenden
Muster des Umgangs mit Texten, ohne bislang größere Aufmerksamkeit ge-
funden zu haben.
Im Blick auf die Galilei-Passage bleibt noch ein Moment zu berücksichti-
gen. Dort ist davon, die Rede, dass die Untersuchung der Nervenbahnen sowie
die Zerlegung eines menschlichen Körpers herangezogen werden, um Ursa-
chen zu erkennen.17 Die Analogisierung von Text und Körper ist zwar älter –
man denke nur an die Parallelisierung des Mythos, als Seele oder Form der
Tragödie, mit den Dimensionen und Proportionen eines Tieres in der Poetik
des Aristoteles oder an den Vergleich zwischen Lebewesen und Rede, den
Sokrates bietet. Allerdings gewinnt der Vergleich in der christlichen Vorstel-
lungswelt eine überragende Rolle. Zahlreiche Aspekte der Körper-Metaphorik
ließen sich bei Origenes exemplifizieren, der eine Dreiteilung des Sinns der
Heiligen Schrift annimmt: ihr ‚Fleisch‘, ihre ‚Seele‘ und ihr ‚geistliches Ge-
setz‘. Bei ihm heißt es sinngemäß: Wie nämlich der Mensch aus Leib, Seele
und Geist besteht, so auch die Schrift, die Gott nach seinem Plan zur Rettung
der Menschen gegeben hat. Wichtiger für die Pointe ist eine andere Stelle Dort
greift Origenes explizit auf die Heilige Schrift zurück, und zwar auf die leviti-
sche Vorschrift, dem Opferkalb die Haut abzuziehen und es in Stücke zu zer-
legen. Dieses Zerlegen nun sieht Origenes in Analogie zur Fähigkeit und Tä-
tigkeit des Interpreten, die Gründe der inneren Ordnung der Schrift einsichtig
zu machen. Das nun wiederum verbindet sich in seinem Matthäus-Kommentar
mit der Vorstellung, dass das Fleisch, die Seele und das geistliche Gesetz in
Harmonie oder Übereinstimmung miteinander seien – in Symphonie, wie er
auch sagt. Zwei Hinweise greife ich heraus. Der erste ist die Analogisierung
der Zerlegung eines Textes mit der Zerlegung eines – in diesem Fall animali-
schen – Körpers. Der andere ist die Sicht, dass diese Zerlegung nicht in einem
Haufen von Teilen endet, dass der Körper nicht zerrissen wird, sondern seine
Zerlegung, sein Öffnen erst die Harmonie des Ganzen zeige.
Dass Letzteres kontrovers disutiert wurde, will ich nur an zwei Episoden
andeuten. Als Bernhard von Clairvaux sich über das so brillant geführte logi-
sche Seziermesser Abaelards geärgert hat, greift er zu einem veranschauli-
chenden Vergleich. Bernhard bringt dabei den Einsatz des logischen Instru-

17 Ausführlicher und mit den Belegen vgl. Danneberg: Anatomie (Anm. 1).
248 Lutz Danneberg

mentariums auf die Formel: Angesichts der Glaubensmysterien würde Abae-


lard ‚non aperit, sed diripit‘. Wie das verstanden sein soll, beleuchtet der bibli-
sche Bezug: Die Illustration erfolgt am Beispiel der jüdischen rituellen Zerle-
gung des Opferlamms (Ex 12,9f.), das nicht ‚zerrissen‘, sondern ‚geöffnet‘
werde.18 In einem anderen Brief greift Bernhard zum Bild des nahtlosen Ge-
wandes des Herrn, das Abaelard zerteilt und zerfasert habe. Selbst wenn es
wieder zusammengenäht werden könnte, würde es unwiederbringlich verän-
dert sein: Aber das Gewand des Herren soll unbeschädigt (integra) bleiben, so
wie es gewoben sei, nämlich als ein Ganzes (contexta per totum). Das, was in
dieser Weise vom Heiligen Geist gewoben und zusammengefügt worden sei,
dürfe vom Menschen nicht aufgelöst werden (dissolvetur).19 Nicht geht es
gegen die (logische) Analyse überhaupt, sondern gegen ihren besonderen
Gebrauch, der aus Bernhards Sicht gerade das zu zerstören drohe, was es zu
finden gelte.20 Indem das Zerlegen des Textes bestimmte seiner Eigenschaften
zerstöre, gehe etwas verloren, das sich aus den erzeugten Bestandteilen nicht
wieder zurückgewinnen lasse – mit einem Wort: Es unterbricht den ‚ordo
inversus‘.
Das zweite Beispiel bietet Erasmus in seiner theologischen Methodenlehre
Ratio seu Compendium verae theologiae, wenn es nach einer Kaskade rhetori-
scher Fragen zu einer nichtscholastischen Theologie der Kirchenväter heißt,
dass diese deshalb weniger tiefsinnig erscheinen könnten,
[w]eil sie nicht jede Rede fast Wort für Wort zerschneiden und dann in Trümmer
schlagen[.] Dieser Teil wird dreigeteilt, der erste wiederum in vier und die einzel-
nen davon wieder in drei; der erste dort, der zweite dort. Das erst scheint uns ge-
lehrt, was eisige Verstandeskälte ist; und von Kindheit auf daran gewöhnt, verste-
hen wir nichts, was nicht auf diese Weise stückchenweise zerpflückt ist.21
Erasmus gebraucht noch zwei weitere Bilder für den Umgang mit dem Text,
zum einen den Vergleich mit Penelope: Sie webe ihr Gewebe, ihren Text, um
ihn dann wieder aufzulösen (retexeretur), sowie das Bild des Wachses: Unter
den Händen der anderen, in diesem Fall der Dialektiker und Scholastiker,
geraten die Worte der Heiligen Schrift (arcanas litteras) zu Wachs, das man

18 Vgl. Bernhard von Clairvaux: Epistolae […], in: ders.: Opera. Vol. VIII, Roma 1977, Ep.
188, S. 11.
19 Ebd., Ep. 334, S. 273.
20 Der Ausdruck ‚aperire‘ ist biblisch fundiert, vgl. z.B. Off 3,7: „Qui habet clavem David, qui
aperit, et nemo claudit, claudit, et nemo aperit.“ Der Ausdruck findet dann auch in der Logik
Verwendung, wohin er aufgrund von Augustinus: De ordine (PL 32, II, 13, 38), gelangt sein
könnte; er findet sich weiterhin im Rahmen von Beschreibungen des Auslegens und Kom-
mentierens, so bereits bei Boethius: In Categorias, ad III, 9 (PL 64, S. 159-294, hier S. 186).
21 Vgl. Erasmus: Ratio seu Methodus compendio perveniendi ad veram Theologiam [1518], in:
ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 3. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen
von Gerhard B. Winkler, Darmstadt (1967) 1990, S. 117-495, hier S. 162f.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 249

beliebig (pro libidine) mal so, mal so formen könne.22 Das Bild der Wachsnase
floriert, wenn es mit Beginn des 16. Jahrhunderts auf den Text der Heiligen
Schrift angewandt, die Konfessionen sich gegenseitig vorwerfen, beim Inter-
pretieren aus ihr eine Wachsnase zu machen. Das, was Erasmus in seinem
Ratio-Traktat mit dem Zerpflücken anprangert und was mit dem Bild der
Wachsnase potenziert erscheint, ist zumindest auf den ersten Blick genau das,
was im 17. Jahrhundert zur weithin akzeptierten Behandlung von Texten wird
– das Analysieren, Zerschneiden und Anatomisieren. Zwar mochte man in der
‚analysis textus‘ oder in der ‚analysis logica‘ mehr als nur das Zerstückeln des
Textes sehen, doch scheint sich die Praxis kaum hiervon zu unterscheiden.
Doch Vorsicht!
In einer Geschichte der anatomischen Darstellung zur Wandlung des Kör-
perempfindens heißt es:
Im 16. Jahrhundert wurde die Anatomie so gut wie immer an Abbildungen des
ganzen Körpers dargestellt, und dieser wird als lebend empfunden. Noch gibt es
kaum Abbildungen des Leichnams; wenn aber, so ist der tote Körper ganz. Ist er
zerstückelt, so ist die Grausamkeit des Zerstückelns ein wesentliches Motiv der
Darstellung.23
Das ist überraschend, insbesondere die Aussage: „als lebend empfunden.“
Dafür wird keine Erklärung geboten – ich habe eine. Sie hängt mit dem zu-
sammen, was man mit der Anatomie des menschlichen Körpers und der Ana-
tomie bestimmter Texte auch oder letztlich zeigen wollte. Die Zerlegung von
Texten wird im Mittelalter mit Ausdrücken wie ‚divisio‘, ‚partitio‘ oder
‚distinctio‘ bezeichnet. Verdrängt werden sie von Bezeichnungen wie ‚resolve-
re‘ oder ‚retexere‘. Am Anfang des 16. Jahrhunderts findet sich dann der Aus-
druck ‚analysis‘, nicht zuletzt wirkungsvoll, wenn auch nur vereinzelt bei
Melanchthon. Doch nicht er, sondern das ‚enfant terrible‘ Petrus Ramus, mehr
noch seine Anhänger, machen aus der ‚analysis textus‘ im 16. Jahrhunderts ein
Lehrstück der Logik, genauer der ‚logica practica‘. Der zur ‚Analyse‘ kom-
plementäre Ausdruck ist in der ramistischen Tradition nicht ,synthesis‘ oder
,compositio‘, sondern ‚genesis‘.24
1517 veröffentlicht Erasmus seine neue Übersetzung des Neuen Testa-
ments.25 Einiges hat er wortgetreuer aus dem griechischen Text übersetzt.
Dazu gehört auch ein kleines Wörtchen im zweiten Timotheus-Brief: Den

22 Vgl. ebd., S. 140.


23 Marielene Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung von 1600 bis zur Gegenwart,
München 1972, S. 11.
24 Vgl. Lutz Danneberg: Logik und Hermeneutik: Die analysis logica in den ramistischen
Dialektiken, in: Uwe Scheffler und Klaus Wuttich (Hg.): Komplexe Logik, Berlin 1998, S.
129-158.
25 Hierzu Danneberg: Anatomie (Anm. 1).
250 Lutz Danneberg

Ausdruck ¤dotomeîn, der etwa ‚zerschneiden‘, ‚teilen‘ bedeutet, gibt die


Vulgata recht farblos mit ‚tractare‘ wieder (vermutlich in Anlehnung an den
entsprechenden technischen Ausdruck der antiken Rhetorik). In der Heiligen
Schrift ist seine Verwendung ohne Parallele, und immer erscheint erklärungs-
bedürftig, weshalb Paulus gerade diesen Ausdruck wählt. Man kann vermuten,
dass die Bezeichnung ‚praecepta tractandarum scripturarum‘ für das, was Au-
gustinus in De doctrina christiana für den ‚scripturarum tractator‘ bietet, die-
sen biblischen Sprachgebrauch aufnimmt. Diese Tradition unterbricht Eras-
mus, wenn er ‚secare‘ (also ‚schneiden‘) statt ‚tractare‘ wählt. Luther über-
nimmt diesen Ausdruck in seiner revidierten Bibel und übersetzt: „Befleißige
dich Gott zu erzeigen einen rechtschaffenen und unsträflichen Arbeiter, der da
recht theile das Wort der Wahrheit.“
Sein Lehrbuch zur Logik, dessen verschiedene Versionen neben denen der
ramistischen Dialektik zu den erfolgreichsten Lehrbüchern des 16. Jahrhun-
derts zählen, hat Melanchthon immer wieder verändert, so auch mit der Hinzu-
fügung neuer Widmungen. Die zweite Version von 1545 versieht er mit einer
Widmung, die einen folgenreichen Passus zur Anwendung und zum Nutzen
der Logik für die Erklärung der Schrift bietet – also für das Erzeugen theologi-
scher wie anderer Wissensansprüche aus einem Text. Das zentrale Argument
dieser Rechtfertigung ist das neutestamentliche ‚recte secare‘. Dabei lässt er
sich auch nicht den Hinweis auf die levitische Vorschrift entgehen, ohne aller-
dings Origenes zu nennen, der in Wittenberg ob seines mächtigen Drangs zum
Allegorisieren nicht sonderlich geachtet war. In der zwei Jahre später erschei-
nenden dritten Version findet sich diese Rechtfertigung im Haupttext der Dia-
lektik. Danach gehört die Rechtfertigung der ‚analysis textus‘ unter Rückgriff
auf diese Bibelstelle zur ‚opinio communis‘ in der protestantischen Welt. Dass
die Rhetorik für die protestantische ‚hermeneutica sacra‘ eine Rolle spielt, lässt
sich nicht mit dem Hinweis bestreiten, dass sie ihre Führungsrolle im Zuge der
(interkonfessionellen) Streitigkeiten bald an die Logik abgegeben hat – bislang
ist dies jedoch nicht hinreichend beachtet worden: Den ‚grammaticus‘ à la
Erasmus löst auf dem Weg zum ‚hermeneuticus‘ der ‚analyticus‘ ab.26
Aber weshalb gehen dem bibelfesten Melanchthon beim ‚recte secare‘
plötzlich die Augen auf? 1543 erscheint Vesals De humani corporis fabrica
libri septem Fabrica. Wittenberg wird schnell zu einer Hochburg der neuen
Anatomie, ohne dass dort allerdings nennenswert zur Erweiterung des anato-
mischen Wissens beigetragen wird. Doch man sieht noch etwas anderes. Zwar
wird Vesals Werk hinsichtlich des von ihm erhobenen Überbietungsanspruchs
gegenüber der galenischen Anatomie oftmals überschätzt, aber wohl jeder, der

26 Vgl. Lutz Danneberg: Vom grammaticus und logicus über den analyticus zum hermeneuti-
cus, in: Jörg Schönert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Die Geschichte der Hermeneutik und die
Methodik der textinterpretierenden Disziplin, Berlin u. New York 2004 (im Erscheinen).
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 251

das prächtige Werk aufschlägt, kann sich nicht der Faszination der bildlichen
Darstellungen von einer nicht sicher identifizierten Meisterhand aus der Schule
Tizians entziehen. Explizit stellt Vesalius in der Vorrede zu seinem Werk die
Glaubwürdigkeit des Sehens gegen diejenige der Bücher. Das auf der ersten
Seite platzierte Bildnis zeigt den Verfasser selbst, den Blick auf den Betrachter
gerichtet und dabei einen Unterarm mit Hand sezierend. Die Bedeutung des
Bildes ergibt sich vor diesem Hintergrund als Betonung der Handarbeit. Doch
die Hand bedeutet noch mehr: Sie ist ‚organum organorum‘ (Órganon prò
Órganon – wie Aristoteles sagt)27 und Sinnbild göttlicher Providenz.
Als Gegenbild erscheint die oft kolportierte Lehrsituation, in der ein Me-
diziner aus einem Buch vorliest und der Wundarzt unterhalb der Lehrkanzel
die Sektion vornimmt oder auf Körperteile hinweist – ‚anatomiae ex cathedra‘.
Diese Beziehung ließe sich auch so beschreiben, dass die Stellen des Körpers
nur der Illustration des Kommentars, nicht seiner Überprüfung dienen sollten.
Schon das Titelblatt von De humani corporis fabrica libri septem zeigt ein
anderes Szenario: Da nimmt der Gelehrte selbst und auf gleicher Höhe zu den
Studenten die Sektion vor. Zum Ausdruck kommen soll damit vermutlich, dass
die Autopsie und die Handarbeit gegenüber der in der Zeit gängigen Medizin
eine andere Rolle spielen sollen als zuvor das Sehen und Kommentieren des
Körpers. Es könnte nahe liegen, dieses Szenario mit der im Protestantismus
aufkommenden Vorstellung des Selbstlesens der Heiligen Schrift zu paralleli-
sieren. Zwar mag das bei der Rezeption eine Rolle gespielt haben, doch ist es
weder sonderlich erhellend, noch rechtfertigt es den Bezug zur Anatomie.
Voreilig verschenkt man so ein spannendes Thema.
Wenn man die Zeichnung aus dem vesalischen Werk mit den älteren, im
Unterschied hierzu wie Kinderzeichnungen anmutenden Darstellungen ver-
gleicht, dann gehört zu den wesentlichen Unterschieden die Einführung der
Perspektive und die angestrebte Detailgenauigkeit. Hierdurch gelingt es, so-
wohl den räumlichen Aufbau als auch die Lagebeziehungen der Organe darzu-
stellen. In den Darstellungen streifen die ‚Muskelmänner‘ alle ihre Muskeln
wie Kleidungsstücke ab, bis nur noch das Skelett übrig bleibt. Der im Titel
verwendete Ausdruck ist zielführend: ‚Fabrica‘ setzt einen ‚faber‘ voraus, der
seine Arbeit in planvoller Weise angeordnet hat. Dem ‚Finiti ad infinitum non
est proportio‘ wird das Axiom, dass das Verursachte der Ursache ähnlich sei
(causatum causae simile) entgegengesetzt. Man könne aus einem Werk dessen
Schöpfer zumindest in Umrissen erkennen. Es geht dem anatomischen Blick
ins Innere des menschlichen Körpers nicht allein um Strukturerkenntnis, son-
dern um die Erkenntnis funktionaler Zusammenhänge. In der Vorrede zur
Fabrica bietet Vesal die Stichworte, die er zur Beschreibung von Beziehungen

27 Vgl. Aristoteles: De part animal, IV, 10 (687a2ff).


252 Lutz Danneberg

zwischen dem Körper und seinen Teilen nutzt: ‚harmonia‘, ‚usus‘ (causa fina-
lis), ‚functio‘. Sie lassen sich auch auf den Text-Körper übertragen, wie es
denn auch geschehen ist. Schlaglichtartig drückt sich das darin aus, dass ‚ana-
tomia‘ gegen Ende des 16. Jahrhunderts weithin synonym für ‚analysis‘ ge-
braucht wird. Man vermochte so bestimmte Vollzüge des Lesens im ‚liber
supranaturalis‘ zu pointieren, und zwar solche, die das Zerlegen als funktional
zu einem Ganzen erscheinen lassen. Allerdings geschieht das nicht allein für
dieses Buch, sondern auch für das Lesen des ‚liber artificialis‘. Das 17. Jahr-
hundert von Bacon bis Boyle umspannend, verändert das zudem die Termino-
logie des Lesens des ‚liber naturalis‘.
Noch fehlt ein entscheidendes Bestimmungsstück. Mit ihm verwandelt
sich der analogische, metaphorische Gebrauch des Ausdrucks ‚Körper‘ im
Blick auf den Text in einen ‚terminus technicus‘. Er bietet die angekündigte
Erklärung dafür, weshalb die anatomischen Darstellungen den Eindruck des
Lebenden wecken. Denn der Ausdruck ‚lebendig‘ ist ungenau. Die Darstel-
lungen sollen zeigen, dass die Körper noch eine Seele haben. Und genau dieser
Ausdruck der Seele gewinnt in der Anwendung auf den Text-Körper termino-
logischen Charakter. Im Hintergrund steht auch hier Aristoteles. In De anima
heißt es bei ihm zur Seele:
Daher ist wohl jeder natürliche Körper, der am Leben teilhat, ein Wesen (Sub-
stanz), und zwar im Sinne eines zusammengesetzten Wesens. Da er aber ein so-
gearteter Körper ist, – denn er besitzt Leben –, dürfte der Körper nicht Seele sein;
denn der Körper gehört nicht zu dem, was von einem Zugrunde liegenden ‚Sub-
strat ausgesagt wird‘, sondern ist vielmehr Zugrundeliegendes und Materie
‚selbst‘. Notwendig also muß die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürli-
chen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat.28
Vereinfacht gesagt: Die Seele ist die ‚causa formalis‘ des Textes wie des
(menschlichen) Körpers. Der Text-Körper erscheint wie andere Körper be-
schreibbar mittels der ‚causa‘-Lehre: Der Autor als ‚causa efficiens‘, Themen
und Quellen als ‚causa materialis‘; ‚causa formalis‘ ist als ‚forma tractandi‘ die
Vorgehensweise des Autors und als ‚forma tractatus‘ die Gestalt der Schrift,
‚causa finalis‘ ist schließlich der Zweck des Werkes, der sich im Rezipienten
erfüllt (oder auch nicht).29 Die Seele oder ‚forma‘ (‚interna‘, im Unterschied
zur ‚forma externa‘) bildet das organisierende Zentrum, das aus Teilen des
Textkörpers ein geordnetes, aufeinander bezogenes Ganzes macht.
In der Folge löst sich der Textkörper wieder vom menschlichen Körper ab,
wenn man erkennt, dass im Unterschied zu ihm der Körper der Heiligen

28 Aristoteles: De anima, 412a3ff.; Übersetzung von Willy Theiler und Horst Seidl.
29 Vgl. Lutz Danneberg: Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der
Autorintention, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines um-
strittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 77–105.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 253

Schrift noch ganz andere Dimensionen des funktionalen Verweisens seiner


Teile untereinander und auf das Ganze besitzt. Diese Steigerung findet ihren
prägnanten Ausdruck in der Ablösung der anatomischen ‚harmonia‘ als Ideal
für die Innenbestimmtheit eines Ganzen im Bezug auf seine Teile durch den
neu kreierten Begriff der ‚panharmonia‘. Ich halte fest: Im ‚Autostereotyp‘ hat
man den Text nie zerstückelt. Dieser Vorwurf erscheint immer als Hetero-
stereotyp – für Luther sind es die scholastischen Theologen, denen gegenüber
er mehrfach explizit diesen Vorwurf erhebt; Hobbes – um nur eines der zahl-
reichen Beispiele aus dem 17. Jahrhundert herauszugreifen – spricht im Blick
auf die Nutzung der Heiligen Schrift als Baustelle für ‚dicta probantia‘ von
„atomes of Scripture“, ohne ihr „design“ zu beachten.30 Wenn das so ist, was
passiert dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Es verändert sich
tatsächlich etwas in der Wahrnehmung des Text-Körpers. Die Gründe sind
vielfältig und nicht bei allen sind es dieselben. Diese Geschichte ist bislang
nicht einmal annähernd in den Blick gekommen und so müssen hier wenige
Hinweise genügen.
Bei prinzipieller Anerkennung der Zergliederung des Textes als wichtiges
Hilfsmittel zu seinem Verständnis,31 finden sich um die Mitte des Jahrhunderts
zugleich Warnungen vor dem Missbrauch dieses Hilfsmittels.32 Das beschrie-
bene Verfahren wird seit dem 16. Jahrhundert erprobt – im 17. Jahrhundert ist
es dann durchweg üblich). Dabei verbindet sich die Methode der ‚Zergliede-
rung‘ mit einer spezifischen Präsentationsweise: ‚tabulae‘ oder ‚methodus
tabelaris‘. Selbst Textinterpretationen konnten ausschließlich so eingerichtet
sein. Trotz stark divergierender Gestaltung ist den tabellarischen Darstellungen
etwas gemeinsam: Sie sind unabhängiger von der Linearität und Sukzession
sprachlicher Texte, indem sie Sukzession in Simultanpräsenz zu verwandeln
vermögen. Diese ‚ad-oculos‘-Präsentation prädestiniert sie für eine Funktion
als ‚tabulas mnemonicas‘, in denen das Gliederungswissen ohne jede Begrün-

30 Hobbes: Leviathan […]. Reprinted from the Edition of 1651, Oxford (1909) 1958, Part III,
chap. 43, S. 471.
31 Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757, § 231, S.
120: „Zergliederung des Textes (analysis textus) ist eine deutlichere und ordentliche, oder
methodische, Vorstellung der verschiedenen Verhältnisse, in welcher die Theile des Sinnes
gegen einander stehen.“
32 Ebd., § 232, S. 121: „Doch muß er sich hüten, damit die Zertheilung und Eintheilung des
Sinnes nicht gezwungen, zu ängstlich gesucht, gar zu fein sey, einen Eckel verursache, und
das Gemüth so sehr zerstreue, daß die Gegeneinanderhaltung, der verschiedenen Theile der
Tabelle, natürlicher Weise unmöglich werde: denn als denn verursacht sie, stat der gehoften
Deutlichkeit, Verwirrung, und hilft so wenig, daß sie vielmehr den Zweck des Exegeten hin-
dert.“ Vgl. bereits Johann Jacob Rambach (1693-1735): Institvtiones Hermenevticae Sacrae
[...1723]. Editio qvarta denvo recognita. Cum praefatione Ioannis Francisci Bvddei, Ienae
1732, lib. II., cap. VI, § 13, S. 246.
254 Lutz Danneberg

dung bleibt. Sie lässt sich aber auch als tendenzielle Realisierung einer letzt-
lich Gott vorbehaltenen ‚cognitio intuitiva‘, des Erkennens ‚auf einen Blick‘
deuten. Doch nicht das steht im Vordergrund. Als der Tabellenmacher für die
Heilige Schrift par excellence gilt den Zeitgenossen Sigmund Jacob Baumgar-
ten (1706-1757).33 Doch am Ende des Jahrhunderts sind Einschätzungen ver-
breitet wie diejenigen Georg Lorenz Bauers (1755-1806). Die „Zergliede-
rung“, die „besonders Baumgarten empfohlen“ habe, sei zwar ein „Hülfsmit-
tel“, dem man einen „Nutzen“ nicht absprechen könne, der aber zu warnen sei
vor dem „Mißbrauch, welchen die Baumgartenianische Schule davon gemacht
hat, daß man die Schriftsteller nicht zu sehr zerstückle, und sie so behandle, als
hätten sie nach einer genauen Disposition geschrieben [...].“34 Die ‚methodus
tabelaris‘ wird zum Schreckensbild der Wut des Zerlegens.35
Dieser sprichwörtliche ‚Zerstückler‘ ist der Bruder desjenigen, der erste
Grundlagen legt, aus denen sich später so etwas wie ästhetische Makroeigen-
schaften von Texten ausbilden – anhand derer sich begrifflich das ausdrücken
lässt, was sich als das Spezifische von Texten als Ganzheiten hoher (oder
höchster) innerer Bestimmtheit darbietet und das gerade durch die ‚Zer-
gliederung‘ und ‚Zerstückelung‘ zerstört zu werden droht. Dass die beiden
Baumgartens davon noch nichts ahnten, zeigt der ‚theologische Bruder‘, indem
er die Ideen des ‚philosophischen‘ für die ‚hermeneutica sacra‘ zu nutzen such-
te,36 und der andere, Alexander Gottlieb Baumgarten, indem er seine philo-
sophischen Darbietungen selbst nach diesem Verfahren einrichtet. Vor der Zeit
der strikten Ablehnung heißt es bei Herder mit noch typischer Ambivalenz:
Die tabellarische Methode trägt hierzu viel bei, unser Auge an gewisse Gesichts-
punkte zu gewöhnen, in die wir die Gegenstände rücken; und da B. in dieselbe,
vielleicht durch den Unterricht des Bruders, oder durch seine eigene Schärfe im
Zergliedern verliebt war: so war die Methode ihm eigen, die Begriffe neben- und
unter- und hintereinander zu stellen, bis sie sich in seine Lieblingseinteilungen pas-
sen. Ich nenne diese Methode bequem, weil sie die Einsichten ungemein faßlich
macht.

