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Christian Demandt / Philipp Theisohn (Hg.

Storm
Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
Christian Demandt / Philipp Theisohn (Hg.)

Storm-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung

J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Christian Demandt leitet das Theodor-Storm-Zentrum
in Husum.
Philipp Theisohn ist Professor für Neuere deutsche Literatur
am Deutschen Seminar der Universität Zürich.

Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek
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Inhalt

Vorwort XII 16.4 »Über die Heide« 70


16.5 »Frauen-Ritornelle« 71
17 Liebeslyrik Ulrich Kittstein 74
I Leben 17.1 »Lockenköpfchen« 75
17.2 »Schließe mir die Augen beide« 76
1 Herkunft Jochen Missfeldt 2 17.3 »Hyazinthen« 76
2 Schulzeit in Lübeck, Studium in Kiel und Berlin 17.4 »Lied des Harfenmädchens« 78
Walter Arnold 4 17.5 »Ein Buch der roten Rose« 78
3 Anwalt in Husum, junge Ehe und erste Erfolge 17.6 »Die Nachtigall« 79
als Dichter Jochen Missfeldt 6 18 Politische Lyrik Dieter Lohmeier 81
4 Im Exil in Potsdam und in Heiligenstadt 19 Weltanschauliche Lyrik Anne Petersen 84
Regina Fasold 8 19.1 »An deines Kreuzes Stamm« 84
5 Wieder in Husum: Tod Constanzes, 19.2 »Tiefe Schatten« 85
zweite Ehe und Hauptschaffenszeit 19.3 »Geh nicht hinein« 87
Christian Demandt 10
6 Lebensausklang in Hademarschen B Märchen
Hartmut Schalke 13 20 Storms Konzeption des Märchens im literatur-
geschichtlichen Kontext Klaus Müller-Wille 89
21 »Hans Bär«/«Der kleine Häwelmann«
II Einflüsse und Kontexte (verf. 1837/1849) Heinrich Detering 92
21.1 »Hans Bär« 92
7 Storms Bibliothek Elke Jacobsen 18 21.2 »Der kleine Häwelmann. Ein Kinder-
8 Storm und das literarische Berlin märchen« 94
Debora Helmer 21 22 »Stein und Rose« (1850)/ »Hinzelmeier«
9 Storm als Jurist Heiner Mückenberger 28 (1855) Marie Drath 97
10 Storms Politik Heinrich Detering 33 23 »Bulemanns Haus« (1864) Tatjana Jesch 101
11 Storm und die Musik Boris Previsic 39 24 »Die Regentrude« (1864) Maren Conrad 104
12 Storms Publikationspraxis Gerd Eversberg 46 25 »Der Spiegel des Cyprianus« (1864)
13 Storm als Journalist Dieter Lohmeier 50 Dagmar Paulus 108

C Sagen und Spuk


III Werk 26 »Neues Gespensterbuch« (1843–48)
Karl Ernst Laage 112
A Gedichte 27 »Am Kamin« (1862) Philipp Theisohn 115
14 Zum lyrischen Grundverständnis Storms
Anne Petersen 54 D Novellen
15 »Knecht Ruprecht« Heinrich Detering 59 28 Storms Verständnis des Genres Novelle:
16 Naturlyrik Irmgard Roebling 61 Novellenpoetik als Medienpoetik
16.1 »Oktoberlied« 62 Claudia Stockinger 118
16.2 »Abseits« 64 29 »Marthe und ihre Uhr« (1848)
16.3 »Die Stadt« und »Meeresstrand« 66 Dagmar Paulus 127
VI Inhalt

30 »Im Saal« (1848) Thomas Küpper 129 65 »Hans und Heinz Kirch« (1882)
31 »Immensee« (1849) Regina Fasold 131 Christoph Deupmann 226
32 »Posthuma« (1851) Mareike Timm 137 66 »Schweigen« (1883) Christoph Deupmann 228
33 »Im Sonnenschein« (1854) Malte Denkert 140 67 »Zur Chronik von Grieshuus« (1884)
34 »Ein grünes Blatt« (1854) Malte Stein 142 Alexander Kling 230
35 »Angelica« (1855) Christoph Gardian 144 68 »Es waren zwei Königskinder« (1884)
36 »Wenn die Äpfel reif sind« (1856) Mareike Giesen 233
Christoph Gardian 146 69 »John Riew’« (1885) Eckart Pastor 235
37 »Auf dem Staatshof« (1859) 70 »Ein Fest auf Haderslevhuus« (1885)
Christian Demandt 148 Dagmar Wahl 237
38 »Späte Rosen« (1860) Philipp Böttcher 152 71 »Ein Doppelgänger« (1886) Gideon Haut 240
39 »Drüben am Markt« (1861) 72 »Bötjer Basch« (1886) Ariane Totzke 244
Christoph Steier 155 73 »Ein Bekenntnis« (1887)
40 »Veronica« (1861) Heinrich Detering 157 Christian Begemann 246
41 »Im Schloß« (1862) Heinrich Detering 159 74 »Der Schimmelreiter«
42 »Auf der Universität« (1863) Malte Stein 162 Andreas Blödorn / Marianne Wünsch 250
43 »Abseits« (1863) Christoph Steier 165
44 »Unter dem Tannenbaum« (1862/1865) E Weitere Prosaarbeiten
Christoph Steier 167 75 »Celeste« (publ. 1988) Christian Neumann 260
45 »Von Jenseit des Meeres« (1865) 76 Aus dem »Volksbuch« (1844–51)
Mareike Giesen 169 Gerd Eversberg 263
46 »Eine Malerarbeit« (1867) Malte Denkert 171 77 »Zerstreute Kapitel« (1870/71)
47 »In St. Jürgen« (1868) Christian Neumann 173 Philipp Theisohn 265
48 »Eine Halligfahrt« (1871) Dagmar Paulus 175 78 »Geschichten aus der Tonne« (1845)
49 »Draußen im Heidedorf« (1872) Philipp Theisohn 270
Christoph Deupmann 177 79 Fragmente Ole Petras 272
50 »Pole Poppenspäler« (1874) 79.1 »Beroliniana« (1838) 272
Claudia Nitschke 179 79.2 »Im Korn« (1862) 272
51 »Waldwinkel« (1874) Valérie Leyh 182 79.3 »Marie von Lützow« (1884) 272
52 »Beim Vetter Christian« (1874) 79.4 »Florentiner Novelle« (1884) 273
Philipp Hubmann 185 79.5 »Sylter Novelle« (1887) 274
53 »Viola tricolor« (1874) Julia Hunger 188 79.6 »Die Armesünder-Glocke« (1888) 275
54 »Ein stiller Musikant« (1875)
Mareike Timm 193 F Autobiographisches und Tagebuch
55 »Psyche« (1875) Philipp Hubmann 196 80 Zur Konsistenz der autobiographischen
56 »Im Nachbarhause links« (1875) Schriften Jörg Pottbeckers 278
Malte Denkert 199 81 Autobiographisches Jörg Pottbeckers 281
57 »Aquis submersus« (1876) 81.1 »Aus der Jugendzeit« 281
Katharina Grätz 201 81.2 »Aus der Familie Mummy« 282
58 »Renate« (1878) Jean Lefebvre 206 81.3 »Ferdinand Röse« 283
59 »Carsten Curator« (1878) 81.4 »Meine Erinnerungen an Eduard
Philipp Theisohn 209 Mörike« 283
60 »Im Brauer-Hause« (1879) Valérie Leyh 213 81.5 »Entwürfe einer Tischrede zum siebzigsten
61 »Eekenhof« (1879) Valérie Leyh 215 Geburtstag« 284
62 »Zur ›Wald- und Wasserfreude‹« (1879) 82 Tagebuchaufzeichnungen Dieter Lohmeier 286
Mareike Giesen 218
63 »Die Söhne des Senators (1880)« G Das Briefwerk
Jens Ole Schneider 220 83 Storm als Briefschreiber Jörg Schuster 287
64 »Der Herr Etatsrat« (1881) 84 Der Briefwechsel Storm – Constanze Esmarch
Louis Gerrekens 223 (verh. Storm) Regina Fasold 290
Inhalt VII

85 Der Briefwechsel Storm – Theodor 93 Storms Medien Elisabeth Strowick 345


Fontane Gabriele Radecke 297 94 Krankheit Yahya Elsaghe 354
86 Der Briefwechsel Storm – Gottfried 95 Storms Dinge Andrea Bartl 363
Keller Katharina Grätz 302 96 Storms Rechtspoetik Hania Siebenpfeiffer 367
87 Der Briefwechsel Storm – Paul Heyse
Christoph Grube 307
88 Der Briefwechsel Storm – Eduard Mörike V Rezeption
Gerd Eversberg 310
89 Der Briefwechsel Storm – Klaus Groth 97 Zur posthumen Auseinandersetzung mit Storms
Robert Langhanke 312 Leben und Werk Philipp Theisohn 372
98 Storm-Adaptionen im Film
Hans Krah / Martin Nies 383
IV Diskurse

90 Storms poetisches Selbstverständnis und der VI Anhang


Realismus Christiane Arndt / Tove Holmes 316
90.1 Novelle 317 Zeittafel 394
90.2 Lyrik 322 Siglen 396
91 Figurenkonstellationen I: Familie und Autorinnen und Autoren 397
Vererbung Maximilian Bergengruen 325 Werkregister 399
92 Figurenkonstellationen II: Storms Poetik Personenregister 403
der Geschlechter Stefani Kugler 335 Sachregister 407
Vorwort

Das vorliegende Handbuch, bei dessen Erscheinen führlichen Analyse der Einzeltexte geht eine kompakte
sich Theodor Storms Geburtstag zum zweihundert- Darstellung von Storms Leben und eine Aufarbeitung
sten Mal jährt, versteht sich als Dokument eines nie der ihn begleitenden zeitgenössischen Kontexte vo-
versiegten und in jüngerer Zeit deutlich erstarkten In- raus. Abgeschlossen wird der Band durch eine exem-
teresses an seinem Werk. Wurde die Auseinanderset- plarische Vorstellung jener Diskurse, die die wissen-
zung mit Storm lange Zeit primär durch den ›kano- schaftliche Auseinandersetzung mit Storm maßgeb-
nisierten‹ Schimmelreiter bestimmt, so hat die Litera- lich geprägt haben, sowie durch ein der posthumen
turwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte einer- Rezeption Storms gewidmetes Kapitel. Hingewiesen
seits bisher kaum erforschte Texte Storms erschlossen, sei zudem auf das ausführliche Sachregister im An-
andererseits dabei auch diskursive Aspekte heraus- hang, das den gezielten Zugriff auf bestimmte Themen
gearbeitet, die das komplexe Oeuvre dieses wohl Dun- und Motive ermöglicht und mit dessen Hilfe sich
kelsten aller Realisten in einem neuen Licht erschei- durchaus aussagekräftige Verbindungen zwischen den
nen ließen. An Storm erprobten sich nach und nach verschiedenen Werkteilen herstellen lassen.
die Psychoanalyse, der Poststrukturalismus, die Gen- Zu danken ist an dieser Stelle zunächst natürlich
der Studies, die Medientheorie, die Kulturwissen- den zahlreichen Beiträgerinnen und Beiträgern, die
schaft und die Wissensgeschichte – und stets handelte sich nicht nur dem straffen Zeitplan, sondern auch der
es sich dabei um Unternehmungen, in die die Germa- Grundkonzeption dieses Bandes gefügt haben – im
nistik als eine internationale Disziplin involviert war. Wissen, dass Handbuchartikel selten Lorbeeren ver-
Ließ sich Storms Stigmatisierung zum ›Heimatdich- dienen und doch zugleich eine eminente wissenschaft-
ter‹ schon in den 70er Jahren nicht mehr aufrecht- liche Bedeutung besitzen. Für Geduld – gerade in der
erhalten, so hat sie ihre glaubwürdigste Widerlegung Endphase des Projekts – und gute Ratschläge danken
durch eine Storm-Forschung erfahren, die heute in wir unserem Lektor Oliver Schütze beim Metzler-Ver-
England, Japan oder den USA ebenso selbstverständ- lag. Maßgebliche und unentbehrliche Arbeit bei der
lich zuhause ist wie in Deutschland oder der Schweiz. Schlussredaktion, der Formatierung und Korrektur
Die produktive Energie der verschiedenen Perspek- der Beiträge leistete Philipp Auchter in Zürich, wäh-
tiven und Methoden zu bündeln und sie all denen ver- rend uns im Husumer Storm-Zentrum Elke Jacobsen
fügbar zu machen, die sich zukünftig um Storm bemü- immer wieder mit Recherchen und Sachauskünften
hen, ist demnach das Hauptanliegen dieses Buches. Im zur Seite stand. Und wenn auch etwas daran sein mag,
Bestreben, die Heterogenität der Forschungsansätze dass man »grimmig in sich« wird, »wenn man’s nicht
ganz bewusst aufrechtzuerhalten, bietet es erstmals – an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann«,
mit den kleinstmöglichen Ausnahmen – eine systema- so blicken wir nun doch erleichtert und mit Dank auf
tische Darstellung des Stormschen Gesamtwerks, das das Geleistete zurück – und hoffen, dass dieses Hand-
neben den Großabteilungen der Lyrik und Novellistik buch die Lektüre und kritische Diskussion von Storms
auch die Märchen, die kleineren Erzählungen und Werk befeuert, vertieft und vorantreibt.
Fragmente sowie das Briefwerk umfasst (welches aus
Platzgründen auf den Brautbriefwechsel sowie die Husum/Zürich, im März 2017
Schriftstellerkorrespondenz begrenzt wurde). Der aus- Christian Demandt und Philipp Theisohn
I Leben
1 Herkunft Deutsch gesinnt waren, begann Deutschland für sie
erst südlich der Elbe.
Am 14. September 1817 wird Storm in Husum gebo- Nachdem Storms Großvater Simon Woldsen ge-
ren und am 5. November auf den Namen Hans Theo- storben war, zog Johann Casimir mit seiner Familie im
dor Woldsen Storm getauft. Nach alter Familientradi- Sommer 1821 in das großelterliche Haus Hohle Gasse
tion trug bei den Storms der Erstgeborene den Namen 3. Für den jungen Storm wird es zum zentralen Ort sei-
Hans. Der Familienname Woldsen wurde hinzuge- ner Kindheit. Sein Vater richtet im Haus seine An-
fügt, weil der männliche Zweig der Woldsen-Linie, ei- waltskanzlei ein und avanciert dort zu einem angese-
ner angesehenen Kaufmannsfamilie, der Storms Mut- henen und erfolgreichen Advokaten, der sich beson-
ter Lucie entstammte, ausgestorben war. ders bei Landverpachtung und Grundstücksangele-
Storm berichtet in seinen Erinnerungen Aus der genheiten engagiert. Kaum eine Ausgabe des Königlich
Jugendzeit (1888): »Der Bedeutendste dieses Ge- Privilegierten Wochenblatts, das in Husum alle acht Ta-
schlechts war mein Urgroßvater mütterlicherseits, Se- ge herauskam, erscheint ohne eine Anzeige für »Land-
nator Friedrich Woldsen in Husum [...]; der letzte verhäuerung« mit der Unterschrift »Storm Koog-
große Kaufherr, den die Stadt gehabt hat« (LL 4, 416). schreiber«.
Dessen Sohn Simon Woldsen heiratete Magdalena Storm beschreibt das Familienleben in der Hohlen
Feddersen und hatte mit ihr drei Töchter: Magdalene, Gasse aus der Distanz von 45 Jahren in einem Brief an
die den Fabrikanten Nicolaus Stuhr in Friedrichstadt seinen Sohn Karl so: »Großvater und der alte Clausen
heiratete, Elsabe, Storms spätere Schwiegermutter, in ihren Comptoiren, drei Mägde in Küch’ und Keller
sowie Storms Mutter Lucie, »die anmutigste von ih- und Kinderstube, auf dem Hof oder im Stall der Kut-
nen, mit ihrem braunen Haar und dunkelgrauen Au- scher mit zwei fetten Rappen, im Hause Großmutter
gen« (419). und Mutter wirtschaftend; wir Kinder, Schwestern –
Storms familiäre Wurzeln väterlicherseits liegen in wo sind sie geblieben? – und Brüder, überall auf Trep-
Westermühlen, in der Nähe von Rendsburg. Dort pen und in Stuben, in Garten und Hof, in den Bäu-
stand die von der Familie in Erbpacht bewirtschaftete men, mitunter auch auf den Dächern« (GB 2, 189).
Wassermühle. Jeweils der älteste Sohn übernahm den Hier, in Haus und Hof, in den leer stehenden Fa-
Betrieb. Johann Casimir kam als vierter Sohn für den brikgebäuden und im Garten, kann der junge Theo-
Müllerberuf nicht in Frage. Sein Vater schickte ihn dor sich austoben. Hier holt er sich seine Streichelein-
nach Rendsburg aufs Gymnasium, später auf die Ge- heiten, die er sein Leben lang braucht und einfordert.
lehrtenschule nach Husum, wo sich Johann Casimir
mit Ernst Esmarch, seinem späteren Schwager, an-
Klippschule und Gelehrtenschule
freundete. Johann Casimir beendete sein Jura-Studi-
um in Kiel. 1814 wurde er in Husum zunächst Ge- Mit vier Jahren kommt Storm in die Klippschule zu
richtssekretär, dann ließ er sich als Advokat nieder. »Mutter Amberg«, die er »Madame Amberg« nennt.
1816 heiratete er Lucie Woldsen. Sie ist »eine mächtige schwerwandelnde Frau mit
energischer Sprache« (LL 4, 428); wer nicht folgt, muss
einen Schimpfhut tragen und damit in der Ecke ste-
Kindheit in der Hohlen Gasse
hen. Seltsam mutet das Resümee an, das Storm über
Als Storm geboren wurde, zählte Husum etwa 3800 seine Klippschul-Zeit zieht: »Das war der Beginn mei-
Einwohner, eine Kleinstadt im Herzogtum Schleswig, ner literarischen Bildung« (428).
das mit dem Herzogtum Holstein seit dem Vertrag Der junge Storm ist ein vielbeschäftigtes Kind. Re-
von Ripen (1460) ›up ewig ungedeelt‹ verbunden war. gelmäßig besucht er Lena Wies, die ältere Schwester
Die Herzogtümer waren Glieder des dänischen Ge- seines Kindermädchens Katharina. Lena zieht den
samtstaats. Wer hier geboren wurde, war dänischer Knaben mit ihren plattdeutschen Geschichten in den
Staatsbürger. Auch wenn die Menschen in den Her- Bann, ein starkes, unvergessliches Jugenderlebnis für
zogtümern Deutsch sprachen und überwiegend Storm, der dieser geradlinig-unbeugsamen Frau ein

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_1, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
1 Herkunft 3

eigenes Kapitel in seinen Erinnerungsschriften wid- Brief belegt, den Storm als Fünfzehnjähriger an seinen
met (vgl. 175–185). Vetter Fritz aus Friedrichstadt schreibt (Laage 1980,
Ostern 1826 wird Storm in die Quarta der Husu- 10), zweifellos einer der Tollsten unter seinen Schul-
mer Gelehrtenschule aufgenommen, zusammen mit kameraden. Junglehrer Wolf muss dran glauben: Im-
seinem Freund Johann Peter Ohlhues (1815–1883) mer von Unruhe und gesteigertem Bewegungsdrang
aus Hattstedt, »der zweimal wöchentlich bei den El- erfasst, fällt Storm mit den Klassenkameraden über
tern Freitisch hatte«, lesen wir bei Storms Biografin den »Kollaborator« her: Man wirft mit Kuchen, macht
Gertrud Storm (1912 f., Bd. 1, 100). Ihr Schulweg Spektakel, einer singt »Schöner grüner Jungfern-
führte vorbei an der Baustelle der neuen Marienkir- kranz«. Gut möglich, dass Storm selber den Gesang
che; sie wird ab 1830 am Markt errichtet und im Juli aus dem Freischütz anstimmt, denn diese Oper hat es
1833 eingeweiht. Storm mochte dieses im klassizisti- ihm schon früh und für immer angetan. Mit seinem
schen Stil erbaute Gotteshaus nicht und schrieb: »an beachtlichen Tenor hat er unzählige Male Partien aus
Stelle des altehrwürdigen Baues stand jetzt ein gelbes, dem Freischütz gesungen, zu Hause, vor Freunden
häßliches Kaninchenhaus« (LL 4, 210). und vereint mit seinem Chor, den er später noch in
Die Schüler der Gelehrtenschule pauken griechi- Husum gründen wird.
sche und lateinische Grammatik, üben Rhetorik und Im September 1835 findet der feierliche Abschied
Dialektik am Beispiel antiker Dichter und Denker – von der Gelehrtenschule im Rathaussaal statt. Dass
und lernen Dänisch. Von Schiller ist verhalten die Re- Storm ein angehender Dichter ist, hat sich inzwischen
de, von Goethe gar nicht, Storm liest beide im Lese- herumgesprochen. Für die traditionelle »Redefeier-
versteck auf dem Dachboden. Die lebenden deut- lichkeit« (LL 4, 164) erhält er die Aufgabe, Mattathias,
schen Dichter tauchen im Schulunterricht nicht auf. den Befreier der Juden, in selbst verfassten Versen zu
Kein Heine und Mörike, kein Eichendorff. Uhland bedichten und diese auch selber vorzutragen.
hält Storm für einen mittelalterlichen Minnesänger. Anfang Oktober 1835 trifft Storm zusammen mit
Poesie? »Die Gelehrtenschule meiner Vaterstadt Hu- seinem Freund Ohlhues in Lübeck ein. Die frisch ge-
sum wußte nichts von dieser Kunst« (LL 4, 488). So backenen Primaner des Lübecker Katharinäums wol-
äußert er sich noch in der Tischrede zu seinem sieb- len sich auf das Studium vorbereiten. Für Storm be-
zigsten Geburtstag. ginnen nun eineinhalb Jahre, die ihn als kommenden
Der Schüler aber entschädigt sich, indem er selber Dichter stark prägen werden.
dichtet; das Königlich Privilegierte Wochenblatt druckt
Jochen Missfeldt
sogar Verse von ihm. Im Übrigen ist Storm, wie ein
4 I Leben

2 Schulzeit in Lübeck, Studium in entlassen. In der Leistungsbeurteilung rangiert er un-


Kiel und Berlin ter den 27 Absolventen auf Platz 11.
Am 22.4.1837 immatrikuliert sich Theodor Storm
an der juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-
Um der Schulbildung seines Sohnes nach Abschluss Universität zu Kiel. Die holsteinische Kleinstadt, wie
der Husumer Gelehrtenschule »die letzte Politur ge- Husum dem dänischen Gesamtstaat zugehörig, besaß
ben zu lassen« (Storm 1912 f., Bd. 1, 101), veranlasst rund 12.000 Einwohner, davon 200 bis 300 Studenten.
Johann Casimir Storm einen Wechsel an das angese- Dem Wunsch und Beispiel seines Vaters folgend »er-
hene neuhumanistische Katharineum in Lübeck, das gab« sich Storm dem Jurastudium »ohne besondre
Theodor Storm ab Oktober 1835 besucht. »Hier war Neigung« (Storm an Emil Kuh, 21.8.1873, Storm–
höhere Luft, bedeutendere Menschen« (LL 4, 488), Kuh, 116). Seine Erwartungen »an den deutschen Stu-
wird Storm über seine Zeit in der Freien und Hanse- denten« waren indes hochgespannt: »Ein Gemisch aus
stadt mit 30.000 Einwohnern notieren. Engagierte ritterlicher Galanterie, traulicher Heiterkeit, Begeiste-
und freundschaftliche Pädagogen ermöglichen ihm rung für seinen freien Stand; Geist und Herz und Ge-
weit über den Schulunterricht hinausgehende Bil- fühl für Alles Schöne« (LL 4, 495). Konkneipant des
dung. So fördern der altsprachliche Unterricht sowie Korps Holsatia geworden, zieht er nach einem Viertel-
private lateinische Diskussionsrunden der Primaner jahr ernüchtert die Bilanz seiner Erfahrungen mit den
mit ihrem Lehrer die Entwicklung der liberal-hu- Kieler Kommilitonen: Er findet nichts als Ausschwei-
manistischen Grundhaltung Storms. Zugleich wird fung gepaart mit Faulheit oder aber borniertes Stre-
Storm nun zum ersten Male mit zeitgenössischer bertum. Zeugnis seiner Beobachtungen im Kieler Stu-
Dichtung bekannt. Er liest im Deutschunterricht u. a. dentenmilieu geben die Novellen Immensee (1850/51),
Erzählungen E. T. A. Hoffmanns, Eichendorffs Roman Der Herr Etatsrat (1881) und Zur Chronik von Gries-
Dichter und ihre Gesellen (1833) sowie Gedichte von huus (1884). Besonderen Raum findet die derbe Seite
Eichendorff, Uhland und Brentano. Vor allem lernt er des Kieler Studentenlebens in der Erzählung Auf der
zwei »Zauberbücher« (LL 4, 470) kennen und lieben: Universität (1862) (vgl. Laage 2001).
Goethes Faust (1808) und Heines Buch der Lieder Die ersten Monate in Kiel sind bestimmt von Ein-
(1827). Heines Gedichte, vermittelt durch Storms be- samkeit und einem melancholischen »Was will ich?
gabten Mitschüler, Freund und Mentor, den Makler- wohin will ich?« (LL 4, 495 f.). Als Antwort imaginiert
sohn Ferdinand Röse, öffnen ihm literarisch »die Tore Storms erwachende romantisch-poetische Phantasie
einer neuen Welt« (444) und gewinnen prägenden eine »schöne, schlanke Jungfrau« (ebd.), verborgen in
Einfluss auf Storms Lyrik. einem Gartenhäuschen auf dem Wege nach Düstern-
Röse führt Storm ein in den musikalisch-literari- brook. Die Sehnsüchte, die sich darin spiegeln, richten
schen Salon der Kaufmanns- und Konsulfamilie Nöl- sich vornehmlich auf Bertha von Buchan. Ein knappes
ting. Dort musiziert er mit der Hausherrin und rezi- halbes Jahr zuvor war der neunzehnjährige Gymna-
tiert eigene Gedichte, bleibt dabei aber im Schatten siast Storm der damals erst Zehnjährigen begegnet.
des ebenfalls dort verkehrenden Emanuel Geibel, der Aus Kiel schickt er ihr eigene erotisch gefärbte Ge-
sich als Dichter bereits einen Namen gemacht hat. Mit dichte und das für sie verfasste Kindermärchen Hans
ihm und Röse besucht Storm das Theater und den Bär. Storm verliebt sich in das Kind, schreibt ihm, be-
Weinkeller der Stadt und unternimmt Ausflüge. In sucht es bei seiner Pflegemutter in Hamburg, stellt
Geibel findet Storm jedoch nicht nur einen Freund ihm heimlich nach und macht schließlich während
und zeitweilig ein dichterisches Vorbild, sondern auch seiner Examenszeit der mittlerweile Sechzehnjähri-
einen dauerhaften Rivalen. Gleichwohl hält er dessen gen einen Heiratsantrag. Ist die Zuneigung zu Bertha
Lyrik bei aller Formvollendung mangels Ursprüng- nicht selbst bereits als »Ausdruck literarisch vor-
lichkeit und Unmittelbarkeit für epigonal und zweit- geschriebener Gefühle« (Bollenbeck 1988, 64) zu deu-
rangig. Durch die große öffentliche Anerkennung, die ten, gelingt es Storm jetzt erstmals, »seelische Bedrü-
Geibels Dichtung im 19. Jahrhundert erfährt und die ckungen mit Hilfe von Schreibvorgängen abzuarbei-
bei weitem diejenige Storms übertrifft, fühlt dieser ten und so zur Selbstheilung beizutragen« (Eversberg
sich zeitlebens zurückgesetzt, misslingt ihm doch 1995, 22). Mit Thomas Manns Worten: Er widmet
schon in der Lübecker Zeit der Versuch, wie Röse und »der Kleinen [...] einen jahrelangen poetischen Kul-
Geibel in Chamissos Musenalmanach zu publizieren. tus« (Mann 1996, 27) und kann sich damit in Einklang
– Am 20.3.1837 wird Storm aus dem Katharineum finden mit dem Kindheitsideal der literarischen Ro-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_2, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
2 Schulzeit in Lübeck, Studium in Kiel und Berlin 5

mantik, die er als Primaner in Lübeck kennen gelernt sen – oder mit ersten Ansätzen zu einer eigenen dich-
hatte. Das autobiografische und zugleich epochen- terischen Handschrift – wie bei Storm.
typische Motiv der Kinderliebe bzw. der Kindsbraut Zugleich fehlt es nicht an Mut und Selbstbewusst-
wird Storm in zahlreichen Novellen lebenslang variie- sein, so dass die drei Kommilitonen auf Theodor
ren (vgl. Detering 2011). Mommsens Anregung hin beschließen, ihren lyri-
Unabhängig von der seine gesamte Studienzeit be- schen Ertrag in einem Liederbuch dreier Freunde zu
gleitenden Bertha-Episode begeht Storm in den Se- veröffentlichen, das 1843 in Kiel erscheint. Von den
mesterferien, die er im Herbst 1837 in Husum ver- insgesamt 121 Gedichten stammen ca. 44 aus Storms
bringt, heimlich die überstürzte Verlobung mit der Feder.
17-jährigen Emma Kühl aus Föhr, in die er schon als »Geleitet von poetischem und patriotischem Sinn«
12-Jähriger verliebt gewesen war (vgl. den Brief an (Müllenhoff 1845, III) sammelten Theodor Mommsen
Constanze Esmarch, 11.6.1844, BB 1, 106 f.). Nach an- und Theodor Storm außerdem Sagen, Märchen und
schließendem monatelangen Schweigen Storms wird Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lau-
die Verbindung von Emma gelöst. enburg. Zur Unterstützung dieses Projekts in der
1838 wechselt Storm an die Berliner Universität. Nachfolge der Brüder Grimm hatten sie öffentlich auf-
Ihren literarischen Widerhall finden die folgenden gerufen. In dem jungen Kieler Germanisten Karl
drei Semester in den Beroliniana – Storms wohl erster Müllenhoff fanden sie einen Gleichgesinnten, der die
Prosaskizze – sowie in Eine Episode aus dem Berliner Sammlung im Jahre 1845 unter seinem Namen ver-
Studienjahr 1839. Trotz der Wiederbegegnung mit öffentlichte und damit den Grundstein für die eigene
Röse, Theaterbesuch, Theaterspiel und anderer Kunst- bedeutende akademische Karriere legte. Das Werk er-
genüsse fühlt sich Storm in der Großstadt nicht hei- wies sich nicht nur als beliebtes Hausbuch, sondern
misch. Ab Herbst 1839 setzt Storm sein Studium in auch als eine Fundgrube an Stoffen für Dichter wie
Kiel fort. Er wird Mitglied einer studentischen »Cli- Hans Christian Andersen, Detlev von Liliencron und
que« und nennt diese stolz eine »kleine übermütige Theodor Storm selbst.
und zersetzungslustige Schar [...], die geneigt war, Tycho und insbesondere Theodor Mommsen hat-
möglichst wenig gelten zu lassen« (LL 4, 471), zumin- ten – trotz auftretender Differenzen – nachhaltigen
dest auf literarischem Gebiet. Durch den lebendigen Einfluss auf die Entwicklung von Storms kritischem,
Gedankenaustausch in dieser Vereinigung unter- politischem und ästhetischem Bewusstsein. Theodor
schiedlicher Persönlichkeiten fühlt sich Storm erregt, Mommsen wurde damit zu einem wichtigen Ferment
erfrischt und bereichert (vgl. Storm an Constanze Es- für Theodor Storms lyrisches Werk. Storm zählte ihn
march, 3.8.1845, BB 1, 185). Er widmet sich den übli- zu den bedeutendsten jungen Männern, die er in sei-
chen studentischen Zerstreuungen, musiziert und fei- nem Leben gefunden habe (vgl. Storm–Keller, 70).
ert ein Weihnachtsfest, bei dem die Einheit des schles- Von ihm und dem Lübecker Freund Röse berichtet
wig-holsteinischen Vaterlandes beschworen wird. Vor Storm, sie »fuhren mit unbarmherziger Kritik über
allem mit dem gleichaltrigen Theodor Mommsen, mich her. So habe ich während meiner Entwicklung
dem späteren führenden Althistoriker, liberalen Poli- schon gelernt einen strengen Maßstab an mich selbst
tiker und ersten deutschen Literaturnobelpreisträger, zu legen und habe Alles immer so gut gemacht, als ich
sowie dessen Bruder Tycho, mit denen er zusammen es mit meinen besten Kräften vermochte« (Storm–
wohnt, lebt er seine Begeisterung für die Literatur nun Kuh, 116 f.).
aus. Unter Theodor Mommsens Leitung verschaffen Nach überlanger Studiendauer und mit einem Berg
sich die drei Freunde einen Überblick über das, was in Spielschulden schloss Storm seine Kieler Universitäts-
der zeitgenössischen Lyrik Geltung besitzt; zur beson- zeit im Oktober 1842 mit dem juristischen Staatsexa-
ders geschätzten und für Storm prägenden Neuent- men ab und kehrte in seine Vaterstadt Husum zurück.
deckung wird Eduard Mörike. Den so gewonnenen Kiel, der »schönste[n] Stadt im schönen Holstein« (LL
Vorbildern eifern sie mit eigenen Gedichten nach. Die 4, 495), blieb Storm zeitlebens verbunden.
Ergebnisse bleiben meist konventionell, wenn auch
Walter Arnold
bisweilen artistisch virtuos – wie bei Theodor Momm-
6 I Leben

3 Anwalt in Husum, junge Ehe und lich verloben sich die beiden, dann ist die Verlobung
erste Erfolge als Dichter offiziell. Vater Johann Casimir schreibt seinem zu-
künftigen Schwager Ernst Esmarch, er sei »nicht für
Familienheiraten« (Storm 1912 f., Bd. 1, 173); Storm
In Husum fängt Storm zunächst als Gehilfe in der flo- und Constanze werden zwei Jahre Verlobungszeit auf-
rierenden Kanzlei seines Vaters an. Innerlich aber erlegt.
hängt er »in der Luft« (21.12.1842, Storm–Mommsen, Während der Verlobungszeit wechseln Storm und
41). Er vermisst Freund Mommsen und trägt schwer Constanze Briefe, in denen sie auf faszinierende Weise
an Bertha von Buchans Zurückweisung seines Hei- von sich selbst erzählen. Storms Persönlichkeit erhält
ratsantrages im Herbst 1842, an der Enttäuschung ei- klare Konturen. Was ihn in der Jugendzeit schon
ner Liebe, von der Storm annimmt, dass sie sein »Le- kennzeichnete, wird in seinen Briefen unverschleiert
ben noch schlimm verwüsten«  werde (Storm– bestätigt: Die Unruhe seiner Lebensuhr schwingt zwi-
Mommsen, 70). An Mommsen schreibt er Ende 1842: schen selbstherrlichem Anspruch und kleinmütiger
»ich weiß noch gar nicht, wie sich mein Leben gestal- Verzagtheit. Constanzes Briefe halten standfest und
ten soll, nach keiner Richtung hin« (ebd.). tapfer dagegen oder antworten einfühlsam in ihrer
Bald aber unternimmt Storm entschiedene Schritte einfachen, manchmal gewitzten Klugheit.
in die Selbstständigkeit. Er möchte nicht nur die rech- Die Weichen sind gestellt auf Ehe und Familie. In
te Hand seines Vaters sein, sondern selber als Advokat das Haus Neustadt 56 ist Storm schon im November
seinen Mann stehen. Deshalb poliert er sein Schuldä- 1845 eingezogen. Am 15. September 1846 heiratet er
nisch auf und legt eine Dänisch-Prüfung bei dem be- Constanze in Segeberg. Kirchlicher Segen ist un-
rühmten Juristen Nikolaus Falck in Schleswig ab – erwünscht, denn von der Kirche hält Storm nichts.
denn Dänisch ist für die Arbeit eines Advokaten in Die Trauung findet im Segeberger Rathaus statt, der
den Herzogtümern ein Muss. Im Königlich Privilegier- Bürgermeister-Residenz seines Schwiegervaters Ernst
ten Wochenblatt vom 23.4.1843 findet sich dann die Esmarch. Nach dem Mittagessen reisen die Vermähl-
Anzeige: »Meine Wohnung ist bei dem Herrn Agen- ten ab. Die Hochzeitsnacht verbringen sie in Rends-
ten Schmidt in der Großstraße. Husum, den 20. April burg. Einen Tag später, am 16. September, betreten sie
1843. Woldsen Storm, Advocat«. ihr neues Heim in Husum.
Im April 1843 gründet Storm den ›Singverein‹, ei- Für Storm und Constanze sind die ersten Ehejahre
nen gemischten Chor. Mutter Lucie singt mit, Schwes- Prüfung und Herausforderung. Schon bald nachdem
ter Helene begleitet die Sänger auf dem Klavier. Storm sich die beiden im neuen Heim eingerichtet haben, be-
grenzt sich mit dem gemischten Chor bewusst ab von ginnt Storm ein Liebesverhältnis mit der 18-jährigen
den Liedertafeln, die jetzt als reine Männerchöre über- Dorothea Jensen. Storm kennt sie seit langem, die Fa-
all gegründet werden und in denen der Patriotismus milien sind befreundet. Auch Dorothea ist Mitglied im
sich manifestiert, der die deutsche Nation und auch die Singverein. »Meiner Ehe fehlte Eins, die Leidenschaft«,
Herzogtümer erfasst hat. Trotzdem geht es Storm nicht schreibt er im Rückblick 20 Jahre später an seinen
in erster Linie um Politik, sondern um musikalische Freund Hartmuth Brinkmann (Storm–Brinkmann,
Kunst. In der Kunst kann er die eigene Begabung und 146). Für Dorothea und Storm beginnt »ein Verhältniß
sein Ego, das gern lenken und kommandieren will, der erschütterndsten Leidenschaft [...], das mit seiner
pflegen und gleichzeitig der Gemeinschaft dienen. Sei- Hingebung, seinem Kampf und seinen Rückfällen jah-
ne Leidenschaft für die Sache überträgt sich auf die relang dauerte und viel Leid um sich verbreitete«
Sänger. Schon im August 1843 gibt der Singverein das (ebd.). Diese Amour Fou ist der Anlass für Storms lei-
erste Konzert, das auch den Beifall der Zeitung findet: denschaftlichste Gedichte, die er im Gedichtzyklus Ein
»die Aufführung aller Nummern ließ wenig zu wün- Buch der roten Rose zusammenfasst (vgl. dazu LL 1,
schen übrig. Anerkennung fand dies auch im gesamm- 971 f.). Trotz allem geht die Ehe nicht zu Bruch, ein
ten Auditorio«, heißt es im Königlich Privilegierten Verdienst, das vor allem Constanze zukommt; sie hält
Wochenblatt vom 27.8.1843. mit ihrer Besonnenheit und Tapferkeit auch die eigene
Eine der Sängerinnen ist Constanze Esmarch, Eifersucht im Zaum. Das Liebesverhältnis ist kein Ge-
Storms acht Jahre jüngere Cousine aus Segeberg. Sie heimnis in Husum. Dorothea weicht dem Druck der
hat im Sommer ein paar Wochen bei den Storms in Väter Storm und Jensen und verlässt die Stadt.
Husum verbracht. Weihnachten 1843 ist Constanze Die Krise um die Herzogtümer spitzt sich zu. Dä-
immer noch da. Storm hat sich in sie verliebt. Heim- nemarks Absicht, das Herzogtum Schleswig dem Kö-

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DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_3, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
3 Anwalt in Husum, junge Ehe und erste Erfolge als Dichter 7

nigreich Dänemark einzuverleiben und damit das in der Musik und in der Dichtung: Mit Immensee
›Up-ewig-Ungedeelte‹ zu trennen, bewegt auf beiden (1850/51) gelingt ihm schließlich der literarische
Seiten zunehmend die Gemüter. Nationalistische Pa- Durchbruch, der ihn zum bekannten Schriftsteller
rolen vergiften das politische Klima. In dieser Lage macht.
tritt Storm dem ›Patriotischen Hülfsverein‹ bei. Au- Storms Antrag auf die Bestätigung der amtlichen
ßerdem verfasst er journalistische Berichte für die Zulassung als Rechtsanwalt wird von den dänischen
Schleswig-Holsteinische Zeitung, bei der sein Freund Behörden abgelehnt. Obwohl er in der Kanzlei seines
Theodor Mommsen als Redakteur in Rendsburg tätig Vaters als Anwalt arbeiten und dort sein Auskommen
ist. Zugleich dichtet Storm das unsterbliche Oktober- haben könnte, will er fort von Husum. Ein ganzes
lied (1848), das »in natürlichster Opposition gegen die Bündel von Gründen mag Storm zu diesem Schritt be-
Politik« entstanden ist, wie er seinem Freund Brink- wogen haben, einer davon ist sicherlich, dass ihm
mann mitteilt (Storm–Brinkmann, 76). 1849 gehört noch die Affäre mit Dorothea anhängt.
Storm zu den Unterzeichnern einer Petition, die dem Nach zwei vergeblichen Bewerbungen für einen
dänischen König die Herzogkrone abspricht und das Posten als Bürgermeister und Justizbeamter zieht es
Ende der Personalunion fordert. Storm nach Berlin, obwohl ihm das Berliner Wesen
Nach der verlorenen Schlacht von Idstedt zunächst nicht behagt. In Berlin aber hat er als Dichter
(25.7.1850) beginnt für die Herzogtümer eine 14-jäh- schon einen Namen. Preußen stellt ihn als Volontär
rige dänische Besatzungszeit. Als Rechtsanwalt vertei- beim Kreisgericht in Potsdam an.
digt Storm Husumer Bürger, die Opfer der Willkür
Jochen Missfeldt
der neuen Obrigkeit geworden sind. Storm findet Halt
8 I Leben

4 Im Exil in Potsdam und in Hei- ten. Für das von Friedrich Eggers herausgegebene Li-
ligenstadt teratur-Blatt des Deutschen Kunstblattes schreibt
Storm, der nie ein Literaturkritiker war, 1854 sogar ei-
ne Reihe von Beiträgen über zeitgenössische Lyriker
Mit der Vereidigung auf dem Kammergericht am (Niendorf, Rodenberg, Preller, Groth, Kette) sowie ei-
23.11. in Berlin und der offiziellen Einführung am nen Aufsatz über Theodor Fontane. Wenn irgend
10.12.1853 in Potsdam vor dem Richterkollegium be- möglich, unternimmt Storm die halbstündige Bahn-
ginnt für Storm die Assessoren-Zeit in Preußen. Das fahrt nach Berlin zu den ›Rütli‹-Sitzungen, die er dann
für ihn damit verbundene Durchlaufen aller Abteilun- nicht selten mit Theaterbesuchen und persönlichen
gen des Gerichts soll das dritte Staatsexamen ersetzen, Kontakten zu seinen Verlegern Alexander Duncker
bedeutet aber auch, dass der 36-jährige gestandene und Heinrich Schindler verbindet. Die Beziehung zu
Advokat anfangs wie ein Referendar ohne eigenes den Berliner Literaten bleibt freilich nicht spannungs-
Stimmrecht den Kreisrichtern zuzuarbeiten hat und frei, und nur wenige Einladungen Storms nach Pots-
auch ohne Diäten bleibt, so dass er bis Oktober 1854 dam werden schließlich angenommen (vgl. Radecke
völlig von der finanziellen Unterstützung seines Va- 2011, XXXf.; Berbig 1993). Einen Höhepunkt der
ters abhängig ist (vgl. Mückenberger 2001, 94 f.). Die- ›Rütli‹-Treffen bildet das im Hause Franz Kuglers am
se Übergangszeit, so erwartet es Storm noch im Sep- 16.2.1854 stattfindende Diner zu Ehren Joseph von Ei-
tember 1853, soll nur zehn bis zwölf Monate dauern. chendorffs, der, so Storm gegenüber den Eltern, schon
Am Ende wird man in Potsdam mehr als zweieinhalb in seiner Jugend den größten Einfluss auf ihn gehabt
Jahre bleiben müssen. Anfangs hat Storm eine Woh- habe. Den nachhaltigsten Eindruck von einer Dichter-
nung in der Brandenburger Straße 70 gemietet, die er Persönlichkeit gewinnt Storm jedoch auf der gemein-
aber ab Juli 1854 mit einer preiswerteren tauscht, wel- sam mit den Eltern im Sommer 1855 nach Süddeutsch-
che in der Waisenstraße 68 (heute Dortusstraße) liegt. land unternommenen Reise, als er am 15. und 16.8.
Dort wird am 10.6.1855 auch die erste Tochter der Eduard Mörike in Stuttgart besucht. Die Notizen, die
Storms, Lisbeth, geboren. Zuletzt wohnt die Familie er sich auf seiner Rückreise macht, nutzt er viele Jahre
von April bis August 1856 in der Kreuzstraße 15 (heu- später, 1876, für Meine Erinnerungen an Eduard Möri-
te Benkertstraße). ke. Nur wenig Dichtung ist in der Potsdamer Zeit ent-
Vor allem im ersten Jahr bringt Storm das unge- standen: die kleine Novelle Im Sonnenschein (1854) –
wohnt hohe Arbeitspensum von täglich bis zu zwölf »auf meinen Mittagsspaziergängen bienenartig zu-
Stunden in dem für ihn noch unbekannten modernen sammengelesen« (LL 1, 1054) –, sodann die auf »ein
preußischen Rechtssystem mehrfach an die Grenzen psychologisches Präparat« (1065) hinauslaufende No-
seiner physischen und psychischen Belastbarkeit. Die velle Angelica (1855) sowie 1856 die Skizze Wenn die
Sehnsucht nach den heimatlichen Verhältnissen ist Äpfel reif sind; daneben allerdings auch das heraus-
deshalb in dieser Zeit besonders stark, obwohl die ragende Gedicht Meeresstrand.
Richterkollegen ihn unterstützen und sich durchaus Storm hofft schon im Sommer 1855, dass er endlich
freundliche Kontakte ergeben, wie z. B. ab 1855 zur Fa- fest angestellt würde, erhält aber erst während eines
milie des Kreisrichters Rudolf Hermann Schnee. Auch Heimaturlaubs Anfang Juli 1856 die Nachricht, dass er
die nahe gelegenen Parks von Sanssouci, die zu Spa- zum Richter am Kreisgericht in Heiligenstadt ernannt
ziergängen locken, können ihn wenig trösten. Im No- sei – nicht als Einzelrichter, sondern in einem größe-
vember 1854 schreibt er an seine Eltern: »in letzter In- ren Kollegium, so hat es Storms Potsdamer Vorgesetz-
stanz ist die Fremde doch kalt, und unsre deutschen ter, Kreisgerichtsdirektor Karl Gustav von Goßler,
Altvordern, die noch mehr am Heimwesen hielten, empfohlen. Storm kommt in Begleitung seines Vaters
nannten ›in die Fremde gehen‹ nicht mit Unrecht ›ins am Abend des 19.8.1856 in Heiligenstadt, dem Haupt-
Elend gehen‹« (unveröffentlicht, SHLB Kiel). Ein ort des Oberen Eichsfeldes, an. Das Eichsfeld, ur-
Lichtblick in der beruflich schwierigen Zeit sind für sprünglich zum Erzbistum Mainz gehörig und tief ka-
Storm die neu gewonnenen Kontakte zu den Berliner tholisch, war seit 1803 – mit einer Unterbrechung von
Autorenkollegen, vor allem zu Theodor Fontane, 1807 bis 1815 – preußische Enklave. Die Familie
Friedrich Eggers, Franz Kugler und Wilhelm von Mer- wohnt zu Beginn auf einem großen Grundstück am
ckel, die sich in dem literarischen Zirkel ›Rütli‹ regel- Kasseler Tor, damals noch außerhalb der Stadtmauer
mäßig in geselliger Runde treffen. Nicht zuletzt durch gelegen, das Storms Vater erwirbt, auch um Storms
sie werden Storms literarische Interessen wach gehal- jüngerem Bruder Otto, der in Potsdam und Erfurt in

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4 Im Exil in Potsdam und in Heiligenstadt 9

der Lehre gewesen war, die Grundlage für einen Gärt- de, der Theodor und Constanze bei seinem Aufenthalt
nereibetrieb zu schaffen. Die Brüder sollten einander 1857 in zwei Ölgemälden portraitiert. Der Pfingstaus-
›in der Fremde‹ unterstützen. Im Mai 1857 zieht Storm flug zur sogenannten Teufelskanzel über dem Werra-
jedoch bereits wegen der zugigen Räume und der ho- tal mit dem körperlich behinderten Künstler findet
hen Heizkosten in eine neue, zwei Etagen umfassende später seinen Niederschlag in der Novelle Eine Maler-
Wohnung in die Wilhelmstraße 73 um. Dort kommen arbeit (1867).
dann auch die Töchter Lucie (12.8.1860) und Elsabe Ein wichtiger äußerer Anstoß für Storms Dichtun-
(24.1.1863) zur Welt. Das Leben in der kleinen, nicht gen kommt zweifellos durch die Begegnung mit der
mehr als 5000 Einwohner zählenden Stadt lässt sich tief gläubigen Bevölkerung und der katholischen Kir-
trotz der Berufsbelastung, über die Storm auch hier che des Eichsfeldes. Eine Novelle wie Veronica (1861)
klagt, geruhsamer an. Finanziell bleibt er trotz eines etwa wäre ohne Storms Erlebnis der Palmsonntags-
Jahresgehalts von 500 Talern, das sich nur allmählich prozession in Heiligenstadt und ohne die Beobach-
etwas erhöhte, auch auf dem Eichsfeld von seinem Va- tung seiner zu Wallfahrt und Ohrenbeichte gehenden
ter abhängig. Dienstmädchen kaum denkbar. Auch die Novelle Im
Mehr und mehr finden Storm und Constanze aber Schloß (1862) und die Gedichte Ein Sterbender (1864)
Zugang zu den Honoratiorenfamilien der Stadt, vor und An deines Kreuzes Stamm o Jesu Christ (vermut-
allem, nachdem sich Storm mit dem 1857 nach Hei- lich im selben Zeitraum entstanden) verdeutlichen,
ligenstadt versetzten Landrat Alexander von Wussow dass sich der Autor, von dem seit seiner Verlobungs-
befreundet hat, einem gebildeten, literarisch und zeit mit Constanze kirchenkritische Äußerungen
künstlerisch interessierten Mann, der freilich auch ein überliefert sind, in der Konfrontation mit dem ihm
konservativer preußischer Beamter ist. Im März 1859 bisher kaum bekannten Katholizismus herausgefor-
gründet Storm wie in Husum ein ›Singkränzchen‹, das dert fühlt, seine eigene Weltanschauung erneut zu be-
anfangs aus etwa 14 Mitgliedern besteht und am Ende denken. Der Berufsalltag als Kreisrichter, in dem er
seines Aufenthaltes, als man am 10.3.1864 nochmals immerhin in den Schwurgerichtsprozessen mehrere
ein großes Chorkonzert mit Ferdinand Hillers Die Todesurteile mitzuverantworten hat (vgl. Mückenber-
Zerstörung Jerusalems gibt, auf über 50 Sänger ange- ger 2001, 124–137), bleibt dagegen in der in Heiligen-
wachsen ist. Zwar verliert die Korrespondenz mit den stadt entstandenen Dichtung fast ohne Resonanz. En-
Berliner ›Rütli‹-Freunden nun an Bedeutung, doch de 1863, als Storm an den Märchen Die Regentrude,
gewinnt Storm mit Ludwig Pietsch, den er bereits Bulemanns Haus und Der Spiegel des Cyprianus arbei-
1856 als Illustrator seiner Novelle Immensee (1850/51) tet, spitzen sich die politischen Verhältnisse in Schles-
durch seinen Verleger Duncker kennengelernt hat, ei- wig-Holstein erneut zu, die Anfang Februar 1864 zum
nen langjährigen Freund. Pietsch weilt 1861, 1862 und Krieg der europäischen Großmächte gegen Dänemark
1863 zu Sommeraufenthalten in Heiligenstadt und führen und schließlich für Storm die Möglichkeit zur
hat die Erinnerungen daran niedergeschrieben in sei- Heimkehr eröffnen. Auf ehrenvolle Weise in Husum
ner Autobiografie Wie ich Schriftsteller geworden bin zum Landvogt gewählt, entschließt er sich, die sichere
(1893), die zu den wenigen Mitteilungen Außenste- Stellung als Kreisrichter in Heiligenstadt aufzugeben;
hender über das Leben der Storms in Heiligenstadt ge- er verlässt die Stadt am 12.3.1864 nicht ohne tiefe
hört. Mit den zahlreichen Besuchern, Freunden und Rührung: »[M]ein Herz ist in der Tat ganz zerrissen
Verwandten unternimmt die ganze Storm-Familie bei dem Abschied von hier, mir ist, als schiede ich von
häufig Ausflüge in die reizvolle Landschaft des südli- einer zweiten Heimat« (GB 1, 455).
chen Eichsfeldes, so auch mit dem Maler Nicolai Sun-
Regina Fasold
10 I Leben

5 Wieder in Husum: Tod Constanzes, ter Tiefe Schatten überschriebenen Reihe von acht Ge-
zweite Ehe und Hauptschaffens- dichten für die Verstorbene. Die Spannbreite dieser
Gedichte reicht von ohnmächtig-verzweifelter Trauer
zeit bis zur entschiedenen Besinnung auf ein dem Dies-
seits verpflichtetes Ethos »[n]ur um der Schönheit des
Noch steht die kriegsentscheidende Schlacht bevor, Lebens willen« (LL 1, 265). Diese »Lebensgläubigkeit«
da tritt Storm bereits sein neues Amt als Landvogt an, (Fasold 1990, 63) bildet auch im Angesicht des Schick-
das den Kreis Husum einschließlich der Inseln (mit salsschlages den Gegenpol zum starken Vergänglich-
Ausnahme des Stadtgebietes) umfasst. Es bietet ihm keitsempfinden und korreliert mit Storms charakterli-
eine »sehr selbständige und angesehene Stellung« cher Ambivalenz von sensitiver Überspanntheit auf
(Storm–Pietsch, 129) und macht ihn finanziell un- der einen Seite (schon die Brüder Mommsen mokier-
abhängig vom Vater. Mit 46 Jahren befindet Storm ten sich bissig über Storms »verweichlichte Natur«;
sich auf dem Höhepunkt seiner juristischen Berufs- 17.12.1848, Storm–Mommsen, 24) und seiner robus-
laufbahn. ten Widerständigkeit auf der anderen Seite; »ich bin
Die Familie mietet das alte Predigerwitwenhaus in wohl weich, aber dafür auch zähe«, bekennt er einmal
der Süderstraße 12; nur ein Haus weiter wohnt Bruder selbst (GB 1, 232).
Aemil, der mit Constanzes Schwester Charlotte ver- Dieses Bekenntnis war damals mit Blick auf die ihn
heiratet ist. Zum Haus gehört auch endlich wieder ein niederdrückenden Erfahrungen im preußischen
Garten, für den Storm sich eine große Familienbank Staatsmechanismus der Potsdamer Zeit verfasst. Nun,
mit Tisch zimmern lässt. Fontane vermerkt nach sei- nach der Niederlage Dänemarks gegen die schleswig-
nem Besuch im September 1864: »Dann zu Storm. holsteinischen Schutzmächte Preußen und Öster-
Idyll. Garten, Kinder ...« (zit. nach Laage 2017, 85). In reich, sieht Storm sich bald erneut mit dem preußi-
dem im Hof gelegenen Waschhaus wird die Landvog- schen »Junkerregiment« (Storm–Pietsch, 187) kon-
tei eingerichtet. frontiert, was ihn zunehmend verbittert. »Wir fühlen
Die neue Stelle bietet Storm genügend Zeit für Mu- alle, daß wir lediglich unter der Gewalt leben«, heißt
sik und Dichtung. Er vollendet das Märchen Der Spie- es 1867 in einem Brief an Pietsch; was »um so ein-
gel des Cyprianus (1865) und die Novelle Von Jenseit schneidender« sei, »da sie von denen kommt, die wir
des Meeres (1865) – beide Erzählungen hatte er in Hei- gegen die fremde Gewalt zu Hilfe riefen und die uns
ligenstadt begonnen. Der Spiegel des Cyprianus lässt in jetzt selbst als einen besiegten Stamm behandeln«.
seinem Ineinander von Märchenwelt und düsterem (Storm–Pietsch, 189)
Realismus bereits jene herberen Töne anklingen, die Tapfer kämpft Storm sich nach dem Tod Constan-
Storms späte Novellistik prägen werden. Von Jenseit zes ins Leben zurück, setzt den Fokus auf »Arbeit, Ar-
des Meeres verarbeitet im ersten Teil Erinnerungen an beit, Arbeit« (Storm–Mörike, 72), lässt keine einzige
die eigene Kindheit in Husum, die Storm dann in den Chorstunde ausfallen und ist bemüht, »alle Lebens-
autobiografischen Skizzen der Zerstreuten Kapitel interessen, die ich bisher gehabt, aufrecht zu erhalten
(1871/72) wieder aufgreift. und zu stärken« (Storm–Esmarch, 106). Dazu gehö-
Der plötzliche Tod seiner Frau Constanze am ren neben Musik und Literatur vor allem der geistig
20.5.1865 bedeutete den tiefsten Einschnitt im Leben anregende Austausch mit Freunden und das Erleben
Storms. »Wie ich weiter leben soll ohne sie, weiß ich von Natur. In dieser Absicht auch folgt er im Spätsom-
nicht, ich weiß nur, daß ich es muß«, schreibt er weni- mer 1865 einer von Ludwig Pietsch vermittelten Ein-
ge Stunden nach dem Tod Constanzes an Hartmuth ladung des russischen Dichters Iwan Turgenew ins
Brinkmann (Storm–Brinkmann, 140). Durch eine mondäne Weltbad Baden-Baden, wo er im Kreise der
Aufwartefrau hatte Constanze, die am 4.5. ihr siebtes von Turgenew umworbenen Sängerin Pauline Viar-
Kind Gertrud zur Welt brachte, sich mit dem in Hu- dot-Garcia eineinhalb Wochen verbringt, die ihn tief
sum grassierenden Kindbettfieber infiziert. Am 24.5. beeindrucken.
wird sie – nur im Beisein von Storm, seinen drei Söh- Wieder zurück in Husum, intensiviert Storm den
nen und Storms Bruder Aemil sowie Mitgliedern des Kontakt zu Dorothea Jensen, der nie ganz abgerissen
neu gegründeten Gesangvereins, die den Sarg tragen war. Noch im Sommer 1864 hatte Constanze Doro-
– um 4 Uhr morgens in der Familiengruft auf dem St.- thea in die Süderstraße eingeladen, wobei sich die
Jürgen-Friedhof beigesetzt. beiden Frauen über Dorotheas Liebe zu Storm aus-
Noch am Abend entsteht das erste Gedicht der spä- sprachen.

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5 Wieder in Husum: Tod Constanzes, zweite Ehe und Hauptschaffenszeit 11

Jetzt, nach Constanzes Tod, erwacht wieder »die jetzt fast nur noch in den angesehenen Zeitschriften
ganze törichte Leidenschaft der alten Zeit« (Storm– Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte und
Pietsch, 176) für die mittlerweile 37 Jahre alte Doro- Deutsche Rundschau.
thea. Nach Ablauf des Trauerjahres heiraten beide in Damit einhergehend stellt sich auch der ökonomi-
kleinem Kreis in Hattstedt bei Husum. Constanzes sche Erfolg ein. Hatte Storm zu Beginn der 1870er Jah-
Bruder Hermann und Sohn Hans sind Trauzeugen. 22 re noch etwa 750 Mark für eine Novelle erhalten, zahl-
Jahre wird die Ehe mit Dorothea dauern, gut drei Jah- te ihm die Deutsche Rundschau 1876 bereits 1800
re länger als die Ehe mit Constanze; sie endet mit Mark für den Abdruck von Aquis submersus (1876).
Storms Tod am 4. Juli 1888. Dorothea überlebt ihn um Nur zwei Jahre später erhielt er 3000 Mark für Renate
fast 15 Jahre. Ihre letzte Ruhe findet sie in der Famili- (1878).
engruft auf dem St.-Jürgen-Friedhof neben Storm und Der künstlerische Durchbruch hin zu einem her-
Constanze. ben, illusionslosen Realismus war Storm 1872 mit der
Im Oktober 1866 bezieht Storm mit seiner Familie Novelle Draußen im Heidedorf gelungen. Zum ersten
ein großzügiges Wohnhaus in der Husumer Wasser- Mal, so Storm später gegenüber dem Wiener Litera-
reihe, das er mit finanzieller Unterstützung seines Va- turkritiker Emil Kuh, entstehe hier eine erzählte Welt
ters für 9000 Mark erwirbt. Im Erdgeschoss richtet er »ohne den Dunstkreis einer bestimmten ›Stimmung‹«
die Landvogtei ein. Allerdings drücken ihn von Be- (womit er meint: keiner »vom Verfasser a priori her-
ginn an Geldsorgen. Nach dem Prager Friedens- zugebrachten Stimmu[n]g«; diese entwickle sich nun
schluss vom 23.8.1866, der den deutschen Krieg been- »aus den vorgetragenen Thatsachen von selbst«;
dete und Preußen die alleinigen Rechte über Schles- Storm–Kuh, 105). Auch die seit der Einführung des
wig-Holstein zusprach, wurde Storms Jahresgehalt auf fiktiven Erzählers in Auf dem Staatshof (1859) für
4200 Mark festgesetzt. Als Landvogt hatte er bisher Storms Novellen charakteristische Perspektivkunst
über 6000 Mark verdient. Zwar wurden ihm nach ei- wird dabei weiter ausdifferenziert. Den ›Perpendike-
nem Protestschreiben an die preußische Verwaltung lanstoß‹ für den Stoff der Novelle gab, ähnlich wie spä-
in Schleswig 500 Mark mehr gewährt, dennoch sieht ter bei Ein Doppelgänger (1886), ein juristischer Fall
Storm sich gezwungen, die frisch renovierte untere aus Storms Arbeitsleben.
Etage seines neu erworbenen Hauses zu vermieten. Die Jahre nach dem Tod Constanzes hingegen sind
Die dort untergebrachte Landvogtei benötigt er ohne- zunächst geprägt vom Bedürfnis Storms, Bilanz zu
hin nicht mehr, denn im Zuge einer preußischen Jus- ziehen mit Blick auf sein Leben, sein dichterisches
tizreform werden die bisher im Landvogtamt ver- Schaffen und seine lyrischen Wertmaßstäbe – in dem
einigten politischen und juristischen Aufgaben auf- Gefühl, dass mit Constanzes Leben auch seine schöp-
geteilt in die Ämter des Landrats und des Amtsrich- ferische Kraft zu Ende gegangen sei. So trug er 1868
ters. Weil Storm befürchtet, als Landrat »könnten dem Verleger Westermann an, die Gesamtausgabe sei-
Dinge von mir verlangt werden, die ich nicht tun ner Werke zu verlegen, stellte die Lyrikanthologie
könnte« (Storm–Pietsch, 188), entscheidet er sich für Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius zu-
»den bescheidenen Posten eines Amtsrichters« sammen, die 1870 erschien, und widmete sich ver-
(Storm–Pietsch, 190). Am 1. September 1867 tritt er schiedenen autobiografischen Skizzen über seine Ju-
die neue Stelle an. 1874 wird er zum Oberamtsrichter, gendzeit in Husum sowie Charakterbildern seiner El-
1879 zum Amtsgerichtsrat befördert; seine Arbeits- tern, seiner Großmutter und Urgroßmutter, die er
räume befinden sich seit 1872 im Schloss vor Husum. 1873 dem Literaturwissenschaftler Emil Kuh zusand-
Dorothea ist als Stiefmutter von sieben charakter- te, als dieser um Material für eine biografische Würdi-
lich teils schwierigen Kindern zwischen ein und sieb- gung Storms bat.
zehn Jahren zuständig für die Organisation einer ent- Die neben Draußen im Heidedorf bedeutendsten
sprechend großen Hauswirtschaft. Die folglich an- Novellen seiner Hauptschaffenszeit in der Husumer
gespannte neue Familienkonstellation beruhigt sich Wasserreihe, Aquis submersus und Carsten Curator
erst allmählich, nachdem Dorothea am 4.11.1868, fast (1878), verweisen biografisch gelesen auf Storms sor-
40-jährig, ihr erstes und einziges Kind Friederike zur genvolles Ringen um den ältesten Sohn Hans. Dieser
Welt bringt. Storm wird die Probleme seiner zweiten leidet an Alkoholsucht und verbummelt sein 1866
Ehe später zum Thema der Novelle Viola tricolor aufgenommenes Studium. 1877 legt er im dritten An-
(1874) machen, die zu seinem Erfolg als Autor Mitte lauf das medizinische Staatsexamen ab. In Heiligenha-
der 1870er Jahre beiträgt. Storms Novellen erscheinen fen findet Hans zunächst eine Anstellung; immer wie-
12 I Leben

der aber beginnt er zu trinken und macht Schulden, In dieser Zeit macht Storm sich vermehrt Gedan-
die Storm begleichen muss. ken über seinen eigenen Lebensabend, ausgelöst vom
Auch der dritte Sohn Karl bereitet Sorgen. Die an- Tod des Vaters, der in der Nacht vom 14. auf den
gestrebte Karriere als Pianist scheitert an Karls Kon- 15.9.1874 gestorben ist – also auf die Stunde genau zu
zentrationsschwäche, schließlich findet er mit Storms jenem Zeitpunkt, an dem Storm vor 56 Jahren gebo-
Hilfe eine bescheidene Anstellung als Musiklehrer in ren wurde: Das Ende »gähnt« ihn »an« (Storm–Heyse
Varel. In der im Winter 1874/75 entstandenen Novelle I, 80), seit der Vater nicht mehr »zwischen mir und je-
Ein stiller Musikant antizipiert Storm bereits das sich nem räthselhaften Abgrund« steht (Storm–Brink-
abzeichnende berufliche Schicksal seines Sohnes: mann, 164). Als auch die Mutter 1879 stirbt, fällt die
»Der stille Musikant ist mein heißgeliebter Junge, den Entscheidung, Husum zu verlassen.
ich mit Traumesaugen in seiner Zukunft angeschaut«
Christian Demandt
(Storm–Heyse I, 92).
6 Lebensausklang in Hademarschen 13

6 Lebensausklang in Hademarschen im Hause seiner Tochter Lisbeth Haase in Heiligenha-


fen an der Ostsee findet er in einer alten Chronik Ma-
»In Husum ist das Geschrei über unsern Fortgang terial für die Novelle Hans und Heinz Kirch (1882). Es
groß«, teilt Storm seinem Freund Paul Heyse zu Pfings- beginnt eine besonders für die Novellistik produktive
ten 1880 mit (Storm–Heyse 2, 59). Nach dem Tod der Zeit: In den folgenden Jahren entstehen die Novellen
Mutter, dem Verkauf des Elternhauses in der Hohlen Schweigen (1883), Zur Chronik von Grieshuus (1884),
Gasse 3 und seiner Pensionierung am 30.4.1880 war »Es waren zwei Königskinder« (1884), John Riew’
der Weg frei für den Beginn eines neuen Lebens- (1885), Ein Fest auf Haderslevhuus (1885), Bötjer
abschnittes, unbelastet von beruflichen und gesell- Basch (1885), Ein Doppelgänger (1886), Ein Bekenntnis
schaftlichen Verpflichtungen. Der stetige Kontakt zu (1887) und schließlich Der Schimmelreiter (1888).
Wohn- und Elternhaus sowie bedeutenden Teilen der Lieb gewordene Gewohnheiten legt Storm auch in
Stadt beschwören quälende Erinnerungen herauf, die Hademarschen nicht ab, einige neue kommen hinzu.
es nun abzuschütteln gilt, zwingen sie doch den Blick Tägliche Garteninspektion mit anschließendem Spa-
zurück und nicht nach vorn in eine neue Zeit (vgl. ziergang, gemütliche Vorlesestunde mit duftendem
Storm–Keller, 54). Der Gedanke an einen Ortswechsel Tee und gemeinsames Musizieren mit den Töchtern
inspiriert ihn, eigene Pläne für den großen Garten und gehören dazu, im Winter dann Bratäpfel vom Kachel-
ein neu zu errichtendes Haus erfrischen Körper und ofen und das große Familienfest Weihnachten. Im Ja-
Geist, geben Motivation und Kraft für den Familien- nuar reist Storm regelmäßig nach Husum, besucht sei-
menschen und Dichter. nen Freund, den Grafen Reventlow, und seinen jüngs-
Am 3.5.1880 verlässt Storm Husum. Er zieht in das ten Bruder, den Arzt Aemil Storm.
Kirchdorf Hademarschen, das er von angenehmen Ähnlich wie in Heiligenstadt entsteht ein Klub aus
Besuchen bei seinem Bruder, dem Holzhändler Jo- Hademarscher Bürgern, deren Treffen von Literatur
hannes Storm, der hier schon lange lebt und mit einer und Musik geprägt sind (Loets 1945, 398). Auch die in
Schwester von Theodor Storms Ehefrau Dorothea die Hademarscher Zeit fallende Korrespondenz ist be-
verheiratet ist, gut kennt. Diese familiäre Bindung, deutend, zählen zu ihr doch nicht zuletzt die Brief-
die verkehrsgünstige Lage mit Bahnanschluss und die wechsel mit Paul Heyse, Gottfried Keller und Theodor
reizvolle waldreiche Altmoränenlandschaft mit wei- Fontane.
ter Flussniederung sprechen für diesen Ort. Storm ju- 1884 kommt es zu einer letzten Begegnung mit Fon-
biliert, hier, 68 Bahnkilometer südlich von Husum, tane in Berlin, wo man Storm während seines Aufent-
sein Altersparadies gefunden zu haben (vgl. Storm– haltes eine Ehrenfeier im Saal des Englischen Hauses
Speckter, 100). mit mehr als hundert Gästen ausrichtet. Laudator ist
Das 4204 m² große und mit 2725 Mark für dama- Theodor Mommsen. Eine weitere Reise führt Storm
lige Verhältnisse recht günstige Grundstück hatte er mit Tochter Elsabe und seinem jungen Freund Ferdi-
bereits 1878 erworben; hier entsteht nun ein park- nand Tönnies im Mai 1886 nach Weimar. Elsabe soll
ähnlicher Garten. Die Eheleute Storm wohnen mit dort ein Musikstudium aufnehmen, außerdem möchte
den Töchtern Lucie, Elsabe, Gertrud und Friederike Storm den Literaturwissenschaftler Erich Schmidt
nahebei zur Miete, und der Bauherr erlebt die Entste- wiedersehen.
hung seines Hauses höchst intensiv mit. Und natür- Sorgen und Schmerzen unterbrechen immer wie-
lich schreibt er. In der Interimswohnung vollendet er der Theodor Storms behagliches Leben und beeinflus-
die 1879 in Husum begonnene Novelle Die Söhne des sen sein Dichten. Da sind die Sorgen um seine unver-
Senators und schreibt gleich eine neue: Der Herr heirateten Töchter, die Probleme mit dem ältesten
Etatsrat (1881). In Schreibpausen wird im großen Sohn Hans, der sein Leben nicht in den Griff be-
Garten neben der Baustelle gemeinschaftlich Gemüse kommt und 1886 in Süddeutschland stirbt. Storm
geerntet. zürnt, hofft, leidet, hofft und trauert. Sein Geruchs-
Anfang Mai 1881 bezieht die Familie den Neubau, sinn schwindet. Er vermisst den tröstenden Duft der
und Theodor Storm genießt den Ausblick aus seiner Rosen. Heftige Krankheiten zwingen den Dichter
Dichterstube im oberen Stockwerk auf eine Land- häufig zu pausieren. Eine Reise auf die Nordseeinsel
schaft, die er mit den romantischen Beschreibungen Sylt und bald darauf sein 70. Geburtstag am 14.9.1887
des von ihm verehrten Eichendorff assoziiert (vgl. lenken ab und sorgen kurzzeitig für Linderung. Tod-
Storm–Speckter, 100). Mit auffallender Bedürftigkeit krank beendet er die Novelle Der Schimmelreiter und
erwartet er Besuche seiner Freunde. Selbst zu Besuch stirbt am 4.7.1888 an Magenkrebs. Sein Leichnam

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_6, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
14 I Leben

wird im geschmückten Waggon vom Hademarscher Ders.: Theodor Storm in Potsdam 1853–1856. Frankfurt/
Bahnhof nach Husum überführt, wo man ihn drei Ta- Oder 1996.
ge später unter großer Anteilnahme der Stadt in der Jackson, David A.: Theodor Storm: Dichter und demokrati-
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6 Lebensausklang in Hademarschen 15

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Vinçon, Hartmut: Theodor Storm in Selbstzeugnissen und becker Beiträge zur Kultur und Gesellschaft. Lübeck 2002,
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Wooley, Elmer Otto: Theodor Storm’s World in Pictures.
Bloomington 1954.
II Einflüsse und Kontexte
7 Storms Bibliothek meist Chroniken und Literatur der Aufklärungszeit,
stammt wohl aus Familienbeständen; den Rest be-
Theodor Storms Bibliothek umfasste ca. 3.600 bis sorgte Storm antiquarisch. Sein Interesse galt zugleich
4.000 Bände. Es existieren zwei handschriftliche Kata- aber immer auch der aktuellen Literatur. Nicht zuletzt
loge, die die Namen von ca. 500 Autoren – viele davon sicherte er sich in Verlagsverträgen die kostenlose Lie-
mit mehreren Werken vertreten – sowie die Titel von ferung von Zeitschriften und Jahrbüchern, an denen
ca. 100 Anthologien enthalten. Erstellt wurde diese er selbst mitarbeitete, wie der Argo, der Deutschen
Liste vermutlich zu jenem Zeitpunkt, als die Bücher Rundschau und Westermann’s Illustrirten Deutschen
auf Storms Kinder bzw. Enkel aufgeteilt wurden. Das Monatsheften, wodurch er auch über den zeitgenössi-
mit Bleistift geschriebene vollständige Verzeichnis schen Buchmarkt informiert war. Jüngere Kollegen,
trägt die Namen von Storms Tochter Dodo (= Friede- wie z. B. Ada Christen, Detlev von Liliencron und Eli-
rike) und seiner Enkelin Constanze Haase (Tochter se Polko, schickten Bücher mit der Bitte um Beurtei-
von Lisbeth). Die unvollständige Blaupapier-Durch- lung. Auch befreundete Dichter schickten ihre Werke
schrift einer anderen Handschrift trägt keinen Na- und vermehrten so Storms Bibliothek.
men. Neben dem Titel Deutscher Novellenschatz von Storms Büchersammlung umfasst das bürgerliche
Heyse und Kurz, der nur pauschal mit »36 gut gebun- Bildungsgut seiner Zeit, begonnen bei der Antike (vor-
dene Bücher 17 minder gut« verzeichnet ist, ist auf der handen sind natürlich Homers Ilias und Odyssee, Pla-
vollständigen Liste einmal mit Rotstift, einmal mit tons Dialoge und die Oden des Horaz) bis hin zur euro-
Bleistift »1/7« vermerkt, auf der Blaupapier-Durch- päischen Gegenwartsliteratur. Alle Epochen der deut-
schrift einmal »1/6«. Der Anteil von Storms Tochter schen Literatur sind vertreten, auch das Mittelalter (so
Gertrud, von dem es auch ein handschriftliches Ver- findet sich in der Bibliothek Gottfrieds Tristan) und
zeichnis gibt, ist vollständig erhalten und umfasst ca. die Frühe Neuzeit, repräsentiert nicht zuletzt durch
600 Bände. Daraus kann man auf einen Gesamt- Balthasar Bekker, Hans Jakob Christoffel von Grim-
bestand von mindestens 3.600 Bänden schließen. melshausen, Martin Opitz und Christian Reuter. Für
Hinzu kommen die von Storm selbst herausgegebe- Storm besonders bedeutsam waren aber die Werke von
nen Bücher und die Zeitschriften, in denen seine Wer- Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts, wie Storm selbst
ke erschienen, also ca. weitere 150 Bände. Auf der in einem Brief an Friedrich Eggers vom 12.1.1858 be-
Grundlage der erhaltenen Bestände, der Auswertung kennt: »besitze ich was deutsche Literatur seit Lessing
der handschriftlichen Bücherkataloge, der Listen, die oder namentlich seit Göthe betrifft eine kleine Biblio-
in den 1960er und 70er Jahren bei den Nachkommen thek, wie sie wenige Privatleute aufzuweisen haben«
erstellt wurden und durch die Auswertung von auto- (Storm‒Eggers, 60). Am 4.6.1869 spricht er dann in ei-
biographischen Materialien, vor allem der veröffent- nem weiteren Brief an Eggers von »meiner selten rei-
lichten Briefe und Tagebücher Storms, konnte seine chen deutsch-poetischen Bibliothek in zwei Mahago-
Bibliothek zum großen Teil rekonstruiert werden. ni-Bücherschränken und einem Wandschrank mit ei-
Bereits als junger Mann entwickelte Storm eine chenem Rahmen« (Storm‒Eggers, 71). In besagten Bü-
ausgeprägte Bibliophilie; Bücher von Autoren, die er cherschränken fanden sich nachweislich Christian
sehr schätzte, sammelte er in kostbaren Ausgaben, Fürchtegott Gellert, Johann Heinrich Voß, Gotthold
dies gilt etwa für Claudius, Eichendorff, Kleist, Stifter Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, natür-
und natürlich für Heine, dessen Buch der Lieder Storm lich auch Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich
als 18jähriger auf Velin-Papier erstand. Diese Sam- Schiller, ferner Gottfried August Bürger, Matthias
melleidenschaft bleibt ihm lebenslang erhalten; so Claudius, Jean Paul und Heinrich von Kleist. Die Ro-
schreibt Storm am 7.4.1877 an Gottfried Keller: »Ich mantik war u. a. durch Achim von Arnim, Clemens
habe so meine stille Freude daran, die alten Herrn des Brentano, Adalbert von Chamisso, Friedrich de la
18. Jhs in ihren schmucksten Originalausgaben um Motte Fouqué, Novalis und Ludwig Tieck repräsen-
mich zu haben« (Storm‒Keller, 22 f.). tiert. Besonders wichtig waren für Storm Joseph von
Ein Teil der alten Texte in Storms Bibliothek, zu- Eichendorff und E. T. A. Hoffmann, von denen mehre-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_7, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
7 Storms Bibliothek 19

re Bände in seiner Bibliothek standen. Es folgen Ferdi- und ›Aventiuren‹; sie müßten denn von einem wahren
nand Freiligrath, der schon erwähnte Heine und Georg Dichter wie W. Hertz sein. Unter den alten Büchern
Herwegh. Fast alle literarischen Zeitgenossen Storms hätschelt Storm vor Allem die Bände, denen Meister
finden sich in seiner Büchersammlung, von Ernst Mo- Daniel Chodowiecki den Schmuck kleiner feiner Kup-
ritz Arndt, Annette von Droste-Hülshoff, Friedrich fer geliehen hat.«
Hebbel, Karl Immermann, natürlich Eduard Mörike, Auch den Dichter, Maler und Verleger Salomon
Friedrich Rückert und Adalbert Stifter über Berthold Geßner schätzte Storm sehr, dessen Ausgabe von
Auerbach, Theodor Fontane, Gustav Freytag, Paul 1770–72 sogar »in sauber schweinsledernen Oktav-
Heyse, Wilhelm Jensen, Gottfried Keller, Wilhelm bänden« in seiner Bibliothek stand, wie er Gottfried
Raabe und Charles Sealsfield bis zu Ada Christen, Det- Keller am 7.4.1877 schrieb (Storm‒Keller, 22). Außer-
lev von Liliencron, Elise Polko und Heinrich Seidel. Da dem kaufte Storm Kalender und Taschenbücher des
Storm mit mehreren der erwähnten Autoren befreun- späten 18. Jahrhunderts, die ihm hauptsächlich wegen
det war, enthalten viele Bücher eine persönliche Wid- der Illustrationen gefielen.
mung. Auch einige plattdeutsche Werke waren vor- Neben deutscher Literatur erwarb Storm auch
handen, z. B. von Klaus Groth, Theodor Piening und Weltliteratur, allerdings hauptsächlich in deutschen
Fritz Reuter. Übersetzungen. Es gibt nur wenige Bücher in Origi-
Storm interessierte sich aber nicht nur für die Bü- nalsprache, beispielsweise die Erzählungen Jean de La
cher selbst, sondern auch für deren Verfasser. So gab es Fontaines, Samtlige Comoedier von Ludwig Holberg
in seiner Sammlung auch Biografien, wie z. B. Wilhelm oder auch die Frithiofs Saga von Esaias Tegnér, die
Herbsts Matthias Claudius, der Wandsbecker Bote Storm sowohl in deutscher als auch in schwedischer
(1857), Erinnerungsblätter an Joseph Victor von Scheffel Sprache besaß. Als Zeugnis für Storms Bemühen, sich
(1886) und Karl Hoffmeisters Schiller’s Leben, Geistes- fremdsprachige Texte auch im Original anzueignen,
entwickelung und Werke im Zusammenhang in fünf findet sich in seiner Bibliothek H. G. Ollendorff ’s neue
Bänden (1838–1842). In Hoffmeisters Schiller-Biogra- Methode, in sechs Monaten eine Sprache lesen, schrei-
phie liegen zwei Zeitungsartikel aus dem Jahr 1879 ben und sprechen zu lernen. Anleitung zur Erlernung
über Schiller und das Mannheimer Theater, die zeigen, der englischen Sprache nach einem neuen und vervoll-
dass Storm sich lebenslang mit seiner Bibliothek be- ständigten Plane für den Schul- und Privatunterricht
schäftigte und sie auf dem neuesten Stand hielt. verfaßt von P. Gands. (5. Aufl. 1855.)
Ein weiterer Schwerpunkt ist die umfangreiche In deutscher Übersetzung besaß Storm aus der
Sammlung von Büchern mit Illustrationen von Hugo englischsprachigen Literatur u. a. Werke von Edward
Bürkner, Daniel Chodowiecki, Wilhelm Heuer, Theo- Bulwer-Lytton, Robert Burns, Lord Byron, James Fe-
dor Hosemann, Paul Konewka, Paul Meyerheim, Lud- nimore Cooper, Charles Dickens, Henry Fielding,
wig Pietsch, Ludwig Richter, Johann Baptist Sonder- Washington Irving, Edgar Allan Poe, Walter Scott,
land, Otto und Hans Speckter und anderen. An Eggers William Shakespeare, Laurence Sterne, Alfred Tenny-
schrieb Storm am 13.3.1853, was ihm ganz besonders son und William Makepeace Thackeray. Die französi-
am Herzen lag: »ich bin fanatisch auf die Chodowie- sche Literatur ist vertreten durch Pierre Jean Béranger,
kis« (Storm‒Eggers, 20), und am 8.7.1857: »Wonach Jacques-Henri Bernardin de St. Pierre, Jacques Cazot-
ich mich ordentlich und schon seit lange sehne, sind te, Alphonse Daudet, Gustave Flaubert, Jean de La
die kleinen Chodowiekischen Damenkalender« Fontaine, Jean Baptiste Molière und Emile Zola, die
(Storm‒Eggers, 55). Schon in einer Beilage zu einem italienische Literatur durch Dante und Boccaccio, die
Brief an Erich Schmidt vom 24.9.1877 zählt Storm 17 spanische Literatur durch Calderón und Cervantes,
Chodowiecki-Ausgaben auf (Storm‒Schmidt I, 64 f.). die russische Literatur durch Gogol, Puschkin und
Schmidt wiederum berichtet in Eine Winterfahrt zu Turgenew. Von den skandinavischen Autoren schätzte
Theodor Storm (1883): »In der eigentlichen Poetenstu- Storm vor allem Hans Christian Andersen, er las aber
be musterte ich die reiche, durch Jahrzehnte mit Be- auch Steen Steensen Blicher, Ludwig Holberg, Alexan-
dacht zusammengestellte und durch freundschaftli- der Kielland und Paul Martin Møller.
che Gaben gemehrte Bibliothek, wo zu dem Erbe des Von Bedeutung nicht nur für den Privatmann, son-
achtzehnten Jahrhunderts und der Romantik das Bes- dern auch für den Dichter Theodor Storm waren auch
te der Gegenwart sich gesellt, aber Kopflyrik und die in seiner Bibliothek vorhandenen Sachbücher. Ne-
Bummellieder so wenig Einlaß finden wie die gottlob ben den Nachschlagewerken (wie dem Neuen Conver-
abgehauste pseudo-egyptische (sic) Epik oder ›Mären‹ sations- und Zeitungs-Lexicon für alle Stände, dem Il-
20 II Einflüsse und Kontexte

lustrirten sowie dem Musikalischen Conversations-Le- Für den Juristen Storm enthielt die Bibliothek na-
xikon) gilt dies insbesondere für die kulturhistorischen türlich auch entsprechende Fachliteratur wie Rudolf
Schriften, die ihm Anregungen, Quellen und Material- Brinkmanns Aus dem Deutschen Rechtsleben (1862),
sammlungen für sein eigenes Schreiben boten. Neben Hermann Gottlieb Heumanns Handlexicon zum Cor-
diversen Titeln zur deutschen, zur europäischen und pus juris civilis (1846), Ernst Friedliebs Abhandlungen
zur Weltgeschichte sind hier v. a. die regionalen Ge- hauptsächlich aus dem Schleswigschen Privatrecht
schichtswerke und Chroniken zu erwähnen, etwa (1864), aus den Beiträgen zum Obligationenrecht von
Christian Ulrich Beccaus Versuch einer urkundlichen Friedrich Mommsen Die Unmöglichkeit der Leistung
Darstellung der Geschichte Husums bis zur Ertheilung in ihrem Einfluss auf obligatorische Verhältnisse u. ä.
des Stadtrechtes (1854), Johann Melchior Kraffts Ein Einen Überblick über Storms Bibliothek aus dessen
Zweyfaches Zwey-Hundert-Jähriges Jubelgedächtnis ... späten Jahren gibt Carl Hunnius: »An den Wänden
der Stadt Husum ... (1723) und deren Fortsetzung so- türmte sich in Regalen und stilvollen, aber einfachen
wie weitere Werke zur Geschichte der Friesen, Dith- Glasschränken seine reiche Bibliothek, Gesamtaus-
marschens, Schleswig-Holsteins, Hamburgs, Osna- gaben bedeutender Dichter, eine fast vollständige
brücks und des Eichsfelds. Auch Johannes Laß’ Sam- Sammlung bester Lyrik der Neuzeit, geschichtliche
melung einiger Husumischen Nachrichten (1750–1753) Werke, alte Chroniken, Märchensammlungen, man
und Johannes von Schröders Darstellungen von Schlös- bedurfte schon einiger Stunden, um sich auch nur
sern und Herrenhäusern der Herzogthümer Schleswig- ganz flüchtig in diesem Reichtum zu orientieren, der
Holstein und Lauenburg (1862) dienten Storm als dadurch an persönlichen [sic!] Wert gewann, als mir
Quelle für seine Novellen. Wichtig sind in diesem Zu- häufig Bücher mit kostbaren eigenhändigen Wid-
sammenhang auch die mehr als 60 Märchen- und Sa- mungsworten berühmter Autoren in die Hände fie-
gensammlungen (friesische, schleswig-holsteinische, len« (Hunnius 1928, 199). Man sieht, dass Storm auch
westfälische bis hin zu ungarischen und französi- in seinen letzten Lebensjahren seinen Besuchern stolz
schen), die in Storms Bibliothek vertreten waren. seine Bibliothek präsentierte. Für seine geistige Welt
Dass Storms Interessen weit gespannt waren und wie für seine Arbeit war die Bibliothek unentbehrlich.
auch die Naturwissenschaften einschlossen, beweisen Wilhelm Jensen ging sogar so weit zu sagen: »Er fand
Wilhelm Baers Der vorgeschichtliche Mensch (1874), seine Freunde mehr in Büchern als im Leben« (Jensen
Philipp Jakob Beumers Populäre Naturgeschichte der 1899/1900, 504) und zitiert aus einem Brief Storms
drei Reiche, mit besonderer Beziehung auf das prakti- vom März 1888: »Ich habe dort [in Husum] mehr
sche Leben (1856), Carl Gustav Calwers Käferbuch Menschen jetzt, hier eigentlich keinen, von dem ich
(1858), Friedrich von Tschudis Das Thierleben der Al- etwas hätte; nur meine Bibliothek und ich, und ich
penwelt. Naturansichten und Thierzeichnungen aus und sie« (ebd., 512).
dem schweizerischen Gebirge (2. Aufl. 1854) und ande-
re naturkundliche Bücher, die sich ebenfalls in der Literatur
Sammlung finden. Eversberg, Gerd: Theodor Storms Bibliothek. In: STSG 52
Die Musik, ein wichtiger Teil von Storms Leben, (2003), 9–29.
Hunnius, Carl: Bei Theodor Storm in Hademarschen. (Aus
wird in seiner Bibliothek vor allem durch Partituren dem Juni-Reisetagebuch 1886). In: Der Wächter 10 (1928),
und Klavierauszüge (u. a. Felix Mendelssohn: Elias, 195–209.
Richard Wagner: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Jensen, Wilhelm: Heimat-Erinnerungen. II. Theodor Storm.
Wartburg) sichtbar. Aber auch die Musiktheorie In: Velhagen und Klasings Monatshefte XIV/11
kommt nicht zu kurz, es finden sich Werke wie Johann (1899/1900), 501–512.
Laage, Karl Ernst: Der Bücherliebhaber. In: Ders.: Theodor
Christian Hauffs Die Theorie der Tonsetzkunst (1863–
Storm. Biographie. Heide 1999, 48–64.
1874). Ähnlich verhält es sich mit der bildenden Laage, Karl Ernst: Storm als Bücherliebhaber. In: Ders.:
Kunst. Storm interessierte sich nicht nur für Illustra- Theodor Storm privat. Heide 2013, 90–93.
tionen und Bilder; er las beispielsweise auch Franz Schmidt, Erich: Eine Winterfahrt zu Theodor Storm. In:
Kuglers Handbuch der Kunstgeschichte (1848), um Neue Freie Presse (28.12.1883).
sich auch auf diesem Gebiet theoretische Kenntnisse Elke Jacobsen
anzueignen.
8 Storm und das literarische Berlin 21

8 Storm und das literarische Berlin Gefallen fand und sein »Entzücken« mit Theodor
Fontane teilte (Storm–Fontane, 168). Als das Buch im
Als nach der erfolglosen Schleswig-Holsteinischen Dezember 1850 erschien, wurde der Berliner Freun-
Erhebung auch die Stadt Husum unter dänische Re- deskreis zur ersten kleinen »Stormgemeinde« (ebd.).
gierung gefallen war, wurde Storms Advokatenbestal- So schrieb Fontane zwei Monate nach dessen Berlin-
lung im November 1852 eingestellt. Er hatte aus seiner besuch an Storm: »Sie traten gleichsam wie ein lieber
politischen Haltung gegenüber Dänemark keinen Bekannter in unsren Kreis und sind uns seitdem nicht
Hehl gemacht – nicht nur, indem er zivilen Ungehor- fremder geworden. Es heißt sehr oft: ›das wäre ein
sam leistete (vgl. Jackson 2001, 78): Storm hielt es zu- Stoff für Storm!‹ [...] Sie sind uns die Verkörperung
dem für seine Pflicht, seine Mitbürger »gegen die von etwas ganz besondrem in der Poesie und leben
Willkühr der neu eingesetzten Königl. Dän[ischen] neben vielem andren auch als eine Art Gattungs-
Behörden mit voller Rücksichtslosigkeit zu vertreten« begriff bei uns fort« (ebd., 3). Die erste persönliche
(Storm–Mörike, 29). Auf der Suche nach einer neuen Begegnung mit Fontane fand im Hause Franz Kuglers
Anstellung, nun auf preußischem Boden, bewarb er statt, der auch Storm zum Neujahrstag 1853 eingela-
sich zunächst vergeblich in Hannover, Gotha, Sachsen den hatte. Am Tag darauf begleitete er Friedrich Eg-
und Coburg, dann auch in Berlin, wohin er im De- gers zu einer Sitzung des literarischen Sonntags-Ver-
zember 1852 reiste, um seine Bewerbung persönlich eins »Tunnel über der Spree«, bevor er am 3.1.1853
einzureichen. nach Husum zurückreiste.
Der sich ihm dort öffnende Kreis von literarisch
sich betätigenden, mehr oder weniger eng durch
Der »Tunnel über der Spree« und das »Rütli«
Freundschaft verbundenen Männern lässt sich nur
schwer als Einheit fassen. Die literarischen Einflüsse, Der »Tunnel« war als »Sonntags-Verein zu Berlin«
die in dieser Zeit auf Storm einwirkten, ebenso aber 1827 von Moritz Gottlieb Saphir gegründet worden.
die Impulse, die von ihm selbst ausgingen, sind bis- Das letzte vorliegende Protokoll ist auf 1898 datiert,
lang nicht erschöpfend erforscht. Eine einschlägige aber schon 1877 war, wie Fontane schreibt, »die Le-
Monographie, die das komplexe Beziehungsgefüge benskraft des Tunnels so gut wie verzehrt« (Fontane
und die wechselnden Einflussnahmen der einzelnen 2014, 173). Anders als Fontane in seinem »Tunnel«-
Akteure untereinander in Augenschein nimmt, stellt Kapitel der autobiographischen Aufzeichnungen Von
ein Forschungsdesiderat dar (vgl. Radecke 2010; Ber- Zwanzig bis Dreißig behauptet, war Storm nie »Tun-
big 1994, 45). Die vor allem durch Briefzeugnisse zu nel«-Mitglied. Belegt sind nur einige wenige Besuche
erschließenden Interaktionen, literarischen und per- als Gast, etwa am 3.12.1854 oder, gemeinsam mit sei-
sönlichen Auseinandersetzungen werden im Folgen- nem Bruder Otto, am 20.11.1853 (nachgewiesen
den zusammengefasst; dabei ist die schwierige Quel- durch ihre Unterschriften im »Fremdenbuch«, in das
lenlage zu berücksichtigen: Die einzelnen Briefwech- sich Gäste der jeweiligen »Tunnel«-Sitzungen eintru-
sel sind z.T. nicht vollständig überliefert bzw. ediert gen; vgl. Storm–Fontane, 466 sowie die Abbildung
und nur sehr verstreut veröffentlicht. Nr. 10). In den 1850er Jahren war aus dem Verein
Über seinen Verleger Alexander Duncker wurde »dichtender Dilettanten« ein ›wirklicher Dichterver-
Storm zunächst mit Friedrich Eggers bekannt, der ihn ein‹ geworden (Fontane 2014, 167). Die aus Grün-
in den Kreis um Franz Kugler, Theodor Fontane und dungszeiten stammenden karnevalesken Strukturen
Paul Heyse einführte. »[M]ein Name als Poët [hat] in und närrischen Bräuche sowie insbesondere der ›Tun-
den literarischen Kreisen hier einen guten Klang. [...] neljargon‹ hatten sich jedoch zum Großteil erhalten
Meine Gedichte würden Jubel erregen«, berichtet (vgl. Wülfing 1998, 432 f.). Die ›humoristisch zu-
Storm seinem Freund Hartmuth Brinkmann, »ich geschnittene Verfassung‹ sah neben dem ›angebeteten
soll durchaus bei Kugler und in den ›Tunnel‹ (ein Haupt‹, dem Vorsitzenden, auch Bibliothekar, Kassie-
Poëtenklubb) eingeführt werden« (Storm–Brink- rer und Protokollant vor. Jedes »Tunnel«-Mitglied er-
mann, 79). hielt nach seiner Aufnahme einen »Necknamen«, der
Tatsächlich war Storms Name durch seine Sommer- es den aus verschiedensten Lebensstellungen stam-
Geschichten und Lieder (1851; darin enthalten: Im- menden Mitgliedern ermöglichen sollte, über Stan-
mensee) in diesem Kreis schon bekannt. Alexander des- und Klassen- sowie Altersunterschiede hinweg
Duncker hatte im Sommer 1850 Paul Heyse um die als Gleichgestellte zu verkehren (ebd., 173). Neben der
Beurteilung von Storms Texten gebeten, der daran Bestimmung zur Verwendung von »Tunnel«-Namen

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_8, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
22 II Einflüsse und Kontexte

sollte außerdem der in den Statuten festgelegte un- rich Eggers auch als Begründer des Vereins, war doch
politische und nichtreligiöse Charakter des Vereins der eigentliche Stifter Franz Kugler, der gemeinsam
das Auskommen zwischen den Mitgliedern unter- mit Fontane die Herausgeberschaft des ersten Jahr-
schiedlicher politischer Ausrichtung gewährleisten buchs innehatte (vgl. Berbig 1987, 108).
(Wülfing 1998, 435). Wülfing weist hier freilich darauf
hin, dass »›staatsloyale Gesinnung‹ in Preußen als
Die »Argo«
›unpolitisch‹ galt« (ebd.).
Die Mitglieder speisten sich aus unterschiedlichen Von der ursprünglichen Idee, »Aufsätze und Kritiken,
Berufsgruppen und stammten nicht nur aus der zumeist Dinge die unser Beisammensein verhandeln«
Schriftstellerzunft. Dazu gehörten u. a. auch (wie etwa (Briefwechsel Fontane–Heyse, 9) in einer Viertel-
bei Wülfing aufgeführt) Juristen, Journalisten, Redak- jahrsschrift zu versammeln, musste rasch Abstand ge-
teure, Kunstwissenschaftler, Schauspieler, Ärzte und nommen werden, da sich für ein solches Vorhaben
Kaufleute. Die aktiven Mitglieder, die also zum Vor- kein Verleger fand. Die Gebrüder Katz in Dessau lie-
trag bestimmte Beiträge (›Späne‹) vorlegten, wurden ßen sich schließlich darauf ein, ein »novellengespick-
›Makulaturen‹ genannt, die unproduktiven Mitglieder tes Jahrbuch« (ebd.) zu verlegen.
›Klassiker‹; für Gäste (die ebenfalls ›Späne‹ vorstellen Storm war wieder zurück nach Husum gereist, so-
konnten) hatte man die Bezeichnung ›Runen‹ gewählt. dass die Verhandlungen um Mitwirkung an der Argo
Nach der Lesung wurde diskutiert und bewertet; die (auf diesen Namen einigte man sich schließlich) sowie
Kategorien reichten von ›sehr gut‹ bis ›sehr schlecht‹. die kritische Begutachtung seiner Novelle Ein grünes
Zu der Zeit, als Storm nach Berlin kam, hatte sich Blatt, die in der Argo erscheinen sollte, brieflich er-
im »Tunnel« eine Elite gebildet (Berbig 1990, 36), be- folgten. Einen schriftlichen Meinungsaustausch hatte
stehend aus alten »Tunnelianern« und einigen neu da- auch die Lesung von Storms Gedicht Sie saßen sich ge-
zu gestoßenen Mitgliedern, die nach einer Möglich- genüber lang (einmal unter dem Titel Schlimmes Lie-
keit suchten, ihre kritischen und literarischen Erzeug- ben (1854), dann als Geschwisterblut (1864) veröffent-
nisse der Öffentlichkeit zu präsentieren. Im Dezember licht) ausgelöst, das man am 13. Februar in seiner Ab-
1852, kurz nach der Feier zum 25jährigen Bestehen wesenheit im »Tunnel« verlesen hatte. Er reagierte da-
des Vereins, wurde zu diesem Zweck der ›Nebentun- mit auf Franz Kuglers Gedicht Stanislaw Oswiecim,
nel‹ »Rütli« gegründet, »eine Art Extrakt der Sache« das dieser in der Sitzung vom 2. Januar vorgestellt hat-
(Fontane 2014, 232), der gleichwohl dem »Tunnel« te, als Storm zum ersten Mal den »Tunnel« besuchte.
verbunden blieb. Man traf sich jeden Sonnabend im Beide Texte handeln von einer inzestuösen Geschwis-
Haus eines der Mitglieder. terbeziehung; Storm war mit Kuglers Bearbeitung die-
Das »Rütli«-Personal speiste sich aus dem Kern- ses Stoffes nicht einverstanden und schrieb daraufhin
bestand des »Tunnels« und hatte also auch einen eine eigene Version. Diese stieß allenthalben auf Ab-
›Tunnel-Namen‹. Die Gründungsmitglieder waren lehnung, wie Fontane und Friedrich Eggers ihm un-
Friedrich Eggers (Anakreon), Franz Kugler (Lessing), umwunden mitteilten (vgl. Storm–Fontane, 3 u. 209–
Theodor Fontane (Lafontaine), Wilhelm von Merckel 211), wobei sich auch Bewunderung in die Ablehnung
(Immermann), Karl Bormann (Metastasio) und Bern- mischte, wie Eggers einräumte: »Die lebhafteste De-
hard von Lepel (Schenkendorff). Adolph Menzel (Ru- batte schloß sich an und ich habe niemals Himmel
bens), Theodor Storm (Tannhäuser) und Paul Heyse und Hölle so nah bei einander gesehn. [...] die Einen
(Hölty) stießen etwas später zum schon bestehenden erhoben das Gedicht bis an die Sterne, kamen an den
»Rütli« hinzu, wie aus Fontanes Brief an von Lepel im grünen Tisch gelaufen, um sich Prachtstellen nochmal
September 1853 hervorgeht: »Menzel, [wird] hinfort einzuprägen, die Andern verdammten es in sittlicher
ein Mitglied des Rütli sein [...] (wie Storm und Paul Entrüstung« (210).
Heyse, so daß wir die Musenzahl herausbringen)« Fontane beschrieb die Lesung der Ballade der »ab-
(Briefwechsel Fontane–Lepel I, 360). Storms ›Neck- wesenden Rune« im »Tunnel«-Protokoll vom
name‹ »Tannhäuser« geht zum einen auf seine Begeis- 13.2.1853 sowie ihr Zustandekommen. Kugler trug
terung für Richard Wagners Oper Tannhäuser und der zunächst seine Ballade noch einmal vor: »[N]och ehe
Sängerkrieg auf der Wartburg zurück, dessen Auffüh- die Mängel des Stormschen Gedichts gleichsam zur
rung er mit Constanze am 13.11.1853 im Hamburger Folie des Lessingschen geworden waren, erkannte ei-
Stadttheater gesehen hatte, zum anderen auf seine Lie- ne starke Majorität bereits, daß man bei der ersten Le-
beslyrik (vgl. Storm–Fontane, 226). Zeichnet Fried- sung des [Stanislaw Oswiecim] strenger als nötig ver-
8 Storm und das literarische Berlin 23

fahren und mit dem Tadel zu stark ins Zeug gegangen sche Justizminister Simons nahegelegt hatte, eine Stel-
war. Anakreon führte jetzt den Sieges-Lüsternen in le außerhalb Berlins zu suchen (vgl. EB, 57). Am
die Rennbahn und ritt los. Aber es blieb bei der Lüs- 14.10.1853 wurde Storm zum preußischen Gerichts-
ternheit, und der Sieg blieb aus. Die vortreffliche Ma- assessor ernannt; Ende November zog er mit seiner Fa-
che, eine Fülle reizender, zum Teil hochpoetischer milie nach Potsdam in die Brandenburger Straße.
Einzelnheiten, auch ein, wenn nicht geradezu vorzu- Im Oktober war auch die Argo als ein von Theodor
ziehender, doch immerhin berechtigter, Gegensatz Fontane und Franz Kugler herausgegebenes »belle-
zur Lessingschen Ballade in betreff der Wahl der Si- tristisches Jahrbuch für 1854«, erschienen, zu dem
tuation und Szenerie – wurde bereitwillig hervor- Storm neben Ein grünes Blatt die sieben Gedichte Im
gehoben, nichtsdestoweniger brach man um des völlig Herbste 1850, Abschied, Trost, Mai, Nachts, Auf der
verfehlten und beinah widerwärtigen Schlusses willen Marsch und Gode Nacht beigesteuert hatte. Darüber
den Stab über das Ganze und bezeichnete es als eine hinaus enthielt das Jahrbuch Novellen, Gedichte, Bal-
freilich talentvolle, dennoch aber durchaus verwerf- laden und zwei Aufsätze von den Rütlionen Franz
liche Arbeit« (Fontane 1982, 314 f.). Kugler, Friedrich Eggers, Paul Heyse, Bernhard von
Fontane versicherte Storm, dass in der Argo auch Lepel, Leo Goldammer und Adolph Menzel.
seine Gedichte »auf ’s Höchste willkommen sein« Die Arbeit am Jahrbuch war getragen von dem
würden, was aber insbesondere gewünscht war, »das Wunsch, eine preußische Poesiediskussion zu be-
sind Novellen – Ihre starke Seite« (Storm–Fontane, 5). gründen und an die Öffentlichkeit zu bringen (vgl.
Storms eingesandter Beitrag Ein grünes Blatt wurde Berbig 1987, 110). Ein konkretes Programm lag indes
von den Rütlionen zunächst eingehend besprochen nicht vor; überhaupt war vielmehr von Positions-
und trotz einiger Einwände hinsichtlich des Novellen- divergenz unter den Beiträgern auszugehen, die kein
schlusses akzeptiert (vgl. Storm–Fontane, 10–19), le- verbindliches Konzept vereinte (vgl. ebd., 111). Vehe-
diglich das Epilog-Gedicht, in dem Storm, in Hoff- mente politische Tendenz wurde abgelehnt, nicht je-
nung und Erwartung eines ›neuen Frühlings‹, von ei- doch preußisch-patriotische Gesinnung, wie etwa in
nem »Donnerschlag« schreibt, der eine Wendung al- der Auseinandersetzung um Storms Epilog-Gedicht
ler Dinge bringen werde, wurde zurückgewiesen. deutlich wurde (s. o.). Bevor man sich für den Namen
Bezogen auf die erfolglose Schleswig-Holsteinische Argo entschied, gab es andere Vorschläge. Kugler
Erhebung schien es den Berliner Rütlionen doch als nannte als Arbeitstitel »Stufen«, was auf eine gewisse
eine »kitzliche Sache«, die zu sehr »nach der einigen Vorläufigkeit des Inhalts hindeutete; Fontane schlug
unteilbaren deutschen Republik schmeckt« (Storm– »Ascania« vor, weil »wir nämlich alle zwischen Elbe
Fontane, 11). Sie wollten »die Aeußerungen solches und Oder zu Hause sind, die wir uns an dem Buche
Grimms und solcher Hoffnungen« nicht auf ihre Kap- beteiligen« (Briefwechsel Fontane–Eggers, 91). Das
pe nehmen, weil das »uns ›Beamteten‹ doch sehr ver- »Landsmannschaftliche« (ebd.) würde dadurch be-
übelt werden« würde (ebd.). Storm entsprach der Bitte tont, zudem wünschte er sich für das Jahrbuch »den
um Streichung sogleich. Charakter eines norddeutschen Musen-Almanachs«.
Weil bislang keine Nachrichten und Antworten be- Der »norddeutsche Zug« lag auch Kugler am Herzen
züglich seiner Anstellungsgesuche eingegangen wa- (vgl. Berbig 1987, 126). Fontane hatte daher auch den
ren, kehrte Storm im September 1853 nach Berlin zu- niederdeutschen Dichter Klaus Groth, der durch seine
rück, um die Sache voranzutreiben. Vom 5. bis 27. plattdeutsche Gedichtsammlung Quickborn bekannt
September logierte er als Gast im Hause Franz Kug- geworden war, um einen Prosatext für das Jahrbuch
lers, wo er sich freundlich aufgenommen fühlte; so gebeten; aus Krankheitsgründen konnte Groth dieser
richtete Kugler am 14. September eine kleine Feier zu Bitte nicht nachkommen.
Storms 36. Geburtstag aus, wo ihm Texte und Bilder Obwohl man sich an die marktorientierten Vor-
der ›Argonautenschaft‹ als Präsente gereicht wurden gaben des Verlegers gehalten und statt Literaturkritik
(vgl. EB, 55 f.). neben Gedichten und Balladen vor allem Novellen
Storms Lage war angesichts der noch immer unge- aufgenommen hatte, entsprach die öffentliche Reso-
wissen beruflichen Zukunft sehr angespannt. Durch nanz auf die Argo nicht ganz den Hoffnungen und Er-
die Vermittlung Wilhelm von Merckels, dessen Schwa- wartungen der Rütlionen. Im Brief an Storm vom
ger Karl Gustav von Goßler Direktor des Kreisgerichts 4.1.1854 schrieb Fontane: »Der Buchhändler ist zu-
Potsdam war, erhielt Storm schließlich ein Volontariat frieden, hier sind alle Exemplare die da waren ver-
am dortigen Kreisgericht, nachdem ihm der preußi- kauft worden. Ein neuer Beweis wie gleichgültig die
24 II Einflüsse und Kontexte

Anzeigen und namentlich die Kritiken sind« (Storm– die jetzt auch eine stattliche Anzahl an Bildern und Il-
Fontane, 52). lustrationen enthielt.
Im Deutschen Museum erschien am 19.1.1854 eine Fontane war im September 1855 nach England auf-
kurze Besprechung, in der die Argo als »eine recht ge- gebrochen, um in London eine »Deutsch-englische
schickte Neuerung der sonst üblichen belletristischen Correspondenz« aufzubauen; er kehrte erst im Januar
Taschenbücher« bezeichnet wurde. Lobend erwähnt 1859 zurück nach Berlin. Für die Argo lieferte er wei-
wurden hauptsächlich Fontane und Kugler, die ande- terhin Beiträge, ebenso Storm, der im Jahr 1856 Pots-
ren Beiträger wurden zum großen Teil unter dem Eti- dam wieder verließ, nachdem er zum Kreisrichter in
kett »anspruchsvolle Mittelmäßigkeit« verortet. Storm Heiligenstadt berufen worden war. 1860 erschien der
fertigte für den Rütli-Kreis »unter geistiger und kör- vierte und letzte Band des »Albums für Kunst und
perlicher Selbstverleugnung« (Storm–Fontane, 54) ei- Dichtung«; von Storm stammten darin die Novellen
ne Abschrift dieser Rezension an; seine Gedichte hat- Wenn die Äpfel reif sind (1857), Auf dem Staatshof
ten den Erwartungen des Rezensenten nicht entspro- (1859) und Späte Rosen (1860) sowie das Gedicht Im
chen. Karl Gutzkow hatte bereits im Dezember 1853 Garten (1859).
in seiner Kolumne »Vom deutschen Parnaß« in den
Unterhaltungen am häuslichen Herd über die »Talen-
Das Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes
te«, die sich in der Argo »zusammengeschart haben«,
geschrieben: »was sie liefern, sind Stubenpflanzen, Friedrich Eggers war seit 1850 Redakteur des Leipziger
schwank- und haltlos, nur zur Freude erblühend ei- Deutschen Kunstblattes, dessen Redaktion im Novem-
nem Auge, das voll Liebe auf ihnen ruhen will. Der ber 1853 nach Berlin verlegt wurde. Gleichzeitig wur-
Charakter fehlt, eine Weltanschauung, eine Stellung de ein unabhängiges Beiblatt ins Leben gerufen, das Li-
zum Licht und zur Wahrheit, die volle pulsirende Sub- teraturblatt des Deutschen Kunstblattes, das nun vor al-
jectivität fehlt.« Beide Rezensionen riefen bei den Rüt- lem auch den ›Argonauten‹ eine Plattform für kritische
lionen Empörung hervor; Kugler etwa schrieb an Aufsätze zur zeitgenössischen Literatur bot – der Ver-
Storm, man solle Gutzkow »ausstopfen und, zur Be- lag warb sogar damit: »Es wird hierbei neben anderen
lehrung der Nachwelt, in ein zoologisches Museum bekannten und geschätzten Schriftstellern namentlich
stellen« (Storm–Fontane, 295). der Kreis von Männern mitwirken, welche sich an dem
Auf einen zweiten Band der Argo wollte sich der eben aufgetretenen belletristischen Jahrbuch ›Argo‹
Dessauer Verleger Katz nicht einlassen (wohl weil das beteiligt hat« (vgl. Berbig/Wülfing 1998, 397).
Jahrbuch weniger einträglich war als erwartet), so dass Der erste Jahrgang enthielt einen Aufsatz Paul Hey-
Fontane Verhandlungen mit Heinrich Schindler auf- ses über Theodor Storm (Nr. 26 (1854) S. 103–104),
nahm, bei dem auch das Deutsche Kunstblatt erschien. Storm selbst steuerte unter anderem einen Essay zu
Sein Coredakteur Kugler äußerte sich jedoch sehr Fontane (Nr. 21 [1855] S. 85–87) sowie Rezensionen
skeptisch über das Zustandekommen eines neuen zu Julius Rodenberg, Klaus Groth und Carl Heinrich
Jahrbuchs. Er wies Fontane auf den Mangel an ver- Preller bei. Das Literaturblatt hatte fortwährend mit fi-
öffentlichenswertem Material hin – »Es ist von dem nanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen und ging 1858
eigentlichen Kern des Rütli nichts vorbereitet« (Berbig schließlich ein.
1986/1, 272) –, weshalb er die Notwendigkeit eines
neuen Bandes zumindest derzeit nicht gegeben sah:
Die Potsdamer Jahre 1854–1856
»Nach der ganzen Sachlage scheint es mir durchaus
nöthig, das Unternehmen für jetzt fallen zu lassen. Ich Der Wechsel nach Preußen war Storm denkbar schwer
kann aber in keiner Weise einsehen, weshalb es uns gefallen, nicht nur wegen der politischen Verhältnisse
verwehrt sein sollte, später mit einer Erneuerung zu und der Notwendigkeit, seine Heimat zu verlassen,
kommen« (273). – Am 24.8.1854 vermeldete Storm sondern auch, weil er Preußen und speziell Berlin als
im Brief an Fontane, er habe nun die »Todesanzeige seinem Wesen sehr fremd empfand. Über die ›Berli-
der Argo« von Schindler vernommen (Storm–Fonta- ner Luft‹ hatte er gleich zu Beginn seines Briefwech-
ne, 91). Erst im Jahr 1857 nahm die Argo ihre Fahrt sels mit Fontane eine Meinungsverschiedenheit. Es sei
wieder auf, nun als »Album für Kunst und Dichtung«, darin »etwas, was meinem Wesen widersteht« – und
herausgegeben von Friedrich Eggers, Franz Kugler zwar, dass man »auch in den gebildeten Kreisen [...]
und dem Maler Theodor Hosemann. Außer dem Na- den Schwerpunkt nicht in die Persönlichkeit, sondern
men hatte sich auch der Charakter der Argo geändert, in Rang, Titel, Orden und dergleichen Nipps legt, für
8 Storm und das literarische Berlin 25

den mir [...] jedes Organ abgeht« (Storm–Fontane, 8). Fontane einmal unumwunden schrieb, Sparsamkeit
Fontane widersprach ihm darin und behauptete viel- (Storm–Fontane, 104). Storms Einladungen nach
mehr, es gebe nirgends auf der Welt eine so wenig ex- Potsdam, seine Bitten um Besuch nahmen bisweilen
klusive Gesellschaft wie in Berlin (16). »Was uns fehlt einen dringlichen Ton an, was an der Häufigkeit der
ist Feinheit, Liebenswürdigkeit und rechte Liebe über- Absagen jedoch nichts änderte. Auf die Frage, weshalb
haupt, doch an Bravheit fehlt es uns nicht« (17). Ohne Storm und die Berliner Freunde nach der ersten Zeit
dass einer von beiden von seiner Meinung abgerückt nicht mehr so recht zueinanderfinden konnten, gibt
wäre, lenkte Storm zumindest dahingehend ein, dass Fontane in seinem Essay »Erinnerungen an Theodor
seine Wertung auf einen augenblicklichen und ober- Storm« (1888) sowie dem Tunnel-Kapitel aus Von
flächlichen Eindruck sowie auf das Satiremagazin Zwanzig bis Dreißig Antwort. So stellt er z. B. fest, dass
Kladderadatsch zurückgehe – das ihm als typisch Ber- Storms Persönlichkeit insbesondere durch von Mer-
linisch vorgekommen sein mag. Die Karikatur (als ckel und Kugler beanstandet wurde (Storm–Fontane,
Darstellungsform) aber sei ihm so zuwider, »daß sie 170); auch hätten die »gelegentlich etwas stark hervor-
mir beinahe körperliches Unwohlsein erregt« (19). tretenden Dichtereitelkeiten« den Geheimrat Kugler
Auch zur Schleswig-Holstein-Frage wurden dort Ka- verdrossen (ebd.). Im Storm-Kapitel in Von Zwanzig
rikaturen veröffentlicht (vgl. Storm–Fontane, 244); bis Dreißig beschreibt Fontane die zustande gekom-
welche Ausgabe des Magazins bzw. welche satirische menen Rütli-Sitzungen in Potsdam als »sehr ange-
Spitze ihn im Besonderen aufbrachte, ist allerdings nehm, lehrreich und fördernd« (Fontane 2014, 233),
nicht belegt. stellt jedoch auch störende Aspekte – »kleine Sonder-
Im Kreis der Berliner Freunde fühlte er sich jedoch barkeiten« (ebd.) Storms – heraus, so etwa dessen Nei-
zunächst freundlich aufgenommen. Aus dem ›lieben gung, »alles aufs Idyll zu stellen« (ebd.), auch die ›ab-
und geehrten Herrn‹ Fontane (so die häufig verwende- weichende‹ Art der Kindererziehung (die Stormschen
te Anredeformel der ersten Briefe) wird schnell »Liebs- Kinder galten unter den Berliner Freunden allgemein
ter Freund« und »Lieber, bester Fontane«. Noch aus als schlecht erzogen) sowie, auf Storms Dichtung bezo-
Husum ergeht im August eine Einladung an Fontane, gen, die zu Schlagworten gewordene »Provinzialsim-
»einen Abstecher zu uns zu machen, und dann nach 8 pelei« (234) und »Husumerei« (225).
Tagen mit mir zurück zu reisen? Sie und Eggers! Sie Fontanes Charakteristik der Person und des Dich-
haben beide Quartier bei uns!« (33). Es war dies nicht ters Theodor Storms übte einen nachhaltigen Einfluss
die letzte von Storm ausgesprochene Einladung, die auf die Storm-Rezeption aus (vgl. Radecke 2011,
man ausschlug. Noch vor seiner endgültigen Ankunft XXXV). Zwar offenkundig bemüht, ein differenziertes
in Potsdam malte er sich »als Lichtpunkte in der grau- Bild von Storm zu zeichnen, hinterlassen diese Texte
en Pots. Existenz« die zahlreichen Besuche der Berli- doch einen unbestimmten Eindruck, so dass man
ner Freunde, zumal Fontanes, aus. Das mitgebrachte Fontanes versöhnlichem Schlusssatz »Dem Menschen
Gästebett »werden Sie dann oft einmal benutzen, aber, trotz Allem, was uns trennte, durch Jahre hin na-
Sonnabend Nachmittag herüberkommen; und dann he gestanden zu haben, zählt zu den glücklichsten Fü-
fahren wir Sonntag mit nach Berlin zurück« (45). In gungen meines Lebens« (Fontane 2014, 201) nicht
der Tat ließ sich die Strecke zwischen Potsdam und recht Glauben schenken kann – wird Storm doch teil-
Berlin in einer halben Stunde Bahnfahrt zurücklegen, weise als geradezu lächerliche Figur dargestellt. In den
doch waren die Besuche der Rütlionen bei Storm nicht Schilderungen einzelner Begebenheiten (etwa des be-
sehr zahlreich und weitaus seltener als von Letzterem rühmten Kranzler-Besuches, 237–239) fehlt die im-
erhofft. An seine Eltern schrieb er im Mai 1854, es fehle mer wieder ausgesprochene Sympathie Fontanes für
ihm »dasselbe hier, was mir lange Zeit in Husum fehlte: Storm; vielmehr scheinen hier die Freundschafts-
ein Mann von gleichen Jahren und gleichen Neigun- bekundungen Fontanes seine ›schonungslose Abrech-
gen. [...] Daran fehlt es mir hier aber ganz, und Berlin nung‹ mit Storm gerade zu legitimieren (Radecke
ist doch fast so gut wie aus der Welt« (GB I, 232). Im- 2011, XXXV).
mer wieder wurden Storms Einladungen nach Pots- Auch in Potsdam nutzte Storm die Möglichkeit, mit
dam ausgeschlagen, so dass Franz Kugler schon im Fe- literarisch Interessierten zusammenzutreffen. Die
bruar 1855 im Rahmen einer solchen Absage an Storm »Litterarische Gesellschaft Potsdam« (»Litteraria«),
schrieb, es schwebe »ein Unstern über dem Tannhäu- ein bürgerlicher Bildungsverein mit dem Ziel der Be-
ser=Rütli« (Berbig 1993, 129). Entschuldigungsgründe förderung von Wissenschaft, Kunst und Literatur (vgl.
waren zumeist Erkrankungen, Zeitnot, aber auch, wie Walther 2002, 223) lud ihn im Frühjahr 1854 ein, aus
26 II Einflüsse und Kontexte

seinen Werken vorzulesen. Im Oktober sprach er dort ken gegebenen Gehaltes suchen« (Berbig 1993, 131).
von dem von ihm verehrten Eduard Mörike und las, Wilhelm von Merckel hingegen lobte gerade Storms
wie er diesem schrieb, dessen Gedicht Der alte Turm- Subjektivität: »[I]ch gehöre nicht zu denen, die den
hahn vor (vgl. Radecke 2010 sowie die Schilderung höchsten Werth in die absolute Objektivität setzen; ei-
des Vorleseabends in Storm–Mörike, 46). ne anmuthige, freie, tiefe Subjektivität ist mir lieber;
Die in der Potsdamer Zeit an Familie und Freunde verräth mir ein sinniges Gemüthswerk einen Men-
geschriebenen Stormschen Briefe zeichnen das Bild schen mit Gemüth, so ist mir’s mehr werth, als alle
eines gesundheitlich angegriffenen, mit enormem Ar- Göthesche Kälte und Glätte, die mit anspruchsvoller
beitspensum und finanziellen Sorgen belasteten und Kunst vornehmer thut, als sie sich den Schein gibt«
von ›Heimwehverstimmung‹ befallenen Mannes, der (Berbig 1993, 44 f.).
im Dezember 1854 an seine Schwiegereltern schrieb, Dass Storm mit der Novelle Auf dem Staatshof, die
er werde sich in Potsdam niemals heimisch fühlen er bereits in Heiligenstadt verfasste, der »erzählerische
(Storm–E.Esmarch, 49). Auch seine dichterische Pro- Durchbruch« (Eversberg 1992, S. 72) gelang, sieht
duktion, so klagte er seinem Vater, sei durch das Leben Eversberg auch als Ergebnis einer Entwicklung, als
in der Fremde beeinträchtigt: »Wäre ich in der Heimat Produkt einer »Lehrzeit« (ebd.), in der die Berliner
geblieben, so würde mir mein Talent eine Quelle nicht Freunde aus dem »Rütli«-Kreis durch konstruktive
allein innerlichen, sondern auch äußerlichen Wohl- Kritik Einfluss auf die Entwicklung des Schriftstellers
seins geworden sein«. Zuhause hätte er »manches ge- Storm genommen haben. Eine umfassende Unter-
schrieben«, dort in Potsdam »wird der kleine Strom suchung aber, die unter Auswertung aller zugäng-
wohl bald versiegen« (GB I, 299). »Mir ist aber, seit ich lichen Quellen und Briefzeugnisse die Entwicklung
in der Fremde bin, als sei das rechte warme Produc- von Storms poetischem Selbstverständnis in den Pots-
tionsvermögen in mir zerstört« (Storm–Mörike, 54). damer Jahren in den Blick nimmt sowie danach fragt,
Trotz aller Schwierigkeiten und dem wiederkehren- inwiefern die Verpflanzung in eine fremde und unge-
den Zweifel an seiner Schaffenskraft sind in den Pots- liebte Umgebung bzw. ›literarische Region‹ (vgl. Ber-
damer Jahren die kurzen Prosatexte Im Sonnenschein, big 1994, 45) auf seinen Produktionsprozess ein-
Angelica und Wenn die Äpfel reif sind entstanden. gewirkt hat, steht noch aus.
Wie im Falle von Ein grünes Blatt, das zwischen
Storm und dem Rütli-Kreis einen »im Detail sehr Literatur
komplexen Streit« (Eversberg 1992, 69) über poetolo- [Anon]: [Literatur und Kunst]. In: Deutsches Museum
gische Fragen auslöste, sind auch zu den anderen in Nr. 4,1 (1854), 148 f.
Berbig, Roland: Franz Kugler: Briefe an Theodor Fontane.
dieser Zeit entstandenen Texten verschiedene Aus-
Eine Auswahl aus den Jahren 1853 und 1854. Eingeleitet,
einandersetzungen brieflicher Natur überliefert, die in herausgegeben und kommentiert von Roland Berbig. In:
den Briefwechseln mit Fontane, Heyse, Mörike, Kug- Fontane Blätter 41 (1986/1), 255–286.
ler und Eggers nachzuverfolgen sind. Berbig, Roland: Ascania oder Argo? Zur Geschichte des Rüt-
Paul Heyse antwortete Storm, der ihm Im Sonnen- li 1852–1854 und der Zusammenarbeit von Theodor Fon-
schein zugeschickt hatte: »ein erstes und ein letztes Ca- tane und Franz Kugler. In: Theodor Fontane im literari-
schen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz
pitel, beide aufs Höchste reizend und durch ahnungs- vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Berlin 1987, 107–
volle Fäden verknüpft – aber wo zum Teufel bleibt der 133.
Roman?« (Storm–Heyse I, 21 f.). Hinsichtlich des an- Berbig, Roland: »... wie gern in deiner Hand / Ich dieses
gesprochenen ›mangelnden Wirklichkeitsgehaltes‹ Theilchen meiner Seele lasse.« Theodor Storm bei Franz
(vgl. Eversberg 1992, 70) erwiderte Storm, wenn er Kugler und im Rütli: Poet und exilierter Jurist. In: Fontane
Blätter 53 (1992), 12–29.
könne, werde er »noch die Perspektive auf einen kon-
Berbig, Roland: Der Unstern über dem Tannhäuser-Rütli.
kreten Vorfall hineindichten; mehr nicht. In meine Franz Kuglers Briefe an Theodor Storm. In: STSG 42
Geschichten [...] gehört nicht mehr« (Storm–Heyse, (1993), 115–139.
23). Als er den ›novellenartigen‹ Text Angelica an Berbig, Roland: Ausland, Exil oder Weltgewinn? Zu Theo-
Franz Kugler zur Begutachtung sandte, nahm dieser dor Storms Wechsel nach Preußen 1852/1853. In: STSG
die Gelegenheit wahr, Storm auf eine Gefahr hin- 42 (1993), 42–47.
Berbig, Roland: Theodor Fontane und das »Rütli« als Beiträ-
zuweisen, die Kugler generell in Storms Prosa sah: Er ger des Literarischen Centralblattes für Deutschland. Mit
laufe Gefahr, »sich in das Subjective zu verlieren« und einem unveröffentlichten Brief an Friedrich Zarncke und
solle daher dem »Subjectivismus eine recht herzhafte einer bislang unbekannten Rezension aus dem Jahr 1853.
Objectivität entgegenstellen« und »Stoffe eines star- In: Fontane Blätter 62 (1996), 5–26.
8 Storm und das literarische Berlin 27