33 Zu ihm, der hermeneutisch wesentlich mehr zu bieten hat, vgl. Lutz Danneberg: Siegmund
Jakob Baumgartens biblische Hermeneutik, in: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneu-
tik, Frankfurt a.M. 1994, S. 88-157.
34 Georg Lorenz Bauer: Entwurf einer Hermenevtik des Alten und Neuen Testaments. Zu Vorle-
sungen, Leipzig 1799, 1. Theil, § 88, S. 74.
35 Johann Jakob Griesbach (1745-1812): Vorlesungen über die Hermeneutik des N.T. Hg. von
Johann Carl Samuel Steiner, Nürnberg 1815, III. Abschnitt, S. 198 („Tabellenmacherei“);
Gottlieb Philipp Chr. Kaiser (1781-1848): Grundriß eines Systems der neutestamentlichen
Hermenevtik, Erlangen 1817, § 77, S. 177 („tabellarisches Zerschneiden“).
36 Zu ersten Spuren der Aufnahme vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Dissertatio Theologica
de Efficacia S. Scriptvrae natvrali et svpernatvrali qvam svb Praesidio [...] svbiicit Avctor
Martinvs Felmer, Hale Magdebvrgigae 1742.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 255

Zugleich folgt die Warnung, dass „sie“ – die ‚bequemen‘ Zergliederungen –


„der Weltweisheit schädlich werden können, wenn man sich zu sehr an sie
gewöhnt.“37 Was Herder hier noch wohlwollend in Bezug auf die Philosophie
zu bedenken gibt, erscheint ihm beim Umgang mit literarischen Texten und
nicht zuletzt mit der Heiligen Schrift als zerstörerisch. Zwar fordert er (für die
Ästhetik) „Analysis, strenge Analysis der Begriffe“38 und erklärt: „[d]ie wahre
und einzige Methode der Philosophie ist also die analytische.“39 Er weiß, dass
ein solches Analysieren eine Grenze sichtbar macht: „denn es muß endlich
unzergliederliche Begriffe geben, die von den einfachsten Worten nicht mehr
zu trennen sind.“40 Beispiele hierfür sind „Gedanke“, „Seyn“, „Raum“, „Kraft“
sowie der „größte Knoten“, „das Schöne“.41 Doch seine Überlegungen weisen
dann in eine andere Richtung: „So ist das Sein – unzergliederbar – unerweisbar
– der Mittelpunkt aller Gewißheit.“42 So wie das Unzergliederbare zur unmit-
telbaren Gewissheit wird,43 die dem analysierenden Zugriff entzogen bleibt,
zerstöre der zergliedernde Zugriff das Kunstwerk:
Das Feinste der Empfindung ist völlig vielleicht individuell [...]. Der Geist der Ode
ist ein Feuer des Herrn, das Todten unfühlbar bleibt, Lebende aber bis auf die den
Nervensaft erschüttert: ein Strom, der alles Bewegbare in seinem Strudel fortreißt.
Zergliederern verfliegt er so unsichtbar, wie der Archäus den Chymikern, denen
Waßer und Staub in der Hand bleibt, da seine Diener, das Feuer und der Wind, im
Donner und Blitz zerfuhren.44

37 Vgl. Johann Gottfried Herder: Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften [um 1767], in:
ders.: Werke. Hg. von Wolfgang Proß, Bd. 2: Herder und die Anthropologie der Aufklärung,
München 1987, S. 14-31, hier S.18. Die Stelle bleibt unkommentiert; der Kommentar von
Ulrich Gaier in: Johann Gottfried Herder: Werke I: Frühe Schriften 1764-1772, Frankfurt
a.M. 1985, S. 1244, berücksichtigt nicht den Bezug auf S. J. Baumgarten.
38 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und
Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen [1769], in: ders.: Werke (Anm. 37), S. 57-240, S. 107.
39 Johann Gotfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, als Beilagen zu
den Briefen, die neuste Litteratur betreffend. Dritte Sammlung [1767], in: ders.: Sämmtliche
Werke. Bd. 1, Berlin 1877, S. 357-531, hier S. 418.
40 Ebd., S. 419.
41 Ebd.
42 Ders.: Versuch über das Sein [1764], in: ders.: Werke I (Anm. 37), S. 9-21, hier S. 20. Kant
ist für Herder noch derjenige, „der den glücklichen Analytischen Weg gehet, immer kat’
anqrwpon zu philosophieren“, ders.: [Rez.:] Träume eines Geistersehers […], in: ders.:
Sämmtliche Werke (Anm. 39), S. 125-130, hier, S. 128.
43 Ders.: Älteste Urkunde des Menschheitsgeschlecht [1774], in: ders.: Werke, Bd. 5. Hg. von
Rudolf Smend, Frankfurt 1993, S. 179-660, hier S. 251: „Worte aber sind nur Zeichen! Evi-
denz und Gewißheit muß also in den Sachen liegen, oder sie liegt nirgends! Worte sind abge-
sonderte, willkühriche, wenigstens zerteilende, unvollkommne Zeichen: sie muß also im gan-
zen, unzerstückten, tiefen Gefühl der Sachen liegen, oder sie liegt nirgends“.
44 Ders.: Fragmente einer Abhandlung über die Ode [1765], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd.
32, Berlin 1899, S. 61-85, hier S. 62f.
256 Lutz Danneberg

Noch grundsätzlicher gilt: Das Erkennen der Wahrheit tritt in Konflikt mit dem
Empfinden des Schönen. In der Kritik der ‚aesthetica artificialis‘ Baumgartens
heißt es bei Herder im Blick auf die ‚aesthetica naturalis‘: „Eben das Gewohn-
heitsartige, was dort [scil. in der ‚aesthetica naturalis‘] schöne Natur war, löset
sie [scil. die ‚aesthetica artificialis‘] auf, und zerstörts gleichsam in demselben
Augenblick.“45 Schließlich findet sich bei ihm als Exempel der Zerstörung der
Schönheit der sinnlichen Wahrnehmung das ‚Sehen‘ durch ein Mikroskop als
ein Ignorieren des Ganzen und als auflösender Blick.46 Es häufen sich nicht
allein die Klagen über den Widerstreit zwischen Wahrheit und Schönheit,
zwischen Erkennen und Fühlen.47 Das Mikroskop, durch das sich die ‚schöne
Ansicht der Wange einer Frau‘ in eine „ekelhafte Fläche“ verwandelt, ist
längst stehende Illustration dafür, dass eine ‚deutliche‘ Erkenntnis das Schöne
zu zerstören drohe.48
Mehr noch als in dieser Konstellation findet die epistemische Situation in
einer anderen ihren Ausdruck, die sich im Zuge des wachsenden Zuspruchs der
kopernikanischen Theorie konturiert. Zu erinnern ist, dass sich die Anerken-
nung der kopernikanischen Theorie beileibe nicht so einsträngig darstellt, wie
wissenschaftshistorische Untersuchungen nicht zu Unrecht im Blick auf die
engere Fachgeschichte im 18. Jahrhundert annehmen. Ein weniger einheitli-
ches Bild entsteht, wenn man sich nicht auf den Höhenkamm der astronomi-
schen Fachwissenschaft beschränkt und die schwelenden Probleme der Har-
monisierung bibelverhafteter Wissensansprüche in den Blick nimmt. Zum
Sinnbild des ‚Scheins‘ wird die dem Augenschein eklatant widerstreitende
Bewegung der Sonne, die aus dem Meer emporsteigende Morgenröte. Seit
Anbeginn des 18. Jahrhunderts durchzieht dieses Beispiel nicht nur den philo-
sophischen Diskurs – etwa bei Wolff, Baumgarten oder Meier. Es findet sich
auch in Herders Konstrukt eines Naturmenschen, der täglich aufs Neue im

45 Herder: Kritische Wälder (Anm. 38), S. 76.


46 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1771]. Text, Materia-
lien, Kommentar von Wolfgang Proß, München o.J, S. 11: „Die Thräne, die in diesem trüben,
erloschnen, nach Trost schmachtenden Auge schwimmt – wie rührend ist sie im ganzen Ge-
mälde des Antlitzes der Wehmuth; nehmet sie allein, und sie ist ein kalter Wassertropfe!
Bringet sie unters Mikroskop und – ich woll nicht wißen, was sie da sein mag!“. .
47 So heißt es bündig z.B. bei Johann Michael Sailer (1751-1832): Anleitung für angehende
Prediger [1788, 1794, 1811], in: ders.: Sämmtliche Werke, unter Anleitung des Verfassers hg.
von Joseph Widmer, Bd. 17, Sulzbach 1835, S. 3-176, hier S. 93: „Wenn das Herz spricht, so
hat der Verstand nicht Muße, das Theilmesser nach der Schule zu führen.“
48 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften [1748]. Erster Theil,
Halle 1754, § 23, S. 38-40. – Vgl. z.B. Friedrich Christoph Oetinger: Die Philosophie der Al-
ten, widerkommend in der güldenen Zeit. II. Theil, Frankfurt u. Leipzig 1762, S. 30f.: „Allzu
große mikroskopische Subtilität verhindert den Genuß der Wahrheit im Ganzen“. Es gilt nach
Oetinger, nicht den ‚Schein‘, das ‚nur Phänomologische‘ aufzulösen, sondern ihn als einzi-
ges, das zugänglich sei, anzunehmen.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 257

Sonnenaufgang die Offenbarung erfährt und immer aufs Neue das ursprüngli-
che Erstaunen und Entzücken in sich hält.
Mit der Anerkennung des ‚Kopernikanismus‘ geht die (ästhetische) Reha-
bilitierung des Augenscheins, die Bewahrung des durch die Sinne gestützten
‚gesunden Menschenverstands‘, einher; dabei nicht zuletzt im Verbund mit
‚apologetischen‘ Interessen angesichts des Niedergangs der Autorität der Hei-
ligen Schrift als Quelle eines orientierenden Wissens. Bei ihr handelt es sich
dann um ein Sprechen, das sich nicht nur am sinnlichen Anschein ausrichtet,
sondern sich den falschen Meinung der Menschen anbequemt – ,ad captum
vulgi loqui‘.49 Zur Linderung des Konflikts zwischen biblischen Aussagen im
‚sensus litteralis‘ und den außerbiblischen Wissensansprüchen erfährt das eine
Deutung als ,äußere Akkommodation‘,50 aber auch als ‚innere‘, die sich nicht
allein „der Denkweise und Fassungskraft“ anpasse, da die Verfasser dabei
„nicht ihren Charakter, Ihre Individualität verleugnen können“.51 Der Verlust
an Autorität der Schrift transformiert sich in ihre Dignität als „höchstes und
simpelstes Ideal der Dichtkunst“52 („das Erste deutlichste Vorbild! [...] So
dichtet, so erhält nur Gott!“)53, was dazu führt, dass sie so eher der ästheti-
schen Anschauung als dem wissenschaftlichen Verstand zugänglich er-
scheint.54 Das „allgemeine Wahrheitsgefühl“, eine besondere Evidenz des

49 Vgl. hierzu Danneberg: Schleiermacher (Anm. 16).


50 Vgl. u.a. Johann Gottfried Herder: Fragmente zu einer „Archäologie des Morgendlandes“
[1769], in: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 13, Berlin 1883, 1-128, hier S. 32f.: „Und ich be-
haupte, daß nie ein Physisches System [...] der Schlüßel zu Moses seyn wird. Das ganze
Stück ist offenbar nichts als ein Gedicht, Morgenländisches Gedicht, was ganz auf den sinn-
lichen Anschein, auf die Meinung des Nationalglaubens, so gar auf durchaus falsche Mei-
nungen, auf Irrthümer der Vorstellungsarten [...], auf Blendwerk der Einbildungskraft und
des Nationalgefühls bauete“, auch ebd., S. 85 und S. 89; auch ders.: Älteste Urkunde (Anm.
43), S. 194f.
51 Goethe: Dichtung und Wahrheit (HA 9, S. 275).
52 Herder: Älteste Urkunde (Anm. 43), S. 298.
53 Ebd., S. 312. Mit ‚erhalten‘ ist die Tradierung des Textes gemeint. Die Rede ist von der
Genesis, der gegenüber die anderen Reste heidnisch-antiker Poesie nur „zerstückte Glieder“
des göttlichen „Urgesanges“ der biblischen Genesis seien (ebd., S. 376); die auch deshalb ein
Vorbild sei, da sie eine ‚höhere Dichtungs- und Kunstlehre‘ enthalte (ebd., S. 480).
54 Vgl. z.B. Herder: Adrastea [1802], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 23, Berlin 1885, S. 19-
587, hier S. 551: „Daß ihr einen begeisterten Ausruf Josua’s, den ein Heldenlied sang, unpoe-
tisch faßtet und auslegt, soll dieser Stumpfheit sich das Weltsystem fügen?“ Bei Herder ist
das freilich komplizierter, als sich hier darstellen lässt. Nicht allein geht er vom Dichtungs-
charakter und von einer (wie die Bibelphilologie der Zeit) sich am ‚sensus auctoris et primo-
rum lectorum‘ oder ‚auditorum‘ ausrichtenden Bedeutungskonzeption aus – z.B. ders.: Über
die Göttlichkeit und Gebrauch der Bibel [1768], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 31, Berlin
1889, S. 86-121, hier S. 108: „Jedes Buch aus einer alten Zeit, aus einer fremden Nation, muß
eben, weil es ein Buch ist, aus ihr erklärt werden: und es ist völlig ungereimt, eine Schrift zu
fordern, die durchaus für alle Menschen, Völker, Jahrhunderte gleich verständlich seyn sol-
258 Lutz Danneberg

‚sensus communis‘, erscheint daran gebunden, dass dieses ‚Gefühl‘, diese


‚evidentia interna‘, sich „sine resolutione principatorum in principia“ ein-
stellt.55 Die gleiche Entgegensetzung spiegelt sich schließlich in den Versu-
chen der Ästhetisierung der Heiligen Schrift und sie bahnt den Weg für eine
anschauende Betrachtungsweise, die etwa die Schöpfungsgeschichte so naiv
lesen will, wie sie geschrieben worden sei – zurück zur ‚einfältigen Vorstel-
lungsart‘ der Poesie.56 Spannungen bilden sich gleichermaßen zwischen wis-
senschaftlicher Analyse und ästhetischem Genuss wie religiösem Glauben.
Um die Wende zum 19. Jahrhundert verfestigt sich das im Schreckbild des
Kritikers, der den literarischen Text zergliedert, ihn mit seinem Skalpell ana-
tomisiert57 und ihn so um seinen Geist, sein Leben bringt – sprich: seine ganz-

le“. Damit droht den in der Heiligen Schrift gebotenen Wissensansprüche und Glaubenssätze
ihre nur (wie es in der Zeit hieß) ‚temporelle‘ und ‚lokale‘ Geltung; hierzu Lutz Danneberg:
Schleiermachers Hermeneutik im historischen Kontext – mit einem Blick auf ihre Rezeption,
in: Dieter Burdorf u. Reinold Schmücker (Hg.): Dialogische Wissenschaft: Perspektiven der
Philosophie Schleiermachers, Paderborn 1998, S. 81-105. Zugleich aber versucht Herder, das
Göttliche der Schrift und sie als Glaubensnorm gegenüber zu betont historischen Zugriffen
der Philologen zu bewahren; so ist denn z.B. die ,Hieroglyphe‘ der Schöpfung die Quelle al-
ler „Naturlehre und Zeitrechnung, Astronomie und [...] Philosophie“, letztlich der „Ursprung
von Allem, was ist“, ders.: Älteste Urkunde (Anm. 43), S. 269 und 301. Zugleich ist er kri-
tisch gegenüber einer dogmatischen Theologie, die (in seiner Sprache) aus der Schrift einen
‚zerhackten dogmatischen locus‘ machen wolle. Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich auch in
seiner Einstellung zu den homerischen Epen und ihrer Einheit – nicht zuletzt in Homer, ein
Günstling seiner Zeit, das ihm die harsche Abfuhr Friedrich August Wolfs einbrachte; zu den
Gründen erhellend Ernst-Richard Schwinge: „Ich bin nicht Goethe“. Johann Gottfried Her-
der und die Antike, Hamburg 1999, insb. S. 41-61.
55 So z.B. Friedrich Christoph Oetinger: Inquisitio in sensum communem et rationem, Tubingae
1753 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964), cap. II, S. 19.
56 Vgl. Herder: Fragmente (Anm. 50), S. 36.
57 Wie schon zuvor haben die Ausdrücke ‚Anatomie‘ und ‚Anatomisieren‘ im 18. Jh. (außer-
halb der Disziplin) einen ambivalenten Gebrauch, der sowohl positiv als auch pejorativ sein
konnte. Ein Beispiel einer positiven Verwendung bietet Denis Diderot: Brief über die Taub-
stummen [1751], in: ders.: Ästhetische Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, S. 28-97, hier S.
32, der von der ‚metaphysischen Anatomie‘ als dem Zerlegen des Menschen hinsichtlich sei-
ner Sinne spricht. Ein anderes Beispiel bietet Johann Heinrich Lambert: Anlage zur Architec-
tonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathemati-
schen Erkenntiß, Bd. 1, Riga 1771 (ND Hildesheim 1865), I, §§ 7-9, S. 4-7, der das ‚Analy-
sieren‘ Leibniz’ deshalb für weniger vorteilhaft als das ‚Anatomisieren‘ Lockes hält, weil je-
ner – vereinfacht gesagt – die einfachsten begrifflichen Elemente in der apriorischen Analyse
zu erzeugen versucht, doch aus einer „allgemeinen Theorie der Begriffe lassen sich höchstens
Kennzeichen der einfachen Begriffe finden“ (§ 8, S. 6), aber nicht schon damit sie selbst.
Demgegenüber ahme Locke die „Zergliederer[n] des menschlichen Leibes, auch in der Zer-
gliederung der Begriffe“ nach, das heißt er beginnt mit einer gegebenen Erkenntnis – einem
gegebenen Körper in der Anatomie – und verfährt gleichsam aposteriorisch: Bei Erfolg sind
die einfachsten Begriffe selbst erzeugt; vgl. auch ders.: Neues Organon oder über die Erfor-
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 259

heitlichen Eigenschaften zerstört. Die Beispiele, sie reichen von Herder bis
Schlegel, sind Legion.58 Doch wichtiger als die Fülle von Beispielen ist: So
wenig, wie man sich zu einigen vermochte über die Art solcher ‚ästhetischer‘
Eigenschaften, die einen Text zu einer hochgradig innenbestimmten Ganzheit
formen, so sehr bestand Konsens, dass es genau solche Eigenschaften sind, die
durch einen bestimmten, als ‚zerstückelnd‘ wahrgenommenen Zugriff auf den
Text zerstört werden, und zwar bei profanen wie bei sakralen Texten. Bei
dieser verwickelten Geschichte will ich mich nur auf einen, wenn auch fort-
während präsenten Strang beschränken.
Vesal will in seinem Werk nicht die Anatomie eines empirisch gegebenen
Menschen darstellen, sondern die eines nicht deformierten, eines idealen Men-
schen – und das, was er optisch präsentiert, ist ein idealer menschlicher Kör-
per. Genau das sollte auch beim textuellen Körper geschehen. Die ‚analysis
textus‘ transformiert die äußere, mehr oder weniger deformierte Gestalt in
einen idealen Text-Körper. Diese Idealvorstellung wird bezogen auf Texte, die
als Vermittler von Wissensansprüchen gesehen wurden. Solche Ansprüche
unterstellte man antiken wie aktuellen, philosophischen wie literarischen Tex-
ten, vor allem der Heiligen Schrift. Für die Beteiligten lag darin deshalb nichts
Problematisches, da diese idealen, im Zuge der ‚analysis textus‘ erzeugten
Darstellungskörper besser die ‚Seele des Textes‘ (forma interna) ausdrücken –
und nur um sie geht es. Bei keinem anderen Text tritt die kognitive Dissonanz
so in Erscheinung wie bei der Heiligen Schrift: Ihr Inneres, ihre Seele, sei von
höchster vorstellbarer Dignität und Schönheit, von ihrem Äußeren, geschult an
den literarischen wie philosophischen Texten des antiken Höhenkamms und an
philosophischen Idealen der Darstellung und Begründung von Wissensansprü-
chen, konnte man genau das nicht behaupten.

schung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein
[...], Leipzig 1764, Alethiologie, § 123, S. 518.
58 Herder: Von der Ode [um 1765], in: ders.: Werke I (Anm. 37), S. 57-99, hier S. 98: „Ist man
bloß ein philologischer Seher, und ein kalter Zergliederer: so hat man das Glück des Schei-
dekünstlers: man behält Wasser und Staub in der Hand; das Feuer aber zerfuhr, und der Geist
verflog unsichtbar.“ Der Hinweis beim „Zergliederer“ im Kommentar (S. 968) auf die „ana-
lytische Arbeit der Philosophen“ ist unplausibel; es sind ebenfalls die ‚Philologen‘, die man
so gesehen hat und genau sie scheint Herder zu meinen. – Die „willkürlichen Scheidungen
und Mischungen“, also Analyse und Synthese, des „lenkenden Verstandes“ erscheinen als
unangemessen im Blick auf „ein gewordnes organisch gebildetes Ganzes“ und auch hier zer-
stört die Analyse den ‚ordus inversus‘, denn „die einmal aufgelöste elementarische Masse or-
ganisiert sich nie wieder“, Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie
([1795-97], KA I, 1, S. 293); auch z.B. ders.: Über Goethes Meister ([1798] KA I, 2, S. 141),
wonach „der gewöhnliche Kritiker“ die „lebendige Einheit“ des ‚Gegenstandes seiner Kunst‘
„unvermeidlich zerstören“, „ihn bald in seine Elemente zersetzen, bald selbst nur als ein A-
tom einer größeren Masse betrachten“ müsse
260 Lutz Danneberg

Sicherlich spielt bei den Veränderungen auch das zunehmend geringere


Gewicht eine Rolle, das Texten bei der Erzeugung von Wissensansprüchen
zuerkannt wurde.59 Gleichwohl lässt sich immer wieder ein apologetisches
Moment bei diesen Wandlungen beobachten. Zwar ist es noch immer die Ret-
tung der Texte, nun allerdings soll sie aufgrund anderer zugeschriebener Ei-
genschaften erfolgen als solchen, die sich im Licht eines auf Wissenserzeu-
gung ausgerichteten philosophischen Ideals zeigen. An vorderster Front steht
hierbei die Heilige Schrift mit ihrer aufgespalteten Verfasserschaft. Wenn es
bei Hugo von St. Viktor bündig heißt: „visibilis pulchritudo invisibilis pulchri-
tudinis imago est“,60 weiß man von der unsichtbaren Schönheit, an der das
Sichtbare teilhaben muss. Der Rückschluss kompliziert sich mit zunehmendem
Einfluss, den der menschliche Mit-Autor im Zuge der ‚interpretatio grammati-
co-historica‘ bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bei der Interpretation der
Heiligen Schrift erlangt. Proportional zur Zunahme dieses menschlichen An-
teils wird ihre deformierte und hässliche Gestalt sichtbar, die immer weniger
ein innerer Glanz zu veredeln vermag. Am Ende verbleibt allein der menschli-
che Autor und als derjenige, auf den der Rückschluss erfolgt. Die Seele des
Textes war die ‚forma‘ (interna) des Textes, nicht die des Menschen, der den
Text produziert. Technisch in augustinischer wie cartesianischer Sprache aus-
gedrückt: Diese Seele spricht im ‚sermo interior‘, nicht im ‚sermo exterior‘.
Vor allem ist sie nichts Individuelles, wie es ein Mensch ist, sondern etwas
Geteiltes, so dass es zumindest keine grundsätzlichen Probleme bei der Parti-
zipation gibt, ist man einmal durch den ‚sermo exterior‘ in das Innere des
‚sermo interior‘ vorgedrungen.
Abgesehen von der Gott vorbehaltenen ‚creatio ex nihilo‘ pflegte man
zwei Formen der Schöpfung zu unterscheiden: die ‚generatio‘ als ein Hervor-
bringen der Natur und das Herbringen als Herstellen (facere).61 Nach gängiger
Auffassung ist dieser ‚artifex‘ an die Vorgaben der Materien wie der substan-
tiellen Formen gebunden, und mittels eines Regelwissens, einer ‚ars‘, stellt er
etwas her. Die Beurteilung dieser ‚ars‘ als ‚habitus operativus‘ richtet sich
nach dem erstellten Produkt. Beide, Entwurf (idea) und Herstellungswissen,
bilden das Richtmaß der Beurteilung der Güte des Produkts – nicht die psycho-
logischen Dispositionen und Absichten des Menschen, sondern seine in nicht-
psychologischem Sinne bestimmte ‚intentio‘ und ‚voluntas‘ (oder auch ‚finis‘).

59 Vgl. Lutz Danneberg: Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert, in: Jan Schröder (Hg.):
Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtwissenschaft, Philoso-
phie, Theologie, Stuttgart 2001, S. 75-131.
60 Hugo von St. Viktor: Commentariorum in Hierarchiam coelestem S. Dionysii Areopagitae
libri X [um 1130] (PL 175, Sp. 923-1154, hier Sp. 949B).
61 Vgl. z.B. Thomas von Aquin: Summa Theologica [...1266-73]. Editio [...] Josepho Pecci [...].
Editio Tertia, Roma 1925, I, q. 45, a. 2, resp. (S. 249f.).
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 261

Zwar ist seit der Antike die Verbindung zwischen Eigenschaften des Men-
schen, seinem ‚Charakter‘, und Eigenschaften seines Ausdrucks geläufig –
‚imago animi sermo est‘ oder ‚sermo est character animi‘62 oder im Rahmen
einer Ordnung stilistischer xaraktêreß têß lécewß oder xaraktêreß
têß ™rmhneíaß.63 So intensiv die Zerlegung der Charaktertypen auch betrie-
ben worden und sich darin ein Zug der Individualisierung ausdrücken mochte
– etwa nach der Maxime: ‚talis oratio qualis vita‘ oder ‚sermo est character
animi‘ –,64 ist damit doch nicht das Erfassen ‚individueller‘ Charaktere ge-
meint.65
Es ist mithin nicht etwas, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts re-etabliert. Vielmehr wandert die Seele vom ‚sermo interior‘ in den Text
produzierenden Menschen. Das führt im Vollzug zu schleichenden, in den
Resultaten weitreichenden Veränderungen dessen, was als Bedeutung eines
Textes gilt. Zwar variieren die Bestimmungen von Bedeutung (eines Textes,
einer Rede), doch ein Element tritt im 17. und dann im 18. Jahrhundert wie
selbstverständlich auf, nämlich dass sich das Verstehen eines Textes auf das
richtet, was ein Autor mit seinem Text seinen Lesern zu verstehen geben woll-
te. Christian Wolffs Überlegungen zur Auslegung eröffnen mit der Festlegung:
„Interpretari idem est ac certo modo colligere, quid quis per verba sua aut
signa alia indicare voluerit“,66 und nach Christian Thomasius gehe es um eine
„Erklärung desjenigen / was ein anderer in seinen Schrifften hat verstehen
wollen.“67 Zwar zielt eine solche Bestimmung auf einen mentalen Zustand,
aber dieser Zustand ist nur insofern von Belang, wie er zur Einbettung des

62 Seit alters wird der Brief als eine solche Äußerung aufgefasst – als ‚Abbild der eigenen
Seele‘ (epistula imago), mitunter als Spiegel (speculum animi liber, speculum animi oratio).
Doch bedeutet das nicht, dass das, was sich ausdrückt, etwas im emphatischen Sinn Individu-
elles ist, auch wenn es um ‚individuelle Züge‘ gehen mag. Zu diesem Bild vgl. die Hinweise
bei Karl August Neuhausen: Der Brief als ‚Spiegel der Seele‘ bei Erasmus, in: Wolfenbütteler
Renaissance-Mitteilungen 10 (1986), S. 97-110.
63 Vgl. die zahlreiche Aspekte darbietende Untersuchung von Dirk Marie Schenkeveld: Studies
in Demetrius on Style, Amsterdam 1964.
64 Vgl. z.B. Martin Luther: Kirchenpostille [1522], in: ders.: Werke, Bd. 10, Erste Abt., 1.
Hälfte, Weimar 1910, S. 187: „Oratio est character animi, die rede ist eyn ebenbild odder
conterfeytt bild des hertzen“; oder ders.: Annotationes in aliquot capita Matthaei [1536/38],
in: ders.: Werke, Bd. 38. Weimar 1912, S. 443-667, hier S. 549: „Sed sicut cor est, ita est et
oratio, iuxta illud vulgare dictum: Oratio character est animi.“
65 Vgl. Alfred Körte: xaraktêr, in: Hermes 64 (1929), S. 69-86.
66 Christian Wolff: Ius Naturae, methodo scientifica pertractatum [...]. Tom. I [...], Francofurti
& Lipsiae 1740 (Ges. Werke, II. Abt. 17. Hildesheim 1972), cap. III, § 459, S. 318; auch
ders.: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts [...], Halle im Magdeburgischen 1754 (Ges.
Werke, I. Abt., Bd. 19, Hildesheim u. New York 1980), II. Theil, 19, S. 587-602.
67 Christian Thomasius: Auszübung der Vernunfft-Lehre [...], Halle 1691, III. Hauptst., § 25, S.
164.
262 Lutz Danneberg

Produzierens und des Verstehens von Texten in ein Handlungsmodell dient.


Der Text erscheint in irreduzibler Weise als Teil einer Handlung, da derjenige,
der ihn verfasst, mit diesem eine Wirkung bei einem Leser intendiert. Hierbei
lässt sich zunächst einmal unterstellen, dass der Verfasser sie mit tauglichen
Mitteln anstrebt – man nimmt einen ‚rational‘ oder ‚klug‘ handelnden Akteur
an. Genau dieses Bedeutungskonzept überlebt im Rahmen der ‚interpretatio
grammatico-historica‘ bis ins 19. Jahrhundert.68
Nach dieser Bedeutungskonzeption ist eine Interpretation dann richtig,
wenn sie den gewollten Sinn des Textes wiedergibt oder in der Sprache der
Zeit: Wenn der, der die Interpretation liest, das denkt, was derjenige, der den
interpretierten Text verfasst hat, zu verstehen geben wollte.69 Das finale Hand-
lungsmodell iteriert sich mithin bei der Relation zwischen dem Verfasser des
Interpretationstextes und seinem Leser. Sinn macht das nur dann, wenn von
der Interpretation eine spezifische Leistungen erwartet werden können, die der
interpretierte Text für einen (bestimmten) Leser (und seine Situation) nicht
erbringt. Nicht wegen theoretischer Defizite bricht dieses Modell zusammen.
An Attraktivität verliert es aufgrund gewandelter Ansichten zu dem, was die
Interpretation von einem (literarischen) Text vermitteln soll. Und das mündet
in eine veränderte Konzeption der Bedeutung –in letzter Konsequenz, dass es
nichts mehr gibt, was rechtfertigt, den Interpretationstext an die Stelle der
Wirkung des literarischen Textes zu setzen. Die Interpretation ist dem Kunst-
werk gegenüber nicht nur insuffizient: Sie droht, überflüssig zu werden.
Eine Pointe dieses Perspektivwechsels ist, dass – mit Blick auf die Heilige
Schrift formuliert – gerade dadurch, dass der menschliche Autor an die Stelle
des göttlichen tritt, die Schrift an Schönheit gewinnen kann. Allerdings ist es
immer weniger ein (überzeitlicher) Glanz, der sich der Schrift mitteilt: „Ich bin
überzeugt, dass die Bibel immer schöner wird, je mehr man sie versteht, d.h. je
mehr man einsieht und anschaut, dass jedes Wort, das wir allgemein auffassen
und im Besonderen auf uns anwenden, nach gewissen Umständen, nach Zeit-
und Ortsverhältnissen einen eigenen, besonderen, unmittelbar individuellen
Bezug gehabt hat.“70 Das, was dann als Wert an sich erscheint, ist der Text als

68 Vgl. hierzu Danneberg: Schleiermachers Hermeneutik (Anm. 54).


69 Entsprechend gilt das, wenn die Bestimmung auf den Seele-Ausdruck zurückgreift wie bei
Friedrich August Wolf: Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft [gehal-
ten ca. 1798], hg. von Johann Daniel Gürtler, Bd. 1, Leipzig 1831, S. 272 (Hervorhebung
vom Verfasser): „Man versteht jemanden, der ein Zeichen gibt, dann, wenn diese Zeichen in
uns dieselben Gedanken und Empfindungen hervorbringen, wie sie der Urheber selber in der
Seele gegenwärtig hatte.“
70 Goethe: Maximen und Reflexionen ([1825] MA 17, S. 841). – Die verschiedenen Ausgaben
werden auch im Folgenden mit den gängigen Abkürzungen aufgeführt: MA = Münchener
Ausgabe, FA = Frankfurter Ausgabe, HA = Hamburger Ausgabe, LA = Leopoldina Ausgabe,
und WA = Weimarer Ausgabe.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 263

Ausdruck einer jeweils besonderen ‚Individualität‘ – etwa als die ‚eigentümli-


che Ausdrucksweise eines Individuums‘. So soll man nach Herder „Gedanken
und Worte“ nicht „abgetrennt“ betrachten, denn die Worte seien nicht das
„Kleid der Gedanken“, sondern Ausdruck der Seele.71 Entscheidend ist die
intime Beziehung, in die diese ‚Seele‘ mit den ‚Wörtern‘ tritt. Sie stiftet Wert
als etwas Unreduzierbares – etwa durch Exklusion erzeugte Individualität, bei
der man aus sich selber ein Anderes macht und das theoretisch zur Anerken-
nung jeweils spezifischer und unvergleichbarer Anderer führt. Diese Unifor-
mität einzelner, gleichberechtigter und einzigartiger Individuen hält sich frei-
lich nicht uneingeschränkt durch. Offen und versteckt schränkt das die Indivi-
dualitätssemantik ein: auf der Ebene der Gattungen (bestimmte seien mehr,
andere weniger geeignet, Individualität auszudrücken), oder auf der Ebene des
produzierenden Menschen (einige besäßen Individualität in höherer Ausprä-
gung als andere). Individualität lässt sich steigern (ist mithin vergleichbar)
oder aber sie ist wenigen exponierten, vor allem mit den anderen unvergleich-
baren Individuen (etwa den ‚Genies‘) vorbehalten. Die veränderte Bedeu-
tungskonzeption, die sich zunächst an der menschlichen ‚Seele‘ orientiert,
kann sich von ihr wieder ablösen, da sie eben nicht allein das empirische We-
sen meint. Es handelt sich um das Ideal der ‚Individualität‘ des Schöpfers. Sie
wird zu der zentrierenden Kraft, die aus leblos aneinander gereihten Buchsta-
ben ein beseeltes Ganzes generiert, bei dem der Schöpfer das Werk an seiner
Individualität teilnehmen lässt – ‚causatum causae simile‘.
Diese kleine Verschiebung bleibt mitunter selbst dann noch für die Zeitge-
nossen unsichtbar, wenn man die Homonymität des Seelenausdrucks wahr-
nimmt: Die Seele im ‚sermo interior‘ hat nichts mit der Seele irgendeines Indi-
viduums oder einer Individualität zu tun. Der Charakter des ‚Ideals‘ gibt sich
nicht allein dadurch zu erkennen, dass Individualität auf der Seite des Schöp-
fers und seiner Schöpfungen komparativ gebraucht werden kann, sondern auch
auf der des Interpreten. Der Grundsatz ‚simile simili cognosci‘ avanciert zur
zentralen Maxime dieser Hermeneutik. Sie setzt voraus, dass alle sich bei der
Interpretation begegnenden Individualitäten (nur die ,Seele entdeckt die See-
le‘)72 ein Minimum an Gemeinsamkeiten besitzen. Diese für das Erkennen
erforderliche Ähnlichkeit muss aber nicht eine sein, die man von Natur her
besitzt, sondern sie lässt sich auch erzeugen. Die Aufforderung zum Einfühlen,
zum Sich-Hinein-Versetzen bedeutet zumeist keine an Eigenschaften ge-
knüpfte Verschmelzung, die man entweder besitzt oder nicht, oder eine
,selbstvergessene Unmittelbarkeit’. Eher handelt es sich um den Appell an den

71 Herder: Deutsche Litteratur (Anm. 39), S. 396f.


72 Vgl. Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden, den zwo Hauptkräften der
menschlichen Seele [1775], in: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 8, Berlin 1892, S. 263-332, hier
S. 327.
264 Lutz Danneberg

Interpreten, einen bestimmten Wissenshintergrund bei sich zu erzeugen und


andere Wissensmengen so zu kontrollieren, dass sie bei der Interpretation
gerade keine Rolle spielen.73
Unabhängig von den Aporien, in die sich solche Konzepte des Verstehens
zu verfangen drohen und dass sie unvereinbar sind mit jedem strengen Per-
spektivismus des geschichtlichen Erkennens, lässt sich dieser Vorgang verall-
gemeinernd so umschreiben: Gerade durch die Tieferlegung der ‚Seele‘ aus
dem ‚sermo interior‘ in den Menschen versucht man, Eigenschaften der Text-
oberfläche zu bewahren. Unförmigkeit lernt man als Ausdruck einer Individu-
alität nicht nur zu sehen, sondern auch zu schätzen. Es ist die Entdeckung oder
Konstruktion von Eigenschaften, die durch diese Tieferlegung zu unreduzier-
baren Makroeigenschaften von Texten werden, bei denen man dazu neigt und
sich dann daran gewöhnt, sie als ‚ästhetische‘ Eigenschaften auszuzeichnen.
Ebenso wie für Individualität in den verschiedenen konzeptionellen Abschat-
tierungen ließe sich für ästhetischen Eigenschaften von Artefakten sagen, dass
sie Konstrukte im Zuge bestimmter epistemischer Situationen und im Rahmen
sozialer Gefüge sind. In der Sprache der Zerstörung – wenn auch spektakulär –
ist zwar nur ein, aber wesentlicher Aspekt dieses Wandels angesprochen.
Nur sehr gedrängt kann ich der Frage nachgehen, weshalb diese Entwick-
lung erst so spät erfolgt, obwohl zumindest im Heterostereotyp die Gefahren
der ‚analysis textus‘ immer in ähnlicher Weise gesehen werden konnten – und
selbstverständlich stirbt die Textanalyse nicht. Mein Erklärungsversuch
schließt erneut einen Kreis zum Ausgangsbeispiel. Bislang ist nur der erste
Teil des galileischen Gedankenexperiments in den Blick gekommen, also das
Zerlegen des Textes in seine Bestandteile, nicht indes das Erzeugen von Be-
deutungen, also ‚synthesis‘ oder ‚genesis‘. Der Niedergang der ‚analysis tex-
tus‘ wird in dem Augenblick eingeläutet, wenn man einen gravierenden Unter-
schied zwischen textueller und philosophischer Analyse wahrnimmt. Zumin-
dest dem Programm nach ist die philosophische Analyse invers zur philosophi-
schen Synthese in dem Sinn, dass das, was in dem einen Prozess zerlegt wird,
sich in dem anderen wieder erzeugen lässt. ‚Genesis‘ und ‚analysis‘ als Ver-
fahren werden idealiter immer als ‚ordo inversus‘ gesehen, in dem sich dann
auch die christliche Vorstellung der Schöpfung und der Rückkehr zum Aus-
gangspunkt spiegeln kann – ‚exitus‘ und ‚reditus‘. Wie ein Strom gehe die
Welt hervor (emanatio) aus Gott als der fruchtbaren Quelle (fontalis pleni-

73 Das ist z.B. bei Herders Formulierungen des ‚Einfühlens‘ gegeben, auch wenn das bei ihm an
einem christlicher Prototyp modelliert wird, wenn er formuliert, dass der Leser ‚mit den Heb-
räern ein Hebräer, mit den Arabern ein Araber‘ usw. werden solle, dann erscheint ein solcher
Leser als ein ‚Paulus redivivus‘, der ‚allen alles‘ sein wollte.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 265

tudo), sie spiegele nach dem Satz ‚causatum causae simile‘ Gott (exemplaritas)
und kehre wieder zu ihm zurück (consummatio seu reductio).74
So spiegelt auch die textuelle Analyse im 16. und 17. Jahrhundert den gro-
ßen ‚ordo inversus‘ im Kleinen, indem sie als eine Art Rückkehr begriffen
wird. Erst das erklärt die Präferenz, welche die ‚analysis‘ gegenüber der ‚gene-
sis‘ erfährt: Man beginnt mit dem nach der ‚genesis‘ Letztem und erreicht im
Zuge der ‚analysis‘ das Erste der ‚genesis‘, was in der ‚analysis‘ wiederum das
Letzte ist – oder in den immer präsenten Worten des Aristoteles: „Denn der
Überlegende geht forschend und analysierend [zhteîn kaì ˜nalúein] vor [...].
[...] das letzte in der Analyse [˜nalúsei] ist das erste im Werden [genései].“75
Die Zerstückelungs- und Zerstörungsphantasien entzünden sich an der
Wahrnehmung, dass das, was im Zuge der ‚textuellen‘ Analyse zerstört wird,
sich aus den erzeugten Elementen nicht wieder generieren lässt – dramatischer
ausgedrückt: Man erkennt, dass die ‚analysis textus‘ den Gott und die Welt
umfassenden großen ‚ordo inversus‘ unterbricht. Offenbar fällt etwas ausein-
ander, worauf man zahlreiche Reaktionsmöglichkeiten hat. Ich greife eine
dieser Möglichkeiten heraus. Schleiermacher verwendet den Ausdruck ‚Analy-
se‘ – auch wenn man bei ihm vieles von dem findet, was man früher mit die-
sem Ausdruck zu bezeichnen pflegte, gerade nicht für die Interpretation eines
Textes. Eine seiner Formulierungen des Besserverstehens lautet:
Das vollkommene Verstehen in seinem Gipfel aufgefaßt, ist ein den Redenden bes-
ser Verstehen als er selbst. Weil es nämlich theils eine Analyse seines Verfahrens
ist, welche zum Bewußtseyn bringt, was ihm selbst unbewußt war, theils auch sein
Verhältniß zur Sprache in der nothwendigen Duplicität auffaßt welche er selbst
nicht darin unterscheidet. Eben so unterscheidet er auch nicht was aus dem Wesen
seiner Individualität oder seiner Bildungsstufe hervorgeht von dem was zufällig als
Abnormität vorkommt, und was er nicht producirt haben würde, wenn er es unter-
schieden hätte.76
Bei dieser ganz seltenen terminologischen Verwendungen des Ausdrucks
‚Analyse‘ in Schleiermachers hermeneutischen Schriften dürfte nicht das ge-
meint sein, was sich zuvor als ‚analysis textus‘ darbietet. Schleiermacher re-
serviert diesen Ausdruck für die Dogmatik, für die, wenn man so will, Real-
Analyse, nämlich die „Analyse des [religiösen] Gefühls“. Es ist das „nach
verschiedenen Seiten hin sich aussprechende [religiöse] Gefühl, welches durch
eine vollständige Analyse erschöpft werden soll. Die Form des Zusammen-

74 So z.B. Bonaventura: Collationes in Hexaëmeron [1273], in: ders.: Opera Omnia Tomus V:
Opuscula varia theologica, Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1891, S. 327-454, hier I, 17.
75 Vgl. Aristoteles: Nic Eth, 1112b23; Übersetzung von Olof Gigon.
76 Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, hg. von Wolf-
gang Virmond, in: Kurt-Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin
u. New York 1985, S. 1271-1310, hier S. 1308.
266 Lutz Danneberg

hangs der Dogmatik ist daher keine scientifische, sondern eine analytische.“77
Mit ‚scientifisch‘ meint Schleiermacher hier „speculative Deductionen“.78 Die
Wertschätzung der traditionellen Analyse drückt sich aus, wenn es heißt: „Wir
müssen den Prozeß der Bildung rückwärts konstruieren können, sonst ist alles
wieder leeres Hypothesenwesen.“79 Dass diese Auslassung des ‚analysis‘-Be-
griffs in der Hermeneutik Schleiermachers wohl nicht ohne Absicht geschieht,
zeigen gelegentliche frühere Verwendungen. So spricht er in einem Brief von
1804 von der „analytischen Reconstruction“ als Ziel des Verstehens. Dass hier
Ähnliches wie später gemeint ist, wird deutlich, wenn es heißt: „Der erste
Entwurf der Idee ist [...] das Innerste eines Werkes, hängt am unmittelbarsten
mit dem Verfasser selbst zusammen.“80 Noch früher heißt es, dass die „Cha-
rakteristik eines bestimmten Individuums“ dieses „chemisch zerlegen, die in-
nerlich verschiedenen Bestandteile desselben von einander sondern, und [...]
dann das innere Princip ihrer Verbindung, das tiefste Geheimniß der Individu-
alität aufsuchen, und so das Individuum auf eine künstliche Weise nachcon-
struieren“ soll.81
In der Einleitung zu seiner Platon-Übersetzung von 1804 handelt Schlei-
ermacher von der Echtheit, der Abfolge – und für ihn das Gleiche – der Einheit
der platonischen Dialoge im Gang der Entwicklung ihres Autors. Es geht dabei
auch um die Erörterung der alten Unterscheidung zwischen einem esoterischen
und einem exoterischen Platon, die Schleiermacher (wenn man so will) herme-
neutisch unterläuft: Entweder finde sich in den überlieferten Texten überhaupt
nicht Platons Lehre, oder sie sei nur „zufolge einer geheimen Auslegung“ zu
ermitteln. Beides sieht er als Missverständnis. Um denen, die „darin verstrickt
sind, das selbst zum Bewusstsein und Eingeständnis zu bringen“, nennt er als
„lobenswertes Unternehmen, den philosophischen Inhalt aus den platonischen
Werken zerlegend herauszuarbeiten, und ihn so zerstückelt und einzeln, seiner
Umgebungen und Verbindungen entkleidet, möglichst formlos vor Augen zu
legen.“82 Aufschlussreich ist, dass er im Vokabular des Heterostereotyps der
zergliedernden Textbetrachtung ein zweckbezogenes Lob formuliert. Der ‚zer-

77 Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Einleitung zur Vorlesung über Dogmatische Theologie


(Sommersemester 1811). Nachschrift August Detlev Christian Twesten, hg. von Matthias
Wolfes, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 109. Folge 47 (1998), S. 80-99, Textedition: S.
85-99, hier S. 90.
78 Ebd., S. 96.
79 Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Ästhetik, hg. von Rudolf Odebrecht, Berlin u. Leipzig
1931, S. 11.
80 Wilhelm Gaß (Hg.): Fr. Schleiermacher’s Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, Berlin 1852, S. 14.
81 (Friedrich Daniel E. Schleiermacher): [Rez.] Garve’s letzte noch von ihm selbst herausgege-
bene Schriften, in: Athenaeum 3 (1800), 1. St., S. 129-164, hier S. 134.
82 Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Über die Philosophie Platons, hg. von Peter M. Steiner,
Hamburg 1996, S. 37.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 267

stückelte‘ Platon ist letztlich ‚formlos‘. Das verweist nicht auf die äußere
Form, sondern auf die innere ‚forma‘. Verdienst eines solchen Unternehmens
sei, das „Nichtverstehen“ der platonischen Texte erst deutlich zu machen. Er
konzediert, dass auch bei dieser Zergliederung Verstehen stattfindet, doch
„eben so gewiß“ sei „aber auch, daß das Verstehen des Platon für andere da-
durch weder erleichtert noch gefördert wird.“83 Entscheidend ist der Grund,
der das durch die Interpretation zu Erzeugende benennt: „daß vielmehr derje-
nige, der sich auch an die beste Darstellung dieser Art“ (der analysierenden)
„ausschließend halten wollte, leicht nur eine eingebildete Kenntnis erlangen,
von der wahren aber sich eben deshalb nur weiter entfernen könnte.“84
Zur Illustration nutzt auch Schleiermacher den Text-Körper-Vergleich:
„Denn derjenige freilich muß die ganze Natur eines Körpers genau kennen, der
die einzelnen Gefäße oder Knochen desselben zum behuf der Vergleichung
mit ähnlichen eines andern ebenso zerstückelten aussondern will.“ Das sei
zwar „der gründlichste Nutzen“, den dieses „philosophische Geschäft gewäh-
ren“ könne, doch gelange man hierdurch nicht zur „eigentümlichen Natur des
Ganzen“. Wenn überhaupt irgendwo, dann seien in der Philosophie Platons
„Form und Inhalt unzertrennlich, und jeder Satz nur an seinem Orte und in den
Verbindungen und Begrenzungen, wie ihn Platon aufgestellt hat, recht ver-
ständlich.“ Das ist der Gedanke der ‚inneren Bestimmtheit‘ eines Textes in der
Tradition des expliziten Körper-Text-Vergleichs, eben wie „ein lebendiges
Wesen gebildet“ und einem „dem Geist angemessenen Körper mit verhältnis-
mäßigen Theilen“.85 In Bezug auf die Nichtvertauschbarkeit und die Auffas-
sung vom Text als ein lebendes, funktional gegliedertes Wesen dürfte Platons
Phaidros, 264c, Inspirationsquelle gewesen sein. Gerade diesen Dialog stellt
Schleiermacher gleichsam als „Keimentwurf“ an den Anfang seiner „Con-
struction“ des Entwicklungsgangs Platons und seiner Dialoge – aber mehr
noch: Ohne diese beiden Bestimmungen des Text-Ganzen könne der „Mann
selbst“ nicht „begriffen“ werden und am wenigsten seine „Absicht“. Die „zer-
legende Darstellung“ sei zwar ein „notwendiges Ergänzungsstück“, aber nicht
mehr.
Vereinfacht gesagt: Das, was sich durch Zerlegung nicht finden lässt, sind
bestimmte Eigenschaften des Textes, die ihm individuelle Züge verleihen, die
er angesichts der Kombinationsweise seines Autors besitzt. Die ‚analysis tex-
tus‘ führt zu Bestandteilen, aus denen er sich als integrales Ganzes nicht wie-
der generieren lässt. Und das ist solange nicht als problematisch wahrgenom-
men worden, wie das, zu dem diese ‚analysis‘ führt, als das Wesentliche des
Textes gesehen werden konnte. Erst die Unterbrechung des ‚ordo inversus‘

83 Ebd., S. 37f.
84 Ebd., S. 38.
85 Vgl. ebd., S. 38; auch S. 71.
268 Lutz Danneberg

aufgrund veränderter Wertschätzung in bestimmter Weise wahrgenommener


Eigenschaften erzeugt den Hiat.
Anders als bei der ‚analysis textus‘ sieht es im Selbstverständnis bei der
‚analysis philosophica‘ aus: Sie tritt als Real-Analyse oder als die kognitiver
Einheiten auf. Zumindest beim letzteren konnte man meinen, die durch be-
griffliche Analyse gefundenen Bestandteile eines Ganzen könnten rekombi-
niert das Ganze wieder erzeugen. Beim ersteren stellt sich das freilich kompli-
zierter dar, wenn aus ‚effectus‘ mittels ‚analysis‘ die ‚causae‘ gefunden werden
sollen. Hier droht die ‚fallacia consequentis‘: Aus der Analyse der ‚effectus‘
(den Teilen) lässt sich zwar auf die Existenz der Ursachen (demonstratio quia)
schließen, aber nur unter besonderen Voraussetzungen auf die bestimmten,
wahren Ursachen (demonstratio propter quid), also etwa auf die Prinzipien,
welche die innere und äußere Bestimmtheit eines Ganzen bestimmen. Zudem
scheint bei dem sich aus ,analysis‘ und ,synthesis‘ zusammengesetzten ‚syllo-
gismus reciproca‘ ein Zirkelschluss zu drohen, der für die naturphilosophische
Erkenntnis als ,demonstratio circularis‘ erörtert wurde. Genau das gehört zum
Hintergrund der Erörterung von ‚Zirkeln‘ in der Hermeneutik am Beginn des
19. Jahrhunderts.86 Bei Friedrich Ast spiegelt sich diese Herkunft noch in der
Terminologie, wenn er den Zirkel explizit als Problem des Zusammenwirkens
analytischer und synthetischer Methode in der Hermeneutik erörtert. Wie in
der naturphilosophischen Diskussion gilt das immer nur einem aufzulösenden
Anschein nach, und so findet sich weder bei Schleiermacher noch bei Ast und
wohl bei keinem anderen der Ausdruck ‚hermeneutischer Zirkel‘, geschweige
denn die Erkenntnis der vermeintlichen Sache. Erst der nachklassischen Her-
meneutik blieb es vorbehalten, in der klassischen immer wieder den herme-
neutischen Zirkel zu entdecken.
Den Aufstieg von den Wirkungen zu den Ursachen und den Abstieg von
den Ursachen zu den Wirkungen versuchte man vom Zirkelverdacht zu be-
freien, indem betont wurde, dass der analytische Weg allein genommen noch
nicht sein Ziel erreicht. Diesem ‚hiatus irrationalis‘ vermochte man freilich,
einer ‚black box‘ gleich, nur einen Namen zu geben, etwa den des ‚mentalen
Examens‘, das sich zwischen Analyse und Auffindung der Ursachen schiebt.
Schleiermacher umschreibt auf unterschiedliche Weisen, wie sich dieser Hiat
beim Verstehen überbrücken lässt – sei es das Gefühl, die Divination, das
Anknüpfen an „die Analogie im innern Proceß des Denkens“.87 Immer wird
der Zirkel-Verdacht zunächst als Frage des praktischen Handlungsvollzugs
begriffen und nicht als Begründungszirkel. Immer sind es nur psychologische
Erklärungen, die ihn als nur scheinbar ausweisen und das näher umschreiben

86 Vgl. Lutz Danneberg: Die Historiographie des hermeneutischen Zirkels: Fake und fiction
eines Behauptungsdiskurses, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 3 (1995), S. 611-624.
87 Schleiermacher: Allgemeine Hermeneutik (Anm. 76), S. 1276.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 269

sollen, was als ‚mentales Examen‘ unbestimmt geblieben ist. Das erhellt die
Redeweise Schleiermachers von ‚Keimentschlüssen‘ und seiner Forderung,
dass unter Anwendung des „Combinationsgesetzes“ des Denkens der individu-
elle Gang, der sich beim Autor vollzogen hat, mit einer Art von Notwendigkeit
‚nachzuconstruieren‘ sei. Ein Text sei erst dann wirklich verstanden, wenn er
sich erneut erzeugen lässt. Bei Schleiermachers hermeneutischen Auffassun-
gen ist das die Stelle, die sich dann als Versuch deuten lässt, durch die Über-
tragung des philosophischen Modells der Analyse und Synthese auf das Ver-
stehen von Texten bei diesem Verstehen den ‚ordo inversus‘ zu retten.
Doch der ‚ordo inversus‘ zerbricht in der Wahrnehmung der Zeit nicht al-
lein bei der ‚analysis‘ des ‚liber supranaturalis‘ oder des ‚liber artificialis‘,
sondern auch beim ‚liber naturalis‘. Ebenso wie dieses Zerbrechen auf eine
gemeinsame Ursache zurückgeführt wird, hat die Vorstellung der Heilung
etwas gemeinsam: Gleich wie das Kunstwerk lässt sich die Natur als Produkt
des Denkens eines schöpferischen Geistes ansehen. Diese Gedanken jedoch zu
erkennen – ‚nachzudenken‘ – wird nicht mehr als ein Prozess gedacht, bei dem
die Analyse den Anfang macht – also nicht mit dem beginnend, was ‚priora
naturae‘sondern mit dem, was ‚priora nobis‘ ist. Es ist gleichsam das Nach-
schaffen des ursprünglichen kreativen Akts; erst so, nicht mittels der Analyse,
erreicht man den Charakter von Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der
Konstruktion und entgeht der ‚fallacia consequentis‘. Steht am Anfang des
Untersuchungszeitraums dieses Beitrages die ‚genesis‘ im Schatten der ‚analy-
sis‘, so ist es am Ende umgekehrt. Man bildet nicht mehr eine Gemeinschaft
von Analytikern, sondern von Produzenten, und das Analysieren findet nur
dann Gewissheit, wenn es sich selbst als ein Produzieren und Konstruieren
begreift: Genie leitet sich ab von Genesis.
Ein Beispiel, das das Gesagte sowohl für das Erkennen der Natur wie für
das des ästhetischen Gegenstandes illustriert. greife ich heraus. Kaum über-
schaubar sind die Beiträge zum Thema Goethe-Newton. Längst wird mehr
Goethe nicht mit harten Urteilen belegt, sondern seine Vorstellungen von Wis-
senschaft werden als aktuelle Alternative angedient. Da es solchen Beiträgen
um eine Aktualisierung im Rahmen eines ‚argumentum ab auctoritate‘ geht, ist
das allein unter Missachtung des historischen Kontextes zu haben. So nimmt
man nur selten als Problem wahr, dass Goethes Ansichten sich über einen
Zeitraum von immerhin mehr als fünfzig Jahren entwickeln und verändern –
mit eingestreuten Erinnerungen, ex-post Selbstdeutungen, Retraktationen wie
Korrekturen. Die für die Aktualisierung erforderliche Harmonisierung erzeugt
die Kollationierung jeweils passender Stellen aus den verschiedenen Lebens-
altern und -umständen. Obwohl die bisherigen Versuche nie auf die hier ge-
botenen Rahmen eingehen, verstehen sich die folgenden Darlegungen als
Hinweise ohne weitergehenden Anspruch auf Rekonstruktion.
270 Lutz Danneberg

In seiner Farbenlehre hält Goethe Newton immer wieder das experimen-


telle Zerstückeln der Natur, die „Strahlenspalterei“ vor.88 Dass auch das in die
Tradition der Heterostereotype gehört, wird an dem gelegentlichen Zusatz
deutlich (man muss allerdings jeweils den Kontext der Verwendung des Aus-
drucks bei Goethe berücksichtigen),89 dass es sich um eine ‚künstliche‘ Tei-
lung handle.90 Als zentrales Moment tritt bei ihm der Zweifel an Newtons
Versuch der Rückmischung, seine Synthetisierung, der Spektralfarben zu
Weiß. Das Licht ist wie die Individualität nur um den Preis der Zerstörung
teilbar, wenn es durch die Umkehr nicht heilbar ist – und das ist es nach Auf-
fassung Goethes nicht. Für Newton stellt das weiße Licht eine Zusammenset-
zung von sieben farbigen Lichtern dar. Demgegenüber sieht Goethe im weißen
Licht das Einfachste und Homogenste überhaupt; die Farben sind nicht ‚Teile‘,
aus denen das weiße Licht zusammengesetzt sei, sondern sie sind „Taten und
Leiden“.91 Was für den einen die Zerlegung durch Refraktion, Reflexion und
Inflexion in die unzerlegbaren Spektralfarben ist, stellt sich für den anderen als
Modifikationen von etwas ursprünglich Einfachem dar; es ist das einfachste
und homogenste Licht, das wir kennen. Die Erklärung erfolgt nach der einen
Seite durch Dekomposition, aus der dann die apparenten Farben entstehen,
nach der anderen entstehen sie durch äußere Umstände, durch die Wechselwir-
kung von Licht und Schatten.