Berbig, Roland/Wülfing, Wulf: Rütli [II] [Berlin]. In: Wulf Fricke, Hermann: Die Ellora und das Rytly. Zwei Seitentrie-
Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr (Hg.): Handbuch litera- be des Tunnels über der Spree. In: Jahrbuch für branden-
risch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. burgische Landesgeschichte 7 (1956), 19–24.
Stuttgart/Weimar 1998, 394–406. Fricke, Hermann: Die »Argonauten« von Berlin. Zur Ge-
Eversberg, Gerd: Die Bedeutung Theodor Fontanes und sei- schichte eines literarischen Unternehmens. In: Der Bär
nes Kreises für die Entwicklung der Stormschen Erzähl- von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins
kunst. In: Fontane Blätter 54 (1992), 62–74. 13 (1964), 27–49.
Fontane–Heyse: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fonta- Goldammer, Peter: »Das Ungeheuer Berlin«. Storm in der
ne und Paul Heyse. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin/Weimar preußischen und in der deutschen Hauptstadt. In: Storm-
1972. Blätter aus Heiligenstadt 9 (2003), 4–33.
Fontane, Theodor: Autobiographisches Schriften. Bd. III/1: [Gutzkow, Karl]: Vom deutschen Parnaß. I. In: Unterhaltun-
Christian Friedrich Scherenberg, Tunnel-Protokolle und gen am häuslichen Herd. Leipzig. Bd. 2, Nr. 11, [10. De-
Jahresberichte, Autobiographische Aufzeichnungen und zember] 1853, 174–176.
Dokumente. Hg. v. Gotthard Erler u. a. Berlin 1982. Radecke, Gabriele: »Heimisch werde ich mich hier niemals
Fontane–Eggers: Theodor Fontane und Friedrich Eggers. fühlen«. Theodor Storm in Potsdam (2010), http://www.
Der Briefwechsel. Mit Fontanes Briefen an Karl Eggers und literaturport.de/literatouren/brandenburg/literatour/ga-
der Korrespondenz von Friedrich Eggers mit Emilie Fon- briele-radecke-heimisch-werde-ich-mich-hier-niemals-
tane. Hg. v. Roland Berbig. Berlin/New York 1997. fuehlen-theodor-storm-in-potsdam/ (08.03.2015).
Fontane–Lepel I: Theodor Fontane – Bernhard von Lepel. Radecke, Gabriele: Einführung. In: Storm – Fontane, XV–
Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Gabriele Ra- XXXVI.
decke. Berlin 2006. Walther, Peter (Hg.): Musen und Grazien in der Mark. Bd. 2:
Fontane, Theodor: Erinnerungen an Theodor Storm. In: Ein historisches Schriftstellerlexikon. Berlin 2002.
Storm–Fontane, 167–183. Wülfing, Wulf: Tunnel über der Spree [Berlin]. In: Wulf
Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographi- Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr (Hg.): Handbuch litera-
sches. Hg. v. d. Theodor Fontane-Arbeitsstelle. Berlin risch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933.
2014. (= Große Brandenburger Ausgabe – Das autobio- Stuttgart/Weimar 1998, S. 430–455.
graphische Werk, Bd. 3).
Debora Helmer
28 II Einflüsse und Kontexte

9 Storm als Jurist früher ablegte, führte zu einiger Unzufriedenheit sei-


nes Vaters, zumal Storm während des Studiums auch
Theodor Storm war, wenn man sein Jurastudium ein- beträchtliche Schulden machte. Darüber, welchen Ei-
schließt, 43 Jahre lang als Jurist tätig. Er war nicht fer der Student Storm aufbrachte und für welche
mehr als ein Durchschnittsjurist; es gibt von ihm kei- Rechtsgebiete er womöglich besonderes Interesse auf-
ne aufsehenerregenden Entscheidungen oder rechts- brachte, gibt es keine Zeugnisse. Sicher dürfte sein,
wissenschaftliche Veröffentlichungen. Oft haderte er dass er das schleswig-holsteinsche Recht bei dem für
mit dem ihm lästigen juristischen Beruf; als Existenz- dieses Rechtsgebiet berühmten Rechtsgelehrten Ni-
grundlage für sich und seine große Familie blieb er kolaus Falck (1784–1850) gehört hat, ferner das dä-
aber auf ihn zeit seines Lebens angewiesen, denn trotz nische Recht bei Christian Paulsen und das Römische
seiner beachtlichen Produktivität und seines jeden- Recht bei Georg Christian Burchardi (vgl. von Fisenne
falls in späteren Jahren weitverbreiteten Dichterrufes 1959, 10). Nach einem Studienjahr in Berlin beendete
blieben seine Honorare auch in der Summierung be- Storm seine Ausbildung im Herbst 1842 dann wieder
scheiden (vgl. Mückenberger 2001, 212–215.). Storms in Kiel. Die juristische Prüfung, das »Amtsexamen«,
Leben ist von mehreren schicksalhaften Wechseln ge- fand vor dem Königlich Schleswig-Holstein-Lauen-
prägt, die ihn in ganz unterschiedliche juristische Po- burgischem Oberappellationsgericht in Kiel statt. Die
sitionen führten. Nur seinem Dichterruhm ist es zu amtlichen Protokolle über den Ablauf der Prüfung
verdanken, dass eine große Fülle von Zeugnissen auch einschließlich der Prüfungsergebnisse sind noch vor-
seines Juristenlebens erhalten geblieben ist. handen. Demnach wurden die Examinanden an drei
Nach dem Besuch der Husumer Gelehrtenschule Tagen, nämlich am 3., 4. und 5.10.1842, in schriftli-
und einem Abschlussschuljahr am Lübecker Katha- chen Aufsichtsarbeiten in Rechtsgeschichte und Her-
rineum schrieb sich Theodor Storm Ostern 1837 an meneutik, im Römischen Recht, im Kriminalrecht, im
der juristischen Fakultät der Landesuniversität Kiel Kirchenrecht, im Zivilprozess, im Kriminalprozess,
ein. Zu seiner Berufswahl gibt es eine Schlüsselaus- im dänischen und im vaterländischen Privatrecht so-
kunft: 1873 hatte der Wiener Literaturprofessor Emil wie in Naturrecht und in Geschichte der Philosophie
Kuh sich mit einer Reihe biografischer Fragen an geprüft. Außerdem hatten die Prüflinge drei schriftli-
Storm gewandt, um essayistisch über den Dichter zu che Arbeiten zu erbringen, nämlich eine Relation an-
arbeiten. In seinem ausführlichen Lebensabriss be- hand eines Aktenstückes sowie zwei Abhandlungen
merkte Storm am Rande: »Weshalb ich mich der Juris- zu allgemeinen Rechtsbereichen, davon eine in deut-
terei ergab? Es ist das Studium, das man ohne beson- scher und eine in lateinischer Sprache. Storm bearbei-
dere Neigung studieren kann; auch war mein Vater ja tete die Themen »Zur Begründung der Notwehr« (in
Jurist. Da es die Wissenschaft des gesunden Men- Deutsch) und »De testamento pestis tempore condi-
schenverstandes ist, so wurde ich wohl leidlich mit to« (in Lateinisch). Die mündliche Prüfung fand am
meinem Richteramte fertig. [...] Mein richterlicher 15. und 17.10.1842 statt. Die achtköpfige Prüfungs-
und mein poetischer Beruf sind meistens in gutem kommission bestand nicht aus Professoren, sondern
Einvernehmen gewesen, ja ich habe es sogar oft als Er- aus Richtern. Es handelte sich damals in Schleswig-
frischung empfunden, aus der Welt der Phantasie in Holstein-Lauenburg um das Modell einer einstufigen
die praktische des reinen Verstandes einzukehren und Juristenausbildung – im Gegensatz zu dem dreistufi-
umgekehrt« (GB 2, 10). Das Vorbild seines Vaters, der gen Modell, welches in Preußen galt. Über die Breite
sich aus kleinen Verhältnissen zu einem tüchtigen Ad- des Prüfungsstoffes und über die Vielzahl der schrift-
vokaten entwickelt hatte, der in Husum und weit über lich und mündlich zu bewältigenden Aufgaben muss
Husum hinaus allseitige Achtung genoss, mag für den man staunen. Storm und seine Kommilitonen wurden
Sohn bei der Berufswahl lockend gewesen sein. Aber mit durchaus beachtlichen Anforderungen konfron-
von einem »gutem Einvernehmen« zwischen Beruf tiert; die Gesamtheit der in dem Prüfungsprotokoll
und Dichterleben durfte nun wirklich nicht die Rede ausgewiesenen Prüfungsergebnisse lässt allerdings auf
sein; hier drückt sich ein allgemeiner Zug Storms aus, eine äußerst großzügige Haltung der Prüfer schließen
nach außen glatte und erfüllende, geschönte Bilder zu – keiner der 14 Examenskandidaten ist durchgefallen.
senden, mögen die Dinge in der Familie, im Beruf Der Kandidat Storm erreichte Einzelergebnisse, die
oder sonst noch so schwierig sein. sich recht gut ausnehmen: Seine Noten schwankten
Storm studierte 5 1/2 Jahre lang – nach heutiger zwischen »sehr gut« (Zivilprozess/schriftlich, Deut-
Rechnung 11 Semester lang. Dass er das Examen nicht sches und Vaterländisches Privatrecht/schriftlich)

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_9, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
9 Storm als Jurist 29

und »zum Theil gut« (Naturrecht, Geschichte der Phi- bereiche hatten Strandrechte. In Teilen Schleswigs galt
losophie/mündlich); seine schriftlichen Arbeiten wa- das Lübsche Recht, das Stadtrecht Lübecks. Dazu ka-
ren durchweg etwas besser beurteilt als die mündli- men Gesetze und Verordnungen des dänischen Kö-
chen Leistungen. Mit bestandenem Examen wurde al- nigs, aber auch der einheimischen Landesherren. Man
len Kandidaten der »zweite Charakter«, und das hieß wird annehmen dürfen, dass in Anbetracht der chao-
»bestanden« beigelegt, vier Kandidaten dabei mit tischen Rechtslage vor Gericht meist einfach der ge-
»sehr rühmlicher Auszeichnung«, weitere 6 »mit Aus- sunde Menschenverstand entschied, zumal die erst-
zeichnung«; 4 Kandidaten, darunter Storm, blieben instanzlichen Gerichte noch überwiegend Laienge-
ohne belobigendes Prädikat. (Die Protokolle aller richte waren.
Prüfungen sind immer noch einzusehen.) Vater und Sohn Storm praktizierten nicht zusam-
Im Herbst nahm der inzwischen 25 Jahre alte men, sondern in getrennten Büros; freilich schob der
Theodor Storm in seiner Vaterstadt Husum seine an- Vater seinem Sohn aber dieses oder jenes Mandat zu.
waltliche Tätigkeit auf, und zwar zunächst in der In Storms Briefen an seine Braut Constanze Esmarch
Kanzlei und unter dem Namen seines Vaters. Anfang oder an Theodor Mommsen klingt durchaus gelegent-
1843 wurde ihm vom dänischen König, der zugleich lich Stolz auf kleine berufliche Erfolge an. Aber seiner
Landesherr in Schleswig und Holstein war, die Zulas- Braut schrieb er auch: »Wir lieben beide das gebildete
sung als Advokat verliehen. Zuvor hatte er den Nach- Wesen um uns, für alles Rohe soll mein Comtoir den
weis der Beherrschung der dänischen Sprache zu er- Blitzableiter hergeben; zu Dir, in unser Familienzim-
bringen; das Zeugnis hierüber erhielt er von seinem mer, soll es nicht dringen« (BB 2, 248). Man darf die-
Kieler Professor Falck. Am 23. und 30. 4. sowie am ser markanten Briefstelle getrost entnehmen, dass im
7.5.1843 fand sich im Husumer Wochenblatt dann Bewusstsein Storms »das Rohe« des Juristenberufes
diese Anzeige: »Meine Wohnung ist bei dem Agenten überhaupt nicht zu seinem ganzen sonstigen verfei-
Schmidt in der Groß-Straße. Husum, den 20. April nerten Lebensentwurf passte.
1843. Woldsen Storm, Advokat«. »Wohnung« bedeu- Am 23.11.1853 leistete Theodor Storm vor dem
tet hier auch Kanzlei; Advokaten, aber auch öffent- Kammergericht in Berlin den Amtseid als preußischer
liche Beamte hatten ihre Praxisräume damals inner- Gerichtsassessor (Personalakten Berlin, Blatt 5). Zu-
halb der eigenen Wohnung. Und Woldsen? Storms vor, im Juni 1852, war ihm, ebenso wie 33 anderen in
vollständiger Taufname war Hans Theodor Woldsen. Schleswig ansässigen Advokaten, von dem dänischen
Christian Albrecht Woldsen, ein Urahn Storms, hatte Minister für Schleswig-Holstein die Bestallung entzo-
es zu bedeutendem kaufmännischen Ansehen ge- gen worden. Storm war an sich unpolitisch, hatte sich
bracht, und Woldsen war Storm aus Gründen der Fa- aber – ›vaterländisch gesonnen‹ – unverhohlen gegen
milientradition als dritter Vorname mitgegeben wor- dänische Einflüsse in seiner Heimat gesträubt.
den. Der junge Storm hatte, soweit er anwaltlich auf- Nun war er gezwungen, sich eine Existenz außer-
trat, seinen eigentlichen Vornamen Theodor fallen halb Schleswig-Holsteins zu suchen. Nach mehreren
lassen und spielte den Vornamen Woldsen aus, der in vergeblichen Bewerbungen suchte er um Aufnahme
der Husumer Gesellschaft und Geschäftswelt einen in den preußischen Justizdienst nach. Nach Wochen
beachtlichen Ruf genoss und der ihm für die Aufnah- wurde von dort angefragt, ob er bereit sei, für mindes-
me seiner Advokatur nützlich schien. tens sechs Monate in einer Art verkürzter Referendar-
Das Recht, mit dem es Theodor Storm in den klei- zeit die für den Justizbeamtendienst erforderlichen
nen Herzogtümern Schleswig und Holstein zu tun Kenntnisse zu erwerben – offenbar um die Unter-
hatte, war unvorstellbar zersplittert. Dort galt – und schiede der Juristenausbildung auszugleichen. Denn
dies weiter bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Ge- Theodor Storm hatte ja nur eine Universitätsausbil-
setzbuches im Jahre 1900 – das Jütsche Lov, ein 1421 dung und ein »Amtsexamen«, aber keine praktisch-
von dem Dänenkönig Waldemar II. erlassenes, mithin forensischen Kenntnisse. Ein preußischer Gerichts-
sehr altes Gesetz, das auf germanische und kirchliche assessor hingegen hatte nach abgeschlossenem Hoch-
Einflüsse zurückging. Da es nicht mehr zeitgemäß schulstudium ein erstes Staatsexamen abzulegen, das
war, mussten umfänglich Hilfsrechte, meist das Rö- zum »Auscultator« führte, nach 1 1/2 jähriger Ausbil-
mische Recht oder modernes dänisches Recht heran- dung bei einem Gericht ein zweites, mit dem er »Refe-
gezogen werden, und allenthalben spross das unter- rendar« wurde, und nach weiteren 2 1/2 Jahren prakti-
schiedlichste Gewohnheitsrecht. Fast alle Städte der scher Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft, der Rechts-
Herzogtümer hatten ihre eigenen Stadtrechte, Insel- anwaltschaft und bei verschiedenen Gerichtszweigen
30 II Einflüsse und Kontexte

die dritte, die Große Staatsprüfung, die zum »Asses- In dem Bagatelldezernat waren wöchentlich zwei Sit-
sor« führte. Storm musste diese Probezeit akzeptieren, zungstage mit jeweils etwa 20 Sachen erforderlich. Im
die dann im Ergebnis fast drei qualvolle Jahre der Laufe der Zeit ergab es sich, dass Storm durchschnitt-
Überforderung für ihn bedeuteten. Er wurde am lich sechs Stunden täglich für die Dienstgeschäfte be-
Kreisgericht Potsdam beschäftigt. Von einem Tag auf nötigte. Doch gab es auch hier Zeiten, wo ihm die Ar-
den anderen hatte er mit einem fremden höchstkom- beit über den Kopf wuchs und wo er sich »alle 14 Tage
plexen Rechtssystem fertigwerden, und er musste von einen Vormittag zur Ausübung der Kunst förmlich er-
seinem gemütlichen heimatlichen Arbeitstempo um- kämpfen« musste (Storm–E.Esmarch, 84). Und auch
schalten auf das typisch preußische Hochleistungs- während der Heiligenstädter Jahre gab es bei ihm
niveau, auf dem auch für erfahrene Richter 12 bis 15 mehrfach Ausfälle durch Krankheit und Klagen wie:
Stunden täglicher Arbeit durchaus normal waren. »Ich fühle jetzt recht, welchen Abscheu ich vor meinen
Storm hatte kein Stimmrecht und bezog über lange amtlichen Geschäften habe; [...]. Aber nicht weg-
Zeit für sich und seine inzwischen fünfköpfige Familie zuleugnen ist, daß diese mir fremdartige Beschäfti-
kein Gehalt. »[...] ich bin in Verzweiflung, es geht Alles gung doch mein ganzes Leben verdirbt« (GB 1, 340).
drunter u. drüber« (Storm–E.Esmarch, 43) – das blieb Immerhin fand er Muse für Dichtungen und verfasste
nicht sein einziger Notruf dieser Zeit. Auf Belastun- 9 Erzählungen bzw. Novellen und gründete auch wie-
gen und dabei vor allem auf berufliche Belastungen der einen Gesangsverein. Über Storms damalige Tätig-
hat Storm lebenslang mit nervlicher Überreiztheit keit als Bagatellrichter gibt es nur noch einen einzigen,
und mit Krankheit reagiert. So fiel er auch in Potsdam leider auch unergiebigen Aktenbeleg (Akten Raub ge-
immer wieder krankheitshalber aus. Letzten Endes er- gen Magistrat Heiligenstadt, Archivnummer XXIX,
reichte er gleichwohl, auch dank einer zwar deutliche 28). Das Schwurgericht in Heiligenstadt trat viermal
Schwächen aufzeigenden, aber im Ganzen doch recht im Jahr zusammen; es verhandelte stets unter dem
wohlwollenden dienstlichen Beurteilung seines Aus- Vorsitz des Direktors Hentrich, und Storm war einer
bilders, des Kreisgerichtspräsidenten Karl Gustav von von vier Beisitzern; außerdem wirkten 12 Geschwore-
Goßler, am 30.6.1856 seine Ernennung zum Kreis- ne mit. Storm war an sich an Strafsachen stärker inte-
richter in Heiligenstadt (Bestallungsurkunde vom ressiert als an Zivilsachen, beklagte sich aber oft und
30.60.1856, zur Zeit als Leihgabe im StA). heftig über die Belastungen, die sich aus der Mitwir-
Als Storm den Richterdienst in Heiligenstadt antrat, kung an Schwurgerichten für ihn ergaben, denn es
war er 42 Jahre alt. Er war seit zehn Jahren verheiratet wurde dort von 9 Uhr morgens an »dank unserm alten,
und hatte vier Kinder. Seine Besoldung als preußischer umständlichen Direktor« (GB 1, 366) oft bis spät in
Richter betrug nur 500 Reichstaler jährlich; zur De- den Abend hinein verhandelt. Preußen hatte die
ckung seines denkbar sparsamen Familienhaushaltes Schwurgerichte für schwere und schwerste Verbrechen
blieb Storm wie schon vorher auch zukünftig auf Zu- nach dem Vorbild Frankreichs so gestaltet, dass die
schüsse seines Vaters angewiesen. Das Kreisgericht Geschworenen über die Schuldfrage zu entscheiden
hatte seinen Sitz in dem alten Residenzschloss. Sein hatten. Die Berufsrichter waren auf die Entscheidung
Bezirk umfasste Stadt und Kreis Heiligenstadt, ferner der Rechtsfolge, also Freispruch oder Zumessung einer
Teile der Kreise Mühlhausen und Worbis sowie Din- Strafe, beschränkt; sie hatten diese Neuerung, die ih-
gelstädt mit insgesamt rund 50.000 Eingesessenen. nen die Kompetenz zur Entscheidung der Schuldfrage
Das Gericht hatte 11 richterliche Mitglieder, nämlich entzog, als Zurücksetzung empfunden. Neben ande-
einen Direktor und 10 Kreisgerichtsräte, Kreisrichter ren Urteilen war Storm an zwei Todesurteilen beteiligt,
bzw. Gerichtsassessoren. Der Direktor, der Geheime ohne dass sich feststellen ließ, dass ihn diese Entschei-
Justizrat Franz Christian Wilhelm Christoph Hen- dungen irgendwie belastet hätten. »Der Mörder hat
trich, bedachte den neuen Kollegen Storm sogleich mit sein Recht«, so kühl berichtete er seinem Freunde Lud-
einem übergroßen Geschäftsbereich, der ihn als Rich- wig Pietsch über eine Verurteilung zum Tode; dem
ter voll auslastete. Theodor Storm war zuständig für Freunde hatte er tags zuvor schon geschrieben: »Mor-
Bagatellsachen und für einen Anteil an Strafsachen; gen kommt ein scheußlicher Raubmord vor, der dicht
außerdem war er Mitglied des Schwurgerichts. Bei den in unserem Stadtwald von einem jungen Bengel an ei-
Bagatellsachen ging es um Zivilansprüche mit einem nem ihm befreundeten Mädchen verübt ist, die mit
Gegenstandswert von nicht mehr als 50 Talern sowie auswärts erworbenem Geld nach ihrem Heimatdorf
um Fälle von Beleidigung und leichtere Körperverlet- wanderte und bei seinen Eltern übernachtet hatte«
zung, wie sie heute dem Privatklagerecht zugehören. (Storm–Pietsch, 73).
9 Storm als Jurist 31

Einen erneuten Umbruch im Leben Storms bedeu- Novellen, dass er hin und wieder dienstlich mit unge-
tete das Jahr 1864. Die dänische Vorherrschaft in wöhnlichen Lebensvorfällen in Berührung gekom-
Schleswig war beendet, die dänischen Beamten dort men ist, zumeist auch an Ort und Stelle und so, wie es
waren ihrer Ämter enthoben. Theodor Storm konnte der Polizei ergeht, die am Ort der frischen Tat ermit-
mit seiner Familie in die Heimat, nach Husum zu- telt. Die Jahre 1864 bis 1867 als Landvogt waren sicher
rückkehren. Im März 1864 übernahm er dort das Amt die erfülltesten in Storms Berufslaufbahn, wenn ihn
des Landvogtes; er ließ dafür sein Richteramt in Hei- auch 1865 der Tod seiner Ehefrau Constanze tief traf.
ligenstadt im Stich, ohne den Bescheid des preußi- 1867 schloss sich ein Kreis. Theodor Storm kehrte
schen Justizministers über sein Entlassungsgesuch in den preußischen Justizdienst zurück. Mit der An-
auch nur abzuwarten. Das Landvogtsamt war eine an- nexion der Herzogtümer Schleswig und Holstein
gesehene und wohldotierte, von manchen auch ge- durch Preußen traten markante Strukturreformen
fürchtete Amtsstellung mit besonders weitreichenden ein. Im Sinne des Gebotes der Trennung der staatli-
Kompetenzen; denn der Landvogt war in einer Person chen Gewalten, wie es fortschrittliche Kräfte auch in
Polizeichef, Verwaltungsspitze und Gerichtsherr. Er der Nordregion schon länger gefordert hatten, wurde
übte sein Amt in einer Stube seines Wohnhauses aus, das gesamte traditionelle Vogtswesen gänzlich besei-
hatte einen Schreiber zur Seite, aber niemand konnte tigt. Storm wurde vom Amt des Landvogtes entbun-
in seine Amtsführung hineinreden. Sein Amtsbereich den und vor die Frage gestellt, ob er in der Verwaltung
war das Umfeld der Stadt Husum, während für die als Landrat oder als Richter im Justizdienst weiter-
Stadt selbst der Bürgermeister dort Gericht, Polizei arbeiten wolle. Er entschied sich für den Richterberuf.
und Verwaltung verkörperte. Im Schleswig-Holsteini- Im Storm-Haus in Husum findet sich unter Glas ein
schen Landesarchiv in Schleswig werden zwei Folian- handschriftlich abgefasstes Dokument: »Im Namen
ten mit der Aufschrift »Gerichtsprotokolle der Land- des Königs. Der Landvogt Hans Theodor Woldsen
vogtei zu Husum« verwahrt, die einen großen Teil der Storm in Husum wird hierdurch zum Amtsrichter er-
zivilrechtlichen Arbeit Storms dokumentieren. Man nannt. Es wird erwartet, dass derselbe Seiner Majestät
darf sich den Landvogt Theodor Storm nicht als einen dem König und dem gesamten königlichen Hause fer-
volkstümlichen Dorfrichter vorstellen. Die Aufzeich- ner treu und gehorsam sein, die ihm obliegenden
nungen zeigen überwiegend einfache, griffige, zum Amtspflichten gewissenhaft erfüllen und sich stets so
Teil richtig farbige Fälle. Da ist bei einem Tanzfest im betragen werde, wie es sich für einen königlichen Be-
Hause der Klägerin ein Tuch der Beklagten abhanden amten geziemt. Urkundlich ausgefertigt unter dem
gekommen; die Klägerin wehrt sich »wegen Verbalun- Königl. Insiegel. Berlin, am 9. Oktober 1867, der Jus-
jurie« gegen die Behauptung der Beklagten, sie habe tizminister Gr. z. Lippe«, so heißt es dort. Die Anfor-
das Tuch gestohlen (Gerichtsprotokolle Bd. I, Bl. derung »Seiner Majestät dem König und dem gesam-
107 f.). Da geht es um Schadensersatz für eine ver- ten königlichen Hause treu und gehorsam zu sein«,
endete Gans, die von dem Beklagten auf einer Weide klingt für heutige Ohren verfänglich; denn wo bleibt
»lahm getrieben und liegen geblieben war« (ebd., Bl. da die richterliche Unabhängigkeit? Tatsächlich je-
109 ff.) Da klagte ein Husumer Fuhrunternehmer auf doch gibt es keinen Hinweis darauf, dass Storms
den vollen vereinbarten Fuhrlohn, der mit seinem Ge- Spruchpraxis je in irgendeiner Form ›von oben her‹
spann in Schleswig Waren aufnehmen und nach Kol- beeinflusst worden wäre. Husum bekam nun ein
ding weiterbefördern sollte, der aber, weil er dort Amtsgericht, das in den ersten Jahren in verschiede-
nichts zu transportieren vorfand, sogleich von Schles- nen Wohnhäusern, ab 1872 aber in dem prächtigen
wig zurückgefahren war (ebd., Bl. 172 f.). Gehäuft geht Husumer Schloss residierte. »[...] ein lieblicheres Zim-
es um Klagen auf Unterhalt für ein uneheliches Kind mer als meins dort ist fast undenkbar [...]. Wenn ich
(z. B. Gerichtsprotokolle Bd.  II, Bl.  143 ff.). Die Be- nur andre Sachen darin treiben könnte«, schrieb
handlung der Fälle aber atmet einen eigentümlichen Storm dem Sohn Ernst (Storm–E.Storm, 134). Neben
Hauch bürgerferner Amtlichkeit. Es zeigt sich, dass Storm gab es einen zweiten jüngeren Richter. Den
Storm die starke, die formstrenge Prägung des preußi- zwei Richtern waren anfänglich in zwei Abteilungen
schen Justizdienstes nie wieder abzuschütteln ver- örtlich abgesteckte umfassende Zuständigkeiten zuge-
mochte. Der strafrechtliche Tätigkeitsbereich Storms wiesen. Später wies Storm seinem Kollegen die gesam-
wurde nicht in den Folianten, sondern in Einzelakten te streitige Gerichtsbarkeit und sich selbst die gesamte
aufgezeichnet, die nicht mehr existieren. Doch zeigen freiwillige Gerichtsbarkeit zu, das heißt: Vormund-
einige seiner Briefe und ansatzweise auch einige seiner schafts-, Register-, Nachlass- und Konkurs- und Ver-
32 II Einflüsse und Kontexte

gleichssachen. Dieser Geschäftsbereich belastete ihn gegen Magistrat Heiligenstadt. Stadtarchiv Heiligenstadt,
weniger, da in diesem keine Sitzungen anfielen. Mit Archivnummer XXIX, 28.
steigendem Dienstalter wurde Storm zum Oberamts- Personalakten des Kreisgerichts Potsdam und des Kammer-
gerichts Berlin den Gerichtsassessor bzw. den Kreisrichter
richter und schließlich zum Amtsgerichtsrat ernannt. Storm betreffend (3 Aktenstücke). Landesarchiv Schles-
Im Alter von 63 Jahren erreichte Theodor Storm wig-Holstein, Signatur Abt. 354, Nr. 493.
1880 seine Pensionierung. Dem erschöpften und viel- Personalakten des Oberlandesgerichts Kiel betreffend Amts-
fach durch Krankheit ausgefallenen Storm hatte ein gerichtsrat Storm. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Sig-
Amtsarzt aufgrund von zwei Untersuchungen am natur Abt. 354, Nr. 110.
Gerichtsprotokolle der Husumer Landvogtei. Landesarchiv
9. September 1879 bzw. am 5. Januar 1880 bescheinigt:
Schleswig-Holstein, Signatur Abt. 163 Nr. 272 und 273.
»Th. Storm, welcher seit Jahren an krankhafter all-
gemeiner Nervenreizbarkeit leidet, wird nach seinen
Angaben in den letzten Monaten, wie von krankhaf- Literatur
ten Geruchsempfindungen, so auch fortwährend von Bollenbeck, Georg: Theodor Storm. Eine Biographie. Frank-
Kopfschmerzen geplagt, welche sich nach jeder geisti- furt a. M. 1988.
Erdmann-Degenhardt, Antje: Zwischen Dannebrog und
gen Erregung, namentlich auch nach den täglichen Preußenadler – der schleswig-holsteinische Jurist Theo-
Berufsarbeiten verschlimmern [...] als dauernd un- dor Storm. In: Neue Juristische Wochenschrift 1989, 337–
fähig zur Erfüllung seiner Amtspflichten anzusehen 343.
ist« (Personalakten Kiel, Bl. 13 ff.). Fisenne, Otto von: Storm als Jurist. In: STSG 8 (1959), 9–47.
Seine letzten acht Lebensjahre verbrachte Storm in Laage, Karl Ernst: Theodor Storm – Leben und Werk. Husum
61993.
dem ländlichen Hademarschen in einem nach eige-
Mückenberger, Heiner: Theodor Storm – Dichter und Richter.
nen Plänen gestalteten Haus und Garten. Während all Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung. Baden-Ba-
dieser Jahre kam er mit keinem einzigen Wort auf sei- den 2001.
nen juristischen Beruf zurück. Den Abschluss des Ranft, Gerhard: Theodor Storm als Jurist. In: Deutsche Rich-
amtlich dokumentierten beruflichen Weges des Juris- terzeitung 12 (1967), 410–412.
ten Theodor Storm bildet eine Entscheidung über das Schütze, Paul: Theodor Storm. Seine Leben und seine Dich-
tung. Berlin 1907.
Witwengeld. Durch ein Schreiben der Königlich Preu-
Storm, Gertrud: Theodor Storm – Ein Bild seines Lebens. Ber-
ßischen Regierung vom 5.9.1888 an den Präsidenten lin 21912/1913.
des Oberlandesgerichts Kiel wurde Storms Witwe Do- Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
rothea Charlotte Storm geb. Jensen, »ein jährliches Bremen 1955.
Wittwengeld von 1.161 M bewilligt« (Personalakten Vinçon, Hartmut: Theodor Storm – mit Selbstzeugnissen und
Kiel, Bl. 61). Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 141997.
Wohlhaupter, Eugen: Dichterjuristen, Bd. III, Hg. v. Horst G.
Seifert. Tübingen 1957.
Urkunden
Protokolle der Prüfungen der Rechtskandidaten der Univer- Heiner Mückenberger
sität Kiel im Herbst 1842. Landesarchiv Schleswig-Hol-
stein, Schleswig, Signatur Abt. 65.2, Nr. 182. Akten Raub
10 Storms Politik 33

10 Storms Politik ments, aber sie greift sehr bald auch aus in politisch-
moralische Grundsatzerklärungen, wie Storm sie
In vieler Hinsicht ist Storm ein typischer Repräsentant pointiert in einigen prägnanten Strophen seiner Ge-
des aufgeklärten bürgerlichen Liberalismus, wie er un- dankenlyrik formuliert – die damit sehr viel deutlicher
ter deutschen Intellektuellen um die Mitte und in der zum Corpus seiner ›politischen‹ Dichtungen gehört,
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschte, die als das oft wahrgenommen worden ist. Von diesen Ge-
als junge Autoren unter dem Eindruck der Revolution dichten blieb bis weit über Storms Tod hinaus die Un-
von 1848 und ihres Scheiterns gestanden hatten (dazu terscheidung zwischen strategischer – mit Max We-
grundlegend Lohmeier 1989). Wenn er gleichwohl bers späterem Ausdruck ›verantwortungsethischer‹ –
auch als politischer Schriftsteller eine Sonderstellung und der von ihm selbst privilegierten ›gesinnungsethi-
beanspruchen darf, so ergibt sich diese zunächst aus schen‹ Handlungsbegründung populär (vgl. LL 1, 82),
der Grenz-Situation zwischen deutscher und dä- aber auch die Warnung vor einem »Karrieremachen«,
nischer Sprache und Kultur, die schon seine Wahrneh- das mit einem Verlust persönlicher Integrität erkauft
mung der Revolution ins Spannungsfeld von sozialen sei (Für meine Söhne, 1854) – eine Ermahnung, die
und nationalen Konflikten rückt, die ihn dann in Preu- noch der junge Kaufmannssohn und Storm-Leser
ßen zum Exilanten macht und dort zu einer Auseinan- Thomas Mann 1894 dankbar in sein erstes Notizbuch
dersetzung mit den Beziehungen zwischen Patriotis- abschreibt. Die im engeren Sinne, auf Tagesereignisse
mus, Militarismus, autoritären Staatsvorstellungen und Appelle bezogene ›politische‹ Lyrik hat Storm in
führt. Sie ergibt sich zugleich aus einer kontinuierli- seinen eigenen Ausgaben gegenüber seinen anderen
chen und eingehenden Beschäftigung mit den Sozial- Gedichten zurückgestellt: Sie sollte dazu beitragen, ei-
ordnungen der einerseits überschaubaren, anderer- nen Freiraum für das zu schaffen und zu verteidigen,
seits aber regional bestimmenden, selbstbewussten worum es in diesen Texten ging: den Wunsch, jenseits
Handelsstadt, zu der sich Storm als Patriziersohn, als hierarchischer Ordnungen »ein Mensch unter Men-
Künstler wie als Anwalt schon früh veranlasst sah. Die schen« zu sein, wie Franziska zu Reventlow 1897 in ih-
von Thomas Mann betonte Geistesverwandtschaft ren Erinnerungen an Storm resümiert (Reventlow
zwischen Storm und ihm selbst hat nicht nur mit ähn- 1980, 287).
lichen literarischen Sujets und Beziehungen zu tun Das bis heute verbreitete Missverständnis, Storm sei
(von Andersen bis zu Turgenew), sondern auch mit ein im Grunde unpolitischer Schriftsteller gewesen,
dieser kritischen Distanz gegenüber der bürgerlichen lässt sich auf diese von ihm selbst vorgenommene
Sozial- und Werteordnung der eigenen Herkunft und funktionale Differenzierung seiner Texte zurückfüh-
der Öffnung für neue soziale Fragen, die literarisch ren – die, wie Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier
ebenso produktiv werden wie politisch. beharrlich und lange Zeit als einzige Storm-Forscher in
Erinnerung gerufen haben – gerade ›im Grunde‹, näm-
lich in diesem Grund-Bestand bewusst politisch sind.
Grundsatzfragen
Verantwortungs- und Gesinnungsethik in wech-
Die Zusammenhänge, in denen Storm im Briefwechsel selnden aktuellen politischen und sozialen Konflikten
mit dem Freund Theodor Mommsen mehrfach betont, auf die Probe zu stellen – und sich selbst im Umgang
»daß die Politik nicht eben meine Domaine ist« mit ihnen –, hatte Storm in seinem Leben reichlich
(Storm–Mommsen, 117) und dass er »eigentlich ein Gelegenheit. Das betrifft im Wesentlichen drei politi-
unpolitisches Thier« (ebd., 114) sei (also nicht das ani- sche und soziale Bereiche, deren trennscharfe Ab-
mal politicum, als das der Adressat selbst sich gern be- grenzung weder möglich noch sinnvoll ist, die sich al-
zeichnete, vgl. Mommsen 1948), zeigen, dass dieser so vielfach berühren und überschneiden, in ihren
Ausdruck keineswegs einen im heutigen Sinne ›un- Kernen aber gleichwohl deutlich zu unterscheiden
politischen‹ Autor meint. Vielmehr unterscheidet sind: Konflikte zwischen unterschiedlichen Konzep-
Storm beharrlich zwischen Mommsens agitatorischem ten von Patriotismus und Nationalismus; Konflikte
Engagement in Zeitereignissen wie dem Schleswig- um autoritäre und demokratisch-liberale Staats- und
Holstein-Konflikt und seinen eigenen auf Vermittlung Gesellschaftsformen; Konflikte um die rechtliche und
zielenden und eher von humanen und moralischen als soziale Emanzipation des Bürgertums und um die
von parteilich-strategischen Erwägungen geleiteten neuen sozialen Fragen, die sich mit dem politischen,
Neigungen. Diese Unterscheidung betrifft zunächst technisch-industriellen und ökonomischen Aufstieg
einfach Gegebenheiten des Charakters und Tempera- dieses Bürgertums stellen.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_10, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
34 II Einflüsse und Kontexte

nischen Einheit hier wie dort allererst als Vorausset-


Bürgerliche Emanzipation oder Nationalstaat
zung einer demokratischen Republik freier und glei-
Anders als Storm es später stilisiert, wächst er als cher Bürger; nun erst wird aus der Sicht Storms und
Schüler und Student in einer Welt des übernationalen seiner schleswig-holsteinischen Mitstreiter aus der
dänisch-norwegisch-holsteinischen »Gesamtstaats« übernationalen aufgeklärten Monarchie eine als feind-
auf, die prinzipiell noch keineswegs in Frage gestellt lich erlebte national-dänische Bewegung, gegen die ein
wird (vgl. Detering 2011, 179–222). Die öffentlichen ihrerseits national homogenes, nämlich deutsch ge-
Auseinandersetzungen, die bereits sein Vater Johann prägtes Schleswig-Holstein zu verteidigen sei.
Casimir Storm als Advokat und dann als ein Protago- Anders als sein Dichterfreund und Mitstreiter
nist der ersten schleswig-holsteinischen Ständever- Theodor Mommsen bemüht sich Storm noch in der
sammlung mit den dänischen Behörden führt, stellen vorrevolutionären Hitze der frühen 1840er Jahre um
die Legitimität der Gesamtstaatsmonarchie keines- Mäßigung. Berufen ins Komitee des großen Bredsted-
wegs in Frage. Theodor erlernt in der Husumer La- ter Nordfriesen-Festes 1844 und Mitveranstalter der
teinschule das Dänische als erste Fremdsprache Kundgebung, distanziert er sich gleichwohl von der
(Eversberg 2006, 25 f.), und er bewegt sich als Jura- einpeitschenden Agitation Wilhelm Beselers, der
Student in Kiel in einer deutsch und dänisch gemisch- 1848 die Provisorische Regierung leiten wird, und
ten Studentenschaft, ohne dass er daran irgendeinen dem Auftreten des »gefühlvollen Dänenfressers« Jo-
erkennbaren Anstoß nähme. Storms wichtigste aka- hannes Todsen (Laage 2008, 22). Die tägliche Arbeit
demische juristische Lehrer in Kiel sind der ›deutsch- in seiner Anfang 1851 zunächst wiedereröffneten Hu-
gesinnte‹ G. C. Burchardi, der vermittelnde Nikolaus sumer Anwaltskanzlei gilt der praktischen und muti-
Falck und der ›dänischgesinnte‹ Christian Paulsen gen Unterstützung von Schleswig-Holsteinern, die
(Bernd 2003, 54–74). sich von den zunehmend autoritär auftretenden dä-
Auch in der von den Studienerfahrungen gepräg- nischen Behörden schikaniert sehen. Und selbst der
ten Skizze Im Saal (1848) und der Novelle Auf der Uni- heiklen Aufgabe, 1844 eine festliche Begrüßung des
versität (1862/63) spielen nationale Spannungen nicht Königs in Husum musikalisch zu inszenieren, entle-
die geringste, soziale Entwicklungen hingegen eine digt er sich mit Geschick: Da der Besuch anlässlich ei-
ausschlaggebende Rolle – im Verhältnis von alter ner Hafenerweiterung stattfindet, verschiebt er die
Aristokratie und neuem Bürgertum, im Verhältnis Konstellation in jene Sphäre des Märchenhaften, die
dieses Bürgertums zu den unteren Schichten. Auf die Andersen in Die kleine Meerfrau imaginiert hatte, und
Frage der entgeisterten Großmutter, ob denn etwa verfasst einen Nixenchor auf den »Meerkönig«.
künftig »alle mit regieren« sollten, antwortet der Sein politisches Ziel ist ein republikanisches Schles-
emanzipatorisch gesonnene Enkel Im Saal mit der Er- wig-Holstein, »damit wir fühlen, / Daß wir auf eigner
klärung: »wir werden alle Freiherrn, ganz Deutsch- Erde stehn«, wie er 1845 in einem anonym veröffent-
land« (LL 1, 293). Bereits im 1843 veröffentlichten Ge- lichten Gedicht auf die verbotene schleswig-holsteini-
dicht Die Jungen hatte der Student Storm dagegen re- sche Flagge schreibt (LL 1, 240). Auch das ungleich
belliert, »wie vor den alten Kanzlern und Räten / Die bekanntere Gedicht, das nach der Proklamation einer
Leute sich bücken, gehorsam betreten«, und prokla- schleswig-holsteinischen Regierung und dem Aus-
miert selbstbewusst im Namen einer neuen als einer bruch des Krieges im Frühling 1848 unter dem Titel
demokratisch gesinnten Generation: »Wir sind die Ostern erschien (in Biernatzkis Volksbuch auf das Jahr
Kanzler der werdenden Zeit« (223). Kein Wort von 1849), mündet in eine nun topographisch ausgemalte
den dänisch-deutschen Spannungen: Um Volksherr- Vision der eignen Erde: »Denn machtlos, zischend
schaft geht es, nicht um Volkszugehörigkeit. schoß zurück das Meer – / Das Land ist unser, unser
Storms zunächst eher zögernde, dann jedoch em- soll es bleiben!« (LL 1, 57). Begonnen hatte Storm die-
phatische Parteinahme für den schleswig-holsteini- sen Text charakteristischerweise als Naturgedicht, in
schen Aufstand 1848 und gegen die dänische Vorherr- dem der Frühling zwischen Deichen und Wiesen ein
schaft entwickelt sich aus derselben epochalen Wen- politisches Osterwunder verheißt; der Titel lautete zu-
dung von einem übernationalen in ein entschieden na- nächst An der Westküste der Friesen (Storm–Momm-
tionales Staatsverständnis, die den widerstreitenden sen, 109).
nationalliberalen Bewegungen in Kopenhagen und Unter dem Eindruck des beginnenden Aufstandes
Kiel gemeinsam war: Nun erscheint ›nationale‹ Homo- aber nimmt Storms Engagement sehr konkrete For-
genität im Sinne einer sprachlich-kulturellen eth- men an (vgl. Löding 1985). Im Frühjahr 1848 wird er
10 Storms Politik 35

(bis zum August desselben Jahres und dem Waffen- was da muß, mit uns geschehn!« (Im Herbste 1850; LL
stillstand von Malmö) Mitbegründer und Sekretär des 1, 58)
Patriotischen Hülfsvereins in Husum, in dieser Funk-
tion auch Mitherausgeber der Husumer fliegenden
Exilant in Preußen: Kritik des Militarismus,
Blätter und, auf das Ersuchen seines Freundes Theo-
Nationalismus, Antisemitismus
dor Mommsen hin, Korrespondent der Schleswig-Hol-
steinischen Zeitung der Provisorischen Regierung in Wie Wilhelm Raabe in seinem Romanfragment Alters-
Kiel. Ihr schickt er Berichte von der nordfriesischen hausen (1899–1902) auf die Revolution von 1848 me-
Seite des Aufstands, seine Niederschlagung, das wie- lancholisch als das »flüchtige Niedersteigen des Reichs
derholte neuerliche Aufflackern des Krieges und die der Himmel auf die Erde« zurückblicken wird (Raabe
resolute Wiederherstellung der dänischen Herrschaft 1985, 67), so erinnert sich Storm 1886 an jenen »Früh-
1850, die er nicht ohne Grund eine »Okkupation« ling 1848 [...], als sich die ganze Welt verjüngte« (LL 4,
nennt. Bereits im Mai 1849 ist er Mitunterzeichner der 439). Einem zunehmend selbstherrlichen Nationalis-
Husumer Petition zur Aufhebung der Personalunion mus sah sich der nordfriesische Exilant im Preußen der
von dänischer Monarchie und den Herzogtümern Jahrhundertmitte in besonderer Weise ausgesetzt. Eine
Holstein und Schleswig, im Oktober desselben Jahres ideologische Übereinstimmung mit dem Bismarck-
Mitverfasser einer auch in der Norddeutschen Presse schen Preußen bestand für Storm eigentlich nur in der
abgedruckten Eingabe ans Schleswigsche Obergericht Ablehnung dessen, was er in einem Brief aus Heiligen-
gegen »den rechtlosen Zustand in der Stadt Husum« stadt an Mommsen den »katholischen Schwindel[]«
und Autor eines entsprechenden Schreibens an die nennt (Storm–Mommsen, 118). Im Kampf für die
Landesverwaltung. Trennung von Kirche und Staat, namentlich auch dem
Dem Revolutionär Storm ist es 1848/49 in erster Li- Schulwesen, zeigt sich Storm vielleicht am deutlichsten
nie um eine freie und selbstbestimmte Republik zu als bürgerlicher Nationalliberaler. Auch hier allerdings
tun; die nationale Konfrontation ist zunächst eher ein beweist Storm in Texten wie vor allem der Novelle Ve-
Begleitumstand denn Kern des Konflikts. Eine natio- ronika für die Empfindungen der vermeintlich ge-
nal akzentuierte Feindseligkeit gegenüber Dänemark knechteten Katholiken mehr Sensibilität, als solche
entwickelt sich in seinem Werk erst mit Verspätung: Formulierungen erwarten ließen. Als eigentlichen
zunächst in der Verbitterung über die endgültige Nie- Gegner nimmt er gerade während des preußischen
derschlagung des Aufstands 1850, die für den jungen Exils das Bündnis von »Thron und Altar« wahr, gegen
Familienvater, Anwalt und Schriftsteller eine Aufgabe das er schon früh protestiert hat: »Die Geistlichkeit, die
sämtlicher vertrauter Lebensumstände bedeutete und Weltlichkeit, / Wie sie so ganz verstehen sich!« (Geseg-
das Verlassen einer Heimat, deren Landschaften und nete Mahlzeit, 1848; LL 1, 41) In Storms oft zitierter
Geschichte das Lebenselixier seines literarischen Briefäußerung, es sei »der Adel (wie die Kirche) [...] das
Schreibens waren. Sie wird zum Anlass seiner Novelle Gift in den Adern der Nation« (Storm–Brinkmann,
Ein grünes Blatt (Ende 1850) und von Gedichten wie 134) hat auch das verbindende »wie« ein spezifisches
Gräber an der Küste (»Und rissen sie die Farben auch Gewicht. Auch eine historische Chroniknovelle wie
herab, [...] Wehn um euch her der Feinde Wappenzei- Aquis submersus (1876) liest sich in diesem themati-
chen«; LL 1, 59). Dem folgt die Fremdheit des preußi- schen Kontext als dezidiert politischer Kommentar zur
schen Exils. Nun, 1863, spricht er im Gedicht Gräber in fortdauernden Junkerherrschaft, der noch immer, wie
Schleswig davon, dass in seiner Heimat die »deutschen es schon am vehementen Schluss des Gedichts Halbe
Gräber [...] ein Spott der Feinde« seien (LL 1, 84). Arbeit hieß, »Das freche Haupt herabzuschlagen« sei
Dass Storms von der neuen dänischen Verwaltung (wohl 1847; LL 1, 252, 696).
geforderter Antrag auf Verlängerung seiner Berufs- Storms Texte aus der Exilzeit beschwören auch
erlaubnis im November 1852 nicht bewilligt wurde, dort, wo sie nationale Töne anschlagen, erklärterma-
war eine Folge vor allem seiner furchtlosen Amtsaus- ßen dieselben demokratischen Leitvorstellungen wie
übung (vgl. Lohmeier 1985). Das Exil, das für ihn ne- in den vierziger Jahren. Als Gegner erscheinen in
ben allem anderen zunächst auch einen vollständigen Potsdam 1854/55 wie in Heiligenstadt 1856–64 Mi-
Fortfall seines Einkommens bedeutete, hat er als Kon- litarismus, Obrigkeitsstaat und der mit der zuneh-
sequenz seines Handelns erwartet: »Und müßten wir mend ethnisch bestimmten nationalen Selbstabgren-
nach diesen Tagen / Von Herd und Heimat bettelnd zung einhergehende Antisemitismus in Kirche und
gehen, – / Wir wollen’s nicht zu laut beklagen; / Mag, Staat. Der preußische Militarismus ist immer wieder
36 II Einflüsse und Kontexte

Gegenstand von Storms Empörung. »[D]er Militaire- dessen im galizischen Ostjudentum spielenden Novel-
Etat frißt hier ja alles auf«, schreibt er schon 1954 an lenband Die Juden von Barnow (1877) schreibt, erklärt
Brinkmann (Storm –Brinkmann, 102); eine Reihe er emphatisch, »daß Sie zu uns gehören, zu uns weni-
ähnlicher Äußerungen ließen sich nennen. Den preu- gen, die es ernst mit der Kunst nehmen« (GB 2, 363).
ßischen Obrigkeitsstaat erlebt er handfest in Ver- In diesem Kontext muss es wohl auch als Symptom
suchen, das politische Wahlverhalten von Richtern zu einer Vermeidung der zeittypischen Antisemitismen
beeinflussen, ein Vorgehen, das er 1862 als »öffent- erscheinen, dass jüdische Figuren in Storms Novellen
liche[n] Demoralisierungsversuch des Beamtenstan- nicht und in seinen autobiographischen Erzählungen
des« empfindet (GB 1, 398); auch die Bereitschaft zur nur beiläufig und mit dem Ausdruck besonderer »Zu-
Unterwerfung unter staatlich-bürokratische Autoritä- neigung« genannt werden; ja, die einstige Entschei-
ten ist fortan ein wiederkehrender Gegenstand seiner dung des Schülers Storm, bei einer festlichen Ver-
Preußen-Kritik. Schließlich gehören Einsprüche ge- anstaltung im Husumer Rathaus einen selbstverfass-
gen den Antisemitismus zu den Themen, in denen ten Monolog über den Makkabäeraufstand zu rezitie-
Storms Distanz gegenüber nationalen Kategorien be- ren (Mattathias, der Befreier der Juden; dazu Eversberg
sonders augenfällig wird – und zwar umso mehr, als 2006, 71 f.), deutet er rückblickend als Freundschafts-
ihm die antisemitischen Ressentiments seiner Klasse dienst für einen jüdischen Altersgenossen (Der Amts-
keineswegs ganz fremd sind; einen Ausfall in einem chirurgus – Heimkehr; LL 4, 167 f.).
Brief an Gottfried Keller gegen den Erfolgsschriftstel-
ler Georg Ebers als einen »frechen Juden« (Storm–
Rückkehr, Resignation, Widerstand
Keller, 73) nahm Thomas Mann zum Anlass, Storm ei-
ne antisemitische Grundhaltung zu unterstellen Schon 1863, noch vor der dänischen Niederlage, nimmt
(Mann 1990, 261). Tatsächlich ist das genaue Gegen- Storm die schleswig-holsteinische Begeisterung für
teil der Fall. Herzog Friedrich VIII. von Augustenburg zum Anlass
Abgesehen von der lebenslangen Liebe zum Werk zu privaten und öffentlichen Präzisierungen seiner
Heines und der Bewunderung Auerbachs bekennt Haltung, die noch immer dieselbe ist wie 1848. Nicht
Storm wiederholt besondere Anteilnahme an Werken, einfach von der Herrschaft einer fremden Nation soll
in denen es ausdrücklich um jüdische Erfahrungen seine Heimat befreit werden, sondern von der Adels-
geht. 1853 empfiehlt er Fontane Leopold Komperts herrschaft: »Und haben wir unser Herzöglein / Nur erst
Novellenband Aus dem Ghetto (1848) als ein »ganz im Lande drinnen, / Dann wird, mir kribbelt schon die
vorzügliches Buch« (Storm–Fontane, 23). Zu seinem Faust, / Ein ander’ Stück beginnen« (LL 1, 264). Im Ja-
Abschied aus Heiligenstadt, vor der Rückkehr nach nuar 1864, unmittelbar nach dem Beginn des siegrei-
Husum, inszeniert er in der preußischen und katho- chen preußisch-österreichischen Kriegs gegen Däne-
lischen Stadt das jüdische Oratorium Die Zerstörung mark, folgen Spottverse »gegen die deutsche Feudal-
Jerusalems (Musik von Ferdinand Hiller, Libretto von partei« (GB 1, 445), die allenfalls »mit dem Pöbel zwar,
Salomon Steinheim): eine demonstrative Identifikati- / Doch nimmer mit dem Volke« gehe (LL 1, 85).
on des Exilanten mit den aus Jerusalem in die baby- Die revolutionäre Emphase, die anstelle des natio-
lonische Gefangenschaft vertriebenen Juden. (Viel- nalen den – so an seinen Vater – »sozialen Kampf«
leicht steht diese Themenwahl auch unter dem Ein- führen will (GB 1, 438), wird abermals enttäuscht. An-
druck von Erfahrungen mit dem von Storm abgelehn- fang 1867 wird Schleswig-Holstein von Preußen an-
ten Judeneid; vgl. den Brief an den Vater vom nektiert. Sein Unwille richtet sich nun gegen den
18.2.1862 in Storm 1907, 178 – hierzu auch Lohmeier »preußische[n] Terrorismus« (Storm–Pietsch, 163),
1994, 15 f.; zu Storms Freundschaft mit dem nach- den er auf die »Willkühr der [...] Königl. Dän. Behör-
maligen Berliner Stadtverordneten Ludwig Loewe s. den« (Storm–Mörike, 29) folgen sieht: »daß wir ledig-
ebd., 14 f., 23–41). Auch das 1865 nach der Heimkehr lich unter der Gewalt leben«, beklagt er nun gegen-
entstandene Gedicht Crucifixus über das christliche über Eggers (Storm–Pietsch, 176). Dabei seien doch
Kreuzigungs-Bild, das »den alten Frevel« verewige die beiden deutschen Großmächte, so im Gedicht
zum »Bild der Unversöhnlichkeit« (LL 1, 67), bezeich- 1864, lediglich »Das Schwert in ihres Volkes Hand«
net er »ausdrücklich als ein Dokument seiner Partei- gewesen, das allein als der Souverän in Betracht kom-
nahme für die Juden« gegen den stereotypen Vorwurf me (LL 1, 84).
des Christusmordes (Lohmeier 1994, 17). Noch als Wer 1864 von ihm, dem patriotischen Dichter
Storm 1886 aus Husum an Karl Emil Franzos über Schleswig-Holsteins, ein Triumphgedicht über die ›Be-
10 Storms Politik 37

freiung‹ seiner Heimat erwartet hat, den weist er so sich »außer dem Bereich der verhaßten Maschine« be-
brüsk zurück wie den ebendies vorschlagenden preu- finde (LL 3, 46). In einem Brief an Pietsch kommen-
ßischen Freund Fontane: »Hol Sie der Teufel! Wie tiert Storm mit ungewohnter Eindeutigkeit: »Der Alte,
kommen Sie dazu, daß ich eine Siegeshymne dichten das bin ich« (Storm–Pietsch, 209).
soll! Ja, wenn ich das Glück hätte, zum caecum vulgus Mit der antipreußischen Distanz geht eine Entspan-
zu gehören« – zum blinden Pöbel also –, denn »nur das nung von Storms Verhältnis zu Dänemark und Skan-
wird Preußen ungefressen lassen was ihm [...] verwehrt dinavien einher; sie verläuft wesentlich über die Litera-
wird. [...] Ueberhaupt, ich habe den Phrasenkram, aus tur. Mit seinem Kopenhagener Übersetzer Johannes
dem sich diese Welt zusammensetzt, mitunter bis zum Magnussen tauscht er sich von 1881–85 über dänische
Speien satt. – –« (Storm–Fontane, 125 f.). Demonstra- Wendungen aus (Lohmeier 1984); die Chroniknovelle
tiv hängt er an seinem neuen Husumer Wohnhaus ›kei- Ein Fest auf Haderslevhuus verwendet 1885 für das nun
ne Fahne heraus‹ (Storm–Pietsch, 123 f.), inmitten der preußisch gewordene Hadersleben den alten dä-
Jubelfeiern schweigt ausgerechnet er vernehmlich: »So nischen Ortsnamen; dänische und norwegische Lite-
schwieg ich denn auch schon, als die Dänen 64 geschla- ratur von Bergsøe über Lie bis zu Andersens Roman
gen wurden« (GB 2, 152; Laage 2008, 109). Kun en Spillemand, den er zufolge seinem Bericht Was
Storms bis zur empörten Ablehnung gehende Skep- der Tag gibt (1883) »nach über vierzig Jahren [...] wie-
sis angesichts der wachsenden Nationalismen kul- der« gelesen habe, erlaubt eine späte Wiederanknüp-
miniert im Abscheu über den Krieg gegen Frankreich fung lange abgerissener Fäden (Detering 2011, 215–
1870/71: »Was mich hauptsächlich beherrscht – und 222). Auf die vielleicht erstaunlichste Wendung hat
das verschlingt alles Andere – das ist der Ekel, einer Laage aufmerksam gemacht: In einem Brief an seinen
Gesellschaft von Creaturen anzugehören, die außer Sohn Ernst vom 3. August 1870 beklagt Storm »die
den übrigen ihnen von der Natur auferlegten Funktio- Ungerechtigkeit gegen die dänische Nationalität im
nen des Futtersuchens, der Fortpflanzung etc auch die Norden durch fortdauernde Nichterfüllung des § 5 des
mit elementarischer Stumpfheit befolgt, sich von Zeit Prager Friedens« (über die Einbindung des nördlichen
zu Zeit gegenseitig zu vertilgen« (Storm – E.Storm Herzogtums Schleswig in die Monarchie; Storm–E.
73). Gegenüber Karl Theodor Pyl wiederholt er am 14. Storm, 73). Ausgerechnet Storm also tritt nun als Ver-
November desselben Jahres das Prinzip, »den Kampf teidiger dänischer Rechte auf.
im Staate« dem Kampf »um seine Grenzen« vorzuzie-
hen (GB 2, 29), und in einem Gedicht proklamiert er
Horizonterweiterung: »Demokratie und
gegen den Hurrapatriotismus von 1870: »Hat erst der
Sozialismus«
Sieg über fremde Gewalt / Die Gewalt im Innern be-
siegt, / Dann will ich rufen: Das Land ist frei! / Bis da- Im späten Werk Storms werden neue soziale Konflikt-
hin spar ich den Jubelschrei.« (LL 1, 268) Entschieden linien erkennbar. Die Emanzipation eines aufstreben-
hält er an dem revolutionären Grundsatz fest, dass die den Bürgertums gegenüber dem Adel tritt nun in den
preußische Regierung »kein Recht der Nation respec- Hintergrund gegenüber der Selbstkritik bürgerlicher
tirt, als das, wozu sie auf den Barrikaden gezwungen Ideologie und Lebensformen einerseits und einer aus-
wird« (an Turgenew, zit. nach Laage 1967, 104). Treu geprägten Sensibilität für die Lebensbedingungen der
bleibt er auch, wie er um die Jahreswende 1869/70 an unteren Schichten und für marginalisierte Außensei-
Klaus Groth schreibt, dem Vorbild Heines, »dem ich ter der bürgerlichen Gesellschaft. Wird in Novellen
noch immer meine Dankgebete in die Gruft stammle« wie Carsten Curator (1878), Der Herr Etatsrat (1881)
(Storm–Groth, 68). und Hans und Heinz Kirch (1882) der Konflikt zwi-
Als eine Schlüsselerzählung für Storms politische schen bürgerlicher Ökonomie und Leistungsorientie-
Haltung unmittelbar nach der Reichsgründung 1871 rung einerseits, den Ordnungen der bürgerlich-patri-
hat Karl Ernst Laage die Novelle Eine Halligfahrt in- archalen Kleinfamilie andererseits bis ins Extrem der
terpretiert. Der abgelegene Schauplatz erweist sich – Identitätszerstörung mit soziologischer Präzision aus-
darin der romantischen Waldesszenerie in Ein grünes buchstabiert, so gilt eine gewissermaßen komplemen-
Blatt vergleichbar – als Zufluchtsort eines noch immer täre Aufmerksamkeit der Novellen und autobiographi-
den Heckerhut tragenden 1848ers, der hierher vor der schen Geschichten nun der Wirklichkeit – so der Titel
Gefahr geflohen ist, dass ihn die »Räder der Staats- des 1887 erschienenen Erzählungsbandes – Bei kleinen
maschinerie« zerstören. Die zauberische Insel-Ein- Leuten (1887). Sozial abstiegsgefährdete kleine Hand-
samkeit ist jetzt der einzige Ort geworden, an dem er werker wie der Bötjer Basch stehen hier im Mittel-
38 II Einflüsse und Kontexte

punkt, an der eigenen Geldgier scheiternde Figuren kratie ihren Wert und ihre Wirksamkeit haben wird«
wie Madame Sievert Jansen Im Nachbarhause links (GB 1, 524).
(1875/76), aber auch, in den oft übersehenen autobio-
graphischen Skizzen der Zerstreuten Kapitel, stigmati- Literatur
sierte Außenseitergestalten wie die Zwei Kuchenesser Bernd, Clifford: Theodor Storm. The Dano-German Poet and
der alten Zeit (effeminierte Junggesellen, die von der Writer. Oxford/Bern 2003.
Carstens, Uwe: Lieber Freund Ferdinand. Die bemerkenswer-
Kleinstadtgesellschaft verlacht werden; LL 4, 218– te Freundschaft zwischen Theodor Storm und Ferdinand
224), Lena Wies, die geschichtenerzählende Bäckers- Tönnies. Norderstedt 2008.
tochter aus seiner Kindheit (175–185), »wunderliche Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
Gesellen« wie die Sonderlinge in Aus der Jugendzeit Ende der Romantik. Heide 2011.
(433–436) oder, sehr viel dramatischer, die kleinbäuer- Eversberg, Gerd: Theodor Storm als Schüler. Heide 2006.
Eversberg, Gerd: »Die Windmühl soll mein Wappen sein!«
liche Dorfgesellschaft Draußen im Heidedorf.
In: Christian Demandt/Maren Ermisch/Birte Lipinski
Dieses Interesse ist keineswegs sentimental. Dersel- (Hg.): Bürger auf Abwegen. Thomas Mann und Theodor
be Storm, der 1863 erklärt hatte, sich für den sozialen Storm. Göttingen 2015, 111–116.
Kampf mehr zu interessieren als für den der Natio- Jackson, David: Storms Stellung zum Christentum und zur
nen, hat mit Ferdinand Tönnies, dem ebenfalls in Hu- christlichen Kirche. In: Brian Coghlan/Karl Ernst Laage
sum aufgewachsenen Mitbegründer der Soziologie (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Vorträge
und Berichte des Internationalen Storm-Symposions aus
und einem Freund der späten Jahre, »eingehend [...]
Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms. Berlin 1989,
über Demokratie und Sozialismus gesprochen«, und 41–99.
zwar nicht obwohl, sondern gerade weil dieser der So- Laage, Karl Ernst: Theodor Storms öffentliches Wirken. Eine
zialdemokratie nahestand – so hat Tönnies selbst politische Biografie. Heide 2008.
glaubhaft berichtet (zur Freundschaft zwischen Storm Laage, Karl Ernst (Hg.): Theodor Storm und Iwan Turgenjew.
und Tönnies vgl. Carstens 2008). Es ist eine Folge auch Persönliche und literarische Beziehungen, Einflüsse, Briefe,
Bilder. Heide 1967.
dieser Gespräche, dass Storm in seiner vorletzten No- Löding, Frithjof: Theodor Storm und Klaus Groth in ihrem
velle Ein Doppelgänger (in Bei kleinen Leuten, 1887) Verhältnis zur schleswig-holsteinischen Frage. Neumünster
erstmals einen Proletarier zum Helden einer realisti- 1985.
schen Novelle macht, den Landarbeiter John Hansen, Lohmeier, Dieter: Storm und sein dänischer Übersetzer Jo-
und dass im Schimmelreiter (1888) Hauke Haien auch hannes Magnussen. Mit unveröffentlichten Briefen. In:
STSG 33 (1984), 53–70.
die Gefahren autoritärer Selbstermächtigung einer
Lohmeier, Dieter: Die Berichte der Husumer Behörden über
technisch-instrumentell gewordenen bürgerlichen Storms politische Haltung während der schleswig-holstei-
Aufklärung Gestalt gewinnen. nischen Erhebung. In: STSG 34 (1985), 39–48.
Weit entfernt, Tönnies’ Vorbild folgend zum Partei- Lohmeier, Dieter: Storm und die Politik. In: Brian Coghlan/
gänger der Sozialdemokratie zu werden, und unsicher Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahr-
gegenüber sozialen Zukunftsperspektiven (als Aus- hundert. Vorträge und Berichte des Internationalen Storm-
Symposions aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms.
weg aus dem Arbeiterelend erscheint im Doppelgänger Berlin 1989, 26–40.
der durch die Liebesheirat ermöglichte Aufstieg ins Lohmeier, Dieter: Juden in Leben und Werk Theodor
Bürgertum), bemüht sich der späte Storm um eine so- Storms. In: STSG 43 (1994), 7–22.
ziale Horizonterweiterung, die über das jahrzehnte- Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Re-
lange Thema bürgerlicher Emanzipation, ja auch über den und Aufsätze 1, Bd. IX. Frankfurt a. M. 1990.
Mommsen, Theodor: Ich wünschte ein Bürger zu sein. In:
die daraus hervorgehende bürgerliche Selbstkritik
Die Wandlung 3 (1948), 69 f.
noch einmal substanziell hinausgeht. Politisch in ei- Raabe, Wilhelm: Altershausen. Hg. v. Hans-Jürgen Schrader.
nem nicht parteilichen, aber Partei beziehenden Sinne Frankfurt a. M. 1985.
bleibt sein Schreiben lebenslang – und zwar absichts- Reventlow, Franziska von: Erinnerungen an Theodor Storm.
voll und selbstbewusst. An seinen Sohn Hans hat In: Dies.: Autobiographisches. München/Wien 1980, 286–
Storm im Mai 1868 geschrieben, zwanzig Jahre nach 291.
Storm, Gertrud (Hg.): Theodor Storm’s Briefe in die Heimat
der gescheiterten Revolution und nach Auseinander-
aus den Jahren 1853–1864. Berlin 1907.
setzungen mit dem adligen Landrat von Wussow (da- Tönnies, Ferdinand: Theodor Storm. Gedenkblätter. Berlin
zu Eversberg 2015), »daß, wenn meine Poesie über- 1917.
haupt einen Wert hat, auch die darin enthaltne Demo-
Heinrich Detering
11 Storm und die Musik 39

11 Storm und die Musik schen 1843 und 1880 bei Wendt 1914, 81–90). Zu die-
sem hohen Anspruch an die Musik mögen Freund-
Storms intimes Verhältnis zur Musik zeigt sich nicht schaften wie diejenige zum Komponisten und Diri-
zuletzt an der musikalischen Rezeption seines Werks genten des Leipziger Gewandhausorchesters Carl Rei-
selbst: Die ausführlichste Übersicht, eine Dissertati- necke das Ihre beigetragen haben (Laage 1999, 124).
onsschrift, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts Den emotional-atmosphärisch genauesten Ein-
noch auf Zeitzeugen zurückgreifen kann, nennt bei- blick ins Konzertleben gewährt weniger die biogra-
spielsweise für das Gedicht Als ich dich kaum gesehn phische Überlieferung als das literarische Werk
(LL 1, 17), erstmals publiziert 1862 in der Novelle Im Storms selbst: So spielt in der Novelle Eine Halligfahrt
Schloß, über fünfzig und für die Gedichte Die Nachti- (1871) der Musikdirektor Adolf Beethovens Largo aus
gall (16) und Schließe mir die Augen beide (34) sogar der Klaviersonate in D-Dur (op. 10, Nr. 3, 1798), und
über siebzig Vertonungen von unterschiedlichen mit ihm zusammen der Binnen-Ich-Erzähler Ludwig
Komponisten (Wendt 1914, 91– 94, 105 f.) – wobei be- Spohrs Neuntes Konzert für Violine (op. 55, 1820). Die
zeichnenderweise beim letzten Gedicht die Vertonung Instrumentalstücke rahmen die Aufführung von Ei-
von Alban Berg aus dem Jahre 1907 noch fehlt. Storms chendorff-Liedern, welche von »neuen großen Kom-
Leben situiert sich »im engsten Zusammenhang mit ponisten« stammen: »Ahnungslos schwebten die jun-
der bürgerlichen Musikkultur seiner Zeit«. Im Jahr- gen Stimmen über dem Abgrund dieser Lieder. – Ich
hundert der Orchester- und Musikvereinsgründun- weiß nicht, ob der Kapellmeister Johannes Kreisler da-
gen bildete die musikalische Bildung einen festen Be- vongelaufen wäre« (LL 2, 65). Mit dem intertextuellen
standteil der Kultur. Dazu gehören die »Pflege der Verweis auf die Kreisleriana (1813) von E. T. A. Hoff-
Hausmusik«, »die rege Teilnahme am Chorwesen« mann situiert sich der Erzähler zum einen zeitlich
und das »Interesse an zeitgenössischen Kompositio- ziemlich genau im musikalischen Rahmen der Beet-
nen«, vor allem an den Romantikern und – im Unter- hoven- und Spohrstücke, zum anderen unterstreicht
schied zu Mörike – schon weniger an den Klassikern er die romantische Musikauffassung als eigentlichen
Mozart und Haydn (Wendt 1914, 38; Tanaka 1989, ästhetischen Maßstab. In der Novelle Ein stiller Musi-
145; vgl. insbesondere auch Laage 1999, 37–47). Storm kant (1875) wird von einem großzügiger ausgestatte-
gründete 1843 nicht nur den Singverein in Husum, ten Konzert mit Orchesterbegleitung in einer größe-
der 1889 in »Theodor Storms Chor« umbenannt wur- ren mitteldeutschen Stadt berichtet, in dem die Hebri-
de (Sievers 1969) und bis heute aktiv ist, sondern war den-Ouvertüre Mendelssohns (1832) und die Arie der
neben seiner Tätigkeit als Chordirigent ein begnade- Elvira aus dem zweiten Akt von Mozarts Don Giovan-
ter Tenor und begleitete auch auf dem Klavier: »Storm ni (1787) »In quali eccessi, o numi« aufgeführt wird
sang mit seiner kräftigen, den feinsten Biegungen fä- (vgl. auch mit Tebben 2004). Dagegen fällt das »Gei-
higen Tenorstimme Lieder von Schubert und Men- genquartett von einem lebenden Meister« völlig ab
delssohn [...].« (Wendt 1914, 30) (LL 2, 307–309), weil es niemanden zu berühren
Im Kulturleben des kleinstädtischen Husum bilde- scheint. Die Konzertszenen verweisen nicht nur auf
ten die Chorkonzerte, welche Storm programmierte die bürgerliche Musikpraxis und das Konzertleben in
und leitete, eigentliche Höhepunkte (Zimorski 1997, Storms Zeitkontext, sondern reflektieren ihrerseits
95). Sie waren in künstlerischer Hinsicht anspruchs- wiederum narrative Settings, welche in Storms Novel-
voll. Auf dem Programm standen u. a. Lieder und listik zentral sind, so beispielsweise die Verschrän-
Chorwerke von Christoph Willibald Gluck, Carl Ma- kung von Rahmen- und Binnenerzählung.
ria von Weber oder Felix Mendelssohn (Zimorski Erstaunlicherweise mangelt es im Unterschied zu
1997, 96). Obwohl das Volkslied in der Lyrik und Pro- anderen musikaffinen Autoren wie E. T. A. Hoffmann
sa Storms eine wichtige Rolle spielt, ließ sich der Dich- oder Thomas Bernhard weitgehend an einer For-
ter von der nationalistisch ausgerichteten Sänger- schung, welche neben biographischen Aspekten die
bewegung nicht anstecken (Missfeldt 2013, 14). Im werkimmanente Musikalität Storms systematischer
Gegenteil: So sehr seine Dichtung vor allem von sichtet und theoretisch reflektiert. Dennoch sollen an
Kleinmeistern vertont wurde, so sehr konzentrierte dieser Stelle einzelne Aspekte pars pro toto nach-
sich seine eigene Programmierung und Interpretation gezeichnet werden, wobei die Rolle der Musik nicht
auf die großen Komponisten des ausgehenden 18. und nur im engeren Sinn bürgerlicher Leitkultur und als
des 19. Jahrhunderts (vgl. dazu die Sammlung der soziales Leitmedium, sondern auch im weiteren Sinn
Konzertprogramme aller Gesangsvereine Storms zwi- einer akustischen Sinneswelt dargelegt werden soll.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_11, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
40 II Einflüsse und Kontexte

Interessant erweist sich die Rolle der Musik in Storms nausweist (Roebling 1993, 56). Das innere Mitsingen
Werk in dreierlei Hinsicht: erstens als narratives bildet so die Chiffre intimer Narration. In ihrer narra-
Formparadigma, das bereits in den frühen Novellen tiven Struktur weisen die Novellen Im Schloß und Im-
sichtbar wird, zweitens als dichterisch-lyrischer Aus- mensee (1851) exemplarische Parallelen auf, die in ei-
druck der Ambivalenz von Verheißung und Desillusi- nem weiteren Sinn musikalisch strukturiert werden:
on sowie drittens als Auseinandertreten von romanti- Dazu gehören nicht nur die dichterisch begabten Pro-
scher Rückschau und Gegenwartskritik. Diese Kritik tagonisten Arnold, Hauslehrer Im Schloß, und Rein-
wendet sich gegen das technisierte Leistungsprinzip, hardt, kindlicher Geschichtenerfinder und späterer
das im Virtuosentum des ausgehenden 19. Jahrhun- Liedersammler in Immensee, sowie deren Antipoden,
derts sichtbar wird und Hand in Hand geht mit der zum einen der in die Naturwissenschaften vernarrte
Entfremdung des Menschen von der Natur und von Baron und zum anderen der Mann Elisabeths, Erich –
einer genuinen Sinnlichkeit, wie sie in der Aufklärung welche ihre Konkurrenten naturgemäß als »Phantas-
physiologisch-ästhetisch begründet wurde. Dafür hat ten« abstempeln, sondern vor allem auch die Einbin-
die Musik des Sturm und Drangs und der Klassik von dung von Musik und Volksliedern. Reinhardt ordnet
Jean-Philippe Rameau über Carl Philipp Emanuel die Volkslieder der natura naturans zu, denn sie »wer-
Bach und Wolfgang Amadeus Mozart bis zu Ludwig den gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen aus der
van Beethoven, aber auch noch die Musik der Hoch- Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn, hierhin
romantik von Franz Schubert oder Robert Schumann und dorthin, und werden an tausend Stellen zugleich
exemplarischen Status. Die Forschung spricht in die- gesungen. [...] Das sind Urtöne.« (LL 1, 321)
sem Zusammenhang von einer Kunst, die emotional Der Musik kommen – wie übrigens auch noch in
ergreift (Bauer 1990, 39; vgl. auch Zimorski 1997, 96). einer der späteren Novellen, in Zur »Wald- und Was-
serfreude« (1878) – in einem solchen Setting sozial-
utopische Funktionen zu: Sie führt in Immensee zur
Musikalische Formgebung in den früheren
fatalen Begegnung zwischen dem »Zithermädchen«
Novellen
und Reinhardt, der deswegen seine große Jugendliebe
Gilt es die Funktion und die Motivik der Musik in Elisabeth beinahe vergisst; die Musik bringt gleichzei-
Storms literarischem Werk zu untersuchen, ist zu- tig verschiedene Gesellschaftsschichten zusammen,
nächst die handlungs- und narrationsmotivierende wenn der Chorgesang Anlass dazu bietet, sich nicht
Akustik in den frühen Novellen in den Blick zu neh- mehr im Schloß aufzuhalten, sondern sich in die nahe
men. Die akustische Kulisse nimmt wesentlichen An- Stadt zu begeben und sich dort unter einfacheres Volk
teil an der novellistischen Formgebung. So wie im zu mischen, »denn die Gesellschaft war eine aus allen
Märchen Die Regentrude (1864) das Erscheinen der Ständen gemischte« (497). Die Begegnungen, welche
Heilsbringerin, welche für die lang ersehnten Nieder- dank der Musik zustande kommen, verharren aber
schläge sorgt, vom Rauschen der Bäume, vom Don- meist in einer spezifischen Ambivalenz zwischen
nern und von einem »grellen Ton« begleitet wird (LL Machtausübung und geselliger Freundlichkeit, zwi-
4, 96), führt der Schrei des Falken, kombiniert mit ei- schen Liebesentzug und Liebesbeweis, während das
nem gesummten Volkslied, in der Novelle Im Schloß Volkslied die Handlung und die inneren Wünsche
(1862) von einer äußerst distanzierten Beschreibung spiegelt und verdeutlicht – sei es im gelesenen Lied
der adligen Gesellschaft zum ersten Dialog zwischen »Meine Mutter hat’s gewollt« (321 f.) in Immensee, sei
der Herrin Anna und dem Verwalter Rudolf (486 f.) es die von Arnold gesungene Liebeserklärung an An-
über. Die Naturlaute verweisen in diesem Fall auf eine na »Als ich dich kaum gesehn« (513 f.) in der Novelle
andere Sinneswahrnehmung, die sich in einer detail- Im Schloß. Die musikalische Strukturparallele zwi-
lierteren Erzählperspektive äußert: Für die Wieder- schen den beiden Novellen reicht bis zur Verschrän-
gabe eines Dialogs reicht die umfassende auktoriale, kung von Binnen- und Rahmenerzählung, wenn das-
aber summarische Erzählhaltung nicht mehr aus; die selbe Lied am Schluss nochmals zitiert wird (527), um
Erzählinstanz hat sich auf Hördistanz zu nähern. die Überwindung gesellschaftlicher Barrieren durch
Ebenso führt der »Choralgesang aus der Ferne« zur die Liebe zu beschwören bzw. um an die beinahe fatale
Binnen-Ich-Erzählung Annas. Die Außenperspektive Niederlage der eigentlichen Liebe wegen des »Zither-
wird zugunsten einer internen Fokalisierung und ei- mädchens« zu erinnern (326).
ner weiblichen Stimme aufgegeben, welche über das Fast alle Novellen der Heiligenstädter Zeit zwischen
auktoriale Erzählen auf einen utopischen Raum hi- 1856 und 1864 – neben Im Schloß insbesondere Auf
11 Storm und die Musik 41

dem Staatshof (1859) und Auf der Universität (1863) – Lebens« (Baßler 1987, 48). Sie korrespondiert mit der
haben das Schicksal von Paaren ungleicher sozialer Binnenerzählung des Vetters vom oben erwähnten
und kultureller Herkunft zum Thema. Doch die Liebe Konzert, in dem er schließlich »Spohr’s neuntes Kon-
dient nicht im Sinne der Aufklärung der Überwindung zert« mit dem Musikdirektor Adolf am Klavier auf-
von Standesgrenzen, sondern übernimmt eine »sozial- führt: »Und meine Geige sang, oder eigentlich war es
psychologisch fundierte Introspektive des Menschen« meine Seele.« (LL 2, 66). Die absolute Innigkeit der
(Tebben 2006, 57; Fasold 1997, 105–107). Die Musik Musik, welche der Figur Susanne geschuldet ist, er-
ermöglicht in dieser spezifischen Konstellation die Re- klärt sich aus der Universalität: »Ist doch Musik die
zeption und Kommentierung der Szene aus nächster Kunst, in der sich alle Menschen als Kinder eines
Nähe. In der Novelle Eine Halligfahrt (1871) über- Sterns erkennen sollen.« (65) Es ist bezeichnend, dass
nimmt die Musik nicht nur die formale Aufgabe im die Novelle selber diese Konzertszene nur in der dop-
Sinne einer »sonatengleichen« Struktur (Browning pelten Erinnerung der Binnenerzählung nochmals
1951, 392), sondern auch die »Vision erfüllter und tö- heraufbeschwört, deutet sich doch die kritische Hal-
nender Unendlichkeit«; die Hallig, der Raum des Vet- tung Storms zur Musik bereits an: In der Gegenwart
ters, konkretisiert »das Modell einer anderen Welt«, sie des Erzählens funktioniert sie nur noch als akustische
ist eine klassische Heterotopie (Thürmer 2006, 90, 87). Naturkulisse. Ansonsten sedimentiert sie in einer pa-
Je weiter die erzählte Erinnerung von der Erzählgegen- radoxen Verweisstruktur, welche sie der Präsenz der
wart entfernt ist, desto präsenter ist sie. Garant dieser Erzählzeit entrückt und gerade dadurch wiederum als
paradoxen Erzählbewegung ist die Musik selbst. Da- Präsenz, wenn auch nur als vermittelte, kenntlich
rauf verweist das Motiv des Geigenkastens. In dem macht. Akustische Kulisse, Volkslied(theorie), Kon-
Moment, in dem der Ich-Erzähler den Vetter drängt, zertszene: Sie alle markieren die Bedeutung der Musik
die Melodie aus seiner »Knabenzeit« nochmals erklin- in den früheren Novellen Storms und verweisen auf
gen zu lassen, schiebt er »den Kasten hastig« weg: ein spezifisches intimes Erzählverfahren und auf die
»Siehst du denn nicht, daß das ein Särglein ist? Man hetero- wie utopische Funktion der Liebe und der Prä-
soll die Toten ruhen lassen.« (LL 2, 49) So wird der Er- senz, die in der Lyrik selber und in der späteren Novel-
zähler ins Refugium der Kindheitserinnerung zurück- listik wieder auftauchen – jedoch anders akzentuiert.
verwiesen, die selbst wiederum auf einer ähnlichen Er-
innerungsleistung basiert. Denn der Erzähler hörte
Lyrik, die ambivalente Funktion der Musik und
den Vetter, der »für einen großen Geigenspieler gegol-
Vertonung
ten« habe, nur einmal: Dieses »eine Mal aber wurde für
mich [den Erzähler] die Ursache wiederholter Täu- Die Novellistik Storms ist eng an seine ›Erlebnislyrik‹
schungen; denn wenn ich später in den Konzerten gebunden, welche in der nachklassischen Tradition ei-
weltberühmter Virtuosen saß, so trug ich selten etwas nes Eichendorff, Mörike oder Heine zu sehen ist. Da-
Anderes davon, als eine traumhafte Sehnsucht nach je- bei setzt sich Storm explizit von der klassizistischen
nem Spiel des Vetters« (46). Formlyrik beispielsweise eines Emanuel Geibel
Obzwar sich auf diese Weise die Musik als »Modell (1815–1884) ab, denn für ihn selber sei die Form
einer nicht entfremdeten Beziehung« (Thürmer 2006, »nichts, als der Kontur, / Der den lebend’gen Leib be-
96) herauskristallisiert, ist sie nur über eine doppelte schließt« (93). Die Lyrik (und die damit verbundene
Erinnerung überhaupt evozierbar. Die einzige Musik, Natur- und Urlautlichkeit) bildet den Nukleus von
welche die Heterotopie der Halligen erfahrbar macht, Storms Novellistik. So gibt er selbst noch im Alter, am
liegt in der akustischen Naturkulisse, die ein Gespräch 1. März 1882, gegenüber Erich Schmidt zu bedenken:
zwischen dem Erzähler und der umworbenen Susan- »Meine Novellistik ist aus meiner Lyrik erwachsen«
ne vortäuscht: »Unmerklich, wenn mich die Erinne- (Storm–Schmidt II, 57). Gerade vor diesem Hinter-
rung nicht täuscht, waren wir in jenen träumerischen grund ist zu fragen, welche Rolle die Thematisierung
Zustand geraten, von dem in der Sommerstille, inmit- von Musik in der Lyrik übernimmt. Auffallend ist ihre
ten der webenden Natur so leicht ein junges Paar be- Häufung in den frühen Gedichten, als müsste die Jus-
schlichen wird: sie schweigen, und sie meinen fast zu tierung und Legitimierung der eigenen Schreibpositi-
reden; aber es ist nur das Getön des unsichtbar in Laub on genau hier vorgenommen werden. Verweisen die
und Luft verbreiteten Lebens [...].« (LL 2, 53) Damit Volksliedszenen in den narrativen Texten immer auf
wird die Liebe, welche sich beim jungen Paar erahnen die erzählstrukturierende und handlungsentschei-
lässt, »zum höchsten sinnkonstituierenden Faktor des dende Ambivalenz von Verführung und Klärung, Un-
42 II Einflüsse und Kontexte

tergang und Rettung, Tod und Leben, so ist es in der Diese musikalisch-naturlautliche Chiaroscura-
Lyrik die Musik bzw. ihr Potential selbst. Bei Storm Technik von Storms früher Lyrik findet auch ihre ge-
geht die musikalische Begleitung von Gesang durch sellschaftspolitische Deutung: Wie in Immensee Erich,
Zither, Gitarre oder Klavier immer Hand in Hand mit dem »aufstrebende[n] moderne[n] Unternehmer«
der Oralität und Ubiquität von Naturlautlichkeit. (Tebben 2006, 54), nach langem Drängen ihrer Mutter
Oder wie es im Gedicht Ständchen (1848, »Weiße Elisabeth zwar zuteil wird, ihm die Phantastik des
Mondesnebel schwimmen«) heißt: »Unermüdlich Hauptprotagonisten Reinhardt hingegen abgeht, so
sind die Saiten, / Und der Mund ist ohne Schranken« wird im Gedicht Märchen (1843) zwischen den »from-
(LL 1, 120). me[n] Bürgersleuten, / Die tags nur wissen, wie die
In der Variierung von Goethes Erlkönig (1782) ver- Glocke geht« (LL 1, 103, v. 9 f.), und dem »Poet« (ebd.,
spricht einzig die Zither im Arm des verzaubert schla- v. 14) unterschieden. In der akustischen Metaphorik
fenden »Mägdelein« noch Rettung vor dem Tannkönig erfolgt die Attribuierung: Einzig die Stunden zählende
(1843): »Nur wenn im Arm die Zither klingt, / Da hell Glocke strukturiert das abgemessene Leben der »Phi-
der Wind vorüberzieht, / Wenn gar zu laut die Drossel lister« (ebd., v. 7). Die Urlautlichkeit – das »Wald-
singt, / Zuckt manches Mal ihr Augenlid.« (106) Klang geläute« (ebd., v. 13) – hingegen verbindet nicht nur
des Instruments und Gesang der Natur bergen an die- Natur und Volksgedicht im Sinne von Reinhardts
ser Stelle die Möglichkeit, das Opfer des Tannkönigs Volksliedtheorie in Immensee, sondern öffnet auch
zum Erwachen und zu Bewusstsein zu bringen, um Tür und Tor zu »Geschichten« (ebd., v. 3): »So laßt
der drohenden Gewalt noch rechtzeitig zu entfliehen. euch denn im blanken Liederringen / Von Reim zu
In diametral entgegengesetzter Funktion wird das In- Reim ins Land der Märchen schwingen.« Das Gedicht
strument im zweiten Teil des Gedichts thematisiert, Märchen belegt hier nicht nur den engen Konnex zwi-
wenn die Elfen verführerisch sprechen: »Schön Jung- schen Storms Lyrik und Novellistik, sondern auch die
fräulein, was wird dir bang? / Wach auf und schlag die akustisch-musikalische Grundbedingung lyrischen
Saiten an!« (ebd.). Die hellen Vokale der vierten Stro- Schreibens für die narrative Phantastik überhaupt.
phe weichen in der zweiten Strophe des zweiten Teils Dass naturhafte Klanglichkeit und deshalb auch die
semantisch homomorph dunklen männlichen Rei- Musik wiederum Chiffren einer neuen Zeit und Ge-
men. Das Mädchen fällt dem Tannkönig zum Opfer. sellschaftsordnung jenseits von dänischer oder preu-
Die Musik indiziert Gewalt, wie sie im Gedicht Hya- ßischer, adliger oder klerikaler Vorherrschaft sind, ist
zinthen (1852) omnipräsent ist: »Es hört nicht auf, es zum einen musikalisch, zum anderen in der akus-
ras’t ohn’ Unterlaß« (23). Insbesondere im Kontext tischen Rezeption des Gedichteten angelegt: So gilt
von Erotik markiert die Musik oft ein »Spiel von das »Hören« als Grundbedingung musikalischer Re-
Macht und Unterwerfung« (Tebben 2006, 54). zeption sowohl dem »Edelstein der Dichtung« – wie es
Noch expliziter wird die Ambivalenz der (Natur-) im Gedicht Ein Epilog (1864, LL 1, 61, v. 17) heißt – als
Klanglichkeit im Metagedicht Käuzlein (1843) zur ste- auch der politischen Sensibilität, welche bei Storm je-
reotypisierten Funktion von Sterbe- und Liebeslied, doch nie in ein vordergründiges Engagement, son-
vom Heulen des Kauzes und dem Gesang der Nachti- dern viel eher in eine erhöhte Introspektion mündet.
gall. Gefragt wird nach dem Lebensraum der beiden Es ist dennoch bezeichnend, dass die Grundbedin-
Funktionen, welche idealiter nebeneinander existie- gung für ein allgemein dichterisches Schreiben und
ren und sich ergänzen sollten. Die lautliche Umset- für ein politisches Sensorium in eins fallen. So spricht
zung macht aber deutlich, dass sich der Weg der bei- Storm im Zusammenhang mit dem sich ankünden-
den Gesänge als Fahrt zwischen Skylla und Charybdis den Umbruch 1848 vom »Klang der aufgeregten Zeit«
entpuppt: Die reichen Haufenreime der Verse 1 bis 4 (Abseits, 12, v. 23), vom »süßen Sommerharfenklan-
und 6 bis 9 optieren jeweils nur für eine Variante, ent- ge« (im höchst optimistischen Zukunftsgedicht Auf
weder für das »Sterbelied« oder für das »Liebeslied« dem Segeberg, 68, v. 14) und in der Fortsetzung von
(Roebling 2013). Erst in der anvisierten Synthese, wel- 1852: »Sie jauchzen auf, die Felsen klingen« (v. 23);
che in der paronomastischen Entflechtung der Hau- oder kurz nach dem Tod von Friedrich VII von Däne-
fenreime von »Liebeslied« (LL 1, 116, v. 11) und »Ster- mark 1863: »Des Dänenkönigs Totenglocke gellt; /
belied« (ebd., v. 12) zu »Liebe schied« zustande Mir klinget es wie Osterglockenläuten!« (Gräber in
kommt, wird der »wegbreit[e]« Schwebezustand, der Schleswig, LL 1, 83, vv. 11 f.).
nicht direkt in den Tod zu münden hat, wenigstens an- Storms Gedichten kam nicht wie denjenigen Hein-
gedeutet. rich Heines das Glück zu, bereits zu Lebzeiten von
11 Storm und die Musik 43

Komponisten im Range eines Schubert oder Schu- um »die erste Liedschöpfung nach einer Pause von
mann vertont zu werden. Mindestens einmal reflek- rund 13 Jahren«. Sie ist konsequent in einer Zwölfton-
tiert Storm diesen Tatbestand in seinem Erzählwerk. reihe gehalten, welche aber (entgegen dem dodeka-
Aus der späteren Novelle Ein stiller Musikant (1875), phonischen Prinzips der Gleichwertigkeit aller Töne)
welche wir noch unten ausführlicher besprechen, wird zwei tonale Zentren ausbildet, zum einen F-Dur, zum
ersichtlich, dass Storm der Vertonung per se einen ho- anderen Ces- bzw. H-Dur (Witzenmann 1989, 137) –
hen Stellenwert beimisst. Dass aber Franz Schubert wiederum ein für Berg typisches Verfahren. Auch
die Vorbildfunktion par excellence zukommt, geht be- wenn hinter diesen beiden Tonarten die Initialen der
reits aus der Szene hervor, in welcher der Erzähler und großen Liebe des Komponisten zu Franz Werfels
Musiker Christian Valentin nach dem pianistischen Schwester Hanna Fuchs-Robettin verborgen sein mö-
Versagen seine Todesgedanken mit der Musik aus gen (ebd., 140), so ist die Bitonalität Bergs dennoch
Schuberts Liedzyklus Die schöne Müllerin unterfüttert zugleich auch Garantin dafür, die Ambivalenz, welche
(LL 2, 299). Storm wird gewusst haben, dass sein »Ler- sowohl im narrativen als auch lyrischen Musikmotiv
chenlied« bei den Komponisten auf den größten Zu- zum Ausdruck kommt, adäquat in wirkliche Töne zu
spruch stößt. Entsprechend verfasst auch Valentin in überführen.
der Binnenerzählung »das süße Lerchenlied« (311),
das mit der Zeile »Du liebe schöne Gotteswelt« be-
Die Funktion der Musik in den späteren Novellen
ginnt, aber sicherlich nicht aus der Feder von Storm
stammen würde: Zu gottesbejahend und zu naiv Schon vor seinem Rückzug auf seinen Alterssitz in Ha-
kommt diese Lyrik daher. Dennoch entfaltet das Ge- demarschen beginnt sich eine neue Musikauffassung
dicht in seiner Vertonung die Macht der Musik: »[E] bei Storm herauszubilden, aus der sich sein Vorbehalt
ine hingebende Liebe sprach aus ihrem jungen Ant- gegenüber einer bestimmten Form zeitgenössischer
litz; und jetzt in unaussprechlich süßen Tönen er- Musik, insbesondere auch gegenüber derjenigen Ri-
schollen die letzten Worte« (309). So sehr die hier be- chard Wagners (Wendt 1914, 38, 80), erklären lässt.
schriebene Musik dem Ideal Storms auch entsprechen Exemplarisch zeichnet sich diese Umakzentuierung in
mag, so sehr relativiert sich ihre Funktion im Sinne ei- der Novelle Ein stiller Musikant (1875) ab, in welcher
nes vergangenen Zeitdokuments, das dem explizit der Hauptprotagonist und Musiker Christian Valentin
konservativen Geschmack Valentins entspricht, von – für das virtuose Klavierspiel zu träge (LL 2, 286) –
dem sich der Erzähler zu distanzieren weiß: »[W]ie er zum Lehrer und Dichter wird. Das Klavierspiel ist nicht
[Valentin] in der Musik bei seinem Haydn und seinem mehr – wie noch beispielsweise für den Hauslehrer und
Mozart blieb, so waren es in der Poesie die klaren Gelehrten Arnold in der Novelle Im Schloß – fester
Frühlingslieder Uhland’s oder auch wohl die friedhof- Bestandteil allgemeiner Bildung, sondern nur noch
stillen Dichtungen Hölty’s, die ich aufgeschlagen auf »Ausdruck einer Leistungsethik« (Tebben 2006, 70).
seinem Tische zu finden pflegte.« (281) Damit kommt es zu einer neuen Ambivalenz zwischen
Offenbar ist sich der Erzähler dieser Novelle durch- »Selbstentfaltung« und »Fremdbestimmung« (ebd.).
weg der Diskrepanz zwischen seinem musikalischen Christian Valentin hat an den neuen Ansprüchen zu
und literarischen Geschmack bewusst. Daraus kann scheitern: Geradezu emblematisch dafür ist die Auf-
man schließen, dass Storms Dichtung – selbst aus der führung von Mozarts Fantasie in c-moll (KV 475), wel-
Sicht von Storms Spätwerk – erst posthum angemes- che in sich bereits die verschiedenen Affekte in schizo-
sen vertont wird. Weder eine romantisierende rück- phrener Abfolge aufeinanderprallen lässt. Das Spiel
wärtsgewandte noch eine progressive neudeutsche Christian Valentins wiederum kollabiert in Angstblo-
Musik à la Liszt oder Wagner wird der Lyrik Storms in ckaden (LL 2, 297 f.; vgl. dazu Tebben 2006, 72 f.).
ihrer Eigenart gerecht. Es braucht eine Musik, welche Die letzte Konzertszene in derselben Novelle hebt
das Gedicht in seiner Ambivalenz offen halten kann: hervor, dass eine neue Generation im Anmarsch ist,
Geradezu exemplarisch nimmt sich daher Alban die einen anderen Anspruch an die Musik stellt. Der
Bergs zweimalige Vertonung des Storm-Gedichts Kommentar auf eine Mozart-Arie fällt aus der Sicht
Schließe mir die Augen beide (1849, LL 1, 34) aus: Ori- des Ich-Erzählers und seines älteren Sitznachbarn ein-
entiert sich die erste Vertonung 1907 stilistisch noch deutig, nämlich hochromantisch, aus: »[D]as war die
an Brahms – wobei der 5/4-Takt das harmonisch-me- Kunst, die alles Erdenleid in Wohllaut löste!« Doch die
trische Gefüge in einer eigentümlichen Schwebe hält Reaktion des Jüngeren überrascht sie: »Der flott fri-
–, handelt es sich bei der Wiedervertonung von 1925 sierte Kopf eines vor uns sitzenden jungen Mannes bog
44 II Einflüsse und Kontexte

sich nach dem alten Herrn zurück. ›Was sagst du, On- Marx durch den Portier ausgehändigt bekommen hat,
kel? Hübsche Stimme; aber etwas seltsam; autodidak- spielt er in der Klavierstunde vor – »ohne jeden An-
tisch!‹« (LL 2, 307) Es geht hier nicht einfach um das stoß«: »[D]ie schwierigsten Passagen flogen mir nur
Aufzeigen einer konservativen Musikauffassung oder so aus den Fingern, daß der Lehrer mich befremdet
des Auseinandertretens von bürgerlich-volkstümli- und doch höchst beifällig ansah.« (LL 3, 326) Damit
cher Hausmusik und ›ernster‹ Musik (Dönnges 2013, wird die Divergenz von seelenloser technischer Vir-
126–132). Der neuen Generation geht es nicht mehr tuosität und musikalischer Innigkeit besonders au-
um die Musik als Medium einer anderen Welt, son- genfällig.
dern nur noch um die Musik als Bühne des oder der Wenn schließlich der Erfolg von Storms Schimmel-
Aufführenden. Allein schon die Vorstellung, dass die reiter (1888) musikalischen Paradigmen geschuldet
Sängerin nicht professionell ausgebildet sein könnte, ist, so verwundert das weiter nicht. In Absetzung vom
ist dem jungen Mann im beschriebenen Konzert zu- bisherigen Werk sind nicht mehr musikalisch-akus-
wider. Man geht neuerdings ins Konzert, um die Per- tische Motive oder Konzertszenen entscheidend.
fektion der musikalischen Aufführung zu bewundern, Wird in der Novelle »Es waren zwei Königskinder« der
und nicht, um eine andere (romantische) Welt der Generationenkonflikt im Anspruch an die Musik un-
Harmonie zu erleben. Storms Position ist aber nicht so lösbar, so internalisiert Der Schimmelreiter in seiner
einfach zu bestimmen, wird doch das Scheitern Valen- Mikro- wie Makrostruktur vornehmlich musikalische
tins am Leistungsanspruch, »dem er mental nicht ge- Gesetze. Wie Christian Demandt einsichtig aufzeigt,
wachsen ist«, in der Binnenerzählung und die sich an- ist die Novelle in hohem Maße von lyrischen Momen-
bahnende Divergenz zwischen alter und neuer Gene- ten der Lautmalerei und Assonanzen geprägt, welche
ration in der Rahmenerzählung dargelegt. sich bis ins »Oratorienhafte« steigern (Demandt 2010,
In der Novelle »Es waren zwei Königskinder«, die 187 f.). In der großformalen Struktur schafft Storm ei-
1884 in Hademarschen entsteht und noch im selben ne neue Dramatik, welche sich an der Tragödie (als ei-
Jahr unter dem Titel Marx veröffentlicht wird, be- gentlicher Bocksgesang) orientiert: »Die Schulmeis-
nannt nach dem Hauptprotagonisten, wird der Kon- ter-Erzählung wird fünfmal unterbrochen. Die auf
flikt unlösbar. Die Musikinterpretation, insbesondere diese Weise entstehenden sechs Abschnitte lassen sich
auf dem Klavier, ist hochgradig professionalisiert und dem [...] traditionellen Aufbau des klassischen Dra-
technisiert. Dabei spielen Liszt und die »Lebert- mas zuordnen.« (Demandt 2010, 190) Der doppelte
Starksche[ ] Methode«, wie sie an der »Hochschule Gedankenstrich als Kennzeichen der späten Prosa
der Musik« in Stuttgart gelehrt wird, eine zentrale markiert die Grenze des Erzählbaren selbst und bietet
Rolle (LL 3, 295). Dem Halbfranzosen und ›Konser- einer mechanisierten Poetologie immerzu Einhalt.
vatoristen‹ Marx, mit dem der Ich-Erzähler, ein Kla- Sein »unübertroffener Meister in der deutschen Lite-
vier-Student desselben Professors, eine enge fürsorg- ratur des neunzehnten Jahrhunderts«, Theodor
liche Beziehung unterhält, gelingt es nur ein Mal, sein Storm, versteht, den »ernste[n] Gedankenstrich« als
versiertes »technische[s] Klavierspiel« (LL 3, 314) mit »sorgenvolles Schweigen« einzusetzen, wohinter sich
richtiger Musikalität zu verbinden – dank seiner Lie- »diskret [...] der Mythos [versteckt]« (Adorno 1956,
be zu Lisele: »Marx [...] gewann eine Innerlichkeit des 108 f.). Die konsequente Aneignung musikalisch-dra-
Vortrags, die ich ihm zuvor nicht zugetraut hätte« matischer Gesetze verleiht der Novelle eine neue Dy-
(ebd.). Das Scheitern der Liebe aus Bedenken der Ge- namik. Musik ist nicht mehr nur Motiv und Symptom
liebten in Bezug auf den Standesunterschied treibt einer neuen Zeit, sondern wird zum poetischen Ge-
Marx in eine Abwärtsspirale, die seine Kommilitonen setz – selbst als musikalische Fermate.
nicht aufzufangen wissen. Lieber unterhalten sie sich
»über das letzte Konzert, über den Chorgesang, über Literatur
die Modulationslehre« und brechen »für Wagner eine Adorno, Theodor W.: Satzzeichen (1956). In: Noten zur Lite-
Lanze« (318). Symptomatisch ist schließlich weniger ratur. Frankfurt a. M. 1981, 106–113.
Baßler, Moritz: Die ins Haus heimgeholte Transzendenz.
die Internalisierung des Konflikts (Tebben 2006, 77), Theodor Storms Liebesauffassung vor dem Hintergrund
auch nicht eine zu geringe Anteilnahme des Ich-Er- der Philosophie Feuerbachs. In: STSG 36 (1987), 43–60.
zählers am tragischen Schicksal, das in Marx’ Suizid Bauer, Gisela: Theodor Storm und Robert Schumann. In:
mündet, als vielmehr das Gelingen des Klavierspiels STSG 39 (1990), 69–74.
im Zustand völliger Teilnahmslosigkeit. Kurz nach- Browning, Robert Marcellus: Association und Disassociati-
on in Storm’s Novellen. A Study in the Meaning of the
dem der Ich-Erzähler das Abschiedspäckchen von
11 Storm und die Musik 45

Frame. In: Publications of the Modern Language Associati- Sievers, Hans Jürgen: Zur Geschichte von Theodor Storms
on 66 (1951), 381–404. »Singverein«. In: STSG 18 (1969), 89–105.
Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor Tanaka, Hiroyuki: Theodor Storm und die Musik des
Storm. Berlin 2010. 19. Jahrhunderts. In: Brian Coghlan/Karl Ernst Laage
Dönnges, Ulrich: Musik in der Dichtung. I. Teil: Das lange (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Vorträge
19. Jahrhundert. Kirchentellinsfurt 2013. und Berichte des Internationalen Storm-Symposions aus
Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart/Weimar 1997. Anlass des 100. Todestages Theodor Storms. Berlin 1989,
Laage, Karl Ernst: Theodor Storm und sein Chor. In: Theo- 145–150.
dor Storm und sein Chor. Eine Chronik. Husum 1993, 17– Tebben, Karin: Don Juan in der Bürgerstube. Mozarts Oper
34. und ihre Bedeutung in Theodor Storms »Auf dem Staats-
Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Eine Biographie. Heide hof«. In: STSG 53 (2004), 81–92.
1999. Tebben, Karin: Musik und Tanz im Werk Theodor Storms.
Missfeldt, Jochen: Theodor Storm und die Sängerbewegung In: Literaturwissenschaft und Linguistik 141 (2006), 52–81.
in Schleswig Holstein. In: STSG 62 (2013), 7–16. Thürmer, Wilfried: »alle Menschen als Kinder eines Sterns«.
Por, Peter: Verrätselung. Perspektiven eines poetischen Ver- Zur Teleologie von Musik in Theodor Storms Erzählung
fahrens bei Gérard Nerval und Theodor Storm. In: Deut- Eine Halligfahrt. In: Literaturwissenschaft und Linguistik
sche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geis- 141 (2006), 82–99.
tesgeschichte 59 (1985), 422–444. Wendt, Robert: Die Musik in Theodor Storms Leben. Greifs-
Roebling, Irmgard: Storm und die weibliche Stimme. In: wald 1914.
STSG 42 (1993), 54–62. Witzenmann, Wolfgang: »Text von Theodor Storm«. Zu den
Roebling, Irmgard: Vom »richtigen Gebrauch der Assonanz Klavierliedern Alban Bergs. In: Die Musikforschung 41
und Alliteration im Verse«. Das Verhältnis von Musikali- (1989), 127–141.
tät und Modernität in Storms Lyrik mit Blick auf singende Zimorski, Walter: Neuentdeckte Musikalien der Storm-Fa-
und verstummende Nachtigallen. In: STSG 62 (2013), 17– milie. Ein Forschungsbericht. In: STSG 46 (1997), 95–98.
35.
Boris Previsic
46 II Einflüsse und Kontexte

12 Storms Publikationspraxis nenbaum). Schindler veröffentlichte 1859 auch Storms


erste Gedichtanthologie Deutsche Liebeslieder seit Jo-
Storms frühe Veröffentlichungen erfolgten weit- hann Christian Günther. Eine Codification.
gehend in regionalen Blättern und Zeitschriften sowie Da weder Duncker noch Schindler bereit waren,
in den sieben Jahrgängen der Volksbücher für die Her- Storms Novelle Im Schloß zu übernehmen, die Ale-
zogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg (s. Kap. xander Duncker zu unmoralisch erschien, während
III E.75). 1843 konnte er 44 Gedichte im Liederbuch sich der Verfasser mit Heinrich Schindler nicht über
dreier Freunde publizieren, das auch Lyrik seiner Stu- das Honorar einigen konnte, musste Storm nach alter-
dienfreunde Theodor und Tycho Mommsen enthält nativen Publikationsmöglichkeiten suchen. Zunächst
und in der Schwers’schen Buchhandlung in Kiel er- fand er in Emil Carl Brunn einen Verleger, der in sei-
schien. Erst ein knappes Jahrzehnt später, im Jahre nem Verlag in Münster 1863 die Novellen Auf der Uni-
1852, veröffentlichte er im selben Verlag seinen ersten versität und Im Schloß publizierte. Dann zeigte der
selbständigen Gedichtband. Schleswiger Verleger Hermann Heiberg Interesse und
Storm bemühte sich zur selben Zeit aber auch da- verlegte 1867 die Novelle Von Jenseit des Meeres sowie
rum, überregional bekannt zu werden und nahm mit 1868 In St. Jürgen und Eine Malerarbeit. Diese drei No-
dem Verleger Alexander Duncker in Berlin Kontakt vellen erschienen im selben Jahr als Sammelband, der
auf. Ihm schickte er im Herbst 1850 Gedichte und Er- vor allem für Leihbibliotheken bestimmt war, noch
zählungen, von denen einige bereits in den Volks- einmal unter dem Titel Novellen.
büchern abgedruckt worden waren. Duncker ver- Im Hamburger Verlag Wilhelm Mauke Söhne, der
öffentlichte 1851 auf Empfehlung von Storms späte- 1873 nach Leipzig verlegt wurde, erschienen 1866
rem Freund Paul Heyse die Sommergeschichten und Storms Drei Märchen (Die Regentrude, Bulemanns
Lieder mit 36 Gedichten, der Märchen-Szene Schnee- Haus und Der Spiegel des Cyprianus) sowie 1870
wittchen sowie den Erzählungen Im Saal, Der kleine Storms zweite Gedichtanthologie Hausbuch aus deut-
Häwelmann, Immensee, Postuma und Marthe und ihre schen Dichtern, wovon 1875 eine aufwendig illustrier-
Uhr. 1852 folgte eine Separatausgabe der Novelle Im- te Prachtausgabe herauskam.
mensee, mit der Storm als Poet in ganz Deutschland Neben den Buchpublikationen veröffentlichte
bekannt wurde und die bis zu seinem Tod 28 Auflagen Storm in verschiedenen Zeitschriften etwa 45 Novel-
erlebte. Im Verlag von Alexander Duncker erschienen len und Prosatexte, darunter 11 in der Deutschen
weitere Bücher Storms, 1855 Im Sonnenschein. Drei Rundschau und 15 in Westermann’s Illustrirten Deut-
Sommergeschichten (Im Sonnenschein, Marthe und ih- schen Monatsheften.
re Uhr und Im Saal) sowie 1857 eine Bearbeitung des Als im Herbst 1861 mehrere Verlage bei Storm um
Märchens Stein und Rose unter dem Titel Hinzelmeier. Mitarbeit nachsuchten, griff Storm gerne zu, da er
Eine nachdenkliche Geschichte. hoffte, in den neu gegründeten Familien- und Frau-
In Berlin schloss sich Storm dem »Tunnel über der enzeitschriften ein Forum für weitere Veröffent-
Spree« an und wurde Mitarbeiter der Argo, eines belle- lichungen zu finden und damit ein größeres Publi-
tristischen Jahrbuchs, das u. a. von Theodor Fontane kum als mit den Volksbüchern oder der Argo errei-
herausgegeben wurde. Hier veröffentlichte er die Er- chen zu können.
zählungen Ein grünes Blatt (1854), Wenn die Äpfel reif In den Folgejahren gelang es ihm ‒ oft nur nach
sind (1857), Auf dem Staatshof sowie Späte Rosen langwierigen Verhandlungen über die geforderten
(1860). Honorare (vgl. Jackson 2001, 154 f.) ‒, etwa zwanzig
Als Alexander Duncker eine erweiterte Auflage sei- Novellen und Erzählungen in acht auflagenstarken
nes Gedicht-Bandes ablehnte, fand Storm in Heinrich Zeitschriften zu publizieren und damit zu einem der
Schindler einen weiteren Verleger, in dessen Berliner bekanntesten Erzähler des Poetischen Realismus zu
Verlag seit 1856 die Gedichte veröffentlicht wurden. werden. Nicht immer vermochte er jedoch seine Texte
Außerdem erschienen hier 1855 die Novellenbände in der ursprünglich geplanten Fassung zu publizieren;
Ein grünes Blatt, Zwei Sommergeschichten (Angelika, die Novelle Im Schloß wurde für den Druck stellenwei-
Ein grünes Blatt); 1860 In der Sommer-Mondnacht se zensiert (s. Kap. III D.40). Storms Artikel über den
(Auf dem Staatshof, Wenn die Äpfel reif sind, Postuma ›Volksglauben im katholischen Deutschland‹ erschien
und Der kleine Häwelmann); 1861 Drei Novellen (Ve- in der Gartenlaube unter einem anderen Titel (Das
ronica, Späte Rosen und Drüben am Merkt) sowie 1865 Nummerträumen) und mit Rücksicht auf die katho-
Zwei Weihnachtsidyllen (Abseits und Unter dem Tan- lische Leserschaft ohne Storms Einleitung, ohne Nen-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_12, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
12 Storms Publikationspraxis 47

nung des Verfassernamens – und ohne Wissen des deutliche Wendung zum Literarischen und Unterhal-
Verfassers (vgl. Eversberg 2015). tenden. Es gelang dem Verleger George Westermann
Storm sicherte sich in allen Fällen die Rechte an sei- und dem Redakteur Adolf Glaser, bedeutende Erzäh-
nen Texten, so dass er den Vorabdruck meist schon ler zur Mitarbeit zu gewinnen, darunter Theodor
nach einem Jahr als separate Buchausgaben oder in Storm mit 15 Beiträgen zwischen 1865 und 1888, die
Sammelbänden erneut veröffentlichen konnte. zu den literarischen Stützen des Blattes zählten, das
mit 1856 mit 3000 Abonnenten begann und 1877 eine
Storms Veröffentlichung in populären Familien- Auflagenhöhe von 15.000 Exemplaren erreichte.
zeitschriften:
Drüben am Markt in Über Land und Meer. All- Storms Werke in Westermann’s Illustrirten Deut-
gemeine illustrirte Zeitung (1861), Am Kamin in schen Monatsheften:
Victoria. Illustrirte Muster- und Mode-Zeitung Von Jenseit des Meeres, Bd. 17, 1865; Eine Maler-
(1862), Das Nummerträumen und Im Schloß in arbeit, Bd. 23, 1867; Zerstreute Kapitel, Bd. 29–35,
Die Gartenlaube (1862), Der Spiegel des Cyprianus 1871–73; Viola tricolor, Bd. 36, 1874; Ein stiller
in Bazar. Illustrirte Damen- und Modenzeitung Musikant, Bd. 38, 1875; Im Nachbarhause links,
mit Unterhaltungsblatt (1865), In St. Jürgen in Bd. 39, 1875; Meine Erinnerungen an Eduard Mö-
Deutsches Künstler-Album (1868) sowie Marx rike, Bd. 41, 1877; Carsten Curator, Bd. 44, 1878;
(später Es waren zwei Königskinder) in Vom Fels Der Finger (später Im Brauer-Hause) Bd. 46, 1879;
zum Meer. Spemanns Illustrirte Zeitschrift für das Der Herr Etatsrat, Bd. 50, 1881; Hans und Heinz
Deutsche Haus (1884/85). Kirch, Bd. 53, 1882; Zur Chronik von Grieshuus,
Beiträge Storms in der Leipziger Illustrirten Zei- Bd. 57, 1884; Geleitwort zu Aus den Erzählungen
tung: Unter dem Tannenbaum (1862), Abseits aus den Bädern von Lucca. Von G. Dur. (d. i. Julius
(1863), Die Regentrude (1864) und Bulemanns Mannhardt), Bd. 58, 1885; Noch ein Lembeck,
Haus (1864). Bd. 59, 1885; Ein Bekenntnis, Bd. 63, 1887.
Beiträge Storms in Der Salon für Literatur, Kunst
und Gesellschaft: Neue Lieder (1871), Draußen im Seit 1868 gab der Verlag Westermann Storms Sämmt-
Haidedorf (1872) sowie Beim Vetter Christian liche Schriften heraus, zunächst als Erste Gesammtaus-
(1873). gabe in 6 Bänden; 1872 erschien die zweite Auflage in
Beiträge Storms in Deutsche Jugend: Lena Wies. 12 Lieferungen, 1877 die Bände 7–10 und 1882 die
Ein Gedenkblatt (1873), Pole Poppenspäler (1874) Bände 11–14. Kurz vor seinem Tod las Storm noch für
sowie Von Kindern und Katzen, und wie sie Nine 18 Bände der 1889 ausgelieferten Gesammelte Schriften
begruben. Ein Gedenkblatt (1877). in 19 Bänden Korrektur. Dies war aber nur für die je-
weils neu gesetzten Serien erforderlich, da in der Ver-
Anfang November 1864 lud der Verleger George Wes- lagsdruckerei Westermann von den Druckplatten der
termann Storm zur Mitarbeit an Westermann’s Illus- in drei Serien von 1872 (Bde. 1–6), 1877 (Bde. 7–10)
trirten Deutschen Monatsheften ein, die seit Oktober und 1882 (Bde. 11–14) nach dem Stereotypieverfahren
1856 monatlich erschienen. Die Besonderheit der Fa- Papier-Matrizen angefertigt wurden, von denen bei
milienzeitschriften seit der Jahrhundertmitte bestand Bedarf der neue Bleisatz hergestellt werden konnte.
in ihrer medialen Botschaft, nach der ihr vorrangiges
Ziel die Unterhaltung eines bürgerlichen Leserpubli- Verteilung der Texte in Gesammelte Schriften in 19
kums war. Die soziale Funktion des Lesens war mit Bänden (1889):
informierenden und bildenden Aspekten verknüpft; Bd. 1: Gedichte; Bd. Immensee, Späte Rosen, Im
neben der Wissensvermittlung trat die Unterhaltungs- Schloß, Veronica; Bd. 3: Auf dem Staatshof, Im Son-
funktion in den Vordergrund. Unterhaltsam im wei- nenschein, Ein grünes Blatt, Unter dem Tannen-
teren Sinne waren Erzähltexte, Sachbeiträge und Il- baum, Abseits, Bd. 4: Von Jenseit des Meeres, Im
lustrationen, die sich mit der rasanten Entwicklung Saal, In St. Jürgen, Eine Malerarbeit; Bd. 5: Auf der
der photographischen Reproduktionstechniken bis Universität, Angelica, Postuma, Wenn die Äpfel reif
zur Jahrhundertwende veränderten. Die Monatshefte sind, Drüben am Markt, Marthe und ihre Uhr;
wandten sich an ein exklusives Bildungsbürgertum, Bd. 6: Geschichten aus der Tonne (Die Regentrude,
zunächst durch einen Schwerpunkt im naturwissen- Der Spiegel des Cyprianus und Bulemanns Haus),
schaftlichen Bereich, seit den 1860 Jahren durch eine Hinzelmeier, Der kleine Häwelmann; Bd. 7: Ge-
48 II Einflüsse und Kontexte

dichte, Draußen im Haidedorf, Viola tricolor, Beim submersus, 1876, Bd. 9; Renate, 1878, Bd. 15; Zur
Vetter Christian; Bd. 8: Die neuen Fiedel-Lieder, »Wald- und Wasserfreude«, 1879, Bd. 18; Eeken-
Zerstreute Kapitel (Der Amtschirurgus ‒ Heimkehr, hof, 1879, Bd. 21; Die Söhne des Senators, 1880,
Lena Wies, Von heut’ und ehedem, Zwei Kuchenes- Bd. 25; Schweigen, 1883, Bd. 35; Eine stille Ge-
ser der alten Zeit, Von Kindern und Katzen, und schichte (später John Riew’), 1885, Bd. 42; Aus en-
wie sie Nine begruben, Eine Halligfahrt; Bd. 9: Pole gen Wänden. Eine Geschichte (später Bötje Basch),
Poppenspäler, Waldwinkel; Bd. 10: Ein stiller Musi- 1886, Bd. 49; Der Schimmelreiter sowie Nachgelas-
kant, Psyche, Im Nachbarhause links; Bd. 11: Ge- sene Blätter von Theodor Storm, 1888, Bd. 55.
dichte, Aquis submersus; Bd. 12: Renate, Carsten
Curator; Bd. 13: Eekenhof, Zur »Wald- und Was- Die Praxis, seine Novellen zunächst in einer Zeit-
serfreude«; Bd. 14: Im Brauerhause, Die Söhne des schrift zu veröffentlichen, ermöglichte es Storm, im
Senators, Meine Erinnerungen an Eduard Mörike; Kontakt mit Familienangehörigen und engen Freun-
Bd. 15: Hans und Heinz Kirch, Ein Doppelgänger; den eine Revision vorzunehmen und kritische An-
Bd. 16: Zur Chronik von Grieshuus, Bötjer Basch; merkungen aus dem Kreis der Erstleser in die Druck-
Bd. 17: Gedichte, Ein Fest auf Haderslevhuus, vorlagen für die Buchausgaben einzuarbeiten. Bei der
Schweigen; Bd. 18: Der Herr Etatsrat, »Es waren Übernahme seiner Novellen in die Sämmtlichen
zwei Königskinder«, John Riew’; Bd. 19: Ein Be- Schriften veränderte er nur noch wenig. Daher lässt
kenntnis, Der Schimmelreiter. sich bei den meisten Texten eine genetische Entwick-
Darüber hinaus erschienen folgende Buchaus- lung hin zu einer Ausgabe letzter Hand nachvollzie-
gaben bei Westermann: 1874 Novellen und Ge- hen. Dies gilt aber nicht für Storms Gedichte, die bei
denkblätter, 1875 Waldwinkel. Pole Poppenspäler. Paetel bis zur siebten Auflage 1885 in jeweils ver-
Zwei Novellen, 1876 Ein stiller Musikant. Psyche. ändertem Textkorpus herauskamen. (Und die Bände
Im Nachbarhause links. Drei Novellen sowie 1877 1, 7, 8, 11 und 17 der Sämmtlichen Schriften bei Wes-
die 4. durchgesehene Auflage von Hausbuch aus termann enthalten ebenfalls Gedichte.) Auch die
deutschen Dichtern seit Claudius. Druckgeschichte der Novellen in dem Sammelband
Vor Zeiten, der 1886 bei Paetel erschien und die No-
Am 1. Januar 1870 übernahmen die Brüder Elwin vellen Eekenhof, Zur Chronik von Grieshuus, Renate,
Paetel und Hermann Paetel die Firma A. Dunckers Aquis submersus sowie Ein Fest auf Haderslevhuus ent-
Buchverlag, deren Name 1871 in Verlag Gebrüder hält, weicht von diesem Prinzip ab.
Paetel verändert wurde. In Elwin Paetel gewann Storm
einen Verleger, der zunächst die Rechte an Storms Bü- Veröffentlichungen im Verlag Gebr. Paetel:
chern aus dem Verlag Duncker übernahm, dann wei- 1871 Immensee, 15. Auflage; Im Sonnenschein.
tere Texte Storms veröffentlichte und schließlich die Drei Sommergeschichten, 5. Auflage; 1872 Von Jen-
Rechte an den übrigen Verlagsprodukten Storms seit des Meeres, 2. Auflage: Geschichten aus der
durch Übernahme der Verlage Schindler, Mauke und Tonne, 2. Auflage; Immensee, 17. Auflage; Zer-
Heiberg an sich zog. streute Kapitel (Der Amtschirurgus – Heimkehr,
Damit hatte Storm nun zwei Verlage, in denen er Gedichte, Eine Halligfahrt, Die neuen Fiedellieder,
seine Werke veröffentlichen konnte. Da auch bei Pae- Draußen im Haidedorf, Zwei Kuchenesser der alten
tel eine renommierte literarische und wissenschaftli- Zeit); 1874 Immensee, 18. Auflage; 1875 Gedichte,
che Zeitschrift erschien, konnte der Autor nun aus- 5. vermehrte Auflage; Zerstreute Kapitel, 2. Auf-
wählen, wo er seine Novellen platzierte. Die Deutsche lage; Zwei Weihnachtsidyllen, 2. Auflage; 1877
Rundschau wurde 1874 von Julius Rodenberg gegrün- Aquis submersus; In St. Jürgen, 2. Auflage; 1878
det und galt als eines der besten Journale in Deutsch- Carsten Curator; Drei Novellen, 2. Auflage; Im-
land. Theodor Storm veröffentlichte hier seine Alters- mensee, 21. Auflage; Neue Novellen (Renate, Cars-
novelle Der Schimmelreiter und Theodor Fontane sei- ten Curator); Renate; 1879 Eekenhof. Im Brauer-
nen Roman Effi Briest; weitere Mitarbeiter waren u. a. Hause. Zwei Novellen; 1880 Drei neue Novellen
Paul Heyse, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Mey- (Eekenhof, Im Brauerhause, Zur »Wald- und Was-
er und Ernst Robert Curtius. serfreude«); Gedichte, 6. vermehrte Auflage; Im-
mensee, 23. Auflage; Zur »Wald- und Wasserfreu-
Beiträge Storms in der Deutschen Rundschau: de«. Novelle; 1881 Ein grünes Blatt, 4. Auflage; Der
Waldwinkel, 1874, Bd. l; Psyche, 1875, Bd. 5; Aquis Herr Etatsrat. Die Söhne des Senators. Novellen; In
12 Storms Publikationspraxis 49

der Sommer-Mondnacht. Novellen, 4. Auflage: Die Quickborn erschien am 22.12.1852 im Ditmarser und
Söhne des Senators; 1882 Im Sonnenschein. Drei Eiderstedter Boten. Während Storms Zeit im preußi-
Sommergeschichten, 7. Auflage; Der Herr Etatsrat; schen Exil druckte Friedrich Eggers in dem von ihm
1883 Hans und Heinz Kirch; Schweigen; Zwei No- redigierten Literatur-Blatt des Deutschen Kunstblattes
vellen. Schweigen, Hans und Heinz Kirch; 1884 Im insgesamt 6 Rezensionen aus Storms Feder ab: 1854:
Schloss, 2. Auflage; Zur Chronik von Grieshuus; A. Anton Niendorf, Lieder der Liebe; Julius Rodenberg/
1885 Ein Fest auf Haderslevhuus. Novelle; Gedich- Carl Heinrich Preller, Des Knaben Wunderhorn,
te, 7. vermehrte Auflage; John Riew’. Ein Fest auf 4. Band; Klaus Groth, Hundert Blätter; Hermann Kette,
Haderslevhuus. Zwei Novellen; Zur Chronik von Gedichte; 1855: Theodor Fontane.
Grieshuus, 2. Auflage (Paetel’s Miniaturausgaben- Später folgten noch drei weitere Rezensionen, Klaus
Collection 4); 1886 Aquis submersus, 2. Auflage; Groth, Quickborn 2. Teil in den Itzehoer Nachrichten
Ein Fest auf Haderslevhuus. Novelle, (Paetel’s Mi- vom 17.12.1870. Adolph Möller im Husumer Wochen-
niaturausgaben-Collection 8); Immensee, 27. Auf- blatt vom 18.1. und 10.5.1871 sowie Heiberg, Plaude-
lage (Paeters Miniaturausgaben-Collection 1); reien mit der Herzogin von Seeland in der Kieler Zeitung
John Riew’; Vor Zeiten. Novellen (Eekenhof, Zur vom 20.5.1881.
Chronik von Grieshuus, Renate, Aquis submersus,
Ein Fest auf Haderslevhuus); 1887 Bei kleinen Leu- Literatur
ten. Zwei Novellen (Bötjer Basch, Ein Doppelgän- Berbig, Roland: »Ich genehmige. Westermann.« Theodor
ger); Bötjer Basch. Eine Geschichte (Paetel’s Minia- Storms Briefwechsel mit dem Verlag Westermann – ein
Editionsdesiderat? In: STSG 56 (2007), 63–72.
turausgaben-Collection 11); Ein Doppelgänger, Ehekircher, Wolfgang: Westermanns illustrierte deutsche Mo-
(Paetel’s Miniaturausgaben-Collection 13); Im- natshefte. Ihre Geschichte und ihre Stellung in der Literatur
mensee 28. Auflage; John Riew’, 2. Auflage (Paetel’s der Zeit. Ein Beitrag zur Zeitschriftenkunde. Braunschweig
Miniaturausgaben-Collection 10); 1888 Auf der 1952.
Universität, 3. Auflage; Ein Bekenntnis (Paetel’s Eversberg, Gerd/Gohde, Almut/Lefebvre, Jean: Theodor
Storms Erzählwerk. Alphabetisches Verzeichnis. In: STSG
Miniaturausgaben-Collection 14); Der Schimmel-
57 (2008), 127–162.
reiter; »Es waren zwei Königskinder« (Paetel’s Mi- Eversberg, Gerd: Das Nummerträumen. Eine unbekannte
niaturausgaben-Collection 17). Erzählung Theodor Storms und ihre Bedeutung für das
Verständnis seiner Spukgeschichten. In: STSG 64 (2015),
Neben Gedichten, Novellen, Erzählungen, biographi- 74–109.
schen Skizzen und autobiographischen Texten ver- Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
öffentlichte Theodor Storm auch Zeitungsberichte
Lohmeier, Dieter: Zur Druckgeschichte der »Ersten Gesamt-
und Rezensionen. Auf Bitten seines Freundes Theodor ausgabe« von Storms Werken. In: STSG 35 (1986), 16–24.
Mommsen verfasste Storm im Jahre 1848 13 Berichte Lüpke, Ewald (Hg.): Theodor Storm. Briefe an Dorothea Jen-
für die Schleswig-Holsteinische Zeitung, die in Rends- sen und George Westermann. Braunschweig 1942.
burg erschien. Eine Rezension von Klaus Groths
Gerd Eversberg
50 II Einflüsse und Kontexte