88 Vgl. WA IV, 10, S. 415.


89 So steht Goethe der Chemie zunächst misstrauisch gegenüber, wohl aufgrund der dort betrie-
benen ,Analyse‘. Später äußert er sich positiv über synthetisch erzeugte Verbindungen. Al-
lerdings bedeutet das nicht eine Einschränkung des ‚ordo inversus‘, denn die so erzeugten
,Verbindungen‘ und nicht die ‚Schritte‘ sind für ihn ‚künstlich‘; vgl. ders.: Farbenlehre. His-
torischer Teil, 4. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 660), wo es heißt, dass die Chemie „in der neu-
eren Zeit“ die „natürlichen Körper zerlegte und daraus künstliche auf mancherlei Weise wie-
der zusammensetzte; sie zerstörte (zwar) eine wirkliche Welt, (aber nur), um eine neue, bis-
her unbekannte, kaum möglich geschienene, nicht geahndete wieder hervor zu bauen.“ Zur
Ausbildung eines Konzepts der chemischen Verbindung im Verbund mit der Reversibilität
chemischer Prozesse, also der Erzeugung von Verbindungen und der Wiedergewinnung ihrer
ursprünglichen Bestandteile, vgl. Ursula Klein: Verbindung und Affinität. Die Grundlegung
der neuzeitlichen Chemie an der Wende des 17. zum 18. Jahrhunderts, Basel u.a. 1994. Noch
im 18. Jahrhundert ist das ein die experimentelle Technik oftmals überforderndes Unterfan-
gen, zumal der reversible ‚ordo inversus‘ mitnichten in so eleganter Gestalt wie C ĺ A + B
und A + B ĺ C auftritt, sondern z.B. in der Form C +D ĺ DA + B. Zu einem Experiment,
das mittels Synthese und Analyse die Theorie Lavoisiers bestätigt, vgl. H.A.M. Snelders: The
Amsterdam Experiment on the Analysis and Synthesis of Water (1789), in: Ambix 26 (1979),
S. 116-133.
90 „Künstlich zu teilen den Strahl“, zitiert nach Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie.
München 1987, S. 180. Vgl. auch Goethe: Farbenlehre. Historischer Teil, 6 Abt. ([1810] FA
II, 23/1, S. 980f.).
91 Goethe: Zur Farbenlehre. Vorwort ([1810] FA II, 23/1, S. 12).
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 271

Wenn auch ohne nähere Begründung hat man die methodischen Auffas-
sungen Goethes als „aristotelian and anti-Newtonian“ identifiziert.92 Obwohl
es von vornherein zweifelhaft ist, die Aristoteles-Rezeption in der Naturphilo-
sophie vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit mehr oder
weniger stabilen Streben zu versehen (die verschiedenen Ausformungen ließen
sich, wenn überhaupt, eher als Bewahrungen von ‚Familienähnlichkeiten‘
umschreiben), so ist das doch in einer Hinsicht nachvollziehbar;93 und es bin-
det das Beispiel zurück an den Anfang der Untersuchung, an Galileis Anti-
Aristotelianismus, der die ‚cognitio communis‘ (sensitiva) mit ihrem Vertrauen
in die sinnliche Wahrnehmung in die Schranken weist.
Bei dem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Konzept einer
Ästhetik der sinnlichen Anschauung, durch welche die ‚cognitio communis‘
(sensitiva) auf dem Weg zu einer autonomen Vollkommenheit ist, obwohl die
‚cognitio philosophica‘ noch ihr vorgeordnet bleibt, wird versucht, den Zwie-
spalt durch integrale Konzepte zu heilen, welche die ‚unteren‘ und ‚oberen
Seelenkräfte‘ in ein ‚harmonisches Verhältnis‘ setzen,94 und die durch Rang-
ordnung erzeugte Diskrepanz durch Formen der ‚Anschauung‘ und ‚Anschau-
lichkeit‘ zu überwinden. Hier nun lassen sich auch die Überlegungen Goethes
zu den Naturwissenschaften lokalisieren und nur in diesem Sinn, das heißt mit
Blick auf eine veränderte epistemische Situation, zeigt sich ein aristotelischer
Zugriff, der sich mit dem Anfang der Untersuchung verbindet.
Nun prädestinieren Goethes Vorbehalte gegenüber einer künstlichen Er-
weiterung der Sinneswahrnehmung ihn nicht als Freund der Theorie des Ko-
pernikus:
Der Mensch an sich selbst, in so fern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der
größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und das eben ist
das größte Unheil der neuern Physik, dass man die Experimente gleichsam vom
Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen,
die Natur erkennen, ja was sie leisten kann dadurch beschränken und beweisen
will.95

92 Michael J. Duck: Newton and Goethe on Colour: Physical and Physiological Consideration,
in: Annals of Science 45 (1988), S. 507-519, hier S. 507; auch Hjalmar Hegge: Theory of
Science in the Light of Goethe’s Science of Nature, in: Inquiry 15 (1972), S. 363-386, hier S.
381.
93 Vgl. auch Claus Güntler: Die Bedeutung des aristotelischen Hylemorphismus für die Natur-
betrachtung Goethes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 21 (1967), S. 208-241; al-
lerdings scheint kaum eine der aufgewiesenen Ähnlichkeiten so, dass sie auf Aristoteles zu-
rückgeführt werden müsste.
94 So die Formulierung bei Goethe in „Ernst Stiedenroth: Psychologie zur Erklärung der See-
lenerscheinungen“ ([1824], HA 13, S. 42).
95 Goethe: Über Naturwissenschaft im allgemeinen. Einzelne Betrachtungen und Aphorismen
Nr. 68 ([1833] FA II, 25, S. 104).
272 Lutz Danneberg

An anderer Stelle heißt es, „Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich


den reinen Menschensinn“,96 und es sei „eine Gotteslästerung zu sagen, dass es
einen optischen Betrug gebe“.97 Goethe verlegt in herkömmlicher Weise die
‚Betrugsanfälligkeit‘ in den Akt des Urteilens.98 Doch wider Erwarten findet
sich bei ihm der Hinweis zum Vergleich auf die kopernikanische Theorie nicht
selten.99 Der Hinweis auf den ‚Kopernikanismus‘ wird in der Zeit zur Meta-
pher, die den Anspruch einer ‚neuen‘ Philosophie relational ins Licht zu setzen
versucht – so auch bei Herder:
Alle Philosophie, die des Volks sein soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt
machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie
aus dem Ptolemäischen, das Kopernikanische System ward, welche neuen frucht-
baren Entwicklungen müssen [sich?] hier nicht zeigen, wenn unsre ganze Philoso-
phie Anthropologie wird.100
Diese Passage lässt sich – im Übrigen ebenso wie die spätere, scheinbar ähnli-
che Kants zur Ankündigung einer ‚kopernikanischen Wende‘ – zwar nicht
leicht deuten, doch genügt das allgemeine Szenario: Zum einen (A) steht der
mit den beiden Eigennamen bezeichnete Übergang für die ‚relative‘ Zurück-
setzung der ‚cognitio historia‘ (communis, sensitiva) angesichts der einherge-
henden Aufwertung der ‚cognitio philosophica‘. Es ist die Anerkennung dieses
Wissensanspruchs, die beispielsweise Wolff seinen Philosophiebegriff formu-
lieren lässt; und in seinem Discursus finden sich bei nicht wenigen Beispielen
direkte oder indirekte Anspielungen auf die Kopernikanische Theorie (ohne
dass er wagt, für sie in dieser Schrift explizit einzutreten). Zum anderen (B)
nobiliert der Vergleich mit dieser Konstellation (mittlerweile) den Wechsel
(irgend-)einer Perspektive. Angenommen, Herder meint bei (B) so etwas wie

96 Goethe: Maximen und Reflexionen (MA 17, 502, S. 812).


97 Goethe: Beiträge zur Optik ([1794/95], LA I, 3, S. 93); auch ders.: Farbenlehre. Historischer
Teil, 6. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 942): „Das Wort Augentäuschungen [...] wünschten wir
ein für allemal verbannt. Das Auge täuscht sich nicht; es handelt gesetzlich.“ Auch ders.:
Farbenlehre. Historischer Teil, 6. Abt. ([1810] FA II, 23/1, S. 942).
98 Vgl. Goethe: Maximen und Reflexionen ([1829] MA 17, 1193, S. 917): „Die Sinn trügen
nicht das Urteil trügt“, sowie ([1829], ebd., 1194, S. 918), ferner ders.: Der Versuch als Ver-
mittler ([1792] HA 13, S. 14f.).
99 Wenn der alte Goethe sich an den jungen erinnert – vgl. ders.: Dichtung und Wahrheit (HA 9,
S. 127): Wenn er als junger Mann Anstoß genommen habe an der Bibelstelle Jos 10,12f., wo
Gott Josuas Wunsch nach dem Stillstand der Sonne erfüllt, so dürfte das weniger ein Indiz für
die Präferenz eines Kopernikanismus sein, als vielmehr für das Misstrauen ‚Wunder‘ gegen-
über – gleichgültig, ob ptolemäische oder kopernikanische Theorie: der Sonnenstillstand
bleibt ein ‚Wunder‘.
100 Johann Gottfried Herder: Wie die Philosophie zum besten des Volks allgemeiner und nützli-
cher werden kann [1765?], in: ders.: Werke I (Anm. 37), S. 101-134, hier S. 134. Vgl. auch
ders.: Die Vorrede der ‚Metakritik zur Kritik der Urtheilskraft‘ [1799], in: ders.: Sämmtliche
Werke, Bd. 22, Berlin 1885, S. 333-341, hier S. 339, dort wendet sich Herder polemisch ge-
gen Kants Kopernikus-Vergleich.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 273

die Herausstellung von Sinnlichkeit (eine „menschliche Philosophie“), so


resultiert daraus in gewisser Hinsicht ein Kuriosum: Denn sein unter Rückgriff
auf (A) angekündigter Perspektivwechsel (B) stellt zugleich die Zurücknahme
von (A) hinsichtlich der Herausstellung oder des Rangs der nichtsinnlichen
‚cognitio philosophica‘ dar. Daraus ließe sich schließen, dass es sich bei Her-
der um ein metaphorisches ‚argumentum ab auctoritate‘ handelt.101 Entschei-
dend sind die Aspekte des Vergleichs.
Die größten Wahrheiten widersprechen oft geradezu den Sinnen, ja fast immer.
Die Bewegung der Erde um die Sonne – was kann dem Augenschein nach absur-
der sein? Und doch ist es die größte, erhabenste, folgenreichste Entdeckung, die je
der Mensch gemacht hat, in meinen Augen wichtiger als die ganze Bibel.102
Dieser Vergleich erstaunt nur dann, wenn man nicht den Vergleichspunkt
Goethes sieht, der in der eigenen Erkenntnisleistung liegt:
Was uns so sehr irre macht wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sol-
len ist daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht. Das Cop[ernikanische]
System beruht auf der Idee die schwer zu fassen war und noch täglich unsren Sin-
nen widerspricht. Wir sagen nur nach, was wir nicht erkennen noch begreifen. Die
Metamorphose der Pflanzen widerspricht gleichfalls unseren Sinnen.103
Richtet sich am Ende seines Lebens der Blick wieder einmal auf sich selbst,
erscheinen Goethe nicht wenige seiner Ausführungen als eine „etwas scharfe
Zergliederung der Newtonschen Sätze“, was eigentlich wider seine „eigentli-
che Natur“ sei und er daran „wenig Freude“ habe.104 Wegen dieser Einsicht
lässt sich Goethe loben, freilich nicht, wenn sich bei seiner Newton-Kritik der
Körper der leblosen Natur in einen menschlichen verwandelt:
Es ist dieses sogenannte experimentum crucis, wobei der Forscher die Natur auf
die Folter spannte, um sie zu dem Bekenntnis dessen zu nötigen, was er schon vor-
her bei sich festgesetzt hatte. Allein die Natur gleicht einer standhaften und edel-

101 Vgl. Herder: Etwas von Nikolaus Kopernikus Leben, zu seinem Bilde [1776], in: ders.:
Sämmtliche Werke, Bd. 9, Berlin 1893, S. 505-512, in seiner Würdigung spricht er Koperni-
kus als denjenigen an, der „einer alten abgestorbenen Meinung“ wieder zu Ansehen verhol-
fen habe („schon die Ägypter waren darauf gekommen“, S. 505). Er spricht über den Ein-
fluss, den Symmetrievorstellungen für die Theoriewahl gespielt haben, was er auf Koperni-
kus „Zeichnungsgefühl“ („[z]u den größten Entdeckungen also [...] winkte Einbildung, Male-
rei, Poesie herauf und hielt die Leiter“, S. 507) und den „Finger Gottes“ zurückführt (S. 506).
Herder, der oft wohlwollend die Arbeit der Astronomen kommentiert, spricht hier mit keinem
Wort den Widerstreit mit den Wahrnehmungen der Sinne an.
102 Goethe am 27. 2. 1831 (FA II, 11, S. 374).
103 Goethe: Maximen und Reflexionen (MA 1136, S. 909); ferner zu Eckermann am 24. 2. 1831
(FA II, 12, S. 450): „Das Schwierige bei der Natur [...] ist: das Gesetz auch da zu sehen wo es
sich uns verbirgt, und sich nicht durch Erscheinungen irremachen zu lassen, die unsern Sin-
nen widersprechen. Denn es widerspricht in der Natur manches den Sinnen und ist doch
wahr.“
104 Am 15.5. 1831 zu Eckermann (FA II, 12, S. 484).
274 Lutz Danneberg

mütigen Person, welche selbst unter allen Qualen bei der Wahrheit verharrt. Steht
es anders im Protokoll, so hat der Inquisitor falsch gehört, der Schreiber falsch
niedergeschrieben.105
Obwohl man den Christus-Bezug hier nicht zu sehr exponieren sollte,106 sieht
er den menschlichen Körper der Natur in der newtonschen „Marterkammer“,107
und dann scheint seine Ansicht verständlich, dass die Analyse Newtons gleich-
sam ins Gefängnis gehöre – sprich: nicht in den öffentlichen Unterricht und
von vornherein verboten.108 Im 79. Venezianischen Epigramm fordert Goethe
die „haarsträubenden Zwangsmaßnahmen”:109 Newton sei zu ‚kreuzigen‘ zur
Strafe dafür, weil er seinerseits das Licht (durch Spektralanalyse) ‚gekreuzigt‘
und gleichsam gefoltert habe. Behutsamkeit im Umgang mit der Natur schließt
Gewaltphantasien dem Menschen gegenüber offenbar nicht aus. Wie dem auch
sei – auch für Goethe handelt es sich um eine gegenläufige Bewegung, die im
‚editus-reditus‘-, ‚descensus-ascensus‘-Schema gegeben ist:
Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies
ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und
Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.110
Goethe liebte dieses Bild und in der Formulierung gelegentlich auch mit den
Ausdrücken „synthetisch“ und „analytisch“.111 Mit einem Wort: Analysis und
Genesis wird bei Goethe „im Leben der Natur“ zur „ewige[n] Systole und
Diastole“, zur „ewige[n] Synkrisis und Diakrisis“; nach ihm das wichtigste,
auf Platon zurückgehenden Fundament:112 „Die Synkrisis durchs Schwarze,
die Diakrisis durchs Weiße“113 – ja, zum „Ein- und Ausatmen der Welt.“ Bei
der Zerstörung des ‚ordo inversus‘ durch die zerstückelnde Analyse droht der
Welt der Erstickungstod. Dieser ‚ordo‘ erhält bei Goethe die Deutung eines

105 Goethe: Farbenlehre. Polemischer Teil, 114 ([1810] FA II, 23/1, S. 345). Vgl. die parallele
Stelle, wo in einer Vorfassung von den „Kreuzigern“ der Natur gesprochen wird, ders.: Zur
Farbenlehre. Historischer Teil. Ergänzungen und Erläuterungen (LA II, 6, S. 141f.).
106 Zu beachten ist, dass es sich um ein Wortspiel handelt: Goethe nimmt das ‚experimentum
crucis‘ auf, ein Ausdruck, den wohl zuerst Hooke verwendet hat.
107 Vgl. Goethe: Älteres, beinahe Veraltetes (LA I, 8, S. 361): „Die Phänomene müssen ein für
allemal aus der düstern empirisch-mechanisch-dogmatischen Materkammer vor die Jury des
gemeinen Menschenverstandes gebracht werden“. Vgl. auch ders.: Maximen und Reflexionen
(MA, 11, S. 740): „Die Natur verstummt auf der Folter; ihre treue Antwort auf redliche Frage
ist: Ja! Ja! Nein! Nein! Alles andere ist vom Übel.“
108 Vgl. Schöne: Goethes Farbentheologie (Anm. 90), S. 43.
109 Ebd., S. 67.
110 Goethe: Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, 5. Abt. ([1810] FA II, 23/1, S. 239).
111 Zum einen im Blick auf seine eigenes Vorgehen, zum anderen im Blick darauf, wie die Natur
verfährt, vgl. Goethe.: Einwirkung der neueren Philosophie ([1820], HA 13, S. 27).
112 Vgl. Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil, 1. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 600).
113 Vgl. Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil, 6. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 839, auch S.
827).
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 275

fortwährend polarisierenden und aufsteigenden Prozesses, der freilich ‚im


Ganzen‘ nicht zurückkehrt,114 und sicherlich handelt es nicht um die Vorstel-
lung der Wiederkehr aller Dinge (˜pokatástasiß pántwn)115: Es sind fort-
während Abfolgen eines ‚ordo inversus‘, die im ‚Großen‘ nicht zu den Anfän-
gen zurückkehrt, also nicht mehr schließen. Was Goethe missfällt, ist nicht in
erster Linie das Zerlegen oder das Experimentieren überhaupt,116 sondern
wenn beides zerstörend wirkt.117 Diese Zerstörung vollziehe nicht die Natur
selber,118 sondern sie sei ‚Menschenwerk‘. Goethes „natürliche Methode“ ist
mithin diejenige, die wie die Natur teilend und verbindend verfährt. „Die Be-
standteile trennen sich leichter, um wieder neue Verbindungen einzugehen;
diese können abermals aufgehoben werden und der Körper, der erst zerstört
schien, liegt in seiner Vollkommenheit vor uns.“119
Doch für Goethe gibt es noch eine zweite, nicht weniger gewichtige Form
des zerstörenden Analysierens, auch wenn er von demjenigen, der hierfür
verantwortlich ist, weit weniger despektierlich als von Newton zu sprechen
pflegt. Es ist Friedrich August Wolf (1759-1824), der ‚Zerschneider‘ und
‚Zerstückler‘ des Homerischen Werks. Zwar bezweifelt Wolf nicht, dass die
homerischen Epen in ihrer überlieferten Gestalt trotz Spuren ‚rhapsodischer
Zerrissenheit‘ den Eindruck der Einheitlichkeit machten120 – so kann er für die

114 Vgl. z.B. Goethe.: Erläuterungen zu dem aphoristischen Aufsatz „Die Natur“ ([1828] FA II,
25, S. 81): „Die Erfüllung aber, die ihm [sc. dem Aufsatz „Die Natur“] fehlt, ist die An-
schauung der zwei großen Triebräder der Natur: der Begriff der Polarität und von Steige-
rung, [...] jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, dieses in immerstrebendem
Aufsteigen.“
115 Vgl. auch Rolf Christian Zimmermann: Goethes „Faust“ und die Wiederkehr aller Dinge, in:
Goethe-Jahrbuch 111 (1994), S. 171-185.
116 Vgl. z.B. Goethe: Geschichte meines botanischen Studiums ([1806] HA 13, S. 155): „auch im
Analysieren gewann ich etwas mehr Fertigkeit, doch ohne bedeutenden Erfolg; Trennen und
Zählen lag nicht in meiner Natur“.
117 Vgl. Goethes Ansichten dazu, inwiefern die Idee, Schönheit sei Vollkommenheit mit Frei-
heit, auf organische Naturen angewendet werden könne ([1794] HA 13, S. 21): „Ein organi-
sches Wesen ist so vielseitig an seinem Äußern, in seinem Innern so mannigfaltig und uner-
schöpflich, daß man nicht genug Standpunkte wählen es zu beschauen, nicht genug Organe
an sich selbst ausbilden kann, um es zu zergliedern, ohne es zu töten.“
118 Das wird auch bei Goethes geologischen Auffassungen deutlich; so kennt er faktisch nicht
die Umgestaltung der Natur durch zerstörerische mechanische Kräfte, eher das Auslöschen
durch langsame Verwitterung..
119 Goethe: Über die Gesetze der Organisation überhaupt ([1796] FA II, 24, S. 273). – Zumin-
dest in den zerstörerischen Momenten projiziert er das auf Menschheitsgeschichte, vgl. Goe-
the am 10. Mai. 1806, vgl. ders.: Gespräche (I, S. 409); auch ders.: Winckelmann und sein
Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen [1805]. Mit einer Einleitung und einem erläuternden
Register von Helmut Holtzhauer, Leipzig 1969, S. 210.
120 Er selbst räumt ein, dass ihn allein die historisch-kritischen Überlegungen an eine spontane
Lektüre hinderten, bei der auch er den Eindruck der Einheitlichkeit gewinne, vgl. Friedrich
August Wolf: Kleine Schriften in deutscher und lateinischer Sprache [...]. Vol. I, Halle 1869,
276 Lutz Danneberg

Odyssee feststellen: „nihil non bene continuatum, nihil praeposterum, nihil


perturbatum, nihil hians“.121 Vielmehr sind es gerade die methodischen Über-
legungen zum Vorgehen des Kritikers, nach denen sich aus Phänomenen der
textuellen Oberfläche nicht auf die Überlieferung schließen lasse. In seinen
Prologomena unterscheidet Wolf zwei Arten (genera) der Kritik: eine weniger
strenge („leviore et quasi desultorio“) und eine strenge („perpetua et certis artis
legibuis nixa recensio“). Die erste setze nur an Stellen an, die aufgrund von
Phänomenen auf der textuellen Oberfläche Hinweise auf Zweifel an der Feh-
lerlosigkeit der Überlieferung bieten (weil sie gegenüber bestimmten – etwa
ästhetischen – Erwartungen als abweichend erscheinen). Die strenge Kritik
setze nicht erst bei der Wahrnehmung derartiger Abweichungen ein, sondern
versucht sich bei allen Stellen der wahren Hand des Schriftstellers zu versi-
chern.122 Nach Wolf führt die erste Form der Kritik nur zur ‚recognitio‘, die
zweite zur ‚iusta recensio‘.
Da die Textkritik der Erforschung historischer Tatsachen gleichen soll,
dürfe man bei der Fehlerlosigkeit der Überlieferung eines Textes nicht nach
dem äußeren Eindruck der Wahrscheinlichkeit bzw. Glaubwürdigkeit gehen
oder nach der Art und Güte der Darstellung, sondern notwendig sei die Prü-
fung nach dem Alter und der Qualität der Handschriften.123 Maßstab sei nicht
die Übereinstimmung mit den von uns angenommenen Gesetzen der Dicht-
kunst (der sinnliche oder ästhetische Schein), sondern „quid ex historicis et
criticis rationibus verisimile esse videatur.“124 In seiner Homer-Kritik entfaltet
Wolf ein großes, gegliedertes Argument, bei dem er allein auf das zurückzu-
greifen versucht, was ihm historische Tatsachen sind – wie etwa beim Schrift-

S. 208 (Praefatio zur Illias von 1795). Im Schreiben an Christian Gottlob Heyne, vgl. ders.:
Ein Leben in Briefen. [....], besorgt und erläutert durch Siegfried Richter, Bd. 1, Stuttgart
1935, S. 192, sagt Wolf, dass man die „äußern Gründe“ umgehen könne und sie die „Prü-
fung“ der „inneren“ aushalten müssten, die den „Schluß erzwingen, beide Werke waren an-
fangs nicht auf den Plan großer weitläufiger Epopöen angelegt“.
121 Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum sive der Operum Homericorum prisca et
genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi [1795]. Curavit
Rudolfus Peppmüller, Halle 31884 (ND Hildesheim 1963), pars I, § XXVII, S. 88.
122 Vgl. ebd., S. 2: „ubique veram manum scriptoris rimatur; scripturae ciuiusque, non modo
suspectae, testes ordine interrogat“.
123 Vgl. ebd.: „Sed si textum scriptorum veterum supra recte [sc. Prooemium] retuli ad factorum
historicorum spectationem, in eo constituendo nullam speciem probabilitatis ex sensu elegan-
tiae ductam, verum proba et satis antiqua exemplaria principatum habe necesse est.“
124 Ebd., § XXX, S. 98. – Nur erwähnt sei, dass Wolf die antike Tradition der (Ana-)Lytiker
erwähnt, welche die in den Texten auftretenden Probleme (Schwierigkeiten) aufzulösen ver-
sucht haben, vgl. ebd., XLII, S. 150: „Multi enim singulares partes utriusque muneris trac-
tandas sibi sumpserunt singularibus scriptis, in quibus vel latentes sententiarum scrupulos tol-
lerent, e quo numero erant ™nstatikoì et lutikoí .“
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 277

gebrauch in der frühen Antike.125 Die mehr oder weniger einheitliche Gestalt
der homerischen Epen verdanke sich des späteren Eingreifens etwa Aristarchs,
seinem Genie, aber auch seiner Gelehrsamkeit – und (wie sich hinzufügen
lässt) nicht einem ‚Wunder‘ oder dem ‚Zufall‘.126
Wenn Wolf auf diejenigen hinweist, die meinten, die Entstehung der Din-
ge und der Lebewesen zeuge nicht vom Walten eines göttlichen Geistes, son-
dern vom reinen Zufall, dann spricht er die Hoffnung aus, dass ihn niemand
der Ansicht beschuldigen werde, die homerischen Werke hätten sich im Lauf
der Zeit so herausgebildet.127 Wolf sollte sich täuschen. Die spätere Generation
sieht sein Unternehmen eher in diesem Licht. Nach Karl Otfried Müller (1797-
1840) – einen autoritative Stimme – sind es nicht so sehr die einzelnen Argu-
mente von Wolfs Prolegomena gewesen, auf der seine Ergebnisse beruhten.
Vielmehr sei es die „Grundansicht der Wolfischen Zeit von der Entstehung
poetischer Kunstwerke und von dem Gange, den der menschliche Geist ein-
schlagen muß, um zu solchen zu gelangen“, die Wolf den Homer „mit Scharf-
sinn und Witz“ verändert sehen ließ. Doch mittlerweile habe sich eine andere
„ästhetische Ansicht“, die „organische Entwickelung“, durchgesetzt und die
alte erscheine nun als „roh, äußerlich, atomistisch“.128 An anderer Stelle gibt
Müller dem Bild noch stärker Konturen.129

125 Vgl. ebd., § XII, S. 34: „minus succensebunt, ab Homero non tam cognitionem literarum
quam usum et facultatem abiudicanti.“
126 Vgl. ebd., § L, S. 205: „Quid autem? si mirificium illum concentum revocatum inprimis
Aristarchi eleganti ingenio et doctrinae debemus?“
127 Ebd., § XXXI, S. 102: „Non metuo, ne quis me similis temeritatis accuset, quum vestigiis
artificiosae compagis et aliis gravibus causas adducar, ut Homerum non universorum quasi
coporum suorum opificem esse, sed hanc artem et structuram posterioribus saeculis inditam
putem.“
128 Karl Otfried Müller: [Rez.:] Sacra natalitia [...1828], in: ders.: Kleine deutsche Schriften […].
Erster Band, Breslau 1847, S. 398-400, hier S. 399.
129 Karl Otfried Müller: [Rez.] De Historia Homeri […1831], in: ders.: Kleine deutsche Schriften
(Anm. 128), S. 402-415, hier S. 402f: „Man hielt die Entstehung jener großen Ganzen für be-
greiflicher, wenn man sie in Stücke theilte, deren einzelne Abfassung der rudis antiquitas, die
kluge Zusammmenkittung aber einem schon raffinirten Zeitalter zugeschrieben wurde; man
ging so weit, die Bestandtheile von Ilias und Odyssee gleichsam wie Atome in einem wilden
Chaos mannigfacher Poesieen umherschwimmen zu lassen, bis ein ordnender Geist sich ihrer
bemächtigt und sie so schön verbunden habe. Seit der Zeit hat unsere Auffassungsweise der
Kunst wie der Geschichte des menschlichen Geistes, wir dürfen wohl sagen, ähnliche Fort-
schritte gemacht, wie die philosophische Betrachtung der Natur. Man begreift, daß, was
wahrhaft ein Ganzes in sich zusammenhängt, nur von einem innern Lebenskeime, welcher
das ganze schon dynamisch in sich trägt, ausgehen kann; und man erkennt zugleich, nicht
durch Anlegung des Richtscheits einer einseitigen Theorie, sondern durch ein lebendiges
Eindringen in jene ältesten Kunstwerke der Griechenwelt, in ihnen einen organischen Zu-
sammenhang, der alle Theile wie Glieder eines Körpers beherrscht. Solche Ansichten sind
278 Lutz Danneberg

Obwohl im Großen und Ganzen ihre persönliche Beziehung weder kurz-


fristig noch langfristig durch Wolfs Zerstückelung des Homer getrübt wurde,
hat sich Goethe bis an sein Lebensende nicht mit dieser ‚critica homerica‘
abfinden können. Wolfs Auffassungen waren alles andere als unstrittig (nicht
wenige der Argumente haben sich später zudem als irrig herausgestellt), und
obwohl Goethe die Ablehnungen der Auffassungen Wolfs und der ,Analytiker‘
durch die ,Unitarier‘ durchaus wahrnimmt, er sie mitunter auch hoffnungsvoll
kommentiert und obwohl er mehr als in seiner Newton-Kritik nicht allein
stand, hat er nicht in den Chor derjenigen eingestimmt, die den philologischen
Argumenten Wolfs nicht zu folgen vermochten oder wollten. Vereinfacht
gesagt, dürfte Goethe zunächst mehrere Arten von Kritik (der ‚analysis textus‘)
unterscheiden.130 Darunter gilt ihm die ‚sondernde und affirmative Kritik‘,131
die etwa Wolf betreibt, als das Erkennen des von Menschenhand deformierten
Textes grundsätzlich als wünschenswert.132
Wolfs Fragmentierung, selbst nicht ohne lange Vorgeschichte, steht vor
einem gewichtigen Hintergrund: Es ist die mit der Aufnahme der Quellentheo-
rie Jean Astrucs (1684-1766) einsetzende ‚Zerstückelung‘ der Moses-Bücher.
Ebenso wie die Frage der Einheit der homerischen Werke hat das zu lang an-
haltenden Debatten geführt. Erst das erhellt die Koinzidenz, dass Goethe zur
gleichen Zeit erneut Johann Gottfried Eichhorns Historisch-kritische Einlei-
tung in das Alte Testament liest, welche die bisherigen Ergebnisse der textuel-
len Integrität des ersten Buches Mose kodifiziert, und ihm dabei „die wunder-
barsten Lichter“ aufgehen.133 An anderer Stelle lässt Goethe von der Bibel
sagen, dass sie als „ein täuschendes Ganzes entgegentritt“.134 Wenn auch in

wohl Vielen gemein; obgleich nur Wenige sie sich zu einem klaren Bewußtsein gebracht und
sie vernehmlich ausgesprochen haben.“
130 Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit (HA 9, S. 509f.).
131 Goethe, ebd. (HA 9, S. 511), spricht von seiner „Sonderungslust“ beim Alten und Neuen
Testament.
132 Vgl. am 23. 11. 1812 (HA Briefe 3, S. 206): „Höchst erwünscht ist jedem, der zu den Uran-
schauungen zurückehren möchte, die Kritik, die alles Sekundäre zerschlägt und das Ur-
sprüngliche [...] wenigstens in Bruchstücken ordnet und den Zusammenhang ahnden läßt.“ In
seinem bibelphilologischen Beitrag, vgl. ders.: Israel in der Wüste ([1797/1819] HA 2, S.
224), heißt es in diesem Sinn: „Kein Schade geschieht den heiligen Schriften, so wenig als
anderen Überlieferung, wenn wir sie mit kritischem Sinne behandeln, wenn wir aufdecken,
worin sie sich widerspricht und wie oft das Ursprüngliche, Bessere durch nachherige Zusätze,
Einschaltungen und Akkommodationen verdeckt, ja entstellt worden. Der innerliche, eigent-
liche Ur- und Grundwert geht nur desto lebhafter und reiner hervor“.
133 Goethe am 19. 4. 1797 an Schiller (ed. Staiger, S. 373). Wolf weist selbst auf diese Parallele
hin, vgl. ders.: Prolegomena (Anm. 121), § XV, S. 47, Anm. 25; Anthony Grafton: Prolego-
mena to Friedrich August Wolf, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 44
(1981), S. 101-129, insb. S. 121ff, hat das nachdrücklich in Erinnerung gebracht.
134 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre ([1820/21], HA 8, S. 160).
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 279

unterschiedlicher Weise, gehören beide Zerstückelungen zu den großen ‚Ver-


unsicherungen‘ gegen Ende des Jahrhunderts. Wichtiger als die Frage nach
Goethes Sicht der Bibelphilologie seiner Zeit, mit der er nicht allein aufgrund
persönlicher Kontakte gut vertraut war, ist an dieser Stelle, dass Goethe unbe-
irrt daran festgehalten hat, dass sich der Wolfsche ‚Gewaltakt‘ heilen lasse.
Nach Goethes Darlegungen in seinem Aufsatz „Analyse und Synthese“
betont er, dass nur das analysewürdig sei, was auch wirkliche Synthese ist:
„daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt.“135 Ohne Zweifel ist an dieser
Stelle die Voraussetzungsrelation (auch) temporal zu verstehen. Goethe unter-
scheidet davon das, was nicht analysewürdig ist, und in der Sprache der Zeit
handelt es sich dann nur um „eine Aggregation“.136 Diese Darlegungen zeigen
nicht allein, wie Goethe sich am ‚ordo inversus‘ orientiert – denn zerlegte
Ganzheiten als Aggregate lassen sich per definitionem restituieren. Das Prob-
lem ist vielmehr, dass nach den Untersuchungen Wolfs der Charakter der Syn-
these bei den homerischen Epen selbst für Goethe zweifelhaft sein muss. Sie
erscheinen als Aggregat, als Rhapsodien137 und erlauben mithin auch keine
Analyse im Sinn Goethes.138 Das Problem scheint Goethe gesehen zu haben,
wie aus seinen zahlreichen Reaktionen auf Wolfs Zerstückelung Homers her-
vorgeht.139 Auch wenn sie nicht immer auf einer Linie liegen, wird ihre Ten-

135 Goethe: Analyse und Synthese ([ca. 1829], HA 13, S. 51).


136 Ebd., S. 52
137 „Rhapsodisch“ – ähnlich wie „Aggregat“ – wird in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. oftmals
zur Charakterisierung eines spezifischen Typs von Ganzheit im Unterschied zum ‚System‘
verwendet, vgl. z.B. Kant: KrV, B 860 – raptein, zusammennähen.
138 Ich kann hier nicht Goethes Gebrauch der Ausdrücke „Analyse“ und „Synthese“ analysieren,
bei dem sich wie in der Tradition unterschiedliche Aspekte verbinden. Goethe kennt da-
bei(wohl aus seiner Schulzeit) auch den Begriff des Analysierens bei der Darlegung sprachli-
cher Konstruktionen, so in einem Brief vom 20. November 1774 (FA II, 2, S. 404). Wichtig
für Goethes Sicht der für ihn akzeptablen Analyse und Synthese ist sein Vereinigungsversuch
von „Sondern“ und „Verknüpfen“, die ihm als „unzertrennliche Lebensakte“ erscheinen, vgl.
Goethe: Principes de Philosophie Zoologique discutés en Mars 1830 (FA II, 24, S. 810).
Nicht selten verwendet Goethe zudem das in der Tradition von Analyse und Synthese gängi-
ge Bild das Auf- und Absteigens, z.B. im Blick auf das „Urphänomen“ in ders.: Farbenlehre.
Didaktischer Teil 175 ([1810], FA 23/1, S. 81). Vielfach nimmt die Goethe-Forschung an,
zumindest eine Verwendungsweise von ‚Analysis‘ oder ‚analytisch‘ entspreche ‚induktiv‘.
Ich habe bei Goethe keine Stelle gefunden, die das erhärtet – nicht nur folgt das der Traditi-
on, sondern auch dem Gebrauch bei Newton, was mitunter ebenfalls übersehen wird.
139 Innerhalb weniger Tage scheinen sich dabei seine Stimmungen zu wandeln. In einem Brief
an Schiller vom 29. April 1798 (ed. Staiger, S. 615) sollte man alle „Chorizonten“ verflu-
chen; im Schreiben vom 2. Mai (ebd., S. 620) spricht er von den „unzählichen Rhapsodien“,
aus denen „die beiden überbliebenen Gedichte [scil. Ilias und Odyssee] so glücklich zusam-
mengestellt wurden.“ Der von Goethe gewählte Ausdruck geht zurück auf die antiken Chori-
zonten (o¥ xwrízonteß), die aufgrund von Widersprüchen in den überlieferten Texten, diese
zertrennt und verschiedenen Verfassern zugewiesen haben.
280 Lutz Danneberg

denz deutlich – ein Beispiel: „Ein kaltes Analysieren zerstört die Poesie und
bringt keine Wirklichkeit hervor. Es bleiben nur Scherben übrig.“140 Goethe
gelangt zur Ansicht der Konstruktion der (ästhetischen) Einheit ex post141, und
eine ‚retractatio‘ bietet in diesem Sinn sein Gedicht „Homer wieder Homer“:
Scharfsinnig habt ihr, wie ihr seit,
Von aller Verehrung uns befreit,
Und wir bekannten überfrei,
Daß Ilias nur ein Flickwerk sei.

Mög’ unser Abfall niemand kränken;


Denn Jugend weiß uns zu entzünden,
Daß wir ihn lieber als Ganzes denken.
142
Als ganzes freudig Ihn empfinden.
Nicht mehr die Entstehung ist der Garant der Einheitlichkeit, sondern die äs-
thetische Wahrnehmung, die mit dem strengeren Verfahren der Kritik Wolfs
nicht nur konfligiert, sondern sich über sie hinwegzusetzen vermag:
Wir gehen von dem Grundsatz aus, daß der letzte Redacteur uns in seinem Sinne
ein ganzes, ein Vollendetes geben wolle. Nun das darf ich ihm nicht hadern, ich
muß es nehmen, wie er’s giebt; hier ist also die Wahl für jeden entweder Kritik o-
der Glaube. Die Kritik muß in ihrem vollen Rechte bleiben, niemand kann ihr vor-
schreiben, wie weit sie gehen solle; der Glaube jedoch läßt sich nicht irre machen,
und wenn er dem Kritiker für die Vorbereitrung dankt, so läßt er sich im Genuß
nicht stören.143
Es ist die „Wunderkraft“ der Einheitlichkeit (der organischen Ganzheit) des
überlieferten Werks, auch ohne das einheitsstiftende ‚Genie‘: „In der Poesie ist
die vernichtende Kritik nicht so schädlich. Wolf hat den Homer zerstört, doch
dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat Wunder-
kraft wie die Helden Walhallas, die sich des Morgens in Stücke hauen und
mittags wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.“144 Es handelt sich nicht
mehr allein um eine Kritik an der (übertriebenen) Zergliederung von Texten,
sondern um die grundsätzliche Entgegensetzung unterschiedlicher Betrach-
tungsweisen ‚schöner Literatur‘ – mehr noch, es ist ein Echo der ursprüngli-
chen Unterscheidung von ‚analysis‘ und ‚genesis‘, wenn es bei Goethe heißt:

140 Goethe: Gespräche (GA 24, S. 400, vom 19. 8. 1806).


141 Vgl. Goethe am 28. 4. 1824 (FA II, 10, S. 157): „denn es ist im grunde ganz einerlei, ob sich
die Einheit am Anfang, oder am Ende bildet, der Geist ist es immer der sie hervorbringt [...].
Eben dies mag am Ende für den Homer gelten“.
142 WA I, 3, S. 159.
143 Goethe: Kunst und Alterum ([1821], zitiert nach Ernst Grumbach: Goethe und die Antike.
Eine Sammlung, Postdam 1949, Bd. I, S. 203).
144 Zu Eckermann am 1. 2. 1827 (FA II, 12, S. 234); hier werden auch die Moses-Bücher ange-
führt.
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien 281

„Ich als Dichter habe ein ganz anderes Interesse, als das der Kritiker hat. Mein
Beruf ist zusammenfügen, verbinden, ungleichartige Theile in ein Ganzes zu
vereinigen; des Kritikers Beruf ist, aufzulösen, trennen, das gleichartigste
Ganze in Theile zu zerlegen.“145 Die Lösung des Konflikts mit seiner Analyse-
Synthese-Auffassung, die in diesem Punkt der Tradition folgt, scheint Goethe
mitunter zu erreichen, indem er die Temporalität der Voraussetzungsrelation
preisgibt. Der Gegenstand der Analyse ist nicht mehr Ergebnis einer vorgängi-
gen Synthese. Analyse und Synthese scheinen ein Akt zu werden.146
Neben dem Kritiker und der Kritik stehen unter ähnlicher Beschreibung
der Naturwissenschaftler und die Naturwissenschaften, der Philosoph und die
Philosophie.147 Der Gedanke, in dem das kulminiert, ist die Bedrohung des
‚ordo inversus‘: „Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fort-
gesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in
Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstel-
len.“148 Vorstellungen über die Beziehungen zwischen ‚Teil‘ und ‚Ganzem‘

145 Goethe im Frühjahr 1795 (Gespräche I, S. 229); sowie am 15. 9. 1804 (FA II, 4, S. 515):
„Jeder Dichter baut sein Werk aus Elementen zusammen, die freylich der Eine organischer zu
verflechten vermag, als der Andere, doch kommt es auch viel auf den Beschauer an, von wel-
cher Maxime er ausgeht. Ist er zur Trennung geneigt, so zerstört er mehr oder weniger die
Einheit, welche die Künstler zu erringen strebt; mag er lieber verbinden, so hilft er dem
Künstler nach und vollendet gleichsam dessen Absicht“. Vgl. auch die Kritik an Friedrich
Schlegel in Goethes Brief an Schiller vom 28. 4. 1797 (ed. Staiger, S. 384); ferner Goethes
Überzeugung von der „Einheit und Untheilbarkeit“ der Ilias mitgeteilt am 16. 5. 1798 (ed.
Staiger, S. 632), wo es heißt: „es lebt überhaupt kein Mensch mehr und wird nicht wieder ge-
boren werden, der es zu beurteilen im Stande wäre. Ich wenigstens finde mich allen Augen-
blick einmal wieder auf einem subjectiven Urtheil. […]. Die Ilias erscheint mir so rund und
fertig, man mag sagen was man will, daß nichts dazu noch davon getan werden kann.“
146 Ich kann hier auch nicht auf Vorstellungen einer ‚cognitio intuitiva’ (adaequata) eingehen,
die bei Goethe eine Rolle spielen, nach der ein Zusammengesetztes (auch Sukzession) ‚auf
einen Blick‘ oder ‚auf einmal‘, also simultan, intuitiv und deutlich erkannt wird.
147 Vgl. Goethe am 5. 5. 1786 (HA Briefe 2, S. 423): „Wenn sie [sc. die Philosophie] sich vor-
züglich aufs Trennen legt, so kann ich mit ihr nicht zurecht kommen und ich kann wohl sa-
gen: sie hat mir mitunter geschadet, indem sie mich in meinem natürlichen Gang störte; wenn
sie aber vereint, oder vielmehr wenn sie unsere ursprüngliche Empfindung als seien wir mit
der Natur eins, erhöht, sichert und in ein tiefes, ruhiges Anschauen verwandelt, [...] ist sie mir
willkommen“.
148 Goethe: Ideen über organische Bildung ([1806/07], FA II, 24, S. 391). – Rolf Christian
Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deut-
schen 18. Jahrhunderts. Bd. I [1969]. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, München
2002, S. 236, ist der Ansicht, dass Goethe Neuland (gegenüber der Hermetik) betrete, wenn
er den Lebensbegriff auf menschliche Artefakte übertrage. Als Beleg dient ein Brief Goethes,
in dem er Mendelssohn vorwirft „die Schönheit wie einen Schmetterling zu fangen, und mit
Stecknadeln, für den neugierigen Beobachter festzustecken“, und er dem entgegensetzt: „der
Leichnam ist nicht das ganze Thier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück [...] ein
sehr hauptsächliches Hauptstück: das Leben, der Geist der alles schön macht.“ Zumindest
282 Lutz Danneberg

bilden den wesentlichen Bestandteil der epistemischen Situation, in der sich


ein bestimmtes Zerlegen von etwas in seinen ,Teilen‘ als Zerstückelung, als
Zerstörung identifizieren lässt.149 Gegen Ende des Jahrhunderts bilden sich
angesichts der ‚analysis‘ ähnliche Vorstellungen wie zuvor schon beim
,Lesens‘ im ‚liber naturalis‘, ‚liber supernaturalis‘ und im ‚liber artificialis‘.
Schon lange früher finden sich zahlreiche, zum Teil komplexe mereologische
Konzepte150 und entsprechend der angenommenen Innen- und Außenbe-
stimmtheit von Ganzheiten ist es denn immer zu Zerstörungsphantasien ge-
kommen, die freilich immer als Heterostereotype auftreten. Doch gegen Ende
des 18. Jahrhunderts gilt mehr denn je, dass das Analysieren, das Anato-
misieren, das Zerstückeln nicht mehr dem Erkennen hilft, sondern die für we-
sentlich gehaltenen Eigenschaften zu zerstören droht. Das, was entsteht, sind
Anzeichen eines Auseinanderbrechens – nicht allein zwischen Dichter und
Philosoph, sondern auch zwischen philologischer und ästhetischer Wahrneh-
mung des Textes.

dieses „hauptsächliche[s] Hauptstück“ ist nach der Übertragung des Seelen- bzw. ‚forma‘-
Konzepts alles andere als neu.
149 Vgl. z.B. Goethe: Studie nach Spinoza ([1784/85?] HA 13, S. 8): „In jedem lebendigen
Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in
und mit demselben begriffen werden können, und es können weder die Teile zum Maß des
Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden.“ Oder ders.: Der Versuch
als Vermittler ([1792] HA 13, S. 17): „In der lebenden Natur geschieht nichts, was nicht in
einer Verbindung mit dem ganzen stehe.“
150 Vgl. Danneberg: Anatomie (Anm. 1), sowie Desmond Paul Henry: Medieval Mereology,
Amsterdam u. Philadelphia 1991.
MARIA MOOG-GRÜNEWALD

Was ist Dichtung?

„Was ist Dichtung?“ – Wer diese Frage stellt, sie gar zu beantworten gedenkt,
gerät leicht in den Verdacht der Mystifikation, gar des Atavismus. Denn anders
als die Frage „Was ist Literatur?“, die in systematischer und historischer Hin-
sicht zu verfolgen zu den vornehmsten Aufgaben der Literaturwissenschaft –
der allgemeinen wie der vergleichenden – zählt,1 insinuieren das Wort und die
Sache ‚Dichtung‘ Zeitenthobenheit und Ortlosigkeit, mithin Kategorien, die
mit dem Verweis auf ‚Text‘, ‚Geschichte‘ und ‚Gesellschaft‘ als obsolet erklärt
und jeglicher Diskussion entzogen wurden. Schon vor nunmehr dreißig Jahren
hat Karl Otto Conrady ebenso bündig wie harsch konstatiert: „Die Worte Text
und Autor sollten uns lieber sein als vorbelastete Begriffe“2 wie Dichtung und
Dichter. In der Tat: Behauptungen wie die Heideggers in Holzwege sind –
zurückhaltend formuliert – problematisch geworden, vermögen kaum mehr
‚prima facie‘ zu überzeugen: „Das Denken jedoch ist Dichten [...]. Das Denken
des Seins ist die ursprüngliche Weise des Dichtens“ und „Wahrheit als die
Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird.“
Unabhängig davon, ob Heideggers Dichtungsbegriff goutierbar ist und er
gar Anspruch auf Richtigkeit erheben kann, scheint mir eine Reflexion dar-
über, was Dichtung im durchaus emphatischen Sinne sei, unabdingbar – und
dies nicht zuletzt deshalb, weil neben den Philosophen die Dichter selbst zu
allen Zeiten sich darüber geäußert haben: poetisch, poetologisch und kritisch.
Auf die Frage „Was ist Dichtung?“ bzw. „Was ist Poesie?“ hat Roman Ja-
kobson vor nunmehr sieben Jahrzehnten die bekannte, meines Erachtens gül-
tige, wenn auch nicht überzeitlich geltende Antwort gegeben: Dichtung be-
stimmt sich als Dichtung zuallererst durch ihre Poetizität, und das heißt: durch
ihre Funktion bzw. ihre Leistung, die eine genuin poetische ist: „Gewinnt in
einem Wortkunstwerk die Poetizität, die poetische Funktion, richtungsweisen-
de Bedeutung, so sprechen wir von Poesie.“ Und wodurch manifestiert sich die
poetische Funktion, die Poetizität? „Dadurch, daß das Wort als Wort und nicht

1 Siehe dazu zuletzt Joachim Küpper: Was ist Literatur?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allge-
meine Kunstwissenschaft 45 (2000), S. 187-215.
2 Karl O. Conrady: Gegen die Mystifikation von Dichtung und Literatur, in: Horst Rüdiger
(Hg.): Literatur und Dichtung, Stuttgart u.a. 1973, S. 64-78, hier: S. 72. Das Heidegger-Zitat
findet sich ebd. (Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, S. 59 und S. 303).
284 Maria Moog-Grünewald

als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch emp-
funden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre
Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf
die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlan-
gen.“3 Das Überzeugende an dieser Bestimmung liegt zunächst darin, dass
nicht äußere Merkmale, wie Themen, Inhalte, Formen, Verfahren, Fiktionalität
u.ä. und deren Kombination genannt werden, sondern einer spezifischen Funk-
tion identifizierende Qualität zugesprochen wird.4 Überzeugend ist Jakobsons
Vorgehen deswegen, weil mit der Bestimmung einer Sache oder eines Phäno-
mens durch ihre spezifische Funktion Platons Konzept der Idee, des ‚Eidos‘,
reaktiviert wird. Nach Platon ist es nämlich gleichfalls die Funktion bzw. die
Leistung (das ‚Werk‘ einer Sache oder einer Handlung oder eines Phänomens),
die über deren vielfältige und diverse Ausprägungen hinaus das Identische und
das Konstante ausmacht.5 Um es am Beispiel des Bettes bzw. der Ruheliege,
der klính zu erläutern – einem Beispiel, das Platon selbst im zehnten Buch
der Politeia anführt:6 Ein bestimmter Gegenstand ist nicht schon deshalb ein

3 Roman Jakobson: Was ist Poesie? [1934], in: ders.: Poetik – Ausgewählte Aufsätze 1921-
1971, Frankfurt a.M. 1979, S. 67-82, hier: S. 79.
4 Über die Funktion bestimmt Jan MukaĜovský die Dichtersprache (Über die Dichtersprache
[1940], in: ders.: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, übers. von H. Gröne-
baum und G. Riff, München 1974 (Literatur als Kunst), S. 142-199, hier: S. 144): „Die Dich-
tersprache wird nur durch ihre Funktion anhaltend charakterisiert; eine Funktion ist jedoch
keine Eigenschaft, sondern die Art und Weise, in der die Eigenschaften einer gegebenen Er-
scheinung ausgenützt werden. So gesellt sich die Dichtersprache zu den zahlreichen anderen
funktionalen Sprachen, von denen jede eine Angleichung des Sprachsystems an irgendein
Ziel des Ausdrucks bedeutet; Ziel des dichterischen Ausdrucks ist die ästhetische Wirkung.
Die ästhetische Funktion jedoch, die so in der Dichtersprache dominiert [...], führt eine Kon-
zentration der Aufmerksamkeit auf das sprachliche Zeichen selbst herbei“. Zur Problematik,
ja letztlich Unmöglichkeit einer Bestimmung poetischer Sprache vgl. Karlheinz Stierle (Gibt
es eine poetische Sprache? [zuerst 1982], in: ders.: Ästhetische Rationalität – Kunstwerk und
Werkbegriff, München 1997, S. 217-222), der gleichfalls MukaĜovský anführt und u.a. im
Kontext von Roman Jakobson und Jurij Lotman diskutiert. Die Quintessenz Stierles, die auch
unseren in der Folge entfalteten, doch anders perspektivierten Überlegungen zugrunde liegt,
ist, dass die „poetische Abweichung nicht eine Abweichung auf dem Niveau der ‚poetischen
Sprache‘ [ist], sondern eine Abweichung auf dem Niveau des Diskurses“ (ebd., S. 222).
5 Darauf hat insbesondere Arbogast Schmitt hingewiesen in: Der Philosoph als Maler – der
Maler als Philosoph. Zur Relevanz der platonischen Kunsttheorie, in: Gottfried Böhm (Hg.):
Homo pictor, München u. Leipzig 2000 (Colloquium Rauricum, Bd. 8), S. 32-54. Diesem
Aufsatz verdanke ich mit Blick auf Platons Mimesis-Konzept wichtige Anregungen. Von er-
hellender Klarheit bereits Hans-Georg Gadamer: Plato und die Dichter [1934], in: ders.: Ge-
sammelte Werke, Bd. 5, Tübingen 1985, S. 187-211.
6 Platon: Politeia 596a-597e (zit. nach Platon: Werke in acht Bänden, griech.-dt., Bd. 4, Darm-
stadt 1971; der Ausgabe sind im Folgenden alle Zitate des griechischen Originals wie der
deutschen Übersetzung entnommen). Außer dem Bett führt Platon auch den Tisch an (beide
sind Produkte des Tischlers); in Kratylos 389c wählt Platon als Beispiel die Weberlade.
Was ist Dichtung? 285

Bett, weil er vier Beine und eine ebene Fläche hat, rechteckig ist und aus Holz
– denn man kann ja auch ein Bett aus Stein fertigen oder aus Marmor, auch aus
Metall, ihm diese oder jene äußere Form geben, es zudem unterschiedlich
ausstatten; vielmehr ist ein bestimmter Gegenstand dann ein Bett, wenn er eine
bestimmte Funktion erfüllt, also wenn man darauf liegen, ruhen oder schlafen
kann. Über die Bestimmung bzw. die Erkenntnis der Funktion gerät das Identi-
sche im Diversen in den Blick, das sich vom abstrakt Schematischen grundle-
gend unterscheidet. Und das heißt auch: Die Bestimmung des Wesens bzw. der
Identität einer Sache über ihre Funktion trägt der letztlich unendlichen Vielheit
ihrer Erscheinungs- bzw. Realisationsweisen Rechnung und bringt sie auf den
‚Begriff‘: „Nämlich einen Begriff pflegen wir doch jedesmal aufzustellen für
jegliches Viele, dem wir denselben Namen beilegen“ – sagt Sokrates, als er am
Ende des Dialogs über die Erziehung zur Staatsführung noch einmal die
Seinsweise der Dichtung, näherhin der dichterischen Darstellung, der Mimesis,
erörtert.7 Der Begriff, im Sinne von eÎdoß bzw. œdéa, verweist aber auf die
Leistung eines jeden Dinges bzw. Phänomens, auf seine Funktion.8 Dies ist
der Grund, weshalb unsere Frage, was Dichtung sei, nicht mit der Nennung
von ganz bestimmten Merkmalen beantwortet werden kann und darf, weniger
noch mit der Nennung bestimmter poetischer Werke, vielmehr allein mit Blick
auf die Funktion des Poetischen. Denn mit Blick auf die Funktion, die Leis-
tung des Poetischen wird einsichtig, weshalb auch Dichtung sich immer in
anderer Weise realisiert und gleichwohl mit sich identisch ist.
Doch es bleibt darüber hinaus ein kleiner Rest mehr zu sagen: Wenn Ja-
kobson und Platon darin übereinstimmen, dass die Identität einer Sache, hier
der Dichtung, über ihre Funktion zu bestimmen ist, so stimmen sie keineswegs
in der Bestimmung der Funktion von Dichtung überein. Die poetische Funk-
tion, näherhin die Poetizität, ist eine Bestimmung, die genuin neuzeitlich, ja
modern ist: Sie ist wesentlich auf das Ästhetische gerichtet. Und doch hat sie –
wie ich zeigen möchte – ihre Voraussetzung, ja ihre Begründung in der plato-
nischen Lehre von der Idee, wie sie auch der Lehre von der idealen Dichtung

7 Ebd., 596a: eÎdoß gár poú ti ¹n ‚kaston eœýqamen tíqesqai perì ‚kasta tà pollá, oˆß
ta¬tòn Ónoma ™piféromen. Und demgemäß betont Sokrates, dass der Hersteller eines jeden
Geräts auf den Begriff ‚sieht‘, wenn er es verfertigt (ebd., 596b): O¬ koûn kaì eœýqamen
légein ½ti ¦ dhmiourgòß ¢katérou toû skeúouß pròß tçn œdéan blépwn o‰tw poieî ¦
mèn tàß klínaß.
8 Das Zitat (Anm. 7) und sein Kontext zeigen einmal mehr, dass es widersinnig ist anzuneh-
men, dass es zu jedem möglichen Prädikat auch eine Idee geben müsse, dass es mithin eine
Idee des Bettes, des Tisches gebe; vielmehr gibt es ausschließlich „sachliche Inbegriffe mög-
licher Funktionen, spezifischer Leistungen von etwas“, die ‚eingesehen‘ werden über „Krite-
rien des Unterscheidens“ wie „Einheit, Vielheit, Ganzheit, Teil, Identität, Verschiedenheit,
Gleichheit, Ruhe, Bewegung usw.“ (Schmitt: Der Philosoph als Maler [Anm. 5], S. 37, Anm.
15 und 49.)
286 Maria Moog-Grünewald

zugrunde liegt. Das heißt – und dies ist die These: Die Ästhetik der Moderne
gründet in einer idealistischen Ethik und der sie fundierenden Philosophie; ge-
nauer: Die Ästhetik der Moderne wird e negativo zum ‚Platzhalter‘ platoni-
schen Idealismus’. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese
zunächst überraschende These mit Blick auf Antike, Renaissance und Moder-
ne, paradigmatisch mit Blick auf Platon, auf Giovanni Francesco Pico della
Mirandola und Pietro Bembo sowie auf Paul Valéry zu belegen. Bescheidener
auch: Es soll der Versuch unternommen werden, eine Kontinuität im Bruch
aufzuzeigen und zugleich eine Erklärung dafür zu finden, weshalb in der Dich-
tung der Moderne die Sprache selbst einen ästhetischen Eigensinn bzw. Ei-
genwert gewinnt. Leitend könnte – noch einmal – der Begriff der Mimesis sein
– freilich mit Rücksicht auf sein historisch je differentes Verständnis.