13 Storm als Journalist hen, Korrespondenten in verschiedenen Städten der


beiden Herzogtümer zu finden; Schleswig war dabei
Zeitschriften mit kulturellem und literarischem An- vermutlich wichtiger als Holstein, denn es war der ei-
spruch wie Westermann’s Illustrirte deutsche Monats- gentliche Zankapfel zwischen den dänischen und den
Hefte oder die Deutsche Rundschau spielten in der schleswig-holsteinischen Nationalliberalen, und es
schriftstellerischen Praxis Storms eine wichtige Rolle: wurde nun auch zum Kriegsschauplatz. So wandte
Die Vorabdrucke seiner Novellen in diesen Zeitschrif- Mommsen sich am 9. April an seinen Studienfreund
ten interessierten ihn nicht nur wegen des Honorars, Storm, mit dem er und sein Bruder Tycho 1843 das Lie-
sondern auch, weil sie ihm die Möglichkeit boten, sei- derbuch dreier Freunde herausgegeben hatten, mit der
ne neuen Arbeiten einigen seiner literarisch sachkun- Bitte um Mitarbeit: »Ich rechne auf Sie für Berichte aus
digen Freunde zuzuschicken und deren Kritiken oder Ihrem Distrikte jedenfalls, wo möglich auch für leiten-
Vorschläge für die erste Buchausgabe zu nutzen. Ta- de Artikel, doch dürfen diese keinen ausschließend lo-
geszeitungen und Wochenblätter hingegen waren für kalen Charakter tragen.« Storm sagte zu und schrieb
ihn als Autor weitaus weniger wichtig. Es gab mit ih- eine Reihe von recht ausführlichen Artikeln, die zwi-
nen keine regelmäßige oder länger andauernde Zu- schen dem 18.4. und 30.5.1848 erschienen. Mommsen
sammenarbeit. war mit ihnen zufrieden; nur als Storm ihm sein Ge-
Als Journalisten hätte man Storm nur für kurze Zeit dicht, das später den Titel Ostern erhielt, schickte und
im Jahre 1848 bezeichnen können. Im größeren his- meinte, es sei vielleicht als Leitartikel brauchbar, mach-
torischen Zusammenhang der 1848er Revolution te er von diesem Angebot keinen Gebrauch.
nahm die sog. schleswig-holsteinische Erhebung eine Storm berichtete in seinen Artikeln vor allem über
Sonderstellung ein. Sie war nicht nur eine liberale Be- die Sorge der Husumer, dass die Arbeiten am Ausbau
wegung, die um Verfassungen für den jeweiligen Staat ihres Hafens, die 1847 begonnen hatten, durch die po-
und um politische Mitspracherechte der Staatsbürger litische Lage gefährdet würden, und über die Wahlen
kämpfte, sondern war auch der Beginn einer nationa- zur Nationalversammlung in der Frankfurter Pauls-
len Auseinandersetzung. Ihre Träger, die vor allem kirche mit dem überragenden Erfolg des Ober-
dem Bürgertum angehörten, wollten im Gegensatz zu gerichtsrats Heinrich Carl Esmarch in Schleswig, ei-
ihren Gegenspielern in Dänemark verhindern, daß nes Onkels von Storms Frau Constanze. Mommsen
die Herzogtümer Schleswig und Holstein voneinan- gab dann bald die Redaktion der Zeitung auf, weil er
der getrennt würden, und nahmen dafür auch die Probleme mit der Provisorischen Regierung hatte.
Aufkündigung der seit gut 350 Jahren bestehenden Aber auch danach lieferte Storm noch mehrere Arti-
Personalunion mit dem Königreich Dänemark in kel. Sie betrafen einen Vorgang, den Storm selbst
Kauf, weil sie die Möglichkeit bot, sich der nationalen schon für eine Posse hielt, der aber durchaus zeit-
Bewegung in Deutschland anzuschließen. Im März typisch war: Storm begann seinen ersten Artikel über
1848 wurde in Kiel eine Provisorische Regierung aus- ihn mit dem Satz: »Husum steht im Verdachte des Re-
gerufen, die ihren revolutionären Charakter dadurch publikanismus, der Wühlerei wohl gar und Anar-
zu kaschieren versuchte, dass sie erklärte, der König chie!« (LL 4, 320). Der preußische Offizier, der das
sei wegen der jüngst geschehenen Umwandlung der dort stationierte 2. schleswig-holsteinische Jägercorps
absoluten Monarchie in eine konstitutionelle nicht kommandierte, hatte seinen Adjutanten zum verant-
mehr frei, so dass sie in den Herzogtümern an seiner wortlichen Minister nach Schleswig geschickt, um
Stelle handeln und die traditionellen Landesrechte si- diesen darüber zu informieren, dass in Husum die Re-
chern müsse. Das führte sogleich zu einem Bürger- publik proklamiert werden solle. Der Minister setzte
krieg, der fast drei Jahre dauerte. Mit einem Über- daraufhin sofort das 1. Jägercorps aus Friedrichstadt
raschungsangriff bekamen die Aufständischen die nach Husum in Marsch und schickte auch noch eine
Stadt und die Festung Rendsburg in ihre Hand und Schwadron Dragoner dorthin, um das Schlimmste zu
machten sie zum Sitz der Provisorischen Regierung. verhüten. Was wirklich geschehen war, war aber ganz
Im Zuge ihrer Bemühungen um den Aufbau einer harmlos: Ein Husumer Klempner hatte − »vermutlich
eigenen Landesverwaltung gründete die Provisorische der Abwechslung wegen«, wie Storm schrieb −, rote
Regierung auch eine eigene Zeitung, die Schleswig- Kokarden angefertigt, und ein paar Soldaten des 2. Jä-
Holsteinische Zeitung. Sie erschien seit dem 15.4. in gercorps hatten sie gekauft und sich an die Kopfbede-
Rendsburg und wurde dort von Theodor Mommsen ckung gesteckt. Sie hatten sie aber wieder abnehmen
redigiert. Mommsen musste sich sofort darum bemü- müssen, als sie damit zum Dienst erschienen waren.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_13, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
13 Storm als Journalist 51

Da aber die meisten Liberalen, die die 1848er Revolu- Im Oktober 1854 wies er Eduard Mörike auf drei dieser
tion trugen, die engagierten Republikaner für gemein- Besprechungen hin und bemerkte dazu: »Die bespro-
gefährliche Anarchisten hielten, hatte der Komman- chenen Bücher sind unbedeutend und die Artikel nur
deur aus Gespensterfurcht mit Kanonen auf Spatzen geschrieben, um Freund Eggers in seinen Redactions-
geschossen. nöthen beizustehn; aber ich habe dabei Gelegenheit
Storm nutzte die Presse auch nicht, um Essays, genommen meine Meinung über dieß und das in lyri-
Feuilletons oder Kritiken zu veröffentlichen. Er schrieb cis zu sagen, und ich möchte wohl daß Sie davon Notiz
nur etwa ein Dutzend Buchbesprechungen (LL 4, 329– nähmen.« In der Tat formulierte Storm hier prägnant
374). Einige von ihnen galten Büchern von Kollegen seine Auffassung vom Wesen der Lyrik. Diese Bespre-
und waren mehr oder minder unverhüllte Freund- chungen gehören daher zur Vorgeschichte seiner Vor-
schaftsdienste. Eine Ausnahme bildeten nur die Arti- worte zu den beiden Anthologien Deutsche Liebeslie-
kel, die er 1854/55 in Potsdam für das »Literaturblatt«, der seit Johann Christian Günther (1869) und Haus-
die Beilage zum Deutschen Kunstblatt, schrieb, dessen buch aus deutschen Dichtern seit Claudius (1870).
Redakteur der Kunsthistoriker Friedrich Eggers war.
Dieter Lohmeier
III Werk
A Gedichte

14 Zum lyrischen Grundverständnis der Lyriker Storm die Krise lyrischen Sprechens in be-
Storms sonderer Schärfe wahr. So argumentiert er etwa in sei-
ner Besprechung der Hundert Blätter von Klaus Groth:

Insofern Storm selbst sich in erster Linie als Lyriker In der hochdeutschen Sprache dagegen ist alles Ferti-
betrachtet und in der Lyrik gar den Ausgangspunkt ge bereits so abgegriffen und verbraucht, daß es nur in
seiner Novellistik sieht (vgl. Storm–Schmidt II, 57), den seltensten Fällen durch die größte Kunst des Dich-
reicht die Bedeutung seiner Reflexionen zur Lyrik weit ters einen frischen Eindruck hervorzubringen vermag,
über das Korpus seiner Gedichte hinaus. Tatsächlich in der Regel aber sogar mit Sorgfalt vermieden werden
charakterisieren diese Reflexionen Storms poetisches muß; [...] (LL 4, 351).
Selbstverständnis im Allgemeinen, seine Vorstellung
der Gesetzlichkeiten, unter denen Dichtung entsteht Obwohl ihm bewusst ist, dass Lyrik nicht gänzlich oh-
und entstehen soll. Der Umstand, dass Storm keine ne Bildlichkeit auskommt, lehnt Storm die »Bilderma-
geschlossene Abhandlung über das Wesen der Lyrik cherei« (LL 4, 394) im Sinne einer gekünstelten Abs-
hinterlassen, sondern seine Lyriktheorie über Rezen- traktion ab, insbesondere »das verbrauchte Personifi-
sionen, Vorworte und insbesondere seine Korrespon- zieren von Himmel, Wind, Wolke, Muschel, Rose und
denz mit Familie, Freunden, Schriftstellerkollegen hundert anderen leblosen Gegenständen« (333). Im
und Verlegern entfaltet hat, besitzt durchaus einen Vorwort der von ihm herausgegebenen Anthologie
programmatischen Charakter. Für Storm lässt sich Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius nennt
Dichtung nur im Rahmen ihrer Erlebbarkeit begrei- er die Resultate solch einer ›ungelebten‹ Dichtung ei-
fen. Sie ist nie monologisch, sondern setzt als ein nen »tote[n] Schatz am Wege« (LL 4, 393).
Kommunikationsakt das Gegenüber immer voraus.
Zugleich muss das sprechende Ich stabil in Raum
Dichten und Erleben
und Zeit seiner Erlebniswelt verortet sein, wenn ein
Dialog zu Stande kommen soll. »[M]ein langes Von der Beschaffenheit lyrischer Dichtung hat Storm
Schweigen ist nur die Folge des nicht mehr in mir eine präzise Vorstellung. In der Besprechung von
selbst zu Hauseseins« (Storm–Christen, 80). So be- Marc Anton Niendorfs Liedern der Liebe (1854) be-
gründet Theodor Storm 1888 das Ausbleiben seines zeichnet er das Erlebnis als Entstehungsbedingung für
Briefes gegenüber Ada Christen. Fehlt dem Menschen ein Gedicht: »[...]; denn bei einem lyrischen Gedichte
Storm dieses Gefühl des In-sich-selbst-zuhause-Seins, muß nicht allein, wie im Übrigen in der Poesie, das Le-
fühlt er die »Kraft der productiven Poesie« (Storm– ben, nein es muß gradezu das Erlebnis das Fundament
Mörike, 71) versiegen. Seine literarische Schaffens- desselben bilden.« (LL 4, 332)
kraft verortet der Dichter dabei zwischen zwei Polen Die Storm-Forschung hat seit der ersten wissen-
des Gestimmtseins: dem »urkräftigen Behagen« aus schaftlichen Würdigung des Dichters durch Erich
Goethes Faust I, Vers 536 (LL 4, 391), und dem in Hei- Schmidt versucht, den Begriff »Erlebnis« zu definie-
nes Gedichtzyklus Katharina ausgesprochenen Emp- ren. Dabei orientierte sie sich zunächst an Storms
finden, »gesanglos und beklommen« zu sein (Storm– Selbstpositionierung als Lyriker. Im Vorwort zu der
Brinkmann, 97). Anthologie Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian
Lyrik stellt für Storm das Mittel dar, die Beziehung Günther, die er 1859 herausgibt, setzt Storm den Be-
zwischen der Sprache des Ich und der Außenwelt, auf ginn der neuen deutschen Lyrik bei den Liedern von
die sie referieren soll, zu bewahren. Deshalb nimmt Matthias Claudius, Gottfried August Bürger und Goe-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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14 Zum lyrischen Grundverständnis Storms 55

the an. Sich selbst sieht Storm, für den die künstleri- treffender Ausdruck und melodischer Rhythmus zu-
sche Form für den Ausdruck des Naturlautes maßgeb- sammenspielen:
liches Kriterium eines »lyrischen Gedichte[s]« ist, am
Ende einer Entwicklungslinie, die bei Claudius, Bür- Er, wie wenig Andere, hat gezeigt, was die einfachsten
ger und Goethe ansetzt und über die Romantiker und Worte vermögen, sobald nur die rhythmische Weise
speziell Heinrich Heine zu ihm selbst, dem »letzten dazu gefunden ist; er erhob – man gestatte den Aus-
Lyriker« führt (Borst 1932, 60). Die Annahme, dass druck – das »Stimmungsgedicht« zu einer eigenen
Theodor Storm sein Lyrikkonzept durch den Traditi- Gattung, indem er mit einem seltenen Sinn für das
onszusammenhang seit Goethe begründe, wurde als Wesentliche den Hörer in eine das Gemüt ergreifende
Tatsache behandelt und resultierte in der unangefoch- Situation versetzt und ihn dann schweigend diesem
tenen Klassifizierung Stormscher Lyrik als Erlebnis- Eindruck überläßt; er macht es um uns tagen und
lyrik in der Tradition der Goethezeit. Boy Hinrichs Abend werden, und erfüllt unser Herz mit dem ganzen
analysierte erstmals den Aspekt der Emanzipation des Eindruck, den wir in der günstigsten Stunde von der
lyrischen Systems von der Rhetorik in Storms Lyri- Natur selber hätten empfangen können. (382)
kauffassung. Diese Emanzipation von dem, was Storm
im Vorwort zu der Anthologie Deutsche Liebeslieder Die Evokation von Stimmung im Rezipienten ist hier
seit Johann Christian Günther als »Bilderkram« im – so sieht es der Anthologie-Herausgeber – musterhaft
Sinne eines bedeutungsleeren Gemeinplatzes abwer- vorgeführt. Der Klang ist dabei von entscheidender
tet (LL 4, 378), mündet in das Konzept einer reinen, Bedeutung, denn er trage dazu bei, das ästhetische Er-
autonomen Lyrik. Doch das Paradoxon zwischen der leben des Gedichtes spürbar werden zu lassen. Durch
von der Erlebnislyrik beanspruchten Unmittelbarkeit den Klang werde die Realität der Empfindung erhöht.
einerseits und ihrem artifiziellen Charakter anderer- Auf diese Weise soll sich die von Storm angestrebte
seits blieb bestehen. Erst die Hinterfragung der poeto- Wirkung eines lyrischen Gedichtes einstellen. Das Ge-
logischen Kategorie des Erlebnisses führte zu einem fühl reagiert, bevor sich eine Reflexion einstellen
erweiterten Begriff. Auch innere und äußere Wahr- kann. Ein literarischer Text kann dann also aufgrund
nehmungen, Gefühle und Gedanken werden nun als seiner Prosodie ähnlich wie das Wetter oder Musik auf
relevante Faktoren berücksichtigt. Außerdem wan- die Gestimmtheit des Lesers oder Hörers wirken (vgl.
deln sich – verglichen mit der goethezeitlichen Erleb- Gumbrecht 2011, 12). Um diese Wirkung zu errei-
nislyrik – die Inhalte des Welterlebens. Neben Liebes- chen, bedarf es der Schlagkraft des Ausdrucks und der
und Naturempfindungen spielen nun auch geistige Knappheit der Worte. Die Knappheit ist oft das einzige
und politische Auseinandersetzungen eine Rolle (Pät- angemessene Ausdrucksmittel für die flüchtigen und
zold 1994, 51–53). kurzfristigen Wahrnehmungseindrücke.
Ein Weiteres kommt hinzu: So, wie das Erlebnis ein Storm misst dem Lied auf der Suche nach der dem
Gedicht zu tragen hat, so muss bei Storm das Gedicht Naturlaut angemessenen Ausdrucksform eine zentra-
auch umgekehrt selbst Erlebnis werden. Nicht von un- le Bedeutung zu – im Gegensatz etwa zu Rudolf Gott-
gefähr heben sowohl Fontane als auch der Würzbur- schall, dem Redakteur der Blätter für literarische Un-
ger Germanistikprofessor Erich Schmidt den Erleb- terhaltung, der an der Auswahl von Storms Hausbuch
nischarakter von Storms Rezitationen hervor (vgl. insbesondere eine Überschätzung des Liedes zu Un-
Storm–Schmidt I, 74; Storm–Fontane, 194). Über- gunsten der Gedankenlyrik, wie Gottschall sie z. B.
haupt ist der performative Aspekt der Dichtung, das bei Friedrich Schiller perfektioniert sieht (Gottschall
Vorgelesen- und Vorgetragen-Werden, für Storm von 21870, 31), scharf kritisiert.

nicht zu unterschätzender Bedeutsamkeit und die Nä- In bewusster Abgrenzung von Traditionalisten wie
he der Lyrik zur Musik immer greifbar. Gottschall beharrt Storm auf der Evokation von Stim-
Konsequent erhebt er im Vorwort zum Hausbuch mung im Rezipienten als zentralem lyrischem Kriteri-
das Lied zur idealen Form des lyrischen Gedichts und um. So überrascht es auch nicht, dass es die Lieder
zitiert Heines Gedanken und Einfälle, in denen es sind, die er unter seinen eigenen Gedichten hervor-
heißt: »Ein Lied ist das Kriterium der Ursprünglich- hebt, z. B. das Lied des Harfenmädchens (Heute, nur
keit.« (Heine 1993, 328; LL 4, 395) Ohnehin erkennt heute) aus der Novelle Immensee oder das Oktoberlied.
Storm in Heine bereits im Vorwort zur Anthologie Im Dienst der ›Liedhaftigkeit‹ steht auch der kalku-
Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian Günther lierte Einsatz von Alliterationen und Assonanzen, die
den hervorragendsten Vertreter einer Lyrik, in der etwa im Gedicht Einer Toten einen gleichförmigen
56 III Werk – A Gedichte

Klang erzeugen, der den Rezipienten die Stimmung die formstrenge Lyrik August Graf von Platens ab und
der Verzweiflung angesichts der gleichgültigen Unver- wettert gegen »jene dumme, todte, werth- und wir-
meidlichkeit des Todes spüren lässt: kungslose Form« (Storm–Schmidt II, 99).
Storm beschreibt das Dilemma der Epigonalität von
Das aber kann ich nicht ertragen, Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie
Daß so wie sonst die Sonne lacht; folgt: »Es beruht daher auch das willkürliche und mas-
Daß wie in deinen Lebenstagen senhafte Produzieren lyrischer Gedichte, das eigentli-
Die Uhren gehn, die Glocken schlagen, che Machen und Ausgehen auf derartige Produktio-
Einförmig wechseln Tag und Nacht; nen auf einem gänzlichen Verkennen des Wesens der
lyrischen Dichtkunst« (LL 4, 332). Die Lyrik des Rea-
Daß, wenn des Tages Lichter schwanden, lismus setzte bevorzugt romantische Formen und Mo-
Wie sonst der Abend uns vereint; tive ein und variierte sie, allerdings ohne das metare-
Und daß, wo sonst dein Stuhl gestanden, flexive und ironische Potential romantischer Gedichte
Schon Andre ihre Plätze fanden, weiterzuführen (vgl. Stockinger 2010, 86). Diesem
Und nichts dich zu vermissen scheint; Mangel an Innovation begegnet Storm mit seinem
Konzept von Stimmung als ästhetischer Kategorie. Ein
Indessen von den Gitterstäben von seiner Struktur her als modern definiertes Dichten
Die Mondesstreifen schmal und karg (zur Struktur der modernen Lyrik vgl. Friedrich
In deine Gruft hinunterweben, 21958), bei dem sprachliche und formale Kriterien im

Und mit gespenstig trübem Leben Vordergrund stehen, die letztendlich auf eine Domi-
Hinwandeln über deinen Sarg. (LL 1, 31 f.) nanz der Form über den Inhalt, eine raumzeitliche
Dissoziation und ein Schwinden jeglicher Ich-Bezüge
hinauslaufen, gibt es bei Storm aber nicht. Er strebt ei-
nen Kommunikationsprozess an, der die geistige Akti-
Stimmung als poetologische Kategorie
vität sowohl des Dichters als auch des Rezipienten vo-
›Stimmung‹ ist also die zentrale poetologische Katego- raussetzt: Der Dichter verfügt über ein Sprachgefühl,
rie in Storms Lyrikkonzept. Sie ist sowohl schöpferi- mittels dessen er eine nach ihrem Sinn betonte Rede
scher Ausgangspunkt als auch zentrale Wirkungs- mit der Versform in Übereinstimmung zu bringen ver-
absicht der Lyrik. Im Rahmen eines höchst reflektier- mag. Ein solch durchgeformtes Zusammenspiel von
ten Schreibprozesses setzt Storm Sprache als Instru- Hebungen, Senkungen und Zäsuren verleiht dem Ge-
ment ein, um die Rezeption des Lesers oder Hörers zu dicht eine musikalische Wirkung. »Am vollendetsten«,
steuern und in ihnen emotionale Effekte gezielt her- so schreibt Storm im Vorwort zum Hausbuch, erschei-
vorzurufen. Auf diese Weise verbindet der Dichter in ne ihm »das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine
diesem Sinne sein inspirierendes Erlebnis mit dem äs- sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst
thetischen Erleben des Lesers oder Hörers. Das Ergeb- ergibt, wie aus der Blüte die Frucht« (LL 4, 393). Mit
nis ist der ästhetische Schein der Versöhnung zwischen diesem Lyrikverständnis positioniert er sich sozusagen
Innen- und Außenwelt, ein gefühlter Zustand von Ein- auf der Schwelle zwischen der Lyrik des Poetischen
klang und Verständnis (vgl. Detering 2013, 219). Realismus und der Lyrik der Moderne.
Dieses Lyrikkonzept lässt sich mit dem massenhaf-
ten Verseschmieden jener Zeit und dessen ausgepräg-
Das »Hausbuch aus deutschen Dichtern« seit
ter Publikumsorientiertheit nicht vereinbaren. Die Er-
Claudius
kenntnis, dass diese Gattung überdurchschnittliche
Forderungen an Schreiber und Leser stellt, ist weit- Das Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius
gehend verloren gegangen und mit ihr die Wertschät- stellt die praktische Umsetzung dieses poetischen
zung für ein gelungenes Gedicht. Das »Machen« von Konzepts dar. 1870 erscheint die erste Auflage bei Wil-
Gedichten erscheint gar zu einfach, denn es gibt keine helm Mauke in Hamburg, ein Jahr später kommt das
echten Qualitätskriterien. Am schwersten aber wiegt identische zweite Titeltausend auf den Markt. Nach-
der Umstand, dass es den Versemachern an Originali- dem diese Miniaturausgabe der Anthologie kaum Ab-
tät mangelt (zu den Merkmalen von Epigonalität, vgl. satz gefunden hat, erscheint 1875 auf Initiative des
Theisohn 2009, 357): Das Ergebnis ist eine reprodu- Verlegers eine opulente Prachtausgabe des Hausbuches
zierte, nicht mehr gelebte Lyrik. Deshalb lehnt Storm in Leipzig, illustriert von Hans Speckter mit Holz-
14 Zum lyrischen Grundverständnis Storms 57

schnitten von Hugo Kaeseberg. Nachdem auch diese ganz unterschiedlichen Formen der Lyrik, von der
illustrierte Auflage sich nicht auf dem literarischen Volkslieddichtung bis zum orientalischen Gasel. »Lyri-
Markt durchsetzen kann, gibt Storm 1878 eine vierte sche Gedichte« können den Kanon sprengen und eine
Ausgabe seiner Anthologie im Verlag George Wester- geistesgeschichtlich beschreibbare Grundstimmung
mann, Braunschweig, heraus, nun wieder im hand- widerspiegeln, die »Sehnsucht nach individuellen Zu-
lichen Format und ohne Illustrationen. Er kündigt im gängen zur Harmonie« (Gumbrecht 2011, 21) in einer
Untertitel »Eine kritische Anthologie« an (in der vier- immer komplexer werdenden Gegenwart. Hierher ge-
ten Auflage entfällt dieser Zusatz auf Anraten Wester- hören z. B. die Verse M. Solitaires (Pseudonym des
manns) und bezeichnet sie im Vorwort als einen Arztes Woldemar Nürnberger) und Ada Christens
»Maßstab für poetische Leistungen« (LL 4, 395). Storm oder die vom Pessimismus geprägten Gedichte des Ös-
tritt mit dieser Publikation nicht ausschließlich als Ly- terreichers Heinrich Landesmann, bekannt als Hiero-
riker, sondern auch als Leser, Kritiker und Heraus- nymus Lorm. Zu den »lyrischen Gedichten« nach
geber in einer Person auf. Das Vorwort stellt einen Storms Auffassung zählen aber ebenso Mundart- und
wichtigen poetologischen Schlüsseltext dar. Die von Idyllendichtungen u. a. von Klaus Groth und Johann
ihm hier beanspruchte »mehr als dreißigjährige Le- Heinrich Voß. Das Spektrum der Themen und lyri-
benserfahrung« (390), auf die er seine Autorität als schen Formen, die Storm in sein Lyrikkonzept mit ein-
Anthologie-Herausgeber gründet, lässt sich als Lese- bezieht, ist breit – jeglicher Kritik der Einseitigkeit
erfahrung verstehen. Storms Notizen und Entwürfe zum Trotz.
zum Vorwort stellen die Verschriftlichung seiner le- Was seine eigene Dichtung und seine kritische Lek-
benslangen Lektüre deutscher Dichtung dar. Sie doku- türe betrifft, geht es ihm also weder um Marktgängig-
mentieren die Entstehung des »rein kritischen Stand- keit und kanonkonforme Repräsentativität noch um
punkt[es]« (391), die Grundlage sowohl für Storms Ly- ein Interesse an literaturhistorischer Vollständigkeit.
rikkonzept im Allgemeinen als auch für sein Hausbuch Unerschütterlich hält Storm an Kriterien fest, die sei-
im Besonderen. Bezeichnenderweise eröffnet der An- nem »humanistisch-demokratischen Lebens- und
thologie-Herausgeber die Gedichtsammlung mit Mat- Werkentwurf« (Jackson 2001, 14 f.) entspringen. Dazu
thias Claudius und vollführt seine Auslese konsequent zählen die Fokussierung auf den erlebten Moment an-
in Abkehr von dem tradierten bildungsbürgerlichen statt einer Verklärung der Geschichte (vgl. zum Fol-
Kanon seiner Zeit. Stattdessen rückt er ausschließlich genden Petersen 2015, 404 f.) und konsequenterweise
diejenige Poesie ins Blickfeld, welche besagte ur- die Kritik an den Vorrechten des Adels. Mit seiner For-
sprüngliche Werte der bürgerlichen Emanzipation derung nach einer anschaulichen, allgemein verständ-
aufnimmt und für seine Gegenwart anschlussfähig lichen Dichtung, seiner Wertschätzung der Familie
macht. Dichter wie Matthias Claudius, Gottfried Au- und des gemeinsamen Lesens und Singens, der Auffas-
gust Bürger, Friedrich Wilhelm August Schmidt oder sung vom Volkslied als Verbindung zwischen dem in-
Friedrich Hölderlin erfahren eine Aufwertung im Un- spirierenden Erlebnis des Dichters und dem ästheti-
terschied zu den Größen des bildungsbürgerlichen Ka- schen Erleben des Hörers oder Lesers verleiht Storm
nons, allen voran den von Storm als Antipoden be- seiner Lyrik letzten Endes auch einen gesellschaftli-
trachteten Emanuel Geibel. In der dritten Ausgabe von chen, wo nicht gesellschaftspolitischen Anspruch.
1875 verzichtet der Anthologie-Herausgeber ganz auf
die Klassiker Goethe und Schiller, um Platz für Illus- Literatur
trationen zu schaffen, die als »Lesehilfe« bzw. »Emp- Borst, Joseph: Theodor Storms Beziehungen zu Emanuel
findungshilfe« fungieren (vgl. Stockinger 2006, 286) Geibel. In: Die Heimat, Bd. 42, Kiel 1932, 57–61.
Detering, Heinrich: »Der letzte Lyriker«. Erlebnis und Ge-
und so die Evokation von Stimmung im Rezipienten dicht – zum Wandel einer poetologischen Kategorie bei
befördern sollen. Storms »kritischer Standpunkt« war Storm. In: STSG 53 (2004), 25–41.
seinerseits Kritik ausgesetzt. Schon Storms Dichter- Detering, Heinrich: Die Stimmen und die Stimmung.
kollege und Briefpartner Paul Heyse monierte, Storm Storms Naturgedichte. In: Friederike Reents/Burkhard
ziehe die Grenzen zu eng (Bernd 1974, 29). Aber auch Meyer-Sickendiek (Hg): Stimmung und Methode. Tübin-
gen 2013, 219–234.
die Literaturwissenschaft, in Person von Harro Müller
Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Bau-
und Norbert Mecklenburg, ortete in Storms Antho- delaire bis zur Gegenwart. Hamburg 21958.
logie »Elemente überkommener Stimmungslyrik« Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Texte. In: Albrecht
(Müller/Mecklenburg 1970, 39). Tatsächlich erlaubt Schöne (Hg.): Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und
Storms Standpunkt ihm die Auseinandersetzung mit Gespräche, 1. Abt., Bd. 7.1. Frankfurt a. M. 1994.
58 III Werk – A Gedichte

Gottschall, Rudolf: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Müller, Harro/Mecklenburg, Norbert: Theodor Storms Ge-
Vom Standpunkte der Neuzeit, Bd. 2 [1858]. Breslau dicht »Über die Heide«. Versuch einer kritischen Interpre-
21870. tation. In: STSG 19 (1970), 35–42.
Gumbrecht, Hans Ulrich: Stimmungen lesen. Eine verdeckte Müller, Harro: Theodor Storms Lyrik. Bonn 1975.
Wirklichkeit der Literatur. München 2011. Pätzold, Hartmut: »Ein Stück andre Welt«. Von der Un-
Heine, Heinrich: Neue Gedichte, bearb. von Elisabeth Gen- brauchbarkeit des Paradigmas der »Erlebnislyrik« für die
ton. In: Manfred Winfuhr (Hg.): Historisch-kritische Ge- Gedichte Theodor Storms. In: STSG 43 (1994), 43–63.
samtausgabe der Werke, Bd. 2. Hamburg 1983. Petersen, Anne: Die Modernität von Theodor Storms Lyrik-
Heine, Heinrich: Shakespeares Mädchen und Frauen und konzept und sein »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit
Kleinere literaturkritische Schriften, bearb. von Jan-Chris- Claudius«. Berlin 2015 (Husumer Beiträge zur Storm-For-
toph Hauschild. In: Manfred Winfuhr (Hg.): Historisch- schung, Bd. 10).
kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 10. Hamburg Reents, Friederike: »Stimmung«. In: Gert Ueding (Hg.): His-
1993. torisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9. Darmstadt 2009,
Hinrichs, Boy: Zur Lyrik-Konzeption Theodor Storms. 109–118.
Emanzipation von der rhetorischen Phrase und inter- Schmidt, Erich: Theodor Storm. In: Julius Rodenberg (Hg.):
textueller Dialog. In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/ Deutsche Rundschau, Bd. XXIV (Juli 1880), 31–56.
Eckart Pastor (Hg.): Storm-Lektüren. Festschrift für Karl Stockinger, Claudia: Storms »Immensee« und die Liebe der
Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 281– Leser. Medienhistorische Überlegungen zur literarischen
299. Kommunikation im 19. Jahrhundert. In: Wilfried Barner
Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati- (Hg.): Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 50
scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001 (Husumer (2006), 286–315.
Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 2). Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Rea-
Laage, Karl Ernst: Theodor Storms öffentliches Wirken. Eine lismus. Berlin 2010.
politische Biografie. Heide 2008. Theisohn, Philipp: Plagiat. Eine unoriginelle Literatur-
Lohmeier, Dieter: Das Erlebnisgedicht bei Theodor Storm. geschichte. Stuttgart 2009.
In: STSG 30 (1981), 9–26.
Anne Petersen
15 »Knecht Ruprecht« 59

15 »Knecht Ruprecht« leitet, sondern nur noch scherzhaft in die Bescherung


mit »Äpfel, Nuß und Mandelkern« für »eitel gute Kin-
Das Rollengedicht Knecht Ruprecht (LL 1, 76 f.), das der« und der humoristisch-harmlosen Strafandro-
wohl bekannteste Gedicht Storms (das häufig gar hung von Schlägen »auf den Teil, den rechten«, so er-
nicht mehr mit diesem Autor verbunden, sondern als scheinen erzählte Szenerie, fiktive Sprech- und reale
›Volksgut‹ behandelt wird), entstand vermutlich Ende Aufführungssituation des Gedichts reduziert auf eine
1862, während Storms Zeit als Kreisrichter in Hei- kindgemäße Familienfeier. Wenn auf den verschneiten
ligenstadt, als Teil eines Weihnachtsspiels, das er für Tannen im Wald »goldene Lichtlein sitzen«, wird mit
seine Kinder verfasst, jedoch in seiner Gesamtheit der Anspielung auf den Weihnachtsbaum in der
nicht veröffentlicht hat (Handschrift, SHLB Kiel). Die Wohnstube die bürgerliche Festdekoration einbezogen
Szenerie, in die er es in der Heiligenstädter Novelle ins mythische Geschehen. An ihm wiederholt sich im
Unter dem Tannenbaum stellt (1862), dürfte diesen ur- traulich-familialen Innenraum, was sich »draußen«
sprünglichen lebensweltlichen Gebrauch einigerma- ereignet hat. Hier wie dort verklärt das Wunder den
ßen zutreffend wiedergeben (vgl. den Abschnitt Alltag: »Das Himmelstor ist aufgetan« im Winterwald
»Theodor Storms Weihnachten« in Fasold 2010; De- und im Wohnzimmer. Das Gedicht ist damit ein frü-
mandt 2015). Erst Eversberg hat das Weihnachtsspiel hes Dokument für die bürgerliche Säkularisierung des
1993 vollständig veröffentlicht (vgl. auch Storms frü- Weihnachtsfestes im 19. Jahrhundert (Neuhaus 2014).
hes Schneewittchen-Märchenspiel, LL 1, 108–114: Die Andererseits – und durchaus nicht im Wider-
einzigen ausgearbeiteten szenischen Texte Storms spruch zu dieser sozialgeschichtlichen Positionierung
sind Märchenspiele für Kinder.) – zeugt das Gedicht auch von der idiosynkratischen
Der Text verbindet im Märchenton heidnische und Bindung Storms an genuin romantische Konzepte von
christliche Elemente. Der »Knecht Ruprecht«, ein den Kindheit und Kindlichkeit, die gerade als solche mit
biblischen Weihnachtsgeschichten unbekannter Na- durchaus ernsthaften religiösen Erlösungsvorstellun-
turgeist der mythologischen Volksüberlieferung, des- gen verbunden sind. In dieser literaturgeschichtlichen
sen weihnachtliche Wiederkehr derjenigen der Jahres- Perspektive erscheint als das eigentliche Thema des
zeit entspricht, zeigt sich hier nicht wie in den verbrei- »Knecht Ruprecht« und des ihn umgebenden Kinder-
teten Volksbräuchen als dämonischer Begleiter des Weihnachtsspiels das »Wunder« der wiedergewonne-
heiligen Nikolaus, sondern tritt allein auf – seiner dä- nen Kindheit (Detering 2011). So hat Storm es im Ge-
monisch-bedrohlichen Züge entkleidet, selbst ein dicht Weihnachtslied proklamiert, mit dem er 1852
frommer Bote des göttlichen Auftrags. Einer lauschen- nach dem Oktoberlied die Separatausgabe seiner Ge-
den Kinderschar berichtet er von seinem Wanderweg dichte eröffnet – in derselben romantischen Verklä-
durch Wald und Feld, auf dem sich ihm die winterliche rung des Kindes als der Verkörperung eines verlore-
Natur in der Heiligen Nacht durch geheimnisvolle nen Goldenen Zeitalters, wie sie von Novalis formu-
»goldene Lichtlein« erleuchtet, buchstäblich verklärt liert und von Runge allegorisch gezeichnet worden ist:
gezeigt hat. Das Gedicht gipfelt in der Schilderung »Ich höre fernher Kirchenglocken / Mich lieblich hei-
einer weihnachtlichen Epiphanie: »Und droben aus matlich verlocken / In märchenstille Herrlichkeit. //
dem Himmelstor / Sah mit großen Augen das Christ- Ein frommer Zauber hält mich wieder, / Anbetend,
kind hervor.« Im himmlischen »Christkind« erscheint staunend muß ich stehn; / Es sinkt auf meine Augen-
Christus als Kind, als kindgemäße Märchengestalt. Es lider / Ein goldner Kindertraum hernieder, / Ich fühl’s,
spricht zum Knecht Ruprecht, als wiederhole sich in ein Wunder ist geschehn« (LL 1, 12 f.).
diesem Wortwechsel ein altes Ritual. Es hat im Gedicht Diese Kombination von Märchen, Frömmigkeit
offensichtlich keine andere Funktion als die, sich ihm und Kindheit hat sich bereits vor der Niederschrift des
zu zeigen, damit er von ihm berichten kann; seine Er- Knecht Ruprecht entwickelt, und sie lässt sich bis in
scheinung als Kind ist die alle weiteren Wunder bewir- sein spätes Werk hinein verfolgen. Wie für die Pro-
kende Epiphanie der verklärten Nacht. Die Formel, tagonistin der Novelle Im Schloß (1861) »der ›liebe
mit der Ruprecht auf seine Anrede antwortet, ent- Gott‹, wie ihn die Kinder haben«, ein Bild des Trostes
spricht noch bis ins Vokativ-E hinein lutherischem und glücklicher Geborgenheit ist (LL 1, 492), so wird
Sprachgebrauch: »O lieber Herre Christ!« auch in Storms niederdeutschem Gedicht Gode Nacht
Wie aber die moralische Frage, ob die Zuhörer »gu- (1850; LL 1, 37 f.) wie selbstverständlich »Uns’ Herr-
te« oder »böse Kind« seien, nicht mehr wie in den bib- gott« als Beschützer der schlafenden Menschen be-
lischen Vorbildern der Szene in das Weltgericht über- nannt, und zwar auch hier, im traulichen Idiom der ei-

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60 III Werk – A Gedichte

genen Kindheit, in der Überhöhung einer idyllischen nenden Weihnachtsbaum verkörpert vor uns stehen«
Familienszene (»Din Kind liggt in de Weegen«). Be- (Storm 1922, 107). Es sind diese »goldenen Träume«,
reits in den frühen Gedichten für Bertha von Buchan die auch das Knecht Ruprecht-Gedicht evoziert, und
ist das Kind unmerklich mit den Engeln verbunden: zwar gerade in seiner ›säkularisierten‹ Kindlichkeit.
»Da schlief das Kindlein ein; / Und für die schlum-
mernde Kleine / Still beten die Engelein« (1838; LL 1, Literatur
181); im Brentano-Lied, das der Knabe in Aquis sub- Demandt, Christian: »Weihnachten ...«. Die Bedeutung des
mersus (1876) singt, kehrt dieselbe Motivkombination Festes und seiner Rituale bei Thomas Mann und Theodor
Storm. In: Ders./Maren Ermisch/Birte Lipinski (Hg.):
wieder (LL 2, 447). Früh verbindet sich die derart Bürger auf Abwegen. Thomas Mann und Theodor Storm.
überhöhte Kindlichkeit auch mit dem Weihnachts- Göttingen 2015, 165–177.
«Wunder«, so in Storms brieflicher Schilderung eines Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
für ihn selbst desillusionierten Weihnachtsfestes An- Ende der Romantik. Heide 2011.
fang 1838, ebenfalls im Blick auf Bertha von Buchan: Eversberg, Gerd (Hg.): Theodor Storms Weihnachten. Doku-
mente, Gedichte, Erzählungen. Husum 1993.
»Darum liebe ich die Kinder, weil sie die Welt u sich
Eversberg, Gerd (Hg.): Storms erste große Liebe. Theodor
selbst noch im schönen Zauberspiegel ihrer Phantasie Storm und Bertha von Buchan in Gedichten und Dokumen-
sehen« (StA; Eversberg 1995, 101 f.). Noch am Heilig- ten. Heide 1995.
abend 1879 schreibt Storm an Paul Heyse, Weihnach- Fasold, Regina (Hg.): Theodor Storm in Heiligenstadt. Der
ten sei »mein liebstes Fest« (Storm–Heyse, 55 f.; vgl. Katalog. Heilbad Heiligenstadt 2010.
Demandt 2015). »Den Zauber der Weihnacht seiner Neuhaus, Volker: »Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!«
Theodor Storm als Dichter des säkularisierten Weihnachts-
Kindheit«, erinnert sich Gertrud Storm an ihren Va-
festes. Heiligenstadt 2014.
ter, »wußte er in unsere Weihnacht zu übertragen. [...] Storm, Gertrud: Weihnachten. In: Dies.: Vergilbte Blätter aus
Es wird wieder einmal Weihnachten und wir Kinder der grauen Stadt. Regensburg/Leipzig 1922, 107–280.
leben in goldenen Träumen, bis das im Leben so selte-
ne Wunder eintritt, daß diese Träume in dem bren- Heinrich Detering
16 Naturlyrik 61

16 Naturlyrik le Eine Halligfahrt lässt Storm sagen: »Auch die Natur


[...] vermag uns nichts zu geben, als was wir selber ihr
Als Lyriker ist Storm vor allem bekannt für seine Na- entgegenbringen.« (LL 2, 66 f.)
turgedichte. Da diese so oft das Naturvokabular der Von echter, gelungener, von »reiner und tiefer«
norddeutschen Küstenregion aufrufen, galt Storm Kunst will Storm nur dann sprechen, wenn sie aus ei-
lange als der große deutsche Heimatdichter. Doch das nem »tiefen Naturlaut« entstanden ist. Hier schim-
Etikett ›Heimatdichter‹, in der Zeit der Heimatbewe- mert als eine weitere Schicht des Naturverständnisses
gung und dann des Nationalsozialismus zunächst als die Vorstellung der Teilhabe des kreativen Künstlers
Ehrentitel, dann in der Zeit der kritischen Aufarbei- am Ur-Prinzip einer schaffenden Natur, der natura
tung eher einschränkend gebraucht, trifft sein Dich- naturans, durch, die über den Weg von Gefühl, Phan-
tertum allenfalls zur Hälfte. Zentraler und umfassen- tasie und durch Gestaltungskraft zum Kunstwerk
der als dieser inhaltliche Aspekt erweisen sich für die führt, wobei die »Fähigkeit der Formgebung« (LL 4,
Erschließung von Storms Naturgedichten die in der 384) für ihn ein zentraler Aspekt dieses schöpferi-
Forschung eingeführten Begriffe Erlebnislyrik und schen Prinzips ist. Kunst besteht für Storm »wesent-
Stimmungslyrik. Für beide Kategorien spricht, dass sie lich« darin, »den Naturlaut in künstlerischer Form
(stärker als der Heimatbegriff) die Rolle des lyrischen zum Ausdruck zu bringen« (381 f.). An anderer Stelle
Subjekts in der Verarbeitung von Gefühlen und Reali- spricht er (im Zusammenhang mit dem Naturlaut)
tätserfassung und in der Komposition der Texte in den von der Seele des Gedichts, der inneren oder geistigen
Blick nehmen. Legitimiert scheint ihre Verwendung oder feineren Form, die als eine Art musikalisches
zudem durch die Tatsache, dass Storm selbst diese Be- Prinzip sich in der äußeren Form und Komposition
griffe häufig zur Charakterisierung seines lyrischen offenbaren müsse.
Schaffens in verschiedenen Einleitungen, Vorworten Der scheinbare Widerspruch von individuellem,
und Briefen verwendet. (s. Kap. III A.14) unmittelbarem Erlebnis und Stimmung einerseits und
Wenn Storm in seinen Vorworten als Zentrum und artifizieller Formung, ja »Artistik« (Martini 1974,
Basis guter, reiner Lyrik die Verlautbarung eines Natur- 23 f.) andererseits hat in der Forschung immer wieder
lauts, einer Naturstimmung oder eines Naturgefühls zu Dissens und Verstörung geführt. Gerade die Ver-
fordert (LL 4, 380, 390, 393), so weder in der Meinung, bindung beider Aspekte aber mindert für Storm die
nur die Darstellung der Natur sei ein angemessenes Su- Gefahr, dass die Formgebung zur bloßen Kunstfertig-
jet der Lyrik, noch in der für die romantische Natur- keit, zur nur schönen Form oder zur Phrase wird, wie
lyrik weitgehend geltenden Vorstellung einer letztend- er sie an Platen und Geibel rügt. Gestaltung muss nach
lichen ideellen und emotionalen Einheit von Mensch Storm immer aus einem individuellen Erleben (an ei-
und Natur. Storms Naturbegriff schließt vielmehr – im nem nahen oder fernen Zeitpunkt) hervorgehen.
Wissen um den subjektiven Faktor der menschlichen Doch schon dieses Erleben, z. B. der Natur, ist kein auf
Naturwahrnehmung – an sein Konzept von Erlebnis präzise Wahrnehmung gerichtetes Erleben, sondern
und Stimmung an. Denn für Storm als aufgeklärten ist das, was Storm selbst »poetischer Eindruck« (LL I,
Bürger einer Epoche, die durch fortschreitenden Meta- 764) nennt. Es ist ein Eindruck, der die Alltagserfah-
physikzerfall und durch den Siegeszug der Naturwis- rung verlässt und im Medium der Kunst uns einen zu-
senschaft und Technik gekennzeichnet ist, steht zwar gleich fremden wie intensiveren Blick auf die Welt er-
die Natur als alles beherrschendes Prinzip an oberster möglicht. In diesem Prozess nimmt der Künstler die
Stelle seines Denkens, und er weiß sich auch als Teil der Natur über Sinne und Empfindung in Kategorien der
Natur. Erlebnismäßig erfährt er sich aber getrennt von poetischen Anschauung wahr, d. h. er erlebt und kon-
ihr, kann sich allenfalls in sie einfühlen oder sich – im stituiert sie zugleich als ein Ganzes (z. B. einer Land-
Kontext der Kunst – in ihr (als schöner Natur) spiegeln. schaft). Die poetische Anschauung, so kann man resü-
Im Sinne der Einfühlungsästhetik ist die Natur nicht an mieren, hat ihre Quellen 1. in dem je individuellen
sich schön, sondern wird es erst durch Einfühlung und (stimmungshaft-situativen) Erleben des Künstlers, 2.
Gestaltung. »Das Schöne ist nicht ein Ding, sondern ein in seiner Phantasie (oder Imagination), in die auch
Akt«, wie es Friedrich Theodor Vischer 1844 in seinen Kenntnis und Erfahrung von tradierten künstleri-
Kritischen Gängen formuliert hatte (Vischer 1922, IV, schen Formen eingegangen sind, und 3. in seinem Ge-
383) – eine These, für die in Storms novellistischem wie staltungsbegehren und der »Fähigkeit der Form-
lyrischen Werk manche Echos zu finden sind (vgl. dazu gebung«. Diese drei Impulse, zusammen mit einer
Roebling 2011, 15–65). Einen Künstler in seiner Novel- ihm eigenen regulativen Idee vom Schönen, befähigen

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62 III Werk – A Gedichte

den Dichter zur Komposition eines Textes, der nicht Oktoberlied immer als erstes Stück in seinen Gedicht-
v. a. abbildet, sondern darstellt. ausgaben. Die dadurch dokumentierte wichtige Stel-
lung des Liedes in seinem lyrischen Schaffen wird in
der Rezeption bekräftigt mit einer durch Storms Toch-
16.1 »Oktoberlied« ter Gertrud tradierten angeblich begeisterten Äuße-
rung Storms an Brinkmann: »Ich habe eben ein un-
Der Nebel steigt, es fällt das Laub; sterbliches Gedicht gemacht« (Storm 1912,  191).
Schenk’ ein den Wein, den holden! Noch 1884 hebt Storm in einem Brief an Keller dieses
Wir wollen uns den grauen Tag Gedicht als Gipfelleistung im Vergleich etwa zu Gei-
Vergolden, ja vergolden! bels Lyrik (die er als nur formal schön, aber flach oft
kritisierte) hervor: »ich gebe nicht mein ›Oktoberlied‹
Und geht es draußen noch so toll, für seine ganze Lyrik« (Storm–Keller, 118). Zu fragen
Unchristlich oder christlich, ist, wie die erstaunliche Hochschätzung von Storm für
Ist doch die Welt, die schöne Welt, dieses Gedicht und seine Vorstellung von dessen bei-
So gänzlich unverwüstlich! nahe programmatischem Charakter zu verstehen ist.
Inhaltlich nimmt sich das Oktoberlied zunächst als
Und wimmert auch einmal das Herz, – eine Mischung von herbstlichem Jahreszeitenlied (Ne-
Stoß an, und laß es klingen! bel, fallendes Laub, graue Tage, Herbst) und anakreon-
Wir wissen’s doch, ein rechtes Herz tisch anmutendem Trinklied aus. Der wenig sorgfälti-
Ist gar nicht umzubringen. ge Umgang mit dem poetischen Material – z. T. hohle
Bilder, gesuchte Reime, reine Füllsel-Verse, ans Trivia-
Der Nebel steigt, es fällt das Laub; le grenzende Aussagen, ein merkwürdiger Zeitsprung
Schenk’ ein den Wein, den holden! zur letzten Strophe –, der das Gedicht (entgegen
Wir wollen uns den grauen Tag Storms eigener Hochschätzung) für seine Leser eher
Vergolden, ja vergolden! als literarisch schwach ausweist, trägt dazu bei, es auf
den ersten Blick der Kategorie schnell geschriebener
Wohl ist es Herbst; doch warte nur, Trink- oder Gelegenheitsgedichten zuzuordnen.
Doch warte nur ein Weilchen! Von der Forschung wird daneben allerdings eine
Der Frühling kommt, der Himmel lacht, politische Bedeutungsebene ins Feld gebracht (vgl.
Es steht die Welt in Veilchen. Eversberg 1994), die mit der präzisen Datierung zu-
sammenhängt. Denn mit der Einfügung des historisie-
Die blauen Tage brechen an; renden Entstehungsdatums (28.10.1848) und den ers-
Und ehe sie verfließen, ten beiden Versen der zweiten Strophe: »Und geht es
Wir wollen sie, mein wackrer Freund, draußen noch so toll, / Unchristlich oder christlich«,
Genießen, ja genießen! (LL 1, 11) die ja, parallel zum unerfreulichen Herbst, Gegenmaß-
nahmen zu erfordern scheinen, kann ein Bezug gese-
Storms Gedicht Oktoberlied ist im Vergleich zu ande- hen werden auf die politische Erhebung der selbstän-
ren Naturgedichten des Autors sicher nur mit Ein- digen Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauen-
schränkung als Naturgedicht aufzufassen. Da er selbst burg gegen den dänischen Anspruch der Einverlei-
es aber zunächst mit dem Titel Herbstgedicht samt bung in einen dänischen Gesamtstaat (vgl. Lohmeier
dem Datum: »28.Oct.48« brieflich seinem Freund Ty- 1989 u. 2006). Storm war zwar politisch nicht wirklich
cho Mommsen mitgeteilt hat und da Storm in diesem engagiert, aber er war seiner Heimat, der deutschen
frühen Gedicht eine besondere Mischung von Natur- Kultur und der liberalen Demokratiebewegung ver-
motiven, politischen Anspielungen mit Rückgriff auf bunden, sodass ihn das Scheitern der im März gebilde-
antike Formen gestaltet, scheint eine nähere Betrach- ten Provisorischen Regierung für Schleswig-Holstein
tung lohnend. In einer 2. Fassung wählt Storm die (die am 22.10.1848 ihren Rücktritt erklärt hat) mit Si-
Überschrift »Oktoberlied.1848« mit Datum »28./29. cherheit schmerzte. Storm selbst schreibt rückblickend
Octb.« Der Erstdruck erschien dann im »Volksbuch zur Entstehung des Gedichtes an Brinkmann: »Dem
auf das Jahr 1850«, und 1851 veröffentlichte Storm das Sinne für die Natur und zwar in natürlichster Opposi-
Oktoberlied ohne Jahreszahl als »Prolog« im Band tion gegen die Politik ist auch das ›Octoberlied‹ [...]
Sommergeschichten und Lieder. Ab dann erschien das entsprungen« (Storm–Brinkmann, 76). Während die-
16 Naturlyrik 63

ser etwas kryptische Satz von einigen als Nachweis für und Wendungen (doch warte nur), sondern auch ganze
den politischen Charakter des Gedichts gewertet wird, Strophen (1 u. 4) und auch Klänge und Satzstrukturen:
ziehen andere hieraus den Schluss, dass Storm hier wie Vokalharmonien, Stabreime, Aufforderungs- und Aus-
auch in anderen Texten durch den Vergleich von ge- rufsätze (acht Ausrufezeichen besitzt dieser Text), An-
sellschaftlichen Prozessen mit Naturabläufen in nivel- reden an ein nicht näher genanntes Du (Str. 1,2,4,5) und
lierender und verklärender Weise jede wirkliche politi- an »mein wackrer Freund« (Str. 6) aus der Position eines
sche Tendenz überdecke (Vinçon 1972, 42 f.). Mit »na- nicht weiter konturierten geselligen »Wir« (dreimal
türlichster Opposition gegen die Politik« kann jedoch »Wir wollen«, einmal »Wir wissen’s doch«; Str. 1,3,4,6).
auch eine naturhafte, d. h. im Sinne Storms: ursprüng- Der Vierzeiler mit Wechsel von Vier- und Dreihe-
liche Skepsis gegenüber den Imperativen von Verwal- bern, bei dem häufig nur der 2. und 4. Vers reimen,
tung und Politik im weiteren Sinne gemeint sein, de- erfreute sich seit der Anakreontik-Rezeption im
nen das Individuum nur eigene Praxis im Rausch oder 18. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit, verstärkt
in der künstlerischen Tätigkeit entgegensetzen kann. durch die englischen Nachahmungen dieser Vorbilder
Gertrud Storms Einordnung des Gedichtes als »Protest in der Chevy-Chase-Strophe, die im Folgenden bis ins
gegen das Überwuchern der politischen Stimmung« 19. Jahrhundert dann zur klassischen Balladen- und
(Storm 1912, 191) lässt sich schließlich auch in diesem Kriegsliedstrophe wurde. Interessanterweise über-
Sinne verstehen. nimmt Storm in seinem Trinklied zwar weitgehend
Die vielen direkten und indirekten Kontraste im das Strophen-Muster, ändert aber den Gesamtein-
Gedicht (steigen/fallen, grau/vergolden, christlich/un- druck, indem er statt der in der Chevy-Chase-Strophe
christlich, toll/schön, wimmern/klingen, Herbst/Früh- üblichen rein männlichen Kadenzen die reimenden
ling, grau/blau, wimmern/lachen) und die vielen auf- Verse zwei und vier durchweg mit weiblichen Kaden-
fordernden Imperative erzeugen im Text einen akti- zen verbindet. Offensichtlich wollte der musikalisch
vistischen Tenor, der von melancholischer Herbst- empfindliche Autor den militanten Charakter, den
stimmung und Verklärung weit entfernt ist. Rolf z. B. Gleims nach diesem Muster gebauten berühmten
Selbmanns intertextuelle Interpretation von Storms Preußischen Kriegslieder (1758) mit den rein männ-
Gedicht als einer Antwort auf Geibels kurz davor er- lichen Kadenzen ausstrahlen, vermeiden. Storms
schienenes, auf den ersten Blick sehr ähnliches Ge- weibliche Kadenzen sind weicher, sanglicher und
dicht Hoffnung (1848) unterstreicht im Ergebnis die- schwebender. Das Politisch-Kriegerische sollte offen-
sen aktivistischen Charakter. Storm setze Geibels bar auf der Andeutungsebene bleiben.
empfindsam geduldiger, sentimental verklärender Bisher außer Acht gelassen bei der Betrachtung des
Naturdarstellung eine poetisch aktive Auseinander- Textes ist schließlich die sowohl inhaltliche wie forma-
setzung mit der Welt entgegen, »in der ein wahrer le Fokussierung auf den Herz-Begriff. Storm setzt mit
Dichter durch Vergoldung aus grauen Tagen blaue der betonten Wiederholung von Herz an den Enden
machen kann« (Selbmann 1996, 122 f.). Auch Dete- des 9. und 11. Verses, sozusagen in die Mitte des Ge-
ring betont in seiner Interpretation den subjektiv ak- dichtes, ein Kernwort seiner Vorstellung von naturhaf-
tiven Charakter des Gedichtes. Allein im Rausch und ter, reiner und tiefer Lyrik. Herz steht bei ihm für den
im Lied könne aus Grau Gold und aus dem Herbst ein tiefsten Grund, in dem künstlerische Kreativität und
Frühling gemacht werden. »Der Tag ist grau, das Gold die Schöpferkraft der Natur sich berühren. Auf das
bringen wir« (Detering 2004, 35). Wort Herz laufen im Oktoberlied der ganze Aufbau, die
Von dieser tendenziell poetologischen Sicht her »übergegenständlichen Spannungsrelationen« (Fried-
lohnt es sich, den Text als Trinklied mit seinen ana- rich 2006, 78) und auch die Klangkompositionen des
kreontischen Anklängen näher anzusehen, um den Gedichtes zu, auf die es Storm im »richtigen Gebrauch
quasi programmatischen Charakter dieses Gedichtes der Assonanz« (Storm–Brinkmann, 58) ja immer an-
besser zu verstehen. Dabei fällt der Bezug zum ana- kommt. Zeigt das Gedicht-Ganze eine Anhebung der
kreontischen Trinklied nicht nur durch die seit Horaz Klänge von tiefen o-Tönen am Anfang zu hellen ei-
bis in die deutsche Anakreontik (und nachhallend ins und i-Tönen am Ende, so dominiert in der Mitte auf
19. Jahrhundert) tradierte Themenwahl, sondern auch den betonten Silben eine Kombination von ä- und i-
durch die äußere Form, den Wechsel von drei- und vier- Tönen: Herz assoniert zweimal mit Welt und mit recht
hebigen Versen und das Spiel mit Wiederholungen ver- und gänzlich; wimmert assoniert einerseits mit christ-
schiedener Art ins Auge. So wiederholen sich nicht nur lich und unchristlich, andererseits aber auch klingen,
Worte (Wein, vergolden, wollen, Herz, Welt, genießen) mit Wir wissen’s und fast dem ganzen 4. Vers: Ist ...nicht
64 III Werk – A Gedichte

umzubringen. Der Aufruf, es klingen zu lassen, mitsamt Kaum zittert durch die Mittagsruh
den vielen anderen Aufforderungen, bezieht sich in Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
diesem Verständnis nun nicht mehr nur auf das zu lee- Dem Alten fällt die Wimper zu,
rende Glas, sondern auch auf die Aufforderung zu sin- Er träumt von seinen Honigernten.
gen, bzw. zu dichten, und zwar aus einer Verbindung – Kein Klang der aufgeregten Zeit
von Vernunft (wissen), Gefühl (Herz) und Wohlklang. Drang noch in diese Einsamkeit. (LL 1, 12)
Von daher können die »blauen« Tage nicht nur als
Hinweis auf Frühling oder auch auf Herbst (vgl. Selb- Storms Gedicht Abseits entstand seinen brieflichen
mann 1996, 122) verstanden werden, sondern auch auf Zeugnissen nach im Sommer 1847; es erschien zuerst
den Rausch des trunkenen Dichters oder auf die be- im Volksbuch für 1848, dann im Band Sommer-
rühmte »blaue Blume« der Dichtkunst. So scheint es geschichten und Lieder (1851), und ab 1852 in seinen
musikalisch konsequent, dass in der Endstrophe wie- Gedichtsammlungen. Nach eigener Darstellung ver-
der i-Töne als Produkt des dichterischen Klingen-Las- dankt es seine Entstehung einer langen Wanderung
sens dominieren. durch die Heide nördlich von Husum nach einem Be-
Resümierend lässt sich sagen: Im nur leicht verhül- such bei einem Jugendfreund (s. Kommentar Lohmei-
lenden Gewand von Naturgedicht und Trinklied ge- er, LL 1, 763 f.). Durch die im Brief (von 1887) formu-
staltet der Autor Storm in diesem frühen Gedicht eine lierte emphatische Beglaubigung (»wie ich mich be-
Art erster eigener Dichterweihe, wie er es aus den ana- stimmt entsinne«) lenkt Storm den Blick explizit auf
kreontischen Gedichten der griechischen und rö- die Realität eigenen Erlebens der Heidelandschaft.
mischen Dichtung, aber auch der deutschen Tradition Storm selbst warnt in einem sehr viel früheren Brief
im 18. Jahrhundert und den Nachklängen bis in die (an Eggers 1853, LL 1, 764) allerdings davor, in diesem
Spätromantik kannte. Naturmotive haben hier keinen Gedicht eine Abbildung der Heide zu sehen; es sei
selbständigen oder abbildenden Charakter, sondern »nicht sowohl eine Beschreibung der Heide, als viel-
gehören zum frei handhabbaren Vokabular eines dem mehr der poetische Eindruck, den die Heide auf mich
modernen Dichter eigenen Poesiekonzeptes, das vom gemacht hat«. Daher sei es auch »ein ganzes« und
Autor mit diesem Gedicht programmatisch begeistert nicht eine Aufreihung von Bildern wie z. B. in Mat-
beschworen wird. thissons Landschaftsgedichten. Der (schon zitierte)
»poetische Eindruck« und das Insistieren auf dem
Ganzheitscharakter zeigten, wie sehr dem Autor selbst
16.2 »Abseits« der konstitutive Charakter schon der poetischen An-
schauung als einem ersten Schritt zum Kunstcharak-
Es ist so still; die Heide liegt ter des Gedichtes bewusst ist, und zwar in diesem Fall
Im warmen Mittagssonnenstrahle, ein Charakter, der stark idyllenhafte Züge trägt (wie
Ein rosenroter Schimmer fliegt der Verweis auf Matthisson andeutet).
Um ihre alten Gräbermale; Allein die äußere Form zeigt in einer Mischung aus
Die Kräuter blühn; der Heideduft Volksliedton und raffinierten poetischen Arrange-
Steigt in die blaue Sommerluft. ments eine minutiöse Komposition des Textes. Der
Autor gestaltet vier Strophen zu je 6 Versen mit bei-
Laufkäfer hasten durch’s Gesträuch nahe regelmäßigen vierhebigen Jamben, bei denen in
In ihren goldnen Panzerröckchen, bekannt liedhafter Weise die ersten vier Verse im
Die Bienen hängen Zweig um Zweig Kreuzreim mit wechselnd männlichen und weibli-
Sich an der Edelheide Glöckchen; chen Reimen verbunden sind; die Strophen enden je-
Die Vögel schwirren aus dem Kraut – doch akzentuiert mit einem männlichen Paarreim.
Die Luft ist voller Lerchenlaut. Unterbrochen wird der jambische Rhythmus sechs-
mal am Versbeginn (vv. 6, 7, 18, 19, 23, 24), wodurch
Ein halbverfallen’ niedrig’ Haus in v. 6 (als Folge auch von Zäsur und Enjambement in
Steht einsam hier und sonnbeschienen; v. 5) das Aufsteigen des Heideduftes rhythmisch fühl-
Der Kätner lehnt zur Tür hinaus, bar gemacht wird; in den anderen Fällen wird durch
Behaglich blinzelnd nach den Bienen; die doppelten Hebungen (oder schwebenden Beto-
Sein Junge auf dem Stein davor nungen) des Verseingangs das Gesagte akzentuiert.
Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr. Auffallend sind im weiteren die zahlreichen Über-
16 Naturlyrik 65

schreitungen der Versenden durch Enjambements Auf das Kompositionsprinzip Idylle, das durch die
(vv.  1, 3, 5, 7, 9, 13, 17, 18, 23) und durch Zäsuren produktive Fehlübersetzung von gr. eidyllion als »klei-
(vv. 1,5,20). Indem Satz- und Versende nicht zusam- nes Bildchen« (Böschenstein 1967, 2 ff.), als freundli-
menfallen, der Satz also weiter fließt oder vorzeitig en- ches Bild einer unschuldigen archaischen Hirtenwelt
det, bekommt der Text in rhythmischer Hinsicht ei- in lyrisch-epischen Texten lange tradiert wurde, ver-
nen teilweise epischen, gemächlich voranschreiten- weist in Storms Heidegedicht neben dem epischen der
den Charakter. Auf der Inhaltsebene verbreiten die malerische Charakter, der mit dem Blick von außen
Enjambements in den Landschafts- und Klangbildern ein abgerundetes Landschaftsbild präsentiert: ein-
Vorstellung von Ruhe oder Weite, bei den Tierbildern gerahmt in erster und letzter Strophe durch Bilder
Assoziationen von Bewegtheit und Schweben. mittäglicher Stille an einem locus amoenus, einem
Der das Gedicht bestimmende poetische Eindruck »lieblichen Ort« (beides topoi der Idyllendichtung) er-
wird ihm nicht zuletzt durch die Klanggestaltung gege- scheint eine Welt friedlicher und glücklicher Be-
ben, die für Storm ja im Zentrum seiner dichterischen schränkung, sowohl was die Natur- und Dingwelt als
Bemühungen steht. Schon auf der Endreim-Ebene zei- was das menschliche Personal betrifft. Auf eine erste
gen sich auffallende Klangverbindungen: je viermal atmosphärisch ruhige Strophe mit Licht-, Luft- Duft-
Reimklänge auf i (vv. 1/3, 14/16), auf ei (vv. 7/9, 23/24) und Pflanzenbildern folgen in der zweiten Strophe be-
und u (vv. 5/6, 19/21); die Strophen zwei und drei wer- wegtere Bilder kleiner lebhafter Tiere: Laufkäfer, Bie-
den direkt durch au-Reime verbunden (vv.  11/12, nen, Vögel, und Lerchen, nach denen in der dritten
13/15). Aber auch das übrige Wortmaterial ist durch- aber sogleich wieder ein Bild der Ruhe vor Augen ge-
setzt von Klangverbindungen in Form von Assonan- führt wird: ein Kätner mit seinem schnitzenden Jun-
zen und Alliterationen. Dabei weisen die einzelnen gen, ein Bild, das in der vierten Strophe in Bilder des
Strophen einen klanglichen Grundton auf mit einer Schlafens und Träumens mündet, sodass Stille und
merkbaren Dominanz von hellen Klängen (i, ei, äu, ü), Einkehr schließlich vollends verinnerlicht scheinen.
wie sie quasi themenhaft im ersten Vers vorklingen »Es Durch das Motiv der kaum hörbaren Dorfuhr wird
ist so still; die Heide liegt«, oder (v. a. in der 2. Strophe) dem für die Idyllen typische Charakter der Zeit- und
von melodisch gebrochene Umlauten (äu, ei, ä, ö, au), Geschichtslosigkeit, der auch durch ihren kreisförmi-
die zusammen mit den häufigen Liquiden l und r (gip- gen Aufbau (von Mittag zu Mittag) und durch den
felnd in v.  12: »Die Luft ist voller Lerchenlaut«) den Präsensgebrauch (mit Ausnahme des letzten Zweizei-
»rosenroten Schimmer« der 1. Strophe nun ins Akus- lers) unterstrichen wird, Genüge getan.
tische zu übertragen scheinen. Das ganze Gedicht be- Ins Zentrum der Idyllenwelt führt schließlich das
kommt durch Rhythmus und Klanggestaltung einen nur kaum verfremdete Bild vom Musengott der Idylle,
ausgesprochen musikalischen Charakter, der sich den dem Hirtengott Pan, auf den die Verse 17/18 verwei-
Lesern sogleich bei der ersten Lektüre als friedlich- sen: »Sein Junge auf dem Stein davor/Schnitzt Pfeifen
freundliche Stimmung mitteilt. sich aus Kälberrohr«. Der nach der griechischen My-
Der kunsthafte Charakter des Gedichtes erhellt sich thologie v. a. als Gott der Wiesen und Wälder bekann-
aber im Besonderen durch das in vielen Aspekten te Pan tritt v. a. in sommerlicher Mittagsstille auf (sic)
durchschimmernde Vorbild der Gattung Idylle. Storm und ist bekannt als Erfinder der Syrinx, der Hirtenflö-
hat während seiner intensiven humanistischen Bil- te, die er, auf der Suche nach einer Nymphe, aus Schilf-
dung sowohl in der Husumer Gelehrtenschule wie im rohr schnitzte. Vom griech. Urbild lenkt Storm durch
Lübecker Katharinäum (s. Eversberg 2006) neben ei- Regionalisierung des Flötenmaterials als »Kälber-
ner Fülle anderer griechischer und lateinischer Texte rohr« ab, einem heimischen Wiesenkerbel, der als
auch Idyllen von Theokrit, Vergil und Horaz studiert, Doldenblütler mit hohlem kräftigem Stängel sich zum
kannte deren Rezeption in der deutschen Dichtung Flötenschnitzen eignet.
des 18. Jahrhunderts (Gellert, Gessner, Gleim, Mat- Mit der Anspielung auf Pan als Flötenspieler tritt
thisson, Voß, Goethe) und deren Weiterentwicklung das Künstlerthema in die Darstellung, zumal Pan auch
zur bäuerlichen und bürgerlichen Idylle seit der Goe- als Gott von Leben und Kunst verehrt wurde. Zusam-
thezeit bis ins 19. Jahrhundert. Sein »poetischer Ein- men mit dem Titel »Abseits« könnte die Künstler-As-
druck« der Heide ist deutlich geprägt von der ihm ver- soziation im Gedicht demnach auf eine poetologische
trauten Kunstform »Idylle« sowie deren neuerer Auf- Bedeutung hinweisen, d. h. auf eine indirekte Reflexi-
fassung, und diese Prägung strukturiert das Gedicht on über Form und Stellenwert von Kunst in der Welt.
aus dem Hintergrund. Denn einerseits deutet der Titel »Abseits« auf eine
66 III Werk – A Gedichte

nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich und mental 1970, 25–28; Ringleben 2009, 57–65). Die Erschei-
entlegene ferne, beinahe archaische Welt, auf die (ne- nungsdaten legen nahe, dass der Autor sich in diesen
ben den Idyllenmotiven) auch die »alten Gräbermale« Gedichten seiner Heimat in besonderer Weise ver-
der ersten und das »halbverfallene« Haus der dritten sicherte, die für ihn als Bleibeort in den Jahren 1851/52
Strophe, aber v. a. der abschließende Doppelzeiler: (der Entstehungszeit von Die Stadt) mit dem drohen-
»Kein Klang der aufgeregten Zeit / Drang noch in die- den Berufsverbot durch die dänische Regierung in
se Einsamkeit« verweisen. Die Schönheit des Gedich- Gefahr war, und aus der er sich 1853/54 (der Entste-
tes mit seinen frischen Bildern verhindert, dass die hungszeit von Meeresstrand) mit seiner Umsiedlung
»Abseits«-Vorstellung ins Negative, ins Abgetane um- ins preußische Potsdam verbannt sah. Legitimiert
schlägt, verhindert, dass die Form der Idylle damit als scheint schließlich eine Interpretation der Texte als
verbraucht, als Phrase gestaltet würde. Denn wenn der Heimatgedichte durch die begleitenden Heimweh-
Dichter auch mit dem Abseits-Titel und mit den ab- briefe Storms an seinen Vater (s. LL 1, 766).
schließenden Versen die Ferne seines Gedichtes vom Und dennoch wird Regina Fasolds Charakterisie-
modernen Weltzustand einräumt, insistiert er mit rung der Gedichte als »Ausdruck einer Seelenland-
dem durchgehaltenen Präsens und der Anspielung auf schaft« (Fasold 2005, 13) ihrer Bedeutung eher ge-
Pan auf der Gültigkeit einer Schönheit auch jenseits recht, insofern Storms Sehnsucht nach der »Heimat«
politisch-gesellschaftlicher Aktualität. Fast scheint mehr und Tieferes umfasst als das Heimweh nach Hu-
hier das »Abseits« zur conditio sine qua non derartiger sum und dem Nordseestrand. Fast scheint es, als wer-
Darstellung zu werden, insofern die sinnliche Schön- de erst durch die Sehnsucht nach der regional-biogra-
heit der Welt in der »aufgeregten Zeit« des Alltags phischen Heimat Storm sich seiner eigentlichen,
dem Künstlerblick entgehen kann. Die »Honigern- künstlerischen Heimat bewusst, der Seele seiner Dich-
ten«, von denen der Alte im Text träumt, lassen durch- tung, in der regionale Realitäten aufgehoben und zu-
aus Assoziationen von »süßem« Erfolg und Sinnen- gleich transzendiert werden. In der Entstehungszeit
freude zu. der Gedichte schreibt er an Brinkmann: »[...] die Seele
Durch die im Rahmen einer Idyllenkomposition aber, die Musik, die Anmut, die liegt zwischen den
realisierte poetisch-musikalische Gestaltung eines Worten«, und diese Seele komme nicht »durch den
Ensembles mit frischen unverbrauchten Naturbildern Sinn der Worte, sondern zum großen Theil durch ih-
gelingt dem Autor eine ansprechende formula in dis- ren Klang und durch das angemessene Verhältnis und
guise, wie der Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1953) Auf- und nacheinanderfolgen von ein oder mehrsilbi-
die Übernahme eines berühmten tradierten Kom- gen Worten, von mehr oder weniger flüchtigen Län-
positionsprinzips und seine Ausgestaltung mit neuen, gen, durch den richtigen Gebrauch der Assonanz und
zeitgemäßen Motiven nennt. Denn mit dem Verzicht Alliteration im Verse« ans Licht. (Storm–Brinkmann,
auf religiöse oder andere Transzendenzverweise hin- 56, 58). Die hochgradige Poetizität beider Texte, die in
ter den Naturbildern, wie sie in romantischen Gedich- der dichten Komposition bildlicher, lautlicher, rhyth-
ten und noch in Naturgedichten der Droste zu finden mischer Korrespondenzen die Leser bewusst oder un-
sind (vgl. Sengle 1979), bekennt sich Storm in diesem bewusst berührt, ist also nicht nur dekoratives Bei-
Gedicht durch die Idyllenform hindurch zu einem werk zur Darstellung einer geliebten Landschaft, son-
modernen, die Immanenz allen Lebens akzeptieren- dern es werden umgekehrt durch das Natur- und
den Weltbild. Landschaftsvokabular hindurch im Kontext der Kom-
position intensivierte Bedeutungen generiert, die die
bloße Realitätswiedergabe überschreiten.
16.3 »Die Stadt« und Dass diese beiden Gedichte für den Autor Storm
»Meeresstrand« und sein Schaffen von besonderer Wichtigkeit waren,
erhellt schon daraus, dass sie zu den wenigen Ausnah-
Die Gedichte Die Stadt (1852) und Meeresstrand men gehören, die er im Nachhinein (in der zweiten
(1856) gelten unter Stormlesern und -forschern als und vierten Auflage seiner Gedichte, 1856/1864) in
poetische Meisterleistungen des Autors. Sie erfreuen den ursprünglichen Kernblock der für sein Selbstver-
sich besonderer Beliebtheit, da man in ihnen sowohl ständnis wesentlichen Lyrik in die fünfte und sechste
die Heimatverbundenheit des Autors mit der Stadt Position einschob. An der so entstandenen Reihenfol-
Husum und der Nordseeküste sowie deren Darstel- ge wurde seitdem in allen maßgeblichen Storm-Aus-
lung am überzeugendsten wahrzunehmen glaubt (Silz gaben festgehalten.
16 Naturlyrik 67

Am grauen Strand, am grauen Meer Weitere betonte Wortwiederholungen sind: viermal


Und seitab liegt die Stadt; grau in Str. 1 und 3, zweimal für und dreimal dir in
Der Nebel drückt die Dächer schwer, Strophe 3. Syntaktische Wiederholungen finden sich
Und durch die Stille braust das Meer in den Versen 1 und 6 und als ganze Verswiederholung
Eintönig um die Stadt. in den Versen 12 und 15.
Überdeutlich sind schließlich die zahllosen, von
Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai Storm ja als besonders wichtig erachteten Klangwie-
Kein Vogel ohn’ Unterlaß; derholungen als Assonanzen und Alliterationen wie
Die Wandergans mit hartem Schrei z. B. die vielen a-Assonanzen im ganzen Gedicht, gip-
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, felnd in der zweiten Strophe mit 9 (sic) metrisch beton-
Am Strande weht das Gras. ten a-Lauten und dem Vers »Die Wandergans mit har-
tem Schrei« genau im Zentrum des Gedichtes. Auffal-
Doch hängt mein ganzes Herz an dir, lend sodann die alliterierenden (phonetischen) Zisch-
Du graue Stadt am Meer; laute (fünfmal Stadt, zweimal Strand, schwer, schlägt,
Der Jugend Zauber für und für Stille, Schrei), die zusammen mit rauscht einen beinahe
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, onomatopoetischen Meerescharakter erzeugen.
Du graue Stadt am Meer. (LL 1, 14) Durch die vielen Wort- und Klangwiederholungen
samt dem kargen Umgang mit Reimklängen wird
Storms Gedicht Die Stadt (Erstdruck 1852) fällt zu- stimmungsmäßig eine gewisse klangliche Eintönig-
nächst durch seine strenge Grundstruktur auf: In den keit erzeugt. Zum anderen wird durch die vielfältigen
drei gleich gebauten fünfversigen Strophen aus je zwei Wiederholungen zunehmend der denotative Charak-
vollständigen, nur durch Semikolon getrennten Sät- ter des Textes zurückgedrängt zugunsten eines musi-
zen wird der jambische Rhythmus weitgehend durch- kalisch-kompositorischen, der Bedeutung nicht v. a.
gehalten, wobei mit dem gewählten Reimschema durch den Verweischarakter von Worten, sondern
abaab ein Wechsel von vierhebigen Jamben (bei den a- ebenso stark durch immanente Bezüge, Verhältnisse
Reimen) und dreihebigen Jamben (bei den b-Reimen) und Strukturen generiert. So wird z. B. durch die Tat-
erfolgt. Die wenigen rhythmischen Ausnahmen (v. a. sache, dass das viermal wiederholte Wort grau nicht
die schwebenden Betonungen in den Anfängen der nur mit braust und rauscht assoniert, sondern auch
Verse 5, 7, 11 und bei seitab in Vers 2) bekommen mit dem poetisch auffallenden Wort Zauber (v.  13),
durch die sonst obwaltende Regelmäßigkeit sinnver- der Notion grau eine offene, aber vom Leser doch
stärkende Kraft. Alle Verse enden mit einer männlich- fühlbare neue, geheimnisvollere Bedeutung gegeben
stumpfen (meist einsilbigen) Kadenz, deren statuari- als beim Abgleich mit einer potentiell realen tristen
scher (beim Meeresthema ungewöhnlicher) Effekt al- Stimmung der Stadt Husum im Herbst.
lerdings durch die vielen Enjambements (vv. 1, 4, 6, 8, Die kompositorische Fokussierung des Gedichtes
13) abgemildert wird. Diese Zeilensprünge evozieren auf den Vers »Die Wandergans mit hartem Schrei« im
nicht nur auf der Bildebene Vorstellungen vom be- Zentrum des Textes wird auf der semantischen Ebene
wegten Meer (Str.  1) oder von fliegenden Vögeln unterstützt durch die Fortführung des Klang- und Vo-
(Str. 2), sondern verdichten auch auf der quasi musi- gelmotivs, in der Lyrik häufig ein Verweis auf den
kalischen Ebene den starken klanglichen Verflech- Dichter als Sänger: Nach Einspielen des Klangmotivs
tungscharakter, der erzeugt wird durch Wiederholun- im eintönigen Meeresbrausen (v. 4/5) beginnt die Mit-
gen, Relationen, Umschlingungen verschiedenster telstrophe mit der doppelten Negierung einer roman-
Art. Allein im Reimschema abaab umschlingen zwei tischen Poesie-Stimme des Rauschens und Vogelschla-
a-Reime einen b-Reim, und zugleich umschlingen gens: »Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai/ Kein
zwei b-Reime ein a-Reim-Paar. Intensiviert werden Vogel ohn’ Unterlaß« (v. 6/7). Auf diese Negierung er-
die Verflechtungen durch Wiederholungen auch auf folgt als poetischer Gegenentwurf auf dem Höhe-
allen anderen poetischen Ebenen. Besonders auffal- punkt des Gedichtes der Schrei der Wandergans. Diese
lend sind Wortwiederholungen: zunächst als iden- harte, fremdartige Stimme gibt zusammen mit der
tische Reime: viermal Meer in Strophe 1 und 3, zwei- strengen Struktur, den männlichen Kadenzen und der
mal Stadt in Strophe 1; dazu Stadt als Binnenwieder- optisch grauen Eintönung dem Gedicht einen sehr ei-
holung in Strophe 3 und zwei mit den Stadt-Reimen genen, herben Charakter. Das freudig lächelnde Auf-
assonierende Reime in Strophe 2 (Unterlaß/Gras). leuchten in der dritten Strophe könnte dann auf dieses
68 III Werk – A Gedichte

Sich-Versichern einer eigenen Stimme bezogen wer- »wie er in dieser Bestimmtheit lyrisch bisher nicht ge-
den. Denn wenn mit dem adversativ herausgearbeite- sehen worden ist« (Kaiser 1991, 320). Von anderen
ten »Doch hängt mein ganzes Herz an dir« zum ersten wird es als bildliche Darstellung einer »Seelenland-
Mal (mit dem Possessivum) das lyrische Ich im Ge- schaft« (Fasold 2005, 13), einer von »keiner Verweis-
dicht erscheint, so legt dies auch eine Lesart nahe, in funktion mehr beschwerten ›Situation‹« (Detering
der die »graue Stadt am Meer« nicht nur und vor allem 2013, 231) verstanden. Das von Storm selbst »poeti-
für die Stadt Husum steht, sondern allgemeiner für ei- scher Eindruck« (LL 1, 764) genannte Zusammenwir-
nen Vorstellungskomplex, der den Ort von Storms ken der verschiedenen inneren und äußeren Impulse
Poesie aufruft. (vgl. Roebling 2012). Dieser Ort wäre wird in diesem Text als dauerndes, kaum fixierbares
– dem Gedicht nach – ein Ort im Abseits, und das hie- Spielen zwischen Realität und Phantasie, Wahrneh-
ße hier: ein künstlerisch unverbrauchter Ort, an dem mung und traumhaften Spiegelungen erfahren.
dichtungsgeschichtlich neue, junge, für den Autor Seine »künstlerische Form« findet dieser schillern-
zauberhafte Töne angestimmt werden können. de Doppelcharakter in einer – im Vergleich zum sehr
Im Gedicht Meeresstrand (Erstdruck 1856) finden strengen Gedicht Die Stadt – deutlich aufgelockerten
sich die Grundmotive des Stadt-Gedichtes – wenn Form: In den vier vierzeiligen Strophen reimen nur je
auch in anderer Gewichtung – wieder: Die Szenerie die zweiten und vierten Verse, und zwar mit männ-
am Meer, das herausragende Vogelmotiv verbunden licher Kadenz. Die je ersten und dritten Verse zeigen
mit der Thematisierung von Klängen und Stimmen, reimlose weibliche Kadenzen. Es gibt keine Reimwie-
das Ich inmitten dieser Welt, das auf die Stimmen be- derholungen, auch nicht als Assonanzen der Kaden-
zogen wird. zen, wie überhaupt das Klangbild deutlich abwechs-
lungsreicher ist als in Die Stadt, auch wenn – wie in
An’s Haf nun fliegt die Möwe, allen Storm-Gedichten – mit Alliterationen (z. B.
Und Dämm’rung bricht herein; Graues Geflügel, schauert – schweiget) und Assonan-
Über die feuchten Watten zen (geheimnisvoll – einsames – einmal – schweiget)
Spiegelt der Abendschein. oder Klangharmonien (z. B. die Endklänge der 3. Stro-
phe sind alle dunkel, die der 4. Strophe alle hell) ge-
Graues Geflügel huschet arbeitet wird. Auch die metrische Form zeigt vielfälti-
Neben dem Wasser her; ge Variationen: Der Rhythmus ist zwar durchgehend
Wie Träume liegen die Inseln dreihebig, aber mit wechselnden Füllungen, zumeist
Im Nebel auf dem Meer. mit unregelmäßigem Wechsel von Jamben und Dak-
tylen, die an einigen Versanfängen (vv. 3, 4, 5, 6, 11,
Ich höre des gärenden Schlammes 12) auch als schwebende Betonungen gelesen werden
Geheimnisvollen Ton, können. Die Versenden werden durch zahlreiche En-
Einsames Vogelrufen – jambements bei den weiblichen Kadenzen (vv. 3, 5, 7,
So war es immer schon. 9, 13) überspielt, wodurch rhythmisch feste Glie-
derungen und Trennungen vermieden werden, auf
Noch einmal schauert leise der Inhaltsebene gewissermaßen Horizonte optisch
Und schweiget dann der Wind; und akustisch offengehalten scheinen.
Vernehmlich werden die Stimmen, Auf der semantischen Ebene kommt das Spiel zwi-
Die über der Tiefe sind. (LL 1, 14 f.) schen Realität und Imagination durch Bilder zur Dar-
stellung, die ihre poetische Kraft gerade in einer zu-
Peter Goldammers Würdigung des Gedichtes Meeres- nehmenden Unkonturiertheit entfalten, und zwar in
strand als »zu den stimmungsvollsten lyrischen Wer- der ersten Hälfte v. a. durch optische, in der zweiten
ken Storms« gehörig (GB 1, 51) kann von der in die- Hälfte durch akustische Eindrücke. Verstärkt wird der
sem Gedicht besonders ausgeprägte Einheit von sub- Eindruck des nicht wirklich Konkreten durch eine
jektivem Erleben und Konstituieren, von Eindruck Reihe unpräziser Ortsbestimmungen (»An’s Haf«,
und Schöpfung, von Empfinden und Gestalten her »über die [...] Watten«, »neben dem Wasser«, »auf
verstanden werden. Entsprechend diesem Doppelcha- dem Meer«, »über der Tiefe«).
rakter wird das Gedicht in der Rezeption einerseits als In den ersten beiden Strophen wird nach Einspie-
genaue Darstellung einer Abendstimmung am Wat- len des Möwenmotivs eine Szenerie im Abendlicht
tenmeer gelesen, als norddeutscher »Schauplatz«, am Rande des Wattenmeers geschildert, in der sche-
16 Naturlyrik 69

menhaft Vögel (Geflügel) und Inseln erscheinen. Un- Eine andere Interpretation ergibt sich (Roebling
konturiert oder grenzwertig erscheint schon die Ge- 2012, 141 ff.), wenn das Hören des mitten in die Spie-
samtsituation: zwischen Land und Meer (»Meeres- gelprozesse gesetzten Ichs als gezieltes Hören verstan-
strand« und »Haf«, also Wattenmeer), zwischen Tag den wird, das nicht ins Leere geht, denn der Text ant-
und Abend, hell und dunkel (Dämm’rung), zwischen wortet ja mit Klangbildern (»geheimnisvollen Ton«,
Realität und Traum. Auf schillernde Uneindeutigkeit »einsames Vogelrufen«; v. 10) auf dieses Hören. Nach
oder Vieldeutigkeit weisen auch die einzelnen Bilder: dem Schweigen der Naturtöne erfolgt eine neue
z. B. die Möwe (v. 1.), von der unklar ist, ob sie an das Klangwahrnehmung (»vernehmlich werden«; v.  15),
Haf hinausfliegt oder vom Meer kommend ins Watt die man, nach Abklingen äußerer Eindrücke (Schwei-
(heimatwärts) hineinfliegt; die Art und Position des gen des Windes) als eine Wendung nach innen verste-
»neben dem Wasser« huschenden »Geflügels«; oder hen kann mit dem Benennen von bestimmten Fak-
später auch die Position des Ichs. In Vers 2 folgt nach toren: »die Stimmen« und »über der Tiefe«. Die
dem per se undeutlichen Dämmerungsbild in den Klangantworten im Text sind poetische Antworten,
Versen 3 und 4 das poetisch/poetologisch wichtige ohne Hinweis auf bestimmte außertextliche Realitä-
Spiegelbild, »Über die feuchten Watten / spiegelt der ten, sind im engeren (rationalen) Sinne nicht »ver-
Abendschein«. Dieses Bild strahlt ebenso wie die ständlich«, für das Ich und die Leser aber sehr wohl
Dämmerungsnotion und der folgende Traumver- »vernehmbar«. Real ist nur das Benennen, nicht das
gleich (v.  7) seine Bedeutung fast programmatisch Benannte. Das moderne Ich weiß, dass die Natur nicht
über das weitere Gedicht aus: Nicht nur spiegeln sich zu ihm spricht, aber es kann sich in sie einfühlen, kann
rhythmisch genau in der Abfolge von Daktylen und sich in ihr spiegeln: in seinem Bedürfnis nach Schön-
Jamben die Verse 5 und 6 mit den Spiegelversen 3 und heit, in seiner Einsamkeit, aber auch in seiner Tiefe.
4, sondern auch die Bilder des huschenden Geflügels Das Reden von der »Tiefe« ist bei Storm beinahe im-
oder der Inseln, die wie Träume »Im Nebel auf dem mer positiv besetzt, wird von ihm für die künstleri-
Meer« liegen, könnten als Spiegelungen aufgefasst sche innere Tiefe genutzt, aus der allein die innere
werden. Form hervorgehen kann. In seinen theoretischen Äu-
Das dann in der Mitte des Gedichtes auftauchende ßerungen fordert Storm Tiefe sowohl bezüglich der
Ich erscheint beinahe als Zentrum aller Spiegelprozes- Empfindung des Dichters wie des Rezipienten, setzt
se, zu denen dann auch die folgenden akustischen zu beim Lyriker ein »höchstes Maß von Fülle und Tiefe«
zählen wären, die wie die optischen immer ungenauer (LL 4, 332) als Bedingung von Produktivität voraus. Er
und verhaltener werden bis zum Endpunkt des Schwei- spricht von der notwendigen »Tiefe der poetischen
gens (gärender Schlamm – geheimnisvoller Ton – ein- Anschauung« (Storm–Mörike, 68) und sieht sich
sames Vogelrufen – schauern – schweigen). In den selbst in der Tradition der großen Lyriker, die »jener
letzten beiden Versen »Vernehmlich werden die Stim- seltenen, reinen und tiefen Lyrik mächtig« sind
men, / Die über der Tiefe sind« scheint eine Wendung (Tischrede, LL 4, 491). Als Hörender, als für die Klang-
zur Konkretion zu erfolgen, wie zumindest die be- welt Sensibler und in Bezug zu seiner inneren Tiefe
stimmten Artikel indizieren, im Gegensatz zum häufig kann er sich als Künstler in die Tiefe der kreativen Na-
artikellosen Wortgebrauch zuvor: Dämm’rung, graues tur einfühlen, kann die Stimmen ›vernehmen‹ – und
Geflügel, Träume, geheimnisvoller Ton, einsames Vogel- das heißt auch: ›erfahren‹ –, die ihm von »über der
rufen (vgl. Silman 1976, 50). Der Mangel allerdings an Tiefe« (nicht »aus« der Tiefe!) zukommen. Sind es
konkretem Inhalt, an Verständlichkeit der Stimmen Stimmen aus einem vielleicht vorpoetischen Ort, auf-
über der Tiefe hat bei einigen Forschern zu einem Ver- getaucht zwar schon aus der ungestaltigen Tiefe, die
ständnis des Gedichtes als Bild absoluter Entfremdung aber sprachlich noch geborgen werden müssen? Das
geführt, in dem das Subjekt selbst sich aus Landschaft Bild bleibt rätselhaft wie der Prozess der Dichtung
und Natur ausgeschlossen erfährt. Detering (2013, schließlich auch. Die Wiederholung der leicht unge-
229) wie vor ihm genauso Kaiser (1991, 321 ff.) verste- nauen lokalen Präposition »über« am Anfang und En-
hen das Sprechen des Ichs als eine Rede ins »Leere«, de des Gedichtes legt jedoch nahe, beide als Bilder von
die ohne Antwort bleibt, denn von den (nur) vernehm- Spiegeleffekten anzusehen, die dem Künstler in der
baren (nicht »verständlichen«) Stimmen sei es nicht »poetischen Anschauung« als Impulse von außen und
»gemeint«. Die »Tiefe«, aus der die Stimmen kämen, innen zukommen, so dass er – wie die Natur – aus
wird negativ verstanden, als »abgründiger Ort«, als dem ungeformten ›gärenden Schlamm‹ den ›geheim-
»unheimlich« und »fremd«. nisvollen Ton‹ und die schönen Bilder formen kann.
70 III Werk – A Gedichte

16.4 »Über die Heide« Im Vergleich zum idyllischem Heide-Gedicht Abseits


von 1847 erscheint Storms Gedicht Über die Heide mit
Storms Gedicht Über die Heide von 1875 ist im Erst- den spärlichen dunklen Naturbildern (Herbst, Nebel,
druck in den Neuen Monatsheften für Dichtkunst und schwarzes Kraut, leerer Himmel) und der Infragestel-
Kritik (1875) erschienen, im gleichen Jahr in den Ge- lung positiver Erfahrungen (vv.  4, 7, 8) als ein Text
dichten und seit 1877 in den Schriften (Bd. 7). Gut 30 stärkster Reduktion. Die Zweizeiligkeit der vier Stro-
Jahre nach dem anderen Heidegedicht – Abseits – ver- phen (eine von Storm selten gewählte Form) erzeugt
fasst, entstammt es einer Zeit, in der Storm kaum hier beinahe den Eindruck von Sprachlosigkeit. Der
noch Lyrik schrieb, einen großen Teil seines Novel- Rhythmus, der in seiner Abfolge von Daktylen und
lenwerks vollendet und noch 9 Jahre mit zunehmen- Trochäen (vv. 6–8 reine Daktylen) den Schritt über die
dem Magenleiden zu leben hat. Entstanden sei es auf Heide darstellen könnte, wirkt deutlich schwerfälliger
dem Weg zum Begräbnis seines Schwiegervaters als die Jamben in Abseits, wozu insbesondere die kata-
Ernst Esmarch, der ihn über die Heide führte, wo »ich lektischen Abschlüsse aller acht Verse beitragen. Indem
einst mit ihr gegangen, der das Gedicht Trost galt, und der von der Taktreihe zu erwartende Trochäus (oder
die damals mich schon lange auf Nimmerwiederkehr Daktylus) abbricht, scheint der Schritt am Versende
verlassen hatte« (LL 1, 870). Scheint der naturbezoge- wie erschöpft auf einem schwer betonten männlichen
ne »Gegenstand« als Anlass des Gedichtes, eine Wan- Reim zu verharren, ganz im Gegensatz etwa zu den
derung über die Heide, also vergleichbar mit Abseits, vielen Zeilensprüngen im Abseits-Gedicht samt des-
sind die Besonderheiten des für Storm ja so wichtigen sen Wechsel von männlichen und weiblichen Reimen.
Erlebnishintergrundes gänzlich verschieden: Der Au- – Allein die musikalisch-poetische Darstellung ist mit
tor ist inzwischen ein alter Mann, muss seinen Onkel den verschiedene Bedeutungseinheiten schaffenden
und Schwiegervater betrauern, thematisiert auch den Klangverbindungen (z. B. Heide – hallet – Herbst oder
Tod seiner Frau Constanze vor zehn Jahren, der ihn Leben – Liebe – flog) vergleichbar mit dem Gedicht
zutiefst erschüttert und zu zahlreichen Trauertexten Abseits, wenn sie auch, der Bedeutung folgend, einen
veranlasst hatte. Auch im Gedicht Über die Heide ist anderen dumpfen Grundton anklingen lässt (z. B. in
(wie in Abseits) die Wahrnehmung der Heide in der v. 2: »Dumpf aus der Erde wandert es mit«) als ihn das
poetischen Anschauung geprägt von individuellem Gedicht Abseits mit seinen vielen hellen Tönen zeigt.
Erleben und von Kunstbezügen. Das individuelle Er- Im Vergleich zum Trost-Gedicht, das nicht nur
leben zeigt sich hier aber geprägt von Liebesverlust, durch Storms Hinweis in seinem Entstehungsbericht,
Todesvorstellungen und dem Bewusstsein schwin- sondern auch durch die besondere Zweizeiligkeit Auf-
dender Schaffenskraft, sodass im Mittelpunkt des Ge- merksamkeit im Kontext der Interpretation auf sich
dichtes nicht mehr ein sich seiner künstlerischen Po- zieht, erscheint Über die Heide geradezu trostlos, wenn
tenz sicheres oder sich versicherndes Ich wie im man nicht die Bewältigung durch das Gelingen einer
Stadt- und Meeresstrand-Gedicht steht, sondern ein geschlossenen Komposition als einen Trost – zumin-
um Verluste trauerndes Ich. Die Kunstbezüge gelten dest für Storm als Künstler – ansehen möchte. Das
hier nicht einer Anregung gebenden tradierten Gat- lyrische Ich, das sich in der ersten und letzten Stro-
tung (wie der Idylle), sondern rückblickend eigenen phe durch das Possessivpronomen (mein) und das
früheren Gedichten, und sie legen Vergleiche der Ge- Personalpronomen (ich) rahmengebend verlautbart,
dichte nahe. scheint auf sich selbst zurückgeworfen, einsam und
fremd in einer unwirtlichen Natur, die ihm keine Hei-
Über die Heide hallet mein Schritt; mat, kein »zu Hause« darstellt. Statt eines Gegenübers
Dumpf aus der Erde wandert es mit. im »lieben Angesicht« (Trost) erscheint hier nur der
dumpfe Widerhall seiner Schritte, als Stimme eines un-
Herbst ist gekommen, Frühling ist weit – heimlichen Es, das auf die Welt der Toten (aus der Erde)
Gab es denn einmal selige Zeit? verweisen könnte. Erinnerungen an eine »selige Zeit«
sind nicht nur dem Ich im Jetzt entschwunden, son-
Brauende Nebel geisten umher, dern werden grundsätzlich in Frage gestellt (v. 4) oder
Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer. gar fortgewünscht (v. 7), da sie die finstere Gegenwart,
den Verlust jedes Schönen nur fühlbarer machen.
Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai! Der Eindruck von Trostlosigkeit wird verstärkt und
Leben und Liebe – wie flog es vorbei! (LL 1, 93) untermauert durch den Umgang mit Naturbildern
16 Naturlyrik 71

und -verweisen, in deren Verstrickung von kreisför- »leidendes Bewußtsein« selbst genießt (Müller/
migen und linearen Strukturen das Subjekt verhaftet Mecklenburg 1979, 38 f.) abgetan werden, und schon
scheint. Denn wenn einerseits das Ich wie alle Lebe- gar nicht als »Seichtheit der Goldschnitt-Poesie« mit
wesen als Teil der Natur in deren Kreisförmigkeit ein- »trivialen Bildern« (von Matt 1998, 44 f.). Sicher wird
gebunden ist, sodass Begriffe wie »Frühling«, »Herbst« man in der letzten Strophe des Gedichtes mit ihrem
und »Mai« auch metaphorisch auf sein Leben bezogen Klageduktus nicht die poetische Intensität der ersten
werden können, so hat doch in seinem Lebensgefühl Strophen erkennen. In diesen gelingt es dem Autor
die Kreisförmigkeit nichts Bergendes oder Tröstli- aber, allein über die Darstellung von Sinneseindrü-
ches. Die Begriffe Mai und Frühling charakterisieren cken und über poetische Mittel von Naturbildern,
nur als Negierte die Gesamtstimmung des Gedichtes. Rhythmen, Klang- und Beziehungsformen, unsenti-
Weder spiegeln sie sich (da »weit« entfernt oder ver- mental eine historische Lebenserfahrung von Einsam-
gangen) im gegenwärtigen Erleben des Ichs, noch keit, Angst und Unbehaustheit in dichter Form aus-
kann den Negierten (wie im Stadt-Gedicht) poetisch zudrücken. In diesem Altersgedicht erscheint das In-
eine positive Stimme entgegengehalten werden. Das dividuum wirklich in einer Welt »eines Anderen und
Erleben ist hier nicht durch einen tröstlichen Rhyth- Fremden« (Detering 2013, 233 f.), in der Menschen
mus von hell und dunkel, von Werden und Vergehen und Natur keinen Trost mehr spenden können und in
gekennzeichnet, sondern scheint bestimmt v. a. durch der auch der Glauben an die Fähigkeit zur künstleri-
lineare Strukturen, aufgerufen durch Bewegungsaus- schen Formgebung als Behauptung in der sonst stum-
drücke wie »Über die Heide [...] Schritt« »wandert [...] men Welt dem Ich abhanden gekommen scheint.
mit«, »weit«, »gegangen«, »flog es vorbei«. Die das Le-
bensgefühl des Ichs hier bestimmende Linearität führt
jedoch zu keinem positiven Ziel, sondern ins Nichts, 16.5 »Frauen-Ritornelle«
in den Tod, auch wenn dieser direkt nicht genannt,
sondern nur indirekt durch Bilder oder den je abfal- Storms Gedicht Frauen-Ritornelle (1875) fällt aus dem
lenden Rhythmus evoziert wird. Rahmen seiner anderen Naturgedichte heraus, sowohl
Den stärksten Ausdruck findet die Erfahrung des bezüglich seiner Entstehung über einen Zeitraum von
»Seins zum Tode« (wie es Heidegger in Sein und Zeit beinahe 30 Jahren, sowie seiner Form, insofern Storm
nennen wird; Heidegger 1927, 305) im sechsten Vers – hier mit dem Vokabular Natur in artistisch spieleri-
»Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer« – dem scher Weise umzugehen versucht. Die Form der Ritor-
Gipfel des Gedichtes, der in seinem chiastisch sich nelle (in Deutschland v. a. von Friedrich Rückert und
spiegelnden Aufbau die Subjekte und Attribute Wilhelm Müller gepflegt und von Storm zusammen
»Kraut« und »Himmel«, »schwarz« und »leer« mit- mit Theodor Mommsen entdeckt und nachgeahmt)
einander verbindet. Der Erfahrung naturhaften Ver- stammt aus der italienischen Volksmusik (ital. ›ritor-
gehens im Bild des schwarzen Krautes wird die ver- nello‹: Wiederkehr). Immer handelt es sich um drei-
loren gegangene Transzendenz im Bild des leeren Him- zeilige (inhaltlich oft unverbundene) Strophen (Ritor-
mels zugeordnet. Storm greift hier auf eine Bilderwelt nelle) in beliebiger Anzahl, von denen häufig der erste
voraus, wie sie erst in der expressionistischen Lyrik Vers mit dem dritten reimt oder assoniert. Das Me-
(z. B. Georg Heyms) in den zahllosen leeren und ver- trum ist weitgehend frei, bevorzugt wird aber in der
lorenen Himmeln zur Darstellung der ›Wahrheit‹ von Kunstdichtung (wie bei Storm) der Endecasillabo
Nietzsches Verdikt »Gott ist tot« zu finden ist. Dem (Elfsilber), meist jambisch mit Betonung auf der 10.
Bewusstsein definitiver Endlichkeit und Immanenz Silbe. Auffallend ist bei vielen Ritornellen die Verwen-
entspricht die depressive Stimmung im Gedicht; der dung eines kürzeren 1. Verses, oft nur aus einem Wort
Erfahrung von leerer Transzendenz und der Schwie- bestehend, das als Ausruf oder Apostrophe (beson-
rigkeit, mit der »leeren Stelle« (Heidegger 1943, 208) ders beliebt der ›Blumenruf‹) erscheint.
umzugehen, entspricht wiederum das Einspielen vom Der Text Frauen-Ritornelle ist in der zuletzt auto-
Unheimlichen, wie es im zweimaligen »es« (vv.  2, 8) risierten Form erst spät so zusammengestellt. Das vier-
und im umher »geistenden« Nebel aufscheint. te Ritornell (»Dunkle Zypressen«), das statt des Elfsil-
Als Gestaltung solcher (geistesgeschichtlich ein- bers im jambischen Dreiheber geschrieben ist, war zu-
zuordnenden) Erfahrung kann das Gedicht nicht (im erst schon 1843 zusammen mit anderen Ritornellen im
Sinne einiger Kritiker) nur als »fragwürdig sentimen- Liederbuch dreier Freunde unter Theodor Mommsens
tal«, als bloßes »Stimmungsrequisit«, in dem sich ein Namen erschienen und dann seit 1851 am Ende von
72 III Werk – A Gedichte

Storms Gedichtsammlungen allein aufgeführt. Die Ri- Auffallend in den Ritornellen von Storm (im Ver-
tornelle 1–3 waren zuerst 1875 erschienen. Erst in der gleich etwa mit Rückert oder Mommsen) ist die Struk-
5. Ausgabe seiner Gedichte (1877) hat Storm die vier tur der Gegenläufigkeit, zumeist der Verse 2 und 3, in
Ritornelle unter dem Titel Frauen-Ritornelle zusam- Str. 4 aller Verse. Dabei wird in den ersten drei Ritor-
mengefasst und im Kontext einer Reihe von Trauer-, nellen ein Kontrast von sehnsuchtsvoller Hoffnung
Todes- und Verlustgedichten veröffentlicht. und Enttäuschung mittels Bildern aus der Natur, meist
dem Garten, gestaltet: die ersehnte Frucht kann nicht
Blühende Myrte – geerntet werden, weil schon die Blüte fiel (Str. 1), der
Ich hoffte süße Frucht von dir zu pflücken; gesuchte Erinnerungszugang zur Kindheit wird im
Die Blüte fiel; nun seh ich, daß ich irrte. Garten nicht gefunden (Str. 2), wie auch der blühende,
duftende Garten der Urgroßmutter als Bild für Schön-
Schnell welkende Winden – heit und Erfüllung weit entfernt und nicht erreichbar
Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht’ ich ist (Str. 3). Das Vokabular und die zugehörigen Asso-
An eurem Zaun; doch konnt’ ich sie nicht finden. ziationsfelder legen nahe, Glück und Erfüllung mit
Kindheit bzw. zeitlicher Entfernung zu assoziieren.
Muskathyazinthen – Dementsprechend ist die Zeit der ersten drei Strophen
Ihr blühtet einst in Urgroßmutters Garten; das Imperfekt.
Das war ein Platz; weltfern, weit, weit dahinten. Im Kontext der gezeigten Gegenläufigkeiten sugge-
riert die gewählte kunsthafte Form der Frauen-Ritor-
Dunkle Zypressen – nelle mit den vereinzelt wirkenden Strophen einerseits
Die Welt ist gar zu lustig; einen gewissen (unpersönlichen) Allgemeinheitscha-
Es wird doch Alles vergessen. (LL 1, 90 f.) rakter, unterstrichen noch durch die Blumenrufe, die
an mittelalterliche Blumentypologien erinnern. Ande-
Der besondere, Storm in seiner Liebe zu Form, Klang rerseits liegt über dem Gedicht eine durchgehende sehr
und Rhythmus vermutlich reizende Charakter der persönliche Stimmung, die auf Selbsterleben und Er-
Kleinform des Ritornells liegt – neben der Freude an fahrung deutet. Dazu trägt die Nutzung des lyrischen
der Wiederkehr – im Kontrast der langen und kurzen Ich samt Imperfektwahl in den ersten drei Strophen
Zeilen und den damit verbundenen Variationsmög- maßgeblich bei. Hoffnung und Enttäuschung wird in
lichkeiten. Die Kurzzeile als Blumenruf erscheint be- diesen Strophen an das lyrische Ich gebunden (dreimal
sonders herausgehoben, da sie weder syntaktisch (als »ich« in der ersten, zweimal »ich« und Possessivprono-
Apostrophe) noch rhythmisch in die folgenden Verse men »mein« in der zweiten, familiäre Bindung zur »Ur-
eingebunden ist. Entgegen dem streng jambischen großmutter« in der dritten Strophe). In der vierten
Rhythmus der Verse 2 und 3 beginnen die Ritornelle (früher komponierten) Strophe scheint dagegen die
je nach Blumennamen mit verschiedenen Rhythmen: Hoffnungslosigkeit auf einen Weltzustand zu verwei-
Str. 1 und 4 beginnen mit Daktylus und Trochäus, Str. sen, kein Ich kommt vor, nur umfassende Worte wie
2 mit schwebender Betonung vor Daktylus und Tro- »Welt« und »alles« und die unpersönliche Fügung »es
chäus, Str. 3 mit Jambus und Anapäst. Die Verse 1 und wird«. Individuelle Betroffenheit von diesem Zustand
3 werden in allen Strophen mit einem weiblichen wird allenfalls angedeutet durch das emphatische »gar
Reim, der die Mittelzeile umschlingt, verbunden. zu« und das »doch« in der letzten Zeile. Durch den
Wegen der isolierten Stellung haben die Kurzzeilen scharfen Kontrast von »gar zu lustig« und »alles verges-
der Strophenanfänge beinahe Titelcharakter für die sen« bekommen Trauer und Hoffnungslosigkeit, die
folgenden Zeilen, könnten als Bedeutungsimpulse ge- die Anfangszeile »Dunkle Zypressen« erwarten lässt,
lesen werden: Die »Myrte« als Blüte des Brautkranzes einen beinahe zynisch verzweifelten Charakter.
lässt auf Brautschaft und Erfüllung hoffen; die »Schnell In diesem Zusammenhang eröffnet der von Storm
welkenden Winden« weisen auf Vergänglichkeit und in der letzten (erst 1877) von ihm zusammengestellten
Trennung (»Zäune«); die »Muskathyazinthen« mit ih- Fassung gewählte Titel »Frauen-Ritornelle« – ange-
rer orientalischen Herkunft und dem starken Duft sichts auch der Positionierung des Gedichtes zwi-
evozieren sinnlich-erotische, aber auch beinahe schen Trauer- und Todesgedichten – eine Bedeutung,
fremdländisch-ferne Wünsche; die »Dunklen Zypres- die über die Klage um die verlorene Kindheit hinaus-
sen« als Friedhofspflanzen evozieren Bilder von Ver- geht. Denn für Storm, der von sich selber schreibt: »Es
lust und Trauer. kann wohl Niemandem, der mich kennt, verborgen
16 Naturlyrik 73

bleiben, daß ich, um wirklich zu leben, der Frauenlie- Storms Naturgedichte. In: Friederike Reents/Burkhard
be mehr bedarf, als Tausend und tausend Andre« Meyer-Sickendiek (Hg.): Stimmung und Methode. Tübin-
(Storm–E.Esmarch, 112), stellt der Verlust von Frau- gen 2013, 219–234.
Eversberg, Gerd: »Oktoberlied« (1994), http:/
enliebe (bezogen sowohl auf die Mutter, die (Ur-) www.g.eversberg.eu/MWStorm/Seite32.htm (12.12.2016).
Großmutter, die Schwester, die frühen Lieben zu jun- Eversberg, Gerd: Lyrik und Poetik. Zu Storms Gedicht »Ele-
gen Mädchen, sowie besonders den Tod der Ehefrau) gie« aus der Husumer Schulzeit (1835). In: Storm-Blätter
im Rückblick des alternden Mannes eine vielleicht aus Heiligenstadt 12 (2006), 35–44.
noch schmerzlichere Grunderfahrung dar, die sich Fasold, Regina: »Wenn ich nur dort hinüber könnte,/ Wer
weiß! – vielleicht noch fänd’ ich’s dort«. Orte der Heim-
mit den anderen Verlusten zu einer Art Weltschmerz
kehr bei Theodor Storm. In: STSG 54 (2005), 9–25.
verdichtet und nun in präsentischer Form zentral ge- Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der
setzt erscheint. Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahr-
Mit den Blumenrufen können Vorstellungen von hunderts [1956]. Hamburg 2006.
Natur und Weiblichkeit (wegen der Symboltradition Heidegger, Martin: Nietzsches Wort »Gott ist tot« (1943). In:
von Blumen) präsent gehalten werden. Dennoch Ders.: Holzwege. Frankfurt a. M. 1950, 193–247.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1927.
macht die kompositorische Gesamtaussage des Ge- Hinrichs, Boy: Zur Lyrik-Konzeption Theodor Storms.
dichtes deutlich, dass mit ihnen nicht auf eine Einheit Emanzipation von der rhetorischen Phrase und inter-
von Mensch und Natur verwiesen wird. Das lyrische textueller Dialog. In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/
Ich kann die Blumennamen aufrufen, kann auch ver- Eckart Pastor (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl
suchen, sich und seine Gemütsstimmung in ihnen zu Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 281–299.
Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis
spiegeln, aber letztlich erfährt es sich als getrennt von
zur Gegenwart. Erster Teil. Frankfurt a. M. 1991, 319–323.
ihnen wie von seinen Sehnsuchtsorten und -objekten. Lohmeier, Dieter: Theodor Storm und die Politik. In: Ders.:
Die Pflanzen bleiben isoliert, bilden keine Einheit mit Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Berlin 1989, 145–
den angedeuteten persönlichen Schicksalen. Dieses 150.
Wissen kann Storm als Künstler einbringen in die Lohmeier, Dieter: Theodor Storm und die schleswig-holstei-
Form: vom übrigen Gedichtkörper stellt er die Blu- nische Frage. In: STSG 55 (2006), 33–46.
Martini, Fritz: Theodor Storms Lyrik. Tradition – Produkti-
men/Pflanzennamen rhythmisch und syntaktisch ge-
on – Rezeption. In: STSG 23 (1974), 9–27.
trennt dar. Es gibt keine reale innertextliche Korres- Matt, Peter von: Die Lyrik im Verdacht. In: Ders.: Die ver-
pondenz. Die Natur spricht hier nicht zum Ich, ent- dächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. München
nehmen kann er aus ihren Erscheinungen nur das ob- 1998, 7–84.
waltende Prinzip vom Werden zum Vergehen, vom Müller, Harro/Mecklenburg, Norbert: Theodor Storms Ge-
Leben zum Tod. Ausdruck dafür ist die vom Autor dicht »Über die Heide«. Versuch einer kritischen Interpre-
tation. In: STSG 19 (1970), 35–42.
komponierte Abfolge: vom Myrten- über das Winden- Panofsky, Erwin: Early Netherlandish Painting. Its origins
und Hyazinthen- bis zum Zypressenbild. Der Reim als and character. Cambridge, Mass. 1953.
inhaltlich-formales Bindungselement in der Lyrik Roebling, Irmgard: »Es rauscht kein Wald, es schlägt im
markiert hier paradoxerweise gerade die fehlende Ver- Mai/ Kein Vogel ohn’ Unterlaß«. Storms Naturdichtung
bindung: der Natur zum Menschen und des Individu- im Lichte der Einfühlungsästhetik. In: Dies.: Theodor
Storms ästhetische Heimat. Studien zur Lyrik und zum Er-
ums zur eigenen Vergangenheit und zum geliebten
zählwerk Storms. Würzburg 2012, 15–65.
Anderen. Er verweist in allen Fällen auf Trennung, Roebling, Irmgard: Von der »feineren Form« als »Seele des
Verlust und Trauer. Der Storms Ritornelle prägende Gedichtes«. Theodor Storms Lyrik im Übergang zwischen
Grundeindruck von Gegenläufigkeit signalisiert hier Tradition und Moderne. In: Dies.: Theodor Storms ästheti-
im Vergleich zum Oktoberlied keine trotzige Entgegen- sche Heimat. Studien zur Lyrik und zum Erzählwerk
setzung, die zu Aktivität und künstlerischer Leistung Storms. Würzburg 2012, 67–170.
Selbmann, Rolf: Vergoldeter Herbst. Storms Oktoberlied,
anspornt, sondern eine tendenziell pessimistische Ein- Emanuel Geibel und der Realismus in der Lyrik. In: STSG
sicht in dem Menschen vorgeschaltete Kräfte. 45 (1996), 117–126.
Sengle, Friedrich: Storms lyrische Eigenleistung. In: STSG
Literatur 28 (1979), 9–33.
Böschenstein, Renate: Idylle. Stuttgart 1967. Storm, Gertrud: Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens, Bd. I.
Detering, Heinrich: »Der letzte Lyriker«. Erlebnis und Ge- Berlin 1912.
dicht – zum Wandel einer poetologischen Kategorie bei Vischer, Friedrich Theodor: Kritische Gänge. Sechs Bände.
Storm. In: STSG 53 (2004), 25–41. München21922.
Detering, Heinrich: Die Stimmen und die Stimmung.
Irmgard Roebling
74 III Werk – A Gedichte