Mimesis ist die wohl älteste und auch bekannteste Bestimmung von Dichtung
überhaupt. Platon hat sie gegeben: Dichtung (poíhsiß)sei téxnh mimhtikë, sei
– allgemein – Mimesis. Mit dieser Antwort ist man allerdings nicht sehr weit
fortgeschritten auf dem Weg zu einer möglichen Annäherung an die Frage,
was Dichtung sei; denn auch darüber, was denn Mimesis sei, herrscht weder in
Platons Dialogen noch in der diese Dialoge erforschenden Literatur9 ein ein-
deutiges Verständnis. Im Gegenteil – es gibt erhebliche Unklarheiten, ja Wi-
dersprüche. Denn – so das konversationslexikalische Wissen – in der Politeia
erfährt die Dichtung gerade wegen ihres mimetischen, und d.h. wegen ihres
nur die äußere Wirklichkeit abbildenden Status’, eine mindere Bewertung, ja
schroffe Ablehnung. Da Dichtung nur das bloße Äußere, das empirisch Wahr-
nehmbare abbilde, also ‚nachahme‘, vermöge sie nicht, eine über den schieren
Schein hinausgehende Erkenntnis zu vermitteln: Truggebilde vereitelten die
Schau der Ideenwelt, insofern sie auf das Unvernünftige der Seele wirkten, die
schlechten Regungen in der Seele beförderten und gute Naturen verdürben.
Infolgedessen sei Dichtung bis zum Erweis ihres Nutzens aus einem guten
Staat auszuschließen.10 Dichtkunst also – und ich zitiere nun Platon – ist, „so-
weit sie darstellend ist“,11 „ein Verderb [...] für die Seelen der Zuhörer, sofern

9 Vgl. dazu Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike – Neubetrachtung
eines umstrittenen Begriffs als Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunst-
auffassung, Amsterdam u.a. 1993, sowie Ulrike Zimbrich: Mimesis bei Platon – Untersu-
chungen zu Wortgebrauch, Theorie der dichterischen Darstellung und zur dialogischen Ge-
staltung bis zur Politeia, Frankfurt a.M. u.a. 1984.
10 Dies ist die Quintessenz des ersten großen Kapitels des zehnten Buches der Politeia (595a-
608b).
11 Politeia 595a: †VKPLPKWLNë.
Was ist Dichtung? 287

sie [die Tragödiendichter und die übrigen Darstellenden] nicht das Heilmittel
besitzen, dass sie wissen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten“.12
Dieses bekannte und in der Folge näher erläuterte Verdikt gegen die Dich-
tung und die Dichter – die poíhsiß mimhtikë und diepoihtaìmimhtikoíim
zehnten Buch der Politeia erfährt aber eine prinzipielle Einschränkung und
zugleich eine nähere Erläuterung: Denn nur insoweit die Dichter „nicht das
Heilmittel besitzen, dass sie wissen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhal-
ten“, und nur insoweit die Dichtung nur mehr Äußeres, das heißt sinnlich
Wahrnehmbares ‚nachahmt‘, sie mithin den Schein und nicht das Sein dar-
stellt, hat dieses Verdikt Geltung. Entscheidend ist nämlich die Erkenntnishal-
tung bzw. die Erkenntnisweise.13 In dieser Hinsicht unterscheidet Platon
gleichfalls in der Politeia die Erkenntnisweise des Wissens (™pistëmh) die
allein dem Philosophen und damit auch seinen Schriften eignet, und die Er-
kenntnisweise der Meinung (Gó[D) die entweder richtig oder falsch sein
kann.14 Letztere Erkenntnisweise, die Erkenntnisweise der Meinung, eignet
dem Dichter. Falsch ist die Meinung derer, die in der vordergründigen Empirie
befangen bleiben, die „nichts verstehen vom bestimmten Sein (toû Óntoß ,
sondern nur vom Schein (toû fainoménou)“,15 die – mit anderen Worten –
nicht ‚ontologisch‘ orientiert sind, sondern nurmehr phänomenologisch. 
Aus der konkreten alltäglichen Erfahrung heraus stellen sie die Charaktere
und deren Handlungen so dar, wie sie sich in Beliebigkeit und Zufälligkeit
bieten: unausgeglichen, wechselhaft, schlecht. Das eigentlich Tadelnswerte
daran aber ist, dass diese unausgeglichenen, wechselhaften Charaktere auch
Göttern und Heroen zugeordnet werden, deren Charaktere qua conditione gut
zu sein haben. Beispiel dafür ist die Darstellung des Heros Achill in Homers
Ilias, der statt für die Sache der Griechen zu kämpfen, sein Gekränktsein lust-
voll auslebt, mithin seinen Eigensinn dem Gemeinsinn überordnet. Dichter, die
solches darstellen, dichten befangen in der falschen Meinung: Sie verfügen
über keine allgemeinen Begriffe, an denen sie das empirisch Vereinzelte aus-
richten könnten. Ihre Werke sind daher aus dem guten Staat zu verbannen.
Nicht so die Werke derer, die eine ‚richtige Meinung‘ haben, genauer die-
jenigen Werke, die eine richtige Meinung zur Vorstellung bringen. Worin nun
besteht diese richtige Meinung und worin aktualisiert sie sich? Sie besteht
beispielsweise in dem Vermögen, gerechte Handlungen als solche richtig zu

12 Politeia 595b: †soi mç Éxousi fármakon te efdénai a¬tà oˆa tugxánei Ónta.
13 Dies wurde kürzlich noch einmal sehr überzeugend gezeigt von Stefan Büttner: Literaturthe-
orie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u. Basel 2000; seinen Aus-
führungen zu dieser Frage folge ich in diesem Abschnitt.
14 Vgl. dazu Christoph Horn: Die Dichotomie von Wissen und Meinen in Buch V, in: Otfried
Höffe (Hg.): Platon – Politeia, Berlin 1997 (Klassiker Auslegen, Bd. 7), S. 293-312 (dort
auch weitere Literatur).
15 Politeia 601b 9.
288 Maria Moog-Grünewald

erkennen, und sie aktualisiert sich in der Fähigkeit, gerechte Handlungen durch
gerechte Charaktere sprachlich und stilistisch adäquat zur Darstellung zu brin-
gen. Platon nennt Dichter, die auf diese Weise vorgehen, im Symposion
‚Heuretiker‘ (e©retikoí) in Unterscheidung von den Nur-‚Mimetikern‘.
Heuretisch dichten jene insofern, als sie beim Auffinden, Auswählen und Dar-
stellen der guten und gerechten Charaktere zumindest sich zu orientieren ver-
mögen an den Ideen der Gerechtigkeit und dem Guten. Über ein genuines
Wissen jedoch verfügen Dichter in keinem Fall – auch nicht die ‚Heuretiker‘.
Das Wissen bleibt den Philosophen vorbehalten: Denn im Unterschied zum
Philosophen ist der Dichter nicht in der Lage zu erkennen und zu bestimmen,
was denn das allgemeine Gerechte, was die Idee von Gerechtigkeit und Gutem
sei; er vermag aufgrund seiner richtigen Meinung, die eben kein Wissen ist,
immer nur im einzelnen Fall einen Charakter (oder eine Handlung) als gerecht
zu erkennen und als solchen auch darzustellen. Und doch schafft er im jeweils
Gerechten und im jeweils Guten ein Abbild von der Idee der Gerechtigkeit und
der ‚Gutheit‘ – und dies durch Ähnlichkeit mit dem Vorbild. Insofern ist ‚rich-
tige‘ Dichtung in einem spezifischen Sinne auch Mimesis (Methexis im aristo-
telischen Verständnis), ist Dichtung über die Darstellung des guten Charakters
und der dem Charakter entsprechenden guten Handlung hinaus Mimesis in
einem allgemeineren Verständnis: nämlich Teilhabe am Sein – und dies durch
Sprache, die durch Rhythmus (ÿuqmóß) und Melodie (¡rmonía, méloß) ge-
ordnet sein soll.
Was darunter genau zu verstehen ist, erörtert Platon gleichfalls in der Poli-
teia, und zwar gegen Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Buches16 im
Kontext der Überlegungen, welche Art der Erziehung dem Wächterstand zu-
träglich ist. Von Belang für unsere Fragestellung – was ist Dichtung? – ist das
dort entwickelte Konzept der musischen Erziehung, zugleich ein Konzept, das
Ethik und Ästhetik – um es modern zu formulieren – über den Mimesisgedan-
ken in unaufhebbare Interrelation setzt. Der Argumentationsgang ist in Kürze
folgender: Die Dichtung besteht aus ‚Inhalt‘ und ‚Form‘, aus lógoß bzw. le-
gómena einerseits und léciß und méloßandererseits. Der ‚Inhalt‘ soll – im
Blick auf die Arete – „schön erfunden sein“, und dies in der Darstellung der
Götter wie der Menschen. Er hat im ethischen Sinne ein „schöner Mythos“ zu
sein. Als Ethik generiert er die ihm analoge Ästhetik: über die ‚Form‘, die
ihrerseits aus Lexis und Melos besteht. Denn die Lexis hat dem Logos, dem
„schönen Mythos“, zu entsprechen, sie ist der Grad an Mimesis. Das Melos
seinerseits umfasst Wort (Logos), Ton (Harmonie) und Takt (Rhythmus).
Auch hier gilt: Das Wort hat „schön“ zu sein in theologischer wie ethischer
Hinsicht; ihm gleichen sich Harmonie und Rhythmus an. Die Ästhetik ist mit-
hin Folge der Ethik, insofern – um es noch einmal zusammenzufassen – der

16 Politeia 376e-403c.
Was ist Dichtung? 289

Inhalt sowohl die Form bestimmt, das heißt die Darstellungsweise, mithin den
Grad des Mimetischen, wie die Musik, das heißt den Ton und den Takt.
Ausdruck par excellence einer so gearteten Dichtung sind die Hymnen und
Enkomien. Denn insbesondere haben die Dichter der Hymnen und Enkomien
in ausgezeichnetem Maße eine ‚richtige Meinung‘ über Wesentliches, insofern
diese gottbegeistert, enthusiasmiert sind.17 Die Fähigkeit der Enthusiasten,
Intelligibles anschaulich darzustellen, ist nämlich in hervorragender Weise
ausgeprägt, da sie sich ihres „göttlichsten Vermögens, des Intellektes, beson-
ders bedienen“.18
Doch auch bei ihnen „ist der Intellekt nur am Einzelfall tätig – bewirkt da-
her Meinungen –, aber immerhin mit Sachverhalten beschäftigt, die weit über
die Gegenstandswahrnehmung hinausgehen und von Platon die wichtigsten,
schönsten und göttlichsten Güter genannt werden.“19 Insoweit es nun den
Dichtern gelingt, ihre Aufgabe angemessen zu erfüllen, mithin gute Handlun-
gen als Folge guter Charaktere in der jeweiligen sprachlich-formalen Adäquat-
heit darzustellen, ist ihre Dichtung auch vollkommen. In diesem Sinne lässt
Platon Sokrates im dritten Buch der Politeia gelegentlich der soeben knapp
resümierten Überlegungen über Wirkungsweise und Ziel der musischen Erzie-
hung u.a. fragen:
Aber das Wohlgemessene (tò eÚruqmon und Ungemessene (tò Árruqmon) wird
jenes dem schönen Vortrage sich anbildend folgen, dieses dem entgegengesetzten,
und das Wohlklingende (e¬ármoston und Mißklingende (˜nármoston glei-
chermaßen, wenn doch überhaupt Zeitmaß (ÿuqmóß und Gesangsweise (¡rmonía)
nach der Rede (lógö sich richtet, und nicht die Rede nach ihnen?
Die rhetorische Frage wird sodann – vorläufig – beantwortet:
Also Wohlberedtheit und Wohlklang und Wohlanständigkeit und Wohlgemessen-
heit, alles folgt der Wohlgesinntheit und Güte der Seele, [...] dem wahrhaft gut und
schön der Gesinnung nach geordneten Gemüt.20

17 Von dem dichterischen Enthusiasmus handelt insbesondere Platons Ion. In diesem frühen
Dialog wird sehr eindringlich deutlich gemacht, inwiefern es auch für Dichter notwendig wä-
re, über ‚Wissen‘ zu verfügen, denn – wie Gadamer (Plato [Anm. 5], S. 202) formuliert –
„nur der Dichter [...], der wirklicher Erzieher und Gestalter der menschlichen Wirklichkeit
wäre, könnte das Spiel der Dichtung aus wirklichem Wissen spielen“.
18 Büttner: Literaturtheorie (Anm. 13), S. 373.
19 Ebd. – Gadamer (Plato [Anm. 5]) nennt noch einen weiteren Grund dafür, dass die Hymnen
und die Loblieder vor der Kritik Platons bestehen: sie sind nicht im engeren Sinne ‚mime-
tisch‘. Mit den Worten Gadamers (S. 206 f): „Loben ist nicht Darstellung von Löblichem.
[...] im Loben liegt das Sichtbarwerden des Maßes, auf das hin wir uns in unserer Existenz
verstehen. Vorbildliche Darstellung aber [...] ist ein Wirksamwerdenlassen des Vorbildes in
und mit seiner Darstellung.“
20 Politeia 400d-e.
290 Maria Moog-Grünewald

Die Ästhetik ist damit eine Folge und ein Ausdruck der Ethik, die zumindest
durch die ‚richtige Meinung‘ – wenn auch nicht das Wissen – der Dichter
verbürgt ist. Die ‚richtige Meinung‘ aber ist Voraussetzung dafür, dass ein
Dichter die stimmigen Relationen eines Charakters erkennt und diese wieder-
um in einer stimmigen Relation zu den Handlungen vor Augen führt, darstellt.
Vollkommen ist ein dichterisches Werk, wenn in ihm die verschiedenen Hand-
lungen eines Menschen in ihrer einheitlichen Zusammengehörigkeit darge-
stellt, wenn sie in ihrer Beziehung zueinander und ihrem Gewicht untereinan-
der vorgeführt und mit dem Ganzen des dargestellten Charakters in Überein-
stimmung gebracht werden. Die Vollkommenheit eines dichterischen Werkes
ist damit die Folge und der Ausdruck einer vollkommenen sprachlichen Dar-
stellung der in ihrer Vollkommenheit unverbrüchlichen Interaktion von Cha-
rakter und Handlung.21 Und diese ‚mimetische‘, ethisch-ästhetische Vollkom-
menheit ist letztlich idealistisch – und das heißt transzendent begründet in der
Idee der Vollkommenheit; an ihr hat das dichterische Werk ‚mimetisch‘ teil:
als Abbild, als ‚Eidolon‘ – und zwar vermittelt durch den Dichter, sofern die-
ser über die ‚richtige Meinung‘ verfügt bzw. ‚gottbegeistert‘ ist.
Die Funktion der Dichtung besteht demnach in der Mimesis, in der ‚nach-
ahmenden‘ Darstellung einer vollkommenen Handlung eines vollkommenen
Charakters, mithin darin, Vollkommenheit zur Darstellung zu bringen. In der
vollkommenen Erfüllung dieser Funktion aber zeigt sich Schönheit. Diese

21 Was unter der Vollkommenheit eines Charakters und der diesem entsprechenden Handlung
zu verstehen ist, macht unter anderem jene Passage deutlich, die das Spezifische der Gerech-
tigkeit bzw. des gerechten Charakters und seiner Handlungen benennt (Politeia 443d-e): „In
Wahrheit aber war die Gerechtigkeit, wie sich zeigte, zwar etwas dieser Art, aber nicht an
den äußeren Handlungen in bezug auf das, was dem Menschen gehört, sondern an der wahr-
haft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige, indem einer nämlich jegli-
ches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich
gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges bei-
legt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist und die drei in Zu-
sammenstimmung bringt, ordentlich wie die drei Hauptglieder jedes Wohlklangs, den Grund-
ton und den dritten und fünften, und wenn noch etwas zwischen diesen liegt, auch dies alles
verbindet und auf alle Weise einer wird aus vielen, besonnen und wohlgestimmt, und so et-
was verrichtet, wenn er etwas verrichtet, es betreffe nun Erwerb des Vermögens oder Pflege
des Leibes oder auch bürgerliche Geschäfte und besondere Verhandlungen, daß er in dem al-
len diejenigen für gerechte und schöne Handlungen hält und erklärt, welche diese Beschaf-
fenheit unterhalten und mit hervorbringen, und für Weisheit die diesen Handlungen vorste-
hende Einsicht“ (Kursivierung von Verf.). Sucht man diesen Charakter nun darzustellen – auf
der Bühne (Mimesis) oder im Epos (Diegesis) –, wird man immer nur etwas Spezifisches und
Individuelles, nicht etwas Allgemeines, dem Individuellen Zugrundeliegendes darstellen
können.
Was ist Dichtung? 291

Schönheit ihrerseits zu schauen, das kálliston qéama, intendiert aber letzt-


lich eine ‚Gleichwerdung mit Gott‘, 22 eine ¦moíwsiß qeþҏ23


II

Der Unterschied zwischen dem platonischen Mimesis-Begriff, der ja – wie wir


gesehen haben – zugleich ein spezifischer Kunstbegriff ist, und der Ästhetik
der Neuzeit bzw. der Moderne ist beträchtlich. Und dies in mehrfacher Hin-
sicht. Der augenfälligste Unterschied ist der Verzicht auf eine ethische Be-
gründung. Dies kann – sozusagen als ‚Entremets‘ in dem hier unternommenen
Versuch einer historisch-systematischen Bestimmung von Dichtung – ein
Blick auf die französische Klassik, mithin auf die zweite Hälfte des 17. Jahr-
hunderts deutlich machen. Der Bezugspunkt in poeticis ist – wie die Poetiken
der Zeit zeigen – noch immer Aristoteles, der – nicht anders als Platon – die
Dichtung als Mimesis bestimmte, genauer gesagt als Darstellung einer dem
Charakter angemessenen Handlung – freilich ohne Letztbegründung in der
Idea. Den soeben konstatierten Unterschied zwischen platonischem Mimesis-
Verständnis – so, wie wir es in spezifischer Hinsicht definiert haben – und
moderner Ästhetik kann eine aufschlussreiche Anekdote veranschaulichen, mit
der die Entstehung von Racines wohl berühmtestem Bühnenstück, der 1677
uraufgeführten Tragödie Phèdre, auf einen zeittypischen literaturästhetischen
Disput zurückgeführt wird.24 Gegenstand des Disputs ist die offensichtliche
Disproportion zwischen der mythischen Vorlage und den moralischen und
ästhetischen Anforderungen der Zeit; es geht um die Frage, ob Handlung und
Charakter der Protagonistin vereinbar sind mit ‚bienséance‘ und ‚vraisemblan-
ce‘. Die Anekdote wurde von den Zeitgenossen folgendermaßen wieder-
gegeben:
Racine behauptete, ein guter Dichter könne Nachsicht für die größten Verbrechen
und sogar Mitgefühl für die Verbrecher erwirken. Er fügte hinzu, es bedürfe ledig-
lich der Reichhaltigkeit, der Feinfühligkeit und der geistigen Schärfe, um das Er-
schrecken über die Verbrechen einer Medea oder einer Phädra so zu mindern, dass
ihre Liebenswürdigkeit bei den Zuschauern gar Mitleid für ihr Unglück zu erwe-
cken vermöchte. Da die Anwesenden ihm nicht zugeben wollten, dass dies mög-

22 Es ist wesentlich, noch einmal zu betonen, dass es sich nur mehr um eine ‚Intention‘ des
Dichterischen bzw. der Dichtung handelt, nicht um eine ‚Realisierung‘ der ‚Idea‘ der Voll-
kommenheit. Daher kann Dichtung qua Dichtung immer nur im Status des ‚Eidolon‘ bleiben,
mithin die ‚Idea‘ bzw. das ‚Eidos‘ nur repräsentieren, niemals mit ihr bzw. ihm ‚überein-
stimmen‘ bzw. identisch sein.
23 Vgl. Theaitetos 176b 1-2: ¦moíwsiß qeþ katà tò dunatón vor allem auch Timaios 90a-d.
24 Den Hinweis auf diese Passage verdanke ich Roland Galle: Die französische Klassik, in:
Hans-Joachim Simm (Hg.): Literarische Klassik, Frankfurt a.M. 1988, S. 182-203.
292 Maria Moog-Grünewald

lich sei, und ihn wegen dieser außergewöhnlichen Ansicht gar lächerlich machen
wollten, ließ ihn der Verdruss darüber mit der Arbeit an der Tragödie der Phädra
beginnen, in der es ihm so gut gelang, deren Unglück als bedauernswert darzustel-
len, dass der Zuschauer mehr Mitleid mit der verbrecherischen Stiefmutter als mit
dem tugendhaften Hippolyt hatte.25
Es bedarf nach dem soeben Gesagten kaum der Erwähnung, dass Sokrates
Racines Phèdre „keinen Chor gegeben“ hätte.26 Die Intention, die moralische
Dimension des Verbrecherischen durch ästhetische Verfahren zu neutralisie-
ren, ja letztlich aufzuheben, wäre allerdings nicht allein in Antike und Mittelal-
ter ein Skandalon gewesen: Auch für die ‚klassische Zeit‘, das ‚Siècle classi-
que‘, war sie zunächst eher ungewöhnlich. Der Vorrang des Ästhetischen vor
dem Ethischen, der sich ja vorzüglich in der ‚doctrine classique‘ widerspiegelt
(auch und gerade dort, wo es scheinbar um ethisch-moralische Fragen geht), ja
mehr noch das Supplement des Ethischen durch das Ästhetische ist aber eine
Folge grundlegender Veränderungen philosophisch-erkenntnistheoretischer
Observanz, ist Folge einer Immanentisierung der Transzendenz; sie führt – so
könnte man auch sagen – zu einer Ontologisierung des Ästhetischen.
Dieser Vorgang lässt sich an zahlreichen Texten der Epoche der Renais-
sance zeigen – an Kommentaren zu den Schriften Platons und insbesondere zur
Aristotelischen Poetik (bspw. Robortello), aber auch an selbständigen Poeti-
ken, die freilich immer auf die antiken Texte Bezug nehmen, sie als Autorität
anführen. Von besonderem Interesse dürfte der vieledierte und vielzitierte
Briefwechsel zwischen Giovanni Francesco Pico della Mirandola und Pietro
Bembo aus den Jahren 1512 und 1513 sein. Dabei handelt es sich um drei
Briefe: einen Brief Picos an Bembo, dessen Antwortbrief und einen weiteren
Brief Picos.27 Die ersten beiden wurden 1518 veröffentlicht mit der genaueren
Kennzeichnung ihres Themas bzw. ihres Gegenstands: De Imitatione – „über

25 Œuvres de Jean Racine, éd. par Paul Mesnard, Paris 1885, III, S. 263: „Racine soutint, qu’un
bon poëte pouvoit faire excuser les plus grands crimes, et même inspirer de la compassion
pour les criminels. Il ajouta qu’il ne falloit que de la fécondité, de la délicatesse, de la justesse
d’esprit pour diminuer tellement l’horreur des crimes de Médée ou de Phèdre, qu’on les ren-
droit aimables aux spectateurs au point de leur inspirer de la pitié pour leurs malheurs.
Comme les assistants lui nièrent que cela fût possible, et qu’on voulut même le tourner en ri-
dicule sur une opinion si extraordinaire, le dépit qu’il en eut le fit résoudre à entreprende la
tragédie de Phèdre, où il réussit si bien à faire plaindre ses malheurs que le spectateur a plus
de pitié de la criminelle belle-mère que du vertueux Hippolyte.“
26 So die Wendung des Sokrates mit Blick auf Aischylos in Politeia 383c, um zum Ausdruck zu
bringen, dass Gotteslästerliches nicht auf die Bühne gebracht werden darf.
27 Le Epistole „De Imitatione“ di Giovanfrancesco Pico della Mirandola e di Pietro Bembo, a
cura di Giorgio Santangelo, Firenze 1954; vgl. außerdem Giovanni Francesco Pico della Mi-
randola u. Pietro Bembo: De l’imitation – Le modèle stylistique à la Renaissance. Tra-
duction, notes et présentation de Luc Hersant. Introduction de Giorgio Santangelo, Paris
1996.
Was ist Dichtung? 293

die Nachahmung“. Die Herausgeber der älteren wie noch der jüngsten kriti-
schen Ausgabe empfehlen diese kurzen Texte als Zeugnisse für die in der
Epoche der Renaissance so virulenten Fragen nach einem Modell für die Lite-
ratur und nach der Modellhaftigkeit von Literatur; es werde eine für die zeit-
genössische Diskussion der ‚imitatio auctorum‘ paradigmatische Kontroverse
ausgetragen zwischen dem ‚Idealisten‘ und ‚Eklektiker‘ Pico della Mirandola
und Pietro Bembo, dem vorzüglichen Kenner und Verteidiger der klassischen
lateinischen Sprache, zudem Promotor der Vulgärsprache – des toskanischen
Italienisch.
Bembo vertritt den Standpunkt, dass als Modelle jeglichen literarischen
Schaffens Cicero für die Prosa und Vergil für die Dichtung ausschließliche
Geltung hätten. Die Begründung für Vergil: „Alle herausragenden Qualitäten
aller Dichter werden in höchster und einzigartiger Vollkommenheit in ihm [sc.
in Vergil] vorgefunden.“28 Und für Cicero gelte: „Dieser war nicht nur der
beredteste von allen, vielmehr ist man der Auffassung, dass die Beredsamkeit
selbst von ihm erst erschaffen worden sei.“29 Es sind also die Exzellenz, ja
Einzigartigkeit und Vollkommenheit des Schriftstellers bzw. des Dichters,
zugleich deren anerkannte Autorität, die sie zum Vorbild für eine Nachbildung
machen. Freilich – so betont Bembo – sei unter einer ‚imitatio Ciceronis‘ bzw.
einer ‚imitatio Virgilii‘ nicht eine sklavische Kopie, eine äffische Nachahmung
von Sprache und Stil, Wortwahl, Syntax und Struktur zu verstehen, mithin das,
was man als ‚Pastiche‘ bezeichnen würde. Vielmehr solle eine über Jahre sich
erstreckende Lektüre der Werke Ciceros und Vergils zu einer stilistischen
‚Einübung‘ und somit zu einer größtmöglichen Vollkommenheit des eigenen
Stils führen, ja mehr noch: Sie soll Voraussetzung dafür sein, die Vollkom-
menheit des Modells noch zu überbieten: ‚aemulatio‘ tritt an die Stelle von
‚imitatio‘.
Mit dem Insistieren auf der Unverzichtbarkeit eines Modells, und zwar ei-
nes bestimmten und einzigen Modells, ripostiert Bembo auf die Vorstellung
Picos, nicht ein modellhafter Autor sei zu imitieren, sondern viele in ihrer
jeweiligen Vollkommenheit vorbildliche Autoren seien nachzuahmen: „alle
guten sind nachzuahmen, nicht irgendein einziger, und wiederum nicht in allen
Hinsichten“.30 Auffallend genug wählt Bembo sich diese Empfehlung als ‚Ar-
gument‘, nimmt sie wörtlich und sucht sie ad absurdum zu führen – so, als
habe er nicht bemerkt, dass es Pico nicht darum gehen konnte, bald eine ge-
glückte Metapher von diesem Autor, bald eine elegante Redewendung von

28 Le Epistole (Anm. 27), S. 54: „omnes in uno illo [sc. in Virgilio] omnium poetarum [...]
inveniri posse virtutes summa singularique dignitate“.
29 Ebd., S. 55: „illum non modo omnium eloquentissimum fuisse, sed ab eo eloquentiam ipsam
esse genitam atque natam putant“.
30 Ebd., S. 24: „imitandum [...] bonos omnes, non unum aliquem, nec omnibus etiam in rebus.“
294 Maria Moog-Grünewald

jenem Autor zu übernehmen; so, als habe er nicht bemerkt, dass es Pico um
anderes und um mehr geht. Das mag darin seinen Grund haben, dass die bei-
den Kontrahenten in ihren Vorstellungen letztlich gar nicht so weit voneinan-
der entfernt sind, wie üblicherweise angenommen wird – allerdings sind beide
jeweils weit entfernt von Platon.
Worum geht es dem einen und dem anderen? Zunächst fällt auf, dass
Bembo – ganz im Sinne seiner Zeitgenossen – unter ‚imitatio‘ nicht das ver-
steht, was Platon und, in Varianz, Aristoteles unter Mimesis verstanden haben
– auch wenn ‚imitatio‘ zumeist als Übersetzung von Mimesis galt. Denn es
sollen ja nicht Handlungen als Ausdruck von Charakteren ‚nachahmend darge-
stellt‘ werden, sondern es soll eine bestimmte ‚écriture‘, ein rhetorischer und
ein poetischer Stil ‚nachgeahmt‘, genauer: zum Modell genommen werden. Es
werden also Bezugnahmen auf Autoren und deren künstlerische Werke emp-
fohlen, die die Idee dessen, was Vollkommenheit in prosaischer und in poeti-
scher Schreibweise sein kann, aufs Bestmögliche realisiert haben. Damit hat
aber die Idee der Vollkommenheit in der Literatur bzw. in der Dichtung selbst
Gestalt gewonnen, ist als solche quasi materialisiert und anschaulich und kann
zum Vorbild werden – freilich zu einem Vorbild, das nicht etwa ein schwaches
– da abkömmliches – Abbild auf den Plan ruft, sondern das seinerseits an Voll-
kommenheit noch übertroffen werden soll. Und mit folgenden Worten
formuliert Bembo die ‚Regel der imitatio‘: „Deshalb ist in dieser ganzen Ange-
legenheit [der ‚imitatio‘] nach folgender Regel zu verfahren: Als Modell nach-
zuahmen ist der Beste von allen. Dieser ist so nachzuahmen, dass wir ihm
zunächst gleichzukommen suchen, um dann mit allen Kräften danach zu stre-
ben, den noch zu überbieten, dem wir gleichgekommen sind“ („ut quem asse-
quuti fuerimus, etiam praetereamus“).31
Imitatio soll zur Aemulatio werden – und dies mit Blick auf ein konkret
Vollkommenes. Und das heißt: Das ‚Modell‘, das es nachzuahmen gilt, ist
nicht (mehr) ein metaphysisch Vollkommenes, das nur noch ‚mimetisch‘ Dar-
stellung findet, sondern ein ästhetisch Vollkommenes, das Anspruch auf un-
mittelbaren sprachlichen Ausdruck erhebt. Das bedeutet aber auch, dass Voll-
kommenheit im Sinnlich-Materiellen, genauer im sprachlichen Kunstwerk als
realisierbar und als vorbildhaft erachtet wird. Über die konkrete Erschei-
nungsweise dieser Vollkommenheit erfahren wir hier, in diesem Brief, aller-
dings nichts. Doch wir wissen aus anderen Belegen und Zusammenhängen,
dass darunter Concinnitas, Stimmigkeit, Ordnung verstanden wird. Die ‚Idee‘