17 Liebeslyrik »Phantasie« des Verfassers ab, denn »[v]on einem


Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und
Während die Literaturwissenschaft in jüngerer Zeit nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt
Storms Naturgedichten, seiner politischen Zeitlyrik werden« (393). Von guten Gedichten verlangte Storm
und seinen Gedichten über Tod und Vergänglichkeit daher vor allem Anschaulichkeit, »echte Simplizität«
besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, galt der und einen »tiefen Naturlaut« (342) anstelle der ge-
Lyriker Storm bei den zeitgenössischen Lesern vor- künstelten ›Phrase‹, unter der er die überlieferten Kon-
rangig als Liebesdichter. »Man hat sich daran ge- ventionen der Rhetorik verstand. Vor diesem Hinter-
wöhnt, ihn immer nur als Erotiker anzusehen«, stellte grund entfaltete er auch seine Poetik des Liebes-
Theodor Fontane kritisch fest (Fontane 2014, 223), gedichts, deren Quintessenz er 1858 im Vorwort zu der
aber selbst für ihn war Storm in erster Linie »der be- Anthologie Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian
deutendste Liebeslyriker seit Goethe« (Fontane 1982, Günther festhielt: »Unter Liebesliedern« seien »nicht
741). Tatsächlich nimmt die Liebe als poetisches Sujet Lieder über die Liebe« zu verstehen, sondern lediglich
in seinem Gedichtwerk eine herausragende Stellung »solche, in denen es gelungen ist, die Atmosphäre die-
ein, insbesondere, wenn man auch die Fülle der zu ses Gefühls in künstlerischer Form festzuhalten und
Lebzeiten nicht publizierten Verse berücksichtigt. An- auf den Hörer zu übertragen« (378). Ähnliche Abgren-
gesichts der Tradition, in der Storm sein Schaffen sah, zungen nahm der Dichter häufiger vor. »Es kommt
ist das leicht zu begreifen: Für einen Dichter, der sich nicht darauf an, geistreiche Gedanken über die Liebe
in eine Reihe mit Matthias Claudius, Goethe, Uhland, in Versen vorzutragen«, dekretierte er z. B. in seiner
Eichendorff, Heine und Mörike stellte (vgl. LL 4, 489) Rezension der Lieder der Liebe von M. Anton Nien-
und das schlichte, gefühlsgesättigte Lied zum verbind- dorf, weil auf diese Weise beim Leser niemals die er-
lichen Maßstab der Lyrik erhob, lag es nahe, der Lie- wünschte unmittelbare Gefühlswirkung, die »un-
besdichtung einen hohen Rang zuzuweisen. widerstehliche Gewalt der Ahnung oder Erinnerung«
Storms lyrische Anfänge, die er im Rückblick als ausgelöst werden könne (332 f.). Mit demselben Argu-
bloßes »Flügelprüfen« abtat (489), waren allerdings ment verwarf er die Liebesgedichte von Julius Roden-
noch weit von seinem späteren Ideal entfernt. Die Texte berg, die nur »Liebe in abstracto« böten, während »der
aus der Jugendzeit setzen in epigonaler Manier Ten- Hintergrund des inneren Erlebnisses« fehle (338). Das
denzen des 18. Jahrhunderts fort und zielen keines- poetologische Gedicht Kritik von 1852 sagt das Glei-
wegs auf emotionale Unmittelbarkeit ab: Gedichte wie che in Versen: »Lieder, die von Liebe reimen«, gebe es
An Emma, Wünsche, An Liseli oder Lose Mädchen sind zwar in Hülle und Fülle, »[d]och wir zwei Verliebte
mit ihrer unverbindlichen erotischen Tändelei dem sprechen: / Das sind keine Liebeslieder« (LL 1, 35).
Geschmack der Anakreontik und des Rokoko ver- Es kann kaum verwundern, dass Storm in der deut-
pflichtet, während etwa in An die Entfernte M... der schen Literatur nicht viele Liebesgedichte entdeckte,
Einfluss der Empfindsamkeit wirksam ist. Ein neuer, die seinen Ansprüchen genügten. In der Vorrede zu
eigener Ton machte sich erst ab 1836/37 mit einigen je- der erwähnten Anthologie, die – wie das spätere Haus-
ner Gedichte bemerkbar, die Storm an die junge Bertha buch aus deutschen Dichtern seit Claudius – einen lyri-
von Buchan richtete. Der Höhepunkt seiner Laufbahn schen Kanon etablieren sollte, der seinen normativen
als Lyriker wurde dann 1844 durch die Verlobung mit Vorstellungen entsprach, konstatierte er nüchtern:
Constanze Esmarch eingeleitet. Inspiriert von dieser »Die Ausbeute, obgleich nicht viel des Wesentlichen
neuen Beziehung und etwas später auch von seiner lei- übergangen sein dürfte, ist keine große« (LL 4, 378).
denschaftlichen Affäre mit Dorothea Jensen, verfasste Die Sammlung räumt neben den Volksliedern beson-
Storm nun bis zur Mitte der fünfziger Jahre den Groß- ders Goethe und Heine viel Platz ein; in der zweiten
teil seiner reifen Liebesgedichte, bevor seine Produkti- Reihe stehen nach der Zahl der Texte Poeten wie Ar-
vität auf dem Gebiet der Lyrik merklich nachließ. nim, Brentano, Eichendorff, Lenau, Mörike, Rückert
Das »Erlebnis« bildete nach Storms Überzeugung und Uhland. Eigene Gedichte nahm der Herausgeber,
das unentbehrliche »Fundament« eines jeden voll- anders als im Hausbuch, nicht auf.
endeten Gedichts (LL 4, 332). Der wahre Dichter sei Die wissenschaftliche Forschung hat die Kategorie
getrieben von dem »Drang, ein inneres Erlebnis poe- des Erlebnisses, die den Mittelpunkt von Storms Poe-
tisch zu fixieren« (380), und auch die Wirkung seiner tik bildet, mittlerweile entweder ganz verworfen (vgl.
Schöpfungen hänge nicht von ihrem »Gedanken- Pätzold 1994) oder zumindest von der Person des Au-
gehalt«, sondern allein vom »Gemüt« und von der tors gelöst, um stattdessen die kunstvolle Beschwö-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_17, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
17 Liebeslyrik 75

rung einer Erlebnissuggestion im Gedicht zu betonen mende Neigung eine große Rolle gespielt haben; an
(vgl. Lohmeier 1981). Auch Storms Liebesgedichte Berthas Pflegemutter Therese Rowohl schrieb er: »Da-
sind gewiss keine authentischen Erlebnisprotokolle in rum liebe ich die Kinder, weil sie die Welt und sich
Versen, die unmittelbar biographisch als Spiegelungen selbst noch im schönen Zauberspiegel ihrer Phantasie
seelischer Zustände ihres Schöpfers gedeutet werden sehen« (GB 1, 16). Manche der Verse, die in der Folge-
könnten. Subjekt des Erlebens ist jeweils das lyrische zeit entstanden, imaginieren indes auch eine Bezie-
Ich als ein Phänomen des literarischen Textes, das hung mit ausgeprägten erotischen Zügen, die in eine
mitsamt seinen Empfindungen erst durch die poeti- latente Spannung zu Berthas kindlicher Unbefangen-
sche Sprache geschaffen wird. Statt wirklich »die Be- heit treten. Das Gedicht Lockenköpfchen, bereits An-
wegung seines Herzens in frischer Unmittelbarkeit« fang Januar 1837 niedergeschrieben, aber erst postum
an den Leser weiterzugeben (Storm–Brinkmann, 58), publiziert, liefert ein Beispiel dafür. Wie ein väterli-
evoziert Storm die verschiedensten Erfahrungen und cher Freund lässt der Sprecher die »Kleine« auf sei-
Stimmungen der Liebe durch das virtuose Arrange- nem Schoß sitzen, um dem »Lockenköpfchen« ein
ment von Wörtern, Klangwirkungen und rhyth- Lied vorzusingen. Dieses Lied ist als Binnentext ein-
mischen Effekten und rückt damit bereits in die Nähe gefügt, der sich im Gegensatz zu den gleichförmigen
gewisser Konzepte der modernen Lyrik. Wenn er das trochäischen Vierhebern des Rahmens mit ihren un-
mustergültige Gedicht einen »Naturlaut in künstleri- vollständigen Kreuzreimen in einer stärker bewegten,
scher Form« nannte (LL 4, 381), umschrieb er damit ›poetischeren‹ Form präsentiert: Sechszeilige Stro-
treffend sein paradoxes Ideal einer artifiziellen Ver- phen, aus einem Paar- und einem Kreuzreim gebildet,
mittlung von Unmittelbarkeit. verbinden zwei- und dreihebige Verse miteinander
Gleichwohl sollten die biographischen Kontexte sei- und lockern das Metrum bisweilen durch Doppelsen-
ner Liebeslyrik bei der Interpretation nicht völlig aus- kungen daktylisch auf. Dieser formalen Differenz kor-
geblendet werden. Die meisten einschlägigen Gedichte respondiert eine inhaltliche, die die auftretenden Fi-
waren ursprünglich an bestimmte Frauen gerichtet guren, das Geschehen und die herrschende Stimmung
und erfüllten in der intimen Kommunikationssituati- betrifft. Entwirft der Rahmen eine zunächst ganz bie-
on spezifische Aufgaben: Storm entwarf, von eigenen dermeierlich-familiär anmutende Szene, so variiert
Wünschen und Sehnsüchten geleitet, gewisse Bilder das Lied des Sprechers das wohlbekannte romantische
von der Liebe sowie eigentümliche Rollenzuschrei- Motiv von der Verführung eines Knaben durch eine
bungen, die er als Anspruch und Forderung an die bleiche, kalte Wassernixe, in dem sich die sexuelle
Adressatinnen herantrug. Statt Lebensrealität wieder- Verlockung mit tödlicher Gefahr paart. Das »kleine
zugeben, sollte die Lyrik also ihrerseits auf die gelebte Liebchen« identifiziert den bedrohten Knaben so-
Wirklichkeit und auf die Gefühlswelt der jeweiligen gleich mit dem Sänger, den es unter Tränen bittet, sich
Rezipientin einwirken. In Storms veröffentlichten Ge- vor solchen Gefahren zu hüten – es bezieht die Gestalt
dichtsammlungen, die die Einzeltexte in einen neuen der Nixe also keineswegs auf sich selbst! Der Sprecher
Rahmen stellten und völlig veränderten Rezeptions- dagegen führt diese Gleichsetzung ausdrücklich
bedingungen unterwarfen, sind solche privaten Bezü- durch: »Lockenköpfchen ist die Nixe«. Im Medium
ge freilich nicht mehr zu erkennen. Lyrischen Werken, des Gesanges, der Dichtung knüpft er seine ambiva-
die er einem breiten anonymen Publikum vorlegte, lenten erotischen Sehnsüchte an das Mädchen, das
traute der Autor offenbar zu, den Übergang vom rein sich in seiner Arglosigkeit für solche Projektionen ge-
Persönlichen zum Allgemeingültigen zu bewerkstel- radezu anbietet. Die vermeintlich biedere Harmlosig-
ligen, den er für ein Gütesiegel echter Poesie hielt: »Die keit der Rahmenkonstellation wird damit als trügeri-
Kunst namentlich des lyrischen Dichters besteht darin, scher Schein entlarvt.
im möglichst Individuellen das möglichst Allgemeine Ein Motiv von zwiespältigem Sinngehalt sind auch
auszusprechen« (Storm–Brinkmann, 72). die schon im Titel genannten Locken. »Ich hatte be-
sondere Freude daran, als Therese auf meine Bitten
dem Kinde einmal ihre reichen Locken wiedergab [...]
17.1 »Lockenköpfchen« – denn ihre Locken waren schon damals gebunden«
(zit. nach LL 1, 922), berichtete Storm in einem Brief,
Bertha von Buchan war erst zehn Jahre alt, als Storm der dieses Erlebnis unmittelbar mit dem Gedicht in
sie zu Weihnachten 1836 kennenlernte. Die Aura ei- Verbindung bringt. Das Haar offen zu tragen, war da-
ner naiven Unschuld dürfte für seine rasch aufflam- mals in der Tat das Vorrecht kleiner Mädchen – aber
76 III Werk – A Gedichte

andererseits fungieren die ungebundenen Haare einer den zu!« Damit soll jeder »Schmerz« des Sprechers
Frau in der literarischen Tradition stets als Signal ei- aufgehoben und eine Empfindung seliger »Ruh’« ge-
ner erotischen Anziehungskraft, die alle Konventio- weckt werden.
nen des bürgerlichen Anstands sprengt. So changiert Die Frau ist in diesen acht knappen Versen kein
auch Storms Faszination für Berthas Locken zwischen Objekt des erotischen Begehrens, sie verheißt viel-
dem sentimentalischen Reiz unschuldiger Reinheit mehr eine tröstliche und schützende Verschmelzung
und dem untergründigen Versprechen sexueller Er- zu vollkommener Einheit, womit Storm ein Motiv aus
füllung. Man kann sich denken, dass er mit solchen mystischen, pietistischen und empfindsamen Tradi-
Phantasmen sowohl die ›Geliebte‹ überforderte als tionen aufgreift (vgl. Pastor 1983). Die äußere Welt als
auch ihre Umgebung in Unruhe versetzte. 1842 lehnte Quelle aller Leiden tritt zurück, stattdessen füllt allein
die mittlerweile Sechzehnjährige seinen Heiratsantrag die Geliebte das »ganze Herz« des Sprechers. Streng
ab. Gedichte wie Junges Leid verarbeiten die Phase der abgegrenzt vom bedrückenden Zwang der gesell-
zunehmenden Distanz und der Trennung, und noch schaftlichen Verhältnisse, des Berufs und der Öffent-
in den anziehenden Kindfrauen, von denen später lichkeit, vermittelt die Liebe Frieden, absolutes Genü-
zahlreiche Novellen Storms erzählen, scheinen seine gen und ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Nach Constan-
Erlebnisse mit Bertha von Buchan ihre Spuren hinter- zes Tod 1865 bekräftigte Storm dieses Wunschbild in
lassen zu haben. einem wehmütigen Brief, in dem er gleichsam sein
Gedicht paraphrasierte: »wenn die Welt mich kränkte
und schlug, dann flüchtete ich zu ihr wie ein Kind zur
17.2 »Schließe mir die Augen beide« Mutter, und an ihrem klaren und sichern Herzen fand
alles trostreiches Ende« (GB 1, 471). Solche Vorstel-
Die Zeit der Verlobung mit Constanze Esmarch lungen spiegeln sich auch in anderen Gedichten wie
(1844–1846) und die folgenden Ehejahre wurden von Laß mich zu deinen Füßen liegen, Und wieder hat das
Storms übersteigerten Erwartungen an diese Verbin- Leben mich verwundet oder Da schlang sich leis dein
dung überschattet und belastet. Sein in quasi-religiö- Arm um mich herum. Sie alle artikulieren regressive
se Dimensionen erhobenes Liebeskonzept wurzelte, Phantasien von einer kindlichen Geborgenheit in
psychologisch betrachtet, in Narzissmus und pa- weiblicher Obhut, die sich naheliegender Weise oft
nischen Verlustängsten, während es geistesgeschicht- mit Nacht, Dunkelheit und Schlaf verbinden. In
lich an die Empfindsamkeit und die Romantik an- Schließe mir die Augen beide ist sogar die Nähe zur To-
knüpfte. Liebe in Form der bürgerlichen Ehe wurde dessehnsucht evident: Das Zudrücken der Augen lässt
zur intimen Zuflucht und zur wichtigsten sinnstiften- ebenso an das Lebensende denken wie »der letzte
den Instanz des (männlichen) Individuums stilisiert. Schlag« des Herzens – unter dem Aspekt der vollkom-
Und wieder nutzte Storm Briefe und Verse als Medi- menen, wandellosen Ruhe werden Schlaf und Tod
en, um die Eigenart der Beziehung in seinem Sinne austauschbar. Angst kommt dabei jedoch nicht auf;
zu definieren und die Partnerin beschwörend und dafür sorgt schon die virtuose Form des Gedichts, das
mahnend auf ihre Rolle festzulegen (vgl. Fasold mit dem wiegenden Rhythmus seiner vierhebigen
2014). Mit Ich bin mir meiner Seele verfasste er 1845 Trochäen, seiner harmonischen Klanggestalt und der
z. B. ein Gedicht aus weiblicher Sicht, das Constanze untergründigen Dominanz des l-Lautes die beseligen-
die Haltung bedingungsloser Hingabe buchstäblich de Beruhigung auch ästhetisch erfahrbar macht.
vor-schrieb. Er wollte in der Geliebten ein Idealwesen
sehen, das sämtliche Funktionen in sich vereinte, die
eine Frau für den Mann überhaupt übernehmen 17.3 »Hyazinthen«
konnte: »Du bist mir Mutter, Schwester, Braut und
Alles« (BB 1, 177 f.). Die erste dieser Rollen do- Angesichts seines hochgespannten Liebesideals ver-
miniert in Schließe mir die Augen beide von 1846, das steht es sich fast von selbst, dass Storm von der Part-
Storm später zu jenen Gedichten zählte, die die nerin absolute Treue verlangte und häufig unter Eifer-
»höchste Entwicklung [s]eines Talents« dokumen- sucht litt. Solche Empfindungen thematisiert das Ge-
tierten (GB 2, 32). Der Mann redet hier zwar die Ge- dicht Hyazinthen, das erstmals in einer Handschrift
liebte an, doch ersehnt wird keine verbale Kommuni- von 1851 überliefert ist. Die Eingangsverse entwerfen
kation, sondern ein gestisch-unmittelbarer Kontakt: die Situation des Ich, freilich vorrangig im Sinne einer
»Schließe mir die Augen beide / Mit den lieben Hän- bestimmten Gemütsverfassung, denn Zeitund Ort –
17 Liebeslyrik 77

ein nächtlicher Garten oder ein Zimmer mit geöff- nommen, produziert der Sprecher in seiner Phantasie
netem Fenster? – werden nur flüchtig angedeutet. In- quälende Bilder, die sich seiner Kontrolle zunehmend
spiriert durch die von ferne herüberklingende Musik, entziehen und ihn zu überwältigen drohen: »Es hört
stellt sich der Sprecher in den Strophen 2 und 3 ein nicht auf, es ras’t ohn’ Unterlaß«. Immerhin stellt er
Tanzvergnügen vor, an dem seine Geliebte teilnimmt, sich die Geliebte als blass und leidend vor; sie scheint
bevor die letzte Strophe wieder zu den Motiven des nur gezwungenermaßen (»du mußt«) in der gesel-
Anfangs zurückkehrt und damit einen geschlossenen ligen Sphäre zu verweilen, wo »fremde Arme« nach
Rahmen herstellt. ihr greifen und sie deren »Gewalt« ausgeliefert ist.
Sicherlich kann das lyrische Ich die Frau nicht Diese Vision entspringt aber nicht bloß der angstvol-
wirklich sehen, und ob sie überhaupt auf dem Ball, von len Eifersucht des Ich. Vielmehr scheint der Sprecher
dem die Musik herrührt, anwesend ist, muss offen auch seine eigenen verleugneten Begierden, seine Be-
bleiben. Fest steht lediglich die räumliche Trennung sitzansprüche und seine heimliche voyeuristische Lust
der beiden, der das Ich seine innere Verbundenheit auf die anonymen Männer, die sich der jungen Frau
mit der Geliebten entgegensetzt: »Ich habe immer, im- bemächtigen wollen, zu projizieren: Mit der auffäl-
mer dein gedacht«. So geben die mittleren Strophen ligen, durch die Verszäsur noch verstärkten Trennung
anscheinend nur eine visionäre Projektion der eifer- der »leichte[n], zärtliche[n] Gestalt« von ihrem
süchtigen Ängste des Sprechers wieder, die eine gera- »Kleid« wird die Geliebte in seiner Imagination förm-
dezu schmerzhafte Intensität erreicht. Eine ganze Rei- lich entblößt.
he von Oppositionen strukturiert dabei das Verhältnis So wie die Strophen inhaltlich allein mit der Welt
zwischen Rahmen- und Binnenstrophen. Die rausch- der Empfindungen befasst sind, sollen sie offenbar
hafte Benommenheit durch den Blumenduft steht der auch ihre Wirkung vornehmlich auf emotionaler Ebe-
schrillen Musik ebenso gegenüber wie die Dunkelheit ne entfalten, wie es Storms Poetik entsprach. Getreu
der Nacht dem Licht der Kerzen; das Schlafen kon- seiner Maxime, verstandesmäßige »Bilder und Gleich-
trastiert mit dem Tanzen, die Stille mit dem Lärm, die nisse« im Gedicht zu vermeiden, weil sie »dem Leser
träumerische Innerlichkeit mit dem äußeren Zwang, den unmittelbaren Eindruck des Gefühls verküm-
die leidenschaftliche Tiefe des einsamen Gefühls mit mern« (LL 4, 333 f.), verzichtet er auf abstrakte Sym-
den Konventionen der Geselligkeit. So ist das Schlaf- bolkonstruktionen und ungewohnte Metaphern – der
bedürfnis auch allgemeiner als Wunsch nach Rück- »Schlummerduft« und die ›schreienden‹ Geigen blei-
zug, Abschließung und restloser Hingabe an das Reich ben auf einer ganz sinnlich-konkreten Ebene – ebenso
der Emotionen und des Unbewussten zu verstehen, wie auf kommentierende Reflexionen. Der Effekt sei-
während der Tanz die Einbindung in eine gesellschaft- ner Verse ergibt sich ausschließlich aus suggestiven,
liche Ordnung repräsentiert, die die Geliebte dem plastischen Motiven und deren kontrastierender An-
Sprecher zu entfremden droht. In der gleichen Funk- ordnung, aus Klang und Rhythmus und aus raffinier-
tion erscheint das Tanzmotiv in einem Brief Storms an ten ästhetischen Kunstgriffen, zu denen etwa der Ein-
Constanze Esmarch vom 19.5.1846 und in dem dort satz der Anapher und anderer Reihungs- und Wieder-
integrierten Gedicht »Wolle außer süßen Worten« holungstechniken gehört. Die Dominanz der Ge-
(vgl. BB 2, 302) sowie in der Novelle Angelica aus dem fühls- und Stimmungswerte lässt die Grenze zwischen
Jahr 1855, wo sich noch einmal der einsame Lieb- Innen und Außen, zwischen träumerischer Vision
haber, die entfernte Musik und das tanzende Mädchen und realem Erleben verschwimmen und rückt Hya-
finden (vgl. LL 1, 369–372). Neben biographischen zinthen schon in die Nähe einer verfeinerten impres-
Erfahrungen mit Constanze dürfte auch das Lied der sionistischen ›Nervenkunst‹. Wohl nirgends sonst
Rosetta aus Büchners Leonce und Lena (»O meine mü- wird so anschaulich, dass Storms Erlebnislyrik nicht
den Füße, ihr müßt tanzen«), das Storm später in sei- nur rückwärts auf die Tradition seit der Goethezeit,
ne beiden Anthologien aufnahm, diesen Motivkom- sondern auch vorwärts auf die ästhetische und psy-
plex geprägt haben. chologische Moderne verweist. Dieser Umstand
Dem sinnlichen Rausch und dem aufgewühlten brachte dem Gedicht auch die Bewunderung Thomas
Zustand des lyrischen Ich entsprechen die Bruch- Manns ein, der den Leitvers »Ich möchte schlafen;
stückhaftigkeit der Situationsschilderung und das auf- aber du mußt tanzen« in seiner Novelle Tonio Kröger
fallende Gewicht olfaktorischer Reize in den Rahmen- zweimal zitierte, um damit die Spannung zwischen
strophen: Gerüche stehen dem nüchternen Bewusst- dem isolierten Künstler und der bürgerlichen Gesell-
sein ferner als visuelle Wahrnehmungen. Halb be- schaft zu illustrieren (Mann 2004, 259 u. 314).
78 III Werk – A Gedichte

17.4 »Lied des Harfenmädchens« Konzentration von Inhalt, Form und sprachlichem
Ausdruck. Es besteht aus acht fast durchweg auftaktlo-
Mit seinem Ideal von Liebe suchte Storm existenziel- sen, zweihebigen Kurzversen, denen zahlreiche Dop-
len Ängsten vor Trennung, Einsamkeit und Tod zu be- pelsenkungen eine Dynamik verleihen, in der man
gegnen: »Ich seh’ dein liebes Angesicht, / Ich sehe die den raschen Fluss der Zeit förmlich zu spüren meint.
Schatten der Zukunft nicht«, heißt es in dem an Con- Storm beschränkt das Vokabular auf wenige schlichte
stanze gerichteten Gedicht Trost (LL 1, 69). Umge- Ausdrücke, die in Wiederholung, Variation und Kon-
kehrt wird das Liebesglück aber immer wieder vom trast den Text gliedern. »Heute«, »morgen« und »ster-
melancholischen Bewusstsein der Vergänglichkeit ben« werden als Leitwörter durch Verdoppelung so-
überschattet. Gedichte wie Wohl fühl’ ich, wie das Le- wie durch das eingeschobene »nur« bzw. »ach« her-
ben rinnt, Im Herbste, Sprich, bist du stark? und An die- vorgehoben und in ihrem Gefühlswert verstärkt, und
sen Blättern meiner Liebe hangen nehmen den unver- den beherrschenden Gegensatz zwischen der gegen-
meidlichen Abschied von der Geliebten vorweg, set- wärtigen »Stunde« der Liebeswonne und dem unaus-
zen ihm trotzigen Widerspruch entgegen oder be- weichlichen Ende akzentuiert die Reimverknüpfung
schwören im Vorgriff die künftige Erinnerung an eine der jeweils zugeordneten Wörter »schön« – »vergehn«
schönere Vergangenheit. Und schließlich sind auch und »mein« – »allein«. So gelingt dem Poeten die
Dokumente der Totenklage und des wehmütigen Ge- meisterhafte ästhetische Verdichtung einer mensch-
denkens wie Tiefe Schatten, Begrabe nur dein Liebstes! lichen Grunderfahrung. Memento mori und carpe
und Verloren, die er nach Constanzes Ableben schuf, diem sind hier aufs Engste miteinander verknüpft und
ein integraler Bestandteil von Storms liebeslyrischem intensivieren sich wechselseitig.
Werk. Die eindrucksvollste Gestaltung des Wider-
spruchs zwischen dem Augenblicksgenuss der Lie-
benden und der unwiderstehlichen Macht der Zeit 17.5 »Ein Buch der roten Rose«
bietet das kleine Lied des Harfenmädchens, das der
Verfasser besonders schätzte: »Es ist dieß, so kurz es Schon kurz nach seiner Heirat verstrickte sich Storm
ist, vielleicht, das schönste und tiefste der ganzen in eine heftige außereheliche Affäre mit der jungen
Sammlung« (Storm–Brinkmann, 76). Dorothea Jensen, die später seine zweite Ehefrau wer-
Storm schrieb die Verse 1851 und fügte sie bei der den sollte. Im Rückblick erklärte er 1866, mit Con-
Überarbeitung von Immensee nachträglich in die No- stanze habe ihn das »stille Gefühl der Sympathie«, mit
velle ein. Gesungen werden sie dort von einem »Zi- Dorothea dagegen »ein Verhältniß der erschütternd-
thermädchen mit feinen zigeunerhaften Zügen« (LL 1, sten Leidenschaft« verbunden (Storm–Brinkmann,
304 f.), einer reinen Episodengestalt, der jedoch in der 146). In Wahrheit war aber auch die Beziehung zu
Figurenkonstellation der Erzählung eine bedeutsame Constanze Esmarch von Beginn an von starken sinn-
Rolle zukommt: Repräsentiert die Geliebte des Pro- lichen Begierden und Phantasien geprägt, auf die ne-
tagonisten Reinhardt, Elisabeth, die sich am Ende zu ben manchen Briefen etwa die Gedichte Abends und
einer nüchternen Versorgungsehe genötigt sieht, die Lehrsatz hindeuten, die Storm 1845 für seine Verlobte
Verhaltenszwänge der bürgerlichen Weiblichkeit, so schrieb. Einige andere lyrische Werke, die gleichfalls
steht das »Zithermädchen« mit seinen »schönen, ungewöhnlich direkt von erotischem Verlangen spre-
sündhaften Augen« (305) für die radikal außerbürger- chen, dürften ihre Entstehung jedoch tatsächlich der
liche Verlockung leidenschaftlicher Ungebundenheit Beziehung zu Dorothea verdanken, mit der der Autor
und sinnlich-erotischer Reize, die auf Reinhardt eben- diese »leidenschaftlichen Lieder« ausdrücklich in Zu-
so faszinierend wie erschreckend wirkt. Gerade weil sammenhang brachte (146). 1848 schickte Storm ei-
die soziale Außenseiterin den gesellschaftlichen Kon- nen Gedichtzyklus mit der Überschrift Ein Buch der
ventionen nicht unterliegt, kann sie zudem die für roten Rose an die Zeitschrift Europa, der folgende Tex-
Storm charakteristische Furcht vor Einsamkeit, Ver- te umfasste: Lehrsatz, Die Stunde schlug, Noch einmal!,
lassenheit und Todesnähe unverhüllt aussprechen. Du willst es nicht in Worten sagen, Ständchen (»Weiße
Mit der Überschrift, die er für die separate Publikation Mondesnebel schwimmen«) und Rote Rosen. Ge-
des Gedichts wählte, überführte der Autor die typi- druckt wurde das Ensemble jedoch nicht, vermutlich
sierte Figur der fahrenden Musikantin auch in seine weil einige Stücke der Redaktion zu anstößig vor-
Lyriksammlungen. kamen. Trotzdem nahm Storm die meisten dieser Ge-
Seine Wirkung bezieht das Gedicht aus der subtilen dichte in seine veröffentlichten Sammlungen auf; le-
17 Liebeslyrik 79

diglich Rote Rosen, das radikalste unter ihnen, wollte gewidmet sind, charakterisiert die mittlere in behut-
er letztlich doch keinem größeren Publikum anver- samen Andeutungen, nämlich vorwiegend über gesti-
trauen, ebenso wie Mysterium, das in den engeren sche Signale, die seelische Verfassung eines heran-
Umkreis des Zyklus gehört. wachsenden Mädchens, dessen bisherige Wildheit
»Die rote Rose Leidenschaft«, von der Noch einmal! plötzlich in tiefes »Sinnen« übergegangen ist. Dahin-
spricht, ist das titelgebende Leitmotiv dieser lyrischen ter steht zweifellos das Erlebnis der Liebe, die hier den
Reihe von intensiven Erlebnissen erotischen Ergriffen- ebenso beglückenden wie verstörenden Übergang von
seins. Bisweilen tritt dabei ein männliches Ich als sou- naiver Unbefangenheit zum reifen, bewussten Emp-
veräner Eroberer und Verführer auf, wie es in Lehrsatz finden und damit zugleich das Ende der Kindheit ein-
und Ständchen der Fall ist. Andere, weitaus kühnere leitet. Einen expliziten Bezug zwischen den beiden
Gedichte gestalten das sexuelle Begehren hingegen als Gedichtpartien stellt Storm nicht her. Die Wendung
eine ambivalente Erfahrung, die den Betroffenen im »Das macht«, mit der die Rahmenstrophen unvermit-
Taumel der Sinne zum Opfer seiner Triebe macht und telt einsetzen, verweist zwar auf eine Kausalbezie-
ihn mit der Gefahr des Selbstverlusts konfrontiert. Du hung, lässt deren Eigenart aber im Dunkeln.
willst es nicht in Worten sagen entwirft ein solches Er- Nachtigall und Rosen sind altbekannte Versatzstü-
lebnis noch durch den Mund eines Mannes als unent- cke der europäischen und orientalischen Liebesdich-
rinnbares Schicksal der liebenden Frau – »Behalten tung. Neue Seiten gewinnt Storm diesen abgegriffenen
möchtest du dich gerne, / Da du doch ganz verloren Motiven durch die virtuose ästhetische Gestaltung der
bist« –, aber in Rote Rosen werden beide Partner glei- betreffenden Verse ab, indem er etwa den dominie-
chermaßen in den »jähen Schlund« der Ekstase geris- renden a-Laut zum akustischen Erkennungssignal der
sen. Der Rausch, der wie eine dämonische Macht oder Nachtigall erhebt und deren lockenden Gesang durch
eine Krankheit über sie kommt, bringt ihnen weder den Reim »Schall« – »Widerhall« und den identischen
»Seligkeit« noch »Lust«, sondern bloß »Qualen« und Binnenreim »Hall« – »Widerhall« lautmalerisch nach-
»Weh«, bis sie geradezu vernichtet sind: »Zerschmet- bildet. Auch darüber hinaus prägen Klangeffekte wie
tert fast und im Verbluten / Lag endlich trunken Mund die gehäuften Anaphern und Alliterationen sowie
auf Mund«. Und dennoch wird dieses Gefühl als weitere Wiederholungs- und Echostrukturen die in-
»Glück« empfunden: Das Gedicht steigert die Wider- tensive Wirkung der ersten und dritten Strophe (vgl.
sprüchlichkeit von Lockung und Leid der Liebe, die Jarka 1966). Deren Verbindung mit dem Mittelteil
die literarische Tradition seit jeher kennt, bis zur äu- lässt sich nur plausibel machen, wenn man auf die ro-
ßersten Konsequenz. In Mysterium thematisiert Storm mantische Idee einer tieferen Einheit von Mensch und
schließlich sogar mit unerhörter Offenheit die – au- Natur zurückgreift und damit eine Analogie zwischen
ßereheliche – Entjungferung einer jungen Frau, die natürlichen Vorgängen und dem Gefühlserleben un-
sich in der Nacht vor der erzwungenen Trennung ih- terstellt. Dazu passt, dass der bürgerliche Geschlech-
rem Geliebten hingibt. Dabei kehrt in dem Gegensatz terdiskurs gerade die Frau als ein äußerst naturnahes
zwischen dem »Schmerz der künft’gen Stunden« und oder naturhaftes Geschöpf auffasste. Wie die Rosen
»des Augenblickes Lust« die aus dem Lied des Harfen- durch den Gesang der Nachtigall mit einem Mal auf-
mädchens bekannte prekäre Zeiterfahrung wieder. geblüht sind, so hat die Liebe das Herz des Mädchens
geöffnet und sein ganzes Gemüt auf wundersame
Weise verwandelt – so ungefähr mag man sich das
17.6 »Die Nachtigall« suggestive Arrangement der drei Strophen erklären.
Ausgesprochen wird dergleichen aber eben nicht, und
Nicht ganz so bedrängend, aber doch auch keineswegs in dieser poetischen Unbestimmtheit, die eine kon-
als ungebrochene Glückserfahrung präsentiert sich ventionelle Ausbeutung der Natursphäre als Quelle ly-
die Liebe in dem Gedicht Die Nachtigall, das spätes- rischer Sinnbilder vermeidet, liegt der besondere Reiz
tens 1855 geschrieben und erstmals im Rahmen des des Gedichts.
Märchens Hinzelmeier gedruckt wurde (vgl. LL 4, 37).
Der Text umfasst drei Strophen, von denen die letzte Literatur
im Wortlaut mit der ersten identisch ist, so dass sich Baßler, Moritz: »Die ins Haus heimgeholte Transzendenz«.
eine Bewegung von der Nacht zum Tag, von der Natur Theodor Storms Liebesauffassung vor dem Hintergrund
der Philosophie Ludwig Feuerbachs. In: STSG 36 (1987),
zum Menschen und wieder zurück ergibt. Während 43–60.
die äußeren Strophen der Nachtigall und den Rosen
80 III Werk – A Gedichte

Boswell, Patricia M.: Home and Marriage: Theodor Storm’s Jarka, Horst: Theodor Storms Gedicht »Die Nachtigall«. In:
Poetic Realist Love Poetry. In: John F. Fetzer/Roland German Quarterly 39/2 (1966), 187–200.
Hoermann/Winder McConnell (Hg.): In Search of the Lohmeier, Dieter: Das Erlebnisgedicht bei Theodor Storm.
Poetic Real. Essays in Honor of Clifford Albrecht Bernd on In: STSG 30 (1981), 9–26.
the Occasion of his Sixtieth Birthday. Stuttgart 1989, 45–65. Mann, Thomas: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. v. Te-
Brinker, Evelyn Marion: Die dichterische Gestaltung der Lie- rence J. Reed. Frankfurt a. M. 2004.
besauffassung in Theodor Storms Lyrik. Diss. University of Müller, Harro: Theodor Storms Lyrik. Bonn 1975.
California 1985. Pätzold, Hartmut: »Ein Stück andre Welt«. Von der Un-
Fasold, Regina: Eine Liebe in Lyrik und Prosa. Zum Liebes- brauchbarkeit des Paradigmas der »Erlebnislyrik« für die
diskurs im Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gedichte Theodor Storms. In: STSG 43 (1994), 43–63.
Constanze Esmarch (1844–1846). In: STSG 63 (2014), Pastor, Eckart: »Schließe mir die Augen beide ...«. Über-
67–87. legungen zum poetischen Kosmos des jungen Storm. In:
Fontane, Theodor: Briefe. Bd. 4, 1890–1898. Hg. v. Otto Dru- STSG 32 (1983), 63–73.
de u. Helmuth Nürnberger. Darmstadt 1982. Roebling, Irmgard: Vom »richtigen Gebrauch der Assonanz
Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographi- und Alliteration im Verse«. Das Verhältnis von Musikali-
sches. Hg. v. der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Univer- tät und Modernität in Storms Lyrik mit Blick auf singende
sität Göttingen. Berlin 2014. und verstummende Nachtigallen. In: STSG 62 (2013), 17–
Goltschnigg, Dietmar: Zu Theodor Storms Liebeslyrik. In: 35.
Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 20 (1979), 299–305.
Ulrich Kittstein
18 Politische Lyrik 81

18 Politische Lyrik nyluft war, bin ich die ganze Zeit genießend und dich-
tend im Garten umhergegangen; ein politisch Gedicht
Storm wuchs in einer Umgebung auf, in der die politi- wollte ich machen, das mit dem Frühling beginnen
sche Windstille des Biedermeier herrschte. Die Her- sollte, aber ich konnte über diesen nicht hinaus« (BB
zogtümer Schleswig und Holstein waren seit 1460 in 2, 260). Da er seine Verse für gelungen hielt, schrieb er
Personalunion mit dem Königreich Dänemark ver- die ersten drei Strophen in seinen Brief:
bunden; die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach-
und Kulturraum einerseits und zum sog. dänischen Es war daheim auf unserm Meeresdeich;
Gesamtstaat andererseits war weitgehend unproble- Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten,
matisch. Das änderte sich während Storms Studien- Zu mir herüber scholl verheißungsreich
zeit grundlegend, denn sowohl in Dänemark als auch Mit vollem Klang das Osterglockenläuten.
in den Herzogtümern entstanden Bewegungen, deren
politisches Ziel ein Nationalstaat war, in dem eine li- Wie brennend Silber funkelte das Meer,
berale Verfassung den inneren Zusammenhalt und Die Inseln schwammen auf dem hohen Spiegel,
die Ordnung sicherte. Da die deutschgesinnten Natio- Die Möwen schossen blendend hin und her,
nalliberalen in den Herzogtümern nun den politi- Eintauchend in die Flut der weißen Flügel.
schen Anschluss an den Deutschen Bund erstrebten,
wurde das großenteils dänischsprachige Herzogtum Im tiefen Kooge bis zum Deichesrand
Schleswig zum Zankapfel. Weil beide Seiten mit dem War sammetgrün die Wiese aufgegangen;
historischen Recht argumentierten, ging es im Kon- Der Frühling zog prophetisch übers Land,
flikt um die Zugehörigkeit ganz Schleswigs entweder Die Lerchen jauchzten und die Knospen sprangen.
zu Dänemark oder zum Deutschen Bund; eine Tei- (ebd., zit. n. LL 1, 56.)
lung auf der Grundlage einer Volksabstimmung lehn-
ten beide Seiten ab. Es war ein reines Naturbild, doch klangen in den Mo-
Storm fühlte sich ohne Bedenken den deutsch- tiven des Frühlings und der Osterglocken politische
gesinnten Nationalliberalen zugehörig, doch berühr- Obertöne an. Zwei Jahre später konnte Storm sein Ge-
ten ihn dabei die Fragen der Verfassung nur wenig, dicht fortsetzen. Der entscheidende Anstoß dazu war
während die Fragen der Sprache für ihn entscheidend zweifellos die Tatsache, dass am 24. April 1848 die
waren. Er wollte nur in einem deutschen Staat leben. Nachricht nach Husum gelangte, dass die aufstän-
Auf das Werk des jungen Autors hatte diese Haltung dischen Schleswig-Holsteiner am Tag zuvor in der
jedoch zunächst keinen Einfluss. Als er 1843 gemein- sog. Osterschlacht bei Schleswig einen Sieg über die
sam mit Theodor und Tycho Mommsen das Lieder- dänischen Truppen erkämpft hatten. Damit bekam
buch dreier Freunde veröffentlichte, war er ebenso wie das Motiv der Osterglocken im Entwurf von 1846 ei-
sie davon überzeugt, dass Politik und Dichtung aus- nen vertieften Sinn, und Storm nahm es nun nicht
einandergehalten werden müssten; der agitatorische mehr im christlichen Sinne als Zeichen der Auferste-
Ehrgeiz der Lyrik des Vormärz und die rhetorischen hung, wie er das 1846 getan hatte, sondern entfaltete
Mittel, die Männer wie Georg Herwegh dabei einsetz- es zu einem Bild des Aufbrechens aller Naturkräfte im
ten, erschienen ihnen als künstlerisch unerlaubt. Frühling und ließ die ihnen gewidmeten drei neuen
Theodor Mommsen hielt Herwegh in einem ihm zu- Strophen in dem Vers gipfeln: »Und wanke nicht, du
geeigneten Gedicht vor, sein »Saitenspiel« selbst ver- feste Heimaterde!« (ebd., 57). Damit sprengte er aber
nichtet zu haben, seit er mit dem Schwert hinein- das bis dahin einheitliche Naturbild, denn die Vorstel-
geschlagen habe: »Wo Schwerter klirren, sind es nicht lung von Erdbeben passt nicht in die Koogs- und Mar-
Gedichte« (Mommsen/Storm/Mommsen 1843, 159). schenlandschaft. Storm nahm das in Kauf, um durch
Als der politische Konflikt sich dann weiter ver- den Anklang an die Schlussverse der ersten und der
schärfte und Storm sich entschloss, sich auch als Lyri- letzten Strophe des »Schleswig-Holstein-Lieds« die
ker daran zu beteiligen, wollte er die Fehler der Vor- Verbindung seines Gedichts mit den Bestrebungen
märzlyrik vermeiden und stattdessen poetische Mittel der deutschgesinnten Schleswig-Holsteiner und der
einsetzen. Exemplarisch dafür ist das Gedicht, das er sog. Erhebung eindeutig zu machen.
unter dem Titel Ostern in seine Gedichte aufnahm. Er ging noch weiter: Um im Zusammenhang des
Am zweiten Ostertag des Jahres 1846 schrieb Storm Naturbilds von deren politischen Gegnern sprechen
an seine Braut: »Heut Vormittag, wo wirklich eine Ju- zu können, fügte er noch zwei Strophen an, in denen

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_18, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
82 III Werk – A Gedichte

das lyrische Ich sich aus dem Frühling in den vorher- Storm veröffentlichte die beiden Gedichte nicht,
gehenden Spätherbst versetzt und vom Deich aus in solange er noch in Husum lebte und Maßregelungen
stürmischen Novembernächten auf die bedrohlich durch die wieder eingesetzten dänischen Behörden
heranbrandenden Wellen blickt, aber auf die Festig- zu befürchten hatte, sondern tat das erst 1853 und
keit des Deichs vertraut. So endet das Gedicht mit 1856, als er bereits in Potsdam war. Im Herbste 1850
dem zugleich zuversichtlichen und trotzigen Vers: ließ er in dem literarischen Jahrbuch Argo für das Jahr
»Das Land ist unser, unser soll es bleiben!« (ebd.) Der 1854 drucken. Ihm folgte dort das Gedicht Abschied
Preis für die Rückkehr in den Zusammenhang des Na- (LL 1, 65 f.), das er im Juli 1850 vor dem Aufbruch ins
turbilds war hoch, denn damit schrieb Storm den Dä- Exil geschrieben hatte. Auch dies Gedicht erhielt sei-
nen und den dänischgesinnten Schleswigern die Rolle ne Einheit durch die Sprechsituation: die Anrede an
einer Naturmacht zu, gegen die man sich nur behaup- Frau und Kinder in der Situation des Abschieds aus
ten, mit der man sich aber nicht versöhnen kann. der Heimat, gesprochen an einem Punkt, der den
Storm war offenbar bereit, diesen Preis zu zahlen, weil Blick auf die heimatliche Landschaft mit dem Meer
er 1848 und noch mindestens zwei Jahrzehnte darü- im Hintergrund erlaubt. Deutlich wurde auch, dass
ber hinaus alles Dänische mit unversöhnlicher Abnei- dieser Abschied von der Heimat für Storm wirklich
gung betrachtete. Aus dem historischen Rückblick be- der Gang ins Exil war: »Denn Raum ist auf der hei-
trachtet ist sein Gedicht Ostern ein exemplarischer matlichen Erde / für Fremde nur und, was den Frem-
Fall für die Schwierigkeiten, die er sich mit seinem Be- den dient« (ebd., 66).
mühen einhandelte, mit naturlyrischen Mitteln politi- In den folgenden Jahren schrieb Storm keine politi-
sche Gedichte zu schreiben. schen Gedichte. Das änderte sich erst, als im Novem-
Storm mag das gespürt haben. Er bot sein Gedicht ber 1863 mit dem Tod Friedrichs VII. der Mannes-
zwar noch im April 1848 Theodor Mommsen als ei- stamm des dänischen Königshauses erlosch und mit
nen Leitartikel für dessen Schleswig-Holsteinische Zei- der Thronfolge auch die schleswig-holsteinische Frage
tung an, aber Mommsen fand es dafür nicht geeignet, wieder Sprengkraft erhielt, obwohl sie mehr als ein
und Storm machte zunächst auch keinen Versuch Jahrzehnt zuvor durch das Eingreifen erst der deut-
mehr, mit Gedichten aktiv und aktivierend in den na- schen und dann der europäischen Großmächte mit
tionalen Konflikt einzugreifen. Politische Lyrik der Wiederherstellung des dänischen Gesamtstaats in
schrieb er erst wieder, als im Juli 1850 die Schlacht bei der Gestalt, die er vor 1848 gehabt hatte, erledigt zu
Idstedt das militärische Ende der Erhebung einleitete sein schien. Storm schrieb nun das Gedicht Gräber in
und gut zwei Monate später die schleswig-holsteini- Schleswig (LL 1, 83 f.), das er zur Veröffentlichung an
schen Truppen in einer militärisch sinnlosen Aktion Die Gartenlaube schickte. Hier knüpfte er stilistisch an
Friedrichstadt belagerten und beschossen. Das Ge- das Gedicht Im Herbste 1850, in den Motiven aber an
dicht Im Herbste 1850 (LL 1, 58 f.), das Storm in der die Gräber an der Küste an: Da die Staaten des Deut-
Zeit zwischen diesen beiden Ereignissen schrieb, zeig- schen Bundes den Schleswig-Holsteinern nicht wie
te ein bisher »nicht gekanntes Maß an Direktheit und ein brausendes Meer zu Hilfe eilten, »um endlich alle
Radikalität« der Aussage (Löding 1986, 75), doch be- Schande zu verschlingen«, rief er die Toten der
nutzte Storm für diese Klage über den Sieg der Gegner Schlacht bei Idstedt auf, sich aus ihren Gräbern zu er-
nicht die ihm vertrauten lyrischen Mittel und bemüh- heben, um ein zweites Mal dafür zu kämpfen, dass
te sich auch gar nicht darum, dem Gedicht durch die Schleswig deutsch bleibe. In dem Gedicht 1864 (LL 1,
sprachlichen Bilder eine innere Geschlossenheit zu 84), das er im Mai 1864, nach seiner Rückkehr in die
geben, sondern konzipierte es als die öffentliche Rede Heimat, schrieb, deutete er die Tatsache, dass Preußen
an seine gleichgesinnten Mitbürger und griff deshalb und Österreich doch noch in den Krieg gegen Däne-
auch zu den rhetorischen Mitteln der Lyrik des Vor- mark gezogen waren, als einen Sieg des Volksgeistes
märz. Eine Anrede war auch das Gedicht Gräber an über Politiker wie den preußischen Ministerpräsiden-
der Küste (LL 1, 59 f.) aus den ersten Wochen nach der ten Otto von Bismarck, die gegen ihren Willen »das
Beschießung Friedrichstadts, aber da sie jetzt den To- Schwert in ihres Volkes Hand« geworden waren. Bei-
ten des Krieges galt, war ihr Ton verhaltener. Zudem de Gedichte bezeugen, dass Storm die Strategie Bis-
war das Gedicht auch geschlossener, weil es eine ein- marcks in der Krise um die Jahreswende 1863/64
fache, einheitliche Sprechsituation hatte: den Gang an nicht durchschaute – ebenso wenig wie die politisch
die Gräber der Gefallenen, um sie durch das Niederle- interessierte deutsche Öffentlichkeit und die verant-
gen von Blumen zu ehren. wortlichen dänischen Politiker.
18 Politische Lyrik 83

Am 18. Januar 1864 schrieb Storm an seinen 1865 (LL 1, 84), Welt-Lauf 1867 (LL 1, 266) und Hat
Freund Hartmuth Brinkmann, es sei sein »heißester erst der Sieg über fremde Gewalt aus den ersten Wo-
Lebenswunsch«, in dem bevorstehenden Kampf »der chen des Kriegs von 1870/71 (LL 1, 268). Sie alle zei-
Tyrtäus der Demokratie zu sein« (Storm−Brinkmann, gen, dass Storm nach dem kurzen Aufschwung der
135). Das Gedicht mit den Anfangsversen »Und ha- Monate um die Jahreswende 1863/64 politisch resig-
ben wir unser Herzoglein / Nur erst im Lande drin- niert hatte. Dass er trotzdem noch zu bedeutenden
nen,« das diesen Worten in Storms Brief unmittelbar Leistungen als Lyriker fähig war, zeigen der Zyklus
vorherging, zeigt, dass ihn an der Demokratie, bei de- Tiefe Schatten aus der Zeit nach dem Tod seiner Frau
ren Durchsetzung Storm wie der Spartaner Tyrtaios, Constanze (LL 1, 86–89) und das Gedicht Geh nicht
das antike Urbild aller politischenDichter, mitwirken hinein aus dem Jahre 1879 (LL 1, 93 f.).
wollte, die Probleme der inneren politischen Organi-
sation des Staatswesens oder das Zusammenwirken Literatur
von Legislative, Exekutive und Judikative wenig be- Löding, Frithjof: Theodor Storm und Klaus Groth in ihrem
schäftigten, sondern dass es ihm vor allem darum Verhältnis zur schleswig-holsteinischen Frage. Neumünster
1986.
ging, die Vorrechte des Adels gegenüber den Bürgern Lohmeier, Dieter: Theodor Storm und die Politik. In: Brian
und die Herrschaft der Kirche über das unmündig ge- Coghlan/Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm und das
haltene Volk zu beseitigen. Aber dies Gedicht war 19. Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen
nicht der Auftakt zu einer neuen Phase von Storms Storm-Symposions aus Anlaß des 100. Todestages Theodor
politischer Lyrik, sondern bezeichnete deren Ende. In Storms. Berlin 1989, 26–40.
Lohmeier, Dieter: Theodor Storm und die schleswig-holstei-
den folgenden Jahren schrieb er nur noch wenige Ge-
nische Frage. In: STSG 55 (2006), 33–46.
dichte mit politischenThemen. Sie benutzten weder Mommsen, Theodor / Storm, Theodor / Mommsen, Tycho:
naturlyrische noch rhetorische Mittel, sondern waren Liederbuch dreier Freunde. Kiel 1843.
von spruchhafter Nüchternheit und Kürze: Antwort
Dieter Lohmeier
84 III Werk – A Gedichte

19 Weltanschauliche Lyrik Gedichtentwurf An deines Kreuzes Stamm, die Ge-


dichtreihe Tiefe Schatten, sowie Geh nicht hinein spie-
Der Begriff ›Weltanschauung‹ ist schwer zu präzisie- geln unterschiedliche Stadien innerhalb des Prozesses
ren. Er beinhaltet philosophische Konzepte, angefan- der Verarbeitung der Konfrontation mit dem Tod auf
gen mit dem idealistischen Konzept des nicht-sinn- poetologischer Ebene wider. Sowohl die philosophi-
lichen Vermögens des Subjektes, das Unendliche als sche und die metaphysische Dimension des Begriffes
ein Ganzes zu denken und unter einem Begriff zusam- ›Weltanschauung‹ als auch das lebensgeschichtliche
menzufassen. Der Terminus umfasst aber ebenso – in Moment und die intertextuelle Komponente lassen
deutlichem Abstand zur Transzendentalphilosophie – sich an den genannten Gedichtbeispielen aufzeigen.
die Auffassung von Weltanschauung als die Fähigkeit In dem Gedichtentwurf An deines Kreuzes Stamm
eines empirischen, durch Erfahrung gebildeten Indi- wird die Bedeutung des Schauens für die Ausbildung
viduums, seine Lebenswelt zu konstituieren. Zieht einer Weltanschauung durch die Positionierung des
man die sprachphilosophische Komponente hinzu, schauenden Ichs verdeutlicht, das seine Rede ange-
findet die Konstitution einer Welt von Objekten durch sichts eines Abbildes des ans Kreuz geschlagenen
Akte des Benennens und des Kommunizierens statt Gottessohnes entfaltet.
(Thomé 2004, 455). Das bedeutet, Sprache ist das Er-
gebnis der Aneignung von Welt. Unter diesem Aspekt
betrachtet, könnte man auch von ›Weltanschauung‹ als 19.1 »An deines Kreuzes Stamm«
durch Sprache vermittelte ›Weltansicht‹ sprechen.
Denn der objektiven Wahrnehmung ist immer Sub- Die Handschrift dieses Gedichtentwurfes ist nicht mit
jektivität beigemischt, d. h. die individuelle ›Welt- Sicherheit zu datieren, stammt vermutlich aber aus
ansicht‹ ist durch persönliche Empfindungen, Erfah- den frühen 1860er Jahren (vgl. Jackson 1984, 85). Der
rungen und Wertungen geprägt. Zugleich muss der Glaube an die erlösende Kraft des Todes Jesu Christi
Sprecher auf das kollektive Sprachgut zurückgreifen. am Kreuz, das Vertrauen auf Gottes Vergebung und
Er ist mithin abhängig von den allgemeinen, von allen ewiges Leben, sind Eckpfeiler des christlichen Glau-
Teilnehmern der Kommunikationsgemeinschaft ge- bens (Jackson 1984, 83). So heißt es im 1. Petrusbrief:
teilten Vorstellungen. Bezogen auf literarische Texte »Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.«
eröffnet sich durch diese Wechselwirkung individuel- (1.Petr 5,7) Dieses ist nur eines von zahlreichen Bei-
ler und im materiellen Kanon einer Kultur tradierter spielen dafür, wie Storm immer wieder Motive aus der
Vorstellungen das weite Feld der Intertextualität. Bibel aufgreift und das biblische Bild gezielt umkehrt
Dem Kunstwerk kommt eine wichtige Funktion bei bzw. unterminiert (zu den intertextuellen Bezugnah-
der Vermittlung des Allgemeinen und des Individuel- men vgl. Demandt 2010, 75–90). Das Gedicht beginnt
len zu. Für Theodor Storm ist die Anschauung eine zunächst mit der Konstellation eines nach Erlösung
zentrale Grundbedingung für die Entstehung eines suchenden Ichs, das sein »sorgenschweres Haupt« (LL
poetischen Textes. Im dichterischen Prozess muss das 1, 263) vertrauensvoll an das Kreuz Jesu Christi lehnt.
Geschaute durch die treffenden Worte in die Phantasie Das Metrum, ein jambischer Pentameter, bringt durch
des Lesers transportiert werden. In seinen Entwurfs- seinen gleichmäßigen Wechsel zwischen unbetonten
notizen für das Vorwort zum Hausbuch aus deutschen und betonten Silben eine feierliche und zugleich er-
Dichtern seit Claudius schreibt Storm daher: wartungsvolle Stimmung zum Ausdruck. Diese Wir-
kung wird noch verstärkt durch das Enjambement
Was, meines Erachtens, wesentlich den Dichter macht (zur formalen Gestaltung des Gedichts vgl. insbeson-
und seinen Werth bestimmt, ist einerseits die Tiefe der dere Jackson 1984). Doch gleich im dritten Vers er-
Empfindung und die Lebendigkeit der Anschauung, fährt die Zuversicht einen Bruch: »Doch Trost und
andrerseits die Fähigkeit, für die Letztere das Wort zu Kraft kam nicht von dir herab.« Der fließende Sprach-
finden, welches das betreffende Bild in der Phantasie rhythmus vom Anfang wird durch gleichsam abge-
des Lesers erscheinen läßt, [...] (StA T4, Blatt 3 recto) hackt klingende Einsilber abgelöst. Die Enttäuschung
ist groß, denn die Heilserwartung erfüllt sich nicht.
Die im Folgenden unter dem Aspekt der Welt- Damit ist das anredende »o Jesu Christ« des ersten
anschauung zu analysierenden Gedichte behandeln Verses negiert und implizit »der Göttlichkeit Jesu wi-
einen religiösen Komplex: die Konfrontation des dersprochen« (Demandt 2010, 76). Das lyrische Ich
schauenden Individuums mit Sterben und Tod. Der wirft der Christus-Figur vor:

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_19, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
19 Weltanschauliche Lyrik 85

Du hattest weder Weib noch Kind, du warst mochte: Die Liebe zwischen Mann und Frau und die
Ein halber Mensch nur; unseres Lebens Kern auf ihr gründende Familie ermöglichen erst ein erfüll-
Hast du nur halb erprobt; was uns die Welt, tes Leben, das Idealziel der »ins Haus heimgeholte[n]
Uns Lebenden, an Ungeheu’rem auflegt, Transzendenz« (Pastor 1983, 67). »Ich bin getröstet«,
Du hast es nicht gekannt; dein Opfer war konstatiert das lyrische Ich sofort. Diese Liebe nimmt
Ein halbes nur. – [...] die Position ein, die im Christentum Jesus als Erlöser
zukommt (Demandt 2010, 77). Die Konsequenz liegt
Das »halb« wird dreimal wiederholt und seine ein- auf der Hand: »Komm geliebtes Weib / Wir müssen
schränkende Wirkung durch das »nur« zusätzlich ver- <unser> eigner Heiland sein.« Mit dieser Schlusswen-
stärkt. Erneut wird das Metrum gezielt gestört: In den dung wird das Modell »einer Liebesreligion als Kon-
Versen 4 und 8 liegt die Betonung auf dem »Du« am trafaktur des christlichen Glaubens« (Demandt 2010,
Anfang, den Vers im Jambus einleitend. In den Versen 87) aufgerufen. Die provokative Pointe des Gedicht-
4 und 7 sind aber auch das zweite »du« und das »dein« entwurfes besteht aber darin, dass das lyrische Ich,
betont, wodurch die Gleichmäßigkeit des Jambus auf- nachdem die Unmöglichkeit der Erlösung festgestellt
gebrochen, sozusagen das Auseinanderbrechen der ist, sich selbst im Bild des am Kreuz sterbenden Jesus
Glaubenszuversicht zum Klingen gebracht wird. inszeniert, in blasphemischer Parodie der Passion
Für die Rede vom »halben Menschen«, von der Christi (vgl. zum Folgenden Demandt 2010, 83): »[...]
Idee also, dass Mann und Frau als zwei Hälften eines Einsamer Qualen voll / Neig ich das Haupt;« (v. 15 f.;
Ganzen erst den vollständigen Menschen ausmachen, vgl. dazu den nahezu identischen Wortlaut im Johan-
lässt sich Platons Symposion als literarische Quelle nesevangelium, Joh 19,30). Diese Provokation ist aber
ausmachen (vgl. dazu Demandt 2010, 78 f.). Dem- keinesfalls ironisch gemeint. Vielmehr unterstreicht
zufolge kann der der Geschlechterliebe und dem Fa- das Pathos vom Bild des Gekreuzigten die Tiefe des
milienleben mit all seinen Freuden und Nöten entsa- empfundenen Elends. Im Zusammenhang mit der
gende Mann Jesus nur ein unvollständiger sein. Das Gedichtreihe Tiefe Schatten wird von diesem Aspekt
führt zu der Zuspitzung, dass Jesus die theologisch noch einmal die Rede sein.
verankerte Funktion des stellvertretend Leidenden
gar nicht ausfüllen kann. Das lyrische Ich findet Trost
bei der geliebten Frau. Schaute es im ersten Vers (»o 19.2 »Tiefe Schatten«
Jesu Christ«) noch zur Figur des Erlösers auf, de-
monstriert es nun »die Unmöglichkeit der Soteriolo- Gleichsam als Motto hat Theodor Storm der Gedicht-
gie« (Demandt 2010, 79), der Erlösung aller Men- reihe Tiefe Schatten das Gedicht Trost aus dem Jahre
schen durch den stellvertretenden Tod Jesu am Kreuz 1853 vorangestellt, das er ursprünglich als Widmung
als Sühne: an seine erste Frau Constanze konzipiert hatte. Es
handelt sich um ein klar strukturiertes Gedicht, auf-
[...] – Wärst du getreu befunden, geteilt in drei Zweizeiler. Am Anfang steht ein gerade-
Wenn man dein Weib, dein Kind ans Kreuz geschla- zu kämpferischer Ausruf: »So komme, was da kom-
gen? men mag! / So lang du lebest, ist es Tag« (LL 1, 69). Das
Die Antwort bliebst du schuldig. – Wohl mit Dank, jambische Metrum, die Paarreime und die durchweg
Mit Liebe blick ich zu dir – – – – männlichen Kadenzen verleihen den Versen einen
– – – doch mich erlösen gleichmäßigen Rhythmus. Diese Stetigkeit ist auch
Das kannst du nicht. – [...] durch den Kontrast zwischen Welt und Heimat inner-
halb des sich dem optimistischen Ausruf anschließen-
Das Kreuz Christi, welches letztendlich aus dieser Per- den Zweizeilers nicht zu erschüttern: »Und geht es in
spektive negiert erscheint, kann dem lyrischen Ich die Welt hinaus, / Wo du mir bist, bin ich zu Haus.«
keinen Trost spenden. Sein positives, weil trostbrin- Der stete Wandel aller Dinge ist das einzig Gewisse im
gendes Gegenstück ist der »Ring des Lebens« (vgl. da- Leben. Daher – und damit schließt das Gedicht – ori-
zu Jackson 1984, 85), das »Symbol der Liebe und entiert sich das lyrische Ich an »dein[em] lieben An-
Ganzheit« (Demandt 2010, 84). Er soll gegen »Tod gesicht« als vertrautem Fixpunkt, so dass es »die
und Lüge« schützen. Mit dem Ring als Sinnbild für die Schatten der Zukunft nicht« sieht.
Einheit der Liebenden ist also eine Bewältigungsstra- Nach dem Tod von Constanze verfasst Storm in ra-
tegie angeboten, die leistet, was das Kreuz nicht ver- scher Folge insgesamt acht Gedichte, beginnend mit
86 III Werk – A Gedichte

Nr. 1 des Zyklus Tiefe Schatten, das Storm mit dem Da- renden Reimen geprägte, in diesem Fall Kreuzreimen.
tum »20. Mai 65« in sein Neues Liederbuch einträgt (zu Doch die gegenständliche Bildersprache ist der Refle-
Entstehung, Datierung, Überarbeitungen und Über- xion über die Unwiederbringlichkeit des Glücks mit
lieferungsgeschichte des Gedichtzyklus vgl. LL 1, 859– der geliebten Person gewichen.
865). Diesem ersten Gedicht folgen bis August 1865 Das dritte Gedicht (Gleich jenem Luftgespenst der
nacheinander Nr. 5, Nach Constanzes Tod, Nr. 4, Nr. 2, Wüste) besteht aus unregelmäßig gebauten reimlosen
Nr. 3, Größer werden die Menschen nicht sowie Und Strophen, die eher Sinnabschnitten einer Erzählung
am Ende der Qual alles Strebens. ähneln (Häntzschel 1983, 364). Durch unterschiedlich
Nr. 1 (In der Gruft bei den alten Särgen) ist ein Ge- lange rhythmische Einheiten wird eine Sperrigkeit im
dicht, dessen fünf Liedstrophen in ihrer »artifiziell ge- Sprachfluss erzeugt, wie der dritte Vers der ersten
wonnene[n] Simplizität« (Häntzschel 1983, 363) eine Strophe verdeutlicht: »Der Unsterblichkeitsgedanke«.
ausgeprägte sinnliche Wirkung haben. Die Farben Enjambements verstärken den eher erzählenden als
und Düfte der Frühlingsblumen sind in die Gruft hi- lyrischen Charakter des Gedichtes – ein Zug, der 1879
nabgeholt und verdecken den schwarzen Sargdeckel. in dem Gedicht Geh nicht hinein seinen Höhepunkt
Das Schmerzliche des Todes tritt vor diesen Sinnes- finden wird. Die für Storm zentrale weltanschauliche
wahrnehmungen in den Hintergrund. Auch die Abge- Frage nach der Unsterblichkeit findet eine enttäu-
schlossenheit der Toten in der Gruft wirkt weniger be- schende Antwort in dem Vergleich mit dem »Luft-
klemmend angesichts des Diminutivs »Gitterlein«. gespenst der Wüste«, einer Fata Morgana. Den Epithe-
Hinzu kommt die Spur von Leben in der Gruft, welche ta »Markverzehrend« und »Betäubend« (LL 1, 88), der
die letzte Strophe andeutet: Wiederholung »Dir nach, dir nach« und der Alliterati-
on »Jeder Tag, jeder Schritt«, die allesamt die hekti-
Vielleicht im Mondenlichte, sche Verfolgung des Trugbildes ausdrücken, folgt mit
Wenn die Welt zur Ruhe ging, dem »Doch« der dritten Strophe die schockhafte Er-
Summt noch um die weißen Blüten kenntnis:
Ein dunkler Schmetterling. (LL 1, 87)
Öde, voll Entsetzen der Einsamkeit;
Das Bild vom Schmetterling rekurriert auf Goethes Se- Dort in der Ferne ahn’ ich den Abgrund;
lige Sehnsucht aus dem West-Östlichen Divan (Häntz- Darin das Nichts. –
schel 1983, 367; Scherer 2005, 226). Storm bezeichnet
diese Strophe als »Keim und Spitze des Ganzen, in dem Dieses Nichts taucht in Geh nicht hinein wieder auf. In
dunkeln Schmetterling verkörperten sich damals un- Umkehr des christlichen Glaubens erfährt das lyri-
willkührlich meine Gedanken, die in jenen Nächten, sche Ich das Versprechen der Ewigkeit als »Öde«, als
wenn ich schlaflos lag, immer drunten in der Gruft um »Abgrund«, »die alte ewige Nacht« hingegen, nämlich
den bekränzten Sarg waren. Auch poetisch befriedigt der Tod, »begräbt barmherzig«.
mich die Strophe ganz« (Storm–Fontane, 138). Das vierte Gedicht (Weil ich ein Sänger bin, so frag’
Nr. 2 (Mitunter weicht von meiner Brust) ist ein ich nicht) deutet in seiner Kürze – es besteht aus einem
Zwiegespräch mit der Toten. Hier greift das lyrische Vierzeiler – an, wie es um den Gesang der dichtenden
Ich einen zentralen Gedanken des Gedichtentwurfes Seele nach dem Verlust der geliebten Person steht. Die
An deines Kreuzes Stamm auf, nämlich die Definition Welt ›spricht‹ nicht mehr zu dem wahrnehmenden Ich
von Glück als die Einheit der Liebenden: (vgl. zu diesem Aspekt Detering 2004, 36 f.; Detering
2013, 226 f.). Es ist auf sich selbst zurückgeworfen.
Doch frag’ ich dann: was ist das Glück? Das fünfte Gedicht (Der Geier Schmerz flog nun da-
So kann ich keine Antwort geben, von) hat sich weit von Storms Konzept des Erlebnis-
Als die, daß du kämst zurück, gedichtes entfernt. Der Schmerz ist »im Bild des Gei-
Um so wie einst mit mir zu leben. ers allegorisiert« (Häntzschel 1983, 366 f.). Auch die
Sehnsucht erscheint zuerst als etwas Abstraktes, wird
Die letzte Strophe drückt Resignation angesichts des dann aber allegorisiert, ausgestattet mit Flügeln. 1856
unwiderruflichen Verlusts dieses Glücks aus, denn hat Storm es als »Fehler in der Ausführung« bezeich-
»lautlos schlafen die Wünsche ein« mit der Beisetzung net, »wenn man einen Begriff, der poёtice immer nur
des geliebten Du. Wie im ersten Gedicht ist die äußere scenisch dargestellt werden darf, durch eine Sache
Form immer noch eine von regelmäßig wiederkeh- darstellen will, [...]« (Storm–Eggers, 35). Doch das
19 Weltanschauliche Lyrik 87

Bild des Geiers referenziert den Mythos vom an den Bewältigung der Todeserfahrung auf poetischer Ebe-
Kaukasus geschmiedeten Prometheus, dem der Ad- ne vollzieht, zu einem Endpunkt gelangt, lässt sich an
ler/Geier (in der Prometheus-Rezeption des 19. Jahr- folgendem Beispiel zeigen.
hunderts, etwa auf Gustave Moreaus Prométhée
[1868], ist es tatsächlich bisweilen ein Geier) täglich
von neuem die Leber frisst. Dieses Bild unterstreicht 19.3 »Geh nicht hinein«
das Ausmaß der empfundenen Qual. »Die Stätte, wo
er saß, ist leer« – damit könnte das Herz gemeint sein, Führt man sich zum Vergleich die Positionierung des
täglich aufs Neue verzehrt vom Schmerz. Ähnlich wie lyrischen Ich zu Füßen eines Kunstwerkes in An deines
bei der blasphemischen Parodie der Passion Christi in Kreuzes Stamm vor Augen, so ist in dem 1879 entstan-
An deines Kreuzes Stamm geht es dem Dichter darum, denen Gedicht Geh nicht hinein eine Steigerung, oder
anhand des treffenden Bildes die »Atmosphäre [...] in genauer gesagt eine Konkretisierung, erreicht: Das ly-
künstlerischer Form festzuhalten und auf den Hörer rische Ich betrachtet die Leiche eines ihm bekannten
zu übertragen« (LL 4, 378). Menschen. Es findet diesen Menschen nicht mehr in
Bei Nach Constanzes Tod und Und am Ende der seinem Zimmer vor, in dem er sonst saß. Sämtliche
Qual alles Strebens handelt es sich um zwei Vierzeiler, Merkmale, die ihn und sein Umfeld charakterisierten,
die Storm im Laufe der Überarbeitungen und wech- sind verschwunden: »[...]; der Stuhl ist leer, die Pflan-
selnden Gruppierungen einzelner Stücke aus dem Ge- zen lassen / Verdürstend ihre schönen Blätter hän-
dichtzyklus ausscheidet. Sie schlagen einen raisonnie- gen;« (LL 1, 94). Mit dem Eintritt des Todes ist aus
renden Ton an. Das lyrische Ich reflektiert die eigene dem einst vertrauten Ich ein den Lebenden völlig ent-
Vernichtung angesichts des Todes der geliebten Per- fremdetes »Es« geworden: »Und dann verschwand
son. Und am Ende der Qual alles Strebens gipfelt in er«. Der Tod – so stellt es sich in Geh nicht hinein dar
dem umstrittenen Vers »Denn die Vernichtung ist – ist durch die totale Negativität gekennzeichnet, die
auch was wert« (LL 1, 265). Abwesenheit jeglicher Merkmale, die das Ich in Raum
Als einziges Gedicht der Tiefe Schatten-Reihe bleibt und Zeit verankern (vgl. zum Folgenden Wünsch
Größer werden die Menschen nicht zu Storms Lebzei- 2000, 266 f.). Es wird keine Realität mehr sprachlich
ten ungedruckt. Es hebt mit der nüchternen Feststel- nachgeahmt. Die Sprache referiert auf nichts mehr.
lung an, der ein Fortschrittsglaube hinsichtlich der Entsprechend lässt sich an der formalen Gestaltung
Entwicklung des menschlichen Geistes entgegen- des Gedichtes eine »Entlyrisierung« (Scherer 2005,
gesetzt wird. Dennoch bleiben Skepsis und das Be- 214) erkennen. Ein erzählender, prosanaher Sprach-
wusstsein der natürlichen Begrenztheit des Men- gestus tritt an die Stelle des Liedes. Reimlose Verse
schen, ausgedrückt in dem alles gleichsam über- werden aneinandergereiht. So wird die Todeserfah-
dachenden ersten Vers: »Größer werden die Men- rung geradezu szenisch präsent. Doch Storm vollzieht
schen nicht«. Im Folgenden wird ein »diesseitiger mit einem solchen Dichten einen »Strukturwandel ge-
Humanitätsglaube« (Demandt 2010, 31) artikuliert: gen die eigene Poetologie« (Scherer 2005, 210). Der
Tod ist nicht nur die Grenze des Realismus, er bedeu-
Dessen Gebot wird sein: tet auch die Grenze der Sprache. In den Schlusszeilen
Edel lebe und schön, des Gedichtes muss das Unsagbare ausgedrückt wer-
Ohne Hoffnung künftigen Seins den: »›Und weiter – du, der du ihn liebtest – hast /
Und ohne Vergeltung, Nichts weiter du zu sagen?‹ / Weiter nichts.«. Die Kon-
Nur um der Schönheit des Lebens willen. (LL 1, 265) sequenz dieser Sprachlosigkeit ist das Verstummen
des Dichters. Denn wenn das Ich es nicht länger ver-
Dieses Gedicht wird als »Kompendium der Welt- mag, sich mittels der Sprache mit der äußeren Wirk-
anschauung Storms« gewertet (Demandt 2010, 31). lichkeit vertraut zu machen, kann es diese äußere
Die Spannung »zwischen Fortschrittsglaube[n] und Wirklichkeit nicht in eine innere umwandeln. Doch
weltanschauliche[m] Pessimismus« bleibt bestehen. nur anhand einer intakten Kommunikation zwischen
Die metaphysische Absicherung des Ich bröckelt und Innenwelt und erlebter Außenwelt lässt sich ein Bild in
entsprechend die geschlossene poetische Form. Das der Vorstellungskraft des Rezipienten erzeugen – die
erklärt die so wenig liedhafte Form wie z. B. die des Anschauung. Stefan Scherer charakterisiert das Ge-
dritten und des fünften Gedichtes. Inwiefern die Auf- dicht Geh nicht hinein als »eine idiosynkratisch ver-
lösung der lyrischen Form, die sich in dem Prozess der störte Lyrik am Endpunkt des Erlebnisgedichts, am
88 III Werk – A Gedichte

Rand des Verstummens« (Scherer 2005, 212). Das ly- Literatur


rische Ich in dem Gedichtentwurf An deines Kreuzes Demandt, Christian: Religion und Religionskritik. Berlin
Stamm trat angesichts des Abbildes des an das Kreuz 2010 (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 8).
Detering, Heinrich: »Der letzte Lyriker«. Erlebnis und Ge-
geschlagenen Jesus Christus noch in einen Dialog mit dicht – zum Wandel einer poetologischen Kategorie bei
der Figur des Erlösers. Das »Weiter nichts« am Schluss Storm. In: STSG 53 (2004), 25–41.
von Geh nicht hinein impliziert eine poetologische Detering, Heinrich: Die Stimmen und die Stimmung.
Verweigerung des Sprechers, die aus einer welt- Storms Naturgedichte. In: Friederike Reents/Burkhard
anschaulichen resultiert. Das Ich negiert die Hoffnung Meyer-Sickendiek (Hg.): Stimmung und Methode. Tübin-
gen 2013, 219‒234.
auf ein Wiedersehen im Jenseits. In einem Brief an
Häntzschel, Hiltrud: »Das quälende Rätsel des Todes«. Zu
Gottfried Keller erläutert Storm 1879 das Gedicht fol- Theodor Storms Gedichtreihe »Tiefe Schatten«. In: Gün-
gendermaßen: ter Häntzschel (Hg.): Gedichte und Interpretationen, Bd. 4:
Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus. Stuttgart
[...]; ich habe darin nur den Eindruck niederlegen wol- 1983, 360–371.
len, den der Anblick eines Gestorbenen, ich glaube, im Jackson, David A.: Storm at the foot of the cross. In: The Ger-
manic Review 59 (1984), 82–89.
Wesentlichen auf Jeden macht, und wogegen es keine
Jackson, David A.: Storms Stellung zum Christentum und
Rettung, als den [so!] des Glaubens an ein Wiederauf- zur christlichen Kirche. In: Brian Coghlan/Karl Ernst Laa-
leben in einem andern Zustande giebt, die aber für ge (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Vorträge
mich nicht vorhanden ist. (Storm–Keller, 55) und Berichte des Internationalen Storm-Symposions aus
Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms. Berlin 1989,
David Jackson stellt fest, dass »die Christentumspro- 41–99.
Pastor, Eckart: »Schließe mir die Augen beide ...« Über-
blematik in Storms Gesamtwerk einen zentralen Stel- legungen zum poetischen Kosmos des jungen Storm. In:
lenwert hat« (Jackson 1989, 42). Mit der Erfahrung STSG 32 (1983), 63–73.
von Sterben, Tod und endgültigem Verlust geht – das Scherer, Stefan: Anti-Romantik (Tieck, Storm, Liliencron).
zeigen die untersuchten Gedichtbeispiele – die Suche In: Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger
nach einem metaphysisch verankerten Weltbezug und (Hg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexi-
onsmedium der Kultur. Bern 2005, 205–236.
eine kritische Auseinandersetzung mit dem tradierten
Storm, Theodor: Handschriftliche Notizen und Vorarbeiten
Erklärungsmodell des christlichen Unsterblichkeits- zum »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius.
glaubens einher. Das Resultat ist sowohl beim jungen Eine kritische Anthologie«, 8.° XII. Hamburg 1870
Storm wie auch bei dem gealterten Dichter ein be- (Handschriftenkonvolut StA T4).
klemmendes, wie das folgende, bereits 1848 von Storm, Theodor: Vorwort zu »Deutsche Liebeslieder seit
Storm verfasste Gedicht zeigt: Johann Christian Günther« (1859). In: LL 4, 377–384.
Thomé, H.: Weltanschauung. In: Joachim Ritter(Hg.): His-
torisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Darmstadt
Wie wenn das Leben wär nichts Andres 2004, 453‒460.
Als das Verbrennen eines Lichts! Wünsch, Marianne: Leben im Zeichen des Todes. Zu Theo-
Verloren geht kein einzig Teilchen, dor Storms Lyrik. In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/
Jedoch wir selber gehen ins Nichts! (LL 1, 253) Eckart Pastor (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl
Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 255–270.
Diesem »Nichts« überlässt Storm den Leser. Einzig die Anne Petersen
Sprache schuf ein Gegengewicht, doch ist letztendlich
auch sie an ihre Grenzen gestoßen. Geh nicht hinein ist
das letzte große Gedicht Storms.
B Märchen

20 Storms Konzeption des Märchens romantik wichtiger. So orientiert sich Storm etwa in
im literaturgeschichtlichen Der kleine Häwelmann, den er 1849 im Volksbuch auf
das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg
Kontext publiziert, deutlich an dem gebrochenen, ironischen
Ton, der die Eventyr og historier (Märchen und Ge-
»[D]as Märchen hat seinen Kredit verloren; es ist die schichten) von Hans Christian Andersen auszeichnet
Werkstatt des Dilettantismus geworden, der seine (vgl. Detering 2011, 151–176). Dagegen erinnert der
Pfuscherarbeit mit bunten Bildern überkleistert und kurze Zeit später in demselben Volksbuch auf das Jahr
in den zahllosen Jugendschriften einen lebhaften 1851 veröffentlichte Text Stein und Rose, den Storm
Markt damit eröffnet« (LL 4, 387) – Mit dieser Äuße- 1855 in einer erweiterten Fassung unter dem Titel
rung aus dem Vorwort der Geschichten aus der Tonne Hinzelmeier publizieren wird, motivisch und auf-
(1873) reiht sich Storm in die Reihe der prominenten grund seiner grotesk-komischen Szenen und allegori-
Kritiker der Gattung im späteren 19. Jahrhundert ein. schen Tendenzen an das Kunstmärchen der deutschen
So wird das Märchen in nahezu allen Poetiken und Frühromantik. Entsprechende Bezüge zu Texten von
Ästhetiken des Realismus als überholte Textsorte in Novalis, Tieck, Mörike, Eichendorff oder E. T. A.
Szene gesetzt, deren Funktion im Gattungsgefüge von Hoffmann lassen sich leicht herstellen. Die sehr unter-
der Novelle übernommen worden sei (vgl. Fasold schiedlich gestalteten Texte Die Regentrude, Bule-
2003, 70–71). Umso erstaunlicher ist die Tatsache, manns Haus und Der Spiegel des Cyprianus, die Storm
dass Storm nicht nur eine ganze Reihe von Märchen zunächst 1864 und 1865 in den Journalen Illustrirte
veröffentlichte, sondern dass er einige dieser Texte Zeitung und Der Bazar und 1866 als eigenständige Pu-
selbst zu dem Besten zählte, was er geschrieben habe blikation Drei Märchen veröffentlicht, weisen einen
(u. a. in einem Brief an Brinkmann, 9.1.1866, Storm– ähnlichen intertextuellen Referenzrahmen auf. Hier
Brinkmann, 144). wird der Bezug zum Kunstmärchen allerdings deutli-
Bei all dem ist es sicherlich schwierig, im Singular cher durch die Anlehnung an andere Gattungen, wie
von einer Konzeption des Märchens bei Storm zu etwa die Novelle, die Sage, das Schicksalsdrama oder
sprechen. Die sechs Texte, die in den Sämtlichen Wer- die Phantastik überformt.
ken unter dieser Gattungsbezeichnung zusammen- Auch andere Texte, in denen Storm mit dem Mär-
gefasst werden, konstituieren eine sehr heterogene chen spielt, belegen seine breite Auseinandersetzung
Gruppe. Sie erscheinen in sehr unterschiedlichen mit der Gattung. So geht etwa »Das Märchen von den
Kontexten mit unterschiedlichen Adressatenbezügen drei Spinnfrauen«, das Storm als Binnengeschichte in
und weisen eine erstaunliche Bandbreite an unter- die 1845 im Volksbuch auf das Jahr 1846 veröffentlich-
schiedlichen narrativen Verfahren, Stilen und inter- ten Geschichten aus der Tonne integriert, offensichtlich
textuellen Bezügen auf. So trägt etwa das frühe Mär- auf sein Interesse an der Volksliteratur zurück, das
chen Hans Bär, das Storm 1837 in einem vierzehnsei- sich insbesondere in seiner Mitarbeit an der von Karl
tigen handschriftlichen Oktavheft an Bertha von Bu- Viktor Müllenhoff herausgegebenen Sammlung Sa-
chan adressiert, noch deutliche Spuren der gen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig,
Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Sicherlich Holstein und Lauenburg (1845) manifestiert. Dagegen
greift Storm auch in seinen späteren Märchen auf sind anderen Texte – etwa die 1846 unter der Gat-
Handlungsstrukturen, Motive und narrative Verfah- tungsangabe »Märchen-Szenen« veröffentlichte Ver-
ren des Volksmärchens zurück. Hier werden aller- sion des Schneewittchens oder der Nixenchor, den
dings Bezüge zum Kunstmärchen der Früh- und Spät- Storm anlässlich des Besuches von Christian VIII.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_20, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
90 III Werk – B Märchen

1844 in Husum verfasste, – offensichtlich nur als Pa- frühen Arbeiten wurde somit auf Tendenzen einer be-
limpseste zu verstehen, in denen Storm mit den be- wusst realistischen Überformung des romantischen
kannten Vorlagen der Gebrüder Grimm und Ander- Volks- und Kunstmärchens bei Storm aufmerksam
sens spielt. gemacht (vgl. Böttger 1959, 230–238; Lohmeier in LL
Storm selbst betont die Unterschiedlichkeit seiner 4, 573). Jüngere Studien dagegen betonen, dass Storm
Märchen, wenn er sich in seinen Briefen bemüht, sei- seine Märchenproduktion gezielt nutze, um innovati-
ne späteren Texte von seinen früheren Versuchen ab- ve Erzählverfahren und neue Themenspektren zu er-
zugrenzen. Dabei setzt er sich v. a. kritisch mit dem proben, die schließlich Eingang in seine Novellen fin-
Hinzelmeier auseinander, den er als »eine phantas- den und somit die Bandbreite seiner realistischen
tisch-allegorische Dichtung« bezeichnet, »wobei der Darstellungsverfahren erweitern (vgl. Freund 1986;
Dichter nicht mit vollem Glauben seine Geschichte Fasold 2003). Es fragt sich aber, ob Storm die Gattung
erzählt, sondern halb reflectirend daneben steht« des Märchens nicht eher wie Hans Christian Ander-
(Storm–Kuh, 98). In Anlehnung an diesen und andere sen als Experimentierfeld nutzt, um modernistische
Autorkommentare hat Hertha Botzong in ihrer frü- Schreibweisen zu entwickeln, die bewusst mit Tradi-
hen Studie zum Wesen und Wert von Theodor Storms tionen von Romantik und Realismus brechen (in An-
Märchendichtung (1935) versucht, die Genese der sätzen dazu vgl. Conrad 2013). Genau dies soll im Fol-
Gattung bei Storm nachzuzeichnen. Dabei gelangt sie genden am gezielten Spiel mit paratextuellen Rah-
wenig überraschend zu der Feststellung, dass es ihm mungen, an der stark ausgeprägten Autoreflexivität
erst mit den Drei Märchen gelinge, sich vollends von und den elaborierten Erzählverfahren aufgezeigt wer-
den Vorgaben des romantischen Volks- und Kunst- den, welche alle Märchen Storms charakterisieren.
märchens zu lösen und eine eigene Märchenstimme Während die oben zitierten Briefe den Eindruck
zu finden, die durch »[u]rsprüngliches Empfinden, erwecken, dass Storm sich für das Märchen als einer
frei von jeder Reflexion, dichterisches Walten der unmittelbaren und naiven Form der Dichtung stark
Phantasie« geprägt sei (Botzong 1935, 50). macht, verfügen seine gedruckten Kommentare über
Mit dieser Charakterisierung greift Botzong Selbst- eine erheblich größere Komplexität. So äußert er
aussagen Storms auf, der etwa Emil Kuh gegenüber schon im Vorwort der Drei Märchen Zweifel, ob die
äußert: »In puncto meiner ›Märchen‹ versichere ich Texte überhaupt als Märchen bezeichnet werden kön-
Sie, daß ich nicht den leisesten Gedanken an ein Sym- nen: »Wenn ich diese drei Dichtungen Märchen ge-
bolisiren bei der Abfassung gehabt habe [...] – ich habe nannt habe, so bitte ich das nicht genau zu nehmen, in
an nichts dabei gedacht, als an Fixirung der Welt, die dem ›Cyprianus-Spiegel‹ ist wohl der vornehmere Ton
da vor mir aufstieg« (Storm–Kuh, 104). Der Bezug auf der Sage angeschlagen, ›Bulemanns Haus‹ würde viel-
die eigene, ungebrochene Imagination ist genauso leicht passender eine seltsame Historie genannt; nur
zentral wie der Versuch, sich von allegorisierenden das phantastische Element ist allen gemeinsam und
Deutungen abzugrenzen, die seine Märchen in ir- muß die gewählte Bezeichnung rechtfertigen« (LL 4,
gendeiner Weise mit der didaktischen Inanspruch- 385). Bezeichnenderweise wird er die Texte in einer
nahme der Gattung in der Aufklärung oder den ma- zweiten Auflage so auch nicht mehr als Märchen, son-
nieristischen Tendenzen in der Romantik in Bezie- dern mit Rückgriff auf den oben erwähnten, früheren
hung setzen. Wieder und wieder versucht Storm zu Titel als Geschichten aus der Tonne (1873) publizieren.
betonen, dass die Drei Märchen »aus unmittelbarster Die Vorworte beider Sammlungen zeigen, wie reflek-
naiver und hingebendster Anschauung« entstanden tiert Storm mit den Gattungsangaben umgeht und wie
seien, wobei ihn der implizite Bezug zu Theorien der bewusst er von vorneherein zu signalisieren versucht,
naiven Dichtung sogar zu der Behauptung drängt, dass die Texte keineswegs einer traditionellen Gat-
dass er die Drei Märchen »ganz instinctiv im Sinn und tungsnorm folgen. Die Texte werden bewusst als hy-
Geist der Germanischen Mythologie geschrieben« ha- bride Mischformen in Szene gesetzt, die je nach den in
be (Storm–Brinkmann, 144). Anspruch genommenen Gattungsvorgaben als ›Mär-
In der nachfolgenden Forschung wird diese Selbst- chen‹, ›Sagen‹, ›seltsame Historien‹ oder ›Geschichten
stilisierung Storms allerdings in Frage gestellt. So geht aus der Tonne‹ anders gerahmt und interpretiert wer-
man spätestens seit den 1950er Jahren davon aus, dass den können. Dieses kalkulierte Spiel mit der Gattung
sich alle Märchen Storms durch den ambivalenten des Märchens, das Storms Selbstaussagen bezüglich
Rückgriff auf Gattungstraditionen auszeichnen, auf der instinktiven Naivität und Unmittelbarkeit der
die der Dichter »halb reflektierend« Bezug nehme. In Texte in Frage zu stellen hilft, folgt der kalkuliert in-
20 Storms Konzeption des Märchens im literaturgeschichtlichen Kontext 91

szenierten »Zwitterhaftigkeit« (an Mörike, 20.9.1856, den im frühen 19. Jahrhundert publizierten Volks-
Storm–Mörike, 67) des Textes Stein und Rose/Hinzel- und Kunstmärchen angelegt sind. So laden seine Mär-
meier, den Storm zunächst als Ein Märchen veröffent- chen v. a. zu einer kritischen Reflexion über das ro-
licht und später unter der Gattungsgabe »Eine nach- mantische Phantasma der Kindheit ein. Zu Recht hat
denkliche Geschichte«publiziert (s. Kap. B.21). Selbst man darauf aufmerksam gemacht, dass sie in ihrer kri-
die Gattungsbezeichnung »Kindermärchen« unter der tischen Modellbildung der Phasen frühkindlicher Ent-
Der kleine Häwelmann erscheint, ist bei näherer Hin- wicklungen und der entsprechenden familiären Dyna-
sicht zweideutig. Sie verweist auf der einen Seite auf miken psychoanalytische Modelle des 20. Jahrhun-
ein für Kinder geschriebenes Märchen, auf der ande- derts vorwegnehmen (vgl. Detering 2011). Da sich
ren Seite kann sie aber auch auf einen märchenhaften Storm dabei auch auf relativ unverhohlene Darstellun-
Text verweisen, der sich kritisch mit dem Phänomen gen von weiblicher Sexualität einlässt, sind die Texte
der Kindheit beschäftigt. auch aus einer gendertheoretischen Perspektive von
Schon das Spiel mit den Gattungsangaben der Tex- Relevanz. Schon diese in der Forschung ausführlich
te verdeutlicht den ausgeprägten autoreferentiellen behandelten Themen verdeutlichen, dass man Storms
Charakter von Storms Märchen. In den Kindermär- Märchen zu Unrecht mit dem Vorwurf des Eskapismus
chen wird über das Phänomen der Kindheit hinaus begegnete. Ja, in einigen der Texte nutzt Storm die Gat-
auch das Phantasma des Märchens als eine naive kind- tung des Märchens geschickt aus, um sich kritisch mit
liche Form der Literatur kritisch behandelt (Detering dem familiären, ökonomischen und politischen Ima-
2011, 55–65, 147–177). Noch ausgeprägter ist dieser ginären, d. h. mit den zentralen Wunsch- und Wahn-
Zug in den nachfolgenden Märchen bzw. nachdenk- vorstellungen seiner Zeitgenossen, auseinanderzuset-
lichen Geschichten und seltsamen Historien. In Hin- zen. Auch im Hinblick auf diese thematischen Pro-
zelmeier und Die Regentrude operiert Storm recht pla- blemstellungen weisen die in vielerlei Hinsicht ab-
kativ mit der Vorstellung von zwei getrennten Welten, gründigen Märchen weniger in die Romantik zurück
um grundlegende poetologische Fragestellungen zu als in das 20. Jahrhundert voraus.
verhandeln. Bulemanns Haus lässt sich explizit auf das
Wechselverhältnis zwischen Ökonomie und Erzählen Literatur
ein. Noch deutlicher sind die selbstreferentiellen Ten- Botzong, Hertha: Wesen und Wert von Storms Märchendich-
denzen in Der Spiegel des Cyprianus ausgestaltet. Der tung. München 1935.
Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959.
Text kreist nicht nur motivisch um eine buchstäbliche Conrad, Maren: Das realistische Märchen – Ein Oxymoron?
Form der Selbstreflexion, sondern versucht mithilfe »Die Regentrude« als experimenteller Text an den Gren-
von Spiegelungen zwischen Rahmen und Binnen- zen des Realismus. In: STSG 62 (2013), 53–69.
erzählung auch selbstrerefentielle Formen der Narra- Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
tion umzusetzen. Überhaupt zeichnen sich die Mär- Ende der Romantik. Heide 2011.
Fasold, Regina: Romantische Kunstautonomie versus Realis-
chen Storms durch sehr raffinierte Erzählverfahren
muskonzept um 1864. Über die Bedeutung von Storms
aus, in denen er beispielsweise wieder und wieder auf Märchen für seine realistische Poetik. In: Heinrich Dete-
unterschiedliche Formen der Metalepse rekurriert, ring/Gerd Eversberg (Hg.): Kunstautonomie und literari-
um eine ›nachdenkliche‹ Distanz zum Erzählten zu scher Markt. Konstellationen des Poetischen Realismus.
markieren. Berlin 2003, 65–82.
Dabei erschöpfen sich die Texte keineswegs in der Freund, Winfried: Rückkehr zum Mythos. Mythisches und
symbolisches Erzählen in Theodor Storms Märchen »Die
literarischen Selbstreflexion. Storm nutzt die in den
Regentrude«. In: STSG 35 (1986), 38–47.
Märchen entwickelte distanziert-nachdenkliche Er- Lohmeier, Dieter: Kommentare zu Märchen und Spuk-
zählweise vielmehr konsequent aus, um die weitrei- geschichten. In: LL 4, 570–657.
chenden Problemkomplexe zu vertiefen, die schon in
Klaus Müller-Wille
92 III Werk – B Märchen

21 »Hans Bär«/«Der kleine 1985; Schärer 1993; Fasold 1999). Auf das Häwel-
Häwelmann« (verf. 1837/1849) mann-Märchen haben jedoch nur Hansen (1977) und
Kaiser (1979) hingewiesen; an sie schließt Detering
(2011, 147–177) an. Ein psychologisches Erkenntnis-
Die ersten beiden Märchendichtungen Storms sind interesse richtet sich unter den dort formulierten me-
von den folgenden Kunstmärchen, Texten wie Die Re- thodischen Prämissen auf den realen Autor nur, inso-
gentrude, In Bulemanns Haus oder Der Spiegel des Cy- fern die Kenntnis der Entstehungsumstände und Wir-
prianus, aber auch von den eher an den Traditionen kungsabsichten zum Verständnis der Texte beiträgt.
von Sage und Spukgeschichte orientierten Geschichten Diese werden als Analogiephänomene nicht zu psy-
aus der Tonne deutlich unterschieden. Hans Bär (1837) chischen Prozessen, sondern zu impliziten oder expli-
und Der kleine Häwelmann (1849) präsentieren sich, ziten psychologischen Modellbildungen aufgefasst.
mit dem Untertitel des letzteren Textes, ausdrücklich Die Literarizität des Textes ist dabei als Bestandteil ei-
als »Kindermärchen«. Sie sind es im doppelten Wort- nes komplexen Zusammenhangs von Modellbildung
sinne: als Texte, die in der Nachfolge des von Wilhelm und Erzählverfahren zu interpretieren.
Grimm in der Vorrede zu den Kinder- und Hausmär-
chen formulierten romantischen Programms stehen,
und als Texte, die sich auch thematisch mit Kindheit 21.1 »Hans Bär«
und Adoleszenz befassen. Sie beziehen sich sowohl auf
die für diese und zahllose weitere Märchen aller Zeiten Storms erstes Kunstmärchen Hans Bär (1837), als pri-
und Kulturen zentrale anthropologische Grunderfah- vates Schreiben an eine einzige Leserin adressiert, ist
rung der Adoleszenz (wie unter den bekanntesten in nur einem Exemplar erhalten, blieb zu Lebzeiten
Grimmschen Kindermärchen etwa die Geschichten des Autors unpubliziert und wurde erst knapp ein
von Hänsel und Gretel oder vom Froschkönig) als auch Jahrhundert später veröffentlicht, im Jahr 1930 in ei-
auf die spezifisch romantische Verklärung von Kind- nem Privatdruck in Hamburg (R. Johannes Meyer:
heit und Kindlichkeit als vermeintlicher Verkörperung Bertha von Buchan und Theodor Storm, dort 17–38).
und Vergegenwärtigung einer verlorenen Heilszeit, Storm schickte das Märchen als Weihnachtsgeschenk
wie sie, anknüpfend an Novalis und Philipp Otto Run- 1837 an die geliebte kindliche Freundin Bertha von
ge, in Wilhelm Grimms Vorrede zu den Kinder- und Buchan in Altona, als vierzehnseitiges handschriftli-
Hausmärchen proklamiert wird – einem Text, der ches Oktavheft (StA). Darin beginnt der Text nicht wie
Storm wie viele andere Kindheits-Texte der Romantik in den postumen Drucken erst mit dem ersten Satz
vertraut war (dazu Detering 2011, 55–64). der Erzählung, sondern bereits mit der Zueignung:
In beiden Märchen wird zudem das Märchenerzäh- »Hans Bär. Ein Mährlein erzählt von H. Th. W. Storm.
len selbst in seiner psychischen und pädagogischen Seiner jungen Freundinn [sic] Bertha v Buchan ge-
Bedeutung für das lesende oder hörende Kind reflek- widmet vom Verfasser« (LL 4, 575). Der explizite Ad-
tiert – in einem als Begleittext zu Hans Bär verfassten ressatenbezug wiederholt sich im ersten Absatz des
Gedicht und in der überraschenden narrativen Wen- Textes: »wie ich dir sogleich erzählen werde. –«.
dung am Ende des Kleinen Häwelmann. Beide Texte In einem Brief an Berthas Pflegemutter Therese Ro-
erfordern daher eine Lektüre, die sie einerseits auf die wohl spricht Storm Anfang März 1838 von seinem
von Storm adaptierten Erzählschemata romantischer Wunsch, »meine kleine Arbeit in Berthas Hände zu le-
und postromantischer Märchendichtung und ande- gen; es hat etwas beseligendes für mich, das was ich in
rerseits auf Storms implizite Konzepte von Kinderpsy- meinen unschuldigen Stunden gedacht u geschrieben
chologie und darüber hinaus von Persönlichkeitsfor- habe, von gläubigen Kinderseelen gelesen zu wissen.
mung bezieht (zu diesem Kontext Dimitropoulou Bertha ist aber das einzige Kind, dem ich mich auf die-
2004). Diese Konzepte arbeiten den Modellen Sig- se Weise mittheilen kann u mag« (StA; Abdruck bei
mund Freuds zum frühkindlichen Narzissmus vor Eversberg 1995, 101). Storm widmet das Märchen als
(der sich ja mehrfach auf Texte des Realismus beruft); das romantische Genre par excellence einem roman-
für eine differenzierte literaturpsychologische Text- tisch verklärten Kind.
analyse sind Weiterentwicklungen der Modelle bei Hans Bär gilt in der Storm-Forschung als begabte,
Kohut, Goldberg und Kernberg hilfreich. In der aber offenkundig noch unbeholfene Übung, die ein-
Storm-Forschung sind diese Perspektiven seit den zelne Grimmsche Motive und Erzählschemata kom-
1980er Jahren wahrgenommen worden (Roebling biniert und variiert (vgl. Lohmeier, LL 4, 576 f.). Wie

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_21, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
21 »Hans Bär«/«Der kleine Häwelmann« (verf. 1837/1849) 93

der junge Storm sich mit Tycho und Theodor Momm- Narzissmus des Kindes befriedigt. Dessen über-
sen, dann auch Müllenhoff auf die Suche nach den menschliche Stärke ist fortan doppelt motiviert. Hans
Märchen, Sagen und Sprichwörtern Schleswig-Hol- ist einerseits so stark, weil er von der Bärin gesäugt
steins macht und damit zum Miturheber der ersten worden ist; andererseits aber (und im erzählerischen
deutschen Märchensammlung nach dem Vorbild der Widerspruch dazu) war ja er es schon von Geburt an.
Kinder- und Hausmärchen wird (Trende 1997), so ver- Einerseits also erfährt er sich als wesenhaft von der
sucht er sich nun an einem Kunstmärchen, das mit Mutterinstanz abhängig, andererseits setzt sich sein
Motiven des »Volksmärchens« experimentiert. (Mo- narzisstisches Größen-Selbst in Opposition zu ihr.
tiv- und Formulierungsähnlichkeiten bestehen zu Das Diese Grundspannung führt, da »Hänschen nun im-
tapfere Schneiderlein, KHM 20, und Der junge Riese, mer stärker und größer« wird (12), zum Adoleszenz-
KHM 90; zudem verbinden sich Anklänge an den konflikt. Die Übermutter will das Kind in seiner kindli-
Herkules-Mythos mit dem alten, bis in Kiplings chen Abhängigkeit fixieren, indem sie es einsperrt im
Dschungelbuch fortwirkenden Mythologem vom Bä- uterinen Innenraum ihrer Höhle und einen »bösen
renjungen; vgl. Rölleke 2002; Thompson 1955, 448.) Stein« vor die Öffnung rollt – die Bezeichnung mar-
Doch in Storms Erzählung werden individuelle sig- kiert eine Verschiebung der Aggression: nicht die Mut-
nifikante Verschiebungen sichtbar, die Züge einer ter selbst ist böse, nur der von ihr benutzte Stein ist es –,
noch vergleichsweise naiv geführten Auseinanderset- Hans aber kämpft sich frei und flieht »in die Fremde«.
zung mit kindlicher Adoleszenz in der bürgerlichen In der so beginnenden dritten Handlungssequenz
Kleinfamilie erkennen lassen. erzwingt der aus der Mutter-Kind-Dyade gewaltsam
Hans Bär erzählt von seelischer und körperlicher ausgebrochene Knabe, abermals gewaltsam, die über-
Gewalt, die familiale Strukturen zunächst gefährdet, fällige Triangulierung: Als seine Bärenkräfte bei den
dann in sie integriert und so schließlich gebändigt Bauersleuten, in deren Dienst er tritt, »ein gewaltiges
wird. Bereits von Geburt an ist der kleine Hans hoch- Fürchten« auslösen (15) und sie ihm heimlich nach
begabt: ausgezeichnet durch wunderbare Körperkraft. dem Leben trachten, erwirbt er sich einen beschüt-
Sie hebt ihn über seine Familie hinaus und erlaubt es zenden Vater. Es ist der – wiederum dem Figuren-
ihm, den »ungeheure[n] Bär[en]« (LL 4, 11) zu über- arsenal des Volksmärchens entstammende – König,
winden, der ihn eines Tages unverhofft töten will. Aus- der ihm seine Tochter und das halbe Königreich ver-
löser des Konflikts ist eine dramatische Störung im fa- spricht und ihn mit den Worten »mein Sohn« an-
milialen Gefüge, auf der Seite des Gewalttäters: Dem redet. Da der König keine Frau mehr hat, ergibt sich
Bär haben zuvor bereits »die Jäger seine beiden Jungen sukzessive eine ideale Kleinfamilie aus Bärenmutter,
genommen, worüber er sehr betrübt war, und Tag und Königsvater und Kind.
Nacht vor Schmerz im Walde umherheulte« (ebd.). Dieser neue Vater ist von vornherein keine feind-
Um »Rache zu nehmen an den bösen Menschen« liche, sondern eine fördernde Instanz. Auch ihm ge-
(ebd.), will er den kleinen Hans fressen. In dem Au- genüber jedoch muss Hans’ Selbstbehauptungswille
genblick jedoch, in dem Hans ihn »tapfer« bekämpft, sich durchsetzen. So lässt Storms Erzählung, um Hans
vollzieht sich eine ebenso überraschende wie unkom- nicht zum Mörder eines Vaters werden zu lassen, der
mentierte Verwandlung. Der böse Bärenvater erweist ihn bis zur Selbstaufgabe fördert, seinen Helden er-
sich unversehens als liebende Mutter. Angesichts von satzweise, und sozial nutzbringend, einen »abscheuli-
Hans’ Tapferkeit, denkt der Bär: »Den Jungen solltest che[n] Riesen« erschlagen (17) – woraufhin sich, nicht
du mit in deine Höhle nehmen, und ihn säugen mit anders als zuvor in der Transformation des besiegten
deiner Milch, und ihn so stark machen, wie es wohl Bären zur liebenden Mutter, die Funktion des väterli-
sonst deine eignen Bärlein geworden wären« (ebd.); chen Königs wandelt. In einer so schicklichen wie
der hasserfüllte Tötungsversuch wandelt sich zur lie- glücklichen Koinzidenz mit dem Tod des Riesen
benden Adoption. So wird Hans nicht ›sein‹, sondern schwindet seine Autorität, ja seine Körperkraft; seine
»ihr neues Pflegesöhnlein« (12): Statt als Bärenvater Lebenszeit reicht gerade noch aus, »mein Sohn, daß
Rache zu nehmen, erkämpft sich die Bärenmutter das ich dich zu der Prinzessin, meiner Tochter, führe und
entbehrte Kind. dir die Hälfte meines Reiches abtrete« (18 f.). Da er da-
Ineins damit aber erkämpft sich auch das Kind eine mit »nun auch die andre Hälfte des Reichs von seinem
seiner Besonderheit würdige Mutter. Aus Gewalt und Schwiegervater geerbt hatte« (19; die bürgerliche Ver-
Gegengewalt entsteht eine verspätete Mutter-Kind- wandtschaftsbezeichnung ist eine aufschlussreiche
Dyade, die mit dem Muttertrieb des Bären auch den Störung des Märchentons), herrscht Hans nun restlos.
94 III Werk – B Märchen

Fortan heißt er im Text einfach »der König« oder und schlank / Durch die Zaubermacht der Saiten /
»König Hans«. In der neugewonnenen Souveränität Rückwärts in die Kindheit sang« (Handschriftenvari-
sucht er die Wunden zu heilen, die er auf dem Weg ante aus dem Nachlass Bertha von Buchans, vgl. LL 1,
dorthin geschlagen hat. Die schon fast vergessenen 933 f.). Wieder zeigt die Metaphorik die Nähe des Tex-
leiblichen Eltern beeilt er sich »nach seiner Residenz tes zu romantischen Konzepten von »Märchen« und
zu nehmen«; auch mit seiner »alte[n] Pflegemutter« »Kindheit«, wie Storm sie in Wilhelm Grimms Vor-
versöhnt er sich, der parallel zum Aufstieg ihres Pfle- rede zu den Kinder- und Hausmärchen gelesen hatte.
gekindes geschwächten und nun (eine abermals be- In ihrem Dankbrief vom 15.3.1838 bringt sich Ber-
zeichnende Koinzidenz) sterbenskranken Bärenmut- tha von Buchan gegen diese Rollenzuschreibung
ter. In liebevollem Großmut zeigt König Hans sich als selbstbewusst zur Geltung, die dem Verfasser nicht
treusorgender Sohn seiner einst tödlichen und jetzt als Geliebte antwortet, sondern als gleichberechtigte
wehrlos gewordenen Feindin, die ihrem Sohn nun die Kritikerin. Sie beurteilt abwägend den Charakter des
Hände lecken muss und mit einem »dankbaren Blick Helden, hebt lobend eine »prächtige Szene« hervor
auf den König und seine Gemahlin« an Entkräftung und nennt abschließend »Dein Mährchen [...] hübsch
verendet. Inmitten seiner somit restlos entmächtigten und erbaulich« (Eversberg 1995, 103). Börner ver-
Elterninstanzen triumphiert am Ende »Hans Bär, der weist in diesem Zusammenhang auf eine unheimli-
König« (20). che Strukturhomologie zwischen den im Text imagi-
Als Ziel dieser Erzählung erscheint nicht wie im ge- nierten und den durch den Text lebensweltlich reali-
wohnten Schema der Grimmschen Adoleszenz-Mär- sierten Machtphantasien: In ihrem Brief reflektiere
chen die Hochzeit, sondern vielmehr diese restlose, Bertha als eine Hoffmannsche »Olimpia« »den Zau-
von allen Elterninstanzen akklamierte Herrschaft des ber der Poesie direkt wieder auf den narzißtischen
Sohnes. Die Königstochter bleibt kontur-, wort- und Künstler«; so lasse sie Storm »im geschlossenen Kreis-
tatenlos. Im narrativen Funktionsgefüge figuriert sie lauf seiner eigenen Schöpfung vollständig aufgehen«
lediglich als Attribut der Macht, als Gegenfigur der (Börner 2009, 386).
Mutter (mit deren Tod ihr Besitz korreliert ist), und
als Gabe im ›male bonding‹ zwischen Königsvater und
Sohn. Die Hochzeit wird weder dargestellt noch auch 21.2 »Der kleine Häwelmann. Ein Kinder-
nur formelhaft resümiert. Vielmehr zielt die Dynamik märchen«
der Erzählung ausschließlich auf die Erfüllung der
narzisstischen Allmachtsphantasien von der Herr- Geschrieben wurde Der kleine Häwelmann 1849; ge-
schaft eines Mannes, der als »Hans Bär« zugleich »Kö- gen Ende dieses Jahres erschien er in Karl Biernatzkis
nig Hans« ist: das von aller elterlichen Gewalt befreite, Volksbuch, umrankt von einem ›biedermeierlichen‹
für immer allmächtige Kind. Kranz einzelner Szenenillustrationen; eine Hand-
Die Leserin, der Storm dieses Märchen zueignet, ist schrift ist nicht erhalten. In den Fassungen, die Storm
um dieselbe Zeit auch die Adressatin eines Gedichts, in die Ausgaben Sommer-Geschichten und Lieder
das die lebensweltliche psychosoziale Funktion des (1851), die Sammlung In der Sommer-Mondnacht
Textes kommentiert. Zufolge diesem unmissverständ- (1860) und in die Ausgabe seiner Schriften (1861) auf-
lichen Selbstkommentar soll das Märchen dazu füh- nahm, wurden eine Reihe kleinerer, aber nicht unwe-
ren, die nur als ein Kind Begehrte in ihrer Kindlichkeit sentlicher Änderungen vorgenommen (vgl. LL 4,
zu fixieren; es ist (ohne dass dem Verfasser diese Ana- 581). Das in den späteren Ausgaben gestrichene Mot-
logie offenbar aufgefallen wäre) selbst der »böse to »Weil’s doch jetzt Zeit ist, Märchen zu erzählen«
Stein«, der sie in der Höhle festhalten soll. Die Über- (579) spielt auf diese auch ihn selbst unmittelbar be-
schrift »Zum Weihnachten. (Mit Märchen.)« bezieht treffenden Zeitumstände an. Zugleich eröffnet es eine
das Gedicht unmittelbar auf Hans Bär. Mit der Auffor- zusätzliche, aus dem erzählten Geschehen selbst nicht
derung »Mädchen, in die Kinderschuhe / Tritt noch ableitbare politische Deutungsperspektive des Textes:
einmal mir behend« (LL 1, 209) eröffnet es die explizi- als einer – auf die Repression der schleswig-holsteini-
te Wunschphantasie, wie der Verfasser »die ganze schen Demokraten durch die dänische Monarchie be-
Nacht« lang erzählen werde »Von Hans Bärlein, der ziehbaren – Allegorie von Selbstüberhebung und
im Streite / Einen Riesenritter schlug, / Der die Kö- Scheitern (vgl. Lohmeier, LL 4, 579). Dank zahlreicher
nigstochter freite, Endlich gar die Krone trug; // Von Einzelausgaben als Kinder-, zumeist als Bilderbuch in
dem Sänger aus der Weiten, / Der ein Mädchen groß Deutschland und in einer Fülle von Übersetzungen
21 »Hans Bär«/«Der kleine Häwelmann« (verf. 1837/1849) 95

wurde Der kleine Häwelmann einer der weltweit wir- chen, grammatisch männlich ist). Doch die Triangu-
kungsmächtigsten Texte Storms überhaupt. lierung misslingt. Die durch den väterlichen Schutz
Schon durch die Überschrift gibt sich der Text als ermöglichte Passage führt durch das enge Schlüssel-
ein Kindermärchen im strikten Sinne zu erkennen. loch hinaus aus der Mutter-Kind-Dyade in eine Diffe-
»Häwelmann« ist die in Schleswig-Holstein zur Zeit renzierung von Selbst und Objekt: in die Welt. Die
Storms gebräuchliche Bezeichnung für ein »Hätschel- Überkompensation der ursprünglichen Verlusterfah-
kind«. Es ist also kein individueller Name, sondern rung aber erzeugt ein narzisstisches Größen-Selbst,
meint das (hier wie in Hans Bär wieder männliche) das sich in zunehmend hybriden Allmachtsgefühlen
Kleinkind schlechthin. Wie in Hans Bär, so geht es bestätigen will: alle Menschen der Stadt, alle Tiere des
auch hier um die Allmachtsphantasien eines früh- Waldes, schließlich alle Sterne des Himmels sollen ihn
kindlichen Narzissmus – und, anders als dort, um ihr sehen, wie er in seinem Rollbett in komisch-majestäti-
Scheitern und um ihre Bearbeitung im Modus des Ge- scher Grandiosität vorüberfährt. Jeder neue Bestäti-
schichtenerzählens selbst. Wie in der realen Entste- gungsversuch aber führt nur in weitere Kränkungen:
hungsgeschichte, so ist das Märchen auch in der text- Die schlafende Stadt ist menschenleer, im Wald ruhen
internen Kommunikation als mündliche Erzählung die Tiere, die Sterne fliehen vor Häwelmanns Wildheit
eines Vaters an das eigene Kind markiert. Im Gegen- aus dem Himmel –, bis das letzte Aufbegehren ihn
satz aber zum programmatisch monologischen Hans schließlich an den Rand eines Selbstverlustes führt,
Bär wird dabei die monologische Erzählinstanz pro- der als gewaltsamer Tod erzählt wird: Die aufgehende
duktiv distanzschaffend aufgespalten. Sonne wirft den Empor-Kömmling ins Meer, und –
Zwölf Jahre nach Hans Bär hat Storm eine neue wie die Erzählstimme sarkastisch kommentiert –
Schreibposition erreicht. Nun erzählt er seine Ge- »[d]a konnte er schwimmen lernen« (LL 4, 24). In der
schichte als Ehemann und Vater eines kleinen Jungen, kosmischen Steigerung seines Größenverlangens hat
dessen erste Sozialisation er aufmerksam beobachtet das Kind auch die einzig hilfreiche Objektbeziehung
und dem er den Namen »Hans« gegeben hat. Es sei, zum Vater zerstört, erfährt sich als isoliert und ohn-
schreibt er in einem Brief vom 14.10.1850, »das Ro- mächtig, bis am Ende die nun ihrerseits ins Kosmische
mantische, was ich ihm mit seinem Namen habe an- gesteigerte Mutterinstanz die traumatische Ausgangs-
taufen lassen«; im selben Brief nennt er seinen Sohn erfahrung wiederholt. Und diesmal wird die Zurück-
»Dieser kleine Hävelmann« (an Laura Setzer, Storm– weisung, die dort nur schmerzhaft war, tödlich. (Die
Brinkmann, 24). Das Märchen schildere, so hat Ger- Konstellation von gütig-starkem Vater und tödlicher
hard Kaiser pointiert bemerkt, »Urerlebnisse eines Gewalt der Mutter ist dieselbe wie in Hans Bär.) Mehr
Sohnes, der nun selbst zu einem Sohn spricht« (Kaiser noch: Mit Häwelmanns Verlassenheit im Himmel
1979, 428). Als analytischer Beobachter ebenjenes En- überschreitet Storms Text für einen Augenblick die
des der frühkindlichen Einheitserfahrung, um das Grenzen des »Kindermärchens« und zeigt ein Bild
sein Frühwerk mit Texten wie Hans Bär und den Bu- metaphysischer Obdachlosigkeit, das an die nihilisti-
chan-Gedichten kreiste, gewinnt Storm nun erzäh- sche Märchenparodie über das Kind im leeren Him-
lend Distanz zu den dort überwältigenden traumati- mel in Büchners Woyzeck ebenso erinnert wie an
schen Erfahrungen und reflektiert über die therapeu- Nietzsches Parabel Der tolle Mensch (1882).
tischen Möglichkeiten des Erzählens selbst. So ist es Häwelmanns Unfähigkeit, seinen Narziss-
Das Häwelmann-Märchen erscheint retrospektiv mus zu überwinden, die ihn zugrunde gehen und sei-
wie eine Entfaltung von Arthur Drummonds viktoria- ne Welt zerbrechen lässt – allerdings nur beinahe.
nischem Gemälde, auf dem zwei Londoner Polizisten Denn in einer romantisch-ironischen mise-en-abyme
den Straßenverkehr aufhalten, damit eine Kinderfrau öffnet sich die Erzählung in den letzten Zeilen zur Er-
mit einem kleinen Kind die Straße überqueren kann: zählsituation. »Und dann?« (24), fragt eine bislang un-
»His Majesty the Baby«. Freud zitiert diesen Titel 1914 bekannte zweite Stimme gleichsam in den Text hinein,
in seiner Studie Zur Einführung des Narzißmus als Il- und der nun erst als Figur in einem Dialog erkennbare
lustration des »primären Narzißmus« (Freud 1997, 57). Erzähler antwortet: »Ja und dann? Weißt du nicht
Storms idealtypischer Häwelmann erlebt den mehr? Wenn ich und du nicht gekommen wären und
Schlaf der bis dahin unbedingt verfügbaren Mutter als den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen
erste narzisstische Kränkung, aus der ihm die Vater- hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!«
instanz des guten Mondes heraushelfen soll (der im (ebd.). Die mit diesen Sätzen angedeutete Erzählsitua-
Deutschen, anders als in den meisten anderen Spra- tion zwischen Eltern und Kind führt die Rettung her-
96 III Werk – B Märchen

bei, die in der erzählten Welt unmöglich schien. Die Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus. In: Ders.:
Erzählung rettet das Kind, indem sie es als gerettetes Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe, Bd. III.
und zur Rettung anderer fähiges, gereiftes – und damit Frankfurt a. M. 1997, 37–68.
Goldberg, Arnold: Selbstpsychologie und narzißtische Per-
dem erzählten Häwelmann schon überlegenes – Kind sönlichkeitsstörungen. In: Otto Kernberg (Hg.): Narziß-
voraussetzt. (Die selbstironische Reflexion, das Spiel tische Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart/New York 1996,
mit logischen Unstimmigkeiten der erzählten Welt, 255–264.
der humoristische Tonfall und das Hervortreten des Grimm, Jacob und Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen.
Erzählers in expliziten Leseranreden verdanken sich Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der
Brüder Grimm. Hg. v. Heinz Rölleke, Bd. 1–3. Stuttgart
Storms früher Lektüre der Kunstmärchen Hans Chris-
1980.
tian Andersens, der lebenslang einer seiner Lieblings- Hansen, Hans-Sievert: Narzißmus in Storms Märchen. In:
autoren blieb; dazu Lehmann 2007, 129; Detering STSG 26 (1977), 37– 56.
2011). Mit seiner metafiktionalen Schlusswendung Kaiser, Gerhard: »Aquis submersus« – versunkene Kindheit.
zielt das Märchen direkt auf eine Stärkung des realisti- Ein literaturpsychologischer Versuch über Theodor
schen Selbstkonzepts. Im gemeinsamen aktiven Ein- Storm. In: Euphorion 73 (1979), 410–434.
Kernberg, Otto (Hg.): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen.
greifen werden Selbst- und Objektbeziehung inte- Stuttgart/New York 1996.
griert, sind gleichstark und gleichberechtigt. Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalyti-
Die Erzählung unterstellt und vollzieht damit selbst schen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen.
im Erzählakt das gelungene Ergebnis des Entwick- Frankfurt a. M. 1973.
lungsprozesses, an dem der kleine Häwelmann schei- Lehmann, Wilhelm: Erinnerung und Landschaft. Zu Theo-
dor Storms hundertfünfzigstem Geburtstag. In: Ders.:
tert. Erst dieses Umkippen von der erzählten Psycho-
Essays II. Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 7. Hg. v.
logie in die Psychologie des Erzählens hebt Storms Wolfgang Menzel. Stuttgart 2007, 127–131.
Kindermärchen über eine vergnüglich kindgemäße Lohmeier, Dieter: Kommentar zu »Hans Bär«. In: LL 4, 575–
Darstellung des primären Narzissmus hinaus und 578.
macht es zu einer Modellerzählung auch über das Ver- Lohmeier, Dieter: Kommentar zu »Der kleine Häwelmann«.
hältnis von Kinderpsychologie und Erzählverfahren. In: LL 4, 579–581.
Roebling, Irmgard: Prinzip Heimat – eine regressive Utopie?
Zur Interpretation von Theodor Storms »Regentrude«. In:
Literatur STSG 34 (1985), 55–66.
Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die Rölleke, Heinz: »Hans Bär«. Theodor Storms früheste Mär-
Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009. chendichtung intertextuell. In: STSG 51 (2002), 69–72.
Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das Schärer, Hans-Rudolf und Peter: »Mit einer schönen Wunde
Ende der Romantik. Heide 2011. kam ich auf die Welt«: Literaturwissenschaft und Narziß-
Dimitropoulou, Dimitra: Bürgerliches Erziehungsverhalten mustheorie. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik
und Persönlichkeitsformung im Spätwerk Theodor Storms. XXV/1 (1993), 25–86.
Berlin 2004. Thompson, Stith (Hg.): Motif-Index of Folk-Literature. Bd. 1.
Eversberg, Gerd (Hg.): Storms erste große Liebe. Theodor Kopenhagen 1955.
Storm und Bertha von Buchan in Gedichten und Dokumen- Trende, Frank: »Dem Zauber des Märchens gibt sich jeder
ten. Heide 1995. willig hin«. In: Ders. (Hg.): Schleswig-Holsteinisches Mär-
Fasold, Regina: Narzißmus und Formdrang in Theodor chenbuch aus der Müllenhoffschen Sammlung. Heide 1997,
Storms Novelle »Auf dem Staatshof« (1859). In: David A. 163–189.
Jackson/Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative
Strategies and Patriarchy / Theodor Storm – Erzählstrate- Heinrich Detering
gien und Patriarchat. Lewiston, N. Y. 1999, 23–47.
22 »Stein und Rose« (1850)/ »Hinzelmeier« (1855) 97

22 »Stein und Rose« (1850)/ rig, denn »der Eingänge sind viele, und oft verwun-
»Hinzelmeier« (1855) derliche« (31). Im Anschluss an die Offenbarung des
Geheimnisses und den Rat der Mutter, dass der Weg
»mitunter auch durch’s Fenster« (31) führen kann,
Erstveröffentlichung unter dem Titel Stein und Rose zieht Hinzelmeier in die Welt hinaus, um den Stein
(Ein Märchen) im Volksbuch auf das Jahr 1851 für der Weisen zu suchen. Dafür verbringt er zwei Jahre
Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. von Karl Bier- bei einem Meister, der ihn dann mit einem Raben na-
natzki, Altona 1850, 117–138. Zu Beginn der Pots- mens Krahirius entlässt, welcher eine grüne Brille auf
damer Zeit 1853/54 wurden vor allem die Kapitel  5 dem Schnabel trägt. Als Hinzelmeier in der Küche ei-
und 7 von Storm stark überarbeitet (vgl. Storm– nes Bauernhofes in lebhafte Stimmung verfällt und
Brinkmann, 24.3.1857). Die neue Fassung erschien die von der Mutter erlernten Lieder singt, öffnet sich
1855 mit dem Titel Hinzelmeier. Eine nachdenkliche in der Wand ein Fenster, durch das ein Mädchen hi-
Geschichte in der Schlesischen Zeitung, Breslau 1855, nausschaut, in dessen Hintergrund Rosenbüsche zu
Nr. 592, 594, 596 u. 598. Nur mit geringfügigen Ver- erkennen sind; noch bevor er zu ihr hineinsteigen
änderungen wurde diese Textfassung für die erste kann, lässt ihm der Rabe seine grüne Brille auf die
Buchausgabe (Berlin: Duncker 1857) sowie die Aus- Nase fallen und die Szenerie verschwindet. Stattdes-
gabe der Sämmtlichen Schriften (Braunschweig: Wes- sen erblickt Hinzelmeier eine Gestalt in einem tiefen
termann 1868), Bd. 6, 149–199 übernommen. Im In- Felsenkessel, die sich ihm als der Teufel vorstellt.
haltsverzeichnis der Sämmtlichen Schriften ist der Ti- Nachdem dieser ihm seinen Plan eröffnet hat, die
tel mit der Anmerkung »Husum 1850« versehen. Welt in die Luft sprengen zu wollen, beschließt Hin-
zelmeier, den Teufel »aus der Welt zu schießen« (41).
Als er auf seinen weiteren Wanderungen in einem
Inhalt
Wirtshaus einkehrt, erfährt er, dass die Rosenjung-
Das Märchen gliedert sich in neun Kapitel, die die Le- frau nach ihm gefragt hat. Er findet sie in einem alten
bensgeschichte eines jungen Mannes namens Hinzel- Haus in der Stadt und erkennt zu seinem Erstaunen in
meier erzählen. Seine Eltern sind dafür bekannt, dass ihr sein eigenes, junges Bild wieder. Erneut wird die
sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters jung und schön Szenerie durch den Raben unterbrochen; die grüne
geblieben sind. Als kleiner Junge beobachtet Hinzel- Brille lässt Hinzelmeier diesmal eine Gestalt erbli-
meier, wie seine Mutter, die schöne Frau Abel, in einer cken, die nachdenklich auf einem Stein sitzt. Sein al-
weißen Wand des Hauses verschwindet und dann chemistischer Kollege Nachbars Kasperle erklärt ihm,
umgeben von seltsamem Rosenduft wieder zurück- dass er den Stein der Weisen gefunden habe, nun aber
kehrt. Einige Jahre später ergibt sich für Hinzelmeier darüber nachdenke, wozu er nütze sei. Als Hinzel-
die Möglichkeit, diesem wunderlichen Vorgang nach- meier die Brille wieder von der Nase nimmt, wird ihm
zugehen. In der Wand entdeckt er den Zipfel des klar, dass der Stein ein Lederkäse ist und man ihn es-
Schnupftuchs seiner Mutter, mit dem diese damals sen müsse. Anschließend macht sich Hinzelmeier er-
drei Mal gegen die Wand geschlagen hatte. Er tut es neut auf den Weg. Zu Beginn des letzten Kapitels wie-
ihr nach, schlüpft durch die Wand und landet auf dem derholt sich die Szene im Wirtshaus: Die Rosenjung-
Dachboden des Hauses zwischen allerlei familiärem frau fragt nach ihm; Hinzelmeier allerdings legt sich
Gerümpel. Als er durch das Schlüsselloch der Dach- schlafen und träumt von seiner Mutter, die ihn mahnt
bodentür schaut, erblickt er einen Schrein, vor dem »Vergiß die Rose nicht!« (49). Während des Traums
seine Eltern knien und den Gesang »Rinke, ranke Ro- lässt der Rabe zum dritten Mal die Brille auf Hinzel-
senschein« anstimmen (LL 4, 29). Zum Vorschein meiers Nase fallen, worauf diesem ein »weites, ödes
kommt eine Rose, die rosenroten Nebel verstreut. In Feld« und ein »grauer, flacher Stein« (50) erscheinen.
der Folge eröffnet seine Mutter ihm das Geheimnis Viele Stunden wandert er dem Stein entgegen; als er
der Familie. Sie erzählt von einem Rosengarten, in zuletzt erschöpft an ihm niedersinkt, fällt ihm die
dem jede Rose von einer Jungfrau gepflegt wird. Die Brille von der Nase und am Horizont zeigt sich die
Blumen stehen jeweils für einen Rosenherren, dessen Rosenjungfrau in weißer Gestalt. Hinzelmeier jedoch
Aufgabe es ist, den Garten ausfindig zu machen und hat keine Kraft mehr aufzustehen. Er stirbt und wird
seine Jungfrau aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. von Schneeflocken bedeckt. Mit der Sonne kommt
Die Herausforderung »den rechten Weg [zum Rosen- die Rosenjungfrau und pflanzt ihre Rose an den Stein.
garten] zu finden« erweist sich allerdings als schwie- Den Raben schleudert sie in die Luft, zerreißt ihr wei-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_22, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
98 III Werk – B Märchen

ßes Kleid und geht in die Gefangenschaft des Rosen- deuten auf Einflüsse E. T. A. Hoffmanns (vgl. Schuster
gartens zurück. 1998, 133–136) oder Ludwig Tiecks hin. Auch Eichen-
dorffs Dichter und ihre Gesellen (1834) oder Hans
Christian Andersens Schneekönigin (1844) werden
Deutung
von der Forschung als mögliche Vorbilder genannt.
Hinzelmeier gehört zu Storms frühen Märchen. Er hat Eine eindeutige Vorlage für Hinzelmeier lässt sich al-
es in die Sammlung Drei Märchen von 1866 nicht auf- lerdings nicht bestimmen.
genommen. Aus seinen Briefkorrespondenzen geht Auch das Element eines selbstreflexiven Bezugs auf
eine recht ambivalente Selbsteinschätzung des Textes Kunst und Poesie ist im Text deutlich angelegt. Hin-
hervor. In einem Brief an seinen Vater vom 24.1.1856 zelmeiers Aufgaben stehen dabei für unterschiedliche
spricht er von einer »wirklich anmutige[n] Arbeit« Konzeptionen: Zum einen tritt er als Vertreter des be-
(GB 1, 299); gegenüber Friedrich Eggers gibt er hin- sonderen Geschlechts der Rosenherren auf, um die
gegen einen »Grundfehler« in der Konzeption des sich ein wunderbares Geheimnis rankt, das aus-
Textes zu, den er darin sieht, dass er hier versucht habe schließlich durch die mündliche Erzählung und die
»einen Begriff [...] durch eine Sache dar[zu]stellen« Lieder der Mutter vermittelt werden kann. Zum ande-
(Storm–Eggers, 34 f.). Gegenüber Mörike spricht er ren zieht Hinzelmeier in die Welt hinaus, um »eine
von der »Zwitterhaftigkeit« des Textes (Storm–Möri- große Kunst« zu erlernen, die sich ihm im alchemisti-
ke, 67). Die bekannteste Selbstaussage von Storm über schen Studium der Folianten erschließt und darauf
Hinzelmeier findet sich in einem Brief an Emil Kuh, abzielt, etwas zu lernen, das »noch von Niemandem
worin er bekundet, dass hier »mehr eine phantastisch- erlernt worden [ist]« (LL 4, 32). Diese Diskrepanz zwi-
allegorische Dichtung« vorliege, »wobei der Dichter schen Tradition und Individualismus zeigt sich auch
nicht mit vollem Glauben seine Geschichte erzählt, anhand der in den Text eingelagerten Verse: Wo sich
sondern halb reflectirend daneben steht« (Storm– die Welt des Rosengartens in kollektivem Gesang aus-
Kuh, 98). drückt und sich so mithilfe ihrer poetischen Kraft in
Erinnerung rufen kann, präsentiert sich die Welt der
Weisheit und Meisterschaft als analytischer Spruch
Zwischen romantischem Kunstmärchen und
über die Kunst selbst, die ihren natürlichen und wun-
Realismus
derbaren Kern verloren hat und stets in einem auf-
Hinzelmeier lässt sich mit der Traditionslinie des ro- wendigen Prozess des Findens und Schaffens her-
mantischen Kunstmärchens in Verbindung bringen. gestellt werden muss (34). Ein weiteres Moment der
Sowohl der Konflikt der Hauptfigur zwischen Er- Selbstreflexion erschließt sich zudem über das Attri-
kenntnisstreben (Stein der Weisen) und ewiger Ju- but der ›Nachdenklichkeit‹: Zu Beginn des Textes sind
gend und Schönheit (Rosenjungfrau) als auch ein gro- es der Rosenduft und das leuchtende Antlitz der Mut-
ßer Teil der Motivik (Rosengarten, Stein, Rabe, Wan- ter, welche Hinzelmeier nachdenklich stimmen (vgl.
derschaft) stellen in diesem Zusammenhang gattungs- 26). In der späteren Szene mit Nachbars Kasperle, der
typische Elemente dar. Hinzelmeier scheitert an der angeblich den Stein der Weisen gefunden hat, verfal-
Herausforderung, die beiden Aufgaben miteinander len beide Figuren in eine »nachdenkliche Stellung«
zu vereinen. Der Stein der Weisen wird somit zum (45) über »die höchst kritische Frage« (46), welchen
Grabstein, die Rose zur Grabblume. Am Ende kehrt Zweck der Stein denn nun erfüllen könnte. Beide Mo-
sich die Möglichkeit, Jugend und Schönheit zu erlan- mente verbinden sich mit dem Paratext der Gattungs-
gen, in Tod und ewige Gefangenschaft um. Über die beschreibung »Eine nachdenkliche Geschichte«. Der
Rosenmotivik ließe sich eine Verbindung zu Novalis’ Vorgang des Reflektierens über die Doppelstruktur
Hyacinth und Rosenblüthe (1798/99) herstellen; durch des Textes findet sich somit in die Charakterisierung
das Mißlingen der Versöhnung als einer poetischen des Textes selbst miteingeschlossen. Die poetische
Überwindung des Zwiespalts zwischen Natur und Selbstreflexion in Form des Nachdenkens über die ei-
Geist zeigt sich allerdings ein deutlicher Bruch mit gene Gattung wird somit explizit Gegenstand des Tex-
den Vorstellungen der Romantik bei gleichzeitigem tes. Diese selbstreflexiven Gesten werden auch auf die
starkem Bezug auf diese. Das bewusste Offenhalten motivische Ebene des Textes übersetzt. Am Ende zer-
der Ambivalenz sowie die zuweilen grotesk-ko- reißt die Rosenjungfrau die Textur ihres weißen Klei-
mischen Szenen (fliegende Eierkuchen, der Teufel als des, wird Hinzelmeier von weißem Schnee bedeckt:
Kanonenbauer, Begegnung mit Nachbars Kasperle) »[E]s schimmerte und flirrte und zog weiße Schleier
22 »Stein und Rose« (1850)/ »Hinzelmeier« (1855) 99

zwischen ihm und der fernen, nebelhaften Gestalt« sowie in einer Verbindung zum hortus conclusus, tritt
(51). Die märchenhaften Zeichen und Symboliken, der Rosengarten in der mittelalterlichen Tradition ver-
die mit dem wundersamen Gang der Mutter durch die stärkt als Szenerie für Kampfplätze, Friedhöfe oder
weiße Wand begonnen hatten, finden sich am Ende Hinrichtungsstätten auf (vgl. Becker 2014, 837). Der
ins Weiße ausgelöscht. Mit der Setzung der Gattungs- Rabe als Ratgeber und Helfer ist zugleich Trickser wie
bezeichnung Eine nachdenkliche Geschichte wird auch auch Vorbote für Krieg und Tod. Auch der Stein der
die Beschreibung des Textes als Märchen fragwürdig, Weisen ruft in seiner Symbolik starke Ambivalenzen
was Storm sowohl im bereits zitierten Brief an Mörike auf den Plan, steht er doch sowohl für das alchemisti-
(Storm–Mörike, 66 f.) als auch in einem Brief an Hein- sche Wunder schlechthin und somit für hohe Kunst
rich Seidel (GB 2, 6.9.1873), in welchem er Hinzelmei- und Reichtum als auch für eine vergebliche Suche, die
er erneut eine »Zwitter-Existenz« nachsagt, einräumt. mehr und mehr an Irrglaube grenzt. Somit findet sich
Neben den Märchenelementen lassen sich in Hin- auch in der Symbolik des Textes die Unentschieden-
zelmeier auch deutliche Versatzstücke realistischer Er- heit bezüglich der eigenen poetischen Form und Wir-
zählverfahren erkennen. Das erste Kapitel umreißt ei- kungskraft ausgedrückt. Die grüne Brille, die der Rabe
nen Rahmen von städtischer Gesellschaft, in der die der Figur Hinzelmeier an drei entscheidenden Stellen
Gerüchte einiger »Stadtkaffeetanten« (LL 4, 25) zur auf die Nase fallen lässt, changiert dabei zwischen ihrer
Sprache kommen. Daneben wird das Bild eines bür- ursprünglich etymologischen Bedeutung als magi-
gerlichen Familienidylls entworfen, das Hinzelmeier scher Kristall (Beryll), in dem man, wie es in Adelungs
als Kind im Kreise seiner Eltern auf einem Schaukel- Wörterbuch heißt, ›allerley unbekannte Dinge zu se-
pferd zeigt. Dieses Spielzeug findet sich in der nächs- hen glaubte‹ (Adelung 1811, 1196) sowie einem mo-
ten Szene auf dem Hausboden wieder, wo es zusam- dernen Seh-Instrument, das den romantischen Blick
men mit »lauter ausgediente[m] Gerät« (28) der Fami- durchkreuzt und eine distanziertere Haltung gegen-
lie aufgehoben ist: Die Wiege, der Schrank der Ur- über dem poetischen Erleben erzwingt.
großmutter, die Mäntel des Vaters. Als weiteres Auf die erotischen Konnotationen der Rosensym-
Beispiel für einen realistischen Erzählstil kann das bolik in Hinzelmeier hat vor allem Gerd Eversberg
fünfte Kapitel gelten, in dem auffällig detailgetreu so- hingewiesen (vgl. Eversberg 1999). Seiner Deutung
wohl die Einrichtung der Küche im Bauernhaus als zufolge lässt sich die Szene auf dem Hausboden als
auch die Vorgänge der stämmigen Bäuerin beschrie- Aufdeckung der Sexualität der Eltern durch das Kind
ben werden. Die besondere Kombination von sym- lesen. Unterstützt wird diese Lesart von einer Reihe
bolisch-märchenhaftem und realistischem Erzählstil von Befunden aus Storms früher Lyrik, die die Rose
führt dazu, dass Hinzelmeier von großen Teilen der explizit in einer sexualisierten Symbolik ausweisen
Forschung als Vorläufer oder Vertreter von Storms (vgl. u. a. Rote Rosen, L 1, 254). Zudem gibt der Text
früher Novellistik angesehen wird (vgl. LL 4, 574; selbst anhand von zwei Beschreibungen von Hinzel-
McCormick 1964, 130–164; Botzong 1935, 32; Fasold meiers beginnendem Bartwuchs (vgl. L 4, 27 f., 32),
2003, 74). Dabei spielt auch die zeitliche Nähe zu Im- welche die Szene um das Rosengeheimnis rahmen, ei-
mensee eine Rolle, in der Parallelen zwischen den Fi- nen deutlichen Hinweis auf eine pubertäre Entwick-
guren Hinzelmeier und Reinhard erkennbar werden. lungsgeschichte.