31 Ebd., S. 56 f.: „Quare hoc in genere toto Pice ea esse lex potest: primum, ut qui sit omnium
optimus, eum nobis imitandum proponamus: deinde sic imitemur, ut assequi contendamus:
nostra demum contentio omnis id respiciat, ut quem assequuti fuerimus, etaim praetereamus.“
Was ist Dichtung? 295

wird hier zum Ideal32 – eine Vorstellung, die den Klassiken eignen wird und
die dafür verantwortlich ist, dass in der Epoche der Renaissance und noch in
der französischen Klassik jene große Zahl von Poetiken verfasst wird. Das
Entscheidende ist aber nun, dass die ‚Idee‘ – verstanden als Ideal – aufgrund
der Lektüre-Erfahrung, hier der Lektüre Ciceros und Vergils als den vollkom-
mensten Autoren, von dem Lesenden und Schreibenden selbst hervorgebracht
wird, was das Vermögen der Imitatio und mehr noch der Aemulatio zu einem
produktiven, einem schöpferischen Vermögen macht.33
Wenn demgegenüber Pico della Mirandola vorschlägt, nicht ein Modell sei
zu imitieren, sondern alle guten, ja die besten, so scheint dies vorderhand ein
argumentatives Zugeständnis an das allgemein virulente Postulat der ‚imitatio
auctorum‘ zu sein. Der Imitatio-Gedanke wird dann aber zunächst so gewen-
det, dass die antiken Dichter und Philosophen darin zu ‚imitieren‘ seien, dass
diese gerade nicht einander ‚imitiert‘ hätten: Der Stil des Aristoteles habe
nichts gemeinsam mit dem Stil Platons, Cicero habe nicht Demosthenes sich
zum stilistischen Vorbild genommen und wiederum habe Varro nicht Cicero
imitiert – im Gegenteil: Jeder sei seinem eigenen Ingenium und seinem eige-
nen Talent gefolgt: „Genium propensionemque naturae eorum quisque seque-
batur.“34 Selbst wenn – wie Aristoteles sagt – dem Menschen par excellence
die Fähigkeit zur Nachahmung eigne, habe dieser doch von seiner Geburt an
eine ihm eigene angeborene Neigung („proprium tamen et congenitum instinc-
tum et propensionem animi nactus est ab ipso ortu“) – kurz: eine bestimmte
Idee („Idea quaedam“), die fest in ihm verwurzelt sei („tamquam radix insit
aliqua“). Diese ‚Idea‘ vermittele uns nun nicht nur eine Vorstellung vom rich-
tigen Sprechen („recte loquendi“), vielmehr begabe sie unseren Geist mit dem
Bild der Schönheit (im Lateinischen korrekter: „affingit animo pulchritudinis
simulacrum“), dank dessen es uns möglich sei, Schönheit als solche zu erken-
nen und Schönheit in ihren jeweiligen Erscheinungen zu beurteilen. Damit ist
die Idee des Schönen als des Vollkommenen überhaupt dem menschlichen
Geist als Simulacrum eingeprägt. Infolgedessen sei ausschließlich das voll-
kommene sprachlich-rednerische Vermögen („dicendi perfecta facultas“) zu
imitieren, das in uns selbst angelegt ist. Dabei sei es letztlich weniger von

32 Vgl. hierzu das noch immer einschlägige Buch von Erwin Panofsky: IDEA – Ein Beitrag zur
Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 51985 (zuerst 1924).
33 Analogie und Differenz zu Platon werden hier noch einmal deutlich: ‚Wohlberedtheit‘ und
‚Wohlklang‘ sind Folge der ‚Wohlgesinntheit und Güte der Seele‘, die wiederum intelligibel
in Orientierung an der ‚Idee des Guten‘ in beständiger Übung zu eigen werden. Verkürzt um
das Moment der Transzendenz wird in der Neuzeit bzw. der Moderne das Vermögen zu
‚Wohlberedtheit‘ und ‚Wohlklang‘, mithin zu künstlerischer Vollkommenheit, zu einem au-
tonomen Vermögen, das sich als rein ästhetisches zudem an Künstlerisch-Ästhetischem ori-
entiert.
34 Le Epistole (Anm. 27), S. 27.
296 Maria Moog-Grünewald

Wichtigkeit, ob dieses Vermögen eine angeborene und von Anbeginn an voll-


kommene ‚Idee‘ ist („sive ea ipsa penitus innata sit idea, atque ab ipsa origine
perfecta“) oder (ein partielles Zugeständnis an Bembo) ob es durch Lektüre
vieler Autoren mit der Zeit erworben worden ist: Selbstschöpferisch-produktiv
ist dieses Vermögen in beiden Fällen.35
Es ist für die rechte Einschätzung von Picos ‚Idea‘-Begriff nicht unwesent-
lich, dass dieser sich – insbesondere im zweiten Brief – auf Cicero selbst be-
ruft und aus dessen Orator mehrere Stellen zitiert; von herausragendem Inter-
esse ist der Passus, in dem es mit Bezug auf Phidias heißt, dass dieser kein
konkretes Modell gehabt habe, als er die Gestalt des Zeus oder der Athene
geschaffen habe;
vielmehr schwebte ihm im Geiste ein Bild außergewöhnlicher Schönheit vor, das
er anschaute und auf das konzentriert er nach diesem Vorbild seine Künstlerhand
lenkte.
Es gibt also in den Formen und Figuren der bildenden Kunst etwas Außerordent-
liches, Vollkommenes, an dessen Gedankengebilde sich bei der Nachahmung jene
Züge orientieren, die sonst an sich nicht vor Augen kommen; ebenso sehen wir
auch im Geiste ein Bild der vollkommenen Beredsamkeit, dessen Abbild wir mit
unseren Ohren aufzunehmen trachten. Diese Urbilder der Dinge bezeichnet Platon
als „Ideen“, er, der tiefsinnigste Schöpfer nicht nur der Einsicht, sondern auch der
Aussage. Er lehrt, jene Ideen entstehen nicht (easque gigni negat), sondern beste-
hen immerfort und gehören dem Bereich der geistigen Einsicht an; alles Übrige
entsteht und vergeht, fließt dahin und entschwindet und verharrt nie länger in ein
und demselben Zustand.36
Soweit das Zitat, wie es Pico übernommen hat. Bereits Cicero hat also die
platonische ‚Idea‘ mit einer dem Geist des Künstlers bzw. des Dichters inne-
wohnenden „künstlerischen Vorstellung“ gleichgesetzt. Wesentlich für unsere
Überlegungen aber ist, dass Pico (noch vor Melanchthon) diesen Passus von
Cicero übernimmt, um sein Konzept der ‚imitatio‘ zu formulieren und es
zugleich durch Berufung auf eine Autorität zu legitimieren. Pico versteht ‚imi-
tatio‘, und das heißt ja eben auch Dichtung, weder als ‚Nachbildung‘ einer nur
den trügerischen Sinnen gegebenen äußeren ‚Wirklichkeit‘, nicht einmal als
deren idealisierende ‚Nachbildung‘, auch nicht als strenge ‚Nachbildung‘ eines
künstlerischen bzw. dichterischen Modells, sondern vielmehr als Folge und

35 Alle vorausgegangenen Zitate und Paraphrasen ebd., S. 27f.


36 Ebd. S. 65: „sed in ipsius, inquit [sc. Cicero], mente insidebat species pulchritudinis eximia
quaedam: quam intuens, in eaque defixus ad illius similitudinem artem manumque dirigebat.
Ut igitur in formis et picturis est aliquid perfectum et excellens: cuius ad excogitatam spe-
ciem imitando referuntur ea, quae sub oculos ipsa non cadunt: sic perfectae eloquentiae spe-
ciem non videmus, effigiem auribus quaerimus. Has rerum formas appellat Ideas ille non in-
telligendi solum, sed etiam dicendi gravissimus autor Plato: easque gigni negat: et ait semper
esse, ac ratione et intelligentia contineri. Caetera nasci, fluere, occidere, labi, nec diutius esse
uno eodem statu“. Zitiert ist mit geringen Abweichungen Cicero: Orator 9-10.
Was ist Dichtung? 297

Ausdruck einer im Künstler bzw. Dichter selbst angelegten, ihm quasi einge-
borenen ‚Idea‘ vom Vollkommenen und vom Schönen. Wie Erwin Panofsky
bereits zutreffend festgestellt hat: Die „transzendenten Wesenheiten Platos“
werden – philosophisch gesprochen – ersetzt durch „immanente Bewußtseins-
inhalte“, an die Stelle der metaphysischen o¬sía treten die jeglicher Erfahrung
vorausgehenden ™nnoëmata, stoisch gesprochen die ‚notiones anticipatae‘
oder – cartesisch gesprochen – die ‚idées innées‘.37 Dabei wird aber – wie wir
schon bemerkten – die Transzendenz nicht aufgehoben, sondern in die Imma-
nenz hereingeholt und dies – wie nun kurz zu zeigen ist – in einer zweifachen
Inversion der Platonischen Ideenlehre.
Die konzeptuelle Immanentisierung der platonischen ‚Idea‘ göttlicher
Vollkommenheit wurde bereits ermöglicht durch den spätantiken Platonismus,
insbesondere durch Plotin. Es war Plotin, der dem Éndon eÎdoß, dem ‚inneren
Bild‘ des Künstlers einen metaphysischen Anspruch auf den Rang eines „voll-
kommenen und erhabenen Urbildes“38 zusprach. In Differenz zur primär
kunstpsychologischen Bestimmung der ‚Idea‘ bei Cicero gewinnt mit Plotin,
dem spätantiken Platonismus und sodann dem Neuplatonismus der Renais-
sance die Bestimmung der ‚Idea‘ ihre kunstmetaphysische Dimension zurück.
Die unerhörte Neuerung Picos – und damit die zweite Inversion – besteht nun
gegenüber Plotin und auch dem Neuplatonismus seiner Zeit darin,39 dass die
Vollkommenheit, mithin absolute Schönheit, nicht mehr nur als ‚endogenes
Konzept‘ des Künstlers bzw. Dichters der künstlerischen Materialisierung
vorgängig und damit überlegen bleibt,40 sondern den Anspruch erhebt, sich in

37 Siehe Panofsky: IDEA (Anm. 32), S. 1ff., S. 12f.; hier: S. 9.


38 Ebd.
39 Hier ist vor allem Ficino zu nennen, vgl. dazu Werner Beierwaltes: Marsilio Ficinos Theorie
des Schönen im Kontext des Platonismus, Heidelberg 1980.
40 Vgl. dazu Plotin: Enneades V,8,3 (zit. nach: Plotins Schriften, übers. von Richard Harder.
Neubearbeitung mit griech. Lesetext und Anm. fortgeführt von Rudolf Beutler u. Willy Thei-
ler, Hamburg 1964, III a: Text, S. 35f.): „so erscheint der Stein, der durch die Kunst zur
Schönheit der Gestalt gebracht worden ist, als schön, nicht weil er Stein ist [...], sondern
vermöge der Gestalt, welche die Kunst ihm eingab. Diese Gestalt nun hatte nicht die Materie,
sondern sie war in dem Ersinnenden, noch ehe sie in den Stein gelangte; und zwar war sie in
dem Künstler, nicht sofern er Augen und Hände hatte, sondern weil er an der Kunst teilhatte.
Es war also in der Kunst diese Schönheit als weit höhere; denn nicht die Idee, die in der
Kunst ist, gelangte in den Stein, sondern sie bleibt dort, und von ihr geht eine andere aus, die
geringer ist als sie; und auch diese blieb nicht rein in ihm, noch wie die Kunst es möchte,
sondern nur soweit der Stein der Kunst gehorchte. Und wenn die Kunst eine Beschaffenheit
hervorbringt, die wiedergibt, was sie selber ist und hat, wobei sie ein Ding schön macht ver-
möge des formenden Begriffes desjenigen, was sie hervorbringt, so ist sie in einem größeren
und wahreren Sinne schön, da sie gewiß eine größere, schönere Schönheit besitzt, als was in
den Außendingen hervortritt. Denn eben um so viel, als sie sich in die Materie hinausschrei-
tend ausgedehnt hat, ist sie kraftloser als jene, welche in dem Einen verharrt“ (Hervorhebung
von Verf.). Auf diesen Sachverhalt hat sehr eindrücklich bereits Oskar Walzel: Plotins Be-
298 Maria Moog-Grünewald

der Dichtkunst selbst zu ‚materialisieren‘ – ein Paradox, das die Herausforde-


rung par excellence für die Dichtung der Moderne darstellen wird.
Bevor dies näher zu erläutern ist, in aller Knappheit ein weiteres und letz-
tes, die Ausführungen zu Pico della Mirandola ergänzendes Beispiel: eine
Passage aus Giordano Brunos De gli eroici furori, die ja als ein Amalgam
antiker, spätantiker und neuzeitlicher Philosopheme erachtet werden können,
insonderheit allerdings eine idiosynkratische Ästhetisierung des Platonismus
darstellen. Zu Beginn des dritten Dialogs des ersten Teils meint der Ge-
sprächspartner Tansillo, dass es mehrere Formen der ‚Leidenschaften‘, der
‚furori‘ gebe, die sich aber im Wesentlichen auf zwei Grundformen zurückfüh-
ren ließen: Die eine zeuge von nichts anderem als Blindheit, Dummheit und
unüberlegtem Ungestüm und könne bis zu tierischem Unverstand gehen. Die
andere aber bestünde in einer göttlichen Entrücktheit, die manch einen zu
einem besseren als den gewöhnlichen Menschen werden lasse. Davon aber
gebe es zwei Arten:
In den einen nun hausen die Götter oder göttliche Geister. Sie sagen oder tun Wun-
derdinge, ohne dass sie oder andere den Grund dafür verstehen.41
Sie seien ‚reines Gefäß‘ Gottes und sprächen nicht aus eigenem Denken und
eigener Erfahrung heraus, vielmehr sprächen oder handelten sie mittels einer
höheren Intelligenz. Die anderen hingegen seien in philosophischen Betrach-
tungen geübt und mit einem leuchtenden, einsichtsfähigen Verstand begabt:
Aus innerem Antrieb und natürlicher Inbrunst, die von der Liebe zu Gott, Gerech-
tigkeit, Wahrheit und Ruhm geweckt worden ist, schärfen sie im Feuer der Sehn-
sucht und im Wind des Wollens ihre Sinne und zünden im Schwefel der Erkennt-
nisfähigkeit das Verstandeslicht an, mit dem sie mehr als gewöhnlich sehen. Diese
sprechen nicht als Gefäße und Werkzeuge, sondern als Künstler, die selbst Anfang
und Ursache ihrer Tätigkeit sind: come principali artefici et efficienti.42

griff der ästhetischen Form [1915], in: ders.: Vom Geistesleben alter und neuer Zeit, Leipzig
1922, S. 1-57 hingewiesen. Walzel hebt hervor, dass Plotin zu Recht keine Ästhetik der äuße-
ren Form formuliert, sondern die Überlegenheit der künstlerischen Vision vor aller Versinnli-
chung im Sinne von ‚Materialisierung‘ betont. Den Unterschied zwischen Platon und Plotin
kennzeichnet Walzel wie folgt (S. 33 f.): „Für Platon ist die schöne Erscheinung Abbild einer
schönen Idee, also eines schönen Urbilds, das über alle Erfahrung hinausliegt. Für Plotin ist
die schöne Erscheinung auch nur das Abbild eines Höheren; aber dieses Höhere, Bessere,
Echtere trägt der Künstler in seinem Geiste.“
41 Giordano Bruno: De gli eroici furori, in: ders.: Dialoghi filosofici italiani, a cura e con un
saggio introduttivo di Michele Ciliberto, Milano 2000, S. 805: „altri per esserno fatti stanza
de dèi o spiriti divini, dicono e operano cose mirabile senza che di quelle essi o altri intenda-
no la raggione.“ (In der Übersetzung folge ich – mit leichten Veränderungen – der bei Meiner
erschienenen Ausgabe Von den heroischen Leidenschaften, übers. und hg. von Christiane
Bacmeister, mit einer Einleitung von Ferdinand Fellmann, Hamburg 1989).
42 Ebd.: „da uno interno stimolo e fervor naturale suscitato da l’amor della divinitate, della
giustizia, della veritade, della gloria, dal fuoco del desio e soffio dell’intenzione acuiscono gli
Was ist Dichtung? 299

Es sind nun diese Philosophen-Dichter bzw. Dichter-Philosophen, die – ‚hero-


isch in ihrem Furor‘ – das Ideal der Vollkommenheit erstreben – in der Ge-
wissheit freilich, es nie zu erreichen, doch in eben der Unerreichbarkeit des
Ideals gerade die Voraussetzung ihres rastlos ‚glühend-strebenden Furors‘
erkennend. Zur Veranschaulichung dieser als unendlich gedachten Annähe-
rung wählt Bruno das Bild des unendlichen Umkreisens:
Es ist weder natürlich noch angemessen, dass das Unendliche erfasst werde, auch
kann es sich nicht endlich geben. Dann wäre es ja nicht unendlich. Vielmehr ist es
angemessen und natürlich, dass das Unendliche, weil es unendlich ist, ohne Ende
verfolgt werde. Und dies in einer Weise der Verfolgung, die keine physische, son-
dern eine gewisse metaphysische Bewegung ist. Sie geht nicht vom Unvollkom-
menen zum Vollkommenen, sondern umkreist die Stufen der Vollkommenheit, um
jenen unendlichen Mittelpunkt zu erreichen, der weder geformt noch Form ist.43
Der hierarchisch gestufte Weg des Aufstiegs, der bildhaft die platonische wie
plotinische Erkenntnistheorie zur Vorstellung bringt und der – platonisch – in
der ‚Einsicht‘ in das Wahre, Gute und Schöne sein Ende findet bzw. – ploti-
nisch – im Ende wieder als Abstieg seinen Anfang nimmt, ist bei Bruno ersetzt
durch eine unendliche Annäherung vom jeweiligen und damit immer nur vor-
läufig Vollkommenen an das absolut Vollkommene, das sich seinerseits immer
erneut entzieht. Der durch den ‚Willen‘ angestoßene ‚Intellekt‘, der diese un-
endliche Bewegung vollzieht, gewinnt aber die Qualität dessen, was spätestens
seit Coleridge mit dem Begriff der ‚Imagination‘ (‚imagination‘ in Unterschei-
dung von ‚fancy‘) gekennzeichnet wird, jenes autonomen Vermögens, das –
um mit Baudelaire zu sprechen – den Künstler in den Stand setzt, ein ‚Idéal‘
‚in aestheticis‘ wenn nicht zu realisieren, doch zu intendieren: in Sprache und
als Sprache, die sich als eine exklusiv poetische verstehen will, genauer: in
Poesie und als Poesie.44 Es ist nun bereits die dialogische Struktur der Eroici
furori, dieses zweiteiligen prosimetrischen Textes, die eben jene unendlich
kreisende Bewegung des ‚intelletto‘ – im Verständnis von Imagination –
‚nachzubilden‘ sucht in der poetischen Entfaltung eines philosophischen Theo-

sensi, e nel solfro della cogitativa facultade accendono il lume razionale con cui veggono più
che ordinariamente: e questi non vegnono al fine a parlar et operar come vasi et instrumenti,
ma come principali artefici et efficienti.“
43 Ebd., S. 824 f.: „non è cosa naturale né conveniente che l’infinito sia compreso, né esso può
donarsi finito: percioché non sarrebe infinito; ma è conveniente e naturale che l’infinito per
essere infinito sia infinitamente perseguitato (in quel modo di persecuzione il quale non ha
raggion di moto fisico, ma di certo moto metafisico; et il quale non è da imperfetto al perfet-
to: ma va circuendo per gli gradi della perfezione, per giongere a quel centro infinito il quale
non è formato né forma.“
44 Vgl. dazu das in Anm. 4 Bemerkte, insbesondere den dort angeführten Aufsatz von Stierle.
300 Maria Moog-Grünewald

rems,45 die intendiert, über die Paradigmen ihres Syntagmas ein ‚objektives
Korrelat‘46 ihrer ‚Idea‘ zu werden, um die absolute Vollkommenheit und abso-
lute Schönheit zu repräsentieren. Damit aber ist jenes Paradox auf den Plan
gerufen, das bereits Platon im zehnten Buch der Politeia mit Blick auf die
Malerei, die zugleich für die Dichtung einsteht, als rhetorische Frage formu-
lierte: „Was intendiert die Malerei? Das Seiende nachzubilden, wie es ist [sich
verhält], oder das Erscheinende [nachzubilden], wie es erscheint, ist sie Nach-
bildung der Erscheinung oder der Wahrheit?“47 ‚Nachbildung des Seienden,
wie es ist‘ ist aber ein Paradox, ein Widerspruch in sich selbst, insofern das
Seiende nur mit sich selbst identisch sein kann; ‚Nachbildung des Erscheinen-
den, wie es erscheint‘ ist aber eine Tautologie, insofern Nachbildung sich
immer schon auf das Erscheinende bezieht. Und dennoch: Die Wortfügung
‚Nachbildung des Seienden‘, mímhsiß toû Óntoß bzw. mímhsiß têß
˜lhqeíaß ist intrikat: Sie impliziert die grundsätzliche Möglichkeit – ver-
standen als Intention –, das Seiende bzw. das Sein darzustellen: jenseits der
Medien, der sprachlichen Laute, gar der Schrift, der Farben und der Linien,
kurz: jenseits der Materialität der Zeichen, mithin unvermittelt.

III

Die ihr eigene Materialität zu überschreiten ist denn auch die Intention moder-
ner Dichtung. Unmittelbarkeit zu inszenieren in der Transzendierung der
Sprachimmanenz ist ihr herausragendes Kennzeichen. In dieser Intention wer-
den die Möglichkeiten der Sprache, genauer: des sprachlichen Diskurses bis an
die Grenzen ausgelotet. Ziel ist reine, ist absolute Poesie, in der Zeichen und
Bezeichnendes übereinzukommen suchen, in der Referentialität auf ein Mini-
mum schwindet, mithin – platonisch gesprochen – ‚Mimesis des Scheins‘ in
‚Mimesis des Seins‘ übergeht – ein Paradox, das, realisiert als Poiesis, zur
Doxa der Moderne werden wird. Paul Valéry hat dies in einem frühen, Poésie
pure betitelten Essay wie folgt formuliert:
wenn es dem Dichter gelingen könnte, Werke zu konstruieren, wo nichts mehr von
allem, was Prosa ist, in Erscheinung träte, Gedichte, in denen die musikalische
Kontinuität niemals unterbrochen wäre, in denen sogar die Bedeutungsbeziehun-

45 Es ist erstaunlich, dass – soweit ich sehe – weder die philosophische noch die eher spärliche
literaturwissenschaftliche Forschung zu Bruno beziehungsweise zu den Eroici furori dies
bemerkt und daraus Konsequenzen für die Poetik und Poetologie der Moderne gezogen hat.
46 Vgl. Stierle: Gibt es eine poetische Sprache? (Anm. 4), S. 223f., der damit einen Begriff von
Thomas S. Eliot (‚objective correlative‘) aufnimmt und ihn zu Recht mit Diderots Verständ-
nis von ‚Hieroglyphe‘ parallelisiert.
47 Politeia, 598b: pótera pròß tò Ón, ªß Éxei, mimësasqai, Ç pròß tò fainómenon, ªß
faínetai, fantásmatoß Ç ˜lhqeíaß oÛsa mímhsiß;
Was ist Dichtung? 301

gen fortwährend den harmonischen Verhältnissen entsprächen, [...] Gedichte, in


denen das Spiel der Bilder die Wirklichkeit des Themas enthielte – dann könnte
man von reiner Poesie sprechen wie von etwas, das es gibt.48
‚Absolut‘ bzw. ‚rein‘ ist Dichtung, wenn sie auf nichts anderes denn auf sich
selbst zurückverweist, wenn der Diskurs Relationen generiert, die in ihrer
Folge eine eigene intrinsische semantische Valenz gewinnen unter Aufgabe
jeglicher äußerer Bezüglichkeit, wenn, wie bereits Jakobson gültig festgestellt
hat, das Paradigma das Syntagma überlagert.49 Daher ist Ort des Poetischen
par excellence die Metapher.50 In der Metapher findet sich materialiter jene
Immanentisierung der Transzendenz, die für Platon eine Absurdität gewesen
wäre, die sodann vom Platonismus der ‚Idea‘ des Dichters als Vermögen zuge-
schrieben wird und die schließlich Pico und deutlicher noch Bruno als Mög-
lichkeit des poetischen Werkes anvisieren. Das poetische Werk, die Dichtung,
soweit sie in der ‚Metapher‘ ihren Topos gefunden hat, ist Autopoiesis
schlechthin, ist Materie gewordene Idee. Als solche ist Dichtung ‚Ersatz‘ für
eine Transzendenz, genauer gesagt für die platonische Konzeption der ‚Idea‘,
die sie zwar qua Materie negiert, doch zugleich positiviert im Versuch, die
Materie wiederum zu transgredieren, ja zu annihilieren. Eben dies ist aber bloß
annähernd, nicht absolut möglich:
Die Konzeption einer reinen Poesie ist die eines unerreichbaren Typus, eines idea-
len Grenzwertes der Wünsche, Bemühungen und Fähigkeiten des Dichters.51
Der Grund liegt in der Eigentümlichkeit der Sprache selbst, immer nur Medi-
um sein zu können, liegt in ihrer letztlich unaufhebbaren Vermitteltheit – wie
Platon bereits in Kratylos festgestellt hat –, deretwegen sie von der ‚Idea‘, vom
‚Eidos‘ abkömmlich ist. Gleichwohl ist die ‚Idea‘ der Ort poetischer Orientie-
rung, bleibt sie als Ausdruck der Vollkommenheit das „Faszinosum des Imagi-

48 Paul Valéry: Zur Theorie der Dichtkunst und Vermischte Gedanken, in : ders.: Werke, Bd. 5,
hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1991, S. 73. – Paul Valéry: Œuvres I, Pa-
ris 1957 (Bibliothèque de la Pléiade), 1463: „si le poète pouvait arriver à construire des œu-
vres où rien de ce qui est de la prose n’apparaîtrait plus, des poèmes où la continuité musicale
ne serait jamais interrompue, où les relations des significations seraient elles-mêmes perpé-
tuellement pareilles à des rapports harmoniques, […] où le jeu des figures contiendrait la ré-
alité du sujet, – alors l’on pourrait parler de poésie pure comme d’une chose existante.“
49 Vgl. dazu Roman Jakobson: Linguistik und Poetik [1960], in: ders.: Poetik – Ausgewählte
Aufsätze 1921-1971 (Anm. 3), S. 83-121.
50 Siehe dazu den Hinweis bei Stierle: Gibt es eine poetische Sprache? (Anm. 4), S. 223 f. und
Roman Jakobson: Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak [1935], in: ders.: Poe-
tik – Ausgewählte Aufsätze 1921-1971 (Anm. 3), S. 192-211.
51 Valéry: Theorie (Anm. 48), S. 73 f.; Valéry: Œuvres I (Anm. 48), S. 1463: „La conception de
poésie pure est celle d’un type inaccessible, d’une limite idéale des désirs, des efforts et des
puissances du poète“.
302 Maria Moog-Grünewald

nären“.52 An ihr wird sich, wie Valéry bemerkt, Poesie messen lassen und von
Prosa unterscheiden:
Der praktische oder pragmatische Teil der Sprache, die Gewohnheiten und die lo-
gischen Formen [...] machen die Existenz solcher Schöpfungen absoluter Poesie
unmöglich; aber es ist leicht zu begreifen, daß der Begriff eines solchen idealen
oder imaginären Zustandes für die Beurteilung jeder feststellbaren Dichtung von
höchstem Wert ist.53
Somit sollte es die Funktion der Dichtung werden, das ‚Seiende, wie es ist‘,
nachzubilden und die als ‚Idea‘ zu konzipierende Vollkommenheit und Schön-
heit in Kunst und als Kunst zu immanentisieren und als Werk zu ma-
terialisieren – womit zugleich eine mögliche Antwort auf die Frage „Was ist
Dichtung?“ gegeben wäre.54

52 So Hans Robert Jauß: Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären, in: Dieter Henrich
u. Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik,
Bd. X), S. 443-461.
53 Valéry: Theorie (Anm. 48), S. 74; Valéry: Œuvres I (Anm. 48), S. 1463: „la partie pratique
ou pragmatique du langage, les habitudes et les formes logiques […] rendent impossible
l’existence de ces créations de poésie absolue; mais il est aisé de concevoir que la notion d’un
tel état idéal ou imaginaire est très précieuse pour apprécier toute poésie observable.“
54 Mit Jauß: Das Vollkommene (Anm. 52), S. 461, kann man einwenden, dass „Vollkommen-
heit zwar ihre säkulare Geltung als ästhetische Norm eingebüßt“, doch – wie wir zu zeigen
versucht haben – „in heuristischer Funktion diesen Untergang“ überlebt hat.
BIOGRAPHISCHE NOTIZEN

Stefan Büttner, geb. 1967. Studium der Klassischen Philologie und Philoso-
phie in Mainz, München und Marburg. 1996 bis 2002 Wissenschaftlicher Mit-
arbeiter an der Universität Marburg, seit 2002 Akademischer Rat an der Uni-
versität Konstanz. 1997 Promotion über Platons Psychologie und Literaturthe-
orie. Arbeitsgebiete: Antike Ästhetik, Griechische Tragödie, Mythenrezeption.