Ambivalente und erotische Symbolik Zeitgeschichtlicher Kontext


Mit der Rose, dem Raben und dem Stein der Weisen Auch der zeitgeschichtliche Kontext spielt für den
bedient sich der Text auffallend prominenter symboli- Text Hinzelmeier eine wichtige Rolle. Im Sommer
scher Bedeutungskontexte. Die Rose steht dabei für ei- 1850 wird die Schleswig-Holsteinische Erhebung end-
ne Blumensymbolik schlechthin. Der Rabe gehört zu gültig von den Dänen niedergeschlagen. 1853 verlässt
den meist genannten Vögeln der Märchenliteratur. Al- Storm Husum. Die Bezüge auf die politischen Aus-
le drei sind in ihren Bedeutungsfeldern durch starke einandersetzungen werden vor allem in der frühen
Ambivalenzen geprägt: Bei der Rose (Liebe vs. Tod, Fassung Stein und Rose deutlich. Ein dem Text voran-
Paradies vs. Todeszeichen, Wildheit vs. Zucht) spitzen gestelltes Motto lautet wie folgt: »Ein wenig Scherz in
sich die Gegensätze im symbolischen Topos des Ro- die ernste Zeit, / Ein Lautenklang in den wirren Streit,
sengartens noch zu. Neben den meist positiv besetzten / In das politische Versegebell / Ein rundes Märchen-
Zuordnungen als Ort der Liebe, Unschuld und Erotik ritornell!« (LL 4, 588), womit das Märchen als Gegen-
100 III Werk – B Märchen

form zum Kriegsgeschrei aufgeboten wird. Ein weite- Literatur


rer Bezug ergibt sich aus dem fünften Kapitel, das Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörter-
Storm für die Fassung von 1855 komplett umgearbei- buch der Hochdeutschen Mundart. Erster Theil [1774].
Wien 1811.
tet hat: In Stein und Rose wird der Eingang des Rosen- Artiss, David S.: Theodor Storm’s four »Märchen«: Early
gartens von einer »Schar junger Gesellen« belagert, Examples of his Prose Technique. In: Seminar 14 (1978),
die hier ihre Zelte aufgeschlagen haben und ein gro- 149–168.
teskes, seltsames Gelärm von Musikinstrumenten er- Becker, Siegfried: Rose, Rosenwunder. In: Enzyklopädie des
zeugen. Dabei »donnerten Paukenwirbel dazwischen« Märchens. Bd. 11. Berlin/New York 2014, 833–842.
Botzong, Hertha: Wesen und Werk von Theodor Storms Mär-
(592) und wird »eine stürmische Marschmusik« (595)
chendichtung. München 1935, 31–46.
gespielt. Die Szenerie stellt sich als chaotischer Aus- Eversberg, Gerd (Hg.): Theodor Storm: Märchen. Text, Ent-
nahmezustand dar, in dem alle gemeinsame Harmo- stehungsgeschichte, Quellen. Nach den Erstdrucken. Heide
nie verloren ist und jeder nur seinen eigenen Ton zu 1992.
finden versucht. Auf den Krieg verweist auch das Eversberg, Gerd: Vergiß die Rose nicht! Erotische Symbole
sechste Kapitel, in welchem Hinzelmeier den Teufel in Theodor Storms früher Erzählung »Hinzelmeier«.
In: Zeitschrift für Kultur und Bildungswissenschaften.
trifft. Dieser ist daran eine Kanone zu bauen, um die
Flensburger Universitätszeitschrift 8 (1999), 89–99.
Welt in die Luft zu sprengen und verweist dabei auf Fasold, Regina: Romantische Kunstautonomie versus Realis-
den Spruch der ultima ratio regum. Damit ist das Zeit- muskonzeption um 1864. Über die Bedeutung von Storms
alter der militärischen Auseinandersetzungen der eu- Märchen für seine realistische Poetik. In: Heinrich Dete-
ropäischen Nationalstaaten umrissen. Obwohl Hin- ring/Gerd Eversberg (Hg.): Kunstautonomie und literari-
zelmeier kurzentschlossen zur Zunderbüchse greift scher Markt. Konstellationen des Poetischen Realismus.
Berlin 2003, 65–81.
und den Teufel selbst aus der Welt schießt, wird dieser Jehle, Mimi Ida: Das deutsche Kunstmärchen von der Roman-
zwei Kapitel später in anderer Gestalt erneut auftau- tik zum Naturalismus. Illinois 1935, 159–163.
chen (vgl. 46). Mayer, Mathias/Tismar, Jens: Kunstmärchen. Stuttgart
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Storm bei 42003, 121.
der Überarbeitung des Textes die Bezüge auf den po- McCormick, E. Allen: Theodor Storm’s Novellen. Essays on
Literary Technique. New York 1964, 130–164.
litischen Kontext deutlich zurückgenommen, im Ge-
Schuster, Ingrid: Theodor Storm und E. T. A. Hoffmann. In:
genzug dafür die Versatzstücke des realistischen Er- Dies.: »Ich habe niemals eine Zeile geschrieben, wenn sie
zählens sowie die Ebene der poetologischen Selbst- mir fern war«. Das Leben der Constanze Storm und verglei-
reflexion (»Eine nachdenkliche Geschichte«) ver- chende Studien zum Werk Theodor Storms. Bern 1998,
stärkt hat. 133–151.
Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und sein Werk.
Bremen 1955, 251–253.

Marie Drath
23 »Bulemanns Haus« (1864) 101

23 »Bulemanns Haus« (1864) ihn schrumpfen, während die Katzen sich von Mäu-
sen ernähren, die durch den auf magische Weise un-
Das Märchen Bulemanns Haus (LL 4, 109–131) ist von erschöpflichen Brötchenschatz angelockt werden. Wie
Ende Dezember 1863 bis Mitte Januar 1864 entstan- die Katzen ist auch Bulemann, der vergeblich auf gött-
den und im Jahr der Fertigstellung in der Weihnachts- liche Erlösung hofft, unsterblich geworden.
ausgabe der Illustrirten Zeitung erstmals veröffentlicht
worden.
Deutung
Storms Kunstmärchen soll hier aus doppelter Perspek-
Inhalt
tive betrachtet werden – zum einen aus einer psycho-
Ein geiziger Pfandleiher hortet die nicht eingelösten logischen und psychoanalytischen, zum anderen aus
Pfänder lieber, anstatt sie zu verkaufen und den ehema- einer ökonomischen. Beide einander scheinbar fern-
ligen Pfandeignern die über das Darlehen hinaus- liegenden Gesichtspunkte sollen im Zuge der Deutung
gehenden Erlöse auszuzahlen. Ähnlich knauserig ver- miteinander verbunden werden (vgl. Jesch 2014).
hält er sich seinen beiden erwachsenen Kindern gegen- Auffallend ist zunächst einmal die Neigung dreier
über. Der notleidenden Stieftochter Christine gewährt Figuren zur Schatzbildung. Schatzbildner sind zum
er ein geringes Darlehen gegen einen silbernen Becher, Ersten der alte Pfandleiher, zum Zweiten die Haushäl-
seinen Sohn Daniel – den eigentlichen Protagonisten terin Frau Anken und zum Dritten Herr Bulemann.
des Märchens – unterstützt er überhaupt nicht. Daniel Übereinstimmende Züge der drei Figuren sind darin
Bulemann erbt aber nach dem Tod des Vaters dessen erkennbar, dass sowohl der alte Pfandleiher als auch
durch Geiz und Verzicht angehäuften Schatz. Er ver- die Haushälterin und Herr Bulemann Objekte anhäu-
äußert ihn einschließlich des silbernen Bechers heim- fen, denen sie einen Wert beimessen. Der alte Pfand-
lich an einen Trödler, um die Pfandeigner an dem Erlös leiher, welcher uneingelöste Pfänder sammelt, und die
nicht beteiligen zu müssen. Der Trödler wiederum Haushälterin, welche Brötchen sammelt, haben darü-
schenkt Christines Becher seinem Sohn. ber hinaus gemeinsam, dass sie keine Umwandlung
Daniel Bulemann teilt sich das durch die Veräuße- ihrer Schätze in Geld beabsichtigen. Ihre jeweiligen
rung des Schatzes erworbene Vermögen für einen le- Objektsammlungen haben für den alten Pfandleiher
benslangen bescheidenen Unterhalt ein. Die Haushäl- und seine Haushälterin also keinen realen Tausch-
terin berechnet ihm dabei ein überhöhtes Brotgeld, wert. Zudem haben sie aber auch keinen realen Ge-
um sich für das Alter abzusichern. Ihr Schuldgefühl brauchswert; denn der alte Pfandleiher trägt die ge-
heißt sie dann aber entsprechend mehr Brötchen ein- horteten Schmuckstücke und Uhren nicht, und Frau
zukaufen, statt das überschüssige Geld tatsächlich an- Anken verzehrt die gehorteten Brötchen nicht. Für al-
zusparen. Die überzähligen Backwaren sammelt sie le drei Schatzbildner gilt gleichermaßen, dass ihnen
wie einen Schatz. ihre Schätze nicht zu einer Bedürfnisbefriedigung auf
Als Christine im Glauben an einen Nachttraum, erhöhtem Niveau verhelfen. Im Gegenteil: Alle drei le-
der dem verpfändeten silbernen Becher Heilkraft für ben sie außerordentlich sparsam.
ihren kranken Sohn zuweist, dieses Pfand zurück- Andererseits unterscheiden sich die drei Schatz-
wünscht, eröffnet Bulemann ihr nicht, dass er es ver- bildner in ihrem ökonomischen Gebaren durchaus
botenerweise verkauft hat. Stattdessen verletzt er das nicht unwesentlich voneinander: Die Haushälterin
kranke Kind lebensgefährlich und zieht sich den Fluch Frau Anken hamstert mit ihren alten Brötchen un-
der Mutter zu. Nachdem das verletzte Kind gestorben verkäufliche Nahrungsmittel, denen kein Tauschwert
ist, bewirkt Christines Fluch, dass die Katzen Bule- mehr innewohnt. Im Gegensatz hierzu häuft der alte
manns immer größer und aggressiver werden. Des- Pfandleiher dauerhafte Güter an, die immerhin ver-
halb von Bulemann fälschlich der Hexerei beschuldigt kauft werden könnten, denen also wenigstens ein
und körperlich angegriffen, lässt die Haushälterin ih- grundsätzlich realisierbarer Tauschwert innewohnt.
ren Brötchenschatz zurück und begibt sich auf die Der Sohn des Pfandleihers, Daniel Bulemann, wiede-
Flucht, bei der sie ums Leben kommt. rum zeichnet sich in der Figurenkonstellation dadurch
Von dieser Zeit an halten in Bulemanns Haus die zu als different aus, dass er jenen grundsätzlichen Tausch-
tyrannischen Raubtieren herangewachsenen Katzen wert – anders als der Vater – in einen realen überführt.
den einstigen Hausherrn gefangen und schneiden ihn Der jüngere Bulemann ist es somit, der sich als Ein-
von jeglicher Nahrungszufuhr ab. Der Hunger lässt ziger einen größeren Schatz anlegt, welcher tatsäch-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_23, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
102 III Werk – B Märchen

lich aus Geld besteht und als Zahlungsmittel sogar be- der zwischenmenschlichen Austauschbeziehung mit
stimmungsgemäß zum Einsatz kommt. Damit hat der Zirkulation in der monetären Ökonomie an. Statt
ausschließlich sein Schatz nicht nur einen realen Geld oder emotionaler Zuwendung zirkulieren hier
Tauschwert, sondern zudem noch einen Gebrauchs- allerdings Boshaftigkeiten. Auch der dritte Schatz-
wert – den Gebrauchswert des Geldes, der eben darin bildner also öffnet sich seinen Mitmenschen nicht.
liegt, dass es ausgegeben wird. Der alte Pfandleiher Bereicherung strebt Bulemann nicht im sozialen Mit-
und Frau Anken verfügen indessen über Schätze, die einander, sondern durch »Berechnung eines sichern
aus der Zirkulation herausgefallen sind. Aber ent- Lotteriegewinnes« (115) vor allem materiell an. Die
gegen Marx’ Feststellung, dass der »Gebrauchswert letzte und einzige von emotionaler Bindung zeugende
der Ware mit ihrem Herausfallen aus der Zirkulation Beziehung – diejenige zu seinen beiden Katzen – trübt
[beginnt]« (Marx 1961, 82), besitzen die nicht mehr sich darüber merklich ein. So lässt es Bulemann die
zirkulierenden Pfänder und Brötchen für ihre Besitzer Tiere vergelten, wenn seine gewinnsüchtige Kalkulati-
keinen Gebrauchswert. on des Lotteriespiels nicht aufgeht (vgl. 115).
Tatsächlich bleibt es also nur dem jüngeren Bule- Als psychische Parallelen zwischen den drei unter-
mann vorbehalten, sich den vollständigen, wenn auch suchten Charakteren zeigen sich also schwerwiegende
bescheidenen Genuss des Tauschwerts und des Ge- soziale Defizite, verbunden mit einer ausgeprägten
brauchswerts seines – geldförmigen – Schatzes zu ver- Neigung zur materiellen Selbstkasteiung. Zwischen
schaffen, indem er diesen nach und nach der Zirkula- den fiktiven Schatzbildnern machen sich aber auch
tion übergibt und so den alltäglichen Bedarf an Waren Unterschiede geltend: Während der alte Pfandleiher
deckt. und sein Sohn Daniel von Geiz und Missgunst be-
Wendet man sich nach dieser ökonomischen Bilanz herrscht sind – undenkbar ist ihrerseits ein Geschenk,
der Schatzbildnerei nun deren psychologischer Seite wie es der Trödler seinem Sohn mit dem silbernen Be-
zu, so zeigen sich wiederum Äquivalenzen und Diffe- cher macht –, wird Frau Anken nicht eigentlich als ei-
renzen. Als psychische Gemeinsamkeit des alten ne ihren Mitmenschen gegenüber geizige, sondern
Pfandleihers, der Haushälterin Frau Anken und Da- vielmehr als durch Selbstsorge bestimmte Person ge-
niel Bulemanns fällt zunächst einmal deren besondere zeichnet, die um ihre finanzielle Absicherung im Alter
Verzichtbereitschaft auf: Vom alten Pfandleiher ist zu fürchtet.
lesen, dass er »auf ’s Spärlichste lebte« (LL 4, 122). Über Ein von seinem Vater und seiner Haushälterin ab-
seinen Sohn Daniel erfahren wir Entsprechendes: weichendes Charakterbild schließlich bietet der jün-
»Herr Bulemann wurde immer hagerer und grauer, gere Herr Bulemann, insofern er deren jeweils vor-
sein gelbgeblümter Schlafrock immer fadenscheini- herrschende psychische Befindlichkeiten auf sich ver-
ger« (116). Und beider Haushälterin Frau Anken ver- einigt. Vom Vater übernimmt er den Geiz, mit Frau
zichtet auf »die überschüssig empfangenen Schillinge« Anken teilt er ein starkes Sicherheitsbedürfnis. Aus
(116) und setzt diese in ungegessene Brötchen um. Geiz schmerzt es ihn wie den Vater, von seinem Schatz
So genügsam und freudlos die drei Schatzbildner in abgeben zu sollen. So lässt er die Schwester und den
materieller Hinsicht leben, so wenig lassen sie soziale kranken Neffen leer ausgehen. Und als er an einige
Bedürfnisse erkennen. Alle drei fristen ein bezie- doch zahlungskräftig gewordene Darlehensnehmer,
hungsloses und dabei selbstbezügliches Dasein. Der denen er ihr verpfändetes Eigentum aufgrund des ille-
alte Pfandleiher hält sich seine Kinder vom Leib und galen Ausverkaufs nicht wieder überlassen kann,
ist auch mit niemandem sonst befreundet. Er und Schweigegeld abzweigen muss, »machte ihn [das]
Frau Anken leben einsam und gegen die Außenwelt noch menschenfeindlicher und verbissener« (LL 4,
abgeschlossen in einem Haus voller verriegelter Räu- 115). Sein Sicherheitsbedürfnis wiederum drückt sich
me und Schränke nebeneinanderher. Alles Begehren darin aus, dass er mit dem durch Verkauf aller väterli-
des im wörtlichen und übertragenen Sinne zu- chen Pfänder erworbenen Geldschatz sein gesamtes
geknöpften Pfandleihers richtet sich auf die von ihm Leben abzusichern trachtet (vgl. 113).
misstrauisch weggeschlossenen Pfänder (vgl. LL 4, Ein hier erkennbarer Zusammenhang zwischen
112). Was Frau Anken dann vom Nachfolger, dem Ökonomie und Psychologie ließe sich mit Bezug auf
jüngeren Herrn Bulemann, empfängt, sind vor allem Marx’ Kapital konstruieren. Marx entwickelt dort ge-
»harte[ ] Worte«, und die seltene Gelegenheit, sie ihm radezu eine Psychologie des Schatzbildners, die teil-
»mit Zinsen wieder heimzuzahlen« (119), nutzt sie weise wie ein Kommentar zu Storms Märchen anmu-
gern. In dieser Metapher deutet sich eine Vermischung tet. Er beschreibt, wie der Austausch von Waren, wel-
23 »Bulemanns Haus« (1864) 103

cher zu seiner Vermittlung Geld hervorbringt, auch len Geiz und Geldgier des jüngeren Bulemann im
Schatzbildung nach sich zieht (vgl. Marx 1962, 144). Verhältnis zu den Mitmenschen sicherstellen: »So-
Die »Leidenschaft« (144), die Marx aus den Bedin- wohl die bloße Gier nach Geld als auch das Festhalten
gungen der Ökonomie erwachsen sieht, hat auch den des Geldes in Form des Geizes, ohne es im Genuss
jungen Bulemann erfasst. Mehr noch als in seinem von Dingen zu materialisieren, ist psychologisch vor
Umgang mit dem lebenssichernden Geldschatz offen- allem eine Enttäuschungsprophylaxe« (Pohlmann
bart sich seine Leidenschaft, die »Goldpuppe fest- 2013, 70). Somit erklären sich die psychischen Eigen-
zuhalten« (144), in der bereits geschilderten Hoffnung tümlichkeiten des letzten Schatzbildners – seine Ge-
auf einen Lotteriegewinn. Gefördert wird die Neigung nussunfähigkeit, sein egoistischer Geiz, seine un-
zur Schatzbildung laut Marx dort, wo Beschränkung ersättliche Gier, sein Sicherheitsbedürfnis, seine
auf »Selbstbedarf« und »ein fest abgeschloßner Kreis Starrheit, Feindseligkeit und emotionale Zurück-
von Bedürfnissen« (144) gegeben sind. Ebendies trifft gezogenheit – sowohl aus den zu Raffgier und asketi-
auch auf Herrn Bulemann zu – genauso, wie eine an- scher Selbstabsicherung animierenden gesellschaft-
dere von Marx getroffene Diagnose mehr oder weni- lich-ökonomischen Geld-Verhältnissen als auch aus
ger auf alle drei Schatzbildner des Märchens zutrifft: der innerhalb dieser Verhältnisse deformierten Be-
»Der Schatzbildner opfert [...] dem Goldfetisch seine ziehung des Vaters zu ihm. Das eigentliche Sujet von
Fleischeslust. Er macht Ernst mit dem Evangelium der Storms Schauermärchen Bulemanns Haus wäre folg-
Entsagung. [...] Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Geiz lich die zwar ökonomisch bedingte, sich aber zu-
bilden daher seine Kardinaltugenden« (147). gleich intergenerational fortpflanzende Wirkung des
In der Konsequenz können Geldangelegenheiten Geldes auf die menschliche Psyche.
zugleich als Angelegenheiten des Begehrens in seinen
vielgestaltigen Varianten gelten, zu denen auch die Literatur
»gleichsam autoerotisch« ausgeformte, in »Geiz« und Jesch, Tatjana: Zur Psychologie des Schatzbildners in Theo-
»Gier« zum Ausdruck kommende gehört (Pohlmann dor Storms Märchen »Bulemanns Haus« (1864). In:
Storm-Blätter aus Heiligenstadt 18 (2014), 7–27.
2013, 66). Eine solche Diagnose wäre ähnlich wie dem Klaffke, Thomas: »Das Märchen des Egoismus«. »Bule-
alten Pfandleiher auch Herrn Bulemann mit seinem manns Haus« von Theodor Storm. In: Praxis Deutsch
sozial beziehungslosen Begehren zu stellen. 17/103 (1990), 38–40.
Da aber ein seelischer Zusammenhang stets aus ei- Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.
ner Entwicklung hervorgeht, so ist diese im Falle der Erster Band. Berlin 1962.
Pohlmann, Werner: Wie kann man ›Geld‹ psychoanalytisch
literarischen Gestalt Bulemann mit den schon auf-
verstehen? Überlegungen zu einer Psychoanalyse der Din-
gezeigten ökonomischen Faktoren noch nicht in al- ge. In: Ingo Focke/Mattias Kayser/Uta Scheferling (Hg.):
len Facetten hergeleitet. Daniel Bulemanns nicht nur Die phantastische Macht des Geldes. Ökonomie und psycho-
autoerotisches, sondern zutiefst widersprüchliches analytisches Handeln. Stuttgart 2013, 63–75.
Begehren zwischen Maßlosigkeit und Triebverzicht Pollet, Jean-Jacques: Maisons hantées. »Das öde Haus«, »Bu-
hat sich unter den Gesetzen einer Ökonomie gebil- lemanns Haus«, »Das unbewohnte Haus«. In: Université
de Toulouse-LeMirail. Centre de Recherche sur l’ Alle-
det, denen bereits sein Vater, der alte Pfandleiher, un-
magne Moderne (Hg.): Les songes de la raison. Mélanges
terworfen war. Dessen von materiellem wie emotio- offerts à Dominique Iehl. Bern 1995, 146–162.
nalem Geiz bestimmtes Verhältnis zum Sohn weisen Schuster, Ingrid: Tiere als Chiffre. Natur und Kunstfigur in
ihn als einen sozial frustrierenden Vater aus. Dass den Novellen Theodor Storms. Bern 2003.
derartige Frustrationen sich nicht wiederholen, sol-
Tatjana Jesch
104 III Werk – B Märchen

24 »Die Regentrude« (1864) Lesegestus kommt die Erzählung einer Selbstheilung


und einem ›Gesundschreiben‹ gleich: Storm sendet
Die Regentrude erschien erstmals 1864, unmittelbar eine junge Frau – die Heldin Maren – auf eine Reise in
nach ihrer Entstehung unter dem Titel Ein Mittsom- die Unterwelt, um eine große Dürre zu beenden. Sie
mermärchen in der Leipziger Illustrirten Zeitung. Eine rettet ihre Heimat vor einer verheerenden Trockenheit
zweite Auflage folgte 1866 in einem Sammelband un- und Hitze, indem sie durch den hohlen Stamm eines
ter dem Titel Drei Märchen, zusammen mit den Tex- Baumes in eine märchenhafte Unterwelt hinabsteigt,
ten Der Spiegel des Cyprianus und Bulemanns Haus. dort den für die Dürre verantwortlichen Feuermann
Die durch den Titel der ersten Edition als »Märchen« überwindet und die eingeschlafene Regentrude er-
markierte kurze Erzählung wurde sowohl von der öf- weckt. Durch das Aufwecken kehren Regen und
fentlichen Leserschaft als auch von den lesenden Fruchtbarkeit in ihre Heimat zurück und die Heldin
Freunden Storms und befreundeten Autoren kaum darf endlich ihre Jugendliebe Andrees heiraten, da sie
wahrgenommen, was Storm sehr missfiel. Als Grund zuvor mit dem eigenen Vater auf baldigen Regen ge-
für das ausbleibende Interesse identifizierte er in ei- wettet hat und nun Wette und Heiratsrecht gewinnt.
nem Brief an seine Verleger am 2. Februar 1873 eine Die eigentliche Handlung des Märchens ist dabei in
regelrechte ›Urangst‹ vor dem Märchen: »Bei der eine für den Realismus typische Rahmenstruktur ein-
Antipathie des Publicums gegen das Wort ›Märchen‹ gebettet, in der das Geschehen rückblickend durch ei-
– die Leute wittern dann gleich wirkliche, pure Poësie, nen anonymen Erzähler vermittelt wird. Zugleich ver-
wovor sie unglaubliche Angst haben – hätte das Buch zichtet die Erzählung zu Beginn auf klassische Mär-
einen anderen Titel haben sollen« (Storm–Paetel, 52). chenformulierungen und nimmt vielmehr eine fast
1873 veröffentlichte Storm Die Regentrude dann ein dokumentarische Position ein. So verortet der Rah-
drittes Mal in der Erzählsammlung Geschichten aus menerzähler seine Geschichte genau 100 Jahre vor
der Tonne, was das Märchen abermals mit Blick auf dem Erzählzeitpunkt und leitet die Erzählung mit der
seine Verschmähung durch die Leserschaft klassifi- detaillierten Beschreibung einer bäuerlich-ländlichen
ziert. Erst im 20. Jahrhundert, mit der Entstehung ei- Alltagsszene ein, die klare Indizien einer norddeut-
nes Marktes für Kinderliteratur, die ganz wesentlich schen Lebenswelt aufweist. Die gesamte Handlungs-
für die (Wieder-)Entdeckung zahlreicher Autoren auf motivation der Regentrude basiert auf zwei in dieser
Grund ihres Märchenschaffens einherging, kam auch Ausgangssituation bereits angelegten Kernkonflikten:
Die Regentrude gemeinsam mit Der kleine Häwelmann erstens dem Makrodrama einer großen, fast apoka-
endlich zu der Popularität, die dem Text nach Storms lyptischen Dürre, die das Weiterbestehen der dar-
Meinung schon viel früher zugestanden hätte. gestellten Welt zu bedrohen scheint. Daran gekoppelt
ist zweitens das Mikrodrama der Hauptfiguren: Ma-
ren, die Tochter des reichen Wiesenbauers darf ihren
Inhalt
›Schatz‹ Andrees nicht heiraten, da dieser der Sohn ei-
In der Weihnachtszeit des Jahres 1863 ist die ganze Fa- ner armen Witwe ist und damit dem Vater als poten-
milie Storm erkrankt – Storm selbst verbringt diese tieller Erbschleicher erscheint.
Tage in Heiligenstadt mit Fieber im Bett. Seine Krank- Das Natur- bzw. in diesem Fall das Wetterphäno-
heit hält den damals Sechsundvierzigjährigen jedoch men der großen Dürre, das die dargestellte Welt be-
nicht vom Schreiben ab, im Gegenteil: »Mit Papier u. droht, verweist dabei auch auf das im Liebeskonflikt
Bleistift stieg ich ins Bett, und schrieb in der verhange- angelegte Fehlverhältnis zwischen den sozialen Stän-
nen Stube auf der Mappe, trotz dem Doctor, unauf- den: Der Wiesenbauer macht trotz Dürre mit seinen
haltsam ein Märchen von 49 Postpapierquartseiten zahlreichen, teuer gekauften guten Wiesen noch Ge-
›Die Regentrude‹; in 12 Tagen (3 lag ich nur im Bett, winn, während der Rest der Welt die Ernte verliert
Constanze 6) hatte ich es auch schon überarbeitet und und unter Armut leidet. Auch ein Glaubensstreit ist
selbst in’s Reine geschrieben [...], Du kannst dir ein so mit der Frage nach der Ursache der Dürre und ihrer
unerbittliches Productionsfieber gar nicht vorstellen« Bewältigung verbunden. Die Mutter Andreesens be-
(Storm–Brinkmann, 133). Unter den Einflüssen die- richtet von der mythischen Gestalt der Regentrude,
ses (Schreib-)Fiebers sowie der anschließenden Bett- die sicher eingeschlafen sei und die man nur auf-
ruhe und Genesung entstehen insgesamt drei Mär- wecken müsse, um die Dürre zu beenden. Der Wie-
chentexte: Bulemanns Haus, Der Spiegel des Cyprianus senbauer hält diese Erzählung für irrationalen Aber-
und eben Die Regentrude. In einem biographischen glauben, ist aber als überzeugter Kapitalist bereit, mit

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_24, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
24 »Die Regentrude« (1864) 105

der eigenen Tochter auf seine rationale Überzeugung dem sozialen Gefälle reich und arm, aber auch mit den
zu wetten: Wenn sie die Regentrude aufwecken kann, Gegensätzen von Fortschritt und Tradition korrelie-
so darf sie Andrees heiraten. Das Paar begibt sich da- ren, welche wiederum ganz explizit mit der Oppositi-
her auf die Reise in die Unterwelt, um die Regentrude on der Naturelemente Feuer und Wasser verbunden
zu finden und ihr Glück zu machen. sind. Der Wiesenbauer und die für die Trockenheit
der Welt verantwortlich gemachte phantastische In-
stanz des Feuermannes sind folgerichtig durch ver-
Deutung
schiedene Textsignale und eine deutliche Farbseman-
Die Grundvoraussetzungen des Märchens weisen da- tik (beide tragen rot) miteinander verknüpft, während
mit klare Parallelen zu der nur sieben Jahre zuvor pu- Mutter Stine und die Urahnin als motivische Einheit
blizierten und Storm gut bekannten Erzählung Romeo mit der Regentrude eine verloren gegangene Weib-
und Julia auf dem Lande (1856) von Gottfried Keller lichkeit repräsentieren.
auf, in der ein Konflikt der Elterngeneration in einem Das junge Paar weist im Gegensatz eine wider-
ländlichen Handlungsort eine Paarbindung verhin- sprüchliche Geschlechterverteilung auf. Maren trägt
dern, was die Flucht der Kinder in einen Naturraum eindeutig männliche Attribute: Sie ist sprachlich do-
zur Folge hat. Ganz ähnliche Ereignisse finden in der minant, tatkräftig und oft fast aggressiv im Auftreten.
Regentrude statt – nur eben unter der Prämisse des Andrees hingegen tritt schweigsam und passiv auf
Märchenhaften mit einem entsprechend positiven und handelt eher durch List als durch Tat. Maren ver-
Ausgang für alle Beteiligten. Die gesellschaftlichen Pa- stößt damit als Frauenfigur sowohl gegen romantische
rallelen zwischen Kellers und Storms Text reichen in- Stereotypien als auch gegen Figurenkonventionen des
dessen noch weiter, denn das Heiratsverbot ist nicht Volksmärchens und erscheint als eine von Storm ei-
nur durch das Gefälle von Arm und Reich motiviert, gens für das Sujet eines Erzähltextes des Realismus
sondern wird durch die Problematik der Kinderliebe entworfene emanzipierte und ›realistische‹ Märchen-
verstärkt. Bereits zu Beginn des Märchens wird deut- prinzessin, die ihr Schicksal in die eigene Hand
lich, dass die beiden potentiellen Partner Maren und nimmt. Sie ist damit auch das zentrale innovative Ele-
Andrees in unmittelbarer Nachbarschaft und damit ment dieses ungewöhnlichen Märchens.
als einzige Kinder ihrer Eltern in geschwisterähn- Der Kernkonflikt ist entsprechend eng mit der Hel-
lichen Umständen miteinander aufgewachsen sind. din verbunden, denn er bedroht sowohl die realisti-
Allein dadurch – sieht man einmal vom Gefälle im so- sche Alltagswelt als auch das Gleichgewicht der Ge-
zialen Status der Eltern ab – wird eine Heirat als pro- schlechterrollen und der gesellschaftlichen Stände. Ih-
blematisch bis unmöglich markiert. Nur durch das ge- nen allen droht Dürre und Unfruchtbarkeit – wobei
meinsame märchenhafte Abenteuer kann diese Bar- letzteres hier natürlich metonymisch auch für die
riere überwunden werden. nicht gelingende Hochzeit steht. Die Reise des Paares
Der eigentliche figurale Konflikt findet sich gleich- und ihre glückliche Heirat am Ende hat daher die
wohl auf der Ebene der Elterngeneration. Während Funktion, alle zu Beginn der Geschichte dargestellten
Mutter Stine als Repräsentantin eines abergläubisch- Gegensätze aufzuheben und miteinander harmonisch
mythischen, vor allem aber verklärenden Zeitbe- zu verschmelzen. Als Oberflächenmotivation für den
wusstseins gelesen werden kann (ist sie es doch auch, Auszug in die Fremde ist dabei das Ziel genannt, die
die von ihrer Urahnin berichtet, die einst die Regen- Regentrude aufzuwecken und so auch die Wette gegen
trude aufweckte und so einen im Märchenhaften lie- den Vater zu gewinnen.
genden Lösungsansatz formuliert), verkörpert sich im Dass dabei der rettende Aufbruch des Helden erst
Wiesenbauer eine ganz auf die Ratio abstellende Fort- einmal von allen involvierten Figuren diskutiert und
schrittsgläubigkeit. Beiden Figuren ist in ihrer jewei- in Frage gestellt wird, dokumentiert die realistische
ligen Einseitigkeit die Verbindung zur Vergangenheit Perspektive des Textes, der erst dort märchentypisch
verloren gegangen; von daher leben beide in einer pre- wird, wo er mit diesem Aufbruch nicht nur die Ret-
kären Gegenwart – der Wiesenbauer durch einen tung der Welt, sondern auch die soziale Integration
Mangel an Glauben, Mutter Stine durch einen Mangel des Helden verbindet. Dementsprechend findet sich
an Besitz. in der Regentrude auch eine doppelte, einerseits mär-
Die Eltern verdeutlichen damit auch einen elemen- chentypische, andererseits realistische Handlungs-
taren Konflikt zwischen den männlichen und weibli- motivation für die Reise des jungen Paares in die Un-
chen Elementen des Textes, die wiederum eng mit terwelt: Neben der explizit märchenhaften Oberflä-
106 III Werk – B Märchen

chenmotivation – die Erlösung von der Trockenheit Trennung des Paares ist also elementar für das Gelin-
und die daran gekoppelte Legitimation der Heirat von gen des Abenteuers. Damit zeigt sich der phantasti-
Maren und Andrees – findet sich die implizite tiefen- sche Raum erneut als explizit weiblicher Raum, des-
strukturelle Motivation einer Aufhebung sozialer Un- sen äußerster Punkt auch nur von weiblichen Figuren
gerechtigkeiten. erreicht werden kann. Die Erweckung der Regentrude
Der Ort der Handlung lässt sich analog zu dieser durch Maren als ›realistische Heldin‹ im Extrempunkt
Zweiteilung in der Handlungsmotivation auch topo- der dargestellten Welt, einem Brunnen in einem Wol-
graphisch in zwei ganz märchentypischen Teilräumen kenschloss, ist damit abermals codiert durch Tiefe,
unterscheiden. Der Start- wie Endpunkt der Erzäh- Wasser und Weiblichkeit, die regelrecht befreit wer-
lung ist der topographische Ort der Heimat. Dieser den müssen, um die Alltagswelt und die Beziehung
konstituiert als Bereich der Kultur in einem bäuerlich- des Paares fruchtbar zu machen. Bemerkenswert ist
bürgerlichen Milieu einen realistischen Raum. Hier hier, dass auch die Parallelwelt von der Dürre betrof-
gelten von Textanfang bis Textende die Darstellungs- fen ist, sie fungiert also als phantastische Spiegelung
konventionen des bürgerlichen Realismus, phantasti- der Probleme der oberirdischen Welt. Dementspre-
sche Elemente dürfen darin nur im Rahmen von Figu- chend beginnt es dann auch in der Heimat zu regnen,
renreden und als von subjektiver Wahrnehmung oder als Maren mit der aufgeweckten Regentrude zusam-
großer zeitlicher Distanz verzerrte Ereignisse dar- men den unterirdischen Brunnen aufschließt und die
gestellt werden. Im Gegensatz dazu steht als zweiter Regenwolken ›befreit‹.
Raum der Naturraum in der Fremde. Dieser ist in der Dieses positive Ergebnis der Reise Marens zeigt,
Unterwelt verortet und trägt deutliche phantastische dass Die Regentrude als realistisches Märchen in klarer
Merkmale des Irrealen. Erweitert wird die Semantisie- Opposition zum romantischen Konzept von negativ
rung dieser beiden oppositionell zueinander stehen- dämonischen Wasserweibern steht. Vielmehr ist die
den Welten durch zusätzliche Attribute. So ist das Figur der Regentrude eine positive Metapher für
Reich der Regentrude mit den Elementen Wasser und Weiblichkeit, immerhin ermöglicht sie es Maren, das
Weiblichkeit, zugleich aber auch mit der Tiefe der Er- eigene weibliche Potential zu entdecken und die eige-
de sowie Absenz der Gesellschaft, Gefährdung, Tod ne Erotik in einem weiblichen Schutzraum experi-
und Phantastik konnotiert. mentell zu erfahren, was in einem Kuss zwischen der
Als textspezifische Besonderheit der Regentrude Regentrude und Maren zum Ausdruck kommt. In sei-
erweist sich dabei eine Aufteilung der Räume nach nem realistischen Märchen entwirft Storm damit ein
Gattungszuweisungen; die räumliche Trennung zwi- durchaus emanzipiertes Frauenbild, das das romanti-
schen Ober- und Unterwelt lässt sich als eine Tren- sche Initiationsmodell umkehrt und erweitert: Vor-
nung zwischen einem Erzähltext des Realismus und geführt wird eine weibliche, auf Kooperation aus-
seiner realistischen norddeutsch ländlich-bäuerli- gelegte Interaktion mit dem Phantastischen, als Mo-
chen Lebenswelt einerseits und einem Märchentext dell für eine erfolgreich gesellschaftskonforme Form
mit seiner unterirdischen, verborgenen Märchenwelt einer weiblichen Selbstfindung. Diese Integration von
andererseits lesen. phantastischer Weiblichkeit und Erotik in die Pro-
Die Grenze zwischen diesen beiden Welten ist klar tagonistin steht im deutlichen Gegensatz zu den phan-
markiert durch den trockenen Stamm einer Weide. tastischen Erzählungen der Romantik, in denen die
Die Raumbewegung der beiden Protagonisten in den Protagonisten dazu angehalten sind, ihr Selbst aktiv
Stamm hinein und hinunter in die Märchenwelt stellt von diesen Potenzialen abzugrenzen.
dabei einen aktiven Austritt aus der Gesellschaft und Das Märchenende setzt dieses harmonische Pro-
dem Elternhaus dar, beide Partner müssen für diesen gramm konsequent um: Maren und Andrees verlas-
Weg zuvor den Widerstand der Eltern überwinden. sen die Regentrude und steigen gemeinsam in einen
Der Abstieg in die Erde, der dann im Eintreten in ei- Kahn, der sie zurück in ihr Dorf bringt. Die letzten
nen phantastischen Raum mündet, lässt sich damit Szenen des Märchentextes beschreiben dann die
auch als Autonomisierung der Kindergeneration be- Hochzeit der beiden, vom Wiesenbauer abschließend
greifen. Bemerkenswert scheint es in diesem Kontext, mit dem Satz kommentiert, es sei »am Ende doch so
dass der Übergang in die Unterwelt kooperativ statt- übel nicht, wenn Höhen und Tiefen beieinander kom-
findet, indem Andrees Maren hinabträgt. Das Ende men« (LL 4, 108). In diesem Kommentar verbalisiert
des Weges innerhalb der Unterwelt aber kann aus- sich die Auflösung aller am Textanfang eröffneten
schließlich von Maren alleine erreicht werden, die Problemstellungen. So ist er erstens ein rein topogra-
24 »Die Regentrude« (1864) 107

phischer Hinweis darauf, dass durch die Heirat von tential des Phantastischen zur Aufweichung der Gren-
Andrees und Maren die Besitztümer beider Familien zen des Realismus ausschöpfen werden, kann Die Re-
und damit sowohl die hoch als auch die niedrig gele- gentrude hier als Vorstudie Storms zum Potential
genen Wiesen verbunden werden. Zugleich bestätigt phantastischer Texte gelesen werden, das er später
Marens Vater aber zweitens auch die von ihm zuvor nutzen wird, um erste Wege in die frühe Moderne zu
negierte potentielle Existenz einer Regentrude und le- suchen und zu finden.
gitimiert so die Verbindung von Ober- und Unterwelt,
Realität und Phantastik. Drittens kann diese Moral am Literatur
Textende mit Blick auf die eingangs herrschenden Bendel, Sylvia: Hochzeit der Gegensätze oder die Suche nach
problematischen Gesellschaftsstrukturen interpretiert dem Weiblichen? Wasser- und Feuerimaginationen in
Theodor Storms »Regentrude«. In: STSG 50 (2001), 65–79.
werden: Die höherstehende Instanz des Bauern lässt Conrad, Maren: Das realistische Märchen – Ein Oxymoron?
hier unter den gegebenen Umständen eine Verbin- »Die Regentrude« als experimenteller Text an den Gren-
dung von Reich und Arm sowie der zuvor klar ge- zen des Realismus. In: STSG 62 (2013), 35–53.
trennten Welten von Männlichkeit und Weiblichkeit Fasold, Regina: Romantische Kunstautonomie versus Realis-
aus pragmatischen Gründen des Selbsterhaltes zu. muskonzept um 1864. Über die Bedeutung von Storms
Märchen für seine realistische Poetik. In: Heinrich Dete-
Viertens lässt sich in dem abschließenden Satz des
ring/Gerd Eversberg (Hg.): Kunstautonomie und literari-
Wiesenbauers auch ein metatextueller Kommentar er- scher Markt. Konstellationen des Poetischen Realismus.
kennen, der sowohl explizit das realistische Pro- Berlin 2003, 65–82.
gramm, den Mittelweg oder Durchschnitt darzustel- Freund, Winfried: Rückkehr zum Mythos. Mythisches und
len, adressiert, als auch implizit die Darstellung von symbolisches Erzählen in Theodor Storms Märchen »Die
Extremen und des Phantastische legitimiert, wenn Regentrude«. In: STSG 35 (1986), 38–47.
Hansen, Hans-Sievert: Narzißmus in Storms Märchen. Eine
diese am Ende zu etwas Realistischem verschmelzen.
psychoanalytische Interpretation. In: STSG 26 (1977), 37–
Die Regentrude ist daher weit mehr als das von der 56.
Forschung oft behauptete kindlich-eskapistische Mo- Roebling, Irmgard: Prinzip Heimat – eine regressive Utopie?
ment im Werk Storms. Vielmehr lässt sich das ›realis- Zur Interpretation von Theodor Storms »Regentrude«. In:
tische Märchen‹ als Oxymoron im Sinne einer Kom- STSG 34 (1985), 55–66.
bination von nur scheinbar einander widersprechen- Scherer, Gabriela: Theodor Storm. »Die Regentrude«. In:
Rolf Tarot (Hg.): Kunstmärchen. Erzählmöglichkeiten von
den Elementen lesen. Die Regentrude stellt einen frü- Wieland bis Döblin. Bern 1993. 217–229.
hen literarischen Versuch Storms dar, unter dem Tax, Petrus: Storms »Die Regentrude« – auch »eine nach-
Deckmantel der Märchenerzählung mit den Möglich- denkliche Geschichte«. In: Modern Language Notes 97
keiten des Phantastischen innerhalb des Realismus zu (1982), 615–635.
experimentieren. Da Storms Texte später das volle Po-
Maren Conrad
108 III Werk – B Märchen

25 »Der Spiegel des Cyprianus« weisen Cyprianus gewendet, den sie nach einer Kriegs-
(1864) verwundung, offenbar im Dreißigjährigen Krieg, ge-
pflegt hatte. Aus Dankbarkeit dafür lässt dieser ihr ei-
nen Spiegel zukommen, den sie »nach Frauen Art« (LL
Entstehung
4, 136) gebrauchen solle, dann werde sich ihr Wunsch
Der Spiegel des Cyprianus entstand nach Die Regentru- erfüllen. Zugleich jedoch schickt er ihr eine Warnung,
de und Bulemanns Haus als letztes der drei von Storm dass niemals »das Bild einer argen Tat« (136) in den
als zusammengehörig betrachteten Märchen im Jahr Spiegel fallen dürfe, sonst würde dieser das geschehene
1864. Nachdem Storm die Arbeit an dem Märchen zu Unrecht an den Kindern rächen. Tatsächlich bringt die
Beginn des Jahres aufgenommen hatte, wurde sie je- Gräfin bald einen Sohn namens Kuno zur Welt, stirbt
doch aufgrund der politischen Lage in Schleswig-Hol- jedoch kurz darauf unerwartet. Der Spiegel wird ver-
stein und auch wegen Storms Ernennung zum Land- hüllt und in einem entlegenen Teil des Schlosses auf-
vogt von Husum für mehrere Monate unterbrochen. bewahrt. Der Graf heiratet erneut und hat mit seiner
Erst im November 1864, nachdem er zuvor noch die zweiten Frau einen weiteren Sohn, Wolf. Bald jedoch
Novelle Von Jenseit des Meeres beendet hatte, stellte kommt der Vater bei einem Jagdunfall zu Tode, wobei
Storm schließlich Der Spiegel des Cyprianus fertig. angedeutet wird, dass ein der neuen Gräfin ergebener
Anders als Die Regentrude und Bulemanns Haus Obrist namens Hager die Schuld daran trägt. Die Grä-
wurde Der Spiegel des Cyprianus für die Veröffent- fin lässt durch Hager auch ihren Stiefsohn töten, um
lichung in Webers Illustrirter Zeitung von diesem ihrem eigenen Sohn das Erbe zu sichern. Das Verbre-
überraschend abgelehnt, sodass das Märchen erst chen geschieht vor dem Spiegel des Cyprianus. Dieser
rund ein Jahr nach Fertigstellung im Dezember 1865 rächt den Kindermord auf geheimnisvolle Weise, in-
Der Bazar erstmals publiziert wurde. In dieser Version dem er kurz darauf den Tod Wolfs verursacht. Die Grä-
wurde die Passage am Ende, in der die baldige Geburt fin verdächtigt Hager auch dieses Mordes und wird
eines weiteren Kindes angekündigt wird, aufgrund selbst von ihm erschlagen. Hager verschwindet und
moralischer Bedenken im Hinblick auf die vorwie- Schloss und Titel gehen an eine Seitenlinie, aus wel-
gend weibliche Leserschaft der Zeitschrift ohne das cher der gegenwärtige Graf stammt. Dessen zweite
Wissen Storms gestrichen. In dem fast zeitgleich er- Frau, die Gräfin der Rahmenhandlung, ihrerseits eine
schienenen Band Drei Märchen ist Der Spiegel des Cy- Nachfahrin der Mörderin, ermöglicht am Ende durch
prianus vollständig enthalten. ihre fürsorgliche Liebe die Genesung des kranken
Als Quelle für Der Spiegel des Cyprianus diente Stiefsohnes. Indem sie den Spiegel dabei im Zimmer
Storm die Ballade Die Herzogin von Orlamünde aus aufstellen lässt, beendet sie auch den auf ihrer Familie
Achim von Arnims Des Knaben Wunderhorn (1805– lastenden Fluch. Zuletzt verkündet der Spiegel ihr die
1808). Hier lässt die Herzogin in der Hoffnung auf die baldige Geburt eines eigenen Kindes.
Ehe mit einem Grafen ihre eigenen Kinder von einem
zwielichtigen Helfer namens Hager töten. Wie bei
Deutung
Storm versuchen die Kinder vor ihrem Tod vergeb-
lich, den Mörder durch das Versprechen ihrer Länder- Storm verwendet in Der Spiegel des Cyprianus zahlrei-
eien bzw. ihres Spielzeugs umzustimmen. Den Namen che Motive, die aus den Volksmärchen bekannt sind.
des Cyprianus entlehnte Storm einer lokalen Sage; die Dazu gehören die adeligen Handlungsträger, der ma-
der Söhne Kuno und Wolf dem Märchen Der Zauber- gische Gegenstand, das Ehepaar, dessen Kinder-
krug von Friedrich Wilhelm Hackländer. wunsch nur unter besonderen Bedingungen erfüllt
wird. Auch der Lohn der guten und die Strafe der
schlechten Tat sowie die Warnung vor etwas, das auf
Inhalt
keinen Fall geschehen darf und notwendigerweise
In der Rahmenhandlung sitzen eine alte Dienerin und trotzdem geschieht, sind in der Überlieferung be-
eine Gräfin am Bett eines an einer rätselhaften Krank- kannt (wie etwa das Verlassen des Pfades im Wald in
heit leidenden Kindes. Die Gräfin, seine Stiefmutter, Rotkäppchen). Mit diesen Anleihen knüpft Storms
hört von der Dienerin eine Geschichte über die Fami- Kunstmärchen an die Tradition der Volksmärchen an.
lie ihres Mannes. Vor langer Zeit hatte sich eine beim Darüber hinaus enthält Der Spiegel des Cyprianus
Volk wegen ihrer Mildtätigkeit beliebte, aber kinder- auch Verweise auf das Genre des Schicksalsdramas
lose »gute Gräfin« mit ihrem Kinderwunsch an den um 1800. Kennzeichnend für diese sind durch die

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_25, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
25 »Der Spiegel des Cyprianus« (1864) 109

Schuld an einem Verbrechen begründete Geschlech- der Binnenhandlung eine weitere Verknüpfung beider
terflüche, die sich auf die Nachkommen späterer Ge- Welten. Diese Durchdringung des Realen mit dem
nerationen auswirken und auf diese Weise für späte Übernatürlichen ist ein wesentliches Kennzeichen der
Gerechtigkeit sorgen. Ähnlich wie im Schicksalsdra- romantischen Literatur, an die Storm hier anknüpft.
ma ist auch bei Storm die reguläre Ordnung der Welt Insbesondere die unerwartete Verwandtschaft der
durch ein begangenes Unrecht gestört, sodass nur Protagonisten erinnert an das romantische Märchen,
übernatürliche Kräfte die Schuld sühnen können etwa an Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert (1797). Die
(man denke etwa an Zacharias Werners Drama Der Entlehnungen aus Arnims Die Herzogin von Orla-
vierundzwanzigste Februar aus dem Jahr 1808 oder münde sind ein weiterer Bezug zur Romantik. Nicht
Adolf Müllners Die Schuld von 1813). Auch der in die- allein wesentliche Handlungselemente und den Na-
sen Dramen regelmäßig enthaltene ›verhängnisvolle men der Figur Hager hat Storm von Arnim übernom-
Gegenstand‹ ist bei Storm durch den Spiegel vertreten, men, sondern sogar Teile des Dialogs zwischen dem
der bei allen wesentlichen Wendepunkten der Hand- Grafensohn Kuno und seinem Mörder, wenn das Kind
lung eine Rolle spielt. Der Spiegel wird zu einer rä- mit Versprechungen sein Leben zu retten versucht:
chenden, gesetzähnlichen Instanz in einem Moment, »Laß mich leben; ich schenke Dir mein kleines Nord-
in dem nach dem Tod der rechtmäßigen Schlossher- landroß und auch das schöne rote Sattelzeug!« (148)
ren kein menschliches Recht mehr gültig ist. Dem zu- Neben diesen Anleihen an die Romantik in Der
grunde liegt eine Weltsicht, nach der dem Chaos auf Spiegel des Cyprianus enthält Storms Märchen jedoch
Erden eine übernatürliche Ordnung gegenübergestellt auch Kennzeichen, die für die realistische Epoche ty-
ist, die am Ende die gestörten Verhältnisse korrigiert. pisch sind. Dazu zählt vor allem die soziale Komponen-
Im Falle Storms kann dies als Ausdruck der Sehnsucht te, etwa das Gefälle zwischen Arm und Reich. So schei-
nach einer stabilen metaphysischen Weltordnung ge- tert die schon angebahnte Eheschließung des Grafen
lesen werden, die an der Schwelle der Moderne zuse- mit dem »wenig begüterten Fräulein« in der Rahmen-
hends ins Wanken geraten war. Zugleich jedoch ist bei handlung zunächst an deren geringem Vermögen
Storm, anders als in den Schicksalsdramen, die Mög- (132). Außerdem gewinnt die »gute Gräfin« der Bin-
lichkeit gegeben, den fatalen Kreislauf durch eigenes nenhandlung diesen Namen aufgrund ihrer Wohl-
Agieren zu durchbrechen. Die Gräfin der Rahmen- tätigkeit den Armen gegenüber, die sie in ihren Behau-
handlung setzt durch ihre Güte den auf ihrer Familie sungen besucht (133). Die »gute Gräfin« ist damit eine
lastenden Fluch außer Kraft, sodass sich das durch Wanderin zwischen den Welten des Adels und der är-
den Spiegel katalysierte Schicksal schließlich doch meren Bevölkerung, die ansonsten in dem Märchen
nicht als unabänderlich erweist: Das »unerklärliche keine Rolle spielt. Noch deutlicher wird der Gegensatz
Siechtum« (132) des Kindes in der Rahmenhandlung zwischen den beiden parallelen Welten, als das nahege-
kann auf ebenso übernatürliche Weise geheilt werden. legene Dorf von einer Krankheit heimgesucht wird:
Der Spiegel ist in diesem Sinne nicht allein eine rä- »Mit dem Herbst fiel ein böses Fieber über das Dorf;
chende, sondern auch eine korrigierende Instanz. die Menschen starben; doch ehe sie starben, lagen sie
Die Angehörigen der Familie sind über Generatio- verschmachtend und hülfeflehend auf ihrem Lager«
nen hinweg durch den Spiegel in einen gemeinsamen (139). Die »gute Gräfin« versucht zu helfen, steckt sich
Bedeutungszusammenhang gesetzt. Der konkrete Ge- jedoch an und stirbt kurz darauf selbst an der Seuche.
genstand, zunächst nur ein phantastisches Element in Anders als in der Rahmenhandlung wird die Hilfs-
der Erzählung der Dienerin, beglaubigt deren Ge- bereitschaft der Protagonistin in der Binnenhandlung
schichte, als er gegen Ende der Rahmenhandlung tat- dieser zum Verhängnis. Während die rätselhafte
sächlich im Zimmer aufgestellt wird. Die Märchen- Krankheit des Kindes in der Rahmenhandlung eine –
erzählung der Binnenhandlung tritt in die Welt der moralisch zwar durchaus fragwürdige – übernatürli-
Rahmenhandlung über, sodass die Grenzen von che Strafe für das Verbrechen seiner Ahnen darstellt, ist
Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. In Der die Erkrankung der »guten Gräfin« nicht zu erklären.
Schimmelreiter (1888) bedient sich Storm desselben Ihr sinnloser Tod im Dienst einer guten Sache stellt das
Mittels, wenn der geisterhafte Reiter dem Erzähler der durch den Spiegel etablierte geordnete Weltbild, nach
Rahmenhandlung auf dem Deich begegnet. Zugleich dem gute Taten belohnt und schlechte bestraft werden,
besteht in Der Spiegel des Cyprianus aufgrund der sich wieder in Frage. Selbst in einer märchenhaften Welt, in
überraschend erweisenden Verwandtschaft der Grä- der gute Zauberer und magische Spiegel auftreten, gibt
fin der Rahmenhandlung mit der ›bösen‹ Stiefmutter es auch Armut, Krankheit und unverschuldetes Leid.
110 III Werk – B Märchen

Storm gestaltet das Spiegelmotiv in Der Spiegel des phantastische Erzählung tief in der Vergangenheit ver-
Cyprianus auf der inhaltlichen wie auf der strukturel- ortet schien, erweist sich angesichts des aus der Rum-
len Ebene in komplexer Weise aus, wobei er verschie- pelkammer hervorgeholten Spiegels als überraschend
dene Aspekte des Motivs aufgreift. So ist der Spiegel zu- gegenwärtig. Der Spiegel fungiert gewissermaßen als
nächst ein geheimnisvolles Artefakt, das die Zukunft das genealogische Gedächtnis der adeligen Familie.
vorhersagen und Abwesendes sichtbar machen kann Schließlich findet sich das Spiegelmotiv auch in der
(mit dieser Eigenschaft ist er ein entfernter Verwandter erzählerischen Technik des Märchens, wenn die Bin-
des magischen Spiegels in Grimms Schneewittchen). Er nenhandlung die Rahmenhandlung mit umgekehrtem
zeigt der »guten Gräfin« in der Binnenhandlung ein Vorzeichen wiedergibt: In letzterer wird eine negative
schlafendes Kindergesicht, um ihr die baldige Geburt Gräfin von einer positiv konnotierten Figur abgelöst,
ihres Kindes anzukündigen: »[In] der Frühlingssonne, die durch die doch noch erfolgte Heirat mit dem Grafen
die hell in den Spiegel leutete [sic], erkannte sie deut- ihr Recht erhält und aufopfernd für ihr krankes Stief-
lich ein schlummerndes Kinderantlitz, das aus dem kind sorgt. In der Binnenhandlung dagegen ist die erste
Rosenwölkchen blickte« (138). Der Vater hingegen Ehefrau ›gut‹ und die zweite eindeutig ›böse‹, da sie den
sieht ein weinendes Kind im Spiegel, das zwar ebenfalls Tod ihres Stiefkinds und vermutlich auch den ihres
Nachkommen verheißt, zugleich jedoch auch das zu- Mannes veranlasst. Storm setzt hier das aus zahlreichen
künftige Leid in der Familie vorhersagt. Es überrascht Märchen bekannte Motiv der Stiefmutter ein und ent-
etwas, dass die Gräfin an dieser dunklen Vorhersage wickelt es weiter, indem er die scheinbar notwendige
keinen Anteil hat, da sie doch selbst bereits ein halbes Zuordnung der biologischen Mutter als gut und der
Jahr nach der Geburt sterben wird. Stiefmutter als böse auflöst. Indem die Stiefmutter der
Dem wundertätigen Spiegel des Cyprianus steht Rahmenhandlung dieser Zuordnung nicht entspricht,
ein »Handspieglein [...] an güldner Kette« (142) ge- kann sie zugleich den auf ihrer Familie lastenden Fluch
genüber, das die ›böse Gräfin‹ am Gürtel trägt. Hier auflösen. Insgesamt ist in der Gestaltung der vier Grä-
greift Storm auf die traditionelle Deutung des Spiegels finnen eine klare Unterteilung in zwei Typen erkenn-
als Symbol der Vanitas zurück, das bei dem magischen bar. Auf der einen Seite stehen die ›guten Gräfinnen‹.
Spiegel keine Rolle spielt: Der tragbare Spiegel fun- Beide stellen mit ihrer Kinderliebe sowie ihrer auf-
giert als Attribut der Schönheit und Eitelkeit der ›bö- opfernden Pflege der Armen und Kranken Idealbilder
sen Gräfin‹. Dieser Symbolcharakter wird noch ver- weiblicher Häuslichkeit und Nächstenliebe dar. Auf der
stärkt durch das kostbare Metall der Kette, während anderen Seite erscheinen die beiden Negativbeispiele
der magische Spiegel nur einen Rahmen aus Bronze als unaufrichtig und berechnend. Sie setzen ihre Schön-
hat (vgl. 137). In den Händen der negativen Figur wird heit gezielt zur Manipulation ein und verführen den je-
auch der Spiegel zu einem negativ konnotierten In- weiligen Grafen zu einer für diesen unvorteilhaften
strument. oder sogar verhängnisvollen Ehe. Bei Ankunft der ›bö-
Der Spiegel des Cyprianus hat darüber hinaus auch sen Gräfin‹ in der Binnenhandlung wird von vorn-
eine Gedächtnisfunktion inne. Als ›Zeuge‹ des Mordes herein deutlich, wie sehr sie sich von ihrer Vorgängerin
an Kuno bewahrt er das Ereignis auf geheimnisvolle unterscheidet, sowohl in ihrer Vorliebe für Luxus als
Weise auf und vollzieht selbst die Rache an dem un- auch in ihrem Aussehen: »Endlich [...] langten nach-
schuldigen Wolf. Als die ›böse Gräfin‹ nach dem Tod einander viele Kisten mit kostbaren Teppichen, gold-
ihres Sohnes in den Spiegel sieht, erkennt sie ihrerseits gepreßten Ledertapeten und allerart modischen Din-
»die Gestalt eines Kindes; wie trauernd kauerte es am gen an, wie es vom Gesinde dort nie zuvor gesehen war
Boden und schien zu schlafen« (151). Hier wiederholt [...]. Es [die Gräfin] ist ein Füchschen mit goldrötlichem
sich die Vision der »guten Gräfin« im Negativen: wäh- Haar, wie sie den Männern, insonders den älteren, so
rend das schlafende Kind zukünftiges Leben verhieß, gefährlich sind« (141). Äußere Attraktivität, Eitelkeit
zeigt das trauernde Kind den Tod an. Der ›guten Grä- und Machtwille der neuen Frau stehen innerer Schön-
fin‹ in der Rahmenhandlung wiederum erscheinen die heit, Mildtätigkeit und Aufopferung der verstorbenen
toten Kinder als Engel, das von ihr gepflegte kranke gegenüber. Diese Aufteilung in ›gute Frau‹ und ›böse
Kind als gesund, und schließlich auch die Ankündi- Frau‹ reproduziert altbekannte geschlechterspezifische
gung eines eigenen Sohnes. Bis in die Gegenwart der Stereotype, die weibliche Attraktivität und Ambition
Rahmenhandlung hinein konserviert der Spiegel also als problematisch empfinden, während die Vorstellung
die Erinnerung an das von der Dienerin erzählte Ge- einer ›guten Frau‹ weitgehend deckungsgleich mit ei-
schehen und beglaubigt dieses zugleich. Was zuvor als ner ›guten Hausfrau und Mutter‹ ist.
25 »Der Spiegel des Cyprianus« (1864) 111

Trotz dieser traditionellen Einteilung fällt auf, dass Storms Märchen und seinem übrigen Prosawerk.
die Handlung in Der Spiegel des Cyprianus stark von Zeitgenössische Stimmen standen dem Genre Mär-
den Frauenfiguren bestimmt ist, während die jewei- chen insgesamt kritisch gegenüber, und auch Storms
ligen Grafen wenig mehr zu tun haben als Ehen zu drei Märchen wurden zunächst eher ablehnend auf-
schließen: Die »gute Gräfin« der Binnenhandlung ka- genommen. Jedoch bot das Genre Storm die Möglich-
talysiert mit ihrem Kinderwunsch das Geschehen, ih- keit, psychologische Themen literarisch zu gestalten,
re ›böse‹ Nachfolgerin lädt den Fluch auf sich und ihre die später auch in seinen Novellen auftreten, darunter
Nachkommen, und die ›gute‹ Gräfin der Rahmen- vor allem das Motiv der über mehrere Generationen
handlung sorgt für den glücklichen Ausgang. Auch gefährdeten oder zerstörten Familie (Fasold 2003).
der Spiegel ist ein eindeutig weiblich konnotiertes Me- Zudem besteht aufgrund des sozialen Konflikts in
dium. Indem ein für den weiblichen Privatbereich be- dem Märchen eine enge Verwandtschaft zwischen
stimmter Gegenstand eine so wesentliche Funktion diesem und Storms übrigen erzählerischen Werken.
für den Fortgang der Handlung übernimmt, werden Der offenkundige Gegensatz zwischen Arm und
die engen Grenzen der traditionellen weiblichen Reich in Der Spiegel des Cyprianus kann als ein Ur-
Sphäre von Haushalt und Kindererziehung erweitert. sprung des zugrundeliegenden Konflikts verstanden
Nachdem er nämlich die Sehnsucht der »guten« Grä- werden (Schuster 1990).
fin nach einem Kind erfüllt hatte, dient der Spiegel zu-
sätzlich der Sühne und der Wahrheitsfindung und Literatur
vergrößert damit seinen ›Zuständigkeitsbereich‹ be- Fasold, Regina: Romantische Kunstautonomie versus Realis-
trächtlich. Auch hier ist es wiederum eine weibliche muskonzept um 1864. Über die Bedeutung von Storms
Märchen für seine realistische Poetik. In: Heinrich Dete-
Figur, durch die diese erweiterte Funktion des Spiegels ring/Gerd Eversberg (Hg.): Kunstautonomie und literari-
zur Anwendung kommt. Der Spiegel ist demnach ma- scher Markt. Konstellationen des Poetischen Realismus.
gisches Artefakt und Medium weiblicher Handlungs- Berlin 2003, 65–81.
fähigkeit zugleich. Freund, Winfried: Literarische Phantastik. Die phantastische
Novelle von Tieck bis Storm. Stuttgart/Berlin/Köln 1990.
Schuster, Ingrid: Theodor Storm: die zeitkritische Dimension
Forschung seiner Novellen. Bonn 1971.

Es gibt vergleichsweise wenige wissenschaftliche Ar- Dagmar Paulus


beiten zu Der Spiegel des Cyprianus. Ein Gegenstand
der Diskussion ist die Frage nach dem Verhältnis von
C Sagen und Spuk

26 »Neues Gespensterbuch« auf einem sogenannten »Gesellschaftsabend« seines


(1843–48) Gesangvereins (wovon Storm seinem Sohn Hans in ei-
nem Brief vom 22.4.1864 berichtet) oder am Silvester-
abend 1882 in Hademarschen (in Anwesenheit seines
Storm hatte ein besonderes Verhältnis zu allem Spuk- Freundes Erich Schmidt, der sich erinnert, dass Storm,
haften und Gespenstischen. Seine Tochter Gertrud, um die Wahrheit der Geschichte zu unterstreichen,
seine erste Biografin, meinte sogar, dass ihr Vater »ein zum Schluss »mit kräftiger Faust auf den Tisch schlug,
wenig an Geister und Spuk« geglaubt habe (Storm daß die Gläser tanzten«; Schmidt 1886, 478).
1922, 45). Storm selbst jedoch versicherte Gottfried Ferdinand Tönnies berichtet, dass Storm mit ihm
Keller gegenüber, dass er nicht an »Un- oder Ueberna- gerne über »geheimnisvolle Dinge« gesprochen habe,
türliches glaube«, jedoch der Meinung sei, »daß das und ist der Meinung, dass »das Geister- und Gespen-
Natürliche [...] bei Weitem noch nicht erkannt« sei sterwesen, der Spuk und Aberglaube [...] nicht nur sei-
(Storm–Keller, 92). In seiner Jugend hat Storm mit nen poetischen Reiz« für ihn hatten, sondern dass er
höchster Aufmerksamkeit den Geschichten der Bä- sogar der Ansicht war, dass »es noch unerkannte Kräf-
ckerstochter Lena Wies gelauscht, »mochte es nun die te der menschlichen Seele gebe« (Tönnies 1917, 59).
Sage von dem gespenstigen Schimmelreiter sein oder So spielt das spukhafte Element auch in den No-
eine aus dem Wochenblatt oder sonstwie aufgelesene vellen eine wichtige Rolle, z. B. in der Novelle Eeken-
Geschichte« (LL 4, 179). Auch die Erinnerung an die hof, in der die Mutter des Helden aus dem Rahmen
»ganz deutliche Erscheinung« des »Niß Puk« bestätigt ihres im »Saal« aufgehängten Bildes tritt und den
Storms frühes Interesse an Spukgestalten (268 f.). Sohn so vor der drohenden Gefahr warnt. Oder in
Storms Interesse an Gespenstischem war so groß, Zur Chronik von Grieshuus, wo die »schlimmen Ta-
dass er selbst bis ins hohe Alter Spukgeschichten vor- ge« den Wildmeister an den Brudermord erinnern,
getragen hat. Schon seine Kinder hat er damit unter- den er begangen hat., Eine besondere Rolle spielt die
halten, dass er Spukgeschichten – abgewandelt und für »dunkle Gestalt« im Schimmelreiter, die auf einem
Kinder zugeschnitten – erzählt hat. Seine Tochter Ger- »hochbeinigen hageren Schimmel« immer dann er-
trud berichtet (Storm 1922, 50), dass der Vater mit- scheint, wenn Gefahr droht. Dabei war Storm sich
unter unmittelbar vor dem Zubettgehen eine »herr- bewusst, dass es schwierig ist, »eine Deichgespenst-
liche Spukgeschichte« erzählt habe (heute – nach der sage auf die vier Beine einer Novelle zu stellen«
Entdeckung des Neuen Gespensterbuch-Manuskripts – (Storm–Heyse III, 140).
lässt sich nachweisen, dass es die Geschichte Die Pfarre Dass Storm selbst Spukgeschichten gesammelt und
aus seinem eigenen Gespensterbuch war; Nr. 2). seine Sammlung zum Druck vorbereitet hat, ist lange
Aber auch seinen Freunden hat Storm nicht selten völlig unbekannt geblieben. Erst im Jahre 1969 wurde
Spukgeschichten vorgetragen. Theodor Fontane er- das Manuskript eines Neuen Gespensterbuchs, das
innert sich, dass »eh es losging«, »alle Thüren« abge- Storm zum Druck vorbereitet hatte, im Besitz einer
riegelt wurden, »die Lampe ein wenig niedriger« ge- Enkelin des Dichters entdeckt.
schraubt wurde: »und nun las er. Ja wie. So ist nie gele- Die Spukgeschichtensammlung verdankt ihre Ent-
sen worden. Er kannte die Sachen auswendig und stehung der Tatsache, dass Storm und Theodor
hatte sie so zu sagen in Musik gesetzt [...]« (Storm– Mommsen ihr 1843 im Sinne der Brüder Grimm be-
Fontane, 172). gonnenes Projekt, Schleswig-Holsteinische Sagen zu
Immer wieder und gern hat Storm die Spuk- sammeln, 1844 aber dem jungen Germanisten Karl
geschichte von »Herrn von Hönemann« vorgetragen; Müllenhoff überlassen haben (vgl. u. a. Storm–

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_26, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
26 »Neues Gespensterbuch« (1843–48) 113

Mommsen, 99 f.). Storm hat daraufhin eine eigene 5. Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, hg. v. Carl
Sammlung begonnen, wie aus einer Anfrage Storms Philipp Moritz. Berlin 1783.
vom 1.3.1845, die er an Müllenhoff richtet, hervor- Jung-Stillings Theorie der Geister-Kunde stand – wie
geht: »Sind nicht unter den Manuskripten, die ich Ih- nachgewiesen werden konnte – im Bücherschrank
nen gesandt, Gespenstergeschichten, und wenn, wol- des Dichters. Eine Geschichte ist sogar Ciceros Schrift
len Sie mir diese nicht mit nächster Fahrpost sen- De divinatione entnommen (unter dem Titel »Zwei
den?« (GB 1, 72; Müllenhoff hat die von ihm, von merkwürdige Träume«; Nr. 60). Der Handschrift
Theodor Mommsen, Theodor Storm und anderen ge- nach stammen von den 69 abgeschriebenen Spuk-
sammelten Sagen herausgegeben unter dem Titel Sa- geschichten 26 von Storm selbst und vier von seiner
gen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Frau Constanze.
Holstein und Lauenburg, Kiel, Schwers’sche Buch- Eine nähere Untersuchung des handschriftlichen
handlung 1845). Manuskripts kommt zu dem Ergebnis, dass das vor-
Storm hat dann eine eigene Sammlung begonnen. liegende Manuskript für den Druck vorbereitet ist. Es
Diese hat er Neues Gespensterbuch genannt, als Unter- finden sich am Rand der Texte nämlich Verbesserun-
titel noch hinzugefügt: »Beiträge zur Geschichte des gen, die von Storm vorgenommen sind; z. B. korrigiert
Spuks«. Damit wollte er sich offenbar von literari- er »Brenckenburg« in »Brenckenhof« (Nr. 28) oder
schen und fingierten Spukgeschichtensammlungen verbessert »weiße Hand« in »bleiche Hand« (Nr. 52).
absetzen. Seine Sammlung sollte in erster Linie selbst Sogar kurze, stichwortartige Anweisungen für den
erlebte oder nachweislich selbst erlebte Spukgeschich- »Setzer« (so wörtlich!) bzw. für den Verlag sind an ei-
ten umfassen. Im Inhaltsverzeichnis, von ihm »Regis- nigen Stellen des Manuskripts erhalten.
ter« genannt, sind insgesamt 69 Spukgeschichten ver- Man fragt sich deshalb: Warum hat Storm das
zeichnet und die Geschichten, die »zum ersten Mal« sorgfältig für den Druck vorbereitete Manuskript
»nach mündlicher Überlieferung« oder »nach der Er- nicht veröffentlicht? Da das Manuskript im Jahre
zählung glaubwürdiger Augenzeugen« abgedruckt 1848 abgeschlossen vorlag (aus diesem Grunde hat
sind, werden im Register mit einem Stern (*) beson- Storm wohl die ihm im Brief von Doris Stamp vom
ders hervorgehoben. Die Echtheit seiner Spukge- 6.2.1848 [unveröffentlicht in der SHLB Kiel] angebo-
schichten hat Storm darüber hinaus dadurch beglau- tene in »Fedder Eddings Hause« spielende Spuk-Ge-
bigt, dass er einzelne Erzähler mit Namen oder doch schichte nicht mehr angenommen), können es äußere
mit Namenskürzel nennt, von denen sich freilich heu- Gründe gewesen sein, die einer Veröffentlichung ent-
te nicht mehr alle auflösen lassen. Manche sind indes- gegenstanden. Wahrscheinlich war es wegen der 1848
sen zu entschlüsseln: So ist z. B. die Autorschaft einer und danach ausbrechenden politischen Unruhen
ganzen Reihe von Geschichten durch »D. St.«, das ist nicht möglich, einen Verlag für das Gespensterbuch
Doris Stamp, eine Bekannte des Dichters, gekenn- zu finden. Außerdem fehlte dem Lesepublikum in
zeichnet; andere Geschichten werden z. B. »Ch. v. K.«, dieser unruhigen Zeit das Interesse an Spukgeschich-
das ist Charlotte von Krogh, der Tochter des Amtman- ten. Und Storm selbst war 1848 und in den nachfol-
nes von Husum zugeordnet. Aber auch bekannte, ver- genden Jahren in anderer Weise engagiert: Er enga-
lässliche literarische Quellen werden benutzt, wie gierte sich für eine politische Neuordnung in Schles-
z. B.: wig-Holstein, wie die Gedichte Halbe Arbeit und Ge-
1. Monatliche Unterredungen von dem Reiche der segnete Mahlzeit und seine Unterschrift unter die
Geister. 18 Stück. Leipzig 1731–1741. »Petitionen« vom 21.1. und 4.4.1849 deutlich machen
2. Museum des Wundervollen oder Magazin des Au- (vgl. Laage 2003, 40 ff.). Vor allem aber war es wohl
ßerordentlichen in der Natur, Kunst und im Men- die eigene Dichtung, etwa die Novellen Im Saal (1848)
schenleben, hg. v. J. A. Bergk und F. G. Baumgärt- und Immensee (1849), die Ende der 1840er Jahre das
ner, 12 Bände. Leipzig 1803–1810. Interesse und die Arbeitskraft Storms in Anspruch
3. Jung-Stilling, Johann Heinrich: Theorie der Geis- nahmen.
ter-Kunde. Was von Ahnungen, Gesichten und So blieb das Manuskript des Neuen Gespenster-
Geistererscheinungen geglaubt oder nicht geglaubt buchs ungedruckt im Schreibtisch des Dichters liegen,
werden müße. Nürnberg 1808. überdauerte alle Umzüge von Husum nach Potsdam
4. Denkwürdigkeiten aus dem Leben eines Geschäfts- und Heiligenstadt, zurück nach Husum und zuletzt
mannes, Dichters und Humoristen, hg. v. J. L. nach Hademarschen; und überstand schließlich auch
Schwarz. Leipzig 1828. alle Nachlass-Ansprüche der Kinder und Enkel.
114 III Werk – C Sagen und Spuk

Storm hat zu seinen Lebzeiten – soviel wir wissen – Literatur


keine Versuche unternommen, das Manuskript doch Laage, Karl Ernst: Theodor Storms öffentliches Wirken. Heide
noch bei einem Verlag unterzubringen. Nur einmal 2003.
Laage, Karl Ernst: Theodor Storms »Neues Gespensterbuch.
hat er das »Gespensterbuch-Manuskript« aus der Beiträge zur Geschichte des Spuks«. Heide 2011.
Schublade seines Schreibtisches hervorgeholt, als er Schmidt, Erich: Charakteristiken. Berlin 1886.
1861, also in Heiligenstadt, die Aufforderung von der Storm, Theodor: Neues Gespensterbuch. Hg. v. Karl Ernst
Redaktion des Bazar und von der Victoria-Zeitschrift Laage, erstmals erschienen als Insel-Taschenbuch
erhielt, einen Beitrag für eine »Probennummer« zu Nr. 1346. Frankfurt a. M./Leipzig 1991; später Heide 2011.
Storm, Gertrud: Vergilbte Blätter aus der grauen Stadt. Re-
liefern. Damals hat er die Gespensterbuch-Geschichte
gensburg/Leipzig 1922.
Nr. 7 (»Die verhängnisvolle Stelle«), Nr. 32 (»Der Ge- Tönnies, Ferdinand: Theodor Storm. Gedenkblätter. Berlin
spensterbesen«) und Nr. 52 (»Tod der Mutter«) zur 1917.
Grundlage einer Geschichtensammlung gemacht, die
er Am Kamin nannte (s. Kap. III C.26). Karl Ernst Laage
27 »Am Kamin« (1862) 115

27 »Am Kamin« (1862) in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten


(1795) findet, kommt eine ganz spezifische historische
Entstehung
Funktion zu: Die in den Binnenerzählungen sich zei-
Der Erzählreigen Am Kamin erschien im Februar genden Phänomene sollen auf ihre konkrete gesell-
1862 in der »Illustrirten Muster- und Modezeitung« schaftliche Bedeutung, nicht zuletzt ihren Platz in ei-
Victoria. Storm hat den Zyklus sehr geschätzt, konnte nem moralischen oder epistemologischen Wertesys-
ihn aber nicht in seine Gesammelten Schriften aufneh- tem hin befragt werden. Man findet diese Erzählgrup-
men, da der Herausgeber der Victoria ihm weder das pen dementsprechend meist in Schwellensituationen
Manuskript zurücksandte noch die Druckfassung zu- wieder, in Momenten der Krisis (bei Boccaccio dem
kommen ließ (Storm–E.Storm, 52; Storm–Pietsch, von der Pest befallenen Florenz, bei Goethe der Be-
77). Wiederabgedruckt wurde der Text erst im 1913 lagerung von Mainz durch die französischen Truppen
erschienenen Nachtragsband der von Fritz Böhme 1793), also dort, wo Gesellschaften vor dem Untergang
verantworteten Werkausgabe. Sieht man von der klei- stehen und neue soziale Ordnungen heraufziehen,
nen Erzählung Das Nummerträumen ab (vgl. hierzu dort, wo alles auf den Prüfstand kommt und neu ent-
Eversberg 2015), so handelt es sich bei Am Kamin um schieden wird, was ›gutes Wissen‹ ist und was nicht.
den einzigen zu Lebzeiten in den Druck gelangten Be- Wenn der Text nun über die in ebenjenem Erzähl-
leg der langjährigen Beschäftigung Storms mit dem rahmen herumgereichte Bowle Hoffmanns Serapions-
Genre der Spukerzählung. Zwischen dem von Storm brüder (1819–1821) heranzitiert (LL 4, 54), dann ge-
wohl 1848 fertig gestellten, aber nicht veröffentlichten schieht das nicht zufällig. Die literarhistorische Re-
Neuen Gespensterbuch und dem Zyklus besteht eine miniszenz unterstreicht vor allem die problematische
direkte Verbindung, finden sich in der Anthologie Selbstverortung der Spukgeschichte: Im Gegensatz zu
doch bereits drei der insgesamt acht Kleinerzählun- deren romantischer Ausprägung, wie sie paradigma-
gen in rudimentärer Form. tisch in Hoffmanns Nachtstücken (1816/17) begegnet
(vgl. Arndt 2011, 206 f.), geht es in Storms novellisti-
scher Verhandlung des Spuks gerade nicht um die
Inhalt
›Phänomene‹. Am Kamin will eigentlich nichts erklä-
Der Text zerfällt in zwei Hälften, von denen jede vier ren, es ist der Erzählgemeinschaft nicht um naturwis-
kurze Spukgeschichten beinhaltet. Erzählt werden senschaftliche oder parawissenschaftliche Spekulati-
diese in einer kleinen Gemeinschaft, die sich im ersten on zu tun. Stattdessen wird hier zum Gegenstand der
Teil »am Kamin«, im zweiten an einem sommerlichen Diskussion, ob dem Kursieren dieser Geschichten
Teetisch zusammenfindet – wobei das Erzählen vor- überhaupt noch eine Bedeutung zukommen kann,
zugsweise einem ›alten Herrn‹ zukommt, während die und, wenn ja, worin diese Bedeutung liegen könnte.
jungen Damen und ein Assessor ihm zuhören und die Die Modernität dieses Erzählens liegt im Hinterfragen
Erzählungen kommentieren. Verhandelt werden da- seiner Sinnhaftigkeit. Vom frühen 19. Jahrhundert
bei das Wesen und die Kategorie des ›Spuks‹. In einem trennt diesen Text die Ahnung seines Anachronismus.
gewissen Sinne hat man es somit weniger mit einer Er ist sich selbst verdächtig und dieser Verdacht äu-
moderierten Anthologie als vielmehr mit einem poe- ßert sich im Zweifel daran, dass das sich in ihm artiku-
tologisch-reflexiven Arrangement zu tun: Die Erzäh- lierende okkulte resp. parapsychologische Wissen
lungen stehen in ihrer Klassifikation als ›Spuk‹ zur noch irgendeinen Öffentlichkeitswert besitzt. Die
Debatte; es handelt sich um kategoriale Exempel. Vermutung, dass die Spukgeschichte selbst ein ›ver-
lebtes Etwas‹ ist, ein Gespenst, das zur Unzeit er-
scheint, suggeriert bereits der Eingang der Erzählung.
Deutung
Zwar rechtfertigt der alte Herr vor seiner jungen weib-
Mit dem Blick auf die Rahmung ist zunächst zu kon- lichen Zuhörerschaft seine Ankündigung »Ich werde
statieren, dass Am Kamin dem novellistischen Erzäh- Gespenstergeschichten erzählen« (LL 4, 52) mit dem
len nicht nur verwandt, sondern geradezu program- Argument, ›sie lägen in der Luft‹; Das Auditorium
matisch verpflichtet ist. Der Reflexion des Erzählten weist jedoch sofort darauf hin, dass »Spukgeschichten
durch eine Erzählgemeinschaft, wie sie prototypisch [...] gänzlich zum Rüstzeug der Reaktion«, also in das
an der Wurzel der Novellistik, in Boccaccios Decame- Arsenal der Romantik gehörten, deren literarische,
rone (um 1350) angelegt ist und im ausgehenden philosophische und politische Zeit man für abgelau-
18. Jahrhundert ihre deutschsprachige Aktualisierung fen hält (ebd.). Der Erzähler übergeht diesen Einwand

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_27, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
116 III Werk – C Sagen und Spuk

schlichtweg und beginnt mit der ersten Geschichte, Tuchmachergesell wird in seiner Kammer nachts im-
die die Erwartungshaltung der Zuhörerschaft offen- mer wieder von einem Feggeräusch geweckt, bis er bei
sichtlich völlig unterläuft. Eröffnet wird der Reigen einer nächtlichen Rückkehr an seinem Fenster »ein
nämlich mit einer Traumerzählung – wie auch fünf Ding, ungestaltig und molkig« (59), sitzen sieht und
der acht Erzählungen Traumerzählungen sind. Wäh- daraufhin die Stadt verlässt. Auch hier gibt es weder
rend ein kleiner Junge schreiend aus einem Traum er- eine narrative Zuspitzung noch eine Auflösung der
wacht, weil er träumt, ein Wolf wolle ihn fressen, hat Erscheinung durch den Erzähler, so dass die Hörer-
dessen Tante zur gleichen Zeit den Traum, ein Wolf zu schaft erneut bemängelt, dass es sich um keine »echte
sein und den Neffen zu jagen. »Träumen ist doch nicht rechte Spukgeschichte« handle, man könne sich »auch
Spuken« (53) ereilt den Erzähler dieser ersten Ge- nichts ›bei denken«, da eben die »Pointe« (ebd.) fehle.
schichte sogleich der Einwand; und wenn diesem Ein- Tatsächlich hat man es aber auch hier mit einem de-
wand nicht mit einer Erwiderung, sondern mit einer finitorischen Erzählen zu tun: Spukhafte Wirklichkeit
Folgeerzählung begegnet wird, so ist daraus zu schlie- ist überzeitlich, bringt sie doch Dinge an Orten zum
ßen, dass der scheinbar lose Erzählreigen in Wahrheit Vorschein, an denen sie schon verschwunden oder
eine schrittweise programmatische Bestimmung des- noch nicht wahrnehmbar sein sollten. Oder, wie der
sen birgt, was ›Spuk‹ zu nennen ist und was nicht. ›Wi- alte Herr ausführt: »Aber ein Teil dieser Geschichten
dernatürlichkeit‹ allein ist dabei kein hinreichendes tritt eben mit dem Reiz des Rätsels an uns heran, und
Kriterium: Die Vermutung »Pfui! Die Tante ist ein drängt uns, den Dingen nachzuspüren, die, wenn
Werwolf gewesen!« (ebd.) rechtfertigt die Deklarie- gleich selber längst vergangen, noch solche Schatten
rung der Erzählung als Spukgeschichte noch längst aus dem leeren Raume fallen lassen« (ebd.).
nicht. Stattdessen verlagert sich die Aufmerksamkeit Dort, wo der Spuk gestalthaft wird, wiederholt er
von der Monstrosität auf die Medialität, auf einen Mo- nicht das, was einmal war, sondern muss notgedrun-
dus der Wahrnehmung, der Strukturen entblößt, die gen die aus ihrer Zeit gefallenen Schatten zu ›Dingen‹
in die Wirklichkeit hineinragen, sich aber aus dieser entstellen, deren Monstrosität gerade darin besteht,
nicht erklären lassen. ›Spuk‹ definiert sich bei Storm – dass sie eben noch nicht konturierte Wirklichkeit
und nicht nur in Am Kamin – just über diese erweiter- sind, sondern diese konturierte Wirklichkeit stören.
te Sinnlichkeit, über das ›zweite Gesicht‹, das Zugang Der Geist ist kein Objekt der Betrachtung, sondern
zu einem ›anderen‹ Wissen verschafft (vgl. hierzu aus- ein objekthaftes Medium, ein Wesen, das uns mit ei-
führlich Theisohn 2014). Die Spukgestalt und der mit ner überlagernden Seinsebene verbindet. Dement-
ihr verbundene Schauer lassen sich dabei als Oberflä- sprechend ist er als Erscheinung auch medial kontami-
cheneffekte jener zweiten Epistemologie verstehen. niert: Im Angesicht der ›molkigen Ungestalt‹ erscheint
Um was für ein Wissen handelt es sich nun dabei? die vertraute Umgebung selbst als Effekt einer Be-
Im Falle jener ersten Erzählung, die nichts weiter ent- arbeitung, als eine Realität, die aus dem Ungestalten
hält als eine Koinzidenz der Träume, ist der program- selbst erst hervorgebracht wird – und nicht umgekehrt
matische Gehalt kein anderer als der, dass die Seelen (vgl. Matala de Mazza 2013, 120).
von Träumenden miteinander verkehren, dass also Diese Reflexionen über die literarische Medialität
überhaupt geisterhafte Informationskanäle existieren. der Geister sind mit der Einsicht verbunden, dass das
Verhandelt wird somit die mediale Grundlage von Geisterwissen in aller Regel ein Schwellenwissen ist,
Spuk selbst – und angezeigt ist damit die analytische das zwischen den Lebenden und den Toten vermitteln
Grundausrichtung von Am Kamin. muss, wovon die vierte, fünfte und siebte Erzählung
Die nächste Erzählung fügt der ersten Bestimmung zeugen. In jeder dieser drei Erzählungen erscheinen
eine zweite hinzu: Das Wissen der Geister durchläuft Verstorbene im Traum: Eine Mutter verabschiedet sich
und strukturiert den menschlichen Erfahrungsraum, vom Sohn, der sich von ihrem Sterbelager zurückgezo-
es besitzt Koordinaten, unter denen es abgespeichert gen hat und eingenickt ist; Tochter und Mutter haben
und aufgerufen werden kann. So empfindet ein junger den wiederkehrenden selben Traum von der verstor-
Kaufmann während einer Lustfahrt durch die Marsch benen Nachbarin, die ins Haus kommt, um sich am
bei einem Rapsfeld »eine schlimme Stelle« (LL 4, 55), Ofen zu wärmen; ein Mann wird im Traum von einem
was seinen Gefährten seltsam anmutet, aber begreif- Freund aufgesucht, der sich Getreidekörner aus dem
lich wird, als acht Tage später der Kamerad tot in die- Mund zieht – und erfährt am Tag darauf, dass der
sem Rapsfeld aufgefunden wird. Die dritte Geschichte Freund im Casino beim Einsturz des Kornspeichers
führt sodann den Umkehrschluss vor: Ein junger erschlagen und unter dem Korn verschüttet wurde.
27 »Am Kamin« (1862) 117

Vertieft wird dabei die Reflexion über die Ordnung, und an psychophysische Korrespondenzen glaubt,
der sich die Spukphänomene verdanken. Wenn die dass er verhindern werde, dass dessen Leiche nach sei-
Träume zweier Menschen übereinstimmen: Ist dies nem Tod obduziert werde. Als es soweit ist und er zum
dann auf die Einwirkung des einen Traumes auf den Toten kommt, haben die Ärzte den Körper bereits ge-
anderen zurückzuführen, oder gibt »es noch ein Drit- öffnet und die Eingeweide entnommen. Erst nach dem
tes, worin dieselben ihren gemeinsamen Ursprung« heftigen Auftritt des Freundes versprechen sie ihm, die
haben (LL 4, 68)? Geht man von letzterem aus, dann Leichenteile alle wieder dem toten Körper zurück-
muss nicht nur geklärt werden, wer das Auftauchen zugeben und diesen zu schließen. An dieser Stelle en-
außerzeitlicher Phänomene verantwortet, sondern det nun die Erzählung, oder besser gesagt: Der Medizi-
auch, unter welchen Bedingungen jene andere, schat- nalrat unterbricht sich, verlässt den Lehnstuhl, horcht,
tenhafte Geschichte, die sich ›nicht wirklich‹ ereignet, ruft aus ›Das ist entsetzlich‹ – sucht den Professor auf,
sich mitzuteilen vermag. Vor diesem Hintergrund der die Obduktion geleitet hat, und verlangt von ihm
zeigt das Beispiel des verschütteten Hauptmanns, dass die Rückgabe des Herzens, das er wider das Verspre-
beide Wirklichkeiten zeichenhaft miteinander ver- chen dem Totenentnommen und konserviert hat. Die-
bunden sind, dass somit auch die Geister eine Sprache ser gesteht seinen Diebstahl und das Herz wird noch in
sprechen müssen, die von den Lebenden entziffert derselben Nacht in den Sarg zur Leiche gelegt.
werden kann, wenn auch nicht unmittelbar verstan- Ist zum Beginn der Erzählreihe nur das rudimen-
den werden muss. Der Spuk ist eine kodierte Wirk- tärste Element des Spuks vorhanden, nämlich die see-
lichkeit, es gibt ihn ohne mediale Vermittlung nicht. lische Kommunikation, so vereinigt jene letzte Erzäh-
Darüber hinaus aber wird derjenige, der den Spuk lung alle vorgenannten Kriterien des Spuks – die
erlebt, auch von diesem konsumiert. Der Spuk ver- Räumlichkeit und Überzeitlichkeit, die Schwelle zum
wandelt seine Vorstellung von der Welt, versetzt ihn in Tode, die Zeichenhaftigkeit und die Verwandlung des
die Lage, überhaupt erst dort Zeichen zu sehen, wo sie Erzählers – in sich. Gewendet ist der Spuk in diesem
sind. Genau hier befindet sich die Schnittstelle zwi- Falle aber nach außen: Das Geisterwissen wird nicht
schen Spukerzählung und realistischer Novellistik: erzählt, sondern es befällt das Erzählen. In der höchs-
Der Spuk kann über einen Erzähler auf seine Hörer- ten Meisterschaft der Spukerzählung (und als Quint-
und Leserschaft übergehen, bis diese selbst Gespenster essenz von Am Kamin) zeigt diese, dass sie nicht nur
zu sehen beginnt. Der Erzähler avanciert dann selbst Spuk zu schildern versteht, sondern dass sie sich selbst
zu einem Geist, der seine Informationen von überall bereits immer im Gespräch mit den Geistern befindet
her bekommt und auch dort wissend präsent ist, wo er – und dass jeder, der sich dieser Geschichten an-
es gar nicht sein kann. Diese Figuration bietet die nimmt, an diesem Gespräch teilhat.
sechste Kaminerzählung, die den Fall eines Gutsbesit-
zers verhandelt, dem immer wieder Hafer vom Boden Literatur
gestohlen wird, und der nachts träumt, er sei auf dem Arndt, Christiane: »Pfui! Wer befreit mich von diesem
Boden und beobachte dort einen alten Arbeiter beim Schauder?« Mediale Schauereffekte in Theodor Storms
Der Schimmelreiter. In: Daniela Gretz (Hg.): Medialer Rea-
Diebstahl. Tags darauf gesteht ebendieser Arbeiter den lismus. Freiburg i. B. 2011, 191–214.
Diebstahl mit dem Hinweis, er habe den Gutsherrn Eversberg, Gerd: Das Nummerträumen. Eine unbekannte
nachts auf dem Speicher gesehen, und unterrichtet Erzählung Theodor Storms und ihre Bedeutung für das
diesen nach und nach über »die unglücklichen Ver- Verständnis seiner Spukgeschichten. In: STSG 64 (2015),
hältnisse, die den bisher ehrlichen Mann zum Verbre- 74–109.
Matala de Mazza, Ethel: Spuk als Gerücht. Theodor Storms
cher gemacht« haben (70). Der Wachende wird hier
Volkskunde. In: Elisabeth Strowick/Ulrike Vedder (Hg.):
»durch den Träumenden zum Visionär« (ebd.). Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf
Eine Sonderstellung innerhalb des Ensembles Theodor Storm. Bern 2013, 107–129.
kommt der letzten Erzählung zu. Eigentlich läuft diese Theisohn, Philipp: Spökenkieken. Storm und das Wissen der
Erzählung ins Leere: Ein gealterter Medizinalrat ver- Geister. In: STSG 63 (2014), 23–39.
spricht einem herzkranken Freund, der offensichtlich Philipp Theisohn
der romantischen Naturphilosophie verbunden ist
D Novellen

28 Storms Verständnis des Genres Pietsch, 219). Pointiert gesagt: Neben seinen Tätigkei-
Novelle: Novellenpoetik als ten als Rechtsanwalt, Gerichtsassessor, Landvogt oder
Amtsrichter lebte der Dichter Storm für die Lyrik-, der
Medienpoetik Schriftsteller aber von der Prosaproduktion. Um sich
als Lyriker durchzusetzen, scheute er keine Kosten und
Im Gattungsverständnis Storms rangiert die Prosa- Mühen, kaufte auch schon einmal die Restbestände ei-
erzählung auf den hinteren Plätzen. Mit dem zeitge- ner Ausgabe seiner Gedichte auf und ermöglichte so
nössisch allgemein höher geschätzten Drama, vor al- deren Neuauflage (Storm–Groth, 46). Bei seinen No-
lem aber mit der in Storms Sinne gefassten Lyrik kann vellen dagegen versuchte er stets, möglichst hohe Ho-
sie sich demnach nicht messen. Wurde das Drama im norare auszuhandeln (vgl. z. B. Jackson 2001, 219).
Anschluss an Hegel als vornehmste Gattung der Poe- Vor diesem Hintergrund muss man sich klar ma-
sie gehandelt, als »höchste Kunstform« (Robert Prutz chen, dass es im Fall von Storms Novellenproduktion
1851; Plumpe 1997, 276), so leitete Storm sein poeti- den Erzähltext gar nicht gibt. Von der ersten »Kontroll-
sches Selbstverständnis als ›eigentlicher‹, ›echter‹ oder instanz einer vorlesenden Erprobung« an entstehen
sogar ›letzter Dichter‹ in erster Linie aus seiner lyri- Storms Texte im Prozess intermedialer Transformatio-
schen Produktion ab. Als »unmittelbare[r] Ausdruck nen bis hin zur Gesamtausgabe (Pastor 1999, 108).
der Empfindung« (LL 4, 392) erhob Storms Lyrik Konkret achtete Storm sehr genau auf die Reaktionen
schon früh zugleich Anspruch auf allgemeine Gültig- seiner Zuhörer bei Lesungen im Entstehen befindli-
keit (vgl. 331), wollte mit den lyrischen Massenpro- cher Texte (vgl. z. B. EB, 179) und interessierte sich für
duktionen der Zeit ebenso wenig verwechselt werden Hinweise befreundeter Leser zu den Erstveröffent-
wie etwa mit der Erfolgslyrik eines Emanuel Geibel lichungen in Periodika (vgl. z. B. LL 1, 1019 f.). Die
(vgl. Storm–Schmidt II, 96 f.; vgl. Stockinger 2005, meist in unmittelbarer zeitlicher Nähe dazu veranstal-
114–122). Dennoch verfasste Storm, der sich in Sa- teten Buchfassungen revidierte er entsprechend. Auch
chen Prosa immerhin einen »eignen selbstständigen redaktionelle Bearbeitungen seiner Texte, mit denen er
Ton« attestierte (LL 1, 744), zeitlebens erzählende Tex- nicht einverstanden war, korrigierte er bei dieser Gele-
te. Er selbst betonte, diese »Dichtungsart«, die er im genheit – im Zusammenhang mit der Publikation von
»Vorwort« zu Bd. 1 der Sämmtlichen Schriften ohne Hans und Heinz Kirch erklärte Storm etwa, er sei eher
weitere gattungssystematische Differenzierung dem dazu bereit, »auf Mitarbeiterschaft« in Westermann’s
Genre »Novellen« zuordnet (Storm 1868, ohne Pagi- Illustrirten Deutschen Monatsheften zu ›verzichten‹, als
nierung), habe v. a. »die spätere Hälfte [s]eines Lebens sich und seine Texte von einem Redakteur »taxiren« zu
begleitet« (LL 4, 408). Heute zählt Storm zu den wich- lassen (LL 3, 799). Wie Dieter Lohmeier zu Recht fest-
tigsten Prosaautoren der Epoche. stellt, nahm Storm die »letzten wesentlichen Eingriffe
Zurückzuführen ist dies nicht nur auf die Qualität in die Textgestalt« jeweils »zwischen dem Zeitschrif-
der in einem eigenständigen Realismus verfassten Tex- tenabdruck einer Novelle und deren Buchausgabe« vor
te, sondern auch auf Storms Gespür für die Markt- (LL 1, 741). Spätere Änderungen – wie etwa für die
gesetze seiner Zeit, die er aufmerksam beobachtete Sämmtlichen Schriften, die erste Gesamtausgabe von
und »virtuos« bediente (Hinrichs 1993, 70; vgl. Ohde 1868 – betrafen demgegenüber in der Regel nur noch
1995; Segeberg 1997, 165–167; Helmstetter 2003). Mit Kleinigkeiten (vgl. Lohmeier 1986).
Blick auf sein Positionierungsgeschick in der aktuellen Diese hier angedeutete Zeit des ›Zwischen‹ aber
Zeitschriftenlandschaft beanspruchte Storm 1875 gar (zwischen periodischer und Buch-Publikation) ist
die Fähigkeit, »die Poesie zu kommandieren« (Storm– m. E. für die Frage nach Elementen einer Novellen-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_28, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
28 Storms Verständnis des Genres Novelle: Novellenpoetik als Medienpoetik 119

poetik Storms entscheidend und führt zugleich zu ei- gewiesenen Realitätseffekten (2) und schließlich in
nem ersten Befund: Storms Novellenpoetik ist eine Novellen, die das Geschlossenheitsideal des Dramas
Medienpoetik. Sie bezieht die unterschiedlichen me- ins Prosaische transponieren (3), stehen für die beson-
dialen Logiken ebenso ein wie das jeweils interessie- dere Dynamik von Storms Verständnis des Genres. Sie
rende Zielpublikum, vom zeitgenössischen Zeitschrif- legen eine Einteilung des überaus umfangreichen no-
tenleser bis zur Nachwelt. Daraus ergibt sich ein zwei- vellistischen Werks in drei Werkphasen nahe, die zu-
ter Befund: Die zeitliche Verlängerung der Textpro- gleich biographische Abschnitte markieren (46 Texte,
duktion durch Mehrfachpublikation bedingt die zwischen 1848 und 1888 publiziert, vgl. LL 1, 1009; LL
spezifische »Verbesserungsästhetik« (Martus 2000) 2, 767–770; LL 3, 759–762; Stockinger 2009, 630–633;
der Texte Storms. In (mindestens zwei) Überarbei- auf 45 Novellen kommt Colberg 1967, 13). Zwar soll
tungsphasen werden nicht nur die Novellen selbst ver- diese Einteilung im Folgenden nicht grundsätzlich in
ändert, auch die den Novellen zumeist implizit zu- Frage gestellt werden. Ordnet man aber die zwischen
grundeliegende Poetik wird dadurch stets weiter aus- 1847 und 1864, also zwischen Storms erster Husumer
geformt, präzisiert und verfeinert. Zeit und den Jahren als Gerichtsassessor und Kreis-
Storms Novellenpoetik lässt sich in ihren unter- richter in Potsdam und Heiligenstadt entstehenden
schiedlichen Facetten demnach nur dann erschlie- Novellen ganz einem eher lyrisch-situationistisch ge-
ßen, wenn immer zugleich jene Bedingungen, unter prägten Frühwerk zu (vgl. LL 1), wird man in poetolo-
denen die Texte entstehen, genauer jene spezifischen gischer Hinsicht den einzelnen Texten nur ansatzwei-
(medialen) Formen berücksichtigt werden, in denen se gerecht.
die Texte publiziert werden: sei es fortgesetzt in Zeit- Storms Novelle Im Schloß etwa, 1862 erstmals ge-
schriften, sei es in Buchform (ob nun als erschwing- druckt, gilt aufgrund ihrer realistischen Tendenzen
liche Einzelpublikationen oder in Sammelbänden, in längst als »Schlüsseltext seines mittleren Werkes«
Werk- oder Prachtausgaben). Aufgrund seines aus- (Detering 2008, 33) – auch wenn sich Storm nach dem
geprägten Nachweltbewusstseins bezog Storm selbst- Tod seiner ersten Frau Constanze (1865) noch einmal
verständlich die Prosaproduktion ebenfalls in die ei- mit einer »Resignationsnovelle« (LL  1, 1207), In
gene Werkbiographie mit ein; bei aller Hochschät- St. Jürgen (1867), zu Wort meldete. Mit der zeitgleich
zung des Dramas und v. a. der Lyrik reduzierte Storm dazu (und zu Storms Rückkehr aus dem Heiligenstäd-
auch diese Texte nicht auf eine bloß ökonomische ter Exil) verfassten Novelle Eine Malerarbeit setzt
Funktion. Dass er aber die frühen Novellen in die Nä- Storm die realistische Neuausrichtung im Erzählen
he der Stimmungslyrik rückte oder für die späteren dann konsequent fort (vgl. LL 2). Das Spätwerk ent-
Novellen eine enge Nähe zum Drama behauptete, steht nach Storms Pensionierung in Hademarschen
verwundert von daher nicht bzw. lässt sich aus der zwischen 1880 und 1888 (vgl. LL 3). Es ist tendenziell
Haltung des Autors zu den drei Gattungen erklären. stärker von Storms »Experimentierfreude« (LL 3, 760)
Bereits diese Andeutungen in werkbiographischer in der Novellistik geprägt, die den Realismus etwa ins
Hinsicht legen einen dritten Befund nahe: Storms Ver- Grotesk-Komische, ja Unheimliche ausdehnte (vgl.
ständnis des Genres Novelle ist volatil; es verändert Der Herr Etatsrat, 1881; Der Schimmelreiter, 1888).
sich durch die Werkbiographie hindurch. Grund- Vor allem aber war Storm in diesen Jahren daran
legend für Storms Prosawerk ist hingegen ein Dich- interessiert, seine Prosaproduktionen an der ›hohen
tungsverständnis, das an die Erfahrungswirklichkeit Tragödie‹ auszurichten, d. h. die Frage nach »Begren-
der zeitgenössischen Leser anknüpft, um diese zu ver- zung« oder »Unzulänglichkeit« (Storm–Schleiden,
allgemeinern, das also alltägliche Vorkommnisse (›die 25) als nicht nur partielles, sondern grundsätzliches
Realität‹) poetisch ›verklärt‹. Storms Freund Hart- anthropologisches Problem zu verhandeln. Dabei ex-
muth Brinkmann sieht genau darin den besonderen perimentierte Storm auch mit Erklärungsmustern, die
»Vorzug« von Storms »Sachen«: dass sie auf einem von zeitgenössischen Vererbungs- und Degenerati-
»frische[n] Griff ins wirkliche Leben« beruhen. »Was onstheorien bereitgestellt wurden (vgl. Schweigen,
wir Alle erlebt haben, das finden wir in Deinen Novel- 1883). Von ihrer poetologischen Anlage her gemein-
len in poetischer Steigerung wieder« (Storm–Brink- sam ist allen Texten (mindestens) dieser Phase ein »im
mann, 117). Mittelpunkte« der Novelle »stehende[r] Konflikt« (LL
Andere Elemente der Novellistik Storms wie die je 4, 409), ein die jeweilige Novelle »organisirende[s]
eigene Ausformung dieses Realismus in Stimmungs- Centrum« (im Fall von Schweigen etwa eine »Schuld«;
bzw. Resignationsnovellen (1), in Novellen mit aus- Storm–Keller, 97 f.).
120 III Werk – D Novellen

Insgesamt ist zu beachten, dass sich die genannten tes Charakteristikum für die eigenen Texte in An-
Elemente, je unterschiedlich akzentuiert und aus- spruch nimmt. Die Novelle bietet Storm die Möglich-
geprägt, in allen Etappen von Storms Erzählwerk fin- keit, der prosaischen, »nicht mehr mythische[n]«,
den. Beispielsweise nehmen die Texte der mittleren »wunderlose[n]« Welt (so Friedrich Theodor Vischer
und späteren Phase immer wieder Anleihen bei den in seiner Aesthetik von 1846; Vischer 1975, 176), für
frühen Stimmungs- und Resignationsnovellen (z. B. die der Roman privilegiert sei, ihre »poëtische Seite«
die Künstlernovelle Ein stiller Musikant, 1875), und (Storm–Brinkmann, 27) abzugewinnen, ohne dafür
auch die frühen Novellen zielen auf Verallgemeiner- die literarische Form der Prosa aufgeben zu müssen.
barkeit der in ihnen dargestellten Konflikte. Anders Storm beruft sich dabei auf die an Überlegungen
gesagt: Mit Methoden des »distant reading« (Moretti des Philologen Georg von Reinbeck geschulte Novel-
2013) kommt man bei der Frage nach Storms Ver- lentheorie von Georg Gottfried Gervinus, der zufolge
ständnis des Genres ›Novelle‹ nicht weit. Die poetolo- »reine Novellen« dazu dienten, »nur das wirklich Poë-
gischen Annahmen, die Storms Novellistik voraus- tische darzustellen«, und zwar in »knappe[r] Form«
gehen, werden im Folgenden an je einem signifikan- (ebd.; vgl. Wierlacher 1972; Reiter 2004, 38–40). Dass
ten, möglichst aufschlussreichen und zugleich kano- sich der Erzähler Storm von Beginn an als Lyriker ver-
nischen Beispiel der genannten Werkphasen (die, wie steht (»[m]eine Novellistik ist aus meiner Lyrik er-
gesagt, nicht notwendig die Lebensabschnitte Storms wachsen«), der auch in der Prosa »Scenen von poeti-
abbilden) analysiert: die Ausprägung einer Poetologie schem Gehalte« liefern möchte (Storm–Schmidt II,
der Aussparung in Immensee (1); einer Poetologie der 57), fügt sich in dieses Bild.
realitätsnahen Abbildung in Im Schloß (2); und einer Die Frage nach Motivation und Funktion dieses
Poetologie der konfliktzentrierten Geschlossenheit in Gattungstransfers führt unmittelbar zu Immensee, das
Carsten Curator (3). seit langem als eine Art »Prototyp« (Fasold 1997, 95)
für Storms frühes Novellenverständnis gilt. Allerdings
wird dabei meist übersehen, dass der Text dieses Ver-
Poetologie der Aussparung
ständnis eben nicht auf eine von Beginn an feststehen-
Mit der Novelle Immensee, im Inhaltsverzeichnis von de Weise abbildet (zu den Fassungen vgl. Eversberg
Bd. 2 der Sämmtlichen Schriften auf »Husum 1849« 1998). Zum einen trägt die Lyrik die Konstruktion der
datiert (Storm 1868, ohne Paginierung), wird Storm Novelle – insbesondere Meine Mutter hat’s gewollt und
einem größeren Publikum bekannt. Den erstmals im (ab der zweiten Fassung) das Lied des Harfenmäd-
Volksbuch auf das Jahr 1850 für die Herzogthümer chens. Zum anderen führt der Umweg über die Lyrik
Schleswig, Holstein und Lauenburg veröffentlichten und deren Funktion in der zeitgenössischen Poetolo-
Text überarbeitete Storm für eine Auswahlausgabe gie direkt auf Storms Verständnis von Novellenpoetik
seines bisherigen Werks von 1851. Was Storm bereits als Medienpoetik. Wer nach zeitgenössischer Auffas-
zeitgleich explizit als »Novellen« bezeichnet hat sung Effekte lyrischer ›Stimmung‹ erzeugen wollte,
(Storm–Brinkmann, 27), firmiert hier unter der etwas setzte dafür auf Mittel der Aussparung: Der Lyriker
eigenwilligen Genrebezeichnung »Sommergeschich- »verstummt« »im Sagen« und eröffnet so Räume für
ten«. Schon diese zeigt, dass Storm selbst an einer klar das ›Unaussprechliche‹, das als »reine[s], wortlose[s]
theoretisierbaren »Classification« seiner erzählenden Schwingungsleben des Gefühls« erfahrbar wird (Vi-
Texte nicht interessiert war. Die Kategorie ›Sommer- scher 1975, 201). Dieses ›Verstummen‹ wird zum zen-
geschichten‹ verdankt sich einer besonderen Hom- tralen Merkmal auch von Storms Prosa, verlagert jetzt
mage an Storms Ehefrau Constanze, genauer einer aber von der lyrisch-andeutenden Musikalität auf die
Hommage an die von ihr bevorzugte Jahreszeit: Wie Kapitelordnung bzw. auf deren Verknüpfung.
den Sommer, so kann man Storms Widmung an Con- Mit der Buchfassung von 1851 realisiert die Im-
stanze verstehen, wird sie auch die ihr dedizierten Ge- mensee-Novelle das Prinzip der Aussparung geradezu
schichten zu »genießen« wissen (Storm 1851, ohne idealtypisch: Die geschürte Lesererwartung wird hier
Paginierung). nicht in einem geschlossenen Handlungsbogen be-
Der Sache nach, so Storm an dieser Stelle weiter, friedigt. Die Wirkung des Textes setzt auf Lückenbil-
hätte er die Texte »Situationen« nennen müssen – eine dung, auf Unvollständigkeit und damit auf einen Le-
Bezeichnung, die das poetologische Selbstverständnis ser, der, angezogen von der poetischen Stimmung so-
dieser Jahre auf den Punkt bringt und zugleich ein wie der atmosphärischen Präsenz des Textes, zu ei-
zeitgenössisch gerade für das Genre Novelle diskutier- nem Teil der erzählten Welt wird, die Lücken
28 Storms Verständnis des Genres Novelle: Novellenpoetik als Medienpoetik 121

selbsttätig schließt oder ihre Unabschließbarkeit aus- Gefühle, alles geht seinen wohlgeordneten Gang –
hält. Eine auf diese Weise omnipräsente Poesie durch- und Reinhardt heiratet, was Erich Schmidt, an die
dringt das Leben auf innige Weise (indem umgekehrt Buchfassung gewöhnt und erst spät mit der Erstfas-
auch die Erzählung Teil der Welt des Lesers wird) und sung konfrontiert, gar nicht glauben konnte (vgl.
kann dann – etwa in Form eines Taschenbuchs wie die Storm–Schmidt I, 123). Die auf schnellen Konsum an-
Separatausgabe von Immensee von 1852 – zum steten gelegte Produktion von Periodika legt eine solche auk-
Begleiter werden. torial durchorganisierte, klar motivierte Gestaltung
Die Zeitschriftenfassung von Immensee von nahe; sie nimmt den Leser gleichsam bei der Hand
1849/50 dagegen vermochte eine solche Wirkung (vgl. dazu allgemein Becker 1969).
noch nicht zu entfalten. In dieser Fassung gibt es keine Dagegen setzt die Buchfassung von Immensee auf
Lücken, alles ist konsequent motiviert, die Charaktere eine andere, zeitintensivere Form des Leserkontakts:
sind explizit ausgedeutet. Den eigentümlichen Reiz Indem sie die Zusammenhänge ausdünnt, lässt sie
von Storms Poetik der Aussparung, die der Novelle Raum für Deutungen und macht Relektüren interes-
seit der Buchausgabe von 1851 ihre faszinierende äs- sant. Vieles bleibt offen: Warum heiratet Elisabeth
thetische Ausstrahlung verleiht, sucht man vergebens. Erich? Wie reagiert Reinhardt auf den Brief der Mut-
Was also ist ›dazwischen‹ geschehen? Tycho Momm- ter, der von der bevorstehenden Hochzeit Elisabeths
sen qualifizierte die Zeitschriftenfassung in durchaus berichtet? Kommt das sog. Volkslied Meine Mutter
genervten Randnotizen als »eitel Prosa«, »[a]lltäglich hat’s gewollt / Den Andern ich nehmen sollt’, mit dem
ohne Reiz« (LL 1, 1038, 1030), Storm nahm sich die Reinhardt in der Zeitschriftenfassung Elisabeths Ver-
deutliche Kritik des Freundes zu Herzen und arbeitete halten ganz gezielt kommentierte (vgl. LL 1, 1034), in
den Text um. Die Kriterien dafür lieferten die unter- der Buchfassung rein zufällig auf den Tisch (vgl. 320)?
schiedlichen Publikationsbedingungen der Medien Gibt Reinhardts Lied auf Elisabeths Entscheidung ei-
›Zeitschrift‹ vs. ›Buch‹. ne plausible Antwort? Hat Reinhardt denn überhaupt
Die Zeitschriftenfassung von 1849 spielt mit den li- die Autorität zu einer gültigen Deutung der Situation?
mitierten Aufmerksamkeitsressourcen, die fortgesetzt Statt eindeutiger Antworten bietet die Novelle in
erzählter Literatur gemeinhin zur Verfügung stehen. der Buchfassung eine Reihe von Bildern aus Rein-
Indem die einzelnen Kapitel erzählerisch verknüpft hardts Leben. Sie erscheint eben nicht »strenger
werden, imitiert der Text die unterbrochene Publika- durchkomponiert« (Eversberg 1998, 82), im Gegen-
tion in einem Periodikum: Cliffhanger erzeugen an teil: Ein ›verdichteter‹ Spannungsbogen fehlt (vgl. ent-
den Kapitelenden einen Spannungsbogen, der die Le- gegen LL 1, 1020). An die Stelle von motivierenden
ser bei der Stange halten soll (zu dieser Strategie vgl. Überleitungen treten Lücken. Die einzelnen Kapitel
Meyer 1998, 241). So macht der omnipräsente Erzäh- werden jetzt erst mit Zwischenüberschriften versehen
ler etwa von vornherein darauf aufmerksam, dass die und dadurch zu gleichsam monolithischen Einheiten.
Beziehung zwischen Reinhardt und Elisabeth gefähr- Dazwischen herrscht beredtes Schweigen. Für den Le-
det ist. Schon der ›Weg in die Erdbeeren‹ ist negativ ser der Buchfassung ist das kein Problem. Er wird
konnotiert: Es ist durchweg von ›bösen Zeichen‹, von durch das Kapitelende ja nicht am Weiterlesen gehin-
einer ›mühsamen‹ Wanderung, von ›schroffen Fels- dert, so dass Storm auf allzu konkrete Verbindungs-
kanten‹ die Rede (vgl. LL 1, 1026). Auf diese Weise stücke getrost verzichten konnte. Die besondere He-
entsteht kein ›romantisches‹ Waldidyll, sondern ein rausforderung an den Leser der Buchausgabe besteht
bedrohlicher und bedrohter Naturraum. Ein weiteres demnach darin, jene Vollständigkeit zu erzeugen, die
Beispiel: Reinhardts befremdliches Verhalten gegen- der Text verweigert, sich also angeregt durch die »an-
über Elisabeth während seiner Universitätszeit wird in deutungsweise eingewebte[n] Verbindungsglieder«
dieser Fassung psychologisch motiviert und mit dem selbst »ein geschlossenes Ganzes [...] vorzustellen« (an
Hinweis auf Reinhardts ›studentisch entfesselten‹ Eduard Alberti, 12.3.1882, 1004 f.).
Charakter gleichsam entschuldigt (vgl. 1027). Mit dieser Poetologie der Aussparung antwortet
Mit Blick auf die spätere Überarbeitung besonders Storm zugleich auf die Konkurrenzsituation, in der
auffällig ist ein ausführliches episches Zwischenstück, sich das Medium Text/Buch um 1850 behaupten
das in der Zeitschriftenfassung Binnen- und Rahmen- muss, v. a. gegenüber der Malerei sowie gegenüber der
handlung abschließend miteinander verbindet und Photographie (vgl. dazu ausführlicher Stockinger
dieser Fassung dadurch eine versöhnliche Wendung 2006). Storms frühe Prosa gesteht gewissermaßen
gibt (vgl. 1036–1038): Der Lauf der Zeit beruhigt die umstandslos ein, Wirklichkeit nicht abbilden zu kön-
122 III Werk – D Novellen

nen, wie sie ist – in allen photographischen Details, 1872) vom Ideal einer »Novelle ohne den Dunstkreis
die das menschliche Auge überfordern. Sie spart die einer bestimmten ›Stimmung‹« (LL 2, 808). Im Schloß
›reizlos alltäglichen‹ Details (vgl. LL 1, 1030) der Zeit- etwa ›zoomt‹ von der Oberfläche der Außenwahrneh-
schriftenfassung von 1849/50 aus und gelangt so zur mung aus Sicht des Dorfs über die Geschehnisse im
»verschleierte[n] Schönheit« (1020), zur poetischen Schloss immer näher an die Innenperspektive Annas
Vieldeutigkeit der Buchfassung von 1851. (ihr Tagebuch) heran, bevor das Geschehen, wieder in
der Gegenwart angekommen, einer glücklichen Lö-
sung zugeführt wird.
Poetologie der realitätsnahen Abbildung
Storm arbeitete sich an dieser Novelle mehr als an
Die Novellen der mittleren Werkphase greifen immer allen anderen ab. Daran sieht man zum einen, welchen
wieder gezielt auf die früheren poetischen Konzepte Stellenwert er ihr zumaß (vgl. LL 1, 1115). Zum ande-
zurück und unterziehen diese einer ›realistischen Re- ren verweist gerade dieses Beispiel auf Storms enorme
vision‹. In Eine Halligfahrt etwa, 1871 in Westermann’s Mediensensibilität, genauer auf sein Gespür für die
Illustrirten Deutschen Monatsheften veröffentlicht, löst Bedingungen von Journalpublikationen, die er an-
ein Spaziergang am Sonntagmorgen die »Erinnerung« strebt, ohne deren Bedürfnisse im Letzten zu bedie-
(LL 2, 41) an eine Jugendliebe aus, der die nachfolgen- nen. Wie Storm hellsichtig gegenüber Ernst Keil, dem
de Binnenerzählung gewidmet ist. Wie in Immensee Herausgeber der Gartenlaube, bemerkt, ist der auf Un-
geht auch dieses Versprechen auf Beziehung nicht in terhaltung abonnierten Zeitschrift daran gelegen, »ei-
Erfüllung, im Unterschied dazu ergibt sich daraus ne spannende Geschichte zu erzählen« (1111). Dabei
aber keine Verlustgeschichte (»Susannens süße ju- ist das Medium Zeitschrift aufgrund seiner spezi-
gendliche Gestalt« steht vielmehr »wohlverwahrt in fischen Programmlogik darauf angewiesen, den Span-
dem sicheren Lande der Vergangenheit«, 61). Erzäh- nungsbogen über mehrere Folgen hinweg aufrecht zu
lerisch ist dieser Novelle weniger daran gelegen, Stim- erhalten. Dieser »Zeitschriftenhabitus« (so Keil, 1110)
mungen zu erzeugen, als vielmehr einzelne Figuren interessierte Storm wenig. Ihm ging es darum, »einen
oder Schauplätze – sei es eine Hallig (vgl. 45), sei es wirklichen Lebensgehalt zum poetischen Ausdruck zu
das Interieur eines Wohnzimmers (vgl. 47) – präzise bringen« (1111). Im Grunde genommen schrieb er
auszugestalten. Überhaupt spielt das erzählerische stets – auch wenn er an den Erstpublikationen seiner
Detail in dieser Werkphase eine sehr viel größere kon- Novellen in Periodika verdienen wollte – mit Blick auf
zeptionelle Rolle als noch in den früheren Texten. die »Buchform« (so Keil in Reaktion auf die Zusen-
Das zeigt bereits (und geradezu idealtypisch) der dung von Auf der Universität, 1140).
Erzähleingang des zweiten Kapitels von Im Schloß. Er An der ›Transformationsgeschichte‹ der Novelle Im
lenkt den Blick des Lesers von der Vorderfassade des Schloß von den handschriftlichen Notizen über den
Gebäudes ins Innere, dann in den ersten Stock, dann Erstdruck in der Gartenlaube und die Separatausgabe
in Annas »Gemach« und schließlich mit Annas Augen (in zwei Auflagen) bis hin zur Fassung in den Sämmt-
auf den gegenüberliegenden Garten mit seinen vielen lichen Schriften lässt sich erkennen, dass es sich Storm
Einzelheiten (»Sandsteinvasen«, »Rosengirlanden«, mit den spezifisch realistischen Wirkungsstrategien
»Sperling«, »Laubgang«, »Sonnenuhr« etc., LL 1, nicht leicht gemacht hat. Die Textbearbeitungen folgen
484 f.). Mit diesen Details verzichtet Storm nicht etwa einem ganz bestimmten Grundsatz: Sie lenken die Le-
auf die Poetisierung des Lebens oder versucht sich gar sersympathien immer konsequenter auf die Haupt-
an einer fotorealistischen Abbildungstreue (vgl. Sto- figur der Novelle, Anna, und deren Verhalten hin. Wo
ckinger 2010, 56–60). Vielmehr weist er ihnen eine in der Zeitschriftenfassung noch explizit von einer
poetische Funktion zu, indem sie, für die Handlung möglichen (und deshalb missverständlichen) »Schuld«
nicht weiter relevant, Realitätseffekte und damit die Il- der Figur die Rede war, wird diese gestrichen (LL 1,
lusion von Wirklichkeit erzeugen sowie Weltwissen 483,21 f./1123); um den kritischen Blick des Lesers auf
bereitstellen (vgl. Barthes 1994). Schon zuvor finden die öffentlichen Vorurteile zu schärfen, wird in der
sich bei Storm Tendenzen, »das allerliebste Leben un- Buchfassung eine Passage ergänzt (vgl. 483,23–
ter der Lupe« zu zeigen (Heyse an Storm, 26.11.1854, 28/1123); und um die Protagonistin nicht der Lächer-
Storm–Heyse I, 21), jetzt aber bestimmt die Poetolo- lichkeit preiszugeben, eine andere getilgt (vgl. 521,25–
gie einer größtmöglichen Realitätsnähe in der Poesie 522,2/1131 f.). An der moralischen Überlegenheit von
die Anlage der Novellen im Ganzen. Storm selbst Annas Geliebtem, Arnold, der eben nicht ›stolz‹, son-
spricht (hier aus Anlass von Draußen im Heidedorf, dern ›traurig‹ ist (vgl. 517,18/1130), besteht ebenso
28 Storms Verständnis des Genres Novelle: Novellenpoetik als Medienpoetik 123

wenig Zweifel, wie die wechselseitige Verbundenheit die Aushandlungen mit dem Verleger (vgl. 1112 f.)
und Unterstützung der beiden Liebenden immer prä- gleichwohl signifikant: Der sich immer weiter profilie-
ziser beschrieben wird, um die positive Deutung ihres rende Realismus der Erzählung dient letztlich dazu, in
(nur scheinbar illegitimen) Verhältnisses gegen die Anna die »Keuschheit eines reifen Weibes« (1113) auf
Vorurteile der Zeitgenossen weiter zu verstärken (vgl. möglichst sympathische und glaubwürdige Weise
521,14–16/1131). wirksam werden zu lassen – und damit die Verkör-
Allzu deutliche Motivierungen nimmt Storm im perung von Storms Ideal »reinsten Menschentums«
›Dazwischen‹, also zwischen Zeitschriften- und Buch- (1118), das zum einen den Standesdünkel des Adels
fassung, zurück (vgl. 505,3 f./1128). Auf unwahr- sowie die Macht der Kirche überwindet, zum anderen
scheinliche Verknüpfungen – wie diejenige, es handle Sinnlichkeit und Sittlichkeit miteinander versöhnt
sich bei dem auf dem Bild über der Tür im Rittersaal (vgl. auch die Ergänzung 497,19–30/1127). Die weite
abgebildeten Knaben tatsächlich um einen Vorfahren Verbreitung des Massenblatts wollte Storm gezielt da-
Arnolds (vgl. 528,19–22/1133) – verzichtet er zuguns- für nutzen: Ein Text, »von mehreren hundert Tausend
ten einer realitätsnäheren Darstellung. In derselben Menschen gelesen«, werde diese zum »Nachdenken«
Absicht schärft er den Detailrealismus. Dabei werden und damit zum Überdenken überkommener Einstel-
unspezifische und deshalb im Sinne des Realitäts- lungen bewegen (1122).
effekts unwirksame Einzelheiten, die noch das Manu- Auch dieses Beispiel belegt, dass Storm die Vorteile
skript vermerkte, in der Zeitschriftenfassung zunächst der Erstveröffentlichung in Zeitschriften durchaus sah
einmal gestrichen: Dass Anna durch die Zimmertür und unbedingt für eigene Zwecke nutzte. Der beson-
des Onkels dessen »Lehnstuhl« »in heller Beleuch- deren Programmlogik dieser Organe aber, die ein Er-
tung« (1125) sieht, was den als Vermutung geäußerten zählen »in Portionen« (1886 aus Anlass von Ein Dop-
Eindruck, es »schienen Kerzen zu brennen« (490), er- pelgänger; LL 3, 1000) nahelegt und als spezifisch rea-
härten soll, fehlt in der Gartenlauben-Fassung ganz. listischen Mechanismus profiliert, begegnete er mit
Die Vermutung ist hier der sicheren Aussage gewi- Misstrauen. Storms Ablehnung ist wiederum konzep-
chen: »Wachskerzen [brannten] in schweren silber- tionell begründet, berührt also den Kern seines No-
nen Leuchtern« (Die Gartenlaube 1862, 147). In der vellenverständnisses und dessen werkbiographischer
Buchfassung nimmt Storm diese der flüchtigen Lektü- Entwicklung. Die Bewegung geht, grob schematisiert
re in der Zeitschrift entgegenkommende Verein- gesagt, von der Lyrik zum Drama. Seine »Novellistik«
fachung wieder zurück, ersetzt aber zugleich das habe sich »aus der Lyrik entwickelt«, schreibt Storm
nichtssagende Detail der Handschrift durch ein poeti- am 12.3.1882 an Alberti. Nach und nach aber »bildete
sches: »denn sie konnte deutlich die vergoldeten En- sich die vollständige und völlig lückenlose Novelle he-
gelköpfe unter dem Kamingesims erkennen« (LL 1, raus« (LL 1, 1004 f.; ähnlich an Schmidt, vgl. Storm–
490). Selbst mit solchen Kleinigkeiten, genauer mit Schmidt II, 57). Das Erzählen auf Lücke hin, wie es die
der behutsamen Öffnung der Stelle auf religiöse Bild- Periodizität der Zeitschrift notwendig erfordert, lässt
räume hin (›vergoldete Engelköpfe‹), ruft Storm auf, sich damit nur schwer vereinbaren.
was seit einigen Jahren als zentrales Thema der Novel-
le gehandelt wird: die »literarische Auseinanderset-
Poetologie der konfliktzentrierten
zung mit Religionskritik und christlicher Religion«
Geschlossenheit
(Detering 2008, 33; vgl. Demandt 2010, 127–169). Sie
liegt in der medienpoetologischen Fundierung der Storms Poetologie der Novelle ist von eigenständiger
Verbesserungsästhetik Storms begründet. Qualität – sie steht gleichberechtigt neben den viel zi-
Weitere Änderungen nahm Storm nicht freiwillig tierten, kanonischen Novellendefinitionen des
vor, sondern reagierte damit auf eigenmächtige Text- 19. Jahrhunderts, mit denen sie sich auseinandersetzt
eingriffe durch Keil. Für das liberale Familienblatt wa- und die sie teilweise explizit revidiert: Wenn Storm in
ren Storms Ansichten, die es einer Frau zugestanden, Eine zurückgezogene Vorrede 1881 von der Novelle
sich einen Sohn oder eine Tochter ›der Liebe‹ zu wün- nicht länger »die kurzgehaltene Darstellung einer
schen, schon zu radikal (vgl. LL 1, 1113): Anna sollte durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen
es explizit bedauern dürfen, dass ihr inzwischen ver- überraschenden Wendepunkt darbietenden Begeben-
storbenes Kind eben nicht einer außerehelichen Ver- heit« (LL 4, 408 f.) fordert, dann erteilt er damit zum
bindung mit Arnold entstammt (vgl. 523,1– einen Goethes thematischer Bestimmung der Novelle
15/1132 f.). Für die Darstellungsabsicht Storms sind als Form für die Darstellung einer »sich ereignete[n]
124 III Werk – D Novellen

unerhörte[n] Begebenheit« eine Absage (Eckermann Das Ideal der Novelle als der »strengste[n] Form
1948, 225, 29.1.1827; entgegen Reiter 2004, 37, die der Prosadichtung« (LL 4, 409) beschäftigte Storm seit
Storms Novellen-Verständnis auf Goethes Definition den 1870er Jahren in vielfacher Weise. Der Span-
hin zuordnet). Zum anderen wendet er sich damit ge- nungsbogen des – in Gustav Freytags Technik des Dra-
gen Tiecks strukturelle Forderung nach einer »Wen- mas (1863) kodifizierten – klassischen Dramas ließ
dung der Geschichte« ins ›völlig Unerwartete‹ (Tieck sich dabei nur ansatzweise nachbilden, zumal Storm,
1829, LXXXVI) – ohne zu bedenken, dass auch Tieck vermutlich angeregt durch eine Kritik Iwan Turge-
die Novelle auf die ›Neuigkeit‹ als konflikthaft Interes- news aus Anlass von Aquis submersus (1876; vgl. Tur-
santes bezog und sie so von der Tagesaktualität ihres genew an Pietsch, 28.12.1876, Turgenev 2005, 202),
bevorzugten Publikationsmediums her begründete. das »Motivieren vor den Augen des Lesers« zuneh-
Dass sich der Erfolg der Darstellungsform nicht zu- mend zu vermeiden suchte. Den in Rede stehenden
letzt dem »Aufblühen des Journalismus« (Heyse 1994, Konflikt einer »›symptomatischen‹ Behandlung« zu
248) im Verlauf des 19. Jahrhunderts verdankt, wusste unterziehen (an Heyse, 15.11.1882, Storm–Heyse III,
auch Heyse, mit dem Storm gerade über die Theorie 37) bedeutete eben auch, auf eine explizite kausale
und Praxis der Novelle im regen Austausch stand. Verknüpfung der Handlungsbestandteile zu verzich-
Beiden war klar, dass Tages- und Wochenblätter ei- ten, um vielfältige Deutungsspielräume zu eröffnen
nem Genre, das, wie sie selbst, auf »Tagesneuigkeiten« (am Beispiel von Schweigen vgl. Wünsch 1992). Aller-
abonniert ist, großen »Spielraum« eröffnen (Heyse dings legte Storm in dieser Werkphase großen Wert
1994, 249, 248). Und beide sahen genau darin eine Ge- auf eine klare Exposition, er klammerte Nebenhand-
fahr für den ästhetischen Stellenwert der Novelle im lungen weitgehend aus und führte die Haupthandlung
Gattungssystem. Heyses Theorie der Novelle, in der einem nicht überraschenden Finale zu, das sich aus
Einleitung zu seinem gemeinsam mit dem schwäbi- dem Geschehen möglichst stimmig (wenngleich nicht
schen Dichter Hermann Kurz veranstalteten Deut- stets explizit motiviert) ergeben sollte. In diesem Sin-
schen Novellenschatz (1871) entwickelt, trägt den me- ne können Texte wie Beim Vetter Christian (1874) und
dialen Bedingungen ihrer Verbreitung Rechnung, Die Söhne des Senators (1880) als Komödien-Versio-
wenn mit der »heillosen Zerstückelung« der perio- nen von Storms Herleitung der Novelle aus dem Dra-
disch veröffentlichten Texte deren Kunstwerkcharak- ma, Carsten Curator (1878) und Hans und Heinz Kirch
ter in Frage gestellt wird. Dagegen forderten Heyse (1882) als Tragödien-Versionen gelten (zu letzterer
und Kurz von der Novelle, ein »abgerundetes Ganzes« unter dieser Rücksicht vgl. Stockinger 2010, 139–144).
zu bilden, in sich geschlossen und thematisch an- An Carsten Curator lässt sich sehen, in welcher
spruchsvoll. Die Handlungsdramaturgie sollte sich Weise der Aufbau eines Prosatextes den Anforderun-
zum einen auf »einen einzelnen Conflict« beziehen, gen an den Spannungsbogen des klassischen Dramas
zum anderen auf eine bestimmte »sittliche oder genügen kann, ohne die Gattungsgrenzen zu verraten
Schicksals-Idee« (ebd., 250, 249, 253). oder aufzugeben. Dass sich ›Spannung‹ in diesem Sin-
Beide Momente finden sich in Storms Überlegun- ne eben gerade nicht auf die zeitgenössischen Forde-
gen zur Novelle wieder, denn auch er war an einer rungen an einen möglichst ›spannenden‹, auf Lücke
Aufwertung der Darstellungsform über die flüchtigen geschriebenen Unterhaltungstext bezieht, zeigt die
Aufmerksamkeitsspannen des Tagesjournalismus hi- Novelle ebenfalls. In einer einzigen Nummer von Wes-
naus interessiert. Wenn er das Genre in griffige For- termann’s Illustrirten Deutschen Monatsheften (44,
meln wie »Parallel-Dichtung des Dramas« (Storm– 1878, 1–38) veröffentlicht, präsentiert sich der Text als
Schmidt I, 120) oder »Schwester des Dramas« (LL 4, zeitlich und thematisch logische Verkettung von Tei-
409) fasst, heißt das: Wie die Tragödie behandle die len, die durch erzählerische Mittel wie Erzählerkom-
Novelle keine alltäglichen Vorkommnisse, sondern mentare oder Prolepsen von Beginn an zusammen-
die »tiefsten Probleme des Menschenlebens«, und wie gehalten werden. Von vornherein wird der Leser so
in der Tragödie stehe im Mittelpunkt der Novelle ein bei Andeutungen über bevorstehende Ereignisse zu-
Konflikt, »von welchem aus das Ganze sich organi- gleich über deren Ausgang informiert. Ein Beispiel:
siert«; »alles Unwesentliche[]« werde bei Seite gelas- Noch bevor Carstens verhängnisvolle Liebe Juliane
sen (ebd.). Heyse wie Storm machten so die medial explizit in die Handlung eingeführt ist, erfährt der Le-
bedingten Grenzen des Genres zur Grundlage für des- ser schon, dass »der Tod« »nach ein paar Jahren Alles
sen Transformation in ein überzeitlich gültiges litera- wieder ins Gleiche« bringen wird (LL 2, 457); und
risches Werk (vgl. Stockinger 2010, 113–128). wenn der ›verlorene Sohn‹ Heinrich in Hamburg
28 Storms Verständnis des Genres Novelle: Novellenpoetik als Medienpoetik 125

glänzende Geschäfte zu machen scheint, dann wird dung ins Resignativ-Versöhnliche anbietet: Liebevoll
zumindest dem Leser umgehend bedeutet, dass diese kümmert sich Anna um ihren schwerkranken Schwie-
»nach mehr als einer Seite hin« äußerst »gewagt« sind gervater Carsten. Zum anderen öffnet sich in der Fi-
(486), auch von dort also nichts Gutes zu erwarten ist. gur des Enkels die Geschlossenheit der Novelle auf die
Will man Carsten Curator mit Heyses Forderung Zukunft der Geschlechter hin, für die das Kind steht.
nach einer »starke[n] Silhouette« (Heyse 1994, 254), Die Vererbungsproblematik setzt sich so ins Unend-
die gerade eine Novelle zu konturieren habe, auf den liche gehend fort (vgl. 521). Indem Storm in diesem
Punkt bringen, so rückt das Verhältnis von Erblast Text (wie in vielen Novellen der späteren Werkphase)
und Eigenverantwortlichkeit im Handeln des Einzel- dem Leben nicht in erster Linie dessen poetische Sei-
nen in den Mittelpunkt. In fünf klar zu unterscheiden- ten entbindet, sondern sich gerade auch der »häß-
den Abschnitten analog zum Aufbau der klassischen lichen Wirklichkeit« (an Keller, 27.2.1878, Storm–
Tragödie lotet der Text die Schuldfrage aus (zum sog. Keller, 26) zuwendet, leitet er zeitgleich zur Ausbil-
Pyramidenschema des Dramas vgl. Freytag 1863, dung einer Poetologie der konfliktzentrierten Ge-
100). Die Exposition des ersten Teils zeigt Carsten als schlossenheit eine neue Phase des Realismus ein.
sittenstrengen Ehrenmann, hoch angesehen in der
Gesellschaft, der doch in die ›Fänge‹ einer sehr viel
Zusammenfassung
jüngeren, leichtsinnigen Frau, Juliane, gerät. Sie stirbt
bald und hinterlässt einen Sohn, Heinrich, der sich Storms Verständnis der Novelle lässt sich nur erschlie-
»als der körperliche und allmählich auch als der geisti- ßen, wenn man zugleich bedenkt, dass es auf dem nach
ge Erbe seiner schönen Mutter« (LL 2, 460) heraus- 1850 entstehenden Massenmarkt zwischen den Pro-
stellt. Die steigende Handlung im zweiten Teil schürzt duktionsbedingungen, den Rezeptionserwartungen
den Knoten, indem sich einerseits Carstens Mündel, und der Ästhetik der Texte zu vielfältigen Rückkopp-
die herzensgute Anna, als mögliche Bewahrerin des lungseffekten kommt. Dem ausgewiesenen ›Medien-
mit Spielschulden belasteten Heinrich qualifiziert. profi‹ Storm kann das nur nützen, und zwar in meh-
Andererseits kann Heinrich selbst berufliche Erfolge rerlei Hinsicht: Als ›Dichter‹ im emphatischen Sinn
in Hamburg aufweisen, die sich aber, so steht zu ver- möchte er sich in den literaturgeschichtlich relevanten
muten, kaum werden verstetigen lassen. Als Höhe- Kanon einschreiben, als (Nebenerwerbs-)›Schriftstel-
punkt der gesamten Anlage stellt sich dann, folgerich- ler‹ mit Familie wirbt er um die nachhaltige Aufmerk-
tig im dritten Teil, Heinrichs Ruin in Hamburg dar. samkeit der zeitgenössischen Leserschichten. Die Be-
Vorangetrieben wird die Handlung an den zentra- reitschaft zur Publikation in Periodika ist dafür die con-
len Gelenkstellen durch die Figur des Maklers Jaspers, ditio sine qua non, das Interesse an Einzelpublikationen
genannt »›Stadtunheilsträger‹« (465 u. ö.), der als In- für jeden Geldbeutel bis hin zu Schmuckausgaben für
trigant eine rein dramaturgische (also nicht psycho- den Bildungs- und Besitzbürgerhaushalt versteht sich
logisch auflösbare) Funktion übernimmt. Seine Intri- ebenfalls von selbst. Storm lässt sich von seinen Ver-
gen zielen in erster Linie darauf, sich auf Kosten ande- legern nicht die Butter vom Brot nehmen, weder wört-
rer zu amüsieren oder ganz konkret an ihren Verlusten lich verstanden, bezogen auf die Honorare, noch im
zu verdienen. Den vierten Teil bereitet Jaspers vor, in- übertragenen Sinn, bezogen auf den Referenzrahmen,
dem er Carsten einen Krämerladen für Heinrich ver- den Horaz’ Anspruch des »Exegi monumentum aere
mittelt und ihm zudem nahelegt, den Sohn zu verhei- perennius« (»Denkmal steht, was ich schuf, ewiger als
raten (vgl. 495 f.). In der Tat ergibt sich daraus für die Metall«; Horaz 1820, 239) für den Autor des 19. Jahr-
fallende Handlung des vierten Teils ein geradezu klas- hunderts bedeutete. Auch die sich in Storms Über-
sisches retardierendes Moment: Heinrich und Anna legungen zunehmend profilierende Nähe von Dra-
heiraten, haben ein gutes Auskommen, bekommen ei- men- und Novellenpoetik, die Tatsache also, dass
nen Sohn – alles scheint, wenigstens für kurze Zeit, gut Storms Novellen- zunehmend als Dramenpoetik be-
zu gehen. Der fünfte Teil bringt die Katastrophe: Hein- gründet wird, erklärt sich dadurch. Die Novelle Storms
richs endgültigen Ruin. Er stirbt in der Sturmflut, sollte sich an der bedeutendsten Gattung der Zeit, der
nachdem sich Carsten geweigert hatte, dem Sohn mit Dramatik, messen lassen können bzw. mit dieser
Annas letzten finanziellen Rücklagen auszuhelfen. Schritt halten. Dem zeitgenössischen Gattungsver-
Wie in Hans und Heinz Kirch, in vielerlei Hinsicht ständnis zufolge und seinen medialen wie (aufmerk-
eine Parallelerzählung zu Carsten Curator, endet die samkeits-)ökonomischen Voraussetzungen nach bot
Novelle mit einem Nachtrag, der zum einen eine Wen- sich im Bereich der Prosa hierfür allein die Novelle an.
126 III Werk – D Novellen

Literatur märz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer


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29 »Marthe und ihre Uhr« (1848) 127

29 »Marthe und ihre Uhr« (1848) indem sie ihnen »Teilchen ihrer Seele« (LL 1, 282) ver-
leiht. Phantasie und Wirklichkeit durchdringen sich
Storms erstes Prosastück entstand 1847 und erschien gegenseitig und ermöglichen es Marthe, in der paral-
erstmals 1848 in dem von Karl Leonhard Biernatzki lelen Welt ihrer Vorstellungen zu leben. Der realen
herausgegebenen Volksbuch auf das Schalt-Jahr 1848 Welt ihrer Umgebung dagegen fühlt sie sich nicht
für Schleswig, Holstein und Lauenburg. Leicht ver- mehr zugehörig: »Was willst du da? Deine Weih-
änderte Fassungen wurden in die Sammlungen Som- nachtsfeier gehört ja nicht dahin!« (284)
mergeschichten und Lieder (1851) und Im Sonnen- Zentrales erzählerisches Mittel in der Novelle ist die
schein. Drei Sommergeschichten (1854) aufgenommen. alte Uhr. Als ständige Begleiterin von Marthes Leben
Die Novelle entstand auf Anfrage Biernatzkis, der nach ist sie vom Vergehen der Zeit nicht unberührt geblie-
einigen nacherzählten Märchen und Spukgeschichten ben: Ihr Uhrwerk ist schadhaft geworden, sie geht
ein eigenständiges Werk Storms veröffentlichen wollte. nicht mehr regelmäßig und muss von Marthe immer
Die alte Marthe vermietet Zimmer in ihrem ehema- wieder neu in Gang gesetzt werden. Das unbelebte Ob-
ligen Elternhaus, in dem der Ich-Erzähler seine Schul- jekt erscheint auf diese Weise als belebt, sodass die
jahre als Mieter verbracht hatte. Nachdem alle Fami- Uhr, wie Marthe selbst, eine Zeit-Zeugin vergangener
lienmitglieder entweder gestorben oder ausgezogen Ereignisse darstellt. In diesem Sinne bestehen in der
waren, füllt Marthe ihre Einsamkeit aus, indem sie zu Novelle zwei Zeitkonzepte nebeneinander: auf der ei-
ihren Möbeln imaginäre Beziehungen aufbaut. Ins- nen Seite die mechanische Zeit, von der die erzählte
besondere eine von ihrem Vater vererbte Uhr spielt ei- Gegenwart während der Epoche der Industrialisierung
ne zentrale Rolle in ihrer Vorstellungswelt. Ihr Ticken zunehmend bestimmt wird, und auf der anderen Seite
und unregelmäßiges Schlagen lassen bei Marthe alte die individuelle Lebenszeit der Figur Marthe. Letztere,
Erinnerungen wach werden, darunter die an zwei ver- stark subjektiv geprägt und weniger exakt, kann im ab-
gangene Weihnachtsfeste; eines, als die Familie noch geschlossenen Wohnraum Marthes fortbestehen, der
vollständig war, und ein anderes, an dem die Mutter somit eine Insel im Fluss der mechanischen Zeit dar-
Marthes starb und diese allein zurückließ. In Marthes stellt. Zugleich begleitet die Uhr die Lebenszeit Mart-
Phantasie untermalt und kommentiert die alte Uhr hes und macht sie erzählerisch zugänglich. Der Ma-
durch ihr Ticken diese Erinnerungsbilder. Am Ende schinencharakter der Uhr ist dabei nur scheinbar, da
erfahren die Leser, dass der Erzähler nicht mehr in der- der mechanische Chronograph die individuelle Zeit
selben Stadt lebt, aber seiner Hoffnung Ausdruck ver- seiner Besitzerin anzuzeigen vermag. Das unregel-
leiht, dass seine Erzählung von Marthe gelesen werde. mäßige Ticken der Uhr erinnert dabei an das Schlagen
Die Novelle hat kaum Handlung im eigentlichen eines menschlichen Herzens, sodass der mechanische
Sinn; vielmehr stehen die durch die Uhr in Gang ge- Apparat nahezu organischen Charakter gewinnt. Bei-
setzten Erinnerungen Marthes im Mittelpunkt. Die de, Marthe und die Uhr, gehören einer vergangenen
kurze Novelle verfügt über eine komplexe narrative Zeit an, und beide sind mit den Jahren gealtert.
Struktur: Zunächst schildert der Ich-Erzähler aus sei- Darüber hinaus steht die Uhr in dieser Novelle
ner Erinnerung die Lebensumstände Marthes, worauf nicht allein für das Vergehen der Zeit, sondern auch
die Perspektive von der ersten zur dritten Person für deren Konservierung. Als ein von Marthes ver-
wechselt und die Erinnerungen der erinnerten Person storbenem Vater übernommenes Erbstück ist sie ein
selbst, also Marthe, im Rückblick erzählt werden. Zum Relikt aus der Vergangenheit mit einer eigenen Ge-
Abschluss übernimmt wieder die Stimme des Ich-Er- schichte. Auf einem Trödelmarkt gebraucht erstan-
zählers und etabliert eine Meta-Ebene, indem sie die den, wurde sie von Marthes Familie mit neuer Bedeu-
Möglichkeit andeutet, dass der Gegenstand des Er- tung aufgeladen und hat nun, da Marthe allein zu-
zählten (Marthe) selbst zur Leserin der vorliegenden rückgeblieben ist, gleichermaßen die Funktion eines
Erzählung werden könnte. Familienmitglieds übernommen. In den imaginierten
Marthe gleicht den Verlust ihrer sozialen Bezugs- Gesprächen der alten Frau mit ihrer Uhr wird diese
personen aus, indem sie sich eine imaginäre Welt zum Katalysator von Marthes Erinnerungen und ver-
schafft. So gewinnen die Gestalten aus Mörikes Maler setzt sie in die Vergangenheit.
Nolten in Marthes Phantasie ein Eigenleben, das über Verknüpft mit dem Motiv der vergehenden und zu-
ihre literarische Existenz hinausgeht und die gedank- gleich konservierten Zeit ist die Weihnachtsthematik,
liche Welt der Leserin bereichert. Umgekehrt haucht die auch in späteren Werken Storms als Chiffre der
Marthe ihren Möbeln, besonders der Uhr, Leben ein, verlorenen Kindheit dient, so etwa in Unter dem Tan-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_29, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
128 III Werk – D Novellen

nenbaum (1862), Abseits (1863) oder Immensee die Strategie des Zusammenlebens mit der Uhr als le-
(1850/51). In Marthe und ihre Uhr steht das vom Er- bensverlängernd, so als ob deren halb mechanische,
zähler selbst dargestellte Weihnachtsfest parallel zu halb organische Zeit zur Lebensdauer Marthes beitra-
Marthes erster Erinnerung, während die Einsamkeit gen könnte.
von Marthes aktuellem Weihnachtsabend der zweiten Marthe und ihre Uhr hat sich trotz des knappen
entspricht. Erzählte Gegenwart und erinnerte Vergan- Umfangs als ertragreich für die Forschung erwiesen.
genheit ergeben, ineinander verschränkt, eine viel- So hat etwa das erzählerische Mittel der Uhr verschie-
schichtige Weihnachtsgeschichte, anhand derer Sta- dene Interpretationen erfahren. Es fungiert zum Bei-
tionen aus dem Leben Marthes erzählt werden. Die spiel als wichtiges Verbindungsstück zwischen Marthe
Gleichzeitigkeit mehrerer Weihnachtsfeste in Storms und der sie umgebenden Welt, illustriert zugleich aber
Novelle erinnert dabei an Charles Dickens’ Weih- auch ihre soziale Isolation, besonders im Kontrast zu
nachtsgeschichte (A Christmas Carol) aus dem Jahr der sozial stärker eingebundenen Figur des Erzählers
1843. Beide Werke thematisieren außerdem das Pro- (Schuster 1971). Außerdem kann die Uhr als Gegen-
blem von Armut und sozialer Isolation im Kontext stand und Katalysator der Erinnerung zugleich auch
von Weihnachten, wobei Storm allerdings auf den bei als ein Symbol der Figur Marthe selbst verstanden
Dickens vorhandenen moralisierenden Gehalt weit- werden (Lee 2004). Zudem stellt die Uhr eine Zeitkap-
gehend verzichtet. sel dar, mithilfe derer die Vergangenheit in Objekten
Darüber hinaus ist die Weihnachtsthematik in bewahrt wird. Dieses erzählerische Mittel begegnet
Marthe und ihre Uhr eng mit dem Motiv des Todes häufig im Werk Storms und dient dazu, die erzählte
verknüpft. Bereits zu Beginn der Novelle wird die The- Gegenwart in der Vergangenheit zu verankern (Ved-
matik von Einsamkeit und Tod angedeutet, wenn der der 2013).
Erzähler Marthes Haus beschreibt, »worin aber von Schließlich wird noch deutlich, dass in Marthe und
Vater, Mutter und vielen Geschwistern nur eine al- ihre Uhr zahlreiche Themen und Motive etabliert wer-
ternde unverheiratete Tochter zurückgeblieben war« den, die auch für das spätere Werk Storms charakteris-
(281). Marthes zweite Erinnerung hat das Sterben ih- tisch sind, darunter das Erinnerungsmotiv, der soziale
rer Mutter am Weihnachtsabend zum Thema, in des- Bezugsrahmen und das Verhältnis zur Natur (Lee
sen Folge sie allein zurückgeblieben war. Auch die 2004).
Kinder der Schwester Marthes sind tot, wie die Leser
während derselben Erinnerungspassage erfahren, so- Literatur
dass die Uhr in diesem Fall zu einer Art memento mori Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
wird. Imagination und Realität bestehen nebeneinan- Storms frühen Novellen (1848–1859). Berlin 2004.
Schuster, Ingrid: Theodor Storm: die zeitkritische Dimension
der und beeinflussen sich gegenseitig, während der er-
seiner Novellen. Bonn 1971.
zählerische Rahmen des Weihnachtsfestes die soziale Vedder, Ulrike: Dinge als Zeitkapseln. Realismus und Un-
Einsamkeit der Protagonistin hervorhebt. verfügbarkeit der Dinge in Theodor Storms Novellen. In:
Der freiwillige Rückzug Marthes in die Welt ihrer Dies./Elisabeth Strowick (Hg.): Wirklichkeit und Wahr-
Imagination ließe sich als Vorbote ihres sich nahen- nehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm. Bern
den Todes interpretieren, jedoch endet die Novelle 2013, 73–90.
mit der zuversichtlichen Prognose, dass Marthe »ge- Dagmar Paulus
wiß sehr alt« werde (287). In diesem Sinne erscheint
30 »Im Saal« (1848) 129

30 »Im Saal« (1848) schein auszeichnet (s. Kap. III.D.32; vgl. Strowick
2013, 60–62).
Storms Novelle Im Saal (LL 1, 288–294) erschien erst- Die Kluft zwischen dem Einst und dem Jetzt wird
mals im von Karl Leonhard Biernatzki herausgegebe- u. a. am Wechsel der Moden deutlich: Das Kind, das
nen Volksbuch auf das Jahr 1849 für Schleswig, Hol- getauft wird, erhält den Namen der Großmutter – Bar-
stein und Lauenburg und wurde dann in die von bara –, doch zusätzlich noch einen anderen Namen,
Storm veröffentlichten Anthologien Sommergeschich- »denn Barbara allein klang doch gar zu altfränkisch
ten und Lieder (1851) und Im Sonnenschein. Drei für das hübsche kleine Kind« (LL 1, 288). Auch in
Sommergeschichten (1854) übernommen. In Storms Marthe und ihre Uhr (282 f.), Immensee (295) und Im
1868 in erster Auflage gedruckten Sämmtlichen Sonnenschein (358) ist die Zeitlichkeit von Moden je-
Schriften wird der Text im Inhaltsverzeichnis datiert weils ein Thema.
auf »Husum 1848«. Die Erfahrung des zeitlichen Wandels besitzt in der
Bei dieser Novelle lassen sich eine Rahmen- und ei- Novelle Im Saal auch eine politische Komponente. So
ne Binnenerzählung unterscheiden (vgl. Laage 1958, hängt in diesem Text aus dem Revolutionsjahr die
17–19). Die Rahmenerzählung nimmt ihren Ausgang Großmutter immer noch der ständischen Ordnung
bei einer Tauffeier, zu der sich eine Familie in einem der Vergangenheit an und betrachtet die Enkelgenera-
Saal versammelt hat. In diesem geselligen Kreis wer- tion als anmaßend, da in dieser die Dienstmädchen
den – novellentypisch – Geschichten erzählt (vgl. Kor- nicht mehr bereit sind, sich dem Adel unterzuordnen:
ten 2009, 201), und die Großmutter erinnert sich an »Es war damals freilich noch eine stille, bescheidene
Szenen aus ihrem Leben, die sich früher an dem Ort Zeit; wir wollten noch nicht Alles besser wissen, als die
abspielen: wie sie als achtjähriges Mädchen erstmals Majestäten und ihre Minister [...]. Die Dienstmäd-
zu dem jungen Mann sich hingezogen fühlt, der acht chen hießen noch alle Trine oder Stine, und jeder trug
Jahre später ihr Bräutigam wird, und wie in dem Saal, den Rock nach seinem Stande. Jetzt tragt ihr sogar
den man anlässlich der Hochzeit errichtet, wiederum Schnurrbärte wie Junker und Kavaliere« (LL 1, 293;
viele Jahre später der Sarg des Mannes steht. Die Schil- vgl. Ebersold 1981, 23 f.).
derungen dieser Szenen durch die Großmutter bilden Von den laufenden Debatten der Gegenwart, in der
die Binnenerzählung. »alle mit regieren« wollen (LL 1, 293), ist die Groß-
Im Saal erweist sich insofern als besonders charak- mutter ausgeschlossen, obwohl sie von den versam-
teristisch für Storms Novellenverständnis (s. Kap. melten Familienmitgliedern rücksichtsvoll und scho-
III.D.27), als dass die Binnenerzählung aus einer Rei- nend behandelt wird (vgl. Lee 2005, 41 f.). Die Tren-
he einzelner Erinnerungsbilder besteht. Im Vorwort nung der Großmutter vom aktuellen Geschehen zeigt
des genannten Bandes Sommergeschichten und Lieder sich in dem Umstand, dass man ihr nichts von den
erklärt Storm, »um das Wesen dieser Geschichten zu Zweifeln verrät, die daran aufgekommen sind, ob ihr
bezeichnen«, hätte er »›Situationen‹ schreiben müs- »langbewährte[r]« Name sich noch für das zu taufen-
sen« (LL 4, 377; vgl. Storm–Brinkmann, 27; zu den de Kind eignet (LL 1, 288). Bereits in der Diskussion
Anregungen zur Situationsnovelle, die vom bürger- um den Namen, dessen Weitergabe dem familiären
lichen Drama des 18. Jahrhunderts ausgehen: Wierla- Gedächtnis dient, stehen die Bindung an das Vergan-
cher 1972, 38 f.). gene und die Tradition in Frage. Die Großmutter strei-
Durch zeitlichen Abstand jeweils voneinander ge- tet sich nicht mit ihrem Enkel, als dieser die in seiner
trennt sind in der Novelle Im Saal zum einen die Sze- Generation verbreiteten egalitären Ansichten vertritt;
nen, an die sich die Großmutter erinnert; zum ande- vielmehr hält sie es für an der Zeit, sich zurückzuzie-
ren aber tut sich eine große zeitliche Kluft zwischen hen und ihrem Mann in den Tod zu folgen (LL 1, 293;
jenen Szenen und der Situation des Sich-Erinnerns vgl. Lee 2005, 40). Auf diese Weise bildet die Vergan-
auf: Mit dem Satz »Es ist achtzig Jahre her« (LL 1, 289) genheit, der die Großmutter zugeordnet ist, gegen-
beispielsweise leitet die Großmutter ihre Erzählung über der Gegenwart einen eigenen, abgesonderten Be-
ein, und zuvor heißt es: »ihre Gedanken waren bei den reich. Gerade durch diese Trennung von Vergangen-
Schatten der Dinge, deren Wesen lange dahin war« heit und Gegenwart kann die Großmutter erstere zur
(ebd.). Auf diese Weise entfaltet die Novelle ein Spiel Idylle stilisieren.
mit dem Verschwundenen, ähnlich jener »Poesie der Zur Idealisierung der Vergangenheit trägt nicht zu-
Verschollenheit« (EB, 213), die für Storm die »Schwes- letzt bei, dass im ersten Erinnerungsbild die »kleine«,
tererzählung« (Storm–Brinkmann, 100) Im Sonnen- achtjährige Barbara erscheint, die einen jungen Mann

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130 III Werk – D Novellen

lieb gewinnt (LL 1, 290–292). Die realistische Insze- Großvater war es auch‹« (LL 1, 294). Aus dieser Sicht
nierung dieser Kinderliebe besitzt literaturhistorisch erscheint die Wiederholung des Vergangenen zwar il-
paradigmatischen Charakter (vgl. Susteck 2010, 161); lusorisch, aber das Bezogensein auf solche Illusionen
die biographistisch ausgerichtete Forschung hat die- verbindet die Generationen wiederum miteinander.
sen Aspekt nicht selten auch mit Storms Zuneigung zu
der zehnjährigen Bertha von Buchan in Verbindung Literatur
gebracht (s. I.2; vgl. Bollenbeck 1988, 60–67). Abseits Bollenbeck, Georg: Theodor Storm. Eine Biographie. Frank-
dieser Spekulationen steht das Kind Barbara in der Er- furt a. M. 1988.
Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
zählung der Großmutter für einen geradezu paradie- Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.
sischen Zustand der Einheit: für eine Welt, die noch Detering, Heinrich: »Rückwärts in die Kindheit«: Theodor
nicht von spannungsreicher politischer Differenz zer- Storms Texte für Bertha von Buchan. In: Malte Stein/Re-
klüftet zu sein scheint (vgl. Börner 2009, 31–38). Die gina Fasold/Heinrich Detering (Hg.): Zwischen Mignon
Idealisierung des Kindes und die der Vergangenheit und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier
und Realismus. Berlin 2010, 57–72.
haben gemeinsam, dass beide sich auf unerreichbar
Ebersold, Günther: Politik und Gesellschaftskritik in den No-
beziehungsweise unwiederbringlich Fernes beziehen vellen Theodor Storms. Bern 1981.
(vgl. Detering 2010). Eisele, Ulf: Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literari-
Von programmatischer Bedeutung ist in der Novel- schen Theorie nach 1848 am Beispiel des »Deutschen Muse-
le Im Saal auch die Darstellung des hohen Alters (vgl. ums«. Stuttgart 1976.
Küpper 2004, 155–157): Als Greisin kann die Groß- Korten, Lars: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre
1848–1888: Stifter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen 2009.
mutter Situationen aus ihrem Leben als des Erzählens
Küpper, Thomas: Das inszenierte Alter. Seniorität als literari-
würdig auswählen, sich auf wenige, ihr bedeutsam er- sches Programm zwischen 1750 und 1850. Würzburg 2004.
scheinende Szenen beschränken. Damit wird es mög- Laage, Karl Ernst: Das Erinnerungsmotiv in Theodor Storms
lich, das ›Wesen in der Erscheinung‹ zu finden und die Novellistik. In: STSG 7 (1958), 17–39.
Wirklichkeit zu verklären, wie es damaligen realisti- Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
schen Literaturprogrammen entspricht (s. IV.1; vgl. Storms frühen Novellen (1848–1859). Berlin 2005.
Plumpe, Gerhard: Einleitung. In: Edward McInnes/Gerhard
Eisele 1976; Plumpe 1996, 50–57). Dadurch, dass die Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit
bejahrte Großmutter Rückschau hält – »Ich sehe es 1848–1890. München 1996, 17–83.
noch vor meinen alten Augen« (LL 1, 290) –, wirkt ih- Plumpe, Gerhard: Gedächtnis und Erzählung. Zur Ästheti-
re Erzählung nicht nur glaubwürdig, sondern er- sierung des Erinnerns im Zeitalter der Information. In:
scheint auch vom Verschwinden bedroht und kostbar Gerd Eversberg/Harro Segeberg (Hg.): Theodor Storm und
die Medien. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realis-
angesichts des nahenden Todes. Dergestalt wird
ten. Berlin 1999, 67–79.
mündliches Erzählen und Erinnern in dem gedruck- Susteck, Sebastian: Kinderlieben. Studien zum Wissen des
ten Text poetisch inszeniert und ihr Unersetzliches 19. Jahrhunderts und zum deutschsprachigen Realismus
hervorgehoben (vgl. Plumpe 1999, 74). von Stifter, Keller, Storm und anderen. Berlin 2010.
Durch die Schlusspointe der Novelle wird die Vor- Strowick, Elisabeth: »Eine andere Zeit«. Storms Rahmen-
stellung von Verlust indes relativiert: Der Enkel teilt technik des Zeitsprungs. In: Elisabeth Strowick/Ulrike
Vedder (Hg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Per-
der Großmutter mit, dass er den Saal abreißen lassen spektiven auf Theodor Storm. Bern 2013, 55–72.
will – damit verschwände der Raum des Erinnerns Wierlacher, Alois: Situationen. Zu Storms früher Prosa. In:
und Erzählens –, dass aber ein Schauplatz ihrer Erzäh- STSG 21 (1972), 38–44.
lung wiederhergestellt werden soll, und die Greisin
Thomas Küpper
antwortet lächelnd: »›Du bist ein Phantast‹ [...]; ›Dein
31 »Immensee« (1849) 131

31 »Immensee« (1849) hung zwischen Reinhardt und Elisabeth, so u. a. in


den Szenen »Die Kinder« und »Daheim« bleibt bei al-
Entstehung
le dem jedoch unberührt; auch die Erzähltechnik der
Es gibt nur einen einzigen Hinweis von Storm selbst Andeutung und Aussparung ist hier schon ausgeprägt,
zur Entstehungszeit von Immensee im Inhaltsver- wird in der Überarbeitung nur noch verfeinert (vgl.
zeichnis der Schriften, Bd. 2, 1862, »Husum 1849«. Ge- Stockinger 2006). Bis heute fehlt ein umfassender
rade aus diesem Jahr sind jedoch kaum biografische textkritischer Vergleich der beiden Fassungen von Im-
Quellen überliefert. Über die Anregung zu dem Ge- mensee, eine Dichtung, die zu Storms Lebzeiten seine
dicht Meine Mutter hat’s gewollt äußerte sich Storm erfolgreichste werden sollte.
erst am Ende seines Lebens gegenüber dem Biografen
Paul Schütze für dessen Buch Theodor Storm. Sein Le-
Inhalt
ben und seine Dichtung. Berlin 1887 (vgl. LL 1, 1019).
Auch über ein eigenes Erlebnis als Hintergrund für die Ein älterer Herr versenkt sich im Studierzimmer sei-
Wasserlilienszene schrieb er einer Bekannten erst nes Hauses in den Anblick eines vom Mondlicht er-
1885 (1036). Die Entstehungsgeschichte der bedeu- hellten Mädchenportraits. – Ein Zeitsprung versetzt
tendsten frühen Storm-Novelle liegt somit weitest- den Leser in die Jugend des Alten mit Elisabeth. Be-
gehend im Dunkeln. Eine Handschrift ist nicht vor- reits die Kinder Reinhardt und Elisabeth spielen zu-
handen. Die erste Fassung, nur unterzeichnet mit »Th. sammen und sind Gefährten in der Schule. Als sie ein-
St.«, erschien Ende 1849 im von Karl Biernatzki he- mal vom Lehrer gescholten und sein zorniges Ablen-
rausgegebenen Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schles- kungsmanöver nicht bemerkt wird, schreibt er sein
wig, Holstein und Lauenburg (dort 56–86). In der erstes Gedicht. Bevor Reinhardt zum Studium abreist,
Volksbuch-Fassung werden die Novellenabschnitte, unternimmt man eine Landpartie. Die Jungen werden
die später Überschriften wie »Die Kinder«, »Im Wal- auf die Suche nach Erdbeeren geschickt, die sie mit
de« etc. erhielten, noch durch Gedankenstriche ge- den zurückbleibenden Alten teilen sollen, die unter-
trennt. Nach kritischen Bemerkungen seines Studien- dessen das Mittagsmahl richten. Elisabeth und Rein-
freundes Tycho Mommsen überarbeitete Storm diese hardt verirren sich im Wald; statt Erdbeeren ›findet‹
Fassung direkt in den Aushängebögen der Volksbuch- Reinhardt ein Gedicht, in dem er Elisabeth zur Wal-
Fassung, in denen sowohl Storms Überarbeitungsstu- deskönigin verklärt. – Reinhardt verbringt den Weih-
fen als auch die kritischen Notizen Mommsens erhal- nachtsabend in der Universitätsstadt mit Kommilito-
ten sind (vgl. LL 1, 1018–1020). Die Änderungen für nen in einer Studentenkneipe, in der er ein widerstre-
die erste Buchausgabe von Immensee in Sommer- bendes Zithermädchen, in dessen Augen er sich faszi-
geschichten und Lieder, Berlin: Alexander Duncker niert versenkt, zum Vortrag eines Liedes »Heute nur
1851, 45–95, betreffen z. B. größere Streichungen in heute« (LL 1, 305) drängt. – Ostern wieder daheim, ist
dem später »Da stand das Kind am Wege« genannten Elisabeth herangewachsen. Ein Kanarienvogel im gol-
Abschnitt, der ursprünglich ausführlicher das absto- denen Bauer, ein Geschenk von Reinhardts Freund
ßend wirkende Treiben der Korpsstudenten im Rats- Erich an Elisabeth, verärgert ihn. Aber er kann beim
keller und auch umfangreicher Reinhardts Weih- Abschied das rechte Wort nicht finden, von dem »aller
nachtsabend in der Universitätsstadt schilderte; weg- Wert und alle Lieblichkeit seines künftigen Lebens«
gelassen wurde auch Reinhardts Erzählung über seine (312) abhinge. – Fast zwei Jahre danach teilt ihm seine
Reiseerlebnisse in Venedig, die er auf Gut Immensee Mutter mit, dass Elisabeth Erichs Werbung schließlich
im Zusammenhang mit seiner Volksliedersammlung angenommen habe und mit ihrer Mutter bald nach
vorträgt, und ganz gestrichen schließlich ein Ab- Immensee ziehen werde. – Jahre später wandert Rein-
schnitt vor der letzten Szene (»Der Alte«), der in weni- hardt zum See und Gut Immensee. Er findet einen flo-
gen Sätzen Reinhardts Leben nach seinem Weggang rierenden Landwirtschaftsbetrieb vor sowie eine un-
aus Immensee umriss (Erwerb eines Amtes, Heirat, verändert mädchenhafte Elisabeth, die ihren Mann
Geburt eines Sohnes, Tod dieses Sohnes, Tod der Frau, Erich mit »schwesterlichen Augen« (318) ansieht. An
Aufgabe des Amtes). Aber auch wichtige Erweiterun- einem Abend wird Reinhardt gebeten, aus seiner
gen und Ergänzungen gegenüber der ersten Fassung Volksliedersammlung vorzutragen und liest u. a.
auf allen Ebenen des Textes sind zu registrieren; das »Meine Mutter hat’s gewollt« (321), worauf Elisabeth
Lied des Harfenmädchens ist nur die augenfälligste wortlos den Raum verlässt. Reinhardts sich anschlie-
Neuerung. Die Essenz der Erzählung über die Bezie- ßender Versuch, im nächtlichen See eine Wasserlilie

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132 III Werk – D Novellen

zu erreichen, scheitert. –Vergeblich versucht er am den wichtigen Themen in Storms früher Novellistik.
folgenden Tag beim Spaziergang, an die gemeinsame An Brisanz gewinnt die Thematik in Immensee, weil
Vergangenheit anzuknüpfen. Elisabeth entzieht sich hier ein Protagonist im Mittelpunkt steht, der beim
ihm und schenkt einem bettelnden Mädchen all ihre Heranwachsen ein poetisches Verhältnis zur Welt
Münzen. Reinhardt verlässt daraufhin im Morgen- entwickelt, das dann auch seine Beziehung zu dem
grauen den Ort für immer. – Am Ende sitzt der Alte geliebten Mädchen Elisabeth beherrscht. Was ihm
wieder allein in seinem Studierzimmer und vertieft selbst aber gleichsam als naturwüchsig erscheint,
sich in die Studien seiner Jugend. nämlich diese seine Identität maßgebend prägende
Fähigkeit, die Welt kraft seiner Phantasie zu verwan-
deln, wird durch die Erzählung als ambivalente Ent-
Deutung
wicklungsgeschichte beschrieben, an deren Ende der
In Immensee findet man eine stark von Storms Lyrik, Protagonist mit seinem Bild und seinen Erinnerun-
aber auch von seinen Lektüren spätromantischer und gen, wenngleich nicht unglücklich, so doch einsam
frührealistischer Texte Tiecks, Eichendorffs, Mörikes zurückbleibt. Die ästhetisierende Haltung Reinhardts
und Immermanns geprägte Prosa, welche sich auf bringt Storm in Immensee in einen Zusammenhang
»Momente von poetischem Interesse« konzentriert, mit dessen Verstrickung in eine Kernfamilie, die, an-
»die sich auch im dürftigsten Alltagsleben finden« ders als die des Autors und als eine im patriarchalen
sollten, so Storm an Brinkmann, 22.11.1850 (GB  1, 19. Jahrhundert zu erwartende, nicht von einem Va-
135). Es ist ein Erzählen, das psychologische Motive ter, sondern von Müttern bzw. einer Mutter dominiert
von Handlungen kaum mitteilt, ganze Lebens- wird. Generell kann bemerkt werden, dass bei Storm
abschnitte der Protagonisten ausspart und sie nur la- die Liebespaare oft wie in Immensee eine gemein-
pidare, ins Verstummen mündende Sätze sprechen same, geschwisterähnliche Kindheit haben, die auch
lässt (zur »Poetologie der Aussparung« vgl. Stockinger ausführlich szenisch dargestellt wird. Sie bildet einen
2006). Desto deutlicher ›reden‹ die eingefügten Ge- Erzählkern, der über die mittlere Schaffensperiode
dichte, gewinnen die Gesten der Figuren und die Din- (Auf dem Staatshof, Auf der Universität) hinaus bis in
ge, die sie umgeben, an Bedeutung, und die Großzei- das Spätwerk hinein erhalten bleibt (Aquis submersus,
chen der Novelle, der Titel gebende Immensee und die Eekenhof, Hans und Heinz Kirch). Eine Schlüsselszene
Wasserlilie, werden symbolisch aufgeladen. Anfangs für Reinhardts und Elisabeths Beziehung stellt somit
konstruiert der Autor eine Erzählinstanz mit Außen- gleich der erste Abschnitt »Die Kinder« dar, in dem
perspektive (erkennbar an den sprachlichen Wendun- sie ihr Erwachsenendasein spielerisch vorwegneh-
gen mit ›es schien‹ und dem Konjunktiv), die schein- men und in dem die Entwicklungsvoraussetzungen
bar Menschen und Dinge nur eingeschränkt aus der für dessen Gelingen bereits genannt werden: Der ge-
Ferne zu betrachten vermag, die aber später auch ab- meinsame Weg hinaus in die Welt – »nach Indien!«
rupt in die Innenperspektive der Personen wechseln (LL 1, 298) – kann nur ohne die Mütter gegangen wer-
kann und entschiedene Wertungen abgibt. Dieser Er- den. Energisch hält Reinhardt der zögerlichen Elisa-
zähler nähert sich den zu beschreibenden Objekten beth, die das Verbot ihrer Mutter fürchtet, entgegen:
und zieht sich von ihnen auch wieder zurück wie z. B. »Du sollst schon dürfen; Du wirst dann wirklich mei-
in der Szene »Immensee«, in der er den Helden – dem ne Frau, und dann haben die Anderen Dir nichts zu
Leser längst als Reinhardt vertraut – als fremd wirken- befehlen« (298). Doch bereits die von Reinhardt er-
den Wanderer erneut einführt. Ob diese Erzähltech- zählte Legende vom Daniel in der Löwengrube, der
nik von Storm artifiziell durchkomponiert wurde oder durch einen Engel aus der Gefahr des Verschlungen-
ob er in dieser frühen Novelle noch auf der Suche nach werdens errettet wird, enthält nur die Erlösungs-
einem in sich kohärenten Erzählstil war (in der ersten geschichte eines Mannes. Das Märchen von der Erlö-
Fassung z. B. wird der Leser an einer Stelle auch noch sung eines Mädchens aus dem mütterlichen Reich des
im vertraulichen Wir-Ton angesprochen), sei dahin- Spinnrades in den »drei Spinnfrauen« dagegen, muss-
gestellt. Sicher ist, dass diese Erzähltechnik des te er »stecken« (297) lassen. Am Ende der Szene rufen
Schwankens zwischen Nähe und Distanz ihre Ent- die Mütter, die an dieser Stelle in eine zu verschmel-
sprechung in der Grundhaltung des männlichen Pro- zen scheinen, die beiden Kinder zurück nach Haus.
tagonisten zur Wirklichkeit findet. Mit Stefani Kugler (2007, 206 f.), Christian Neumann
Eine Liebe, die unerfüllt bleibt, wenn man ›Erfül- (2016, besonders 8 f. und 14 f.), aber auch bereits Re-
lung‹ mit Ehe und Nachwuchs verbindet, gehört zu nate Bürner-Kotzam (2001, 68 f.), ist als Movens der
31 »Immensee« (1849) 133

Novelle »Reinhardts Bemühung um eine Ablösung der braunen Weihnachtskuchen und der Briefe von
von der mütterlichen Autorität« (Kugler 2007, 208) der Mutter und Elisabeth, um in ihm ein verzehren-
zu sehen. Wobei hinzuzufügen wäre, dass das in der des Heimweh auszulösen: »Da stand das Kind am
Eingangsszene formulierte Ablösegebot als Bedin- Wege und winkte ihm nach Haus!« (308). Bei seiner
gung für den Reifeprozess beider Protagonisten gilt, Rückkehr zu Ostern findet er in Elisabeth nicht mehr
deren Entwicklung durch die Vaterlosigkeit erschwert ›das Kind‹ vor, sondern ein zur jungen Frau heran-
erscheint. Reinhardt, als Knabe noch unterneh- wachsendes Mädchen, das durchaus zaghafte eman-
mungslustig, praktisch zupackend und energisch, zipatorische Versuche unternommen hat: Bereits ihr
verliert diese Fähigkeit, wie es die Situation rund um Weihnachtsbrief an ihn signalisiert, dass sie sich
die Entstehung seines ersten Gedichtes erweist: Er mehrfach innerlich gegen ihre Mutter gewehrt und
führt die Verteidigung Elisabeths gegen den Schul- sich mit dem Jugendgefährten zu verbünden versucht
lehrer nicht, wie zu vermuten, in offenem verbalen hat, wenn sie z. B. heimlich über Reinhardts Freund
Schlagabtausch durch, sondern inszeniert sie in Ver- Erich lacht, der seinem braunen Überrock so ähnlich
sen, in denen er sich am Ende genussvoll spiegelt. Mit sehe, und zugleich Reinhardt beschwört: »sag es aber
der Erdbeerensuche in »Im Walde«, die durch die nicht der Mutter, sie wird dann leicht verdrießlich«
oberlehrerhafte Rede des »alten Herr[n]« (300) als (307). Auch Erichs Portraitzeichnen, das ihre Mutter
bürgerlicher Tüchtigkeitsbeweis zu gelten hat, wird nur zu gern unterstützt hatte, erträgt sie nur wider-
Reinhardts Versagen als pater familias antizipiert, da willig. Und noch zum Ende des Abschnitts »Daheim«
er das notwendige Tauschobjekt für das Mittagsmahl wird Elisabeth Reinhardt gegen den Vorwurf ihrer
nicht findet. Aber auch seine Initiation – als solche ist Mutter verteidigen, er sei »nicht mehr so gut« (313)
das Verirren mit Elisabeth im Wald und die Suche wie ehedem. Die aber, welche stets nur am Spinnrad
nach Erdbeeren auch angelegt, die Frucht steht seit sitzend erwähnt wird, hat den Schicksalsfaden für
Vergils Ekloge III, V. 92 f. als Chiffre für Verführung sich und ihre Tochter bereits gesponnen. Sie nennt
und Wollust (vgl. Klimek 2012, 112) – zeitigt ein an- das bedeutungsschwere Wort ›Immensee‹ in dieser
deres Ergebnis als zu erwarten. Denn sein erotisches Novelle zuerst; es ist ihr Ziel, dort bei dem »liebe[n],
Erwachen wird begleitet von einem seltsamen Rück- verständige[n] junge[n] Mann« (311) mit ihrer Toch-
zug von dem begehrten Mädchen in dessen Betrach- ter anzukommen. Die Zeichen sind für Reinhardt im
tung und zugleich von einer glückhaft empfundenen Grunde überdeutlich mit dem Geschenk Erichs an
Fähigkeit, seine Gefährtin in Sprach-Bilder zu ver- Elisabeth: Der Kanarienvogel im goldenen Bauer
wandeln, zu einer kindlichen Elfenkönigin im Ge- übertrumpft in mehrerer Hinsicht seinen inzwischen
dicht. Reinhardt vermag sich also seinen erlösenden gestorbenen Hänfling, der der Mutter immer viel zu
»Engel«, an den er im religiösen Sinn ohnehin nicht kräftig sang. Aber Reinhardt ist nicht der Mann, der
mehr glaubt – »es gibt ja gar keine Engel« (297) – Elisabeth in ihrer bedrohlichen Situation zu helfen
selbst zu schaffen, und zwar in der Kunst: Elisabeth vermag. Er kann nichts tun im wahrsten Sinne des
wird ihm zur Muse, zum »Ausdruck für alles Liebli- Wortes, er vermag ihr nur den Pergamentband mit
che und Wunderbare seines aufgehenden Lebens« seinen Gedichten zu zeigen, in dem er die Erlebnisse
(304). Über ihr realitätsenthobenes Bild ist er mit ihr mit ihr in gleichsam mortifizierter Form unter-
nicht nur ein Leben lang verbunden – das sich Ver- gebracht hat, vergleichbar dem halbgetrockneten
senken in das Idol, das nach Eckart Pastor dem reli- Maiblumenstängel, der zwischen den Seiten lag und
giösen Akt der Verwandlung gleicht (vgl. Pastor 2016, den er ihr schenkt. Die Verse und Erinnerungen sind
31), wird sein ihm einzig mögliches Verhältnis zu es allein, die Reinhardt die so begehrte Nähe und die
dem Mädchen bleiben. Am Weihnachtsabend im ihm so notwendige Distanz zu Elisabeth gleichzeitig
Ratskeller der Universitätsstadt allerdings scheint verschaffen.
Reinhardt – was die Männlichkeitsrituale der Korps- Den Grund für das tiefe Ambivalenz-Verhalten
studentenschaft, an denen er teilnimmt, anzeigen – Reinhardts gegenüber Elisabeth, das sich letztlich nur
äußerlich in seiner Entwicklung zum Mann voran- medial bzw. in der Kunst beruhigt, enthüllen die Sze-
zuschreiten. Auch wirkt er so, als sei er zu rauschhaf- nen am Immensee. Der Wanderer Reinhardt ruft
ten Augenblicks-Abenteuern mit dem Zithermäd- beim Anblick von Hof und See das Wort genauso em-
chen bereit, in dem sich zudem für ihn die Option zu phatisch aus wie das Wort ›Elisabeth‹ am Anfang. Das
einem freien, jedoch gefährdeten und einsamen »Spiegelbild des Herrenhauses«, »das leise schaukelnd
Künstlertum andeutet. Aber es braucht nur den Duft auf dem Wasser schwamm« (315) ist das eigentliche
134 III Werk – D Novellen

Ziel seiner Reise. Denn das Vorgefundene spiegelt ta, aus der Mignon hervorging, eben gerade mittels
ihm das, was auf ihn gewartet hätte, wäre er »so gut« dieser Blume, die, obwohl sie der Inbegriff der Un-
(318) gewesen wie »Bruder« Erich (315). Die Verhält- schuld sei, dennoch zwittrige Blüten habe, und bei der
nisse am See sind nur allzu klar: »Am Ziel ihrer Wün- »Gatte und Gattin auf einem Stengel« entspringe
sche hat die Mutter das Spinnrad; von dem aus sie je- (Goethe 1994, VII, 584). Dem regressiven Sog zurück
des Zusammensein von Reinhardt und Elisabeth ver- »nach Haus« (308) in die starken endogamen Bindun-
folgte, mit der Schlüsselgewalt der Besitzerin und Frau gen, die Selbstverlust und psychischen Tod bedeuten
des Hauses vertauscht« (Bürner-Kotzam 2001, 68). Sie würden, stemmt Reinhardt sich entgegen; aber er ver-
ist die eigentliche Gastgeberin auf Immensee, sie un- mag ihm nur mit Hilfe der distanzierenden Kraft sei-
ternimmt mit Erich eine Geschäftsreise, sie weist ihn ner Imaginationen zu entrinnen, über die er anderer-
an, der erschütterten Elisabeth, die nach der Lesung seits immer auch Anteil an dem zutiefst Begehrten be-
von »Meine Mutter hat’s gewollt« den Raum verlässt, hält. Die Fähigkeit, die Realität in poetische Bilder zu
nicht zu folgen. Am See herrscht die Mutter wie eine bannen, stellt somit für ihn auch eine entscheidende,
Bienenkönigin, den eigentlichen Herrn des Hauses zu überlebensnotwendige Entwicklungsstufe im Indivi-
einer Drohnenexistenz und Elisabeth in die ewige duationsprozess dar, auf der freilich der Stormsche
Tochterrolle zwingend. Die Mutter hat mit der ›Wahl‹ Held für immer festgebannt erscheint. Elisabeth hin-
Erichs die ursprüngliche Kernfamilie mit Mutter, gegen bleibt hilflos im Mutterreich zurück. Sie hätte
Sohn und Tochter wieder hergestellt. Die Biene oder nur ein Mann daraus erretten können, der – im über-
Imme, wie im Demeter-Mythos oft als Attribut oder tragenen Sinne – wie der Bräutigam in Das Märchen
als Verkörperung der Großen Mutter erscheinend, von den drei Spinnfrauen am Ende das Spinnrad rigo-
gibt dem keineswegs idyllischen Ort und See den Na- ros zerschlägt.
men, der zugleich den Novellen-Titel bildet. Für Elisa-
beth und Reinhardt ist es ein Todesraum der absolu-
Forschung
ten Regression im mütterlichen Bezirk. Die oft ana-
lysierte Szene, in der Reinhardt im nächtlichen Im- Die Novelle Immensee gehört neben dem Schimmelrei-
mensee die darin wachsende Seerose zu erreichen ter in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten zu den
strebt, verdeutlicht das in nuce: Die Nymphaea alba, von der Storm-Forschung bevorzugt analysierten Tex-
die weiße Seerose, die im Text Wasserlilie bzw. nur Li- ten. Das wissenschaftliche Interesse reicht dabei von
lie genannt wird, repräsentiert – da sind sich alle In- poetologischen Untersuchungen zum novellistischen
terpreten einig –, die mädchenhafte, weißgekleidete Frühwerk (Stockinger 2006), Fragen der Romantik-
Elisabeth, so wie Reinhardt sie als ewiges Idol in sich Rezeption (Orosz 2013) und zu einzelnen intertextu-
trägt. Die Seerose, den Blicken zunächst verborgen, ist ellen Bezügen (Gerrekens 2008) über vergleichende
aber durch ihre Stängel tief am Seegrund, aus dem sie Analysen zentraler Motive (Klimek 2012) und ästheti-
herauswächst, verwurzelt. Diese Rückbindung an den scher Kategorien (Bachmann 2013) bis hin zu para-
mütterlichen Ursprung wird Reinhardt in größter Nä- digmatischen Erkundungen zum Hintergrund der
he zum Blütenkelch – er konnte »die silbernen Blätter Kindheitserotik in Storm-Texten (Detering 2011). Ei-
deutlich im Mondschein unterscheiden« (323) – zur nen Überblick über den Forschungsstand bis 1999
tödlichen Gefahr, da der Immensee ihn mit dem Stän- gibt Wiebke Strehl. Bei jenen Interpretationen, die
gel-Gestrick dort in die Tiefe hinabzuziehen und zu sich auf den gesamten, sehr komplex angelegten Text
verschlingen droht. Wie das Gewässer selbst, so ver- einlassen, so Mareike Börner, Stefani Kugler, Chris-
weist auch die Wortwahl von ›Netz‹ und ›Gestrick‹ tian Neumann, aber auch Albert Meier und Renate
unmittelbar auf die Mutter, die auch auf Immensee Bürner-Kotzam, entscheidet sich die Deutung nicht
»emsig an ihrer Näharbeit« (320) sitzt. Mit Christian wie in den älteren Interpretationen oft an der Beant-
Neumann ist davon auszugehen, dass der Text von wortung der Frage, warum Reinhardt schweigt, ob-
Anfang an »über den latenten Geschwisterstatus einen wohl er um Erichs Werbung um Elisabeth weiß. Ent-
gemeinsamen Ursprung« von Reinhardt und Elisa- scheidend wird vielmehr, welche Funktion die Inter-
beth suggeriert (Neumann 2016, 12). Darauf deutet preten dem poetisierenden Umgang Reinhardts mit
auch die Lilie hin, mit der die Seerose hier überzeich- der Realität und insbesondere mit Elisabeth im Text-
net wird und die seit Goethes Wilhelm Meister als das ganzen zusprechen. Konsens ist, dass dieses ›Künstler-
Symbol für die Geschwisterliebe gilt: Der Harfner Au- tum‹ ein die Frau domestizierendes, mortifizierendes
gustin verteidigt die Liebe zu seiner Schwester Spera- Verfahren enthält. Stefani Kugler, die die historischen
31 »Immensee« (1849) 135

Geschlechterrollen in diesem Text untersucht, deutet Eversberg, Gerd (Hg): Theodor Storm: Immensee. Texte
es als camouflierten patriarchalen Machtanspruch ge- (1. und 2. Fassung), Entstehungsgeschichte, Aufnahme
genüber der Frau, den Reinhardt im realen Leben und Kritik, Schauplätze und Illustrationen. Heide
²2006.
nicht durchzusetzen vermöge aufgrund seiner proble- Fasold, Regina: Geschwisterliebe und Heimatsehnsucht in
matischen Mutterbindung. Die Mutter verkörpere ei- Texten Theodor Storms. In: Storm-Blätter aus Heiligen-
nen Anteil Elisabeths, »den Reinhardt seit seiner stadt 6 (2000), 12–30.
Kindheit meidet und fürchtet: die Forderungen stel- Gerrekens, Louis: Von Bukolik und Liebe. Storms Rückgriff
lende, dominante Frau« (Kugler 2007, 213). Mareike auf Vergil und Goethe in »Immensee«. In: STSG 57
(2008), 57–70.
Börner spricht von einem geradezu »pervertierten
Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe.
Poetisierungsdrang« Reinhardts (Börner 2009, 85), Hg. v. Erich Trunz. München 131994.
der das erwachsen werdende Mädchen in ein Kind zu- Grob, Norbert: »Das Herz voll Tränen und Nacht«. Zur Gen-
rück zu verwandeln strebe, in das »Phantasma der re-Ästhetik in Veit Harlans Filmen (insbesondere in »Im-
Kindfrau«, das seinem Schöpfer »ein lebenslanges mensee«). In: Gerd Eversberg/Harro Segeberg (Hg.):
Aufenthaltsrecht in dessen imaginierter Welt der frei- Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines poeti-
schen Realisten. Berlin 1999, 247–268.
en Künste« garantiere (ebd., 108). Ähnlich sieht das Kim, Youn-Ock: Der Immensee ruht, der Yalu fließt. Storms
Renate Bürner-Kotzam: Die »Kondensierung der Frau literarische Welt aus koreanischer Sicht. In: Storm-Blätter
zur Imagination« verschaffe Reinhardt »jederzeit den aus Heiligenstadt 17 (2013), 60–77.
Genuß poetisierter Vergangenheit« (Bürner-Kotzam Klimek, Sonja: Waldeinsamkeit – Literarische Landschaft als
2001, 75). Christian Neumann arbeitet das »Kindfrau- transitorischer Ort bei Tieck, Stifter, Storm und Raabe. In:
Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 53 (2012), 99–126; zu
Phantasma« als Phänomen einer dem Stormschen
»Immensee«: 111–114.
Helden generell »zugrunde liegende[n] »traumatisie- Kugler, Stefani: »Meine Mutter hat’s gewollt«. Weiblichkeit
rende[n] und hochambivalente[n] Mutterbeziehung« und männliche Identität in Theodor Storms »Immensee«.
heraus, durch die er in einer »frühe[n] Phase der Ich- In: Kittstein, Ulrich/Kugler, Stefani (Hg.): Poetische Ord-
entwicklung« fixiert bliebe (vgl. Neumann 2016, 19). nungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würz-
Albert Meier, der Immensee in literaturgeschicht- burg 2007, 201–231.
Lee, No-Eun: »Immensee« (1850). Sammelnde und dichten-
lichen Kontexten verortet, entdeckt hingegen darin
de Erinnerung an die verlorenen Jugendträume. In: Dies.:
dezidiert eine »romantische Ästhetisierungsstrate- Erinnerung und Erzählprozess in Theodor Storms frühen
gie«, die bis auf Dante und Petrarca zurückverweise – Novellen (1848–1859). Berlin 2005, 45–65.
das Schreiben setze eben »die Abwesenheit der be- Meier, Albert: »Immensee«. Die höchsten Forderungen der
gehrten Frau voraus« (Meier 2008, 31). Kunst. In: Christoph Deupmann (Hg.): Interpretationen.
Zu der Rezeptionsgeschichte der überaus beliebten Theodor Storm. Novellen. Stuttgart 2008, 17–32.
Neumann, Christian: »Da stand das Kind am Wege« – »Im-
Novelle im 19. Jahrhundert, die bereits zu Storms Leb- mensee« und die Irrwege eines Bürgers. In: Storm-Blätter
zeiten 30 Auflagen erlangte und in zwei illustrierten aus Heiligenstadt 20 (2016), 5–28.
Ausgaben vorlag, vgl. Gerd Eversberg (²2006); zu der Neumann, Michael: Wandern und Sammeln. Zur realisti-
ersten Verfilmung von Immensee durch Veit Harlan schen Verortung von Zeichenpraktiken. In: Michel Neu-
1943 vgl. Norbert Grob (1999); eine zweite Verfil- mann/Kerstin Stüssel (Hg.): Magie der Geschichten. Welt-
verkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte
mung erfolgte 1989 durch Klaus Gendries.
des 19. Jahrhunderts. Konstanz 2011, 131–154.
Orosz, Magdolna: Verabschiedung und Fortsetzung der Ro-
Literatur mantik im Frühwerk von Theodor Storm. Eine intertextu-
Bachmann, Vera: Tiefe als Projektion: »Immensee«. In: elle Analyse der Novelle »Immensee«. In: Dirk Göttsche/
Dies.: Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberflä- Nicholas Saul (Hg.): Realism and Romanticism in German
che in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2013, Literature. Bielefeld 2013, 149–168.
218–244. Pastor, Eckart: Andacht, Inbrunst, lüsterne Neugier: Bilder
Börner, Mareike: Dichtung und Wahrheit – »Immensee«. In: an der Wand und ihre Betrachter in Storms frühen Novel-
Dies.: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die Kindfrau im len »Immensee«, »Im Sonnenschein« und »Auf dem
Werk Theodor Storms. Würzburg 2009, 76–111. Staatshof«. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 20 (2016),
Bürner-Kotzam, Renate: Ein vergebliches Gastspiel – »Im- 29–45.
mensee«. In: Dies.: Vertraute Gäste – Befremdende Begeg- Schütz, Erhard: Lohn und Preis affektiver Entsagung: Vier
nungen in Texten des bürgerlichen Realismus. Heidelberg Lesarten zu Theodor Storms Novelle »Immensee«. In: An-
2001, 61–80. ne Fuchs/Sabine Strümper-Krobb (Hg.): Sentimente, Ge-
Detering, Heinrich: »Waldeskönigin«: Kindheitserotik in fühle, Empfindungen. Würzburg 2003, 135–148.
»Immensee«. In: Ders.: Kindheitsspuren. Theodor Storm Stockinger, Claudia: Storms »Immensee« und die Liebe der
und das Ende der Romantik. Heide 2011, 68–84. Leser. Medienhistorische Überlegungen zur literarischen
136 III Werk – D Novellen

Kommunikation im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch der krobiotischer Lebenslauf. In: Thomas Betz/Franziska
deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), 286–315. Mayer (Hg.): Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnun-
Strehl, Wiebke: Theodor Storm’s »Immensee«. A critical over- gen: für Volker Hoffmann, Bd. 1. München 2005, 325–341.
view. Rochester, N. Y. 2000.
Versari, Margherita: »Immensee« – ein fragwürdiger ma- Regina Fasold
32 »Posthuma« (1851) 137

32 »Posthuma« (1851) nannt bleibende) Name eines Mädchens eingraviert


ist. Der zweite Abschnitt berichtet von den Erinne-
Im Jahr 1851 erscheint Posthuma, einer der frühesten rungen eines jungen Mannes an jenes Mädchen und
Prosatexte Theodor Storms, zusammen mit weiteren wie dieser nächtens den Friedhof im Armenviertel
Erzähltexten sowie Gedichten in dem Band Sommer- aufsucht, um auf dem Grab Blumen niederzulegen. So
Geschichten und Lieder (vgl. LL 1, 1039). Wie beim wie damals ihre Treffen heimlich in der Nacht erfolg-
Erstdruck steht die Prosaskizze, die in der Forschung ten, vermeidet er es nun ebenso, bei dem Besuch ihres
– trotz ihrer spezifischen Gestaltung und Kürze – Grabes gesehen zu werden. Zuletzt erfährt man, dass
weithin zu den Novellen gerechnet wird, auch bei ih- das Mädchen – obwohl nicht explizit benannt – ver-
rer Entstehung im Kontext des lyrischen Werkes: So mutlich an Schwindsucht erkrankt (vgl. 1040) stirbt
hat Storm einen ersten fragmentarischen Entwurf des und dass er seit ihrem Tod »gezwungen [ist], eine Tote
Schlussteils, wahrscheinlich bereits in den Jahren zu lieben« (332).
1841/42, in der Sammelhandschrift Meine Gedichte Ein Brief Ludwig Pietschs an Storm vom 19.12.1859
notiert (vgl. LL 1, 1039; Eversberg 1995a, 29). Damit legt nahe, dass der Autor überaus zufrieden mit seiner
fällt die Niederschrift dieses Textfragmentes (vgl. Novelle war (vgl. 1039), sie gar als ›das beste seiner
Storm 1995, 98–99) biographisch in die Zeit, die durch Werke‹ ansah (Storm–Pietsch, 41). Ähnlich wie Storm
die Verehrung des Dichters für die junge Bertha von selbst die in Sommer-Geschichten und Lieder enthalte-
Buchan gekennzeichnet ist (vgl. Eversberg 1995b, nen Erzählungen, also auch Posthuma, als »Situatio-
154). Obgleich die sehnsuchtsvolle Zuneigung den nen« (Storm 1851, [V]) bezeichnet, betont die For-
Autor in seinem lyrischen Schaffen prägte sowie »zu schung die »Skizzenhaftigkeit« des Dargestellten und
ersten Erzählversuchen anspornte« (Eversberg 1995a, den fragmentarischen Charakter der Erzählung (Le-
18), blieb dieser Textentwurf – wie Posthuma ins- roy/Pastor 1991, 334; vgl. auch Stuckert 1955, 248;
gesamt – bislang weitgehend unerforscht (vgl. ebd., Schuster 1971, 80). In einer Rezension vom 28.12.1854
21). Dabei unterscheidet er sich in der Textkonstituti- zählt Paul Heyse die Novelle zu den »Stillleben« Storms
on deutlich von der späteren Novellenfassung, denn und gesteht ihr eine gewisse »poetische Macht« zu, aus
neben kleineren typographischen Abweichungen der »Dämmerung und Räthselhaftigkeit« auf Seiten
wurde der Text vom Autor umfassend redigiert und der Rezeption resultiere (Heyse 1854, 103). Dies er-
erweitert. Neun Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung klärt sich nicht allein aus der Entstehungsgeschichte
wird die Novelle 1860 in den Band In der Sommer- des Textes, sondern gleichfalls aus der in der Novelle
Mondnacht mit lediglich ›geringfügigen‹ (LL 1, 1039), evozierten Stimmung: Die Allegorie des Todes (vgl.
wenngleich bedeutungstragenden Veränderungen Detering 2011, 67) sowie die Personifikation von
übernommen. Beispielsweise ließe sich die Korrektur Nacht und Natur (vgl. LL 1, 330) stehen exemplarisch
»er nahm achtlos« – und nicht wie zuvor »begierig« für die poetisch-wirkmächtige Bildlichkeit des Erzähl-
(Storm 1851, 115) – »das ängstliche Feuer von ihren ten. Zusammen mit dem elliptischen Erzählstil (vgl.
Lippen« (Storm 1860, 84) durchaus als gesellschafts- Leroy/Pastor 1991, 335; Lefebvre 2008, 2 f.) verweist
kritische Akzentuierung lesen. Acht Jahre darauf wird die poetische Überformung erneut auf die Genese die-
Posthuma in den fünften Band von Storms Schriften ses Prosawerkes, das entstehungs- bzw. publikations-
aufgenommen und dort im Inhaltsverzeichnis, abwei- geschichtlich wie formal eine Nähe zur Stormschen
chend von Erstentwurf und Publikationsgeschichte, Lyrik aufweist. Dergestalt wird Storms viel zitierte
auf »Husum 1849« datiert (LL 1, 1039). Aussage, seine Novellistik sei aus seiner Lyrik erwach-
Die kurze Novelle, die von der Geschichte einer sen (vgl. Storm–Schmidt II, 57), in Posthuma anschau-
»ungleichen Liebe« (Schuster 1971, 79) handelt, un- lich ins Werk gesetzt. Die Vagheiten des Erzählten
terteilt sich in drei Abschnitte: Nach einer eingangs avancieren dabei zum wesentlichen Merkmal des Tex-
geschilderten Beerdigungs-Szenerie beschränkt sich tes: Weder handlungsbezogen noch hinsichtlich der
die nullfokalisierte Erzählung zunächst auf ein ein- individuellen oder sozialen Charakterisierung der bei-
sames und vorerst namenloses Grab, welches dem den Protagonisten erweist sich der Text als eindeutig,
Verlauf der Jahreszeiten, den damit einhergehenden vielmehr konstituiert sich die Erzählung lediglich mit-
unterschiedlichen Witterungsbedingungen sowie tels entsprechender Andeutungen (vgl. Wünsch 1981,
dem Lauf der Natur ausgesetzt ist. Zeitweise von Un- 201; vgl. auch Lorenz 1985, 54 f.).
kraut überwachsen erhält es erst später »ein schlichtes Der den Text bestimmende Modus der Erinnerung
schwarzes Kreuz« (LL 1, 329 f.), in welches der (unge- vollzieht sich in stetiger, bildlicher »Vergegenwärti-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_32, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
138 III Werk – D Novellen

gung« der Vergangenheit (Lee 2005, 69), wobei der auch nicht, daß er schweigen werde.« (LL 1, 331) Da-
Tod »als Fixativ« fungiert (Detering 2011, 66). Indem mit zeigt sie sich mitnichten naiv, die (soziale) Not-
die Erzählung mit der Beerdigung der Toten einsetzt, wendigkeit der Scham spricht sie ihm gegenüber so-
welche ausschließlich in der Erinnerung des jungen gar an. Ferner repräsentieren zwei kontrastive Paral-
Mannes fortlebt, ist ihr ganzes Wesen und Dasein im- lelismen beispielhaft die Figurenkonstellation, wel-
mer schon vermittelt und besitzt – ihrer sozialen Stel- che ihre Liebe bzw. ihre bloße Begierde offenlegt: »Sie
lung gemäß – keine eigene Potenz. Bereits zu Beginn liebte ihn, sie tat ihm Alles.« versus »Er liebte sie
wird zudem die trauernd-erinnernde Erzählhaltung nicht, er begehrte sie nur [...]« (ebd.). Die Liebe zwi-
etabliert: »Ein Grabgeleite betrat den Kirchhof; ein schen den beiden Protagonisten ist innerhalb der be-
schmaler Sarg, ein Blumenkranz darauf, sechs Träger stehenden Gesellschaftsstrukturen nicht möglich
und zwei Folger.« (LL 1, 329) Eingeleitet mit dem Satz und kann erst nach dem Tod des Mädchens – als
»er lebte in einer Stunde, die nicht mehr war« (330), »posthume[] Liebe« (Schuster 1971, 80) – Realität
wird schließlich die stete Präsenz des Vergangenen werden.
markiert; die Tote wird auf diese Weise in eine ›quasi-
religiöse Bildlichkeit‹, bisweilen marienhafte Erschei- Literatur
nung überführt (Leroy/Pastor 1992, 52 f.; vgl. auch Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
Lee 2005, 69 f.; Lefebvre 2008, 5). Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.
Ciemnyjewski, Gregor: »Natürliche« versus »künstliche«
Wesentlich ist für die Novelle wie für viele weitere Gesellschaftsordnung. Zum Gesellschaftskritischen in
Werke Storms das Motiv der Kindfrau, welches hier – Storms »Posthuma«. In: STSG 45 (1996), 135–138.
als Spezialfall dieses Phantasmas – in Form der »Fem- Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
me enfant morbide« vorliegt (Börner 2009, 334). Diese Ende der Romantik. Heide 2011.
»Vermischung von Tod und Wollust«, die zum Gegen- Eversberg, Gerd: Theodor Storms erste große Liebe. In:
Ders. (Hg.): Storms erste große Liebe. Theodor Storm und
stand der zeitgenössischen Kritik wurde (S. S. 1860,
Bertha von Buchan in Gedichten und Dokumenten. Heide
107), ist als »romantische[s] Motiv« aufzulösen (LL 1, 1995a, 7–29.
1040; vgl. auch Stuckert 1955, 248; Lorenz 1985, 45– Eversberg, Gerd: Anhang. In: Ders. (Hg.): Storms erste große
48). Überdies deuten die konjunktivische Phantastik Liebe. Theodor Storm und Bertha von Buchan in Gedichten
(»als wehre ihm Jemand [...]. Er wußte nicht, daß das und Dokumenten. Heide 1995b, 153–193.
der Tod sei.«; LL 1, 332) sowie die aus der Phantastik Heyse, Paul: Theodor Storm. In: Literatur-Blatt des Deut-
schen Kunstblattes, Nr. 26 (28.12.1854), 103–104.
entlehnte Metaphorik (»Hexe«, 331; »elfenhafte[r]
Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
Körper[]«, ebd.) einen Möglichkeitsraum außerhalb Storms frühen Novellen (1848–1856). Berlin 2005.
der (diegetischen) Wirklichkeit an, ohne diesen jedoch Lefebvre, Jean: Posthuma im Unterricht (2008), www.storm-
zu realisieren. So erscheint die verlebendigte Nacht mit gesellschaft.de/uploads/media/Posthuma.pdf (6.6.2016).
all ihren nicht zuzuordnenden Bewegungen und Ge- Leroy, Robert/Pastor, Eckart: Von Storm und anderen Er-
räuschen als geheimnisvolle »andere Welt« (330). innerungen. Frühe Texte von Thomas Mann und Arthur
Schnitzler. In: Dies. (Hg.): Deutsche Dichtung um 1890.
Auf den wenigen Seiten entfaltet dieses frühe Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Bern 1991, 333–
Werk Storms nicht nur eine Liebesgeschichte, die 353.
sich zuweilen am Rande des Phantastischen bewegt; Leroy, Robert/Pastor, Eckart: »... eine Tote zu lieben«.
vielmehr wird mit dem »angedeuteten Standesunter- Storms frühe Erzählung »Posthuma«. In: STSG 41 (1992),
schied« (Schuster 1971, 80) zwischen dem sozial hö- 51–54.
Lorenz, Hildegard: Varianz und Invarianz. Theodor Storms
her gestellten Mann und dem jungen Mädchen aus
Erzählungen. Figurenkonstellationen und Handlungsmu-
dem Armenviertel die herrschende, starre Gesell- ster. Bonn 1985.
schaftsstruktur problematisiert (vgl. Leroy/Pastor S. S.: Neue Erzählungen von Theodor Storm. In: Deutsches
1992, 53; Ciemnyjewski 1996, 136). Während auf der Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches
innerdiegetischen Ebene die Gesellschaftsordnung Leben 10 (Juli–December 1860), 106–108.
stabil bleibt und es an einer progressiven Kraft fehlt Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
seiner Novellen. Bonn 1971.
(vgl. Leroy/Pastor 1992, 53), erfolgt die Sozialkritik, Storm, Theodor: Posthuma. In: Ders.: Sommer-Geschichten
welche sich gleichermaßen zeittypisch (vgl. Ciemny- und Lieder. Berlin 1851, 112–117.
jewski 1996, 138) wie autorspezifisch erweist (vgl. Le- Storm, Theodor: Posthuma. In: Ders.: In der Sommer-Mond-
roy/Pastor 1991, 335), auf der Metaebene. Die junge nacht. Novellen. Berlin 1860, 79–86.
Frau gibt sich keinen Illusionen hin: »Sie glaubte Storm, Theodor: [Entwurf zu »Posthuma«]. In: Gerd Evers-
berg (Hg.): Storms erste große Liebe. Theodor Storm und
nicht, daß er sie für die Schönste halte, sie glaubte
32 »Posthuma« (1851) 139

Bertha von Buchan in Gedichten und Dokumenten. Heide eines Theodor-Storm-Textes. In: Helmut Kreuzer/Reinold
1995, 98–99. Viehoff (Hg.): Literaturwissenschaft und empirische Me-
Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt. thoden. Eine Einführung in aktuelle Projekte. Göttingen
Bremen 1955. 1981, 197–225.
Wünsch, Marianne: Zum Verhältnis von Interpretation und
Rezeption. Experimentelle Untersuchungen am Beispiel Mareike Timm
140 III Werk – D Novellen

33 »Im Sonnenschein« (1854) sche Tätigkeit« (LL 1, 353) ausübt, um dann aggressiv
mit dem Stock nach ihm zu schlagen. Durch »Arbeit«,
Die Novelle Im Sonnenschein – zur Zeit des Exils in »Bewegung« und »behenden Tritt« (355) wird auch
Potsdam im Sommer 1854 entstanden – sollte ur- Fränzchen charakterisiert, die durch ihre Berufstätig-
sprünglich wie Ein grünes Blatt in der Argo gedruckt keit – zum Ärger des Offiziers – immerfort beschäftigt
werden. Da diese Zeitschrift allerdings nicht in einem scheint. Darüber hinaus ist die ›Kampf‹-Szene deut-
zweiten Jahrgang erschien, wurde Im Sonnenschein lich sexuell konnotiert. Die »emsige Tätigkeit« äußert
zusammen mit Marthe und ihre Uhr und Im Saal im sich in »tierischen« und »zuckenden Bewegungen«
Oktober 1854 in Buchform bei Alexander Duncker in (353). Die Tötungsgelüste des Offiziers angesichts ei-
Berlin veröffentlicht (siehe Laage 1976, 21–24). Die ner solchen Handlung weisen also auf eine Sexual-
Szene in der Geißblattlaube hat als letzter Teil erst im angst hin. Die Handlung geschieht zudem unbewusst,
September ihren Abschluss gefunden. Storm begriff der Offizier »wusste nicht, wie es ihn überkam« (ebd.).
die Arbeit an der Novelle, deren faktischer Kern auf Diese »projektive Psychologisierung« der Natur setzte
der eigenen Familiengeschichte des Dichters beruht, Storm schon in Immensee um (Wünsch 2007, 139).
offenbar als gedankliche Flucht aus dem preußischen Das nächtliche Bad Reinhardts und der Kampf des Of-
Justizdienst (vgl. LL 1, 1053–1054). fiziers sind strukturanalog, denn auch in Immensee
Im Sonnenschein ist in zwei Abschnitte oder ›Situa- verweist die Verstrickung eines Mannes in erotisch
tionen‹ unterteilt. Es werden eine vergangene, ge- konnotierte Naturvorgänge auf dessen Handlungs-
scheiterte und eine aktuelle, glückende Liebesbezie- schwäche und Sexualangst. Es lassen sich noch weite-
hung einander gegenübergestellt. In der ersten ›Situa- re Hinweise auf die Angst Constantins vor weiblicher
tion‹ wird geschildert, wie der Offizier Constantin das Nähe finden: Fränzchen weiß, wie sie als Schülerin die
bürgerliche Mädchen Fränzchen im Garten ihrer Fa- Annäherung an ihn nahezu selbst in die Hand genom-
milie besucht. Das Paar verbringt alleine einige Zeit men hat. Der Offizier hätte keine entsprechenden
im Freien, nachdem Fränzchen mit der Arbeit fertig Schritte gewagt. Schon in diesem frühen Stadium der
geworden ist (sie ist in der Firma ihres Vaters mit der Beziehung zeigt sich, dass beim Protagonisten Sexua-
Buchhaltung beschäftigt). Es wird deutlich, dass die lität und Tötungswunsch streckenweise ineinander
beiden sich lieben und heiraten wollen, doch die Ab- übergehen. Die einzige aktive Handlung des Offiziers
neigung des Vaters dem Militär gegenüber steht der gegenüber Fränzchen ist nämlich mit starker Aggres-
Verbindung entgegen. Die zweite ›Situation‹ findet ei- sion verknüpft. Seine Partnerin erinnert den Moment,
nige Jahrzehnte später in derselben Umgebung statt: »als Deine Klinge mir in die Schürze fuhr« (LL 1, 355).
Martin, der kurz vor seiner Heirat mit einer schönen Es erscheint passend, dass der Protagonist nach der
jungen Frau steht, spricht mit seiner Großmutter, der Trennung von Fränzchen mit seiner Schwester zu-
Schwägerin Fränzchens, über seine Großtante. Den sammenzieht; hier fehlen Erotik und Heirat zwangs-
Anlass dazu gab, dass Fränzchens Sarg in der Famili- läufig. Das Scheitern der Beziehung lässt sich also
engruft aufgesprungen war. Martin erfährt von seiner auch psychologisch erklären als Angst vor der domi-
Großmutter, dass die Ehe zwischen dem Offizier und nanten, normabweichenden, erotisch konnotierten
Fränzchen nicht zustande gekommen ist, beide blie- Frau; das Standesvorurteil allein als Grund zu be-
ben unverheiratet. Am Ende öffnet Martin ein Me- zeichnen, würde an der »Textoberfläche« bleiben (Fa-
daillon, das im Sarg gefunden wurde – es enthält eine sold 1997, 99).
Locke vom Haar des Offiziers. Anders die junge Generation, welche sechzig Jahre
Die vergangene Liebe zwischen Fränzchen und später Martin repräsentiert. Ihm ist die scheiternde
dem Offizier – metaphorisch im Schatten liegend – Beziehung der Vorfahren nur noch Erinnerung, sie
scheitert aus sozialen (Fränzchens Vater hasst das Mi- bildet eine Negativfolie für ein positives Gegenbei-
litär) wie auch aus psychologischen Gründen: Fränz- spiel. Ebenso wie Fränzchen einen abweichenden
chen weicht von der weiblichen Norm ab. Sie ist klug, Frauentypus vertritt, so entspricht auch Martins Ver-
selbstbewusst und verwendet Schreibfeder und Mes- lobte nicht der Norm: Als »Wildfang« (LL 1, 358) hat
ser wie ein Mann, wodurch der Offizier überfordert sie braune, fremde Augen und besitzt einen direkten
wird, der mit einer solchen Frau nicht umgehen kann. und spielerischen Zugang zur erinnerten Vergangen-
Dies verdeutlicht zeichenhaft der ›Kampf‹ des Offi- heit. Selbstbewusst trägt sie einen alten Rock der
ziers mit einem Insekt: Zunächst beobachtet er, wie es Großmutter und probiert deren alten Fächer aus. Da-
auf einer Blume eine »arbeitende«, »emsige« »tieri- durch erweitert und belebt sie die distanzierte Ah-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_33, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
33 »Im Sonnenschein« (1854) 141

nenverehrung der älteren Generation, die hauptsäch- nischen Vater zu retten, werde symbolisch aus-
lich aus andachtsvoller Bildbetrachtung bestanden gedrückt (Lee 2005, 91). In einem eher poetologischen
hatte. Der gebildete Martin kann im Gegensatz zum Ansatz widmet sich Strowick dem Verhältnis der bei-
Offizier der älteren Generation mit dieser Frau umge- den ›Situationen‹, deren gegensätzliche Struktur le-
hen, die auch von der Familie akzeptiert wird (die diglich oberflächlich sei, da sie im Medium der Wahr-
Großmutter schenkt ihr einen Brautschmuck aus nehmung wechselseitig aufeinander verweisen wür-
dem Familienschatz). Als Grund für die Handlungs- den (Strowick 2013, 61–62).
schwäche der Männer in der alten Zeit (vgl. Jackson
2001, 107) gibt Martins Großmutter die harte Hand Literatur
der Väter an (»Er hat seine Söhne bis ins dreißigste Börner, Mareike: Mädchenknospe - Spiegelkindlein: Die Kind-
Jahr erzogen«; LL 1, 360). Eine drohende Wieder- frau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009, 347–352.
Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959,
holung der Vergangenheit, die durch das Aufspringen 161–164.
von Fränzchens Sarg bis in die Gegenwart hinein- Chowanietz, Siegfried: Jung und Alt im Konflikt. Generati-
reicht, wird am Ende verhindert. Martin, der sich im onsprobleme im Leben und ausgewählten Novellen Theodor
hellen Sonnenschein befindet – Symbol der Emanzi- Storms. Bern 1990, 120–141.
pation und Charakterstärke –, formuliert sein Ver- Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart 1997, 99–100.
Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
hältnis zur Vergangenheit paradigmatisch: »[I]ch ha-
scher Humanist. Berlin 2001.
be Macht, es umzuwenden!« (361). Laage, Karl Ernst (Hg.): »Im Sonnenschein«. »Hans und
Einig sind sich alle Interpreten, dass in dieser No- Heinz Kirch«. Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze,
velle in nuce Stormsche Grundproblematik sichtbar Abbildungen. Heide 1976.
werde (z. B. Jackson 2001, 107): Ausgelöst durch den Laage, Karl Ernst: Kommentar. In: LL 1, 1053–1063.
Fund eines Gegenstandes (Medaillon) wird die Er- Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
Storms frühen Novellen (1848–1859). Berlin 2005, 89–100.
innerung an eine gescheiterte Liebe hervorgerufen
Missfeldt, Jochen: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter
und sprachlich realisiert. So antwortet Storm auf eine Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie. Mün-
kritische Äußerung Heyses über Im Sonnenschein chen 2013, 181–182.
(»[...] – aber wo Teufel bleibt der Roman?«; Storm– Stein, Malte: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologi-
Heyse I, 22) lapidar: »In meine Geschichten [...] ge- sche Studien zum Geschlechter- und Generationskonflikt im
hört nicht mehr« (ebd., 23). erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.
Strowick, Elisabeth: »Eine andere Zeit«. Storms Rahmen-
Auf die beschriebene Sexualangst, die Stein schon technik des Zeitsprungs. In: Dies./Ulrike Vedder (Hg.):
in der ein Jahr vor Im Sonnenschein erschienenen No- Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf
velle Ein grünes Blatt nachgewiesen hat (Stein 2000, Theodor Storm. Bern 2013, 55–72.
61), wird von der Forschung nicht eingegangen. Hier Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
stehen vor allem die sozialen Gründe für ein Misslin- Bremen 1955, 253–256.
Wünsch, Marianne: Konzeptionen der ›Person‹ und ihrer
gen der Beziehung im Vordergrund: Böttger argu-
›Psyche‹ in der Literatur der ›Goethezeit‹ bis zum ›frühen
mentiert, dass in der ersten Situation »gar nicht alles Realismus‹. In: Dies. (Hg.): Realismus (1850–1890). Zu-
eitel Sonnenschein« sei (Böttger 1959, 162), und er- gänge zu einer literarischen Epoche. Kiel 2007, 121–151.
kennt richtig, dass Storm in der zweiten Situation eine Vedder, Ulrike: Dinge als Zeitkapseln. Realismus und Un-
Distanzierung vom »Patriarchalismus« und seinem verfügbarkeit der Dinge in Theodor Storms Novellen. In:
»harten Familiengeist« beschreibt (ebd.). Lee inter- Elisabeth Strowick/Ulrike Vedder (Hg.): Wirklichkeit und
Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm.
pretiert den ›Kampf‹ des Offiziers gegen das Insekt, in- Bern 2013, 73–90.
dem sie die Blume mit Fränzchen gleichsetzt. Die Un-
fähigkeit des Offiziers, Fränzchen vor ihrem tyran- Malte Denkert
142 III Werk – D Novellen

34 »Ein grünes Blatt« (1854) lich, weshalb sein Kamerad nicht anzuerkennen ver-
mag, dass aus dem ursprünglich grünen Blatt ein
Die Novelle Ein grünes Blatt (1854) ist 1850 unter dem braunes geworden ist. Zudem möchte er wissen, ob
Eindruck der Schleswig-Holsteinischen Erhebung Gabriel die zurückgelassene Helferin noch einmal
(1848–51) entstanden; publiziert wurde sie erstmals aufgesucht habe, was dieser aber, auf ein Gedicht ver-
1854 in der Argo. Ihre Rahmenhandlung besteht aus weisend, das die Sinnlosigkeit weiterer Annäherungs-
dem Dialog zweier Soldaten, die bei Regenwetter in ei- versuche beteuert, verneint. Selbst wenn es gelänge,
nem Feldlager sitzen. Zum Zeitvertreib blättert einer den Weg zu ihr nochmals zu finden, schritte sie »vom
von ihnen in des andern Notizbuch, bis er darin auf Waldessaume niemals hinunter in die Welt« (348).
ein Buchenblatt stößt, über dessen besondere Bedeu- Auch hiervon nicht überzeugt, möchte der fiktive
tung ein dazugeschriebenes Gedicht informiert: Als Leser und spätere Rahmenerzähler wissen, was denn
ein »Blatt aus sommerlichen Tagen« soll es den Besit- geschähe, »wenn [Regine] doch hinunterschritte«
zer daran erinnern, »wie grün der Wald« gewesen sei, (348). Mit der affektiven Antwort, die der Buchschrei-
den er in seiner Heimat durchschritten habe (LL 1, ber hierauf erteilt, gelangt die Novelle zu einem irritie-
334). Dem fiktiven Leser kommt es fraglich vor, ob das renden Ende. Der sich dort an die Wenn-Frage unmit-
Fundstück diese Erinnerungsfunktion noch erfüllen telbar anschließende Ausruf – »Dann wollen wir die
kann, denn er merkt an, dass das Blatt braun gewor- Büchse laden!« (348) –, legt die Vorstellung nahe, dass
den sei. Sein Kamerad bestreitet das aber hartnäckig Gabriel seine einstige Helferin, sollte sie die Grenze zur
und fordert ihn zur Lektüre der sich anschließenden (Erwachsenen-)Welt überschreiten wollen, mit Waf-
(Binnen-)Erzählung auf. Damit ist die Erwartung ge- fengewalt davon abhalten würde. Der dann noch nach-
weckt, dass beim weiteren Lesen verständlich werde, geschobene Schlusssatz – »Der Wald und seine Schöne
warum der Buchschreiber die Blattverfärbung in Ab- sind in Feindeshänden« (348) – ermöglicht zwar eine
rede stellt. nachträgliche Umdeutung, ändert aber nichts daran,
Eine explizite Erklärung hierfür liefert die Binnen- dass sich der Aufruf zum Waffenladen syntaktisch
geschichte allerdings nicht. In heterodiegetischer Er- ganz eindeutig auf den Fall von Regines Grenzüber-
zählrede findet sich dargestellt, wie der angehende Re- schreitung bezieht.
krut Gabriel bei sommerlicher Mittagshitze über eine Bevor die Novelle in der Argo erschien, hat Theodor
Heidelandschaft irrt, dort von einem Mädchen na- Fontane im Namen der Redaktion auf eine Verände-
mens Regine aufgegriffen und für eine nachmittägli- rung ihres Endes gedrungen, konnte sich damit aber
che Rast zu dessen Urgroßvater mitgenommen wird. beim Autor nicht durchsetzen. Storm hielt an seiner
Nach Einbruch der Dunkelheit führt Regine den Novelle gerade den Schluss für »einzig und völlig zu-
Wanderer, der die nahe gelegene Stadt erreichen will, frieden stell[end]« (LL 1, 1047), weshalb es sich ei-
in einen dichten Wald hinein, geleitet ihn aber, nach gentlich verbieten sollte, die dort angedeutete Mög-
kurzzeitigem Verschwinden, aus diesem auch wieder lichkeit eines auf Regine zielenden Schusses als »her-
heraus. Ab der Waldgrenze lässt sie den Gast seine ben Verstoß« gegen des Werkes »innere Wahrheit« ab-
Reise allein fortsetzen, möchte vorher aber noch wis- zutun (Wapnewski 1997, 190). Eher wird man aus der
sen, weshalb er denn in den Krieg müsse. Bevor Ga- Textstelle zu folgern haben, dass der Tagebuch-Schrei-
briel darauf antwortet, bricht er von einem über ihr ber eine Weiterentwicklung der als kindlich erinner-
hängenden Zweig jenes Buchenblatt ab, das in der ten Regine ebenso wenig zu akzeptieren vermag wie
Rahmenhandlung zum Gesprächsgegenstand wird. die Verfärbung des sie repräsentierenden Blattes. Dass
Dann schließlich erklärt er, »Fremdes« von der Hei- er auf der Unveränderlichkeit beider Objekte realitäts-
mat fernhalten zu wollen (347), gibt Regine einen Ab- verleugnend beharrt, macht ihn als jemanden kennt-
schiedskuss und zieht ohne sie weiter. Sich aus der lich, der innerlich darauf angewiesen ist, am »Wunsch-
Ferne noch einmal nach ihr umblickend, meint er die denken eines ewigen Frühlings der Kindfrau« (Börner
vormals agile Wegbegleiterin, die ihm beim Abschied 2009, 257) festzuhalten. Woher diese eigenartige Fi-
»auf einmal so stolz und jungfräulich« vorgekommen xierung rührt, gilt es aus der Binnenerzählung als de-
war (346), als eine »kindliche Gestalt« an der Schwelle ren impliziten Erklärungsgehalt zu erschließen.
zur äußeren Welt – »im schwärzesten Tor des Wal- Einen ersten Ansatz dazu bietet die Beobachtung,
des« – »unbeweglich« verharren zu sehen (347). dass sich der eigentliche Freiheitskampf des jungen
Den fiktiven Leser im Feldlager befriedigt das Rekruten bereits bei seiner Wanderung durch die von
nicht. Ihm ist nach der Lektüre weiterhin unverständ- äußeren Feinden noch unberührte Heimat ereignet.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_34, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
34 »Ein grünes Blatt« (1854) 143

Sein heimlicher Widersacher in diesem nur scheinbar (LL 1, 333) im verdichteten Diskurs seiner Erzählung
idyllischen Raum – dem »symbolische[n] Ort der [...] gleichwohl doch andeutet.
Kindheit« (Detering 2009, 208) – ist eine als mütter- Um zu einem angemessenen Verständnis des Tex-
lich konnotierte Natur, die ihn, seinem subjektiven tes zu gelangen, ist es wichtig, nicht allein im Rahmen-
Erleben nach, mittels diverser Einwirkung am Fort- dialog, sondern auch in der Binnenerzählung mit der
gehen zu hindern trachtet. Eben daraus erklärt sich, Unzuverlässigkeit von Figurenrede zu rechnen. Das
warum Gabriel auf seinem (Entwicklungs-)Weg wie- gilt insbesondere für die Aussagen, mit denen der Pro-
derholt die Orientierung verliert, stehen bleibt und tagonist seine Kriegsteilnahme rechtfertigt. Intra-
einschläft. Unter dem Einfluss der von ihm wahr- textuell wird deren xenophobes Pathos dadurch ge-
genommenen Umweltreize versinkt er in Zustände, brochen, dass sich Gabriel in eben der Heimat, die er
die auf einen zunehmenden Verlust der Selbstkontrol- vor Fremdem bewahren will, irrwandelnd selbst wie
le hindeuten und sich mit Bezug auf Heinz Kohuts ein Fremder bewegt. Intertextuell sorgen zudem zwei
Selbstpsychologie als Symptome einer psychischen Referenzen in dem von ihm gesungenen Kriegslied
Regression – einer »Fragmentierung des Selbst« (Ko- (337) für Relativierung. Angespielt wird zum einen
hut 1976, 22) – interpretieren lassen (vgl. Stein 2006, auf Uhlands kriegskritisches Gedicht Der gute Kame-
125–141). Damit der Protagonist seine Wanderung je- rad, zum anderen auf Goethes Epos Hermann und Do-
weils fortsetzen kann, muss erst Regine erscheinen, rothea (vgl. Stein 2006, 76–82). Wie schon dem im El-
ihn aufwecken und auf den richtigen Weg führen. Of- ternhaus unglücklichen Hermann dienen patriotische
fenbar ist er, um seine Handlungsfähigkeit nicht zu Argumente auch dem Stormschen Helden als ein Vor-
verlieren, auf die psychische Stabilisierung durch ein wand dafür, sich aus ihn überfordernden Nahbezie-
äußeres (Selbst-)Objekt angewiesen. Doch erlebt er hungen versuchsweise in Richtung Stadt zu flüchten.
eine solche Objektbeziehung zugleich als bedrohlich, Als Gegenstand einer zitierten Examensarbeit
insofern sie für ihn »die Gefahr sowohl einer zerstöre- taucht das Grüne Blatt 1968 in Christa Wolfs Nach-
rischen Intimität als auch eines plötzlichen Verlassen- denken über Christa T. wieder auf. Beiden Texten ge-
werdens« mit sich bringt (Stein 2006, 132). Entspre- meinsam ist die Auseinandersetzung mit der Selbst-
chend wird der Kontakt zu Regine umso prekärer, je schutzfunktion trügerischen Erinnerns.
deutlicher an dem zuerst noch »[fast] kindlich« und
»unbeweglich« wirkenden Mädchen (LL 1, 336) des- Literatur
sen Geschlechtlichkeit und rasante Mobilität als Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
Merkmale hervortreten. Da diese Eigenschaften zu Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.
Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
den Objektbedürfnissen des Protagonisten nicht pas-
Ende der Romantik. Heide 2011.
sen, müssen sie seinerseits verleugnet werden, wozu Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalyti-
ihm als letztes Mittel schließlich nur bleibt, das leben- schen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen.
dige Gegenüber gegen ein die Wirklichkeit verfäl- Frankfurt a. M. 1976.
schendes Wunschbild – das Bild der am Waldrand un- Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
beweglich ausharrenden Kindesgestalt – zu ersetzen. Storms frühen Novellen (1848–1859). Berlin 2005.
Stein, Malte: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologi-
Das beim Abschied gepflückte Blatt soll die im Rück- sche Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt
blick entstandene Verklärung Regines und der in ihr im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.
»allegorisch verkörperten Heimat« (Lee 2005, 79) be- Wapnewski, Peter: Diese grünen Träume oder: Der Schwär-
glaubigen, gerät mit seiner Verfärbung jedoch zum mer im Feldlager. Zu Theodor Storms Novelle »Ein grünes
Symbol für die Wiederkehr eines Verdrängten, das der Blatt«. In: Euphorion 91 (1997), 183–205.
Protagonist sich nicht offen eingestehen kann, das er Malte Stein
aber auf eine »das Ich nicht [...] verletzen[de]« Weise
144 III Werk – D Novellen