Lutz Danneberg, geb. 1951. Studium der Mathematik, der Philosophie und
der Neueren detuschen Literaturwissenschaft in Hamburg. 1983 Promotion in
Philosophie, 1991 Habilitation in Philosophie und Neuerer deutscher Litera-
turwissenschaft. Seit 1993 Professur an der Humboldt-Universität Berlin für
Methodologie und Wissenschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete: Methodologie der
Textinterpretation, Geschichte der Hermeneutik seit 1500, Geschichte der
Germanistik seit den 1920er Jahren. Mitherausgeber der Zeitschrift Scientia
Poetica.

Günter Eifler, geb. 1929. Studium der Germanistik, Romanistik und Philoso-
phie in Mainz. 1965 bis 1978 Assistent bzw. Assistenzprofessor, 1978 bis
1996 Wiss. Mitarbeiter an der Universität Mainz. 1978 bis 2001 Lehrbeauf-
tragter für Deutsche Sprachwissenschaft und mittelalterliche Literatur am
Deutschen Institut der Universität Mainz. 1963 Promotion mit Die ethischen
Anschauungen in Freidanks „Bescheidenheit“. Veröffentlichungen zur mittel-
hochdeutschen Epik, Lyrik und didaktischen Dichtung.

Gottfried Gabriel, geb. 1943. Studium der Philosophie, Germanistik und


Allgemeinen Sprachwissenschaft an den Universitäten Münster und Konstanz.
Promotion 1972 an der Universität Konstanz, Habilitation 1976. Von 1968 bis
1992 Lehr- und Forschungstätigkeit in der Fachgruppe Philosophie der Uni-
versität Konstanz, 1992 Professor für Philosophie an der Universität Bochum;
seit 1995 an der Universität Jena. Arbeitsgebiete: Erkenntnistheorie, Logik,
Ästhetik, Sprachphilosophie. Herausgeber (ab Bd. 11) des Historischen Wör-
terbuchs der Philosophie.
304 Mimesis – Repräsentation – Imagination

Brigitte Kappl, geb. 1968. Studium der Klassischen Philologie und Germa-
nistik in Regensburg, Köln, Oxford, Mainz und Marburg. Seit 1996 wissen-
schaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Klassische Philologie der Universität
Marburg. 2001 Promotion über die Kommentare des Cinquecento zur Aristote-
lischen Poetik. Arbeitsgebiete: Antike Tragödientheorie und ihre Rezeption,
antike Psychologie und Biologie.

Rochus Leonhardt, geb. 1965. Studium der Evangelischen Theologie in


Naumburg/Saale und Leipzig. Seit 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw.
Wissenschaftlicher Assistent und seit 2001 Privatdozent an der Universität
Rostock. 1996 Promotion über die Glückseligkeitslehre bei Thomas von
Aquin, 2001 Habilitation zum Verhältnis von Protestantismus und Skeptizis-
mus.

Maria Moog-Grünewald, Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Philolo-


gie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen.
Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Poetik von der Antike bis
zur Moderne; Antike-Rezeption unter philosophischen und ästhetischen Ge-
sichtspunkten; Funktionen ekphrastischen Schreibens. Mitherausgeberin der
Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft.

Katharina Münchberg, geb. 1969. Studium der Romanistik und Germanistik


in Freiburg, Tübingen, Paris und Verona. Ab 1998 Assistentin am Romani-
schen Seminar Tübingen. 1999 Promotion mit der Arbeit René Char. Ästhetik
der Differenz. 2003 Habilitation über Dante. Zur Zeit Privatdozentin an der
Universität Tübingen.

Arbogast Schmitt, geb. 1943 in Linz an der Donau. Studium der Gräzistik,
Latinistik, Philosophie und Germanistik in Würzburg und Berlin, danach Leh-
rer am Gymnasium, 1972-1980 Assistent und Akademischer Rat in Würzburg,
seit 1981 Professor für Klassische Philologie (Schwerpunkt Gräzistik) in
Mainz, seit 1991 in Marburg. Dissertation Die Bedeutung der sophistischen
Logik für die mittlere Dialektik Platons (1973), Habilitationsschrift Charakter
und Schicksal in Sophokles’ „König Ödipus“ (1978). Arbeitsgebiete: Homer,
Tragödie, Platon und Aristoteles, hellenistische Dichtung und Philosophie;
Enstehung und Folgen der Parallelisierung und Entgegensetzung von ‚Antike‘
und ‚Moderne‘.
Biographische Notizen 305

Rainer Stillers, geb. 1949. Studium der Romanistik und Germanistik, 1977
Promotion über das narrative Werk von Maurice Blanchot, 1985 Habilitation
über Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance, 1978
bis 1986 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Düsseldorf, 1986 bis
2003 Professor für Romanische Literaturen mit dem Schwerpunkt Italia-
nistik/Mittel-/Neulatein an der Universität Konstanz, seit 2003 Professor für
Romanische Literaturen mit dem Schwerpunkt französische und italienische
Literatur an der Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Poetik der
frühen Neuzeit, Mythen-Rezeption, moderne Lyrik, Raum im modernen Ro-
man. Herausgeber des Deutschen Dante-Jahrbuchs, Mitherausgeber von Anti-
ke und Abendland.

Friedrich A. Uehlein, geb. 1940. Studium der Philosophie, Anglistik, Germa-


nistik und Kunstgeschichte in Würzburg, Leeds und München. Apl. Professor
am Philosophischen Seminar II der Universität Freiburg und wissenschaftli-
cher Leiter der Shaftesbury-Forschungsstelle der Universität Erlangen. Ar-
beitsgebiete: Antike griechische Philosophie, Metaphysical Undercurrents in
British Philosophy, Philosophie der Subjektivität, Ästhetik.

Ulrike Zeuch, geb. 1963 in Düsseldorf. Studium der Germanistik, Latinistik


und Polonistik in Mainz und Warschau. 1990 Promotion mit einer Dissertation
zum Unendlichkeitsbegriff von Friedrich Schlegel und dessen geistesge-
schichtlichen Voraussetzungen, 1998 Habilitation mit einer Arbeit über die
Umkehr der Sinneshierarchie seit der Frühen Neuzeit und die Aufwertung des
Tastsinns zum Sinn der Sinne. Seit 1995 Wissenschaftliche Angestellte an der
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Forschungsschwerpunkte: Wahrneh-
mungstheorie und Ästhetik in der Frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert,
Ethik und Literatur, Literatur und Seelenkunde, Literaturtheorie, Geschichte
literaturtheoretischer Grundbegriffe.
PERSONENREGISTER

In das Register wurden alle Personen-Namen aus dem Haupttext und den Fuß-
noten aufgenommen, die Namen von Figuren (beispielsweise aus der Mytho-
logie oder Literatur) sind kursiv hervorgehoben.

A Astrucs, Jean 278


Abrams, Meyer H. 222 Athenaios (vermutlich: von
Abaelard, Peter 247f. Naukratis) 50
Achilles 54, 59, 76, 83, 147, Augustinus, Aurelius 248
175, 287 Aurel, Mark 217, 224
Adler, Hans 190 Austen, Jane 218
Adriaen, Marcus 148
Aeneas 176f., 192 B
Agamemnon 76, 83 Bacmeister, Christiane 298
Aguzzi-Barbagli, Danilo 168 Bacon, Francis 252
Aigisthos 179 Barbi, Michele 133
Aischylos 292 Barner, Wilfried 9f., 183,
Alkibiades 66, 69, 74-76, 82, Barrell, Rex A. 224
84 Barth, Ulrich 246
Alt, Peter André 193 Barthes, Roland 17, 20, 23
Anderegg, Johannes 14 Baudelaire, Charles 299
Annas, Julia 50f. Bauers, Georg Lorenz 254
Arcita 137 Baumgarten, Alexander Gottlieb
Ariost, Ludovico 164 231-234, 238f., 254-257
Aristarch von Samothrake 276 Behler, Ernst 25, 207
Aristoteles 5, 21-24, 28, 34, Beierwaltes, Werner 297
38, 45, 46, 47f., 54, 60, 63, Bembo, Pietro 286, 292-294, 296
65-95, 117, 119, 124f., 127- Bender, Wolfgang 207, 209
130, 132, 134f., 140, 142, Benedetto, Vincenzodi 163
153-159, 164f., 167-175, 177- Benthien, Claudia 14
179, 181-188, 190-201, 203, Berchorius, Petrus 144
207f., 211, 218, 221-227, Bernhard von Clairvaux 247f.
240-245, 247, 251f., 265, Bernard, Wolfgang 79, 186-188,
271, 288, 291f., 294f., 304 190, 193
Armstrong, John M. 180 Bettinger, Elfi 10
Ast, Friedrich 268 Betzler, Monika 51
308 Mimesis – Repräsentation – Imagination

Beutler, Rudolf 297 287, 289, 303


Birke, Brigitte 207 Bywater, Ingram 199
Birke, Joachim 207
Blanckenburg, Friedrich von C
210-212 Calderôn de la Barca, Pedro
Blumenberg, Hans 20, 151 232
Boccaccio, Giovanni 131-149 Caramello, Petrus 134
Bodmer, Johann Jacob 209 Cardanus (eigentlich:
Boethius, Anicius Manlius 248 Geronimo Cardano) 204
Böhm, Gottfried 284 Caretti, Lanfranco 160
Böhme, Hartmut 10 Carlisle, Miriam 46
Bonaventura (eigentlich: Giovanni Carroll, Lewis 232
di Fidanza) 265 Cassirer, Ernst 240
Bonitz, Hermann 140 Castelvetro, Lodovico 76, 167,
Borgstedt, Thomas 192 172-174, 177, 179
Boyle, Robert 252 Cavallo, Jo Ann 161
Branca, Vittore 131, 140 Cecchini, Enzo 140
Braun, Götz 12 Cervantes Saavedra, Miguel
Breidbach, Olaf 133 de 232
Breitinger, Johann Jacob 207, Cessi, Viviana 48, 79, 81, 185
209 Cicero 176,
Brinkmann-Siepmann, Brigitte 244, 293, 295-297
15 Ciliberto, Michele 298
Bruno, Giordano 298-301 Cinzio, Giovambattista Giraldi
Bubner, Rüdiger 12 71, 178
Buchheim, Thomas 72, 169, Clausberg, Karl 133
183, 227 Coleridge, Samuel Taylor 299
Buck, August 131, 135, 167f., Colli, Giorgio 48
203 Conrady, Karl Otto 283
Buddeus, Ioannes Franciscus Cooper, Anthony Ashley (siehe
(eigentlich: Johann Franz Shaftesbury)
Budde) 253 Coste, Pierre 224
Bühler, Axel 254 Croce, Benedetto 151, 165
Burdorf, Dieter 258 Crocetti, Camillo Guerrieri 71, 178
Burnyeat, Myles F. 53 Culler, Jonathan 10, 17
Burscher-Bechter, Beate 9 Currie, Gregory 240
Büttner, Stefan 9, 31, 90, 200, Czucka, Eckehard 10
Personenregister 309

D Emilia 137
Dalfen, Joachim 35 Epiktet (aus Hierapolis) 217,
Damon (von Athen) 47 224f.
Danneberg, Lutz 241f., 246f., 249- Epikur 124, 187f.
252, 254, 257f., 260, 262, 268, Erasmus von Rotterdam 248-
282, 303 250, 261
Dante Alighieri 70, 132-134, 140-142, Erler, Michael 188
147, 149, 305 Ertler, Klaus-Dieter 13f.
Deitz, Luc 173, 203 Etzel (d.i. Attila) 98, 113f.
Deleuze, Gilles 156 Eukleides (von Megara) 46
Demodokos 31 Euripides 66, 93, 228
Demosthenes 295
Denores, Giason 175 F
Descartes, René 186, 242 Färber, Hans 52
Detering, Heinrich 15 Fellmann, Ferdinand 298
Diderot, Denis 258, 300 Felmer, Martinus 254
Dido 173 Ferrari, Giovanni R.F. 50
Dilthey, Wilhelm 16f. Fetscher, Iring 50, 122
Diogenes Laertios 50 Ficino, Marsilio 189f.
Dominici, Giovanni 140 Figal, Günther 45
Dorsten, Jan A. van 233 Flashar, Hellmut 65, 87, 188
Dotti, Ugo 140 Flaubert, Gustave 213
Duck, Michael J. 271 Fonte, Bartolommeo della
Duns Scotus, Johannes 67, 188f., 132, 176
191 Foucault, Michel 15
Franz, Michael 47
E Frenzel, Elisabeth 18, 25
Eagleton, Terry 10, 14, 16 Freudiger, Jürg 242
Ecker, Ute 135 Fries, Thomas 224
Eckermann, Johann Peter 273, Fuhrmann, Manfred 76, 180,
280 203
Eibl, Karl 18f.
Eichhorn, Johann Gottfried G
278 Gabriel, Gottfried 231f., 303
Eifler, Günter 97, 303 Gadamer, Hans-Georg 13, 17,
Eliot, Thomas S. 300 284, 289
Else, Gerald F. 41 Gaier, Ulrich 255
310 Mimesis – Repräsentation – Imagination

Gaiser, Konrad 35, 37 Gürtler, Johann Daniel 262


Galilei, Galileo 241-243, 245, Guthmüller, Bodo 135, 144
271
Galle, Roland 291 H
Gaß, Wilhelm 266 Haker, Hille 182
Geisenhanslüke, Achim 10f., Halliwell, Stephen 33, 41, 50, 53,
13, 15, 19, 28f. 60, 76, 78, 86
Gerhardt, Carl I. 238 Hamlet 227
Gigante, Claudio 162 Harder, Richard 155, 297
Gigon, Olof 75, 265 Harms, Wolfgang 133f., 183
Gill, Christopher 46, 48 Harth, Dietrich 11f., 14, 20, 28, 182
Giraldi, Giovanni Battista 178f. Harth, Helene 44
Glaukon 44 Harvey, A.E. 52
Godi, Carlo 145 Hassauer, Friederike 11
Goethe, Johann Wolfgang von 12, Hathaway, Baxter 132, 167
28, 213, 222, 240f., 257-259, 263, Haug, Walter 18f.
269-275, 278-282 Hausdorff, Felix 13
Goodman, Nelson 240 Haverkamp, Anselm 151
Gorgias (von Leontinoi) 47, 59 Hege, Brigitte 135
Gottsched, Johann Christoph 23, Hegel, Georg Wilhelm 12
69, 182, 191, 207-209, 211, 213 Hegge, Hjalmar 271
Grafton, Anthony 279 Heidegger, Martin 283
Greenblatt, Stephen 20 Hektor 76, 83
Greene, William C. 50 Hempfer, Klaus W. 70, 157
Greenfield, Concetta Carestia 131, Henrich, Dieter 223, 302
140 Henry, Desmond Paul 282
Gregor der Große 148f. Heraklit 193
Greiffenberg, Catharina Regina von Herakles 75f., 222
206 Herder, Johann Gottfried 16,
Griesbach, Johann Jakob 254 187, 254-259, 263f., 272f.
Grönebaum, Herbert 284 Hermannus Alemannus 134
Gryphius, Andreas 206 Herodot 73, 84
Gumbrecht, Hans Ulrich 158 Herrick, Marvin T. 174
Güntert, Georges 158 Hesiod 51, 54, 59, 61
Gunther 98, 101-107, 109-115 Heyne, Christian Gottlob 276
Günther, Hans-Christian 48 Hilmes, Carola 21
Güntler, Claus 271 Hirdt, Willi 134
Personenregister 311

Hobbes, Thomas 122, 252f. Jordan, Lothar 222


Hofe, Gerhard von 11f., 20, 28
Höffe, Otfried 60, 287 K
Hofmannsthal, Hugo von 232 Kablitz, Andreas 70, 72, 156f., 178,
Hollander, Robert 134 185
Holtzhauer, Helmut 275 Kaiser, Gerhard R. 10, 15
Homer 44-46, 48, 51-55, 57, Kaiser, Gottlieb Philipp 254
59-61, 83f., 94, 134, 196, Kant, Immanuel 119-121, 123,
205, 224f., 228, 258, 276- 130, 186, 228, 232, 237, 239f.,
278, 280, 287, 304 255, 272, 279
Hooke, Robert 273 Kappl, Brigitte 24, 68, 71, 76, 86,
Horaz 21, 23, 28, 132, 174- 167, 169, 304
176, 181, 186, 188, 191, 203, Kardaun, Maria 33, 53f., 57, 286
213, 224, 243 Kassel, Rudolf 184
Horn, Christoph 287 Kebes (von Theben) 224
Hossenfelder, Malte 188 Keil, Rolf-Dietrich 152
Huber, Martin 13f., 18, 20 Kennedy, George A. 50
Hugo von St. Viktor 260 Kenny, Anthony 81
Kersting, Wolfgang 50
I Khoury, Raif Georges 67
Iser, Wolfgang 223, 236, 240, 302 Kiening, Christian 183
Isidor (von Sevilla) 136, 142 Kimmich, Dorothee 15, 17, 20
Kleihues, Alexandra 224
J Klein, Ursula 270
Jaffro, Laurent 224 Kleinias 44
Jakobson, Roman 283-285, 301 Klingner, Friedrich 186
Janaway, Christopher 54, 58 Klopsch, Paul 134
Janka, Markus 34, 91 Kloss, Gerrit 70
Jannidis, Fotis 15, 252 Kluckhohn, Paul 210
Japp, Uwe 21 Klytaimnestra 179
Jason 82, 93 Knaller, Susanne 158
Jaumann, Herbert 19 Koller, Hermann 33, 41, 50
Jauß, Hans-Robert 16, 20, 223, Kommerell, Max 173
302 König, Traugott 214
Javitsch, Daniel 168 Kopernikus, Nikolaus 244,
Jenks, Chris 133 256f., 272f.
Johnson, Uwe 27, 182 Körte, Alfred 261
312 Mimesis – Repräsentation – Imagination

Koselleck, Reinhart 15 Lykurg 59


Kremers, Dieter 158
Kriemhilt 98, 102, 104-107, M
109-115 Maar, Michael 26
Kritias 36 Maggi, Vincenzo 167, 173, 175,
Kunz, Anna 14 178f.
Kuon, Peter 138 Man, Paul de 15
Küpper, Joachim 9, 21-24, Mann, Thomas 76
183 Marino, Adrian 17-19, 28
Martinelli, Bortolo 134
L Martollotti, Guido 135
Lamarque, Peter 240 Marx, Barbara 138
Lambert, Johann Heinrich 258 Mathy, Dietrich 21
Lämmert, Eberhard 210 Matt, Peter von 26
Lauer, Gerhard 13f., 18, 20 Matuschek, Stefan 10
Lavoisier, Antoine Laurent 270 Mazzali, Ettore 154
Leibniz, Gottfried Wilhelm 233, Mazzoni, Jacopo 70
238, 258 Medea 82, 93, 291
Leinkauf, Thomas 201 Meier, Georg Friedrich 253, 256f.
Leonhardt, Rochus 117, 123f., Melanchthon, Philipp 250
126-129, 304 Mertner, Edgar 217
Lessing, Gotthold Ephraim 20, Mesnard, Paul 292
86, 173 Mésoniat, Claudio 131, 140
Levaniouk, Olga 46 Minio-Paluello, Laurentius 135
Levin, Susan B. 50, 52, 55, 57 Minturno, Sebastiano 176, 179
Locke, John 258 Montinari, Mazzino 48
Lombardi, Bartolomeo 167, 173, Moog-Grünewald, Maria 5, 10, 283,
175, 178f. 304
Lombardus, Petrus 139 Moravcsik, Julius 51
Lories, Danielle 190 MukaĜovský , Jan 284
Lotman, Jurij M. 152f., 165, 284 Müller, Karl Otfried 277
Luhmann, Niklas 18, 20 Münchberg, Katharina 151, 304
Lukian 163 Münkler, Herfried 50
Lukrez 188, 244 Mussato, Albertino 131, 140
Luther, Martin 119-121, 130,
250, 253, 261 N
Lütjens, Katharina 6 Nabokov, Vladimir 26
Personenregister 313

Nehamas, Alexander 51 Penelope 248


Neuhausen, Karl August 261 Peppmüller, Rudolf 276
Neumann, Friedrich 102 Petersen, Jürgen H. 66, 185, 188,
Neumann, Gerhard 72, 156, 178, 185 201, 204, 206, 208
Neumeister, Sebastian 135 Petrarca, Francesco 131, 134,
Newton, Isaak Sir 269-271, 273-275, 140, 142f., 176
279 Petrarca, Gherado 143
Nida-Rümelin, Julian 51 Phädra 291
Nietzsche, Friedrich 48, 118f., 231 Phemios 31
Norton, Glyn 168 Phidias 46, 92, 147, 296
Novalis (d.i. Georg Philipp Philokles 222
Friedrich Freiherr von Harden- Piccolomini, Alessandro 167,
berg) 210 173, 176f.
Pico della Mirandola, Giovanni
O Francesco 286, 292-298, 301
Odebrecht, Rudolf 266 Picone, Michelangelo 138
Ödipus 94, 179, 193, 197, 304 Pindar 31
Odysseus 175, 192 Platon 5, 31-39, 41-63, 67, 85f., 88,
Oetinger, Friedrich Christoph 90f., 93, 124, 147, 151, 155f., 175,
256, 258 190, 200, 222-226, 233, 244, 266f.,
Olsen, Stein H. 240 274, 284-289, 291f., 294-301, 303f.
Opitz, Martin 192f., 198, 206- Plotin 46, 91f., 155f., 297-299
208, 211 Plutarch 50, 193
Origenes 247 Poma, Luigi 176
Osgood, Charles G. 135 Priamos 76, 83
Osthövener, Claus-Dieter 246 Prodikos (von Keos) 59
Ovid 134, 136 Proklos 193
Proß, Wolfgang 255f.
P Protagoras (von Abdera) 59
Padoan, Giorgio 142 Prünhilt 98, 103, 107-113
Paetzold, Heinz 234 Purnhagen, Nicole 6
Palemone 137 Putscher, Marielene 249
Panofsky, Erwin 295, 297
Panza, Marco 199 Q
Partee, Morris H. 51 Quintilian 50, 133
Patrizi, Francesco 201
Pecci, Josepho 260
314 Mimesis – Repräsentation – Imagination

R Sauder, Gerhard 14
Rabil, Albert Jr. 168 Scaliger, Iulius Caesar 23, 167,
Racine, Jean Baptiste 289, 292 173-176, 182, 192f., 198, 203-
Raey, Johannes de 242 207, 209f.
Raimondi, Ezio 158 Schäfer, Christoph 34, 91
Rambach, Johann Jacob 253 Scheffler, Uwe 249
Raming, Rolf 224 Schenkeveld, Dirk Marie 261
Ramus, Petrus 249 Schiller, Friedrich von 86, 193,
Regn, Gerhard 158, 160 278f., 281
Reichel, Michael 48 Schlegel, Friedrich 16, 23f., 207,
Reich-Ranicki, Marcel 26f. 209f., 213, 241, 259, 281, 305
Rengakos, Antonios 48 Schleiermacher, Friedrich Daniel
Ricci, Pier Giorgio 141 13, 246, 257f., 262, 265-269
Richter, Siegfried 276 Schlütrump, Eckart 78
Riff, Gisela 284 Schmeling, Manfred 133
Ritter, Ellen 27 Schmidt, Jochen 222
Rivkin, Julie 15 Schmidt-Haberkamp, Barbara
Rizzerio, Laura 190 229
Robortello, Francesco 24, 28, 68f., 71, Schmidt-Radefeldt, Jürgen 301
156, 167, 171-179, 181, 183-212, 292 Schmitt, Arbogast 16, 22f., 46,
Romani, Werther 76, 167, 172-174, 65, 86, 88, 91, 156, 169-171,
177, 179 173, 178, 183, 185, 189, 227,
Ronconi, Giorgio 131 284, 304
Rosenbaum, Stanford P. 218 Schmitz, Markus 181, 196
Rösler, Wolfgang 47f. Schmitz-Emans, Monika 9, 21f.,
Rüdiger, Horst 283 24, 27, 133
Rudolph, Enno 23, 67, 189, 201 Schmücker, Reinold 258
Ryle, Gilbert 218 Schöne, Albrecht 270
Schönert, Jörg 6, 9, 250
S Schröder, Jan 260
Sagredo 241, 243, 245 Schubert, Andreas 50
Sailer, Johann Michael 256 Schulz-Behrend, George 206
Saluta, Coluccio 131, 140 Schweizer, Hans R. 233f.
Salviati 245 Schwinge, Ernst Richard 251
Samuel, Richard 210 Scuderi, Ermanno 135
Santangelo, Giorgio 292 Searle, John R. 236
Sartre, Jean-Paul 213f. Seidl, Horst 140, 188, 255
Personenregister 315

Selden, Raman 17 Strohschneider, Peter 183


Selge, Kurt-Viktor 265 Sueton 142
Seneca 225 Summo, Faustino 70
Sexl, Martin 9 Sutrop, Margit 240
Shaftesbury (d.i. Anthony Ashley Szondi, Peter 152
Cooper), Earl of
Sidney, Philip 79, 215-219, 222-229, T
305 Tasso, Torquato 153-165, 173,
Siegfried 98, 100-113, 115 176-178
Siepmann, Thomas 15 Tate, Jonathan 33, 57
Simm, Hans-Joachim 291 Temko, Philip 51
Simplicio 241-243, 245 Theaitetos 36, 46, 291
Smend, Rudolf 255 Theiler, Willy 252, 297
Smiley, Timothey 53 Theokles 222
Snelders, H.A.M. 270 Theseus 75f., 137
Sokrates 33f., 36f., 39-41, 44-47, 49- Thimann, Michael 136
52, 54f., 57-60, 62, 65f., 91, 176, 225, Thomas von Aquin 117f., 124-
227, 247, 285, 289, 292 130, 134, 139, 188, 260, 304
Solger, Rousseau 224 Thomasius, Christian 261f.
Solon 59 Timaios 291f.
Sophokles 196, 228 Timmermann, Jens 51, 53
Sörbom, Göran 33, 41 Titzmann, Michael 160
Speckenbach, Klaus 134 Tizian (d.i. Tiziano Vecellio) 251
Spinoza, Benedictus de 156 Torelli, Pomponio 176f.
Spruit, Leen 187, 189, 204 Tournoy, Gilbert 135
Staiger, Emil 152, 165, 279, 281 Townsend, Dabney 228
Stalder, Xaver 206 Trappen, Stefan 192, 198, 205
Steigerwald, Jörn 190 Trinkaus, Charles 176
Steiner, Johann Carl Samuel 254 Turk, Horst 23
Steiner, Peter M. 267 Twesten, August Detlev 266
Steinmetz, Peter 188
Stiedenroth, Ernst 271 U
Stierle, Karlheinz 22, 72, 159, 165, 185, Uehlein, Friedrich 9, 79, 215,
284, 299-301 218, 305
Stillers, Rainer 131, 305 Unger, Rudolf 18
Stolnitz, Jerome 228
Strauß, Emil 241
316 Mimesis – Repräsentation – Imagination

V Widmer, Joseph 256


Valéry, Paul 236, 300-302 Wieland, Christoph Martin 232
Varro, Marcus Terentius 142, 295 Wiese, Benno von 10f., 14
Vecellio, Tiziano (siehe Tizian) Willems, Gottfried 15f., 24f.
Velten, Hans Rudolf 14 Winkler, Gerhard B. 248
Venturi, Gianni 161 Wiseman, Peter 46
Vergil 205, 228, 243, 293, 295 Wisse, Jakob 79
Vesal, Andreas 250f., 259 Wolf, Friedrich August 258, 262, 275-
Vettori, Pietro 167, 173, 175, 178 280
Viperano, Giovanni Antonio 71, Wolfes, Matthias 266
178 Wolff, Christian 233, 238, 257, 261,
Virmond, Wolfgang 265 272
Vogt-Spira, Gregor 203 Wolff, Erwin 217
Vollhardt, Friedrich 13, 183, 250 Wuttich, Klaus 249
Volpe, Galvano della 168
Voßkamp, Wilhelm 211 X
Xenophon 48, 224-226
W
Walton, Kendall L. 240 Z
Walzel, Oskar 222, 297f. Zaccaria, Vittario 131f., 136f.
Warning, Rainer 22, 72, 185 Zatti, Sergio 158, 161
Warren, Austin 151 Zenon (aus Kition) 188
Watzke, Daniela 190 Zeuch, Ulrike 5f., 9, 15, 23, 175,
Weinberg, Bernard 132, 157, 167f., 181f., 188f., 190, 193, 305
175, 177 Zimbrich, Ulrike 33, 286
Wellek, René 151 Zimmermann, Bernhard 51, 86
Wenzel, Horst 134 Zimmermann, Rolf-Christian 275, 281
Westermann, Hartmut 46 Zimpel, Regina 6
White, David A. 228 Zintzen, Clemens 135
White, Hayden 15, 236 Zipfel, Frank 47

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