35 »Angelica« (1855) kenntnis des »fremde[n] Wesen[s] in der geliebtesten


Gestalt« (LL 1, 380) und erscheint nach dem Abbruch
Im Frühjahr 1855, während Storms Potsdamer Zeit der Beziehung zuletzt gesteigert im Wissen um das
entstanden, erschien die kurze Novelle Angelica noch Ende der Liebe. Diese erscheint religiös überhöht: als
im Sommer desselben Jahres zusammen mit der be- ein »Gott«, der (zu) »früh [...]  empfangen« wurde
reits 1854 veröffentlichten Erzählung Ein grünes Blatt (384). Um die Liebe in eine Haltung zu verwandeln,
beim Berliner Verleger Heinrich Schindler in einem bedarf es des Glaubens und der Hoffnung – und diese
kleinen Bändchen mit dem Titel Ein grünes Blatt. Zwei gehen Ehrhardt ab. Die Liebe ist, entsprechend ihrem
Sommergeschichten. Charakter als säkularisierte-christliche Tugend, ein
Angelica handelt von der unerfüllten Liebe zwi- »leidevolles Wunder« (364). Ehrhardt ist der Klein-
schen dem hinsichtlich seines beruflichen Werdegangs gläubige, der weder die Hoffnung noch die Phantasie
in Rückstand geratenen Ehrhardt und der wesentlich aufbringt, sich das »Außerordentliche[ ]« vorzustellen
jüngeren Titelfigur. Das Scheitern der Beziehung ist noch sich für dessen Verwirklichung einzusetzen
vielschichtig motiviert, zu nennen sind gesellschaftli- (ebd.). So ist es gerade die in ihrem Umfang nicht hin-
che, ökonomische und charakterliche Gründe: Ein ers- reichend geübte Liebe, mit der Ehrhardt die »geisti-
tes Hindernis bildet der soziale Status des männlichen ge[ ] und körperliche[ ] Verkümmerung« Angelicas
Protagonisten, hinzu kommen aber seine Unentschie- betreibt, vor der er sie doch, weil sie »das gewöhnliche
denheit sowie die von Storm selbst retrospektiv als Los der Frauen seines Standes« sei, bewahren möchte
›Schwäche‹ Angelicas ausgelegte Assimilation an die (363). Hieran wird der aporetische Charakter einer
Erwartungen der durch die Mutter repräsentierten Ge- verabsolutierten Liebeskonzeption (vgl. Baßler 1987)
sellschaft nach einer günstigen Heirat des jungen Mäd- im Rahmen gesellschaftlicher, eben nicht ›absoluter‹,
chens. Auf die erste Liebeszusammenkunft im Garten bedingungs- und beziehungsloser Existenz deutlich.
folgt die Absage Ehrhardts an eine öffentliche Verbin- Ausagiert wird die Aporie in erschöpfender Motiv-
dung. Die heimliche Übereinkunft unter den argwöh- dichte durch die Gegenüberstellung von Ratio und
nischen Blicken der Leute schlägt allmählich um in emotio, der ›Klarheit‹ von Worten und der ›blinden‹
Entfremdung und Zurückweisung. Es folgt eine lange Evidenz des Gefühls, der Vermitteltheit sprachlicher
Trennung, die erst vollzogen ist, als Ehrhardt eine neue Erkenntnis und der Unmittelbarkeit von Sinnesemp-
Stellung in einer anderen Stadt antritt. Zu einer Ver- findungen, von überlegter Handlungssteuerung und
söhnung der beiden Liebenden kommt es auch nicht, der Unwillkürlichkeit des ›Augenblicks‹. Ihr ent-
als eine Veränderung in den Verhältnissen Erhardts spricht strukturell die Dialektik von schlussfolgernder
eintritt, die ihnen die einst erhoffte Gemeinschaft er- Erzählung und szenischer Darstellung als einer »Ket-
lauben würde – weil Angelica sich nun bereits einem te« von »Augenblick[en]« (LL 1, 365). In dieser Hin-
Arzt versprochen hat. Schließlich erreicht Ehrhardt die sicht erweist sich Angelica als streng durchkomponier-
Nachricht vom Tod des Bräutigams, verbunden mit ter Formversuch – als Versuch, Liebe und Entfrem-
der Aufforderung, ›heimzukehren‹ und ›sein Glück zu dung motivisch und symbolisch, soziale und persönli-
holen‹. Erst jetzt erkennt er jedoch, dass seine Liebe zu che Verstrickung als ›Verkettung‹ von Situationen,
Angelica nur noch eine Erinnerung ist. Entzweiung im Gegeneinander von szenischen und
Formal handelt es sich bei der Novelle um eine Fol- Reflexionspassagen formal zu bewältigen. Inhaltlich
ge kurzer Situationen, verbunden durch summarische führt der unaufhebbare Dualismus zwischen gesell-
Abschnitte, die nicht nur die zeitlichen Abstände zwi- schaftlich-rationalen und leidenschaftlich-›natürli-
schen den szenischen Darstellungen überbrücken, chen‹ Ansprüchen sowohl zur Entzweiung des Selbst
sondern auch das Geschehene reflektieren und das aus als auch zur Entzweiung mit dem Anderen: Wie Ehr-
ihm Folgende motivieren. Gegliedert ist die Erzäh- hardt zwischen eifersüchtiger Inanspruchnahme und
lung in drei Kapitel; sie handeln von den Schwierig- Resignation schwankt, so entsteht für ihn, als sie eben-
keiten der Liebe, dem Zustand der Entfremdung und falls ihren ›Glauben‹ verloren hat, eine »doppelte«,
dem endgültigen Entsagen Ehrhardts. Aus der Zöger- ihm innig hingegebene und zugleich fremde Angelica
lichkeit Ehrhardts wie der Unausgesprochenheit von (379). Momente sinnlich-intuitiven Erkennens, also
Gefühlen und Interessen folgt der Widerspruch zwi- synthetisch-ganzheitlicher Erfahrung werden ange-
schen den beiden Liebenden. So ist ihre Entzweiung deutet, die Novelle insgesamt ist aber die Entfaltung
auch die Wirkung eines Kommunikationsproblems. des anfänglich formulierten Grundwiderspruchs. Zu
Der Gegensatz wird offenkundig in Ehrhardts Er- diesem gehört weiterhin das ambivalente Motiv vom

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35 »Angelica« (1855) 145

»dunkle[n] unwiderstehliche[n] Walten der Natur- dem angedeuteten Hintergrund der Schleswig-Hol-
kräfte«, die bedrohlich, aber auch (wie am Ende des steinischen Erhebung die politisch-ökonomischen
Textes, wenn das ›mechanische‹ Rauschen des Laubs Verhältnisse der »Klassengesellschaft« mit der unter-
den aufgebrachten Ehrhardt beruhigt) heilsam wir- drückten Liebe parallel setze und dabei die Möglich-
ken können. Die Aporie führt schließlich im Durch- keit der Revolution aufscheinen lasse, bevor sie am
gang durch die Entfremdung zu der ›unerhörten Be- Ende den Pessimismus restituiere (Kuchenbuch 1968,
gebenheit‹, dass das Ziel der Wünsche, wenn es letzt- 68, 78). Im Übrigen wird Angelica im Kontext von Fa-
lich erreichbar ist, nicht mehr gewollt wird. Trotz der milien- (Tschorn 1978) und Generationsthematik
vorgestellten doppelten Bestimmtheit des Menschen (Chowanietz 1990), Naturdarstellung (Reimann 1995)
ist Angelica keine ›Schicksalsnovelle‹: Veränderung und Erzählperspektive (Lee 2005) besprochen.
im Sozialen wie in den privaten Verhältnissen ist kein
»Zufall«, sondern durch Engagement herbeiführbar Literatur
(380). Baßler, Moritz: »Die ins Haus heimgeholte Transzendenz«.
Immer wieder ist die Nähe Angelicas zur erstmals Theodor Storms Liebesauffassung vor dem Hintergrund
der Philosophie Ludwig Feuerbachs. In: STSG 36 (1987),
1849 erschienenen Novelle Immensee herausgestellt 43–60.
worden. Sie ergibt sich aus der Anlage der Liebes- Berg, Barend Hendrik Jacobus van der: Resignation und Ent-
geschichte, aus Motivkorrespondenzen und der Rei- sagung in Storms Frühnovellen. Diss. Potchefstroom 1972,
hung szenischer ›Stimmungsbilder‹ anstelle einer 85–96.
durchgehenden Handlung. Betont wird das innova- Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959,
163–167.
torische Potenzial der analytischen Erzählung als ei-
Browning, Robert M.: Association and Dissociation in
ner Art Übergangsnovelle, das vor allem in der psy- Storm’s Novellen: A Study on the Meaning of the Frame.
chologischen Herleitung des Geschehens liege – dabei In: PMLA 66 (1951), 381–404.
wird übersehen, dass auch die frühe Fassung von Im- Chowanietz, Siegfried: Jung und Alt im Konflikt. Generati-
mensee im Volksbuch auf das Jahr 1850 für die Herzog- onsprobleme im Leben und in ausgewählten Novellen Theo-
thümer Schleswig, Holstein und Lauenburg die Über- dor Storms. Bern 1990, 222–229.
Coghlan, Brian: Dauer im Wechsel. Kontinuität und Ent-
gänge zwischen den einzelnen Kapiteln und damit die
wicklung der Stormschen Erzählkunst. In: STSG 20
Entwicklung der Geschichte motiviert. Die Deutung (1971), 9–22.
erfolgt vor allem entlang der Linien, die Storm selbst Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart/Weimar 1997, 100–
und seine frühen Kritiker in brieflichen Äußerungen 101.
vorgegeben haben: Angelica sei eine Reaktion auf Paul Kuchenbuch, Thomas: »Angelika« – oder die gescheiterte
Heyses Kritik an der Statik der »Situationsnovelle« Auflehnung. Zur gesellschaftlichen Wurzel der Resignati-
onskunst im Poetischen Realismus. In: STSG 17 (1968),
(Stuckert 1955), die dazu geführt habe, dass Storm 68–86.
nun »Handlung als kontinuierlichen Motivations- Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
zusammenhang« entwerfe (Lee 2005, 101); die Novel- Storms frühen Novellen (1848–1859). Berlin 2005, 101–
le wird biografisch reduziert, »Urbild der Titelgestalt« 108.
sei »Storms spätere (zweite) Frau Dorothea Jensen« Reimann, Birgit: Zwischen Harmoniebedürfnis und Tren-
nungserfahrung. Das menschliche Naturverhältnis in Theo-
(Goldammer 1, 801); das ›Unfertige‹ des Textes wird
dor Storms Werk. Zur dichterischen Gestaltung von Natur
entsprechend dem Vorwurf Franz Kuglers darin gese- und Landschaft in Lyrik und Novellistik. Diss. Freiburg
hen, dass Storm sich ins Subjektive verliere, also jen- i. Br. 1995, 88–93.
seits der psychologischen Motivation keinen tragfähi- Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
gen Gegenstand für eine Geschichte von allgemeiner seiner Novellen. Bonn 1971, 43–45.
Gültigkeit habe (vgl. LL 1, 1065–1067). In der einzigen Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Bremen 1955, 256–258.
Spezialuntersuchung argumentiert Thomas Kuchen- Stuckert, Franz: Theodor Storms novellistische Form. In:
buch (etwas forciert, zumal es in der Erzählung zu kei- Germanisch-romanische Monatsschrift 27 (1963), 24–39.
ner Auflehnung kommt), der Novelle eigne ein ›expe- Tschorn, Wolfgang: Idylle und Verfall. Die Realität der Fami-
rimenteller‹ Charakter, sie tendiere zur Überwindung lie im Werk Theodor Storms. Bonn 1978, 93–99.
der realistischen »Resignationskunst«, indem sie vor
Christoph Gardian
146 III Werk – D Novellen

36 »Wenn die Äpfel reif sind« (1856) aphrodisierende Früchte gelten (vgl. Hld 2,3; 2,5; 7,9),
werden über lat. malum, das sowohl den ›Apfel‹ als
Die komische Szene Wenn die Äpfel reif sind erschien auch das ›Übel‹ bezeichnen kann, mit dem Baum der
zuerst Ende 1856 (datiert auf das Jahr 1857) im zwei- Erkenntnis aus der Paradieserzählung Gen 2–3 assozi-
ten Band der Argo, dem von Friedrich Eggers, Theo- iert, von dem Adam und Eva essen. Persifliert wird die
dor Hosemann und Franz Kugler herausgegebenen zugrunde liegende Vorstellung von Verführung und
Album für Kunst und Dichtung, das in Breslau verlegt Sünde, insofern der listige Schusterjunge und Apfel-
wurde und das zentrale Publikationsorgan des Rütli- dieb statt als Schlange »wie eine große schwarze Rau-
Kreises um Theodor Fontane, Paul Heyse, Adolph pe um den Stamm herumhäng[t]« (LL 1, 387). In glei-
Menzel u. a. war. Im Inhaltsverzeichnis des fünften cher Weise wird die aggressive Erotik entschärft, die
Bands der Sämmtlichen Schriften von 1868 steht die durch den Zwetschgen schmatzenden Marder auf-
Angabe »Potsdam 1856«. Da Storm die Erzählung gerufen wird, indem der Räuber einem anderen Platz
noch vor seinem Besuch in Husum im Juni in einem macht, und zwar dem zunächst synekdochisch als »di-
Brief an Eggers bespricht, ist sie wohl in der ersten Jah- cker Kopf« eingeführten »untersetzte[n] Junge[n]«
reshälfte 1856 entstanden (vgl. LL 1, 1069 f.). Im Ver- von nebenan (386). Aus dieser anfänglichen Charak-
gleich zur Fassung des Jahrbuchs für das Jahr 1857 nur terisierung (der Dicke repräsentiert gleichzeitig Faul-
leicht überarbeitet, erschien sie wieder 1860, zusam- und Dummheit) und dem Spiel mit Erwartungen re-
men mit Auf dem Staatshof, Posthuma und Der kleine sultiert die Komik der Heraufsetzung, die schließlich
Häwelmann, in einer Buchausgabe mit dem Titel In nach der Situationskomik des Hin und Her im Baum
der Sommer-Mondnacht im Berliner Verlag Heinrich in der Vertauschung der Rollen mündet. Indem der
Schindler. vermeintlich Unterlegene in einen Apfel beißt, gelangt
Wenn die Äpfel reif sind handelt von einem glück- er tatsächlich zu einer Erkenntnis der Lage und ver-
lichen Apfeldiebstahl und einem verhinderten Stell- hindert einen ›Apfeldiebstahl‹ anderer Art. Mit Witz
dichein. Während in einer Mondscheinnacht ein bringt der Junge sein ungeduldiges Gegenüber dazu,
Mädchen im Haus auf ihren Liebhaber wartet, stiehlt für seinen Schaden aufzukommen, und macht den
sich der korpulente Nachbarsjunge über den Zaun in Widersacher überdies noch zum Komplizen. Zuletzt
den Obstgarten, um dort den Apfelbaum zu plündern. nimmt er doch teuflische Züge an, wenn er »so in-
Dabei ertappt ihn der bereits wartende Geliebte. Es grimmig in sich hinein[lacht], daß ihm die Äpfel auf
entwickelt sich ein Tauziehen zwischen den Kontra- dem Buckel tanzten« (391). Einige beschreibende Pas-
henten: Als der Schusterjunge höher in den Baum sagen sind in ihrem Blick für das realistische Detail
flüchten will, hält ihn der junge Mann zunächst zu- eindrücklich, andere, insbesondere solche, die trotz
rück; als der Liebhaber ihn auffordert – nachdem er externer Fokalisierung etwa das Verhalten des Apfel-
ihm ein Stück aus der Cordhose, die dem Meister ge- diebs motivieren wollen, zu langatmig und der Komik
hört, geschnitten hat –, vom Baum zu steigen, wartet der szenischen Darstellung abträglich.
der Junge ab. Er kennt inzwischen den Grund für die Der Schwank hat in der Forschung, abgesehen von
Anwesenheit des Mannes, das Mädchen hat er aus sporadischen Hinweisen auf seine Existenz, keine Be-
dem Fenster steigen sehen. So gelingt es ihm, dem achtung gefunden. Irmgard Roebling erwähnt die Er-
Verführer nicht nur das Geld für die Hose abzugewin- zählung im Rahmen ihrer Besprechung der typischer-
nen, sondern sich auch den ihm entglittenen Sack mit weise kindhaft-zarten, weiß gekleideten Mädchen-
Äpfeln heraufreichen zu lassen. Mit dem Ruf: »Diebe gestalten im Werk Storms. Stefan Schröder spricht
in den Äpfeln« (LL 1, 390) unterbindet er schließlich Wenn die Äpfel reif sind in seiner Untersuchung zur
das heimliche Tête-à-Tête. Symbolik des Erotischen bei Storm kurz an.
Gleich zu Beginn wird über eine Reihe von Moti-
ven (Linde, Mondschein, die Kronen der Obstbäume) Literatur
eine sinnlich-libidinöse Atmosphäre evoziert, der Eversberg, Gerd: Die Bedeutung Theodor Fontanes und sei-
hortus conclusus des durch einen Lattenzaun um- nes Kreises für die Entwicklung der Stormschen Erzähl-
kunst. In: Fontane-Blätter 54 (1992), 62–74.
grenzten Gartens wird zum locus amoenus, zum ge-
Roebling, Irmgard: Liebe und Variationen. Zu einer biogra-
eigneten Ort eines idyllischen Schäferstündchens. Die phischen Konstante in Storms Prosawerk (Mit einem Ex-
Ambivalenz des erotischen Themas wird vor allem kurs zum Fußfetischismus). In: Dies.: Theodor Storms äs-
durch die Symbolik des Apfelbaums aufgerufen: Die thetische Heimat. Studien zur Lyrik und zum Erzählwerk
reifen Äpfel, die schon im biblischen Hohelied als Storms. Würzburg 2012, 173–208.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_36, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
36 »Wenn die Äpfel reif sind« (1856) 147

Schröder, Stefan: »Sie haben sich bemüht, äußerst decent zu Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
bleiben«. Chiffrierte Erotik im Werk Theodor Storms. In: Bremen 1955, 258.
Heinz-Peter Niewerth (Hg.): Von Goethe zu Krolow. Ana- Tschorn, Wolfgang: Idylle und Verfall. Die Realität der Fami-
lysen und Interpretationen zu deutscher Literatur. Frank- lie im Werk Theodor Storms. Bonn 1978, 81 f.
furt a. M. 2008, 123–148.
Christoph Gardian
148 III Werk – D Novellen

37 »Auf dem Staatshof« (1859) innerung an einen Sonntagsbesuch auf dem Staatshof
in frühen Kindheitstagen und der Erinnerung an wei-
Entstehung
tere Besuche später in der Stadt, wohin die Großmut-
Die »Idee zu dieser Geschichte«, so Storm, sei ihm ter aus Altersgründen mit Anne Lene übersiedelt und
während einer schlaflosen Nacht im Göttinger »Hotel wo das Mädchen nach dem Tod der Großmutter von
zur Krone« gekommen, wo er im August 1856 zusam- Marx’ Vater als Mündel aufgenommen wird, über Be-
men mit seinem Vater auf der Rückreise von Heiligen- gegnungen im Jugend- und frühen Erwachsenenalter,
stadt nach Husum Zwischenstation machte (GB 1, als Anne Lene sich mit einem arroganten Kammer-
359). Dort habe er sich an eine Landpartie erinnert, junker verlobt, der sie wenig später fallen lässt, weil
die er einmal »mit jungen Leuten beiderlei Ge- die sinkenden Bodenpreise ihren Besitz entwertet ha-
schlechts« zu einem verödeten Staatshof in der Eider- ben, bis zum Tod Anne Lenes auf dem Staatshof wäh-
städter Marsch unternommen hatte, sowie an das vor rend einer Landpartie, die der aufstrebende Großbau-
Zeiten vernommene Gerücht um eine verarmte hol- er Claus Peters organisiert. Gesundheitlich über-
ländische Aristokratin aus Friedrichstadt, »die letzte anstrengt von einem Walzer mit dem sie begehrenden
einer großen Familie, welche nah an 100 Höfe beses- Marx entzieht Anne Lene sich dem Tanzfest durch ei-
sen« hätte (ebd.). Aus diesen beiden Erinnerungsele- nen Gang in den nächtlichen Garten des Staatshofes,
menten ergeben sich der zentrale Handlungsort und wo sie am Ende durch die morschen Bretter eines Pa-
das Verfallsthema von Auf dem Staatshof. villons bricht und ertrinkt. Claus Peters wird ihren Be-
Die verschiedenen Entstehungsphasen der Novelle sitz übernehmen, den Staatshof abreißen und durch
hat Storm auf dem Umschlag der stark durchkorri- »ein modernes Wohnhaus« (426) ersetzen lassen.
gierten Handschrift vermerkt: »Herbst 1856 – Decem-
ber 1857 – Jan. 1858« (zit. nach Lohmeier 1993, 52).
Deutung
Veröffentlicht wurde Auf dem Staatshof zuerst 1859 im
Jahrbuch Argo. Album für Kunst und Dichtung. Ein Als Marx sich an die nächtliche Szenerie kurz vor dem
Jahr später erschien die Novelle zusammen mit Wenn Wassertod Anne Lenes erinnert, resümiert er seinen
die Äpfel reif sind (1857), Posthuma (1851) und Der Blick auf ihre »kleine Hand« im Mondlicht als intensi-
kleine Häwelmann (1849) in dem Sammelband In der ves ästhetisches Erlebnis, bei dem ihn »jener Schauer«
Sommer-Mondnacht. Für diese Buchausgabe nahm überkommen habe, »der aus dem Verlangen nach Er-
Storm einige Änderungen vor, bei denen er zum einen denlust und dem schmerzlichen Gefühl ihrer Ver-
den »Lokalton« (GB 1, 321) der Erzählung noch stär- gänglichkeit so wunderbar gemischt ist« (423). Damit
ker herauszuarbeiten suchte und zum anderen auf die sind die beiden zentralen Motivstränge benannt, die
Kritik seines Potsdamer Richterkollegen Rudolf Her- gleichermaßen die Makro- und Mikrostruktur des
mann Schnee reagierte, dem die Hauptfigur Marx zu Textes konstituieren: das »Verlangen nach Erdenlust«
wenig tatkräftig gezeichnet war. Marx unternimmt und das zugleich schmerzende »Gefühl ihrer Ver-
nun am Ende einen vergeblichen Versuch, Anne Lene gänglichkeit« (welche die »Erdenlust« nicht nur ne-
aus dem Wasser zu retten. giert, indem sie ihrem Wollen eine Grenze setzt, son-
dern sie eben damit zuallererst begründet, entfacht
und intensiviert). Fasold spricht hier zu Recht vom
Inhalt
»Kern der Stormschen Kunst« und verweist auf »die
Zu Beginn fällt der Blick des Ich-Erzählers Marx auf Grundstimmung seiner Lyrik schlechthin«, wie sie et-
seine Vaterstadt, die »hart an der Grenze der Marsch- wa in Immensee (1850/51) das Lied des Harfenmäd-
landschaft« (LL 1, 392) liegt, um in der Erinnerung chens intoniere (Fasold 1999, 44).
noch einmal den Weg zum titelgebenden Staatshof zu Anders aber als in Immensee sind die Szenen der er-
gehen. Hier lebt das Mädchen Anne Lene, letzter zählten Geschichte jetzt nicht mehr um solche Ge-
Spross einer einst reichen Familie aus dem Eiderstäd- dichte herum entworfen. In Auf dem Staatshof löst
ter Landadel, zusammen mit seiner Großmutter, der sich die Prosa Storms von ihrer statischen Bildhaftig-
alten Frau Amtmann van der Roden. In knappen Er- keit, bietet nicht mehr ein »Mosaik von stillstehenden
innerungssentenzen entfaltet Marx den kurzen Le- Situationen« (Heyse 1854, 103), sondern entwickelt
bensweg der gleichaltrigen Anne Lene, deren morbid- sich hin zu einer in sich zusammenhängenden Hand-
verfeinerte Erscheinung ihn von Beginn an fasziniert lung. Dabei imprägniert »die Grundstimmung seiner
und zunehmend in den Bann zieht: Von der ersten Er- Lyrik« nun die Prosa selbst, indem der Zweiklang von

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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37 »Auf dem Staatshof« (1859) 149

»Verlangen nach Erdenlust« und »dem schmerzlichen dem im Heu liegenden Knaben (so gegenwärtig ist
Gefühl ihrer Vergänglichkeit« durchgängig in die Tex- dem erwachsenen Erzähler dies, dass er es im Präsens
tur eingearbeitet ist. So wird das gesamte Geschehen schildert). Ähnlich heikel erscheint wenige Seiten
präludiert von seinem Ende her: dem Verweis auf An- später der Umstand, dass diese beiden Kinder ein Me-
ne Lenes Tod, und zeigt sich dann durch und durch nuett einüben, bei dem die am Klavier begleitende
sinnlich vermittelt, indem visuelle, olfaktorische und Mutter ausgerechnet »den Don Juan auf ’s Tapet« legt
akustische Eindrücke eng miteinander verwoben wer- und der Erzähler zuletzt bekennt: »Damals aber hat-
den. Immer wieder überkommt und »verläßt« (LL 1, ten die kleinen tanzenden Füße mein ganzes Knaben-
394) den Erzähler dabei die Erinnerung wie etwas bei- herz verwirrt.« (400).
nahe physisch Präsentes, ja, nur so könne er erzählen, Wenn also auf diese Weise in Auf dem Staatshof
wie es – in gleichsam personaler Eigenmächtigkeit – vielfach und facettenreich Assoziationen aus dem
»die Erinnerung« ihm »hergibt«, erklärt Marx zu Be- Bildbereich des Sexuellen hervorgerufen werden, ent-
ginn (392). steht mit kalkulierter Unschärfe eine sinnlich-mehr-
Mit Blick auf die Genese des Plots werden die Moti- deutige Atmosphäre, bei der stets das Motiv des Ver-
ve »Vergänglichkeit« und »Erdenlust« zum Movens falls mit dem Motiv des »Verlangen[s] nach Erden-
zweier zentraler, einander entgegenlaufender Ent- lust« verknüpft ist. Dies kulminiert schließlich in der
wicklungslinien: Anne Lenes Weg in den frühen Tod zweiten Tanzszene: im Bild des walzertanzenden Paa-
wird parallel geführt mit dem zunehmenden Verfall res Marx und Anne Lene im heruntergekommenen
des Staatshofes, während sich – damit einhergehend – ehemaligen Prunkgemach des Staatshofes unter ei-
die erotische Anziehung, die Anne Lene auf Marx aus- nem mit frischen Sommerblumen umwundenen
übt, umgekehrt fortwährend steigert. Wie weit dieser Kronleuchter, zweifellos der Höhepunkt der Novelle
Lust-Tod-Komplex im Geschehenszusammenhang (so schon Fasold 1999, 42).
zurückreicht, wird deutlich, als die jungen Erwachse- Damit ist zugleich ein weiteres Charakteristikum
nen Anne Lene und Marx auf dem Staatshof der Bett- dieser Prosaarbeit angesprochen: Zum ersten Mal in
lerin Trin’ begegnen, die das bereits zu Beginn der No- Storms Novellistik finden sich in Auf dem Staatshof ty-
velle angedeutete Gerücht konkretisiert, beim wirt- pologische Merkmale einer Novelle überzeugend
schaftlichen Aufstieg von Anne Lenes Vorfahren sei durchgestaltet. Erkennbar ist dabei die Annäherung
einst »unrecht’ Gut dazwischen gekommen« (393) – an die Bauweise des klassischen Dramas (vorauswei-
im Tun-Ergehen-Zusammenhang einer fatalistischen send auf spätere Novellen wie Draußen im Heidedorf,
Lesart Ursache für den später einsetzenden Verfall. 1872, Carsten Curator, 1878, oder Der Schimmelreiter,
Eben diese Unheil verkündende Fama, die sich 1888). Schrittweise steigert sich die Handlung bis zum
schließlich mit dem Tod des letzten Sprosses der Fa- Höhepunkt der Walzertanzszene, während sich zu-
milie, Anne Lene, und dem Verkauf des Staatshofes zu gleich der unaufhaltsame Verfall von Anne Lenes Welt
erfüllen scheint, sexualisiert die Bettlerin nun anspie- am zunehmenden »Zerstörungsprozeß« (LL  1, 404)
lungsreich, wenn sie doppeldeutig darauf hinweist, der Räume und Orte des Staatshofes zeigt, die die zen-
Anne Lenes »Großvater selig« habe ihr einst »die tralen Dingsymbole darstellen – allen voran der Gar-
Strümpfe [...] ausgezogen« (406). tenpavillon, durch dessen morsche Bretter Anne Lene
Auch die in der Erzählabfolge erste Erinnerungs- am Ende ins Wasser stürzt.
sequenz schlägt – scheinbar noch unverfänglich – be- Die Peripetie ereignet sich unmittelbar nach dem
reits das Lust-Tod-Motiv an, wenn Marx schildert, Walzertanz im nächtlichen Garten. Als von Beginn an
wie die vierjährige Anne Lene ihn im Beisein der unausweichlich ist sie für den Leser zu erkennen in
Magd Wieb im Heu begräbt. Aus der Perspektive der der eingangs zitierten Reflexion von Marx über den
Kinder mag es sich um ein unschuldiges Spiel han- inneren Zusammenhang der Lust-Tod-Motivik beim
deln, der erwachsene Erzähler jedoch (zum Zeit- Anblick des Mondlichts auf Anne Lenes Mädchen-
punkt der erinnerten Szene zwar ein Kind, als er- hand. Wie in der klassischen Tragödie fällt die Pro-
innernder Erzähler aber kein Kind mehr) lässt hier tagonistin anschließend, dem ursprünglichen Sinn
die kleine Anne Lene nicht nur das Todesmotiv offen des griechischen Wortes katastrophé entsprechend,
aussprechen: »so, nun bist du bald begraben!« (395), hinab in den Abgrund. »Nun fällt Alles zusammen!«
sondern verbindet es zugleich mit einer durchaus hei- (424) hatte Anne Lene nach dem letzten Tanz zu Marx
kel anmutenden Sinnlichkeit: »wieder und wieder« gesagt und wird damit zur vorausdeutenden Vor-
»bückt« sich und »stöhnt« die kleine Anne Lene über gestalt von Figuren, wie sie mit tragödienhafter Wucht
150 III Werk – D Novellen

in Aquis submersus (1876), Carsten Curator und Der dass nur das »in die Aeußerlichkeit Tretende« dar-
Schimmelreiter wiederbegegnen werden. gestellt werden soll, nicht aber das Ereignis selbst,
Der entscheidende Kunstgriff aber, mit dem es welches das »daraus resultirende in die Aeußerlich-
Storm in Auf dem Staatshof erstmals in seiner Novel- keit Tretende« (ebd.) bewirkt hat.
listik gelingt, die gattungstheoretischen Ansprüche Ein Beispiel hierfür ist die Szene, die auf die Begeg-
des Poetischen Realismus zu erfüllen, ist die Einfüh- nung von Anne Lene und Marx mit der Bettlerin Trin’
rung der fiktiven, sich erinnernden Erzählerinstanz, folgt. Nachdem deren mehrdeutige Anspielungen An-
wie Dieter Lohmeier in seinem maßgebenden Aufsatz ne Lene auf die abgründige Seite ihrer Familien-
1979 herausgearbeitet hat. Sehr spät erst stellt Storm geschichte hingewiesen haben, verlangt Anne Lene
dem Beginn der Novelle noch eine kurze Passage vo- von der ebenfalls anwesenden alten Wieb, ihr »die
ran, in der – gleich einem musikalischen Vorzeichen Wahrheit« zu sagen. Diese versucht zunächst ab-
bei einer Partitur – die Erzählweise begründet und das zuwiegeln, Anne Lene aber besteht auf der »Wahr-
Ende der Geschichte angedeutet wird. Sie lautet: heit«. Der Text fährt nun fort:

Ich kann nur Einzelnes sagen; nur was geschehen, Was weiter zwischen den Beiden gesprochen worden,
nicht wie es geschehen ist; ich weiß nicht, wie es zu En- weiß ich nicht; denn ich verließ nach diesen Worten
de ging und ob es eine Tat war oder nur ein Ereignis, das Zimmer, da ich glaubte, die Alte werde das Gemüt
wodurch das Ende herbeigeführt wurde. Aber wie es des Mädchens leichter zur Ruhe sprechen, wenn sie al-
die Erinnerung mir tropfenweise hergibt, so will ich es lein sich gegenüber wären. – Aber nach einigen Tagen
erzählen. (LL 1, 392) war das Diamantkreuz von Anne Lene’s Hals ver-
schwunden, und ich habe dieses Zeichen alten Glanzes
Diese Einleitung legitimiert das »Bauprinzip« der niemals wieder von ihr tragen sehen. (LL 1, 407 f.)
anschließend dargebotenen Geschichte »als Folge
der nachahmenden Abbildung von Wirklichkeit« Vollkommen plausibel erläutert Marx hier, warum er
(Lohmeier 1979, 118). Gerade aufgrund seiner offen dem Gespräch zwischen Anne Lene und Wieb fern-
ausgestellten Subjektivität beglaubigt der Rahmen- geblieben sei, so dass die explizite Aufklärung über das
erzähler dabei den Realitätsgehalt der Erzählung, hässliche Geschehen aus der Vergangenheit (ge-
denn hier berichtet ein Augenzeuge, der auch seine schweige denn dieses Geschehen selbst) nicht dar-
eigene Perspektive auf das Geschehen realistisch re- gestellt werden kann. Stattdessen verweist lediglich
flektiert: Er könne »nur Einzelnes sagen«, ist sich al- das anschließend »in die Aeußerlichkeit Tretende« de-
so der Brüchigkeit und Unzulänglichkeit seiner Er- zent, aber umso nachdrücklicher auf das nicht Dar-
innerung bewusst, und thematisiert auch offen sein stellbare: Das diamantene Kreuz als »Zeichen alten
persönliches Involviertsein in die Ereignisse, etwa Glanzes« ist »nach einigen Tagen« nicht mehr an An-
wenn er bei der negativen Darstellung des Kammer- ne Lenes Hals zu sehen und wird »niemals wieder«
junkers zu bedenken gibt, »daß diese Meinung keine von Marx gesehen werden.
unparteiische sei« (LL 1, 408). Gleichzeitig ermög- Das unverwechselbare Gepräge der Novelle Auf
licht die zunächst dem Realismus geschuldete Er- dem Staatshof verdankt sich dieser Darstellungstech-
zählperspektive nun eine fortwährende Poetisierung nik. Sie erlaubt eine realistisch legitimierte Poetisie-
des dargestellten Geschehens. Denn weil der Erzäh- rung des dargestellten Geschehens und steht dabei in
ler Marx nun einmal keine Auskunft geben kann funktionaler Analogie zu jenem »Schauer«, den der
über innere Vorgänge anderer Figuren oder über Er- Erzähler konstatiert, wenn er das für den Text konsti-
eignisse, bei denen er nicht anwesend war, erscheint tutive Lust-Tod-Motiv reflektiert. Denn so wie der
es jetzt als realistisch begründet, wenn nicht darstel- »Schauer« »dem schmerzlichen Gefühl« der Todes-
lungswürdige Aspekte der Geschichte nur indirekt verfallenheit all dessen, worauf sich die »Erdenlust«
wiedergegeben werden. Auf diese Weise gelingt richtet, einen ästhetischen Reiz abzugewinnen ver-
Storm eine ›symptomatische Behandlung‹ des Stof- mag, der Trost spendet, so wird die nackte hässliche
fes, die er in späteren poetologischen Reflexionen Wahrheit in der Form des ahnungsvoll Angedeuteten
»für den einzigen wahren poetischen Jacob« ausgibt in einen poetischen Zusammenhang eingebettet und
(so im vielzitierten Brief an Paul Heyse, 15.11.1882; auf diese Weise in einem Kunstwerk aufgehoben, das
Storm–Heyse III, 37). Ähnlich der Theaterweisheit sich noch dem »Großen und Schönen« (GB 1, 506)
›Nicht sagen, sondern zeigen‹ meint Storm damit, verpflichtet weiß.
37 »Auf dem Staatshof« (1859) 151

Literatur mus. Am Beispiel von Storms Novelle »Auf dem Staats-


Demandt, Christian: Wie Storm zu Storm wird. »Auf dem hof«. In: STSG 28 (1979), 109–122.
Staatshof« als Novelle des Poetischen Realismus. In: Der Lohmeier, Dieter (Hg.): »Auf dem Staatshof«. Text, Entste-
Deutschunterricht 1 (2017), 6–15. hungsgeschichte, Schauplatz. Heide 1993.
Fasold, Regina: Narzißmus und Formdrang in Theodor Pastor, Eckart: Abwege, Abwärtswege. Verfallsgeschichten
Storms Novelle »Auf dem Staatshof« (1859). In: David A. auf dem Staatshof, in der Mengstraße und Fischergrube.
Jackson/Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative In: Heinrich Detering/Maren Ermisch/Hans Wißkirchen
Strategies and Patriarchy/Theodor Storm – Erzählstrategien (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm.
und Patriarchat. Lewiston, N. Y. 1999, 23–47. Frankfurt a. M. 2016, 123–136.
Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart/Weimar 1997, 102– Pastor, Eckart: Andacht, Inbrunst, lüsterne Neugier: Bilder
104. an der Wand und ihre Betrachter in Storms frühen Novel-
Freund, Winfried: Zeitkritik in Storms novellistischem len »Immensee«, »Im Sonnenschein« und »Auf dem
Frühwerk (»Immensee«/«Auf dem Staatshof«). In: Der Staatshof«. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 20 (2016),
Deutschunterricht 5 (1988), 107–117. 31–49.
Heyse, Paul: Theodor Storm. In: Literaturblatt des deutschen Preisendanz, Wolfgang: Gedichtete Perspektiven in Storms
Kunstblattes (28.12.1854), abgedruckt in: Storm–Heyse I, Erzählkunst. In: STSG 17 (1968), 25–37.
103–107. Tebben, Karin: Don Juan in der Bürgerstube. Mozarts Oper
Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor und ihre Bedeutung in Theodor Storms »Auf dem Staats-
Storms Frühnovellen (1848–1859). Berlin 2005, 109–130. hof«. In: STSG 53 (2004), 81–92.
Lohmeier, Dieter: Erzählprobleme des Poetischen Realis-
Christian Demandt
152 III Werk – D Novellen

38 »Späte Rosen« (1860) delt vom Unternehmer Rudolph, der die leidenschaft-
liche Liebe zu seiner – stets namenlos bleibenden –
Der bislang vergleichsweise wenig erforschte, jedoch Ehefrau erst etwa 15 Jahre nach ihrem Kennenlernen
für Storms erzählerische Entwicklung bedeutsame entwickelt. Obgleich seine Gattin von der Außenwelt
Text erschien zunächst 1860 im letzten Jahrgang der als sehr schön wahrgenommen wird, kann Rudolph
Zeitschrift Argo. Album für Kunst und Dichtung, so- sie nicht daraufhin ansehen. Schon bei ihrer ersten Be-
dann mit jeweils nur minimalen Änderungen als Teil gegnung stark durch die Anforderungen seiner Arbeit
der Drei Novellen (1861) und in den Sämmtlichen beansprucht, gilt sie ihm vielmehr als ermutigende
Schriften (1868). Den Anstoß zur Arbeit an der wahr- Kraft, als »Zufluchtsort[]« und »Genossin des Lebens«
scheinlich in den ersten Monaten des Jahres 1859 nie- (LL 1, 430, 431). So wird sie ihm zur gleichsam zaube-
dergeschriebenen Novelle gab offenbar Storms Lektü- risch wirkenden »Goldmaria« (431), die seinen beruf-
re seines Briefwechsels mit Constanze aus der Ver- lichen Aufstieg unterstützt, deren äußere Reize aber
lobungszeit im August 1858, die bei ihm den Wunsch von ihrem Manne unbemerkt ›allmählich verblühen‹
hervorruft, »noch einmal solchen ausbrechenden (433). Ist Rudolph zunächst von seinen Geschäften
Herzensjubel« von der Ehefrau zu hören und in ihr fremdbestimmt (»ich hatte nicht sie, sie hatten mich«;
das liebende junge Mädchen von damals wiederzufin- 431), so entdeckt er in dem Maße, in dem er sich von
den, das zu erkennen er früher nicht in der Lage gewe- diesen zurückziehen kann, seine bisher vernachlässig-
sen sei (an Constanze, 5.8.1858, EB, 141). Jenem Wan- ten Bedürfnisse wieder – darunter v. a. seine Neigung
del vom »stille[n] Gefühl der Sympathie« zu »leiden- zur Poesie.
schaftliche[r] Anbetung«, den Storm rückblickend in Sie bewirkt kurz nach der Geburt der ersten Toch-
seinem Verhältnis zu Constanze feststellt (an Hart- ter und damit fast zwölf Jahre vor dem Zeitpunkt des
muth und Laura Brinkmann, 21.4.1866, Storm– Erzählens seiner Binnennarration eine erste Verände-
Brinkmann, 146), korrespondiert der emotionale rung in ihm. Als Ausgleich zu seiner Tätigkeit und in
Umschlag, der die novellistische Struktur von Späte Erinnerung an die Studien, die er in seiner Jugend mit
Rosen trägt. dem befreundeten Ich-Erzähler der Rahmenhand-
Auf den lebensgeschichtlichen Hintergrund des lung betrieben hat, liest er die Minnetrank-Episode
Textes weisen nicht nur die deutlichen Parallelen hin aus Gottfrieds von Straßburg Tristan. Rudolphs erste
(wie sie u. a. auch aus den hier angeführten Briefen des – erzählerisch bereits selektiv zugerichtete (vgl. Titz-
Autors ablesbar sind); Storm selbst hat gegenüber mann 1999) – Tristan-Lektüre löst in ihm ein Liebes-
Emil Kuh in einem Brief vom 11.10.1875 erklärt, dass verlangen aus, das »das Leben bis dahin hatte schlafen
unter all seinen Figuren »am meisten [...] die Frauen- lassen« (LL 1, 433). Die vorübergehende Intensivie-
gestalt in ›Späte Rosen‹« von Constanze »inspirirt« sei rung seiner Gefühle verdankt sich der literarischen
(Storm–Kuh, 196). Auch Theodor Fontane beschließt Vermittlung. In Rudolphs Blick vom Buch hin zur
seine süffisant-spöttische Zusammenfassung der No- Ehefrau erhält dieselbe ein neues Ansehen, das jedoch
velle im Brief an Paul Heyse vom 15.5.1859 mit der durch den Alltag, konkret: die Präsenz ihrer Mutter-
Bemerkung, dass sich hierin der Autor selbst bzw. eine rolle und die Überlast seiner Arbeit, sofort wieder
für diesen spezifische ›Kränklichkeit‹ in Liebes- überschrieben wird (433 f.).
geschichten offenbare: »[M]an sieht Stormen bestän- In den folgenden Jahren steigert sich zwar Ru-
dig bibbern und zittern, wodurch die Affaire etwas dolphs ›Verehrung‹ des »geistigen Wesens« seiner
höchst Bedenkliches kriegt« (Fontane–Heyse, 66; vgl. Frau als Ehepartnerin und Mutter seiner Kinder (434),
auch ebd., 449). zur bleibenden Entfaltung seines sinnlichen Begeh-
In Späte Rosen wird die für Storm – auch nach eige- rens kommt es aber erst, als seine Geschäfte ihm »end-
ner Aussage (vgl. Storm–Brinkmann, 146) – poetisch lich wieder Raum für andere Dinge« lassen, so dass
sowie biographisch gleichermaßen charakteristische sich der »dem Menschen eingeborene Drang nach
Trennung zwischen Seelenliebe und Leidenschaft auf- Schönheit wieder geltend« machen kann (ebd.). Wie-
gehoben. Mit der Abkehr von einer resignativen derum führt ihn der Weg zurück zum Buch, zum Tris-
Schlussgebung (wie etwa noch in Immensee oder Auf tan. Nach dessen neuerlicher Lektüre ganz auf Liebe
dem Staatshof) zugunsten einer positiv-lebenszuge- eingestellt, verliebt er sich am Morgen seines vierzigs-
wandten Lösung für die Liebenden leitet der Text die ten Geburtstags in das Portrait eines Mädchens, das
Novellistik der Heiligenstädter Hauptschaffensphase ihm seine Ehefrau geschenkt hat und in dem er deren
ein (vgl. auch Veronica, Im Schloß). Die Novelle han- Jugendbildnis erkennt. Die zuerst dominante »Reue«

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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38 »Späte Rosen« (1860) 153

über die verlorene Jugend und die »vergebliche[] erzählung mag sie andererseits jedoch unter dem Ein-
Sehnsucht« nach der inzwischen ›verblühten‹ Schön- druck derselben entstanden sein. Rudolphs für den Er-
heit seiner Gattin weichen jenem »Gedanke[n] un- zähler unerklärliche Reaktion auf das Bildnis seiner
zweifelhaften, unaussprechlichen Glückes« (437), die Frau stellt schließlich das Irritationsmoment dar, von
Abgebildete mit seiner Frau identisch, ja in ihr auf- dem aus er aufgefordert wird, die Geschichte vom
gehoben zu wissen und in der Gealterten das »Palimp- Wandel seiner Liebe zu erzählen. Wie die jugendliche
sest« ihrer jugendlichen Schönheit zu erblicken (Sto- Liebe mit dem Volkslied (»O Jugend, o schöne Rosen-
ckinger 2010, 149). In Übereinstimmung mit den be- zeit!«; 438) nicht bloß sehnsuchtsvoll neu herauf-
glaubigenden Beobachtungen des Rahmenerzählers beschworen und nachholend vergegenwärtigt, son-
(vgl. LL 1, 427) nimmt Rudolph nun das begehrte Ab- dern zugleich wehmütig verabschiedet wird, so bleibt
bild in der gealterten Abgebildeten, d. h. die »mäd- bei Rudolph zwar keine »ungeheilte Wunde«, aber eine
chenhaften« Züge seiner Frau (437) wahr – worin das »fast schmerzliche[] Innigkeit« zurück (429). Das Er-
für Storms Werk zentrale sinnliche Phantasma der blühen seiner Liebe erfolgt in diesem titelgebenden
›Kindsbraut‹ hervortritt (vgl. Stockinger 2010). Sinne »zu spät – aber dennoch nicht zu spät!« (437)
Auf diese Weise erwacht in Rudolph eine Leiden- Ambivalent gestaltet sich auch die Haltung des Tex-
schaft, die sich nun mit der Seelennähe zu einer all- tes zur Arbeit: Auf der einen Seite verhindert Ru-
umfassenden und sakralisierten Liebe (vgl. LL 1, 437) dolphs Karriere die Entfaltung seiner Liebe und nötigt
verbindet. In der Rose findet der Text hierfür ein pas- ihn zur Aufgabe seiner poetischen Neigungen. Auf
sendes Symbol, das in Storms Schreiben vielfach be- der anderen Seite ermöglicht sie ihm, jenes als Gegen-
gegnet (vgl. Bouillon 2002, 119–122) und das mit ei- raum zur städtischen Arbeitswelt entworfene ländli-
nem breiten Bedeutungsspektrum insbesondere für che Ostsee-Idyll zu schaffen, in das er sich dann zu-
die leidenschaftliche Liebe (»Die rote Rose Leiden- nehmend zurückziehen kann. Nahegelegt wird so ein
schaft«; LL 1, 21; vgl. den Gedichtzyklus Ein Buch der harmonischer Ausgleich zwischen Poesie und prosa-
roten Rose) bzw. die leidenschaftlich begehrte – und ischer Arbeit, zwischen idealer und praktischer Sphä-
zumeist mädchenhaft-junge (»die knospende Mäd- re sowie zwischen Unternehmer- und Gelehrtentum,
chenrose, das schlummernde Geheimnis aller Schön- gespiegelt in der Freundschaft Rudolphs und des Ich-
heit«; LL 2, 331) – Geliebte stehen kann, aber auch für Erzählers (vgl. Jackson 1985), die beide die Anlagen
Jugend, für Liebesschmerz und Vergänglichkeit sowie zu jedem der Bereiche in sich tragen (vgl. LL 1, 428).
für marianisch-makellose Jungfräulichkeit. Dass es wohl auch dem Freund nicht gelang, eine Ba-
Die Beziehung wandelt sich – aus der Sicht des lance herzustellen, zeigt sich in seiner Aussage, »durch
Mannes, die der Frau bleibt unberücksichtigt – von der die Verhältnisse in die Fremde getrieben und dort für
Lebensgemeinschaft zur emphatischen Liebesbezie- immer festgehalten« worden zu sein (427). Wenn-
hung. So wird in der Synthese von partnerschaftlicher gleich diese Bemerkung im Vagen bleibt und die Ab-
und leidenschaftlicher Hingabe die jugendlich-unge- weichung des Textes von epochentypischen Eheidea-
trübte Liebe auf Dauer gestellt, das Ideale im Realen len konstatiert werden kann (vgl. Titzmann 1999,
entdeckt und bewahrt. Nicht nur wird neben der 299 f., 319), zählte Storm selbst Späte Rosen zu jenen
›kindlichen‹ Frau (LL 1, 427) auch Rudolph attestiert, Novellen, die in ihrer Bestimmtheit »ganz realistisch
etwas vom »idealen Zug [...] seiner Jugend« behalten ausgeprägt, und dabei in der Durchführung doch
zu haben (428), der Erzähler macht in dem Verhalten durch den Drang nach der Darstellung des Schönen u.
des Ehepaars noch den Schein des frischen Vermählt- Idealen getragen« seien (Storm–Brinkmann, 155).
seins (vgl. 427), »eine gegenseitige fast bräutliche
Rücksichtnahme« (ebd.) aus und beschreibt etwa Ru- Literatur
dolphs Blick auf seine Ehefrau als »von einer solchen Bouillon, Regina: Blumen im Werk Theodor Storms. In:
Energie der Zärtlichkeit, von einer Freude des Besitzes, STSG 51 (2002), 117–125.
Fontane–Heyse: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane
als habe er die Geliebte erst vor kurzem sich errungen« und Paul Heyse. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin 1972.
(429). Da der namenlose Ich-Erzähler seinen wesens- Jackson, David: Theodor Storm’s »Späte Rosen«. In: German
ähnlichen Jugendfreund vor dem Aufenthalt in dessen Life and Letters 38/3 (1985), 197–204.
Ostsee-Landhaus seit 20 Jahren nicht gesehen und des- Stockinger, Claudia: »die Spuren einer früh zerstörten An-
sen Frau noch gar nicht kennengelernt hat, verhält sich mut«. Der Realismus des Hässlichen oder das Martyrium
der Kindsbraut bei Storm. In: Malte Stein/Regina Fasold/
seine Schilderung einerseits bestätigend zu Rudolphs
Heinrich Detering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das
Binnenerzählung; als retrospektiv verfasste Rahmen-
154 III Werk – D Novellen

Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. berger/Wolfgang Walliczek (Hg.): helle döne schöne. Ver-
Berlin 2010, 133–150. sammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Lite-
Titzmann, Michael: Die Verarbeitung von Gottfrieds »Tris- ratur. Festschrift für Wolfgang Walliczek. Göppingen 1999,
tan« in Storms »Späte Rosen«. Die Begegnung unverein- 295–322.
barer Anthropologien. In: Horst Brunner/Florian Eich-
Philipp Böttcher
39 »Drüben am Markt« (1861) 155

39 »Drüben am Markt« (1861) die den Doktor »schon wieder« (439) beim Angeln
bzw. in der »Schenkstube des Schifferhauses« (464)
Storms in Heiligenstadt verfasste Novelle Drüben am zeigen. In diesem stabilen Rahmen ist es sogar mög-
Markt (LL 1, 439–465) erschien 1861 in der Zeitschrift lich, den Arzt als nachtragenden, einen medizinischen
Über Land und Meer (Jg. 3, Bd. 6) und wurde noch im Auftrag aus dem Giebelhaus verweigernden Gries-
selben Jahr in leicht überarbeiteter Form in die Samm- gram (vgl. 464 f.) aus der Erzählung zu entlassen, ohne
lung Drei Novellen aufgenommen. die Stimmung der Novelle von diesem Missklang affi-
Im Zentrum der »Doktorennovelle« (LL  1, 1095) ziert zu sehen – die Gefühle eines Einzelnen ändern
stehen die Erinnerungen des ältlichen, aus bescheide- nichts am Recht des Bestehenden. Die auch von der
nen Verhältnissen stammenden Arztes Christoph an bereits im Titel angedeuteten Lage der jeweiligen El-
sein vergebliches Werben um die Patriziertochter So- ternhäuser zunächst bestätigte starre Ordnung von
phie. Die Rahmenerzählung präsentiert den Medizi- Zentrum und Peripherie findet sich indes durch das
ner als schrulligen, einsamen und mäßig gepflegten ›unerhörte Ereignis‹, das in poetologischer Kon-
Junggesellen. Sein beengtes Elternhaus ist mit der Ver- sequenz selbst ein Raum ist, in Ansätzen unterlaufen:
gangenheit nicht allein durch den titelgebenden Blick Als Materialisierung halbbewusster Wünsche zieht
auf das prächtige Giebelhaus Sophies, sondern vor al- die Krypta des Salons das Fremde ins Eigene, wo es als
lem durch einen exotisch ausstaffierten Salon im Ruine des Begehrens jedoch weder zu assimilieren
Obergeschoss verbunden. Diesen hatte der Kleinbür- noch zu verstoßen ist. Dieser nicht einseitig aufzulö-
gersohn ein Vierteljahrhundert zuvor, nachdem er sende Widerstreit zwischen Eigenem und Fremdem
dank der Krankheit eines Bediensteten in das soziale konkretisiert sich in der »Landschaftstapete, zu der
Umfeld der Bürgermeistertochter geraten war, mit Bernardins einst so beliebte Erzählung die Staffage ge-
Hilfe eines befreundeten Juristen als »Aussteuer« liefert hatte« (457). Jacques Henri Bernardin de Saint-
(458) für das erhoffte Eheglück eingerichtet. Von sei- Pierres exotistischen Bestseller Paul et Virgine von
ner scharfzüngigen Mutter zugleich beargwöhnt und 1788 kennt der Doktor allerdings nicht aus eigener
ermutigt, war es dem humorvollen, aber ungeschick- Lektüre, sondern lediglich von Kupferstichen »im
ten Junggesellen jedoch nicht gelungen, Sophie für Wohnzimmer eines reichen Kaufherrn« (ebd.). Dass
sich zu gewinnen. Neben Sophies zwischen unver- ihm diese seit seiner Kindheit »von der Vorstellung ei-
bindlicher Zuneigung und leisem Ekel schwankenden nes behaglich eingerichteten Wohngemachs unzer-
Gefühlen und Christophs Schüchternheit werden vor trennlich geblieben« (ebd.) sind, nimmt dem zunächst
allem der Standesunterschied sowie das bedrückende grellen Kontrast zwischen norddeutschem Philister
Zusammenleben von Mutter und Sohn als Gründe und mauritischer Idylle die Schärfe – die skandalöse
dieses Scheiterns angedeutet. Auf der Handlungsebe- metaphorische Identifizierung mit Bernardins Sujets
ne ist es schließlich der zunächst hilfreiche Freund, der Kindfrau und der standesübergreifenden Liebe
der sein eigenes Interesse an Sophie entdeckt und die- entpuppt sich als metonymisch induzierte mémoire in-
se zur Frau nimmt. Da der spätere Justizrat zugleich volontaire.
als Hochzeitswerber fungiert und die abschlägige Eine ähnlich idiosynkratische Wendung erfahren
»Mitteilung« (461) als elliptischer Redebericht gestal- auch die beiden anderen Bücher im Text. Als der Arzt
tet ist, scheint am Horizont der Novelle zwar eine In- am Abend nach einem weiteren Zusammentreffen mit
trige auf, doch überwiegt der versöhnliche Ton der Sophie die erotischen Gedichte Gottfried August Bür-
Resignation, der die Macht der Verhältnisse als ge- gers, »des einzigen deutschen Dichters, der je in sei-
rechtfertigt anerkennt. nem Besitz gewesen war« (453), nicht finden kann, be-
Neben der leichten Ironisierung des Protagonisten gnügt er sich mit einem verstaubten Horaz-Band aus
durch die distanzierte, jedoch überwiegend empathi- seiner Schulzeit. »Lalagen amabo« (ebd.) stammelnd
sche Erzählinstanz tragen vor allem die auf Wieder- und Grog trinkend, »bis die Ode zu Ende und das Glas
holungen und Gewohnheiten zielende iterative Er- geleert war« (ebd.), sucht der gefühlsverwirrte Arzt
zählfrequenz sowie die ausgeprägte raumsemantische Zuflucht ausgerechnet bei jenen beiden Surrogaten,
Ordnung der Novelle zum statisch-resignativen, je- die ihn von Sophie entfernen; diese ekelt sich vor dem
dem emotionalen Aufruhr fremden Gesamteindruck »Dunst des Alkohols« (447) und dürfte als heitere, mit-
bei. Nicht die Zeit, sondern der Raum organisiert die unter geschwätzige Praktikerin (vgl. 447 f.) noch weni-
sozialen Beziehungen. Exemplarisch verdichtet sich ger an Literatur interessiert sein als der bürgerliche Le-
dieses Muster in der Anfangs- und Schlusssequenz, segewohnheiten imitierende Arzt. Nicht ohne Ironie

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156 III Werk – D Novellen

sieht sich die Literatur damit auf eine Stufe mit den ten bleibt jenes »Gleichgewicht seines Herzens« (ebd.)
Liebessurrogaten Alkohol und Tabak (»die Pfeife tut’s versagt, das dem Lesepublikum auf seine Kosten gebo-
nicht mehr allein«; 457) gestellt, die ihr, wie das ein- ten wird. Indem sie die durch Ironisierung abgefederte
same Ende in der Schankwirtschaft (vgl. 465) zeigen Herabsetzung des Protagonisten zu eben jenem
wird, zu guter Letzt auch noch vorgezogen werden. »fremdartigen Wesen« (ebd.), das der Doktor vergeb-
Pro- und analeptisch kommentieren die Lese- und die lich in Sophie hatte sehen wollen, als Bedingung ihres
Wirtshausszene damit jenen gewaltsamen Versuch versöhnlichen Gelingens lesbar macht, lässt die Novel-
narrativer Selbstüberschreitung, den der gebildete le die identifikatorische Sentimentalität sujetverwand-
Kleinbürger seiner Abweisung durch die unbedarfte ter Texte wie Immensee (1849) oder Späte Rosen (1860)
Patriziertochter folgen lässt: Das Liebesspiel zweier hinter sich und eröffnet einen Raum poetologisch re-
Schmetterlinge beobachtend, fabuliert der Doktor, flektierten Erzählens.
»ein Mannsbild höherer Gattung, so ein gewöhnlicher
Engel etwa, würde hinwieder für die kleine Sophie Literatur
nichts mehr empfinden, als ich für diesen Sommer- Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
vogel« (463) und »nicht ohne ein gewisses Grauen vor Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.
Hudde, Hinrich. Theodor Storm und Bernardin de Saint-
dem fremdartigen Wesen den ambrosischen Finger an Pierre. Zum Einfluß von »Paul et Virginie« auf »Drüben
ihre kalte Schulter legen« (463 f.). Der im ausstaffierten am Markt«, »Pole Poppenspäler« und »Psyche«. In: Arca-
Zimmer ebenso wie im phantasmatischen Narrativ dia 11 (1976), 178–184.
scheiternde Versuch einer Selbstüberschreitung mün- Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
det schließlich in ein intrikates chiastisches Verhältnis scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
Laage, Karl Ernst: »Drüben am Markt«. Unerfüllte Sehn-
von Wirklichkeit und Imagination: Während der Dok-
sucht. In: Ders. (Hg): Begegnungen mit Theodor Storm.
tor, der »kein Engel« (464) ist, sein tröstliches Imaginä- Heide 2015, 48–51.
res nicht als Wirkliches zu erleben vermag, wird er im Neumann, Christian: »Fallen Sie nicht, Mamsell!« Verhin-
Gegenzug zeit seines Lebens vom längst vergangenen, derte Ehen in Theodor Storms Heiligenstädter Novellen
aber nie vergehenden Bild der »kleinen Schultern, über »Drüben am Markt« und »Abseits«. In: Storm-Blätter 13
denen der Sommerwind mit dem leichten Flortuch (2007), 6–28.
Reiter, Christine: Gefährdete Kohärenz. Literarische Ver-
spielte« (ebd.) heimgesucht bleiben. Auf den Ruinen
arbeitung einer ambivalenten Wirklichkeitserfahrung in
unerfüllten Begehrens, so die reflexive Wendung der den Novellen Theodor Storms. St. Ingbert 2004.
Novelle, lassen sich dauerhafte Narrative »höherer Terence, John Rogers: Techniques of solipsism. A study of
Gattung« nur seitens der Erzählinstanz, nicht aber sei- Theodor Storm’s narrative fiction. Cambridge 1970.
tens der Figuren errichten. Dem erzählten Protagonis-
Christoph Steier
40 »Veronica« (1861) 157

40 »Veronica« (1861) bindung Veronicas versucht Storm in bemerkenswert


detaillierten Angaben zur katholischen Frömmig-
Die kurze Novelle entstand 1861 (Handschrift, SHLB keitspraxis (und zu derjenigen ihrer Umgebung)
Kiel) während Storms Zeit als Kreisrichter in Hei- glaubhaft zu machen. Nicht nur Beichtvorgang und
ligenstadt im Eichsfeld, also in einer katholischen En- katholische Rechtfertigungslehre, sondern auch An-
klave mit der ausgeprägten Bindung an kirchliche Ge- gelusgebet, Rosenkranz, Reliquienschrank und ande-
bräuche und Traditionen, um die es im Text geht, in re Details werden erwähnt. Vor allem aber wird das
thematischer und konzeptioneller Nähe zu Im Schloß Geschehen gerahmt durch die düstere Karfreitagpro-
und »mit unsäglicher Anstrengung« neben der Be- zession mit ihrer eindringlich-sinnlichen Vergegen-
rufsarbeit (Brief Storms an seine Eltern; LL 1, 1102). wärtigung der Passion Christi und den mit dem Früh-
Sie wurde im selben Jahr mit Späte Rosen und Drüben lingsanbruch korrelierten Ostertag als den Beginn ei-
am Markt in dem Band Drei Novellen bei Heinrich nes neuen Lebens. Im dramatischen Kontrast dieser
Schindler in Berlin veröffentlicht und 1868 unver- Szenerien wird Veronicas Weg aus einer von Angst
ändert in die Schriften aufgenommen. und Unfreiheit geprägten Bindung an die Kirche in
Das Geschehen umfasst die Karwoche zwischen die Freiheit einer diesseitig-lebensbejahenden Liebe
dem Vorabend des Palmsonntag und dem Ostersonn- inszeniert als eine betont säkularisierte Version des
tag. In drei jeweils auf eine prägnante Situation kon- Wegs vom Kreuz zur Auferstehung. In einer Maxime,
zentrierten Kapiteln schildert es die Lösung der Pro- die sich in Storms Notizen zu dieser Novelle und zu Im
tagonistin, deren Name »Veronica« auf die Heilige der Schloß in drei Formulierungs-Varianten findet, wird
nachbiblischen Passionslegende verweist, aus der Bin- dieser Weg geradezu als mutiger Übergang von angst-
dung an die bis dahin befolgten kirchlichen Regeln ih- voller religiöser Verblendung in »die Wahrheit« apo-
rer katholischen Herkunft, die sich in der Überwin- strophiert: »Die Furcht vor der Wahrheit ist tausend-
dung einer Ehekrise vollzieht: Weil sie, obwohl glück- mal größer als die Furcht vor Gott dem Herrn« (LL 1,
lich verheiratet, dem Liebeswerben eines gemein- 1106 f.). Diese Vereindeutigung hat Storm für die Ver-
samen Freundes nicht sogleich widersprochen hat, öffentlichung aber wieder gestrichen.
und obwohl es zu keinem wirklichen Ehebruch ge- Die Beschaffenheit der in der Notiz vorausgesetz-
kommen ist, fühlt sich Veronica gedrängt, der österli- ten »Wahrheit« allerdings changiert in der Novelle ei-
chen Beichtpflicht nachzukommen. Im Beichtstuhl gentümlich zwischen einem an Schopenhauers Wil-
aber erscheint ihr die plötzliche Scham, das Intime vor lensmetaphysik erinnernden Pessimismus und einem
den Ohren eines Fremden auszusprechen, als berech- vitalistischen Optimismus (wie er dann auch die ex-
tigtes sittliches Widerstreben. Als sie, statt dem Pries- pliziten weltanschaulichen Reflexionen in Im Schloß
ter zu beichten, die erotische Verwirrung allein ihrem bestimmt). Einerseits erscheint die Welt als ein Ort
Ehemann bekennt, findet sie bei ihm Trost und Halt. hoffnungsloser Todesverfallenheit; die Tröstungen
Zugleich aber ist ihr bewusst, dass sie mit der Verwei- der Religion müssen als Illusion erkannt und zuguns-
gerung der Beichte bei der letzten möglichen Gelegen- ten nüchterner Erkenntnis überwunden werden. An-
heit vor dem Ostertag ihren Bruch mit der Kirche voll- dererseits erscheint die Welt als Schauplatz eines sich
zogen hat. Bestärkt und gehalten wird sie in ihrer Ent- fortpflanzenden, glücklichen und hoffnungsvollen Le-
scheidung durch ihren Ehemann, einen dem Chris- bens, das in der erotischen Liebe zweier Menschen
tentum mittlerweile distanziert gegenüberstehenden kulminiert; die Religion wirkt demgegenüber als ent-
einstigen Protestanten. (Sein nur noch historischer mündigende lebens- und leibfeindliche Beschrän-
Blick auf das Christentum erscheint in Storms Ent- kung, die zugunsten freier Selbstentfaltung überwun-
würfen noch ausdrücklich als »die letzte Consequenz den werden muss.
des Protestantismus«; LL 1, 1106.) Gerade weil Vero- Das erste Kapitel, »In der Mühle«, konfrontiert Ve-
nica »die rettende Hand, von der sie seit der Jugend ronica mit dem Elend des sterbenden Müllers. Das ro-
geführt worden war, zurückgestoßen« hat (477), kann mantische Mühlen-Motiv ist hier verdüstert; »das ein-
sie nun im letzten Satz der Erzählung empfinden, »wie tönige Rauschen des Wassers, das über die Räder in
seine Arme immer fester sie umschlossen.« (479) Was die Tiefe stürzte« (LL 1, 469), vergegenwärtigt die al-
sie in der Kirche vergebens suchte, findet sie in der leszerstörende Gewalt des Todes wie der Ausblick in
aufgeklärten Ehe. die Mondnacht: »Das Leben in seiner nackten Dürf-
Eingebettet ist das einfache Geschehen in ein Netz tigkeit stand vor ihr, wie sie es nie gesehen; ein end-
symbolischer Verweise und Bezüge. Die Traditions- loser öder Weg, am Ende der Tod. Ihr war, als habe sie

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158 III Werk – D Novellen

bis jetzt in Träumen gelebt, und als wandle sie nun in und zwar nacheinander. Ermöglicht wird das durch
einer trostlosen Wirklichkeit, in der sie sich nicht zu- eine Umcodierung der erzählten Welt, die zunächst
rechtzufinden wisse« (471). Da in der liturgischen aus der Perspektive der Titelheldin postuliert und
Ordnung der erzählten Welt mit dieser Einsicht aber dann vom Text selbst übernommen wird. In dem Au-
die Karwoche beginnt, besteht zwischen dieser scho- genblick nämlich, in dem Veronica ihre Umkehr voll-
ckierenden Einsicht und der kirchlichen Festzeit mit zieht, findet sie sich nicht mehr in der Todeslandschaft
ihren Repräsentationen des Leidens Christi und der der Melancholie wieder, sondern in einer verwandel-
Verzweiflung der Jünger eine Konvergenz. Sinnfällig ten Welt, die ihren Bedürfnissen wunderbar ent-
verbindet die Mühlenszenerie beide Seiten: Über dem gegenkommt: »Aber es war ja Frühling draußen in der
Bett des sterbenden Müllers ist »ein hölzernes Kruzi- Welt! Als hätte sie es nicht gewußt; wie eine Botschaft
fix befestigt, von dem ein Rosenkranz herabhing« kam es an ihr Herz« (477).
(470). Das zweite Kapitel, »Palmsonntag«, zeigt die Wie die Beschaffenheit der äußeren Welt, so bleibt
Passion in der Prozession der »kolossalen Kirchenbil- auch die innere Verfassung der Protagonistin nach ih-
der: Christus am Ölberge, Christus von den Knechten rer Umkehr eigentümlich ambivalent. Die Bedrohung
verspottet, in der Mitte hoch über allen das ungeheure durch den Tod dauert fort, wie Veronica beim Rück-
Kruzifix, zuletzt das heilige Grab« (473). Am »cas- blick auf dem Kirchhof erkennt (der wenig später in
trum doloris«, dem Grab des geschundenen und ge- Storms Im Schloß die Eröffnungsszenerie abgeben
kreuzigten Christus, erklingt Posaunenschall »wie ein wird). Mit dem »Steinkreuz auf dem Grabe des Va-
Ruf zum Tage des Gerichts« (474). Wie aber wenig ters« tritt der Tod wieder ein ins Frühlingspanorama
später Storms Gedicht »Crucifixus« (1865) das blut- und mit ihm das Bild auch ihres eigenen Grabes: als
rünstige Kreuz mit der lebens- und lichtvollen Natur »jenes wüste Fleckchen Erde«, an dem die Selbstmör-
kontrastieren wird, so stellt nun das dritte Kapitel, »Im der und die Exkommunizierten begraben liegen:
Beichtstuhl«, dem Karfreitagsdunkel das Licht eines »Dort war auch ihre Stätte jetzt, denn die der österli-
säkularisierten österlichen Frühlingserwachens ge- chen Beichte war zu Ende« (478). Es ist dieser Gedan-
genüber. Eben nicht im Beichtstuhl bekennt Veronica ke, der sie zu ihrem letzten Entschluss ermutigt; eine
ihre Versuchungen, sondern stattdessen in der Umar- im Text nur behauptet, psychologisch aber nicht plau-
mung ihres Mannes; gerade so aber scheint sich für sie sibilisierte Wendung. So bleibt die Ambivalenz, die
die drüben in den kirchlichen Osterritualen gefeierte das eheliche Happy End so forciert auflösen sollte, am
Auferstehung lebensweltlich zu vollziehen. Ende unaufgelöst. Die ungleich komplexere Novelle
Diese Kontrastierung von jenseits- und diesseits- Im Schloß wird hier von neuem ansetzen.
orientierter Liebe erinnert an ein zweites Kruzifix-
Gedicht Storms, die Verse »An deines Kreuzes Stamm Literatur
o Jesu Christ«. Dessen vielzitierter Schlussvers »Wir Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor
müssen unser eigner Heiland sein« resümiert die Storm. Berlin 2010, bes. 75–90.
Detering, Heinrich: »Im Schloss«. Zweideutige Wirklichkei-
Ehe- und Liebesmetaphysik auch des Schlusses von ten. In: Christoph Deupmann (Hg.): Theodor Storm: No-
Veronica. vellen. Interpretationen. Stuttgart 2008, 33‒47.
So offenkundig beide Perspektiven einander wider-
sprechen, so entschieden vertritt der Text sie beide, Heinrich Detering
41 »Im Schloß« (1862) 159

41 »Im Schloß« (1862) ner Fähigkeiten: mit einer plastischen Detailgenau-


igkeit, die in ihrer Fülle doch integriert bleibt in einen
Im Schloß entstand während Storms Zeit als Kreisrich- klar gegliederten, dem Verklärungspostulat als der
ter in Heiligenstadt auf dem katholischen Eichsfeld Forderung nach exemplarischer Gestaltbildung ent-
(vgl. Boswell 1991; Jackson 2001, 115–124). Storm sprechenden Zusammenhang.
hatte die Erzählung schon seit 1853 geplant (vgl. sei- In einen zeitlich mehrfach gestaffelten, das Ge-
nen Brief an Fontane vom 28.10.1853, Storm–Fonta- schehen in wechselnden räumlichen, zeitlichen und
ne, 43–45), nach ungewöhnlich langwierigen Über- sozialen Perspektiven facettierenden Rahmen – der
arbeitungen – und nach dem Abschluss der Novelle offenbar erst in der letzten Arbeitsphase noch um das
Veronica, mit der sich die Konzeption passagenweise Einleitungskapitel erweitert wurde – ist eine Binnen-
überschneidet – aber erst 1861 ernsthaft in Angriff ge- erzählung eingelegt, in der die Protagonistin, die ver-
nommen. Storms Kladde und zwei Notizblätter sind einsamte Schlossherrin Anna, ihre Vorgeschichte nie-
in der SHLB in Kiel erhalten. Im Erstdruck in den derschreibt. Diese wird ihrerseits durch Binnen-
Ausgaben 10 bis 12 der Gartenlaube 1862 wurde der erzählungen unterbrochen (zur strukturellen Ähn-
zentrale Dialog über die Vaterschaftsfrage (s. u.) von lichkeit mit Storms Erinnerungsnovellen vgl. Küpper
deren Herausgeber Ernst Keil ohne Storms Einwil- 2005). Sie wird schließlich, ehe es zur überraschen-
ligung und zu dessen Empörung zensiert. Eine Buch- den Schlusswendung kommt, zwischen ihr und dem
ausgabe wurde von Duncker ebenso wie dann von Cousin Rudolph besprochen, dem sie die Blätter zu
Schindler wegen der vermeintlich unmoralischen lesen gegeben hat.
Tendenz der Novelle abgelehnt; erst bei E. C. Brunn in Aufgewachsen als ältere Schwester eines früh ge-
Münster konnte 1863 der nochmals erheblich über- storbenen Bruders unter dem Regime aristokratischer
arbeitete Band erscheinen (zur Entstehungsgeschichte Erziehung im Schloss, vorübergehend auch bei einer
vgl. Lohmeier, LL 1, 1108–1115; Jackson 2001, 129– Tante in der Stadt, verliebt sich die lebhafte und träu-
139). Die Aufnahme in die Schriften 1868 und eine er- merisch-phantasievolle Anna standeswidrig in den
neute Einzelausgabe bei Paetel 1884 brachten aberma- musikalischen Hauslehrer und späteren Universitäts-
lige Textänderungen mit sich: »Bei keiner seiner ande- dozenten Arnold. Als genauer Gegensatz ihrer ro-
ren Novellen hat Storm so häufig in den schon ge- mantischen Auffassungen von Liebe und Natur spielt
druckten Text eingegriffen« (Lohmeier, LL 1, 1115). der alte Oheim, der sich naturkundlichen Studien
Der unter so großen Schwierigkeiten entstandene widmet, die Rolle des skeptischen Räsonneurs. Liebe,
und publizierte Text fand lange Zeit wenig Aufmerk- so belehrt er Anna anhand biologischer Beobachtun-
samkeit, wurde von Storm selbst aber zu seinen wich- gen, sei in einer Welt des Lebenskampfes »nichts, als
tigsten und persönlichsten Arbeiten gezählt; manche die Angst des sterblichen Menschen vor dem Allein-
Passagen seien »so tief und bedeutend, wie ich nur je sein« (LL 1, 508; zu Varianten dieser Passage vgl. Dete-
etwas geschrieben« (Storm–Pietsch, 70). Sie gilt heute ring 2011, 264–266). In eine unglückliche, aber stan-
als ein Schlüsseltext seines mittleren Werks. Konfron- desgemäße Ehe gezwungen, wird Anna schwanger.
tiert einerseits mit der traditionsgebundenen Alltags- Doch das Kind des ungeliebten Mannes stirbt bereits
kultur seines katholischen Wohnorts und andererseits kurz nach der Geburt. Die Neigung zu Arnold, die öf-
mit der preußischen »Staatsideologie des Bündnisses fentlich ruchbar wird, führt zur Ehescheidung, ohne
von Thron und Altar« (Lohmeier, LL 1, 1118), ver- selbst zu einer dauerhaften Verbindung werden zu
band Storm hier zwei seiner zentralen Themen: die dürfen: »Öde, trostlose Tage folgten« (LL 1, 522). An-
Emanzipation von dieser Vorherrschaft und die Span- nas Niederlage kulminiert in dem verzweifelten Aus-
nung von Religionskritik und Kontingenzbewälti- ruf, mit dem sie Rudolphs Frage beantwortet, ob ihr
gung. Beide Themen waren schon in Veronica in klei- verstorbenes Kind die Frucht eines Ehebruchs aus Lie-
nerem Umfang bearbeitet worden, beide werden u. a. be gewesen sei: »leider nein!« (523). Es ist diese Provo-
in Aquis submersus (1878) wieder aufgenommen. kation, die Storm vergebens gegen den Gartenlaube-
Storms eigene Hochschätzung der Novelle hat auch Verleger verteidigt hat; sie findet sich erst in der Buch-
mit der vollendeten Realisierung der Postulate des ausgabe. Bei einem späten Versuch, die Beziehung
Poetischen Realismus zu tun; hier sei es gelungen, »ei- zum Ehemann brieflich wieder aufzunehmen, erfährt
nen wirklichen Lebensgehalt zum poetischen Aus- Anna von seinem Tode; so kann endlich Arnold zu ihr
druck zu bringen« (an Ernst Keil, 14.12.1861, zit. nach ins Schloss zurückkehren, zusammen mit dem
LL 1, 1111). Wirklich erzählt Storm auf der Höhe sei- Oheim. Dieser übernimmt das Amt des Schlossver-

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160 III Werk – D Novellen

walters; Anna und Arnold leben fortan zusammen. wissenschaften, so liebt Anna von klein auf die Mär-
Ihre Liebe erscheint als eine symbolische Befreiung chenlektüre; wie er die Liebe als Reproduktionsnot-
auch der namenlosen Ahnen auf den Gemälden im al- wendigkeit erklärt, so findet sie in ihr eine Lebens-
ten Rittersaal; in den letzten Sätzen lässt Storm aus ei- erfüllung; wie er ihren Gesang von Nicolais
nem Gemälde den »Prügeljungen« eines vergangenen Kirchenlied Wie schön leuchtet der Morgenstern mit
Jahrhunderts hinunterblicken auf die befreiten »Kin- darwinistischen Belehrungen als törichte Schwärme-
der einer andern Zeit« (528). rei unterbricht, so erinnert sie sich noch als Erwachse-
Mögliche Auswege hat Anna bis dahin nicht nur in ne an ihr kindliches Gottvertrauen, das ihr jetzt, im
der (Bildungs-)Bürgerlichkeit Arnolds wahrgenom- Sinne der Frühromantik, als eine mit dem Kindsein
men, sondern auch in der Lebensweise der Landarbei- gegebene Gottesnähe erscheint: »der ›liebe Gott‹, wie
ter (ein von fern an Tolstoi erinnernder Zug): »Um die ihn die Kinder haben, war überall bei mir« (492). Was
Mittagszeit sah ich die Leute von der Feldarbeit zu- für den Oheim »all’ das dumme Zeug« (494) ist, be-
rückkehren. Mir war, als müßte der Ausdruck der deutet für sie, durchaus zustimmend, »meine Mär-
Trostlosigkeit auf allen Gesichtern zu lesen sein; aber chenwelt«. Beide durchgehend kontrastierten, in zen-
sie schlenderten wie gewöhnlich gleichgültig und la- tralen Passagen explizit diskutierten Deutungsper-
chend über den Hof« (509). Annas und Arnolds end- spektiven streiten um das richtige Verständnis von
liche Liebes- und Lebensgemeinschaft kommt der an- ›Natur‹ und ›Liebe‹ angesichts der Allgegenwart des
gestrebten ›Natürlichkeit‹ nahe: Sie überwindet die Todes. Diese hat Anna zum ersten Mal in der baro-
aristokratischen Standesschranken; sie verzichtet auf cken Allegorie eines Marmorreliefs im Rittersaal be-
die amtlichen Ordnungen der bürgerlichen Ehe, und griffen, das den »Krieg des Todes mit dem mensch-
mit der Einbeziehung des alten Oheim verbindet sie lichen Geschlechte« (492) zeigt.
amor und caritas. Als Ziel der Novelle erscheint, programmatischer
Fast durchgängig, unterbrochen nur durch kurze als im bisherigen Werk Storms, eine aus der Kritik
Ausblicke auf die ferne Stadt, ist die erzählte Welt re- sowohl des Christentums als auch einer materialisti-
duziert auf zwei antagonistisch semantisierte Schau- schen Naturwissenschaft abgeleitete Integration ra-
plätze; beide sind im Titel angedeutet. Das »steinerne« tionaler und irrationaler Momente. Die »neue be-
Schloss als Todesort (sinnfällig beginnt die Binnen- scheidenere Gottesverehrung« (512), in die Arnold
erzählung mit Annas Blick auf den Friedhof) ist erfüllt Anna mit deistischen Formulierungen einzuführen
von den genealogischen Gespenstern einer lebens- sucht, trägt Feuerbachsche (dazu Baßler 1987), aber
feindlichen Vergangenheit: Unter den Gemälden des mehr noch monistische Züge (im Sinne der von
Rittersaals als dem semantischen Extrempunkt sieht Ernst Haeckel seit 1868 popularisierten Auffassun-
Anna sich (wie dann die Heldin in Aquis submersus) gen). Die »Naturforscher« selbst erscheinen nun als
bedrängt von den Bildern toter Ahnen; auch ihre erste die wahren Frommen; auf sie bezieht Arnold das Bi-
Liebe gilt dem Bildnis eines Knaben. Der Gegenraum belwort »So ihr mich von ganzem Herzen suchet, so
der lebensvollen Natur, die zu Annas Zufluchtsort will ich mich finden lassen!« (LL 1, 510; Jer 29,13;
wird, kulminiert im Extrempunkt des grünen »Laub- vgl. LL 1, 1130). Liebend im romantischen wie im
schlosses« (494) eines Baumwipfels. biologisch-reproduktiven Sinne werde der Mensch
Strukturiert ist der Text aber noch durch eine zwei- zum Teil eines Lebenszusammenhangs »ohne ein an-
te Opposition, die dieser semantischen Raumordnung deres Wunder, als das der ungeheuern Weltschöp-
nicht einfach homolog ist, sondern quer zu ihr steht. fung«. Die Sterblichkeit des Einzelnen ist aufgehoben
Mit ihr tritt erst im Laufe der Erzählung als zweites, im Gang des Ganzen: »Ich sah«, bekennt Anna, »den
die sozialkritischen Aspekte umgreifendes Thema die Baum des Menschengeschlechtes heraufsteigen,
Ambivalenz unvereinbarer Weltsichten hervor, die Trieb um Trieb« (510).
sich schließlich als Reflexion über Leistung und Gren- Das unverhofft glückliche Ende erfüllt, indem es
zen der aufgeklärten Vernunft lesen lässt. Der wissen- diese aufgeklärte Liebesreligion verwirklicht, zugleich
schaftlichen und betont pessimistischen Weltsicht des die aufgeklärten Postulate des Oheims und Annas ro-
Oheims steht die (im Urteil des Oheims: »phantasti- mantisch-märchenhafte Träume. Mit der Überschrei-
sche«) Weltsicht Annas und Arnolds gegenüber, die, tung der semantischen Grenze von Feudalordnung
mit ihrer Bindung an Kunst, »Märchen« und einen und Naturzustand in der Verwirklichung der ›natürli-
kindlich-frommen Glauben, romantischen Vorstel- chen‹ Liebe inmitten des Schlosses ist auch die Dicho-
lungen entspricht. Wie der Oheim die exakten Natur- tomie der Schauplätze aufgehoben.
41 »Im Schloß« (1862) 161

Dennoch bleibt überraschenderweise eine Span- aufgeklärt-erwachsener Vernunft und romantisch-


nung über das Ende hinaus wirksam, die Storm als be- kindlichem Märchen in einem paradoxen Schauplatz:
wussten Widerspruch kalkuliert zu haben scheint. Er ist nicht von dieser Welt (»denn dort hinunter liegt
Fast genau in der Mitte der Novelle steht eine Binnen- kein Wald«) und doch ganz von dieser Welt (»da hi-
erzählung Arnolds, die sich, gerade weil sie für den nab«). Mit der proklamierten Synthese ist er so wenig
Gang der Handlung offenkundig funktionslos bleibt in Übereinstimmung zu bringen wie mit derjenigen
(Lohmeier, LL 1, 1116), als Angelpunkt im Streit der der Schauplätze. Vielmehr wird hier der ontologische
Weltsichten verstehen lässt (Detering 2008). In dieser Status der erzählten Welt selbst im Zeichen eines uto-
Szene wird die Ambivalenz von ›erwachsener‹ Ver- pischen Dritten in eine Ambivalenz überführt, die un-
nunft und ›kindlicher‹ Unvernunft in einer offen blei- aufgelöst bleibt.
benden Frage fixiert. Die Passage entstammt fast
wörtlich einem Brief Storms an Mörike vom Novem- Literatur
ber 1854 (Storm‒Mörike, 52 f.), wo sie sich auf Storms Baßler, Moritz: »Die ins Haus heimgeholte Transzendenz«
Gedicht »Waldweg« bezieht. Storms briefliche Bemer- – Theodor Storms Liebesauffassung vor dem Hintergrund
der Philosophie Ludwig Feuerbachs. In: STSG 36 (1987),
kung an Pietsch, dass »mein Ich diesmal mehr als 43‒60.
sonst in meiner Arbeit ausgeprägt ist« (Storm–Pietsch, Boswell, Patricia M.: Theodor Storms Heiligenstädter Novel-
78), lässt sich auch auf diese autobiographisch-exis- le »Im Schloß«. In: STSG 40 (1991), 17‒32.
tenzielle Frage beziehen. Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor
Bei einem Landausflug berichtet Arnold von einem Storm. Berlin 2010, bes. 127–169.
Detering, Heinrich: »Im Schloss«. Zweideutige Wirklichkei-
Erlebnis, das ihm als Zwölfjährigem widerfahren ist:
ten. In: Christoph Deupmann (Hg.): Theodor Storm: No-
Bei einer Wanderung »da hinab in die Wiesen« sei er vellen. Interpretationen. Stuttgart 2008, 33‒47.
in einen Wald und auf »eine kleine sonnige Lichtung« Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
geraten. »Ich blieb unwillkürlich stehen; mich über- Ende der Romantik. Heide 2011.
kam ein Gefühl unendlicher Einsamkeit. Es war so Fasold, Regina: »...Gegangen zum entlegenen Waldes-
seltsam still hier; ein paar Schmetterlinge gaukelten grund...« Naturwahrnehmungen Theodor Storms aus lite-
raturpsychologischer Sicht. In: Storm-Blätter 13 (2007),
lautlos über einer Blume, der Sonnenschein lag schim-
74–83.
mernd auf den Blättern, und ein schwerer, würziger Hettche, Walter: Das gefährdete Idyll. Räume des Realismus
Duft schien wie eingefangen in dem abgeschiedenen bei Stifter und Storm. In: Storm-Blätter 12 (2006), 6‒22.
Raume. In der Mitte desselben auf einem bemoosten Jackson, David A.: Theodor Storm’s Democratic Humanita-
Baumstumpf lag eine glänzend grüne Eidechse und rianism. The Novella »Im Schloß« in Context. In: Oxford
sah mich wie verzaubert mit ihren goldenen Augen German Studies 17 (1988), 10‒50.
Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
an. – – Ich weiß dies alles genau; ich weiß bestimmt, scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
daß wir vom Bienenhof hier in grader Richtung über Küpper, Achim: »Das kommt von all’ dem Bücherlesen!«
die Wiesen fortgegangen sind. Und doch lacht der Intertextualität, Erzählproblematik und alternative Lese-
Schulze mich aus, wenn ich ihn jetzt daran erinnere; pläne in Theodor Storms Novelle »Im Schloß«. In: STSG
denn dort hinunter liegt kein Wald und hat auch seit 54 (2005), 93–111.
Laage, Karl Ernst: Der kritische Storm. Heide 1989.
Menschengedenken keiner mehr gelegen. – Wo aber
Lee, No-Eun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
bin ich damals denn gewesen?« (LL 1, 506 f.; zur psy- Storms frühen Novellen (1848–1859). Berlin 2005.
choanalytischen Lesbarkeit der Szene s. Fasold 2007). Stockinger, Claudia: Storms Verständnis des Genres Novelle.
Diese Frage bleibt offen. In Arnolds Bericht mani- Novellenpoetik als Medienpoetik. S. Kap. D.27.
festiert sich die textbestimmende Dichotomie von
Heinrich Detering
162 III Werk – D Novellen

42 »Auf der Universität« (1863) über die aufgefundene Tote: »Was der gefehlt haben
mag. [...] Es muß doch eine von den vornehmen Fräu-
Die im Entstehungsjahr 1862 von mehreren Zeit- leins gewesen sein. – Und in vollem Staat ist sie ins
schriftenverlagen abgelehnte und deshalb 1863 so- Wasser gegangen« (593). Dieser Frage nach den mög-
gleich als Buchausgabe erschienene Novelle Auf der lichen Tatmotiven liegt wie selbstverständlich die Vo-
Universität beginnt mit drei Episoden aus der Schüler- raussetzung zugrunde, es habe sich die junge Frau aus
zeit des fiktiven Ich-Erzählers: In variierenden Hand- Verzweiflung über irgendeinen Mangel ertränkt.
lungskontexten (Tanzschule, Eislauf, Abendspazier- Allerdings ist die Textstelle keineswegs eindeutig.
gang im Park) unternimmt der aus gutbürgerlichem Neben der auffällig angezeigten Unzuverlässigkeit des
Hause stammende Philipp immer neue, merkwürdig zitierten Passanten – erkennbar schon an dessen rauer
halbherzige und letztlich erfolglose Anläufe, in eine Stimme, vor allem aber an seiner falschen Einschät-
erotische Beziehung mit der Schneiderstochter Leno- zung der Toten als vornehm – verdient die Tatsache
re Beauregard einzutreten. Die anschließenden vier Beachtung, dass es der Autor vermieden hat, die Figur
weiteren Kapitel der Erzählung beinhalten Erlebnisse ausdrücklich von einem Selbstmord sprechen zu las-
aus Philipps Studienzeit an der Ostseeküste: Der an- sen. Zwar ist die Wendung ›ins Wasser gehen‹ ein
gehende Jurist begegnet seiner inzwischen als Näherin durchaus geläufiger Euphemismus für Selbsterträn-
arbeitenden »Knabenliebe« (LL 1, 564) zufällig wie- kungen. Da aber nicht ein jeder Gang ins Wasser auf
der, verharrt nun allerdings in der Rolle eines weit- Selbsttötung abzielt, lässt sich die Formulierung zu-
gehend passiven Beobachters. Lore steht zu dieser Zeit nächst auch einfach im wörtlichen Sinne verstehen.
in dem Ruf, zur Geliebten eines Korpsstudenten ge- Als Tatsache vorgegeben ist dann lediglich ein Raum-
worden zu sein, der ob seines Reichtums und seiner wechsel, dem jedoch symbolische Bedeutung zu-
Rücksichtslosigkeit den Spitznamen »Raugraf« trägt. kommt, sobald man die Raumstrukturen der erzähl-
Während einer Tanzlustbarkeit, auf der Philipp die ten Welt als ein semiotisches System »für den Aus-
junge Frau letztmals trifft, wirkt sie an der Seite jenes druck anderer, nichträumlicher Relationen« (Lotman
berüchtigten Kommilitonen unglücklich und sogar 1972, 330) zu entziffern beginnt. Besonders auf-
hasserfüllt, kann sich aber, wie sie dem Jugendfreund schlussreich ist diesbezüglich das Jugend-Kapitel »Auf
in einem heimlichen Gespräch zu verstehen gibt, dem Mühlenteich«, das die Schilderung einer auf
gleichwohl nicht vorstellen, den Heiratsantrag eines »jungfräulichem Eise« (LL 1, 546) lust- und gefahrvoll
ihr ebenfalls schon seit Jugendtagen vertrauten Hand- verlaufenden Schlittenpartie enthält. Deutlich ange-
werkers anzunehmen. Beim Verlassen des Balles sieht zeigt wird dort eine »sexuelle Gleichnishaftigkeit von
Philipp die vormals tanzlustige Lore einsam im Freien See und Wasser« (Pastor 1988, 89), mit der im weite-
stehen, ihren Blick auf das nahe gelegene Meer rich- ren Textverlauf beständig zu rechnen ist. Wie der
tend. Als er dann am nächsten Tag einen Spaziergang Mühlenteich fungiert in der Novelle auch das Meer als
zum Strand unternimmt, liegt sie dort, von Fischern ein semantisches Feld für Erotik, Sexualität und Weib-
umringt, tot im Ufersand. Was in der Zwischenzeit ge- lichkeit, zu dem es die Protagonistin mit zunehmen-
schehen ist, entzieht sich der Kenntnis des Erzählers. der Reife immer stärker hinzieht. Bereits als dreizehn-
Zwischen den beiden letzten Kapiteln der Novelle jähriges Mädchen steckt sie sich in freudiger Reaktion
klafft eine Leerstelle im dargestellten Geschehen, so- auf ihre Einladung zur Tanzschule »rote Korallen-
dass sich der Leser die Umstände von Lenores Tod aus knöpfchen« ans Ohr (LL 1, 532). Dem am Schluss des
einer Reihe von Andeutungen und Indizien selbst er- Textes tot aufgefundenen »Frauenzimmer« hängen
schließen muss. »Seetang und Muscheln« in den »triefenden Haaren«
In den meisten Kommentaren zu der Novelle wird (593), womit die weibliche Hauptfigur – deren Ruf-
angenommen, dass die Protagonistin Selbstmord be- name Lore nicht von ungefähr an die naturdämo-
gangen habe, nachdem sie vom Raugrafen sexuell ver- nische Lore Lay erinnert – vollends das Aussehen ei-
führt und somit um die Möglichkeit einer bürger- ner Wasserfrau angenommen hat. Ihren nächtlichen
lichen Existenz gebracht worden sei. Einer solchen Gang ins Wasser kann man von daher als Sinnbild für
Deutung leistet der Text mit diversen Motivanleihen einen Entwicklungsschritt deuten, mit dem sich »la-
an das Bürgerliche Trauerspiel Vorschub. Noch wich- tente[] Weiblichkeit [...] in einen manifesten Frauen-
tiger für die Leserlenkung ist jedoch eine im Schluss- status« verwandelt (Börner 2009, 320). »Seetang und
kapitel platzierte Figurenaussage. Unter den Schaulus- Muscheln« als Lores neuer Schmuck ersetzen eine
tigen am Strand wundert sich eine »rauhe Stimme« weiße Rose, die, noch am Vorabend getragen, von se-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_42, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
42 »Auf der Universität« (1863) 163

xueller Unschuld zeugte, während der Nacht dann dauerhaft erblasste Lenore einsam daneben. Der »wie
aber – wie die Protagonistin selbst – »ins Meer hinaus- ermüdet« (585) wirkende Raugraf hat sie ein einziges
geschwommen sein [mochte]« (LL 1, 593). Mal zum Tanzen geholt, beschränkt sich nun aller-
Ursache für den Tod der Heldin wäre demnach dings darauf, andere Tänzer von ihr fernzuhalten. Wie
nicht ihr Gang ins Wasser, sondern, gerade im Gegen- die vormals stets tanzlustige Protagonistin diese Situa-
teil, eine erzwungene Rückgängigmachung dieses sym- tion erlebt, verdeutlicht anschließend ein auch aus Fi-
bolischen Raumwechsels: Entgegen der Tatsache, dass gurensicht sinnbildhaftes Geschehen: In Gegenwart
die nächtliche Grenzüberschreitung zu Lores ›Deflora- ihres Gefährten schenkt sich Lore Champagner ein,
tion‹ geführt hat, findet sich ihr Leichnam am nächsten wobei sie die berauschende Flüssigkeit »mit einem
Morgen auf die semantische Schwelle zur Weiblichkeit Ausdruck von Trostlosigkeit« betrachtet, »als sehe sie
– an den Strand als Grenze – gleichsam zurückversetzt, ihr Leben aus der Flasche rinnen« (587). Scheinbar
um abschließend unter einem Grabstein verschwinden achtlos lässt sie diesen Lebensstrom vom überlaufen-
zu können, dessen weiße Farbe die Heldin nachträglich den Glas auf Tisch und Erde fließen, was zwei umste-
wieder zur »Virginie« (573) stilisiert. hende Studenten, die in dem Vorgang »Überfluss«
Dass es der Text durchaus nahelegt, das Ableben und »Stoffvergeudung« erkennen (587), sogleich zu
der weiblichen Hauptfigur auf Fremdeinwirkung zu- Annäherungsversuchen ermutigt. Als dann aber der
rückführen, zeigt sich an einer weiteren intertextuel- Raugraf mit der Behauptung interveniert, es läge in
len Referenz. Außer an die Loreley nämlich, welche als Lores »Natur«, ihre persönlichen Ressourcen unge-
Sirene, Hexe und Rheintochter die sich ihr nähernden nutzt verrinnen zu lassen, widerlegt dies die so Be-
Männer in den Tod lockt, erinnert der Name von schriebene, indem sie »die Flasche auf den Tische
Storms Protagonistin auch an die Sagengestalt Lenore, [setzt]«, dem Sprecher einen »Blick voll unergründli-
die, weil sie den kriegsbedingen Verlust ihres Verlob- chen Hasses zu[wirft]«, »auf[steht]« und in Richtung
ten nicht hinnehmen will, durch fremde Gewalt selber Tanzsaal entschwindet (587 f.). »Mit Heftigkeit ihren
ums Leben kommt. Der verstorbene Geliebte er- Arm« packend, versucht der Raugraf sie zunächst
scheint ihr als Wiedergänger, kündigt an, sie auf sei- noch zurückzuhalten, hält ihrem Blick aber nicht
nem Pferd zum ersehnten Brautbett bringen zu wol- stand und bleibt voll »verbissen Jähzorns« allein zu-
len, reitet dann allerdings auf den Friedhof mit ihr rück (588). In jener Flasche, deren Inhalt das Leben
und nimmt sie zu sich ins Grab. An diese vor allem aus der Heldin symbolisiert, befindet sich da noch ein
Gottfried August Bürgers Lenore-Ballade bekannte Rest. Und genau den gießt, in einem Lenores nahen
Geschichte knüpft in Storms Novelle die Szene an, in Tod ankündigenden Akt, der verlassene Liebhaber
der die Heldin erstmalig Besuch vom Raugrafen er- »langsam« aus (588).
hält. Von dem »blassen, vornehmen Studenten« auf Ich-Erzähler Philipp erlebt diesen letzten Abend
dessen »Goldfuchs« gehoben (571), beginnt auch Le- seiner Jugendbekannten als ein anteilnehmender Be-
nore Beauregard einen symbolträchtigen Pferderitt, obachter. Doch ist in der Forschung wiederholt unter-
der sie einer Erfüllung ihrer sozialen und sinnlichen sucht worden, inwiefern eine gewisse Schuld am Un-
Wünsche näher zu bringen scheint, stattdessen aber glück der Protagonistin, wenngleich er »eine solche
damit endet, dass die Reiterin »blaß wie der Tod« wird Mithaftung« im Nachhinein »wegerzählen möchte«
(573). Denkt man die offenkundige Analogie zu Bür- (Pastor 1988, 86), auch ihn persönlich trifft.
gers Ballade konsequent weiter, so ist dem anämisch- Interpreten, die Lores Unglück in schichtenbezoge-
«bleichen« (585) Raugrafen die Rolle jenes Schein- ner Diskriminierung begründet sehen, gehen davon
Bräutigams zuzuordnen, der die nach Glück sich seh- aus, dass Philipps jugendzeitliches Interesse an der
nende Lenore aus dem Leben befördert (vgl. Pastor schönen Kleinbürgerstochter in dieser einen »Traum
1988, 94–96; Stein 2006, 44–50). von Glück in Gang gesetzt« habe (Pastor 1988, 88), der
Bestärkt wird eine solche Rollenerwartung, unmit- sie fortan nach einem ihr gesellschaftlich vorenthalte-
telbar vor dem tatsächlichen Tod der Heldin, durch nen Leben streben lasse. Wie später der Raugraf habe
die bereits erwähnte Studentenball-Szene: Während bereits der Arztsohn Philipp eine dauerhafte Verbin-
die übrigen Handwerks-«Mädchen« (LL 1, 584), sich dung mit Lore nie in Betracht gezogen, sodass deren
von den »vornehmsten Herren Studenten« (578) die von ihm veranlasste Einladung zu den Tanzstunden
Möglichkeit »sorglosen Lebensgenusses« erhoffend nicht mehr gewesen sei als ein »leeres Versprechen«
(584), bei »ungestüm« ausgeführten Tänzen sämtlich (ebd., 86). Zur Erklärung von derlei Unaufrichtigkeit
»zu Fall gebracht« werden (586), sitzt die inzwischen verweisen solche sozialkritischen Deutungen in erster
164 III Werk – D Novellen

Linie auf schichtenspezifisches Distinktionsstreben. trolliert (vgl. Stein 2006, 45–47) und ihr dann schließ-
Eher am Rande wird erwähnt, dass etwa die Eislauf- lich, nachdem seine Augen-Macht während des Stu-
Szene auch auf sexuelle »Hemmungen und Verdrän- dentenballs versagt hat, jähzornig nach dem (im
gungen« hindeute (Jackson 2001, 143). Champagner symbolisierten) Leben trachtet. Aller-
Stärker psychologisch ausgerichtete Textanalysen dings gerät in der Jugendszene auf dem Mühlenteich
(Nathanielsz 2005, Stein 2006, Börner 2009) kehren – in der die von ihm über das Eis geschobene Lore sei-
diese Akzentuierung um, indem sie den Standeskon- nen »anstrengenden Damendienst« (LL 1, 543) nicht
flikt als eine camouflierende Deckschicht auffassen, zu würdigen weiß – auch Philipp schon derart in
hinter der die Novelle eine Beziehungsproblematik »Wut« (547), dass bereits er dem Mädchen, sinnbild-
ganz anderer Art entfaltet. lich verbrämt, den Tod androht (»ich fahre dich in die
Ein wichtiges Indiz dafür ist die Tatsache, dass mit Nacht hinaus, [...] mir gleich, ob[] [das Eis] hält oder
dem Tod der Heldin ein von Anfang an gehegter nicht«; 547). Somit scheint es in der Tat angebracht zu
Wunsch in Erfüllung geht. Gleich nämlich während sein, den mit Pferd und Blässe zum Todesdämon stili-
des ersten Kapitels stellt sich Philipp in einer »visionä- sierten Raugrafen und das erzählte Ich Philipp – zu-
ren Träumerei« Lores tanzende »Füßchen« vor, wie sie mal in dessen Namen das Pferdemotiv vorausdeutend
im Wirbel der Schritte »da [...] und wieder fort« sind anklingt – als eine »Aufspaltung des Ich-Erzählers in
und ihn auf diese Weise »unaufhörlich [necken]« (LL verschiedene Personen anzusehen« (Röbling 1983,
1, 531). Schon damals wünscht sich das erzählte Ich 113).
ein Innehalten der unkontrollierbaren Bewegung, Auf der Universität zählt unbestritten zu Storms ge-
muss auf solchen Stillstand aber solange warten, bis lungensten Werken der Heiligenstädter Zeit. »Mag der
die passionierte Tänzerin tot am Strand liegt und ihre Novelle auch manches von der sozialkritischen Schub-
»kleinen tanzenden Füße [...] jetzt regungslos unter kraft anderer realistischer Literatur dieser Jahre [...]
dem Kleide hervor[ragen]« (593). abgehen«, ist sie gleichwohl »ein kleines [...] Meister-
Im Sinne der psychoanalytischen Fetischismus- werk« (Pastor 1988, 96), das sich durch komplexe Er-
Theorie fungieren die von Philipp (und auch dem zählverfahren und ein hohes Maß an Mehrdeutigkeit
Raugrafen) fetischisierten Schuhe und Füße als ein auszeichnet, vor allem aber etwas darüber mitzuteilen
Mittel zur Verleugnung bzw. Abwertung der genitalen vermag, wie aus Ängsten Gewalt entsteht.
Sexualität (vgl. Röbling 1983, 116–118; Stein 2006,
64–67). Deren tendenzielle Nicht-Anerkennung ist Literatur
symptomatisch für tiefliegende Ängste und kann als Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
wesentlicher Grund dafür gelten, warum Stormsche Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.
Jackson, David: Theodor Storm. Dichter und demokratischer
Jungen- und Männer-Figuren von »kindhaften Mäd-
Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
chen« (Röbling 1983, 103) fasziniert sind, auf weibli- Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München
che Sexualität jedoch, sie mit Überforderung, drohen- 1972.
dem Objektverlust und Untergang assoziierend, aus- Nathanielsz, Annette: Tod, Weiblichkeit und Hysterie in
weichend oder repressiv reagieren. »Auf der Universität«. Theodor Storms Novelle als nord-
Gerade Letzteres wird in Auf der Universität mehr- deutsches Sittenbild aus der Provinz. In: STSG 54 (2005),
77–91.
fach angedeutet. Je weiter sich Lenores »liebliche Kin- Pastor, Eckart: Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen
desgestalt« (LL 1, 584) allmählich zur »voll aus- Theodor Storms. Frankfurt a. M. 1988.
gewachsenen Mädchengestalt« (585) bzw. »vollsten Roebling, Irmgard: Liebe und Variationen. Zu einer biogra-
Jungfräulichkeit« (565) entwickelt, desto gewaltsamer phischen Konstante in Storms Prosawerk. In: Amsterda-
wird ihrem in Bewegungslust sich manifestierenden mer Beiträge 17 (1983), 99–130.
Stein, Malte: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologi-
Begehren Einhalt geboten. Diesen repressiven Part
sche Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt
übernimmt vor allem der Raugraf, insofern er die Pro- im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.
tagonistin zunächst mit hypnotischen Blicken kon-
Malte Stein
43 »Abseits« (1863) 165

43 »Abseits« (1863) ren mühseliger Arbeit tragen wird« (1180), hat sich
weitgehend erfüllt – mit seinem bekannten Gedicht
Storms zweite Auftragsarbeit für die renommierte von 1847 teilt Abseits Schauplatz und Titel, nicht aber
Leipziger Illustrirte Zeitung erschien unter dem Titel das ästhetische Gelingen. Anders als in der ebenfalls
Abseits. Eine Weihnachtsidylle von Theodor Storm. Il- in Heiligenstadt verfassten Vorjahresarbeit Unter dem
lustrirt von Otto Speckter (LL 1, 619–648) in der Tannenbaum (1862), deren Heterogenität und lose
Weihnachtsausgabe vom 19.12.1863 und wurde 1865 motivische Verknüpfung als poetologisch motiviert
gemeinsam mit der Vorjahresarbeit Unter dem Tan- gelten können, erfüllt das ebenfalls im Zeichen von
nenbaum in der Separatausgabe Zwei Weihnachtsidyl- Einsamkeit und Vertreibung stehende Weihnachtsfest
len. Illustriert von Otto Speckter und Ludwig Pietsch in Abseits trotz deutlicher Bemühungen seine Klam-
mit geringfügigen Änderungen wiederveröffentlicht merfunktion nicht. So nutzt Storm zwar das populäre
(vgl. 1179). Medium der illustrierten Weihnachtserzählung er-
Die Rahmenerzählung zeichnet das Bild einer klei- neut, um auf die ungeklärte politische Situation im
nen Gruppe »Kolonisten« (619), die vor den Toren ei- Herzogtum Schleswig hinzuweisen, doch fällt der
ner in die »Gewalt des fremden Nachbarvolkes« (618) Versuch einer Verknüpfung von privater und öffent-
gefallenen Küstenstadt in der Heide leben. Der Besit- licher Geschichte dieses Mal zulasten der Novelle aus.
zer, ein noch in der Stadt ansässiger Senator, nutzt das Dass Storm das Weihnachtsgeschehen entgegen sei-
Heidegut als Rückzugsort, verfolgt mittelfristig aber ner Gewohnheit kaum schildert und auch die Heide
auch Pläne zur Gewinnung von Weideland. Im Mittel- nicht zur Idylle verklärt, trägt zum disparaten Ge-
punkt der Novelle steht Meta Hansen, »ein altes In- samteindruck bei, ist jedoch lediglich als Nebeneffekt
ventarienstück der Familie« (620) des Senators, die ei- der raumzeitlich und figural zu weit ausgreifenden
nem Dorflehrer an einem einsamen Weihnachtsnach- Konstruktion zu verstehen. Neben der unübersicht-
mittag ihre Entsagungsgeschichte erzählt. Nachdem lichen Fülle von teils mit komplexen Vorgeschichten
sie jahrelang mit Ehrenfried, einem Gehilfen des Se- ausgestatteten Figuren wie Senator, Lehrer, Neffe und
nators, im Verborgenen für den Erwerb eines eigenen Bruder trägt vor allem die widersprüchliche Raumse-
kleinen Ladens gespart hatte, sahen sich die Geschäfte mantik dazu bei, dass der Novelle weder eine ge-
ihres im Ausland tätigen Bruders nach dessen hei- schlossene Handlung noch eine einheitliche Stim-
mischem Freischärler-Einsatz gegen die dänischen mung eignet. Exemplarisch zeigt sich dies am Heide-
Truppen plötzlich vom Bankrott bedroht und bedurf- hof, der zugleich als aufgezwungener Gegenort zur
ten Metas Ersparten zu ihrer Rettung. Nach einigem »unheimlich gewordenen Heimatstadt« (620) und als
Ringen entschied sich Meta zu Ehrenfrieds Entsetzen geliebte »heimatliche Erde« (646) figurieren soll. Auf
für ihren Bruder und besiegelte damit das Ende der der Grundlage dieser denkbar allgemeinen Metony-
angestrebten Beziehung mit ihrem Standesgenossen. mie lässt sich das ohnehin mit Spuren des Unheimli-
Wie der Lehrer nun erfährt, hatte die Grabinschrift chen und Abergläubischen (vgl. 640) belehnte Exil
seines im Kampf gegen die Dänen gefallenen Sohnes zwar zur revolutionären Keimzelle künftiger, der
(»Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein »Herrlichkeit der deutschen Nation« (646) teilhaftiger
Leben lässet für seine Freunde«; 632) den endgültigen Generationen umcodieren, doch sieht sich diese
Ausschlag für Metas Verzicht auf die Lebens- und Ar- schwach motivierte Lösung sowohl vom sozialen Ab-
beitsgemeinschaft mit Ehrenfried gegeben. Die Wie- stieg des Kaufmannssohns zum Heidebauern als auch
deraufnahme der Rahmenerzählung führt nun zur von der genealogisch wenig zukunftsträchtigen Le-
späten Restitution: Ein Fremder dringt in Metas weih- bensgemeinschaft von Tante und Neffe sogleich wie-
nachtliche Einsamkeit, entpuppt sich als der lang er- der in Frage gestellt. In psychoanalytischer, von zahl-
wartete Neffe Friedrich und führt die Tante ins Stadt- reichen subtil platzierten Textdetails gestützter Per-
haus des Senators, wo sie neben einem üppigen Weih- spektive lässt sich diese Notlösung zwar auch als retar-
nachtsfest auch ihr Bruder erwartet. Dieser hat das dierte Erfüllung eines frühkindlichen inzestuösen
Nachbargrundstück der Heidekolonie erworben, um Begehrens lesen, da die einander einst sehr naheste-
es von Friedrich und Meta bewirtschaften zu lassen, henden Geschwister auf raumzeitlich verschobene
woraufhin die spät zu Haus und Familie Gekommene Weise doch noch eine Kleinfamilie gründen. Den-
auch den Namen des mittlerweile verstorbenen Eh- noch bleibt selbst vor diesem Hintergrund die auf dem
renfried unter den Kaufvertrag setzen lässt. Sterbebett geäußerte Hoffnung Ehrenfrieds, sein Erb-
Storms Befürchtung, »daß dies Werkchen die Spu- teil möge dereinst wenigstens Metas Neffen »zu einem

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_43, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
166 III Werk – D Novellen

ganzen Menschenleben helfen« (635), trotz verbesser- le, sondern auch als kritische Mimesis eines verfehlten
ter ökonomischer Bedingungen unerfüllt. Ähnlich Bewusstseins interpretiert werden kann. Gleichwohl
fragwürdig wie diese erzwungene Idylle bleiben zwie- überwiegt angesichts der stark konstruierten, psycho-
spältige Figuren wie ein Bruder, der als vorgeblicher logisch nur schwach motivierten Handlung vor allem
Patriot im Ausland lebt und seine plötzlich umsorgte der Rahmenerzählung sowie der deutlich um Sym-
Schwester jahrelang vernachlässigt hat, oder ein Sena- pathie für die Figuren werbenden Erzählinstanz der
tor, der trotz seines Grolls gegen die »übermütigen Eindruck, Abseits sei eher nolens volens »Stückwerk«
Fremden« (620) weiterhin in der Stadt residiert, trotz geblieben.
Kinderlosigkeit das Traditions- und Familien-Para-
digma abdecken muss und mit dem Heidehof wohl Literatur
eher merkantile als politische Ziele verfolgt. Aus- Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor
gehend von Ehrenfrieds keineswegs versöhnlicher Le- Storm. Berlin 2011.
Korten, Lars: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre
bensbilanz, alle Beteiligten hätten »nur ein Stückwerk 1848–1888. Stifter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen 2009.
vom Leben gehabt« (635), ließen sich in diesen ambi- Lee, No-Leun: Erinnerung und Erzählprozess in Theodor
valenten, eher aktiven als passiven Figuren allerdings Storms frühen Novellen (1848–1859). Berlin 2005.
auch Ansätze der späteren ›realistischen‹ Poetik Neumann, Christian: »Fallen Sie nicht, Mamsell!« Verhin-
Storms erblicken, die das psychologisch Heterogene derte Ehen in Theodor Storms Heiligenstädter Novellen
»Drüben am Markt« und »Abseits«. In: Storm-Blätter 13
auch jenseits von Resignation und Verklärung zur
(2007), 6–28.
Darstellung bringt. Interesse verdiente in dieser Per- Rigby, Catherine E.: (K)ein Klang der aufgeregten Zeit. Ro-
spektive vor allem die inkonsistente Überblendung manticism, Ecology and Modernity in Theodor Storm’s
ökonomischer, patriotischer und religiöser Deutungs- »Abseits«. In: Christine Magerski/David Roberts (Hg.):
muster, die exemplarisch in Metas eigenwilliger Inter- Moderne begreifen. Zur Paradoxie eines sozio-ästhetischen
pretation der ihrerseits bereits säkularisierten Grab- Deutungsmusters. Wiesbaden 2007, 145–156.
inschrift des Lehrersohns zur Darstellung kommt und Christoph Steier
nicht zwangsläufig als Konstruktionsfehler der Novel-
44 »Unter dem Tannenbaum« (1862/1865) 167

44 »Unter dem Tannenbaum« spaziergang erneut der »alten Heimat« (607) gedacht
(1862/1865) haben, wird die mit Ausnahme des ausführlichen
Selbstzitats »Von drauß’ vom Walde komm ich her«
(ebd.) auffällig geraffte Binnenerzählung vom Auftre-
Die Auftragsarbeit Unter dem Tannenbaum (LL 1, ten eines »Knecht Ruprecht« (611) unterbrochen. Die-
594–618) erschien am 20.12.1862 in der Weihnachts- ser liefert einen Weihnachtsbaum samt reichhaltigem
ausgabe der renommierten Leipziger Illustrirten Zei- Zubehör, dessen Aufbau Anlass zu einer an Lessings
tung. Die vorgesehenen Illustrationen Ludwig Pietschs Laokoon geschulten, szenisch-sukzessiven Darstellung
wurden nicht rechtzeitig fertig und konnten erst 1865 gibt. An die Stelle sentimentaler Retrospektion tritt die
der Separatausgabe Zwei Weihnachtsidyllen. Illustriert erfüllte Gegenwart einer anschaulichen Szene, die die
von Otto Speckter und Ludwig Pietsch beigegeben wer- Vergangenheit einschließt und zugleich »mit leuchten-
den, die mit Abseits auch die im Folgejahr für die Jo- den Augen« (612) überstrahlt. Mit der Freude über das
hann Jacob Webers Wochenblatt verfasste Weih- unverhoffte Geschenk, das sich als Dankesgabe einer
nachtsnovelle enthielt. mit den Diensten des Amtsrichters zufriedenen Guts-
Im Mittelpunkt der mit deutlichen autobiographi- herrin entpuppt, endet die Novelle allerdings dezidiert
schen Indices versehenen Novelle steht die Familie des nicht: Während die von neuerlichem Heimweh geplag-
Amtsrichters Paul, die im mitteldeutschen Exil das ers- ten Eheleute dem »dunkeln Zuge der Wolken« (618)
te Weihnachtsfest fern der norddeutschen Heimat zu gen Norden nachschauen, geht im Haus die »alte Magd
begehen hat. Auffällig ist dabei zunächst die unge- umher und hütete sorgsamen Auges die allmählich
wöhnliche Zweiteilung in die gleich langen Kapitel »Ei- niederbrennenden Weihnachtskerzen« (ebd.), die an
ne Dämmerstunde« (594–606) und »Unter dem Tan- den Schein-Charakter jeder narrativen Vergegenwärti-
nenbaum« (606–618). Diese sind prima facie nur lose gung erinnern und die Novelle in performativer Folge-
aufeinander bezogen, so dass bereits die ausgeglichen- richtigkeit beschließen.
unausgeglichene Form auf jene für Storms Frühwerk Mit ihrer säkularisierten Behandlung des Weih-
typische ›Resignation‹ im Sinne gelassener Hinnahme nachtsfestes, dem Lob der bürgerlichen Kleinfamilie,
des Heterogenen zielt, von der auch Unter dem Tannen- den sublimierten Bezügen zum Unheimlichen, zum
baum zu erzählen unternimmt. Der erste Teil zeigt den Kindfrauen- und Fußfetisch in der Neujahrsszene,
Amtsrichter und seine Frau Ellen im vertrauten, aller- mit den Topoi der verlorenen Heimat, der Stimmung
dings von der »Not der Fremde« (595) überschatteten und der tröstlichen Pein der Erinnerung, aber auch in
Gespräch. Als besonders schmerzhaft wird das Fehlen der allgemeinen Passivität der Figuren und der laten-
eines Weihnachtsbaums empfunden. Angeregt vom ten Effeminisierung des Amtsrichters zeigt die Novel-
vertrauten »braunen Weihnachtskuchen« (ebd.) ver- le typische Züge der frühen und mittleren Werkphase
liert sich Paul zunächst in detaillierten Erinnerungen Storms. Dabei sind es vor allem die Insistenz auf der
an die Weihnachtsbräuche seiner Kindheit, die in eine ungelösten schleswig-holsteinischen Frage und die
widersprüchliche Wechselrede der Eheleute über den poetologische Reflexion des Erzählens, die Storms
Anfang ihrer Beziehung münden. Als Zentrum der erste Heiligenstädter Weihnachtsnovelle trotz teils
stark abweichenden Versionen kristallisiert sich ein spätbiedermeierlicher Oberflächensemantik vor sen-
Abend in Ellens Elternhaus heraus, an dem Paul seine timentaler Rührseligkeit bewahren. Neben die in den
Cousine bei einem »unheimlichen« (605) Neujahrs- unvereinbaren Versionen der Eheleute vorgeführte
brauch ertappt hatte, der die über einige misslungene Unzuverlässigkeit erzählenden Erinnerns als iden-
Annäherungsversuche bis dahin nicht Hinausgekom- titätsstiftendes Moment tritt in der »Weihnachts-
menen schließlich zusammenführte. Im Anschluss an kuchen«-Szene ein komplementäres Arrangement,
eine deutlich markierte Ellipse endet der erste Teil mit das den bereits von Storms Zeitgenossen als aristokra-
dem Hereintreten des zehnjährigen Sohnes Harro, der tisch kritisierten, strikt ortsgebundenen Heimat-
im Wald Moos und Zweige für einen »Weihnachtsgar- begriff des Richters (vgl. 1171 f.) subtil unterläuft: Der
ten« (606) gesammelt hat. Dieser an die Darstellung Kuchen, dem nach dem Modell der mémoire involon-
des Paradieses angelehnte Brauch ruft das Thema der taire »gute Geister« und »die Ferne der Vergangen-
Vertreibung in Erinnerung und verweist als defizitäres heit« (596) entsteigen, ist ein in der neuen Heimat ge-
Supplement zugleich auf den symbolträchtigen Weih- fertigtes Replikat. Dem tatsächlichen Erlebnis des
nachtsbaum, dem der zweite Teil der Novelle gewidmet Kennenlernens der späteren Eheleute, dem zwei un-
ist. Nachdem Vater und Sohn auf ihrem Weihnachts- vereinbare, aber jeweils für wahr gehaltene Erzählun-

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168 III Werk – D Novellen

gen folgen, steht damit ein authentisches Erlebnis ge- entscheiden. Für die exilierte Kleinfamilie wäre es folg-
genüber, das auf einem Simulacrum beruht. Mit der lich nötig, sich nicht als »das letzte Kind von den Unse-
Darstellung ist in der Kuchen-Szene deshalb zugleich ren« (616), sondern als Ahnen einer noch fremden Zu-
eine Lektüreanweisung gegeben; wie das indexika- kunft zu verstehen, wie ja auch der Richter bekennt,
lische Zeichen im Text sollen auch die symbolischen seine Vorfahren seien »wurzelfest« erst über Genera-
Zeichen des Textes lebendige Erinnerungsprozesse tionen hinweg »geworden« (617). Über den Preis des
auslösen. Das detaillierte Erzählen zielt in Unter dem Vergessens und den Double-Bind des Gedenkens zwi-
Tannenbaum deshalb weniger auf den Barthes’schen schen Trost und Schmerz schweigt sich die Novelle in-
effet de réel oder die Evokation einer möglichst ge- des nicht aus, sondern lässt die Figuren in geteilter Not
schlossenen Stimmung, sondern erhöht vor allem die verstummen: »Sie antwortete nicht darauf, und gab
Dichte entsprechender sprachlicher Schlüsselreize. ihm schweigend ihre Hand« (616). Die Präsenzeffekte
Die doppelte Einsicht in die Konstruktivität iden- künstlerisch dargestellten und induzierten Erinnerns
titätsstiftender Erinnerung korrigiert folglich den werden folglich nicht als Allheilmittel poetischer
ortsgebundenen, genealogischen und von persönli- Selbstschöpfung, sondern lediglich als eben jenes zeit-
cher Bekanntschaft »über Geburt und Tod hinaus« lich begrenzte Pharmakon in Szene gesetzt, dessen
(617) geprägten Heimatbegriff des Richters, insofern Möglichkeiten und Grenzen die Novelle in ihrem ver-
die beklagte »Not der Fremde, daß man den Boden, gegenwärtigenden Gelingen ebenso wie in der poeto-
worauf man steht, in jeder Stunde neu erschaffen logischen Reflexion ihres eigenen Endens in Form der
muß« (595), grundsätzlich auch für das vermeintlich »allmählich niederbrennenden Weihnachtskerzen«
Eigene gilt. (618) zur Darstellung bringt.
Dass es Storm trotz seiner späteren, brieflich ge-
äußerten Insistenz auf dessen »volle[r] menschliche[r] Literatur
Berechtigung« (1172) auch um eine Kritik eines sol- Barthes, Roland: L ’Effet de réel. In: Communications 11
chen ›paradiesischen‹ Heimatbegriffs geht, zeigt ein (1968), 84–89.
Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
rhetorisch stimmiges Detail: Ergriffen vom eigenen scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
Heimweh, ergreift der Amtsrichter am Ende der No- Korten, Lars: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre
velle »die Hand seines Kindes und preßte sie so fest, 1848–1888: Stifter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen 2009.
daß der Junge die Zähne zusammenbiß« (618). Das Laage, Karl Ernst: Unter dem Tannenbaum. Weihnachten
Trauma des Exils pflanzt sich fort, doch liegt es, aber- im Haus eines Emigranten. In: Ders. (Hg): Begegnungen
mit Theodor Storm. Heide 2015, 53–54.
mals wörtlich, in der Hand des Vaters, sich zwischen
der integrationsbereiten Haltung seiner Frau (vgl. 618) Christoph Steier
und dem Groll der entwurzelten Magd (vgl. 613) zu
45 »Von Jenseit des Meeres« (1865) 169

45 »Von Jenseit des Meeres« (1865) wieder vervollständigen und zu einem perfekten Gan-
zen zusammenfügen soll.
Die Geschichte, in der ein Kreolenmädchen illegiti- Der entscheidende Unterschied zwischen Alfred
mer Abstammung nach erfahrener Europäisierung als und Jenni manifestiert sich mitnichten in ihrer Her-
kultivierte Exotenpflanze seinen Platz in der nord- kunft, sondern in ihrem Geschlechtsunterschied. Als
deutschen Bürgerlichkeit erhält, entstand in den Jah- Kreolin verkörpert die androgyne Jenni das Inbild ei-
ren 1863 bis 1864 und wurde 1865 zum ersten Mal in ner Verschmelzung der Dichotomien: Deutschland
Westermann’s Illustrirten Deutschen Monatsheften ver- und Indien, weiß und schwarz, Kultur und Natur; wie
öffentlicht. ihr Name schon sagt, kommt sie vom matriarchal ge-
Die Protagonisten Alfred und Jenni lernen sich in prägten Jenseit und lebt doch hier, im streng patriar-
ihrer Kindheit kennen, als Jenni vorübergehend in Al- chal geprägten Bürgertum. Dem Konzept der Kind-
freds Elternhaus untergebracht wird, ehe sich ein neu- frau gemäß wird Jenni so zu einer Allianz vom männ-
es Pensionat findet, das die Tochter eines deutschen lich-kulturellen mit dem weiblich-naturellen Prinzip,
Plantagenbesitzers und einer Farbigen »in der Sitte die alle Gegensätze unter ihrer weißen Oberfläche
seiner Heimat« erziehen soll (LL 1, 649 f.; Hervor- harmonisch vereint – quasi ein Kunstobjekt, genauso
hebung M. G.). Dabei entspricht Jenni keineswegs ei- wie die von weißen Teichrosen umgebene Marmor-
ner »ebenholzschwarze[n] Negerin mit Perlenholz- statue, der Alfred auf einem metaphorisch verdichte-
schnüren in den Haaren und blanken Metallringen ten Spaziergang innerhalb der Novelle begegnet. In
um die Arme« (650), sondern ist stattdessen »weißer dieser Szene, die intertextuell eindeutig auf Eichen-
als irgendein anderes Mädchen« (ebd.) – eine Farb- dorffs Marmorbild (1818) rekurriert, wird die Distanz
zuschreibung, die diese Kindfraufigur die gesamte zwischen den Geschlechtern überdeutlich, befindet
Novelle über leitmotivisch begleiten wird. Die beiden sich zwischen Alfred und der schneeweißen Schön-
Kinder verleben idyllische Monate voller Spiel und heit doch das unüberwindbare Wasser, jenes Element,
Phantasie sowie einen dementsprechend schmerzhaf- welches Mann und Frau auf ewig »einsam« (672) zu
ten Abschied, ehe sie sich zehn Jahre später wieder- halten scheint. Wie willkommen scheint es da, als ei-
sehen. Obwohl beide nun Anfang zwanzig sind, klam- nen Augenblick später Jenni selbst, gleich Pygmalions
mert sich Alfred in der folgenden Brautwerbungszeit Marmor, vor ihm an Land steht. Alfred zögert nicht:
auffallend an das Glück der vergangenen Kindertage »Nimm den Ring, Jenni [...], aber gib mir Deine Hand
und merkt, derart geblendet, erst zu spät, dass Jenni dafür!« (676) Das Idiom ›um jemandes Hand bitten‹
auf dem Weg zu ihrer Mutter jenseits des Meeres ist. gewinnt in diesem Zusammenhang eine ganz neue
Diesem »Spuk« (688) ein Ende setzend, reist Alfred Dimension, denn indem Alfred Jennis Hand, d. i.
ihr kurzerhand hinterher und führt die weiße, von »[d]ie Hand einer Farbigen« (ebd.) nimmt, verleibt er
den »brennenden Farben« (691) ihrer Heimat ent- sich diese in ihrer – weiblichen – Andersartigkeit ein.
fremdete Frau in norddeutsche Gefilde zurück, wo sie Es ist keine stilisierte Apartheid, die die Problema-
gemeinsam Hochzeit feiern. tik in Alfreds Umgang mit Jenni ausmacht, sondern
Der Toleranzgestus der Erzählung ist von der For- vielmehr eine stilisierte Gleichmachung. In seiner nar-
schung längst problematisiert und auf seine xenopho- zisstischen Identifizierung annektiert er die Jugend
ben wie misogynen Aspekte hin befragt worden (vgl. und Ursprünglichkeit der Kindfrau, um so mit dieser
u. a. Pastor 1999). Gleichwohl werden auf den zweiten auf ewig im kindlichen Paradies vereint zu sein – und
Blick Strukturen sichtbar, die es ermöglichen, den ist folglich in seiner Entwicklung gescheitert: Nicht Al-
weltfremden Wildentopos in einen äußerst lebens- fred bewegt sich auf Jenni zu, sondern diese kommt zu
nahen Kontext zu überführen. Was als dramaturgisch ihm. Sie verlässt ihr Fundament, sie allein meistert den
wie thematisch verfehlter Diskurs über die Rassenpro- Weg über das Wasser und muss damit zuletzt, ent-
blematik rezipiert worden ist, lässt sich auch als Alle- gegen aller optimistischen Leserführung, nichts Ge-
gorie einer modernen Heimatlosigkeit lesen, die sich ringeres als ihre Identität aufgeben. Denn statt das
nicht nur zwischen verschiedenen Nationen, sondern Mädchen in die Realität zu überführen, transformiert
bereits im Individuum selbst manifestiert. Der Begriff Alfred ihrer beider Beziehung in ein Phantasma.
der Fremde wird somit zu einer Metapher der persön- Alfred ist nicht der Einzige, der sein Heil in der nar-
lichen Entfremdung, zu deren Heilung das Phantasma zisstischen Identifizierung mit der Kindfrau sucht.
der psychischen Heimat im Anderen avanciert: Die Auch sein potentieller Schwiegervater, der Plantagen-
Kindfrau ist der Kitt, der das (männliche) Individuum besitzer, ist bestrebt, seinen Lebensabend mit Jenni zu

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170 III Werk – D Novellen

verbringen, statt mit ihrer Mutter: »Sie war unglaub- übergreifenden Geschichtsunterricht: Das Problem des
lich schön, jene Frau, unglaublich. [...] Aber man durf- interkulturellen Verstehens in Theodor Storms Novelle
te sie nicht reden hören. Der schöne Mund stümperte »Von Jenseit des Meeres«. In: Olga Iljassova-Morger/Elke
Reinhardt-Becker (Hg.): Literatur – Kultur – Verstehen.
in der gebrochenen Sprache der Neger. [...] Jene Frau, Neue Perspektiven in der interkulturellen Literaturwissen-
Jenni, war keine Gesellschafterin für Dich, wenn Du schaft. Duisburg 2009, 177–189.
das werden solltest, was Du geworden bist.« (681; Her- Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
vorhebung M. G.) Indem ihr Vater sie in deutschen Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009,
Pensionaten nach seinem Geschmack hat formen las- S. 112–142.
Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959,
sen, hat er seine männliche Kultur in ihre weibliche
228 f.
Form gegossen und sich damit eine Tochter erschaf- Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Struktu-
fen, die gleich Athene eine Kopfgeburt ist, eine reine ren in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts.
Idee, dazu da, in der imaginierten Symbiose alle Diffe- München 2008, 97–109.
renzen zwischen männlichem Ich und weiblichem Du Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
aufzuheben und in ein grenzenloses Wir zu überfüh- scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001, 166–169.
Kommentar in: LL 1, 1189–1204.
ren. Dass dieser Prozess nicht ohne Opfer vonstatten- Krumpelmann, John T.: Some observations on Storm’s »Von
geht, versteht sich ebenso wie die Tatsache, wer dieses Jenseit des Meeres«. In: Germanic Review 25 (1940), 46–
Opfer ist: Jenni. Die patriarchale Erziehung hat aus 49.
dem einst lebensfrohen Kind im Laufe der Jahre eine Moeller, Uwe: A place in the Sun. The Image of the Black in
stille Frau gemacht, deren »einst so widerspenstige[s] German Realism. Austin/Texas 1997, hier 87–108.
Pastor, Eckart: Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen
Haar« gleichsam »in einen glänzenden Knoten gefes-
von Theodor Storm. Frankfurt a. M. 1988, 97–116.
selt [lag], der fast zu schwer schien für den zarten Na- Pastor, Eckart: Theodor Storms Novelle »Von Jenseit des
cken.« (663) Jenni hat eine große Bürde zu tragen, um Meeres« oder: Überlegungen zu der Frage, ob »es unmög-
von ihrem männlichen Umfeld akzeptiert zu werden. lich ist, einen Mohren weiß zu waschen«. In: David A.
Die »elementare Zärtlichkeit«, mit der ihre Mutter be- Jackson/Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative
schrieben wird (691), darf keineswegs in ihr selbst Strategies and Patriarchy/ Theodor Storm – Erzählstrate-
gien und Patriarchat. New York 1999, 61–84.
»überkoch[en]« (664); nicht Jennis Exotik ist das Pro-
Reiter, Christine: Gefährdete Kohärenz. Literarische Ver-
blem, sondern ihre Erotik. Doch dank vereinter Do- arbeitung einer ambivalenten Wirklichkeitserfahrung in
mestizierung ist Jenni ihrer ursprünglichen Natur am den Novellen Theodor Storms. St. Ingbert 2004, 214–221.
Ende derart entfremdet, dass ihr Ausflug in die alte Roebling, Irmgard: Liebe und Variationen. Zu einer biogra-
Heimat einen regelrechten Kulturschock in ihr her- phischen Konstante in Storms Prosawerk. In: Amsterda-
vorruft: »O es ist Alles furchtbar, was mich hier um- mer Beiträge zur neueren Germanistik 17 (1983), 99–130.
Schuster, Ingrid: »Ich habe niemals eine Zeile geschrieben,
gibt!« (690) Wie ein Tier, das aus der Gefangenschaft wenn sie mir fern war«. Das Leben der Constanze Storm
entlassen wird und aus lauter Überforderung zurück und vergleichende Studien zum Werk Theodor Storms.
in den Käfig flüchtet, fleht sie in einem Brief um Hilfe Bern 1998, 109–131.
und rettet sich dankbar in Alfreds Arme und die väter- Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
lich bevollmächtigte Ehe. seiner Novellen. Bonn 1971, 93–97.
Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Bremen 1955, 289–293.
Literatur Tebben, Karin: »Wo keine Göttinnen sind, da walten Ge-
Artiss, David: Theodor Storm: Studies in Ambivalence. Sym- spenster«. Dämoninnen und Philister im Werk Theodor
bol and Myth in his Narrative Fiction. Amsterdam 1978, Storms. In: The Germanic Review 79/1 (2004), 7–38.
54–65.
Becker, Frank: Globalhistorische Perspektiven im fächer- Mareike Giesen
46 »Eine Malerarbeit« (1867) 171

46 »Eine Malerarbeit« (1867) Kampf und schwere Arbeit beschrieben wird. Hier
liegt die Modernität der Erzählung, die das Ringen ei-
Storm begann die Erzählung vom buckligen Maler nes behinderten Menschen um gesellschaftliche An-
Brunken im März 1867 und vollendete sie schon im erkennung und Selbstfindung zeigt.
Juli des gleichen Jahres (Erstdruck in Westermann’s Il- Zu Beginn der Novelle erscheint Brunken in einem
lustrirten Deutschen Monatsheften 23, 1867). Laage seelischen Ungleichgewicht, er leidet an seinem Äuße-
zeigt detailliert, wie der Schwerpunkt im Laufe der ren, das ihm die körperliche Liebe versagt, und gleich-
Niederschrift immer stärker auf die psychischen Pro- zeitig an einem Hang zum Narzissmus, wie eine Spie-
bleme des verwachsenen Brunken und auf die Künst- gelungsszene beweist. Im Märchen, das Brunken Ger-
lerthematik gelegt wurde, die auch »Keimzelle und trud als kaum verhülltes Liebesgeständnis erzählt,
Kern der Dichtung« sei (Laage 1988, 25). Das Thema werden die psychischen Probleme der Hauptfigur ma-
sei Storm durch die Bekanntschaft mit den Malern Ni- nifest (Morrien 2001, 27). Das Ungeheuer, das um ei-
colai Sunde und Adolph Menzel vermittelt worden ne Prinzessin wirbt, jedoch nur Angst und Schrecken
(Laage, 1988, 26–27; Missfeldt 2013, 179), die beide an erregt, verweist auf Brunkens Dissoziation: Das Un-
einer Behinderung litten. geheuer »fühlte die innere Wohlgestalt und den edlen
Anlässlich einer »Plaudergesellschaft« (LL 2, 9) be- Klang der Stimme, die eigentlich sein eigen war, aber
richtet ein Arzt vom verwachsenen Maler Brunken, es suchte vergebens, die abschreckende Hülle zu
mit dem er vor Jahren in nähere Verbindung trat, als sprengen« (LL 2, 19). Im Märchen offenbaren das Zer-
dieser von einer Duellverletzung kuriert werden reißen der seidenen Schuhe der Prinzessin und ihre
musste. Der bucklige Maler lernt während seiner Ge- blutende Lippe deutlich sexuell konnotierte Gewalt-
nesung Gertrud, die Cousine des Arztes, kennen und phantasien, die aus einer Spaltung zwischen inneren
verliebt sich in sie. Doch Gertrud weist Brunken zu- Gefühlen und äußerer Gestalt resultieren. Aber Brun-
rück und zieht einen Assessor – Brunkens Duellgeg- ken wandelt sich, indem seine äußerliche Fixierung
ner – vor. Neben dieser unglücklichen Liebe quälen durch Vergeistigung geheilt wird (vgl. das Vernunft-
den Maler Zweifel an seiner Kunstbegabung, die so vokabular, LL  2, 27). Durch das Interesse an einem
groß sind, dass er aus der Stadt flieht. Vier Jahre später fremden Schicksal gelingt dem Maler die Sublimie-
trifft der Arzt seinen Freund wieder und erfährt, dass rung seiner Triebe, das ›von-sich-Absehen‹. Er erlangt
Brunken, der sich damals eigentlich umbringen woll- das ›richtige Sehen‹ (vgl. 31), kann das junge Genie
te, kurz nach seiner Flucht auf das Schicksal des jun- Paul Werner fördern und als ›Versöhner‹ wirken. Der
gen Paul Werner aufmerksam geworden ist. Der Jun- Zwiespalt zwischen Innen und Außen wird überwun-
ge, der ein hochbegabter Maler zu werden verspricht, den, indem der Maler zur ›Figur des Dritten‹ wird
wird von Brunken vor einem ihm nicht gemäßen (Koschorke 2010, 9 f.) und einen modus vivendi
Schicksal als Bauer bewahrt. Brunken stellt seine Be- schafft, der Ungleichgewichte vermeidet. Die für
dürfnisse von nun an zurück und engagiert sich als Brunken schädliche Trennung von Körper und Geist
Kunstpädagoge, um das junge Talent zu fördern. Auf wird am Ende durch die Beschränkung des Ichs über-
diese Weise gelangt er auch zu einer Form von Famili- wunden, indem der Protagonist seine eigenen künst-
englück, da er fortan mit seiner Schwester sowie mit lerischen Ansprüche zugunsten eines begabten jun-
deren Tochter und Paul Werner zusammenlebt, wobei gen Malers zurückstellt: Die gelungene Selbstfindung
er auf eine eheliche Verbindung der beiden jungen offenbart sich im von Brunken am Ende gemalten
Leute hoffen darf. Diese Erzählung vom »kleinen Ma- Bild, das ihn an den Rand gesetzt zeigt und in der Mit-
ler« illustriere – so der Arzt in der Rahmenhandlung te Paul mit Brunkens Nichte.
– das Sprichwort: »Man soll sein Leben aus dem Holze Die Modernität dieser Problematik wird im Ver-
schnitzen, das man hat« (37). gleich mit einem anderen ›Verwachsenen‹ deutlich,
Storms Novelle, die als Neuansatz nach seiner nämlich mit Alonzo Gieshübler aus Theodor Fontanes
Schaffenskrise gilt (Fasold 1997, 129), thematisiert Eheroman Effi Briest. Dieser leidet zwar auch am
ausdrücklich Vorgänge der Sublimierung und Trieb- Mangel an erotischen Erfahrungen, doch kann er die-
zielverschiebung (s. auch Blamberger 1991, 166). Be- ses Defizit ohne größere Schwierigkeiten und Arbeit
vor der körperlich beeinträchtigte Brunken lernt, sei- durch Kunst und Kultur kompensieren; seine Behin-
nen Lebenssinn in der Kunstpädagogik zu finden und derung stellt kein derartig existentielles Problem dar,
von sich abzusehen, muss er einen Prozess der Ver- wie es bei Storm der Fall ist, der hier über das Litera-
geistigung durchmachen, der als Anstrengung, harter tursystem des Realismus hinausgeht, indem er etwa

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172 III Werk – D Novellen

sexuelle Störungen und Sublimierungsprobleme te der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne. Stutt-
schildert, wie es eher für die frühe Moderne – man gart 1991, 150–170.
denke an Thomas Manns Der kleine Herr Friedemann Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959,
251–255.
– charakteristisch ist. Denkert, Malte: »Die Kleinigkeit, das liebe Ich aus dem Vor-
Es ist richtig, dass in Eine Malerarbeit keine Künst- der- in den Hintergrund zu praktizieren«. Zur Darstellung
lerwerdung beschrieben wird (höchstens Paul Werner des ›Verwachsenen‹ in Theodor Storms Eine Malerarbeit
betreffend), sondern es eher um Brunkens Lebens- und bei einigen literarischen Nachfolgern (Th. Fontane,
kunst geht (Fasold 1997, 129). Doch verweist die Figur Th. Mann, E. v. Keyserling). In: STSG 63 (2014), 120–140.
Denkert, Malte: »Herrlichkeit und Schande«. Versuche der
des Verwachsenen vom Realismus bis in die Moderne
Selbstfindung jenseits bürgerlicher Vorstellungen bei
hinein stets auf den sich selbst und der Gesellschaft Theodor Storm, Thomas und Heinrich Mann. In: Hein-
problematisch gewordenen Künstler, der den ihn quä- rich Detering/Maren Ermisch/Hans Wißkirchen (Hg.):
lenden Zwiespalt zwischen Geist und Leben, Potential Verirrte Bürger. Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung
und Wirklichkeit lösen und seine Stellung zur Gesell- in Husum und Lübeck 2015. Frankfurt a. M. 2016, 69–86.
schaft durch Sublimierungs- und Vergeistigungspro- Ermisch, Maren: Die Kontrafaktur des buckligen Männ-
leins. »Eine Malerarbeit« und »Der kleine Herr Friede-
zesse erst erarbeiten muss. mann«. In: Heinrich Detering/Maren Ermisch/Hans Wiß-
Die Forschung widmet sich besonders den ein- kirchen (Hg.): Verirrte Bürger. Thomas Mann und Theodor
geschalteten Märchen und Bildbeschreibungen. Hert- Storm. Tagung in Husum und Lübeck 2015. Frankfurt a. M.
ling meint, dass die Nutzung verschiedener Erzähl- 2016, 103–114.
medien zu Brunkens Katharsis führten. Das Märchen Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart 1997, 128–131.
Hertling, Gunter H.: Theodor Storms Künstler-Novelle »Ei-
vom Ungeheuer und der Bericht vom versuchten
ne Malerarbeit« (1867). Zur Funktion und Deutung seiner
Selbstmord, der auf ein weiteres Märchen Bezug neh- Erzählmuster. In: STSG 61 (2012), 89–97.
me, zeitigten psychotherapeutische Wirkungen – eine Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwis-
Neuheit in Storms Werk (Hertling 2012, 96). Morrien senschaften. In: Eva Heßlinger/Tobias Schlechtriemen/
erkennt in der ›Ungeheuer-Geschichte‹ sowie in Doris Schweitzer/Alexander Zons: Die Figur des Dritten.
Brunkens Bildern Hinweise auf verweigerte frühkind- Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010, 9–31.
Laage, Karl Ernst: Kommentar. In: LL 2, 773–784.
liche Mutterliebe (Morrien 2001, 28), die der Maler
Laage, Karl Ernst: Zur Entstehung der Novelle »Eine Maler-
durch die Schaffung einer neuen Familie sowie durch arbeit«. In: Ders. (Hg.): Theodor Storm. Studien zu seinem
Projektionsvorgänge kompensieren wolle. Auch Le- Leben und Werk mit einem Handschriftenkatalog. Berlin
febvre analysiert die »hineingespiegelten« Geschich- 1988, 20–28.
ten und zeigt Brunkens Weg vom Eros zur Caritas auf, Lefebvre, Jean: Von der Identifikation mit Tierbräutigam-
der am Ende in eine Erlöserfunktion für Paul Werner Märchen zur autonomen Existenz. Gedanken zu Theodor
Storms »Eine Malerarbeit«. In: STSG 51 (2002), 73–85.
münde (Lefebvre 2002, 79–81). Insgesamt wird in der Missfeldt, Jochen: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter
Forschung deutlich, dass Eine Malerarbeit auf einige Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie. Mün-
Themen der frühen Moderne vorausweist: Sei es der chen 2013.
Einbezug psychologischer Tiefen, der Vorgang der Morrien, Rita: Arbeit »in Kontrasten« – Künstler- und Va-
Sublimierung oder die Schwierigkeit, ein problema- terschaft in Theodor Storms Novelle »Eine Malerarbeit«.
In: STSG 50 (2001), 23–35.
tisch gewordenes Ich und die Umwelt in Einklang zu
Onken, Aiko: Erinnerung, Erzählung, Identität. Theodor
bringen. In diesem Sinne könnte Storms Text auch Storms mittlere Schaffensperiode (1867–1872). Heidelberg
Thomas Mann zu einer produktiven Auseinanderset- 2009, 117–158.
zung angeregt haben (Ermisch 2016, 112–114). Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Bremen 1955, 297–300.
Literatur Zimorski, Walter: Das Selbstbildnis als Doppelportrait: Ed-
Arendt, Dieter: Der verwachsene Mensch im Kunst-Spiegel de Brunken – der friedfertige Überwinder. ›Lebendige‹
der Literatur oder: Orandum est, ut sit mens sana in cor- Gemälde als Zeugnisse künstlerischer Lebensproblematik
pore sano. In: Universitas 45 (1990), 53–70. in Theodor Storms Künstlernovelle »Eine Malerarbeit«
Blamberger, Günther: Das Geheimnis des Schöpferischen (1867). In: Ders. (Hg.): Theodor Storm. Studien zur Kunst-
oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschich- und Künstlerproblematik. Bonn 1988, 7–45.

Malte Denkert
47 »In St. Jürgen« (1868) 173

47 »In St. Jürgen« (1868) Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch durchaus
Lücken in den Motivierungsketten: Warum kündigt
In St. Jürgen erschien 1868 – als erste Novelle nach Harre seiner Braut schon beim Abschied an, er werde
Constanzes Tod – zunächst im Deutschen Künstler- ihr keine Briefe schreiben? Warum erzählt er der Fa-
album, im gleichen Jahr dann auch als Buchausgabe, milie seines Meisters nichts von Agnes, die auf ihn
und markiert gemeinsam mit Eine Malerarbeit den wartet? Zudem sind die beiden intradiegetischen Er-
Beginn von Storms mittlerer Schaffensperiode. Als zählungen um zwei symbolische Szenen zentriert,
Quellen dienten die Erzählung Das Heimweh aus dem deren Bedeutungsüberschuss den eben skizzierten
Volksbuch auf das Jahr 1849 für Schleswig, Holstein Handlungsrahmen sprengt und die Rekonstruktion ei-
und Lauenburg sowie Friedrich Rückerts mehrfach zi- nes Subtextes nahelegt. Es handelt sich dabei um die
tiertes Gedicht »Aus der Jugendzeit«. Brunnen- und die Turmszene, deren erste zu Agnes’
Ein anonymer Erzähler erinnert sich seiner häufi- Erzählung gehört und die Beziehung zu ihrem Vater
gen Besuche bei der ehemaligen Haushälterin seiner symbolisch darstellt, während die zweite in Harres Er-
Großmutter, der Kaufmannstochter Agnes Hansen, zählung erscheint und dessen Verhältnis zu Agnes aus-
die ihren Ruhestand im Husumer St. Jürgen-Stift ver- deutet. Sie verhalten sich komplementär zueinander,
brachte. An ihrem 65. Geburtstag erzählte ihm Agnes indem sie die binären Oppositionen ätherisch-chto-
die Geschichte ihrer gescheiterten Verlobung mit dem nisch, männlich-weiblich, ideell-sexuell, rein-unrein
Tischlergesellen Harre Jensen, dessen Erbe Agnes’ Va- und Glück versprechend-Unheil bringend elaborieren.
ter veruntreut hatte, um sich selbst vor dem Ruin zu Die nächtlichen Geschehnisse im Brunnen erwecken
retten. Daraufhin zog Harre zum Geldverdienen in die in der unerwartet von einer Reise zurückgekehrten
Ferne, kehrte jedoch nie wieder heim. Jahre später Agnes, die im Mondschein am Fenster ihrer Kammer
lernt der Erzähler einen alten Mann auf einer gemein- das unheimliche Treiben beobachtet, die Wiederbele-
samen Zugfahrt nach Husum kennen. Es ist Harre, bung eines Urszenen-Phantasmas. In geradezu ver-
der zu einem letzten Wiedersehen mit der verlassenen blüffender Dichte sind hier die aus der klassischen Psy-
Braut in die Heimat kommt, doch dort findet er nur choanalyse bekannten Sexualsymbole versammelt (zu
noch ihren aufgebahrten Leichnam vor. den im Folgenden genannten Symbolen vgl. Freud
Auf den ersten Blick ergibt sich für die Deutung des 2000, Bd. II, 348–351): der Brunnen, auf dessen Grund
Geschehens wenig Klärungsbedarf. Wie Mareike Bör- sich angeblich eine Schatzkiste befindet, als über-
ner darlegt, erscheint die Beziehung zwischen Agnes dimensioniertes mütterliches Genital; die aus der Tiefe
und Harre, anders als in vielen anderen Stormschen der Brunnenröhre lodernde rote Glut; die Kerze des
Liebesgeschichten, als »äußerst gesund« (Börner grauen Männleins mit dreieckigem Hut (beides Penis-
2010, 45). Auch scheinen diesmal die Motivierungs- symbole); das Klettern auf der Leiter und der Schrei
ketten lückenlos zu sein: Die finanziellen Schwierig- (Koitus); das Weinen der toten Mutter, das der Vater
keiten des Vaters führen in Verbindung mit seiner aus dem Brunnengrund zu hören glaubte, als der Spa-
Neigung zum Aberglauben zur misslungenen Schatz- ten gegen die Kiste stieß (ebenfalls Koitus), wobei ihm
suche im Gartenbrunnen, wobei Harres Erbteil an ei- war, »als schnitte das Eisen in [der] toten Mutter Herz«
nen Betrüger, den sogenannten Goldmacher, vergeu- (LL 1, 709; Verschiebung des Genitals auf ein anderes
det wird. Deshalb verfügt der junge Mann nicht mehr Organ). Das plötzliche Erlöschen der Lampe gleicht ei-
über die notwendigen finanziellen Mittel, um Tisch- ner Blendung, einem gängigen Kastrationssymbol, das
lermeister zu werden, und muss in die Fremde ziehen. auch im Glasauge des unheimlichen Goldmachers
Seinen Vorsatz, bald wieder als gemachter Mann zu- wieder erscheint (vgl. Freud 2000, Bd. IV, 254–257).
rückzukommen, kann er nicht verwirklichen, da sein Und in der Tat steigt der Vater als »mit grünem
junger Meister in Wien stirbt und Harre ihm am To- Schlamm besudelte« (LL 1, 707) Jammergestalt, deren
tenbett das Versprechen gibt, seine Familie erst dann symbolische Kastration im Sinne eines totalen Potenz-
zu verlassen, wenn er sie für die Zukunft abgesichert verlustes in der Folge sichtbar wird, aus dem Brunnen
hat. Doch da es dazu nie kommt, heiratet er nach vie- empor. Aus dem mächtigen Patriarchen, der fast ein
len Jahren die Witwe, obwohl er regelmäßig von Herrgott (710) für die kleine Agnes war, ist nun ein ge-
schmerzlicher Sehnsucht nach seiner Braut in der brochener Mann geworden, der mit seinen »heißen
Heimat ergriffen wird. Erst im hohen Alter fordert sei- Tränen« (70) die Wangen seiner Tochter befeuchtet,
ne Frau ihn auf, Agnes noch einmal zu besuchen, da- während sie »heilige Zärtlichkeit« (710) in dieser für
mit er im Grab zur Ruhe kommen kann. sie »trostvollste[n]« (709) Stunde ihres Lebens empfin-

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174 III Werk – D Novellen

det. Die Geschichte des finanziellen Zusammenbruchs sichtlich ist, ähnlich wie seine inzestuös an den Vater
des Vaters ist somit grundiert von einem Subtext, der zurückgebundene Braut, auch Harre nicht imstande,
von einem katastrophal gescheiterten Koitus mit der eine sexuelle Beziehung zu einer erwachsenen Frau
Mutter berichtet, aus dem der Vater kastriert hervor- einzugehen: »Die Liebe zu Agnes ist nicht von dieser
geht, um gleich im Anschluss eine inzestuöse Fusion Welt, sie ist buchstäblich ins Über-Irdische versetzt
mit der Tochter zu erleben, welche später ihre eigene und jenseits von menschengemachten Kategorien«
Geschlechtsidentität einbüßt, denn sie wird nur noch (Onken 2009, 51). So führt Harre eine desexualisierte
mit dem Namen des Vaters als »Hansen« angeredet. Ehe mit der Witwe eines anderen, während seine
An der Tatsache, dass Agnes am folgenden Abend Braut ihr Leben lang vergeblich auf ihn wartet, bis er
nicht zum letzten Rendezvous mit Harre kommt, weil an ihrer Totenbahre auf »das unerreichbare Luftbild
ihr Vater sie »nicht von sich lassen« wollte (723), wird seiner Jugend« starrt, »das jetzt mit reißender Schnelle
deutlich, dass Letzterer derjenige ist, der systematisch in Dunst zerfloß« (LL 1, 733). Das Ideal bricht zusam-
die Liebeserfüllung zwischen Harre und Agnes verhin- men vor einer Realität, die sich angesichts des Todes
dert. Diese Vereinnahmung durch den Vater kennt nicht mehr verleugnen lässt.
Agnes schon seit ihrer Kindheit, denn sie ist »streng Während frühere Interpretationen nicht entschei-
und einsam erzogen« (719) worden und hatte sich dend unter die Textoberfläche drangen, nehmen die
wohl deshalb »dem einzigen Jugendgespielen« (ebd.) Arbeiten von Aiko Onken (2009) und Mareike Börner
angeschlossen. Mit Malte Stein, der sich bei seiner (2010) erstmals Subtexte in den Blick. Aus Onkens
Analyse auf andere Storm-Novellen bezieht, lässt sich identitätstheoretischer Perspektive erweisen sich die
sagen, dass die Brunnenszene ein »Handlungs- und Erinnerungsakte der Figuren »als narrative Konstruk-
Ausdrucksfeld« bildet, »auf dem [die] Protagonist[in] tionsprozesse, die die Etablierung ihres individuellen
die wechselnden Strategien [ihrer] Traumakompensa- Selbst zum Ziel haben« (63). Börner hingegen sieht in
tion symbolisch in Szene setzt« (Stein 2006, 19). Laut ihrer an Lacan orientierten Textdeutung die Verwer-
Stein ist die »Erotisierung des Erwachsenen-Kind- fung des Namens-des-Vaters als zentralen Aspekt die-
Verhältnisses [...] die Folge der Angst vor reifen Ge- ser Novelle, welche vom zunehmenden Verlust der pa-
schlechtsbeziehungen – und in ätiologischer Perspek- triarchalen Welt handle.
tive zugleich deren Ursache.« (ebd.). Der Vater hat
Agnes von klein auf für sich vereinnahmt und verhin- Literatur
dert nun gerade durch seine symbolische Kastration Börner, Mareike: Eine Schwalbe macht noch keinen Som-
eine Eheschließung mit einem anderen – nach der öf- mer oder: Von den Dingen, die des Menschen Willen
zwingen. Storms »In St. Jürgen« und der Lacansche Sig-
fentlichen Verkündigung seines Ruins erleidet er einen nifikant. In: STSG 59 (2010), 45–71.
Schlaganfall und seine Tochter pflegt den Gelähmten Browne, Christine Geffers: Theodor Storm. Das Spannungs-
noch neun Jahre lang, bevor er stirbt. verhältnis zwischen Glauben und Aberglauben in seinen
Doch auch Harre trägt seinen Teil zur Verhin- Novellen. New York 2002, 40–54.
derung der Ehe bei. Dieser Zusammenhang erhellt Freud, Sigmund: Studienausgabe. Frankfurt a. M. 2000.
Kratz, Bernd: Das Wiedersehen an der Bahre. Ein Balladen-
sich aus der Betrachtung des anderen symbolischen
motiv in Theodor Storms Novelle »In St. Jürgen«. In: STSG
Großzeichens des Textes: der Turmszene. Auf dem 48 (1999), 65–72.
später abgebrochenen Turm der alten Husumer Mari- Meyer, Ingo: Im »Banne der Wirklichkeit«? Studien zum Pro-
enkirche treffen sich Agnes und Harre durch einen blem des deutschen Realismus und seinen narrativ-sym-
unwahrscheinlichen Zufall in luftiger Höhe, bevor bolistischen Strategien. Würzburg 2009, 391–400.
Harre die Stadt verlässt. Hier findet ein intensiver Mo- Onken, Aiko: Erinnerung, Erzählen, Identität: Theodor
Storms mittlere Schaffensperiode (1867–1872). Heidelberg
ment des Zusammenseins statt, als wären beide
2009.
»schon jetzt hinausgehoben über alle Not der Welt« Schilling, Michael: Erzählen als Arbeit am kollektiven Ge-
(LL 1, 723). In einem stark stilisierten poetischen dächtnis. Zu Theodor Storms Novellen nach 1865. In: Eu-
Sprachstil beschreibt Harre die ideale Schönheit die- phorion 89 (1995), 37–53.
ses Moments, in dem der Turm die beiden trägt und Schuster, Ingrid: Tiere als Chiffre. Natur und Kunstfigur in
die Schwalben als spätere Liebes- und Erinnerungs- den Novellen Theodor Storms. Bern 2003, 57–63.
Stein, Malte: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologi-
boten um sie herschweben. Auch wenn hier eine ide- sche Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt
elle Vereinigung (vgl. Meyer 2009, 398) der Liebenden im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.
geschehen mag, so bleibt diese in der Zukunft doch
nur ein unerfülltes Glücksversprechen. Denn offen- Christian Neumann
48 »Eine Halligfahrt« (1871) 175

48 »Eine Halligfahrt« (1871) erscheinen, das die Vorteile beider Welten in sich
vereint.
Im Frühjahr 1871 beendete Storm den ersten Entwurf Das Gegenstück zum zurückgezogenen Vetter ist
der Novelle. Im Oktober desselben Jahres erschien sie die Mutter Susannes, die in leicht abwertender Weise
nach einigen Überarbeitungen als drittes der Zerstreu- als Repräsentantin des städtischen Gesellschafts-
ten Kapitel in Westermann’s Illustrirten Deutschen Mo- lebens dargestellt ist. Das Mädchen selbst ist als Toch-
natsheften (s. Kap. E.76). In Buchform erschien Eine ter ihrer Mutter zwar ebenfalls Teil dieser Gesellschaft,
Halligfahrt erstmals 1873. Aus einem Brief an Pietsch scheint jedoch eher dem Halligkosmos anzugehören.
(Sommer 1873) geht hervor, dass eine Reise Storms Die sie umschwirrenden Möwen während des ge-
auf die Hallig Süderoog im Jahr 1869 als Inspiration zu meinsamen Spaziergangs unterstreichen ihre Schön-
der Novelle gedient hatte und dass der alte Vetter ein heit und ihre Nähe zu der Naturwelt der Insel. Zu-
Abbild des Dichters selbst darstellt. In Thematik und gleich ist sie als Figur jedoch nur wenig konkret aus-
Erzählweise ist Eine Halligfahrt von Heines Reisebil- gestaltet und dient in erster Linie als Projektionsfläche
dern beeinflusst, die Storm um die Entstehungszeit für die Wünsche des Erzählers.
der Novelle erneut gelesen hatte. Zu Beginn der Novelle erscheint Susanne als Alle-
Die Handlung der Novelle wird rückblickend aus gorie der Erinnerung und katalysiert damit den Er-
der Erinnerung des Erzählers berichtet. In seiner Ju- innerungsprozess, mit dem die eigentliche Handlung
gend nahm dieser an einer Ausflugsfahrt auf eine einsetzt. Das bei Storm insgesamt prominente Motiv
Hallig teil, um einen dort allein lebenden alten »Vet- der Erinnerung durchzieht auch Eine Halligfahrt auf
ter« zu besuchen. Dieser hatte sich, fliehend vor den mehreren Ebenen. So verleiht die nahezu prähistori-
»Rädern der Staatsmaschine« (LL 2, 46), auf diese sche Perspektive der Eröffnungspassage der Novelle
einsame Insel zurückgezogen. Während der Reise eine zeitliche Tiefenschärfe, durch die das Geschehen
scheint der Erzähler dem jungen Mädchen Susanne sub specie aeternitatis betrachtet wird. Im Kontrast zu
näher zu kommen, jedoch entwickelt sich trotz eini- der vom Vetter kritisierten Schnelllebigkeit der Ge-
ger Andeutungen gegenseitiger Zuneigung kein Lie- genwart gewinnt das längst Vergangene einen eigen-
besverhältnis. Einige Jahre darauf stirbt der Vetter, ständigen Wert. Das Erinnerte erscheint ebenso real
und der Erzähler erbt seine persönlichen Aufzeich- wie das gegenwärtig Existierende. Die während der
nungen. Aus diesen wird ersichtlich, dass zwischen Schifffahrt erzählte Rungholt-Sage illustriert dieses
dem Vetter und einer dem Erzähler unbekannten intrikate Gewebe von Sein und Schein, Gegenwart
Frau in späteren Jahren andeutungsweise ein Liebes- und Vergangenheit: Wie Rungholt ist auch der erzähl-
verhältnis bestanden hatte, das aber ebenfalls nicht zu te Gehalt der Novelle nur noch der erinnernden Rück-
einer Ehe geführt hatte. besinnung zugänglich. Der solchermaßen etablierte
Rückzug und freiwillige soziale Isolation sind vor- Zusammenhang zwischen der persönlichen Erinne-
herrschende Themen in der Novelle. Wie meist bei rung des Erzählers und der Sagenhandlung verleiht
Storm spielt die Handlung nicht im urbanen Raum, dem Gehalt der Binnenhandlung einen verklärten,
sondern an der geographischen und gesellschaftli- fast magischen Charakter. Die Figur Susannes steht
chen Peripherie. Dabei steht die Zivilisationsflucht dabei für eine nicht realisierte Glücksverheißung, die
des Vetters für dessen Kritik an den Zuständen der ebenso in der Vergangenheit verschwunden ist wie
Gegenwart: »Und so war er denn [...] in diese Meer- Rungholt in der See.
einsamkeit gezogen, wo er sich seiner Meinung nach Durch einige unwirklich anmutende Passagen wird
außer dem Bereich der verhaßten Maschine befand« der Traumcharakter des Erinnerungsprozesses noch
(LL 2, 46). Der eigenwillige Vergleich eines zahmen verstärkt. Dazu zählen die geheimnisvolle Musik, die
Sperlings mit dem Menschen (beide sind »an sich nachts über dem Meer zu hören sein soll, ein über der
ohne Wert, aber [tragen] die Möglichkeit zu allem Hallig schwebender und diese gleichsam bewachen-
Großen in sich«; 47) illustriert die Absage des Vetters der Möwenschwarm sowie die »Geister« (61), die den
an die menschliche Gesellschaft und zugleich seine Erzähler bei der Rückkehr zum Boot begleiten. Aus
Hinwendung zu Kunst und Wissenschaft in Gestalt dieser Gegenüberstellung der banalen Lebensrealität
seiner Bücher und Gemälde sowie der Büste Beetho- mit einer märchenartigen Gegenwelt spricht eine ro-
vens, anhand derer sich die potentielle Größe des mantische Sehnsucht nach einem Mehr an Bedeu-
Menschen manifestiert. Die Verbindung von Natur- tung, das über die Realität hinausweist. Damit ist
nähe und Kultiviertheit lässt die Hallig als ein Utopia Storms Novelle ein Beispiel für die Tendenz im Realis-

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176 III Werk – D Novellen

mus, bestimmte Motive und Thematiken der Roman- gleichen sich der Erzähler und der Vetter in ihren
tik fortzuschreiben. Hier kann allerdings die romanti- Fluchtbewegungen: Während der Vetter auch äußer-
sche Welt lediglich als peripheres Gegenstück zu der lich das Exil gewählt hat, befindet sich der Erzähler in
von Urbanisierung, Berufstätigkeit und sozialen Nor- einer Art inneren Emigration, die von Entsagung und
men bestimmten ›realen Welt‹ bestehen. Die Entzau- Erinnerung geprägt ist.
berung der Gegenwart hat bereits stattgefunden. Eine Halligfahrt stand lange Zeit nicht im Zentrum
Die Hallig erscheint somit als Insel in der ansonsten des Forschungsinteresses, jedoch gibt es seit Beginn
stets im Fließen begriffenen Zeit. In der räumlichen des neuen Jahrtausends einige Arbeiten zu der Novel-
wie zeitlichen Exklave des Vetters steht die Zeit still, le. Die Insel selbst wurde unterschiedlich gedeutet. Sie
sodass die Vergangenheit fortbesteht. Indem Einrich- kann als abgesicherter Raum und Alternative zur Ge-
tungsgegenstände mit individueller Bedeutung auf- sellschaft verstanden werden, in dem Beschädigtes
geladen werden, dienen sie als Zeugnisse vergangener (Menschen wie Dinge) zu einer utopischen Erfüllung
Ereignisse. Nach dem Tod des Vetters scheint diese gelangen kann (Thürmer 2006). In diesem Sinne stellt
›Gedächtnisinsel‹ zunächst dem Vergessen anheim- sie auch einen Fluchtort vor den Folgen der von Storm
zufallen, wenn er selbst ein immer von der Flut be- kritisch beurteilten Reichsgründung 1871 dar (Gold-
drohtes Grab auf der Hallig findet. Seine an den Erzäh- ammer 2003). Andererseits ist die Insel aber auch ein
ler vererbte Geige, die dieser seinerseits nur vererben Ort des Scheiterns und der Gescheiterten, und der
darf, steht jedoch für den Fortbestand der Erinnerung, Rückzug des Vetters eine Flucht in die selbsterwählte
ebenso die Papiere mit seiner persönlichen Geschich- Bedeutungslosigkeit (Lefebvre 2004). Thematisch
te. Der daraus resultierende lange Rückblick am Ende kann eine Verwandtschaft zu dem Gedicht Meeres-
der Novelle widerspiegelt die Thematik von Erinne- strand nachgewiesen werden: Beide Werke vereinen
rung und Vergessen und setzt sie zugleich in Szene. konkrete Beschreibung und traumartige Unwirklich-
Das die Novelle bestimmende Entsagungsmotiv ist keit bei der Darstellung von Meereslandschaften (Laa-
in Storms Werk häufig anzutreffen, wohl am promi- ge 2004).
nentesten in Immensee. Das nur als Möglichkeit ange-
deutete Glückspotential der Figuren, dessen Virtuali- Literatur
tät die ›Teleskopszene‹ noch unterstreicht, verleiht Goldammer, Peter: Halligfahrt und Mondschein. Storms
auch Eine Halligfahrt einen melancholischen Charak- und Raabes Reaktionen auf die Gründung des Deutschen
Reiches. In: Heinrich Detering/Gerd Eversberg (Hg.):
ter: »Es gibt Tage, die den Rosen gleichen; sie duften Kunstautonomie und literarischer Markt. Konstellationen
und leuchten, und alles ist vorüber; es folgt ihnen kei- des Poetischen Realismus. Berlin 2003, 137–144.
ne Frucht, aber auch keine Enttäuschung, keine von Jackson, David A.: Theodor Storms »Zerstreute Kapitel«. In:
Tag zu Tag mitschreitende Sorge« (61). Die innere Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 3
Welt des individuellen Gedächtnisses erhält den Vor- (2000), 123–143.
Laage, Karl Ernst: Theodor Storms Halligwelt und seine No-
zug vor der äußeren Sphäre realer Ereignisse. Das
velle »Eine Halligfahrt«. Heide 2004.
Sich-Bescheiden, der Verzicht auf ein erfülltes Leben Lefèbvre, Jean: Schuld und Scheitern in Theodor Storms No-
und die Treue in der Erinnerung machen Storms Fi- velle Eine Halligfahrt. In: STSG 53 (2004), 63–80.
guren zu Antihelden in einer von Fortschrittsoptimis- Thürmer, Wilfried: »alle Menschen als Kinder eines Sterns«.
mus und dem Glauben an das Machbare geprägten Zur Teleologie von Musik in Theodor Storms Erzählung
Zeit. Zugleich jedoch gewinnen sie durch die Pflege »Eine Halligfahrt«. In: Ralf Schnell (Hg.): Musikalität.
Stuttgart 2006 (= Zeitschrift für Literaturwissenschaft und
ihrer persönlichen Geschichte auch eine gewisse Au-
Linguistik 36), 82–99.
tonomie, die sie vor ihrer Zeit abschirmt. Insofern
Dagmar Paulus
49 »Draußen im Heidedorf« (1872) 177

49 »Draußen im Heidedorf« (1872) nacht, in der Hinrich das Haus verlässt, um nicht
mehr wiederzukehren.
Die zuerst 1872 in der Zeitschrift Der Salon für Litera- Während der Anhörung durch den Amtsvogt wird
tur, Kunst und Gesellschaft erschienene Novelle wurde der Leichnam des Vermissten im »wilden Moor« ge-
Ende 1871 oder Anfang 1872 begonnen und rekur- funden und nach Hause gebracht. Margreth läuft da-
riert auf einen authentischen Gerichtsfall aus dem raufhin ebenfalls hinaus und verschwindet »in den
Jahr 1866: eine Vermisstenanzeige bzw. einen Suizid- weißen Nebeln, die vom Moor herauf den Weg über-
fall im südöstlich von Husum gelegenen Rantrum, die schwemmt hatten.« (100) Der reiche Nebenbuhler
Storm als zuständiger Landvogt zu bearbeiten hatte. Hans Ottsen heiratet schließlich die Witwe Fehses,
Der homodiegetische Erzähler, ein Amtsvogt, wird an während das Schicksal des »Slowakenmädchen[s]«
einem Herbstabend zufällig Zeuge einer Szene zwi- Margreth dem Erzähler unbekannt bleibt: Sie ist in der
schen einem jungen Bauern und einer jungen Frau, »Menschenflut« einer unbekannten großen Stadt ver-
die dieser offenbar erotisch begehrt. Ein halbes Jahr schollen. (101)
später muss der Amtsvogt sich mit der Erbregulierung Mit der nüchternen, auf die Evokation elegischer
des hoch verschuldet verstorbenen Bauern Hinrich Stimmung verzichtenden Sprache der Novelle schien
Fehse befassen, in dessen ältestem Sohn gleichen Na- aus Storms Sicht »ein ganz neuer Ton« angeschlagen
mens er den Jungbauern wiedererkennt. Um die ver- (vgl. den Brief an Ludwig Pietsch, 15.10.1874; GB 2,
schuldete Hofstelle (»Hufe«) im Familienbesitz zu er- 83), den er selbstbewusst gegen den Vorwurf der Ver-
halten, hat der zum Vormund der unmündigen Kin- nachlässigung poetischer Schönheit zugunsten des
der bestellte Küster dessen Verehelichung mit der Charakteristischen zu verteidigen wusste (vgl. Laage
Tochter eines wohlhabenden Bauern vorgesehen. Um im Kommentar; LL 2, 809 f.). Zeitgenossen wie Heyse
jedoch das der Ehe »gefährliche Mädchen« (LL 2, 73), haben dies ebenso wie die literaturwissenschaftliche
die aparte, aus einer slowakischen Familie stammende Forschung bestätigt, die zudem die Perspektivität der
Hebammen-Tochter Margreth Glansky, aus dem Weg Erzählung durch einen keineswegs allwissenden Er-
zu schaffen, vermittelt der Küster sie »sechs Meilen zähler herausgearbeitet hat (Preisendanz 1968; Pastor
weit in die Stadt als Nähjungfer«. Zunächst scheint der 1995). Wie kein anderer Erzähler bei Storm zuvor ist
Plan zu gelingen: Hinrich Fehse heiratet die zehn Jah- der erzählende Amtsvogt in seinem Wissen völlig ab-
re ältere, »reizlos[e]«, aber mit reichlichem »Betriebs- hängig von den Mitteilungen anderer Figuren (v. a.
kapital« ausgestattete Frau und verlässt »das Gericht des Küsters, seiner Frau, der Mutter Hinrich Fehses
als ein gemachter Mann« (74 f.). Er knüpft indes das sowie Margreth Glankys). Im Gegensatz zu seiner rol-
Verhältnis zu Margreth wieder an, die bald auch wie- lenkonformen, beobachtenden Objektivität steht frei-
der im Dorf ist; für sie versetzt er nach und nach sein lich die mythische Gestalt des ›weißen Alps‹, die vom
Kapital, um ihre Vorliebe für städtisch-luxuriöse Klei- Erzähler selbst aus der Erinnerung an früher Gelese-
dung und Schmuck zu bedienen. Nicht lange Zeit spä- nes eingeführt wird: Dabei handelt es sich um »ein
ter aber ist Hinrich verschwunden und der Amtsvogt Ding, das einem weißen Faden gleicht [...]. Es wandert
daher erneut mit seiner Geschichte befasst; um die gegen die Dörfer, es stiehlt sich in die Häuser, und
Umstände des Verschwindens zu ergründen, bricht er wenn die Nacht gekommen ist, legt es sich an den of-
alsbald zum Hause des Küsters und schließlich auch fenen Mund der Schlafenden; dann schwillt und
zu Hinrichs Hof auf. wächst der anfänglich dünne Faden zu einer schwer-
Aufschlüsse über sein Verschwinden gibt ihm zu- fälligen Ungestalt. Am Morgen darauf ist Alles ver-
nächst die Erzählung der Küsterin, die von einem Ei- schwunden, aber der Schläfer, der dann die Augen
fersuchtsdrama zwischen Margreth, dem ihr schon auftut, ist über Nacht blödsinnig geworden; der weiße
von Jugend an verfallenen Hinrich Fehse und dem rei- Alp hat ihm die Seele ausgetrunken. Er bekommt sie
chen Nebenbuhler Hans Ottsen zu berichten weiß. Als nimmer wieder; weit auf die Heide hinaus in feuchte
der Amtsvogt Hinrichs Geliebte sowie die Mutter und Schluchten, zwischen Moor und Torf, hat das Unwe-
die Ehefrau des Vermissten verhört, werden weitere sen sie verschleppt.« (LL 2, 79) Dieser eigentlich orts-
Szenen dieser amour fou offenbar: Nachdem Margreth fremde Aberglaube, der aus den vom »slavischen Ur-
den Plan einer Auswanderung nach Amerika aus- stamm bewohnten Steppen an der unteren Donau«
geschlagen hat, schleudert Hinrich das dafür erlöste herrühren soll (79), wird vom Erzählbericht mit der
Vermögen in den Brunnen vor dem Hebammenhaus. mit slawischem Migrationshintergrund ausgestatte-
Die dramatischen Ereignisse gipfeln in einer Sturm- ten Margreth Glansky verknüpft (»ihr Großvater war

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178 III Werk – D Novellen

ein Slowak von der Donau«; 74). Der vampirhaften Hinrich?‹« (98) Damit bringt das Spukmotiv des ›wei-
Spukgestalt entsprechend wird sie von Beginn an ßen Alps‹ zugleich eine poetologische Funktion zur
durch die leitmotivische (viermalige) Hervorhebung Geltung: Indem der Erzähler in seinem Bericht ein
ihrer »weißen spitzen Zähne« und »schwarzen Au- mythisches Narrativ als subjektives, alternativ-irratio-
gen« gekennzeichnet. Dass Margreths Mutter neben nales Interpretationsangebot der Ereignisse einbringt,
der Hebammentätigkeit durch »Kartenlegen und Ge- bringt er den rekonstruierten Fall in eine narrative
schwulstbesprechen [...] den Dummen die Schillinge Ordnung, die ihn semantisch ambiguiert und ›poeti-
aus der Tasche lockt« (74), verstärkt ihre Verbindung siert‹, ohne vom Maßstab realistischen Erzählens
mit dem Irrationalen und die von ihr ausgehende Be- grundsätzlich abzuweichen. Dass dieses Narrativ
drohung der sozial-ökonomischen Ordnung. Als Ver- buchstäblich als ›weißer Faden‹ durch die ganze Er-
körperung einer fremden, weiblichen Erotik, die die zählung geht, verrät unwissentlich die Küstersfrau: »es
traditionsfeste, bäuerlich-patriarchalische Gesell- ist nur ein Faden, und der läuft bis heute hin.« (81)
schaftsform gefährdet und den ich-schwachen männ-
lichen Helden sogar wirtschaftlich und existentiell zu- Literatur
grunde richtet, impliziert die Figurendarstellung der Askey, Jennifer Drake: Authority and community in Theo-
Margreth das in Storms Novellistik häufige Motiv der dor Storm’s »Draußen im Heidedorf«. In: Seminar 35
(1999), 23–37.
Abwehr der begehrten, aber narzisstisch abgewehrten Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959,
Frau (vgl. dazu Stein 2006). Mit der physiogno- 270–275.
mischen Stilisierung zu tierhafter Sinnlichkeit wird Cozic, Alain: Un autre »village« sur une autre »lande«: la
Margreth tendenziell aus dem Bereich der Humanen nouvelle de Theodor Storm Draußen im Heidedorf; réécri-
ausgewiesen, so dass sie als Grenzfigur zwischen ra- ture d’un fait divers et exploration du réel. In: Pierre La-
baye (Hg.): L ’Allemagne, des lumières à la modernité. Ren-
tional beherrschbarer und unkontrollierbarer, irratio-
nes 1997, 183–195.
naler Natur erscheint, die ihrerseits an übernatürliche Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
Kräfte grenzt. Hinrich Fehses Mutter berichtet, un- scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001, 241–243.
mittelbar vor dem Fortgang ihres Sohnes in der Kunz, Josef: Theodor Storms Novelle »Draußen im Heide-
Sturmnacht habe »ein Tier durch den Fensterladen« dorf«. Versuch einer Interpretation. In: STSG 22 (1973),
geblickt, das weder Hund noch Wolf gewesen sei: »Ich 18–31.
Osterkamp, Ernst: Dämonisierender Realismus. Bemerkun-
sah ganz deutlich die weißen, spitzen Zähne und die
gen zu Theodor Storms Erzählkunst. In: Lars Friedrich/
schwarzen Augen!« (LL  2, 98) An weiteren Stellen Eva Geulen/Kirk Wetters (Hg.): Das Dämonische. Schick-
wird die »Slowaken-« oder »Hebammen-Margreth« sale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Pader-
mit einer Katze und einer Schlange verglichen. Die born 2014, 227–239.
Dehumanisierung erfasst freilich auch den Eingeses- Pastor, Eckart: »Du bist hier Partei!«. Theodor Storms No-
senen Hinrich Fehse, dessen Physiognomie mit dem velle »Draußen im Heidedorf« und ihre Erzähler. In:
STSG 44 (1995), 23–40.
hervortretenden »breite[n] Stirnknochen« (70) dem Preisendanz, Wolfgang: Gedichtete Perspektiven in Storms
im Stall an seiner Kette reißenden Bullen – psycho- Erzählkunst. In: STSG 17 (1968), 25–37.
analytisch leicht als sexuelle Triebkraft des ›Es‹ deut- Segeberg, Harro: Theodor Storm als »Dichter-Jurist«. Zum
bar – angeglichen erscheint. Jene Irrationalität unter- Verhältnis von juristischer, moralischer und poetischer
miniert aber auch den ›ordentlichen‹ Bericht der er- Gerechtigkeit in den Erzählungen »Draußen im Heide-
dorf« und »Ein Doppelgänger«. In: STSG 41 (1992), 69–
mittelnden Erzählerfigur selbst, die sich die rekon-
82.
struierten Vorgänge spontan mit Hilfe ihres Stein, Malte: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologi-
apokryphen ›Wissens‹ erklärt: »der weiße Alp fiel mir sche Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt
ein aus der Heimat ihres Großvaters, und ich hätte fast im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.
hinzugefügt: ›Ihr irrt euch, ich weiß es besser, Mutter Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Fehse, sie hat ihm die Seele ausgetrunken; vielleicht ist Bremen 1955, 305–308.
er fort, um sie zu suchen! Aber ich sagte nur: ›Erzählt Christoph Deupmann
mir ordentlich, wie wurde es denn weiter mit Eurem
50 »Pole Poppenspäler« (1874) 179

50 »Pole Poppenspäler« (1874) Heirat der Kinderfreunde und die Rückkehr in Paul-
sens Heimatstadt, wo letzterer mit Lisei ein solides,
Mit der Novelle Pole Poppenspäler verfasste Theodor glückliches Leben als Kunstdrechsler beginnt. Die letz-
Storm 1873 seine erste Auftragsarbeit, die 1874 in Juli- te zentrale Episode richtet den Fokus nun wiederum
us Lohmeyers neugegründeter Zeitschrift Deutsche auf das Puppenspiel, das der alte Tendler noch einmal
Jugend erschien und schnell zu einem dauerhaften, mit einer Abschiedsvorstellung zu beleben versucht.
außergewöhnlichen Publikumserfolg avancierte. Der Eine unglücklich komische Besetzung der biblischen
Arbeit ging eine Phase der Reflexion voran, in der sich Titelfigur Susanna (bezeichnenderweise ein Stück, bei
Storm intensiv mit Jugendliteratur befasste, um zu fol- dem eine aus Böswilligkeit angeklagte, unschuldige
gender Schlussfolgerung zu gelangen: »wenn du für Frau im Zentrum steht) sorgt schließlich für einen
die Jugend schreiben willst, darfst du nicht für die Ju- Eklat, bei dem Tendler während der Vorstellung ge-
gend schreiben« (LL 2, 847; zum ökonomischen Kal- schmäht und ausgelacht wird. Paul führt die Demüti-
kül Storms vgl. Pastor 1999). gung auf eine Gruppe von Handwerkern zurück, die
Dieser scheinbar paradoxen Sentenz entspricht in sich aus Missgunst gegen ihn positionieren. Damit ein-
gewissem Sinne schon die Struktur der Erzählung, die her geht ihr Versuch, Paul mit dem Schmähwort ›Pole
mit einer doppelten Rahmenerzählung das Verhältnis Poppenspäler‹ zusätzlich herabzusetzen. Tendler ver-
zwischen kindlichem bzw. jugendlichem Ich und geal- stirbt vor Gram und wird mit dem geliebten Kasperl
tertem Erzähler-Ich thematisiert: Der autodiegetische begraben (zu dessen leitmotivischem Einsatz vgl.
Erzähler erinnert sich an seine kindliche Affinität zum Scherer 2008, 51).
alternden Handwerker Paul Paulsen, dessen unge- Über das Medium Puppenspiel wird nochmals ein
wöhnlichen Spitznamen ›Pole Poppenspäler‹ er zufäl- neuer Erzählrahmen in Pauls Binnenerzählung ein-
lig hört. Darauf angesprochen schildert Paulsen bereit- geführt, insofern Teile der Aufführungen ausführlich
willig die Vorgeschichte dieser ursprünglich als Spott- nacherzählt und zum Teil wörtlich wiedergegeben
namen intendierten Anrede. Sein Bericht eröffnet die werden. Die Grenze zwischen der fiktionsinternen
zweite Rahmenerzählung mit einem Fokus auf die Binnenwelt und der fiktiven Rahmenwelt wird somit
Kindheits- und Jugenderlebnisse Paulsens, die mit der konkret zum Thema einer frühen Kunsterfahrung, bei
Ankunft der Puppenspielerfamilie Tendler – ein Ehe- der die Puppe den jungen Zuschauer »verzaubert«,
paar mit Tochter Lisei – beginnt. Schnell befreundet aber dennoch als Objekt erkannt wird. Die konzen-
sich Paul mit der Tochter, die ihn beim Puppenspiel trierte Vertiefung in das ästhetische Medium bleibt
hinter die Bühne eingeladen hat, wo der faszinierte somit an das unterschwellige Bewusstsein einer Duali-
Junge die Mechanik seiner Lieblingspuppe Kasperl be- tät geknüpft, das etwa zu Tage tritt, wenn Paul den
rührt und dabei prompt zerstört. Aus Schuldbewusst- Puppen ein »unheimliche[s] Leben« zuschreibt. Wäh-
sein verstecken sich die beiden Kinder nach der Vor- rend Rahmenerzählungen im Realismus oft als Be-
stellung, werden aber schließlich doch von den Eltern glaubigungsstrategie gedeutet werden, die den Reali-
im verschlossenen Vorführungsraum gefunden. Als tätsgehalt der Binnenerzählungen intensivieren, ste-
beide Kinder selbstlos füreinander bitten, bleiben sie hen die Puppenspielaufführungen für eine explizite
vor Strafen verschont. Weitere, mit dem bürgerlichen Alteritätserfahrung. Diese verdichtet sich in Pauls Be-
Wertespektrum übereinstimmende Tugenden werden gegnung mit der Puppenspieler-Familie, aber auch in
im Folgenden an den Tendlers sichtbar (insbesondere den Momenten der selbstreflexiven Nacherzählung
ihre vorausschauende Sparsamkeit) und erlauben eine des Puppenspielerlebnisses durch den nunmehr geal-
engere Verbindung beider Kinder. Nach der unver- terten Erzähler.
meidlichen Abreise der fahrenden Puppenspieler ver- Zugleich findet über das Puppenspiel ein umfas-
lieren sich Paul und Lisei aus den Augen, bis Paul, nun- sender Kanon an Bildungserzählungen Eingang in
mehr Geselle in einer anderen Stadt, vor dem örtlichen den Text, die von intertextuellen Referenzen auf den
Gefängnis eine verzweifelte junge Frau beobachtet; Faust bis hin zu Goethes epochalem Bildungsroman
erst als er ihr Hilfe anbietet, wird deutlich, dass es sich Wilhelm Meister reichen. In Goethes Wilhelm Meister,
um Lisei handelt. Lisei, mittlerweile Halbwaise, musste auf den in Pole Poppenspäler deutlich Bezug genom-
erleben, wie ihr Vater zu Unrecht verhaftet wurde. men wird, findet sich das Puppenspiel als entschei-
Auch wenn das Missverständnis aufgeklärt werden dendes frühkindliches Bildungserlebnis. Der Auto-
kann, erholt sich der Vater nur langsam von dem ehr- mat in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) lie-
beschädigenden Vorfall. Nichtsdestoweniger folgt die fert bekanntlich die Vorlage für Freuds Definition des

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180 III Werk – D Novellen

Unheimlichen; das hier einschlägige, von Freud be- lässt, um seiner Arbeit in einer anderen Stadt nach-
obachtete Changieren zwischen dem Heimlich-Ver- zugehen. Gleichzeitig behält er allerdings seine mora-
trauten und dem Fremden korrespondiert auffällig lischen Ursprungskoordinaten ebenso konsequent
mit Pauls kindlichen Beobachtungen. Nur wenige bei, wie er auch zu seinem räumlich-geographischen
Jahre vor Hoffmann hatte Kleist mit seinem Text Das Ausgangspunkt zurückkehrt. Verweist der Name
Marionettentheater (1810) eine wichtige theoretische Tendler auf Tändeln (was Grimms Wörterbuch als
Annäherung an das Medium formuliert, die sich »Tand verkaufen« oder »sich in leichtem losem spiel
ebenfalls mit der ontologischen Ambiguität von Pup- ergehn« definiert), so indiziert der Name Paul Paulsen
pen als Objekt befasst, aber – im Einklang mit dem in diesem Sinne sowohl eine klare Verbindung zwi-
triadischen Geschichtsmodell der Romantik – auch schen Vater (Vaternamen) und Sohn (Vorname) als
die Frage nach einem wiederzuerlangenden Zustand auch eine kohärente und moralisch verwurzelte Iden-
der Unschuld nach dem Sündenfall thematisiert – ei- tität. Damit liegt der Novelle mit ihrer ›unerhörten
ne Unschuld, so könnte man argumentieren, die Paul Begebenheit‹ eine spezifische Kontinuität zugrunde,
nie verloren geht: Alle Krisen, denen er nach seinem die bis in die zweite Rahmenerzählung weitergespon-
Missgeschick mit der Kasperl-Figur begegnet, erwei- nen wird, wenn Paul seine Geschichte wiederum mit
sen sich ausschließlich als exogen. Im Vergleich zu seinem jugendlichen Freund teilt. Auch der Spitz-
den prominenten, im Text aufgerufenen Entwick- name ›Pole Poppenspäler‹ verbindet das Fremde mit
lungsromanen – es finden sich überdies noch Bezüge dem Eigenen und verliert über die bewährte Lauter-
zu Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (1826) – er- keit Pauls jeden pejorativen Einschlag. Der Titel der
scheint Pauls Leben und berufliche Laufbahn merk- Erzählung betont mit dem Dialektalen zusätzlich die
würdig unberührt von den ästhetischen Erfahrungen, Gratwanderung zwischen Heimatverbundenheit und
insofern er seine erfolgreiche Tätigkeit als Handwer- Offenheit gegenüber dem Anderen (nämlich den süd-
ker bis ins hohe Alter mit Vergnügen verrichtet. Pauls deutschen Puppenspielern als dem von der bürger-
Sozialisation verläuft ohne die üblichen Krisenaus- lichen Lebenswelt Verschiedenen), das sich aber über
schläge, insofern er die Wertewelt seiner Eltern über- substantielle Werte als assimilierbar erweist. Die fiktiv
nimmt und das Elternhaus auch nur vorübergehend reale ästhetische Erfahrung Paulsens selbst bleibt da-
verlässt, um dann nach ihrem Tode als Familienober- bei allerdings inkommensurabel. Obgleich die Kas-
haupt zurückzukehren. Dadurch wird die eindring- perl-Puppe begraben wird, bleiben die Erinnerungen
liche Sozialkritik mit Blick auf kleinstädtische Diszip- an das Puppenspiel lebhaft und werden – gleich über
linierungsmechanismen »behaglich verklärt« (Sche- zwei Rahmenerzählungen vermittelt – an den Leser
rer 2008, 51). Bereits bei seinem unerlaubten Hantie- weitergegeben. Pauls Drechselarbeiten können dabei
ren mit der Kasperl-Puppe dokumentiert Paul ein als selbstreferentielle Evaluation einer realistischen
klares und tiefverwurzeltes Verständnis von Recht ›Poesie der Poesie‹ gelesen werden, die – im Rekurs
und Unrecht, das sich auch in seinem späteren Leben auf das ›Wunderbare‹ seines ästhetischen Erlebens –
ähnlich deutlich manifestiert, wenn er etwa einer das handwerkliche Können nicht nur an die klassische
Fremden beizustehen versucht oder seinen zukünfti- und romantische Tradition anbindet, sondern auch
gen Schwiegervater unterstützt. Seine Offenheit ge- den Übergang von Romantik zu Realismus reflektiert
genüber dem Anderen ist in diesem Sinne als mora- (vgl. Scherer 2008, 51, 66).
lisch selektive Öffnung zu verstehen, die ihr Fun-
dament in bürgerlichen Werten hat. Literatur
Damit unterscheidet sich Storms Erzählung auch Freund, Winfried: Theodor Storm. »Pole Poppenspäler«. Kö-
von Karl von Holteis Roman Die Vagabunden, dem nigs Erläuterungen, Bd. 194. Hollfeld 2003.
Frommholz, Rüdiger: Theodor Storms »Pole Poppenspäler«.
Storm entscheidende Anregungen entnimmt, was die Kinder- oder Künstlergeschichte? In: STSG 36 (1987), 19–
erwähnten Puppenspiele betrifft (Holteis Protagonist 36.
Anton erlernt unter anderem das Puppenspielerhand- Küchler, Ulrike: Marvellous mechanical marionettes. Theo-
werk). Antons ausgeprägte Wanderlust, die sich in dor Storm’s »Pole Poppenspäler« and the anatomies of
Holteis Romantitel pejorativ widerspiegelt, setzt sich art. In: Ashwin Manthripragada (Hg.): The threat and
allure of the magical. Selected Papers from the 17th An-
offensichtlich von der tiefen Heimatverbundenheit
nual Interdisciplinary German Studies Conference, Uni-
Paulsens ab. In diesem Sinne durchläuft Paulsen zwar versity of California, Berkeley. Newcastle upon Tyne
nominell die konventionellen Bildungsstadien, inso- 2013, 79–106.
fern auch er für eine gewisse Zeit den Heimatort ver-
50 »Pole Poppenspäler« (1874) 181

Pastor, Eckhart: Transformationen in eigener und fremder Scherer, Stefan: »Pole Poppenspäler«. Romantische Poesie
Regie oder: Zum Text-Prozeß Stormscher Novellen in den der Kindheit in realistischer Prosa der Erwachsenenwelt.
zeitgenössischen Medien. In: Gerd Eversberg/Harro Sege- In: Christoph Deupmann (Hg.): Theodor Storm, Novellen.
berg (Hg.): Theodor Storm und die Medien. Husumer Bei- Stuttgart 2008, 48–67.
träge zur Storm-Forschung, Bd. 1. Berlin 1999, 103–127.
Claudia Nitschke
182 III Werk – D Novellen

51 »Waldwinkel« (1874) so auch grundsätzlich um die Möglichkeit bzw. Un-


möglichkeit des Zusammenlebens zwischen Adel und
Theodor Storm verfasste die Novelle Waldwinkel im Bürgertum geht, wird dem Leser erst durch verschie-
Sommer 1874. Sie wurde noch im Herbst desselben dene Indizien signalisiert (vgl. Leyh 2011, 18 f.). Un-
Jahres in der Deutschen Rundschau veröffentlicht. Ein typisch ist die Novelle ferner, weil sie auch nicht über
Jahr später erschien sie als Buchausgabe in dem Band die für Storm charakteristische Rahmenerzählung
Waldwinkel, Pole Poppenspäler. Novellen. verfügt. Strukturiert wird die Novelle stattdessen
Zu Beginn der Novelle besucht ein bereits über durch zwei Szenen in einem Dorfkrug zu Beginn und
vierzigjähriger Botaniker namens Richard einen ehe- am Ende der Handlung, die die sogenannte Binnen-
maligen Studienfreund, der inzwischen Bürgermeis- geschichte kommentieren und perspektivieren.
ter einer Kleinstadt ist. Da Richard die Pflanzenwelt Wie Storm selbst erklärt hat, fiel ihm die Arbeit an
der umliegenden Gegend erkunden will, schlägt der dieser »etwas heiklen u. sehr schwülen Liebesgeschich-
Bürgermeister ihm vor, den »Waldwinkel«, im Volk te« (an Emil Kuh, 10.6.1874, Storm–Kuh, 138) beson-
auch »Narrenkasten« genannt, zu beziehen. In diesen ders schwer. An ihrem Ursprung steht ein »Motiv [...]
ehemaligen adligen Landsitz folgt ihm nicht nur seine aus dem wirklichen Leben«: »ein 14jähriges Mädchen
Wirtschafterin Wieb Lewerenz, sondern auch die jun- – ich habe die Untersuchung geführt – die von ihrem
ge Franziska Fedders. Nach dem Prozess zwischen Stiefvater, einem Schullehrer, übrigens einem schönen
Franziska und ihrem vormaligen Vormund, einem jüngeren Mann, brutalisirt war, machte mir den betref-
Magister, der eines nicht weiter präzisierten »versuch- fenden Eindruck« (an Emil Kuh, 27.11.1874, Storm–
ten Verbrechens« (LL 2, 224) gegen sie beschuldigt Kuh, 162). In der Novelle wird dieses Motiv an den An-
wird, hat Richard sie spontan zu sich eingeladen. In fang gesetzt, mit Rücksicht auf die Zensur jedoch be-
der nur scheinbar von der alltäglichen Welt abge- wusst von Storm gedämpft. Zugleich schildert er zwi-
schotteten Natur versuchen sie sich ein idyllisches Da- schen der jungen Franziska und dem älteren Richard
sein einzurichten. Allmählich entwickelt sich zwi- eine Liebesbeziehung, die in der Art und Weise, wie sie
schen Richard und Franziska eine Liebesbeziehung, dargestellt wird, bei mehreren Zeitgenossen Widerwil-
sodass sie ihm die Heirat vorschlägt. Indem Richard len und Kritik hervorgerufen hat. Theodor Fontane
diesen Vorschlag jedoch indirekt ablehnt und ihr spricht in verächtlicher Weise von der »Stimmung«,
stattdessen ein Vermögen zuteilt, bewirkt er ihre Dis- der »Schwüle« und dem »Bibber« (Erinnerungen an
tanzierung. Als Richard nach einer längeren Krank- Theodor Storm; Storm–Fontane, 178), die Storm in die-
heitsphase Franziska schließlich »unauflöslich fest« ser Novelle besonders weit getrieben habe. Das Ganze
(268) halten möchte und ihr die Ehe anträgt, ist es zu sei »der reine Quatsch, unwahr, eklig, raffinirt.« (ebd.)
spät. Nachts verschwindet Franziska mit ihrem Ver- Storm selbst gab schließlich gegenüber Paul Heyse zu,
mögen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen; Richards die Novelle sei »nun einmal eine niederträchtige Ge-
treuer Hund Leo wird am nächsten Tag von ihm tot schichte«, die für seinen Ruf zwar schädlich sein kön-
aufgefunden. Den Gerüchten im Dorf nach soll Fran- ne, »aber doch nun einmal geschrieben werden muß-
ziska mit dem einige Wochen zuvor angekommenen te« (Storm–Heyse I, 77).
jungen Förster geflüchtet sein. In dieser Novelle, die zunächst den Titel »Im Nar-
Aus erzähltheoretischer Perspektive ist Waldwinkel renkasten« tragen sollte, versucht Storm eine Idylle
eine für Storm recht ungewöhnliche Novelle. Im Un- heraufzubeschwören, um sie desto dezidierter zu ver-
terschied zu all jenen Novellen, deren Erzählerfiguren abschieden. Wie bereits der ursprüngliche Titel an-
direkt oder indirekt an der Handlung beteiligt sind, deutet, bezieht er sich dabei auf Adalbert Stifters Er-
erscheint der Erzähler in Waldwinkel – wie später etwa zählung Die Narrenburg, die im Jahre 1842 erstmals
auch in Hans und Heinz Kirch – zunächst als ein neu- als Journalfassung erschien. Dieser Text stellt einan-
traler Berichterstatter, der vom Rezipienten kaum der zwei kontrastreiche Welten gegenüber: die idyl-
wahrgenommen wird. Erst bei einer genaueren Lektü- lische Fichtau mit ihren rechtschaffenen Bürgern und
re wird deutlich, dass auch bei den Aussagen dieses die dunkle Burg Rothenstein der adligen und närri-
Erzählers höchste Vorsicht geboten ist, da er manches schen Scharnast-Familie. Mit aller erdenklichen Mü-
nur andeutet, zahlreiche Widersprüche und Unge- he versucht dort der Erzähler, die zerstörerische Welt
reimtheiten unkommentiert lässt und die Leser den- der adligen Familie zu erneuern. Dies gelingt ihm (in
noch durch subjektive Äußerungen lenkt. Dass etwa der Oberflächenstruktur des Textes) durch einen neu-
Richard adliger Herkunft ist und es in diesem Text al- en Bund zwischen Adel und Bürgertum: Heinrich, der

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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51 »Waldwinkel« (1874) 183

sich als ein verbürgerlichter Nachfahre des Grafen Ju- an diesem Verhältnis zweifeln und vor ihm zurück-
lius von Scharnast entpuppt, heiratet schließlich die schrecken. In sämtlichen, also auch in den erotischen
Tochter des Wirts, die bürgerliche Anna, und restau- Situationen ergreift zunächst Franziska die Initiative.
riert mit ihr das alte, im Volk als »Narrenburg« be- Als sich Richard dann aus Gründen der »Selbsterhal-
zeichnete Schloss. Die intertextuellen Bezüge zwi- tung« (268) doch zu einer Hochzeit entscheidet, ist es
schen Stifters Erzählung und Storms späterem Text – wie so oft bei Storm – zu spät.
sind überaus zahlreich: Neben inhaltlichen Parallelen Der Text erweist sich damit als eine klare Absage an
(in beiden Texten wird das Volk dem Adel gegenüber- die »Liebesreligion« (Demandt 2010, 181), die noch
gestellt; beide männlichen Protagonisten sind Botani- Storms frühere Werke (etwa Im Schloß) prägen. Die
ker, die die Natur der Gegend erkunden wollen; be- Beziehung zwischen Richard und Franziska wird zum
deutende Szenen spielen sich in einem Wirtshaus ab) einen mit einem Geschlechterkampf, zum anderen mit
sind auch Namensähnlichkeiten (der Hund »Philax« einer finanziellen Transaktion assoziiert. So sieht Ri-
in Die Narrenburg wird etwa zu »Phylax« in Waldwin- chard in der durch ihre »grauen Falkenaugen« (LL 2,
kel) festzustellen. Während aber Stifters Erzählung 237) charakterisierten Franziska nicht nur seine »ge-
noch einen Zukunftsoptimismus zu verkünden ver- liebte[] Feindin«, mit der er »auf Leben und Tod« ei-
sucht, weicht Storms Novelle einem bodenlosen Pessi- nen »Kampf« (241) zu bestehen hat. Er versucht diesen
mismus, insofern die Hoffnung auf eine Erneuerung Kampf auch ökonomisch aufzulösen, indem er ihr statt
des Adelstandes durch die Hochzeit mit einem bür- der Heirat »Staatspapiere« (258) schenkt – und erweist
gerlichen Mädchen als eine Utopie entlarvt wird. Wo somit zugleich die bürgerliche Ökonomie als Sub-
der Erzähler bei Stifter noch bemüht ist, »die trüben limierung einer agonalen, kriegerischen Konstellation.
Geschichten des Rothensteins« durch einen »heitern Richards Handeln muss jedoch auch insofern kri-
Ausgang[]« (Stifter 1980, 434) abzuschließen, hinter- tisch betrachtet werden, als er an Franziska einen Ver-
lässt der Stormsche Erzähler den Leser mit zahlrei- rat begeht. Indem er die Siebzehnjährige zu sich auf
chen Fragen: Am Ende der Erzählung verschwinden den »Narrenkasten« einlädt, übernimmt er symbolisch
Richard und Franziska spurlos. die Funktion des Vormunds, die zuvor noch der Ma-
An der Stelle der Idylle zwischen Heinrich und An- gister für sie innehatte. Wenn er nun aber selbst ein
na schildert Storm eine höchst problematische Liebes- Verhältnis mit ihr eingeht, überschreitet er eindeutig
geschichte, die bereits durch Richards offenbar schuld- die Grenzen des Legitimen und reproduziert das Ver-
beladene Vorgeschichte vorweggenommen wird. Ge- gehen, dessen der Magister beschuldigt wird, im ver-
rüchten zufolge hat dieser als junger Mann an einer meintlichen Schonraum der Natur – wodurch deutlich
»großen Studentenverschwörung« (LL 2, 229) teil- wird, dass auch dieser Schonraum bereits durch die
genommen, daraufhin »bei den Preußen« (ebd.) im bürgerliche Gesellschaft und ihre Handlungsstruktu-
Gefängnis gesessen und nach seiner Befreiung einige ren besetzt ist. Für Franziska, die sich im »Narrenkas-
Jahre später einen Baron, den vermeintlichen Lieb- ten« eine gewisse Sicherheit erhoffen konnte, bedeutet
haber seiner eigenen Frau, erschossen. Ausgerechnet dies eine weitere Desillusionierung. Wenn sie am Ende
Richard, von dem es heißt, er habe es »sich’s noch ei- mit dem Förster, der nicht den Anschein macht, »als
nen meilenlangen Prozeß [...] kosten lassen, um nur wenn er lange mit einer Einzigen zufrieden wäre« (LL
den Kopf aus diesem Eheknoten frei zu kriegen« (230), 2, 278), fortgeht, zeichnet Storm für sie somit keinen
wirkt nun beim geschilderten Prozess gegen den Ma- Weg ins Glück. Mit diesem scheinbaren Happy End
gister von der jungen Franziska regelrecht fasziniert. wird der pessimistische Grundton der Erzählung nur
»[V]or seinem inneren Auge« (226) entwickelt sich ein nochmals bekräftigt.
Bild idyllischer Zweisamkeit in der Natur. Zugleich Im Vergleich zu Stifters Erzählung sowie auch zu
gibt er jedoch etwas später zu, dass er sie zunächst nur mehreren Novellen Storms muss Franziska als eine
als eine »Zutat«, als eine »Bereicherung für die einför- Frauenfigur hervorgehoben werden, deren Gestaltung
migen Tage« (239) seines Lebens betrachtet hat. Die Storm ganz besonders gelungen ist. Im Text wird sie
Haltung, die er zu ihr entwickelt, ist dabei charakteris- bezeichnenderweise zugleich als ein »gescheites Ra-
tisch für die von Bindungsangst geplagten Stormschen ckerchen« (226), als ein »anziehendes Köpfchen«
Protagonisten (vgl. dazu Stein 2006, 12). Einerseits hat (226) und als ein »Prinzeßchen« (256) mit »Aschen-
Richard das Gefühl, »als müsse er sie [Franziska, V.L.] brödelfüßchen« (247) beschrieben. In diesem kom-
zerstören, um sie sicher besitzen« (244) zu können, an- plexen Frauenentwurf verbinden sich erotische Züge
dererseits lassen seine Vergänglichkeitsgedanken ihn mit Märchenmotiven und Anzeichen für Härte,
184 III Werk – D Novellen

Schärfe und Selbständigkeit. Anstatt hieraus auf Fran- Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 42/1
ziskas negativen Einfluss und die »›Verderbtheit‹ der (2011), 1–28.
weiblichen Natur« (Wenzel 2000, 161) zu schließen, Pastor, Eckart: Tugendbold und bibbernder Erotiker. Storm
und seine Novelle »Waldwinkel« im Urteil Fontanes. In:
müssen diese teils widersprüchlichen Charakterzüge Storm-Blätter aus Heiligenstadt 15 (2009), 5–21.
als eine Reaktion auf die moralische und ökonomi- Römhild, Dorothee: Der Hund als Falke. Zur poetologi-
sche Verfasstheit ihrer Umgebung und auf die von ihr schen und kulturgeschichtlichen Funktion des ›Löwengel-
erlebten Erfahrungen gedeutet werden. Indem Storm ben‹ in Storms Novelle »Waldwinkel«. In: Dies. (Hg.): Die
durch die Verknüpfung unterschiedlicher Motive aus Zoologie der Träume. Studien zum Tiermotiv in der Litera-
tur der Moderne. Opladen und Wiesbaden 1999, 25–58.
dieser Figur einen gemischten und höchst zwiespälti-
Royer, Jean: Erziehung zur Zweisamkeit in Storms »Wald-
gen Charakter gestaltet und ihr außerdem eine größe- winkel« und Raabes »Stopfkuchen«. In: Heinrich Dete-
re Handlungsfreiheit, einen eigenen Willen, Intel- ring/Gerd Eversberg (Hg.): Kunstautonomie und literari-
ligenz und Reife verleiht, ebnet er in dieser Novelle – scher Markt. Konstellationen des Poetischen Realismus.
wie auch etwas später in Zur »Wald- und Wasserfreu- Berlin 2003, 123–135.
de« mit der Figur Kätti – den Weg von einer noch Stifter, Adalbert: Die Narrenburg. Werke und Briefe. His-
torisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Alfred Doppler u.
überaus klischeehaften zu einer realistischen Frauen- Wolfgang Frühwald, Bd. I/4. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz
gestaltung. 1980.
Wenzel, Monika: Kein ›Winkel‹ in der Geschichte. Die trü-
Literatur gerische Idylle in Theodor Storms Erzählung »Waldwin-
Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor kel«. In: Cornelia Blasberg/Franz-Josef Deiters (Hg.): Ge-
Storm. Berlin 2010. schichtserfahrung im Spiegel der Literatur. Festschrift für
Leyh, Valérie: Die Narrenburg im Waldwinkel. Theodor Jürgen Schröder zum 65. Geburtstag. Tübingen 2000, 149–
Storms Auseinandersetzung mit Adalbert Stifter. In: 168.

Valérie Leyh
52 »Beim Vetter Christian« (1874) 185

52 »Beim Vetter Christian« (1874) bringt ansonsten neuen Schwung in die verstaubten
Alltagsroutinen ihres »früh vergreisten« Hausherrn
Storm bezeichnete seine erstmals 1874 im Salon für (127). Da dieser durchaus positiv auf die Impulse sei-
Literatur, Kunst und Gesellschaft abgedruckte Novelle ner neuen Angestellten reagiert, vermutet die An-
Beim Vetter Christian selbst als »ein kleines Kabinett- standsdame Caroline schnell eine geheime Liaison
stück« und trug diese gerne bei Lesungen vor. Der auf- zwischen den jungen Leuten. Das ohnehin schon
grund seiner humoristischen Anlage für den Schrift- spannungsreiche Zusammenleben der ungewöhnli-
steller eher ungewöhnliche Text, an dem Storm seit chen Ménage-à-trois gewinnt durch dieses Verdachts-
Herbst 1872 gearbeitet hatte, wurde bereits kurz nach moment in der Folge noch zusätzlich an Dramatik.
seiner Erstveröffentlichung zusammen mit Viola tri- Den Höhepunkt einer ganzen Reihe von Ausspä-
color, Lena Wies und Von heut’ und ehedem in der hungs- und Überwachungsversuchen der »Haus-
Buchausgabe Novellen und Gedenkblätter publiziert. tyrannin« (113) Caroline bildet dann ein skurriler
Inhaltlich kreist die Novelle um den Jung-Lehrer Lauschangriff, bei dem die Sittenwächterin zu nächt-
Christian, der nach dem Tod seiner Eltern plötzlich licher Stunde durch das Knarzen einer Tür derart er-
vor der Herausforderung steht, den elterlichen Besitz schreckt, dass sie auf dem Dachboden »wie in einem
zu verwalten. Obgleich der Protagonist als promovier- mittelalterlichen Folterbrette« mit dem Kopf die »Ta-
ter Akademiker beruflichen Erfolg hat und an der ört- petenbekleidung« durchstößt und eine herbeige-
lichen »Gelehrtenschule« schnell vom »Collaborator« sprungene Katze ihr ins Gesicht »pustet« (122). Auf
zum »Subrektor« aufsteigt, ahnt schon seine Mutter diese Slapstickeinlage folgt am nächsten Tag gleich ei-
»Jette« vor ihrem krankheitsbedingten Dahinschei- ne weitere Aktion mit ungewollter Komik. Denn
den, dass ihr schöngeistiger Sohn lebenspraktischer durch eine Denunziation, mit der Caroline Julies Mut-
Unterstützung bedarf. Diese Kontrollfunktion über- ter über das mutmaßliche Liebesverhältnis ihrer
antwortet sie der »alten Caroline«, einer greisen Ver- Tochter aufklärt, wird die Intrigantin unversehens zur
wandten, die der Hausdame schon vorher als Magd Ehestifterin. Frau Hennefeder, die ihren Schwieger-
zur Hand ging. Die Personalie entwickelt sich für den sohn in spe aufgrund seines vermeintlich unsittlichen
Junggesellen jedoch schnell zur Bürde, als er auf An- Betragens zur Rede stellt, bringt den Subrektor durch
raten seines Onkels die junge Julie Hennefeder als diesen unberechtigten Vorwurf erst dazu, sich seine
Haushälterin einstellt. Zwischen den beiden Frauen Gefühle für Julie einzugestehen und um die Hand des
entsteht ein verdecktes Konkurrenzverhältnis, das »schmucke[n], voll ausgewachsene[n] Menschen-
Storm in ihren Charakterisierungen humoristisch kind[es]« (105) anzuhalten. Die Novelle findet also
überspitzt: Während die alte missgünstige Jungfer ein versöhnliches Ende. Der bis dato »verwöhnte
selbst die ihr wohlgesonnene Mutter Jette »mit ihren Mensch« (126) Christian entscheidet sich – bestärkt
runden Augen in dem breiten Kopfe und den Borsten- durch das häusliche Glück – sein bürgerliches Engage-
härchen unter der krummen Nase« an einen »alten ment durch ein Mandat in der »Volksbank« auszuwei-
Schuhu« (LL 2, 103) erinnert, beschreibt der Erzähler ten; und der »zwar grimmige, aber getreue Hausdra-
ihre Rivalin Julie als »lieblich und rundlich, flink und che« (128) Caroline arrangiert sich nach der Geburt
behaglich, ein geborenes Hausmütterchen«, unter de- des ersten Kindes rasch mit der neuen Situation, so
ren geschickten Handgriffen sich alle »Dinge ge- dass, wie der Erzähler vermerkt, aus dem Küchenfens-
räuschlos, wie von selber, ordnen« (LL 2, 106). Die ter des Hauses bisweilen sogar der »grunzende Ge-
Rollen in dem »häusliche[n] Lustspiel« (so Keller ge- sang« der alten Jungfer zu vernehmen ist (130).
genüber Storm, Storm–Keller, 27) scheinen damit nur Der Titel Beim Vetter Christian deutet bereits die
allzu klar verteilt: An die Stelle der »zwei so überwie- Dezentrierung der Novelle an: Denn weder der anony-
gend energischen Frauennaturen« Caroline und Jette me Erzähler, der die vier Jahre zurückliegenden Ereig-
(LL 2, 102), die einstmals die Erziehung Christians nisse rund um seinen Verwandten schildert und dabei
übernahmen, tritt ein anderes, von Gegensätzlichkeit selbst nur in einer rudimentär ausgeprägten Rahmen-
geprägtes Frauenpaar, das unbemerkt die Geschicke erzählung in Erscheinung tritt (vgl. Korten 2009,
des unerfahrenen Hausherren leitet. Die für haushäl- 221 f.), noch der vermeintlich als titelgebende Gestalt
terische Tätigkeiten zu alte Jungfer Caroline achtet mit fungierende Protagonist selbst verfügt über genug
Argusaugen auf das Einhalten der strengen bürger- Handlungsmacht, um entscheidenden Einfluss auf den
lichen Sozialnormen, die junge Julie wiederum erfüllt Lauf der Dinge zu nehmen. Damit kann auch Chris-
mit selbstlosem Arbeitsethos ihre Aufgaben und tian, der selbst eher Gast denn Herr im eigenen Haus

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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186 III Werk – D Novellen

ist, als Vertreter des für Storms Werk paradigmati- gebrachten Ordnung, wie auch in der bis dato literatur-
schen Typus »marginalisierter Männlichkeit« gelten geschichtlich eher ›stiefmütterlich‹ behandelten Sozi-
(Connell 1994, 101 f.), dem die Forschung in den letz- alfigur der ›alten Jungfer‹, der Storm in der Person von
ten Jahren wiederholt nachspürte (vgl. Küng 2015). Caroline ein literarisches Denkmal setzt, das u. a. an
Schon Hans Meyer hat die Novelle in seiner Studie die aktuelle (literaturwissenschaftliche) Altersfor-
über Sonderlinge in der deutschen Dichtung in eine Rei- schung (vgl. Bachmaier 2015; Vedder/Willer 2012) an-
he von »Bekehrungsgeschichten« gestellt, in der sich schlussfähig scheint. Durch geschickte Leserlenkung
der »etwas unmündig[e] und hilflos[e]« Protagonist in gelingt es dem Erzähler, das schillernde Portrait einer
einen »geselligen, tatfrohen Normalmenschen« ver- betagten Außenseiterin zu zeichnen, deren Verschro-
wandelt, ohne diese Volte zum Guten jedoch selbst benheit in der Novelle auch als Folge altersbedingter
eingeleitet zu haben (Meyer 1990, 217 ff.). Durch die in Konflikte lesbar wird. Durch das Reüssieren ihrer
Beim Vetter Christian komödiantisch gewendete Le- Nachfolgerin gerät die einstige »Magd für Alles« (LL 2,
thargie der Hauptfigur tritt der Bruch zwischen der 102) zunehmend unter Legitimationsdruck, da ihr als
Vater- und Sohn-Generation, der den Übergang vom senile und unverheiratete Frau nur eine Nischenstel-
hegemonialen Männlichkeitskonzept der alten patri- lung im Rollentableau der bürgerlichen Gesellschaft
archalen Ordnung zu einem flexibler angelegten zukommt. Gleichwohl gewinnt die Figur der Caroline
Denk- und Handlungsmuster des männlichen Nach- gerade durch diesen Kampf um Anerkennung gegen-
wuchses markiert, umso stärker hervor. Dieser Menta- über den anderen Charakteren, denen ihre Arbeit und
litätswandel verdankt sich in der Novelle nicht zuletzt Familie relativ stabile Verhaltensformen vorgeben, we-
des todesbedingten Aufbrechens der traditionellen fa- sentlich an Tiefenschärfe. Beim Vetter Christian ent-
miliären Verbände, das neue soziale und politische wirft in Ansätzen also das Psychogramm einer ›alten
Energien freisetzt und den Halb- bzw. Vollwaisen Julie Jungfer‹, die ähnlich wie die Schwester von Carsten
und Christian eine Verbindung über Standesgrenzen Curator in Storms gleichnamiger Novelle als Unver-
hinweg ermöglicht. Indem der Erzähler gleich zu Be- heiratete die Funktion eines moralischen Korrektivs
ginn die Entwicklungshemmung des Protagonisten als übernimmt, sich dadurch aber nur umso mehr in eine
gebundene »Elektrizität« bezeichnet und mit den missliche Lage manövriert: Während das junge »rosi-
»energischen Frauennaturen« erklärt (LL 2, 102), die ge[] Mädchen« (106) Julie diskret ihre weiblichen Rei-
ihn an seiner persönlichen Entfaltung hindern, kop- ze einzusetzen versteht und mit ihrem Charme bei ih-
pelt er die Novelle qua physikalischer Metaphorik an rem Arbeitgeber und dem Rest der Großfamilie punk-
die Dynamik dieses gesellschaftlichen Transformati- tet, ist die in strengen Hierarchien sozialisierte Caroli-
onsprozesses. Durch Julies Eintritt in den Haushalt ne auf ein defensives Verhaltensrepertoire festgelegt,
entsteht sprichwörtlich ein neues Energiefeld, das das sie gegenüber ihrer Nachfolgerin ins soziale Ab-
Christian den Ausbruch aus der Mutter-Kind-Dyade seits drängt und sie überhaupt ›entbehrlich‹ zu ma-
erlaubt. Als Vertreter einer neuen Männergeneration chen scheint. Die antagonistische Dreiecksbeziehung
pflegt Christian im Umgang mit seinen Mitmenschen von Christian, Caroline und Julie löst sich bezeichnen-
fortan einen kommunikativen Stil, knüpft zugleich derweise erst durch den Nachwuchs der frisch ver-
aber an Familienbräuche an, indem er die Feste, die mählten Eheleute auf, der den Akteuren neue Zustän-
sein Vater einst für die Verwandtschaft organisierte, digkeiten bzw. altersgerechte Rollen verschafft: Julie
mit Julies Hilfe wieder aufleben lässt. Eine tiefgreifen- die einer Ehefrau von Rang und Caroline die einer Er-
de Subversion der sozialen und politischen Machtver- satz-Großmutter, die sich nun nicht mehr als unlieb-
hältnisse bleibt in Storms Novelle also aus, wie auch same Sittenwächterin profilieren muss, sondern wie-
Christian und Julie sich alsbald in den angestammten der im Haushalt gebraucht wird.
Rollenmustern einrichten: Sowohl die servile und lieb-
reizende Julie, die sich gewissenhaft um den Haushalt Literatur
kümmert, wie auch ihr sich auf seine repräsentativen Bachmaier, Helmut: Lektionen des Alters. Kulturhistorische
Aufgaben konzentrierender Mann fügen sich – nach Betrachtungen. Göttingen 2015.
Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und
einem kurzen turbulenten Intermezzo – geräuschlos in Krise von Männlichkeiten [1995]. Wiesbaden 32006.
die vorgegebenen Zuständigkeitsbereiche von Mann Ebersold, Günther: Politik und Gesellschaftskritik in den No-
und Frau. Das moderne Potenzial von Storms Novelle vellen Theodor Storms. Frankfurt a. M./Bern 1981.
besteht daher wohl vor allem in der poetischen Model- Eversberg, Gerd: Erläuterungen zu Theodor Storm »Viola
lierung eines zeitweisen Außerkraftsetzens der her- tricolor«, »Beim Vetter Christian«. Hollfeld 1984.
52 »Beim Vetter Christian« (1874) 187

Hippe, Robert: Erläuterungen zu 25 ausgewählten Gedichten lichkeit und Individualität bei Theodor Storm, Theodor
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tian«, »Viola tricolor«, »Hans und Heinz Kirch«. Hollfeld Laage, Karl Ernst: Begegnungen mit Theodor Storm. Heide
1968. 2015.
Korten, Lars: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre Meyer, Herman: Der Sonderling in der deutschen Dichtung
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Küng, Peter: Die Krise der liberalen Anthropologie in der Li- Vedder, Ulrike/Willer, Stefan (Hg.): Schwerpunkt: Alter und
teratur des Bürgerlichen Realismus. Männlichkeit, Bürger- Literatur. Zeitschrift für Germanistik 22/2 (2012).

Philipp Hubmann
188 III Werk – D Novellen

53 »Viola tricolor« (1874) insbesondere die Mutter-Problematik sowie die sich


offenbarenden patriarchalischen Strukturen ins Zen-
Entstehung, Kontext, Forschung
trum seiner Ausführungen.
Nachdem Theodor Storm die Arbeiten an Viola trico-
lor wohl im Juni 1873 begonnen hatte, erschien die
Inhalt
Novelle im März des Jahres 1874 in Westermann’s Il-
lustrirten Deutschen Monatsheften (vgl. Kommentar, Viola tricolor erzählt von den Problemen, die sich ent-
LL 2, 830 f.). wickeln, als die jung verheiratete Ines versucht, ihren
Schon der Titel verweist auf das zentrale Motiv der Platz an der Seite ihres deutlich älteren Ehemannes
Novelle, nämlich die Integration einer neuen Ehefrau Rudolf und dessen Tochter aus erster Ehe – Agnes, ge-
in eine bestehende Familie (lat. ›viola tricolor‹ für nannt Nesi – einzunehmen. Zu ihrer Stieftochter fin-
Stiefmütterchen) – eine Konstellation, mit der Storm det Ines keinen Zugang und das Haus erscheint ihr
aus eigener Erfahrung vertraut war: Nach dem Tode eher als Bürde, denn als Heim. Böses schwant der jun-
seiner ersten Frau heiratete er im Jahre 1866 seine Ju- gen Frau, als sie feststellen muss, dass die verstorbene
gendliebe Dorothea Jensen, die fortan für den Haus- erste Frau, Marie, mittels eines Portraits von Vater und
stand des Dichters sowie seine sieben Kinder verant- Tochter in verklärter Erinnerung lebendig gehalten
wortlich war. Ähnlich wie ihr Pendant in Viola trico- wird und so die von Ines angestrebte Rolle als ›Mutter‹
lor, empfand auch sie die neuen Anforderungen und noch immer besetzt hält. Die unverarbeitete Vergan-
Lebensumstände als eine enorme psychische Belas- genheit des Hausherrn wird symbolisiert durch einen
tung (vgl. 832). Weitere biographische Parallelen zur an das eigentliche Grundstück angrenzenden Garten,
Novelle bilden die Benennungsproblematik rund um in welchem er einst Marie zum ersten Mal erblickte
das Wort ›Mutter‹ und die Wende, die mit der Geburt und der ihm als Ort der Erinnerung an die Verstorbe-
eines eigenen Kindes eingeleitet wird (vgl. 831 f.). ne dient. Als Ines schwanger wird, steigert sie sich
Struktur und Gehalt des Textes lassen sich gleichwohl mehr und mehr in den Gedanken hinein, dass die Tote
nicht simplifizierend im Rückgriff auf den lebens- immer noch die rechtmäßige Frau Rudolfs sei und ihr
geschichtlichen Hintergrund erklären. eigenes Kind somit als Bastard angesehen und versto-
Von Storms Zeitgenossen wurde Viola tricolor ßen werden könnte. Gequält von ihren Ängsten, un-
durchweg positiv aufgenommen (vgl. 834). Auch der ternimmt sie in einem Zustand zwischen Traum und
Dichter selbst hielt viel von seiner Erzählung, betrach- Wachen einen vergeblichen Fluchtversuch. Ein Wen-
tete sie gar, wie er an Ada Christen schrieb, »als Mus- depunkt für alle Beteiligten ergibt sich erst, als Ines im
ter« für die Gattung der Novelle (GB 2, 84). Dem- Kindbett zu sterben scheint: Für Rudolf droht sich das
gegenüber spielte der Text in der jüngeren Forschung schon einmal erlebte Trauma zu wiederholen und Ines
eine eher untergeordnete Rolle. In der Mehrzahl sind gibt im Angesicht des eigenen Todes ihre Opposition
dabei psychoanalytisch geprägte Interpretationen, wie gegen das Andenken Maries auf. Am Ende steht die
etwa der Aufsatz von Eric Downing (1991), der die Versöhnung der neuen Familie im vormals verschlos-
Novelle mit Edgar Allan Poes Erzählung Ligeia von senen Garten.
1838 in Verbindung bringt. Downing arbeitet latent Obwohl die Stiefmutterproblematik im Zentrum
wirkende, verbotene Verlangen heraus, die die Trieb- der Erzählung steht, liegt der Fokus nicht allein auf
federn für das Handeln der Figuren bilden. An diese Ines, sondern auch auf den Konflikten, mit denen Ru-
Lesart knüpft auch Malte Stein (1999) an und ent- dolf und Nesi belastet sind. Der Text verzichtet dabei
wickelt eine Analyse des weiblichen Wunsches nach weitgehend auf einen auktorialen Erzähler, der die
von Sexualität abgekoppelter Mutterschaft und der Problematik für den Leser kommentiert oder auf-
damit verbundenen Identitätskrisen. Beide Texte un- bereitet (vgl. Neumeyer 2007, 110). Stattdessen be-
tersuchen den Zusammenhang, den die Novelle zwi- schränkt er sich oft auf eine reine Beschreibung der Si-
schen Bildern, Mutterschaft und Tod herstellt. Mit der tuation und des Gesprochenen. Tiefere, direkte Ein-
Wirkmacht der Bilder in Viola tricolor setzt sich auch blicke in die Gedankenwelt oder die Erinnerung der
Nicolas Jentzsch (2010) auseinander. In einer struk- Figuren werden nur sporadisch gewährt. Typisch für
turalistischen Analyse legt Mark G. Ward (1999) dar, Storm ist, dass im Zentrum der Novelle kein unerhör-
wie Ines’ Konflikt in der Erzählung inszeniert wird. tes Ereignis steht, sondern sie durchwegs von be-
Auf die biographischen Aspekte des Textes geht stimmten Konflikten getragen wird (vgl. Neumeyer
schließlich David Jackson (2000) ein und stellt dabei 2007, 103). Inszeniert werden diese auch anhand von

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_53, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
53 »Viola tricolor« (1874) 189

leitmotivisch eingesetzten Symbolen, wie dem »Gar- Rudolfs rechtmäßige Frau sei. Sie selbst entsprechend
ten der Vergangenheit« (LL 2, 148) oder dem Bildnis eine Ehebrecherin und ihr Baby »ein Eindringling,
Maries (vgl. Neumeyer 2007, 110 f., 116). ein Bastard [...] im eignen Vaterhause« (149). Ein Ge-
danke, den sie zunächst »zu verscheuchen« sucht,
doch »er kam immer wieder und immer mächtiger«
Die Stief-›Mutter‹-Problematik
(149). Ines ist in ihrer »Todesangst« (149) gefangen,
Ines erkennt die familiären Verhältnisse in ihrem neu- die es ihr auch verbietet, sich Rudolf mitzuteilen.
en Heim sofort. Als sie die Rose sieht, die »wie glü- Schließlich entlädt sich der unverarbeitete Konflikt
hend« (LL 2, 137) auf dem Rahmen von Maries Por- im Symptom des Schlafwandelns: Verfolgt von Schre-
trait liegt, greift sie sich ans Herz und es heißt: »Ach, ckensvisionen unternimmt Ines einen nächtlichen
diese Tote lebte noch, und für sie Beide war doch nicht Fluchtversuch. Dessen Bedeutung erhellt sich durch
Raum in einem Hause!« (137). Mit ihrem Einzug tritt eine Strukturanalogie: Als Schlafwandlerin hat Ines
Ines so in stille Konkurrenz zu einer Toten, denn Nesi bereits an ihrem 13. Geburtstag das Madonnenbild
und Rudolf »betreiben einen Erinnerungskult um die von der Wand geholt und ist am nächsten Morgen mit
verstorbene Mutter« (Stein 1999, 110), der sich in ei- dem zerbrochenen Bild in ihren Armen erwacht. Im
ner Fixierung auf das Portrait manifestiert. Entspre- psychiatrischen Diskurs des 19. Jahrhundert galt das
chend verweigert Nesi ihrer Stiefmutter die Anrede Schlafwandeln, generell: das Auftreten somnambuler,
›Mutter‹ (vgl. Jentzsch 2010, 75). Diesem Wort wird ekstatischer oder kataleptischer Zustände als Symp-
dabei eine besondere Bedeutung beigemessen: Rudolf tom der Hysterie, die wiederum mit der (weiblichen)
legt dar, wie die Bindung zwischen Nesi und ihrer Abwehrhaltung gegenüber der eigenen sexuellen Ent-
Mutter einst durch dieses Wort gestiftet wurde: »Auch wicklung in Verbindung (altgr. ›hystéra‹ für Gebär-
über Nesi haben einst zwei selige Augen so geleuchtet; mutter) gebracht wurde (vgl. Ellenberger 1973,
dann schlug sie den kleinen Arm um einen Nacken, 210 f.). In diesem Zusammenhang ist es interessant,
der sich zu ihr niederbeugte, und sagte: ›Mutter‹!« (LL dass Ines’ somnambule Zustände stets in Schwellensi-
2, 140). Mutterschaft wird so zu einer Frage der Be- tuationen auftreten, die mit dem sexuellen Reifepro-
nennung (vgl. Stein 1999, 128). Den Ausweg ›Mama‹, zess und Mutterschaft konnotiert sind (vgl. Stein
den Nesi anbietet, kann Ines nicht akzeptieren, denn 1999, 119 f.). Die erste bezeichnet den Übergang von
für sie gibt es in diesem Punkt keine Kompromisse. der Kindheit zum Erwachsenenalter und die zweite
Diese Haltung erklärt sich aus einem früheren Erleb- ist der endgültige Schritt vom Mädchen zur Frau, wel-
nis: Als Dreizehnjährige offenbart sich durch ihre Ver- cher sich mit der Schwangerschaft vollzieht: Als Drei-
liebtheit in die Abbildung des Jesuskindes auf einem zehnjährige offenbart sich in der Sehnsucht nach dem
Madonnenbild zum ersten Mal ihr »Mutterinstinkt« Jesuskind ihr Mutterwunsch und als werdende Mut-
(Jackson 2000, 155; Stein 1999, 116). Mit diesem Mut- ter strebt sie zurück zu ihrer Mutter. Zudem wird
ter-Vorbild, strebt Ines, wie Ward erklärt, nach einem Mutterschaft in der gesamten Erzählung als losgelöst
kompromisslosen und »archetypische[n] Bild der von Sexualität inszeniert (vgl. Stein 1999, 111 f.,
Mutterschaft« (Ward 1999, 153). Auch die Position 116 f.): Nesis Erklärung, die Kinder kämen »vom lie-
der Ehefrau ist für Ines untrennbar verbunden mit der ben Gott« (LL 2, 154), verweist auf die jungfräuliche
Position der ›Mutter‹. Entsprechend wirft sie Rudolf Empfängnis – worin sich die Tochter sowohl mit ihrer
vor: »Wenn du sagen kannst: Sie ist ja nicht dein Kind, Stiefmutter als auch mit ihrer Mutter verbindet; Ines’
warum sagst du denn nicht auch: Du bist ja nicht mein Mutterimago wird durch die heilige Jungfrau be-
Weib!« (LL 2, 140). Das Infragestellen ihres Anrechts stimmt, und Marie existiert nur als Portrait und da-
auf die Mutterposition stellt somit in ihren Augen zu- mit als Frau ohne Unterleib. Hinzu kommt, dass Mut-
gleich die Legitimität ihrer Ehe und damit ihre Iden- terschaft als eine Frage der Benennung erscheint und
tität in Frage. sämtliche Namen der zentralen Frauenfiguren auf
Rudolf wendet sich, anstatt seiner neuen Frau bei- Keuschheit verweisen: Marie als die heilige Jungfrau;
zustehen, trostsuchend an die Verstorbene. Entspre- Agnes – und ebenso Ines, die spanische Form dieses
chend fühlt sich Ines nicht verstanden und betrogen. Namens – leitet sich vom griechischen ›hagnos‹ ab,
Sie gerät in eine psychische Krise, die durch ihre was ›rein‹ oder ›geheiligt‹ bedeutet. Die Verbindung
Schwangerschaft auf ein neues Level gehoben wird: der drei Figuren geht allerdings weit über die etymo-
An der Legitimität ihrer Ehe zweifelnd verfällt sie logische, bzw. im Falle von Ines und Nesi ebenfalls
dem Gedanken, dass im Grunde immer noch Marie anagrammatische Ebene hinaus, denn bezeichnend
190 III Werk – D Novellen

ist auch die explizit betonte optische Ähnlichkeit zwi- rum Alles sonst so schwer gewesen ist!‹« (LL 2, 159).
schen Stiefmutter und Stieftochter (135). Das lässt Die alten Wünsche und Ängste scheinen vergessen.
sich einerseits als eine von Anfang an angelegte »in- In der neuen Rolle als ›Mama‹ gibt Ines ihre ableh-
nere Verwandtschaft« (Kommentar, LL 2, 836) lesen, nende Haltung gegenüber Marie auf und bietet sogar
wie sie die beiden schließlich zu finden scheinen. An- an, zu der Bewahrung ihres Andenkens beizutragen.
dererseits ehelicht Rudolf damit eine Doppelgängerin Wie weit ihre Bereitschaft geht, sich in den Totenkult
seiner Tochter, womit eine inzestuöse Beziehungs- zu integrieren, zeigt ihr Wunsch bezüglich des Por-
struktur zumindest angedeutet wird (vgl. Downing traits: Sie möchte das Bild »in dem Zimmer [auf]
1991, 296 f., 300; Stein 1999, 128, 137). Unterstrichen hängen, das uns gemeinschaftlich gehört« (159), also
wird diese Lesart dadurch, dass nicht nur Ines, son- in dem bereits zuvor erwähnten »gemeinschaftlichen
dern auch Nesi Ambitionen hinsichtlich der Position Schlafgemache« (149). Aus der zweiten Ehe wird da-
der ›Mutter‹ und damit auch der Position an Rudolfs mit endgültig eine ›Ehe zu dritt‹.
Seite erkennen lässt (vgl. Downing 1991, 295, 300 ff.; Die Lösung der familiären Probleme beruht somit
Stein 1999, 112 f., 115 f., 137). So sind es Nesis Augen, darauf, dass Ines ihr altes Ich hinter sich lässt, um die
die »vor Entzücken« (LL 2, 157) leuchten, als sie mit »rechte[]« (162) Frau für Rudolf zu werden – und
ihrem Vater vor der Wiege des neuen Babys steht – nicht, wie dieser glaubt, einzig auf der kathartischen
ein Moment, der laut Rudolf eigentlich die innige Wirkung der Mutterschaft. So nimmt Ines direkt nach
Verbindung zwischen Mutter und Kind stiften sollte der Entbindung noch immer die Position der Außen-
(vgl. 140). Auch beim Einzug in den »Garten der Ver- seiterin ein: Die Wiege des Säuglings steht nicht, wie
gangenheit« (148) ist das Kleine unter der Obhut von man erwarten sollte, neben Ines’ Bett, sondern »unter
Nesi und so erscheint letztlich das Stieftöchterchen der Hut der alten Anne an der anderen Seite des Zim-
als »Stiefmütterchen« (Stein 1999, 116). mers« (156). Die Wiege wird erst an das Bett der Mut-
ter gerückt, nachdem diese Rudolf ihren Gesinnungs-
wandel offenbart hat. Sich ihrem Mann unterzuord-
Der Wendepunkt: Von der ›Mutter‹ zur ›Mama‹
nen, ist der Preis, den Ines zu zahlen hat, wenn sie als
Nach der Geburt des Kindes erreichen Ines’ Krise Mitglied der Familie akzeptiert werden will (vgl. Ward
und ihr Gefühl der Entfremdung ihren Höhepunkt: 1999, 148, 155). Die scheinbar glückliche Wendung
Sie erkennt ihr eigenes, von Krankheit und Tod ge- für Ines erweist sich noch in zwei weiteren Punkten als
zeichnetes Spiegelbild nicht. Erst jetzt realisiert sie suspekt: Zum einen bleibt ihr die ersehnte Rolle der
die Bedeutung, die einem Portrait angesichts des ›Mutter‹ sogar in Bezug auf ihr eigenes Kind versagt,
drohenden Todes zukommen kann (vgl. Jackson denn diese wird, wie oben erwähnt, von Nesi ein-
2000, 157). Einerseits dient es den Hinterbliebenen genommen. Zum anderen ist das grundsätzliche Pro-
als Medium der Erinnerung, andererseits stiftet es als blem, unter dem Ines leidet, noch nicht gelöst: Mit
Medium der Identitätswahrung den Seelenfrieden Blick auf das Jenseits befürchtet sie immer noch, von
einer sterbenden Mutter. Ines befürchtet, dass ihr Rudolf verlassen zu werden (vgl. LL 2, 162). Die Eifer-
Kind sie nie kennenlernen, sich nie eine Vorstellung sucht auf Marie und der Konkurrenzkampf mit der
von seiner Mutter wird machen können. Ohne ein Toten werden also nicht aufgelöst, sondern lediglich
Bild droht ihr somit das Vergessen und damit die unterdrückt, verschoben auf die Nachwelt.
völlige Auslöschung. Diese Erfahrung ändert auch
ihre Einstellung zu Marie und der Position der ›Mut-
Rudolf im »Schutt der Vergangenheit«
ter‹: Nun, da ihr ein ähnliches Schicksal wie ihrer
Vorgängerin droht, ist Ines in der Lage, den Erinne- Das Problem, welches die Ehe von Ines und Rudolf
rungskult um die Verstorbene zu akzeptieren (vgl. überschattet, hat seine Wurzeln in Rudolfs Vergan-
Schilling 1995, 45, 48), schließlich will auch sie selbst genheit: Er ist nach Maries Tod fixiert auf eine Ver-
dereinst »nicht gern vergessen werden« (LL 2, 157). storbene, die zu einem unberührbaren Heiligtum
Erkennend, dass sie die Rolle der ›Mutter‹ nie ein- wird. Ihr Portrait, welches sich inmitten des »Schutt[s]
nehmen kann, ist sie nun bereit, die von Nesi erneut der Vergangenheit« (LL2, 133), mit dem sich Rudolf in
angebotene Rolle der ›Mama‹ anzunehmen (vgl. seinem Arbeitszimmer umgibt, wie ein Altar für die
Ward 1999, 155). Aus dem folgenden, langen Schlaf Verstorbene ausnimmt, dient ihm dazu, sich die flüch-
erwacht Ines buchstäblich als neuer Mensch: »›Mir tigen Erinnerungen an die gemeinsame Vergangen-
ist so leicht!‹ sagte sie. ›Ich weiß gar nicht mehr, wa- heit bei Bedarf wachzurufen (vgl. Neumeyer 2007,
53 »Viola tricolor« (1874) 191

115). Diese starke Bindung an Marie versperrt Rudolf sichtbaren Metapher für Rudolfs abgeschlossenes In-
den Zugang zu seiner neuen Frau (vgl. Neumeyer nenleben, sein unverarbeitetes Trauma, erlitten
2007, 116; Ward 1999, 147). durch den Tod Maries (vgl. Ward 1999, 147): »Drun-
Optisch ist Ines nicht nur das Ebenbild Nesis, son- ten in dem kleinen Garten lag das wuchernde Ge-
dern vor allem auch das genaue Gegenteil von Marie. sträuch wie eine dunkle Masse« (LL 2, 144). Dunkel-
Rudolf wählt also eine zweite Frau, deren Aussehen heit und Wildwuchs zeichnen auch Rudolfs Umgang
ihm ermöglicht, eine klare Trennung zwischen den mit seiner Vergangenheit aus: Zum einen spricht er
beiden Ehefrauen aufrecht zu erhalten. Er möchte kei- nicht darüber und zum anderen wächst seine emo-
ne Kopie von Marie, denn diese ist ihm heilig, und tionale Bindung an die Verstorbene durch die Proble-
noch am Ende der Novelle betont er, dass ihm das in- me in der Ehe mit Ines noch weiter an. Seine Bindung
nere Bild, das er von ihr hat, auf keinen Fall ȟbermalt an Marie in Frage zu stellen ist jedoch ein Tabu und
werden« (LL 2, 162) soll. Was Rudolf sucht, ist eine so bleibt Rudolfs traumatische Vergangenheit ebenso
Frau, die seine starke Bindung an die Verstorbene ak- unberührt wie der Garten. Indem er diesen ab-
zeptiert und sich in das etablierte familiäre System schließt, ist ihm ein Abschließen mit dem Erlebten
einfügt und keine, die versucht, Marie die Position der nicht möglich. Zwar bietet er Ines den Schlüssel an,
›Mutter‹ streitig zu machen. Der eheliche Konflikt – doch geschieht dies nicht in der Hoffnung, dass sie
und daraus resultierend Ines’ psychische Krise – ent- Ordnung schaffen, sondern dass sie sich dort der Ver-
steht, da Ines genau diese Position anstrebt, während storbenen annähern und so den Totenkult um Marie
Rudolf an seiner Bindung zu Marie festhält. Aus der endlich verstehen möge (vgl. 148). Ines kann den
Sicht Rudolfs besteht das Hauptproblem hingegen da- Garten zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht betre-
rin, dass Ines selbst noch kein Kind geboren hat. Er ten, denn sie scheut die Konfrontation mit der Kon-
vertraut daher allein auf die heilsame Wirkung der kurrentin (vgl. 139). Tatsächlich kann sie erst hinein,
Mutterschaft (vgl. Jackson 2000, 161) und verkennt, als auch sie den Kult um Marie affirmiert, denn nun
dass die Schwangerschaft im Gegenteil gerade die Dy- ist auch für Ines der ›Garten der Vergangenheit‹ »hei-
namisierung von Ines’ psychischer Krise bewirkt. Für liger Boden« (162).
ihn ist es nur natürlich, dass »die Toten heilig« (LL 2, Auch für Rudolf stellt die Geburt daher einen Wen-
147) sind – insbesondere diese eine Tote, von deren depunkt dar. Allerdings nicht nur, weil dadurch Ines’
Erinnerung er immer noch zehrt. Da Rudolf an dieser Sinneswandel eingeleitet wird, sondern auch weil er
Fixierung festhält, ist Ines’ Sinneswandel die Voraus- auf diese Weise sein Trauma erneut durchlebt, denn
setzung für eine Annäherung der beiden. Entspre- auch seine zweite Frau droht nun zu sterben. Doch
chend nimmt Rudolf Ines’ Wunsch, das Bild Maries Ines überlebt und durch diesen positiven Ausgang
möge in das gemeinsame Schlafzimmer geholt wer- wird die traumatische Vergangenheit in die glückliche
den, auf »wie ein Seliger« (159). Ihm »ist, als sollte ich Gegenwart integriert. Für Rudolf scheint sich so am
noch einmal in unseren Hochzeitstag hineinschlafen« Ende alles zum Guten zu wenden. Nicht nur, dass Ines
(160) – das nimmt nicht wunder, denn schließlich ist nun endlich bereit ist, »[s]ein rechtes Weib« (162) zu
Ines jetzt endlich bereit, die Ehefrau zu sein, die er von werden, er scheint auch in der Lage, mit seiner Ver-
Anfang an wollte: eine lebende Frau, die dazu bereit gangenheit aufzuräumen. Entsprechend ist es Rudolf
ist, die Mystifizierung der toten Frau mitzutragen. selbst, der »den vollen Eingang« (161) in den ›Garten
der Vergangenheit‹ erzwingt und »das zerrissene Ge-
sträuch sorgsam nach beiden Seiten zurück[legt]«
Eine glückliche Zukunft im »Garten der Ver-
(161). Die einst düstere Metaphorik des Gartens wird
gangenheit«?
ersetzt durch eine Beschreibung des blühenden Le-
Auch der »Garten der Vergangenheit« (LL 2, 148) bens. Doch auch für Rudolf ist das Ende nicht völlig
dient der Erinnerung an Marie. Schon zu ihren Leb- ungetrübt, denn selbst in der ostentativ inszenierten
zeiten ist der Garten ein exklusiver Ort: In erster Li- Zweisamkeit mit Ines ist er immer noch um die Er-
nie dem Liebespaar vorbehalten, wurden »selbst die innerung an Marie besorgt, bleibt der Garten immer
Freunde des Hauses nur selten hineingelassen« (145). noch »heiliger Boden« (162). Sein Kult um die Tote
Nach dem Tode der Frau wird der Garten ganz ver- geht also weiter; er kann sie auch jetzt nicht wirklich
schlossen, um hier die Erinnerung an sie zu bewah- hinter sich lassen. Doch das muss er auch nicht unbe-
ren und die glücklich erlebte Zeit zu konservieren. In dingt, denn sie ist dank Ines’ Vermittlung in die Ge-
seiner Verwilderung avanciert der Garten dabei zur genwart integriert.
192 III Werk – D Novellen

Literatur tian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche – Autoren – Wer-


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ge zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 151–162. »Viola tricolor«. In: David A. Jackson/Mark G. Ward
Jentzsch, Nicolas: Spieglein, Spieglein an der Wand! Bilder (Hg.): Theodor Storm – Narrative Strategies and Patriarchy.
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Neumeyer, Harald: Theodor Storms Novellistik. In: Chris- Julia Hunger
54 »Ein stiller Musikant« (1875) 193

54 »Ein stiller Musikant« (1875) Nichtkönnens« (Storm zit. nach Ranft 1973, 74) han-
delt die Novelle. Aber auch von glücklichen Stunden
Die Novelle Ein stiller Musikant geht zurück auf einen am sog. »Veilchenplatz« (LL 2, 289) weiß Valentin zu
(nicht überlieferten) »Verzweiflungsbrief« Karl berichten. An diesem locus amoenus verfasste er einst
Storms, welcher den Dichter am 4.12.1874 erreicht »kindliche, einfältige Verse« (304) und notierte sie in
(Storm–Brinkmann, 165; vgl. LL 2, 874). In den kom- eine Bürger-Ausgabe, welche er später seinem Be-
menden Wintermonaten 1874/75 entsteht der Novel- kannten schenkt. Jenes Gedicht des Protagonisten ba-
lentext, den Theodor Storm bereits Ende Januar 1875 siert auf einer realen Vorlage, die Karl Storm in Kin-
an den Verleger George Westermann sendet (vgl. dertagen ersann (vgl. Herrmann 1915, 637 f.). Die
GB 2, 100). Vor seiner Erstveröffentlichung in Wes- Konzentrationsprobleme Christian Valentins, welche
termann’s Illustrirten Deutschen Monatsheften im Au- dem von Storm in Bezug auf seinen Sohn konstatier-
gust 1875 verändert Storm einzelne, augenscheinlich ten »Kampf gegen die Unzulänglichkeit des eignen
zu autobiographische Formulierungen (»Sorgen- Wesens« (GB 2, 244) gleichen, hindern ihn immer
kind«) sowie den ursprünglichen Namen (»Loscher«) wieder an der Ausübung seiner künstlerischen Bega-
des Protagonisten, der große Ähnlichkeit mit dem Ko- bung, bis der ›stille Musikant‹ fast gänzlich verstummt
senamen Karls (»Losche«) aufweist (vgl. LL 2, 876; und seine Musik nurmehr in seinem Kopf stattfindet.
Frommholz 1988, 87). Ein Jahr nach Erstdruck er- Zudem erkennt er in der Musikerziehung seine Le-
scheint der Text mit weiteren Novellen des Autors in bensaufgabe. Mit diesem Sujet des scheiternden
dem Band Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbar- Künstlers, dessen Glück in der Ausbildung eines Zög-
hause links und wird schließlich 1877 in die Gesam- lings aufgeht, ähnelt er so dem Protagonisten der No-
melten Schriften aufgenommen (vgl. LL 2, 874). velle Eine Malerarbeit (vgl. etwa Stuckert 1955, 322;
Mit Verweis auf den »trostlose[n] Brief« seines LL 2, 881; Frommholz 1988, 97). Mit seiner »beschei-
Sohnes erklärt Storm am 13.10.1875 gegenüber Paul denen Existenz« (LL 2, 877) als Musiklehrer und Lei-
Heyse: »Der stille Musikant ist mein heißgeliebter ter des Gesangsvereins zeigt er sich zufrieden. Doch
Junge, [...].« (Storm–Heyse I, 92) Entsprechend wur- kommt es bei einem Konzert, bei dem er auf Drängen
den in der Folge die literarische Figur und ihr lebens- seiner Freundin Anna ein Vorspiel übernimmt, zum
weltliches Pendant nicht nur in Briefen des Husumer Eklat: Die Vorführung endet in einem Fiasko, weil er
Dichters, sondern auch in der Rezeption immer wie- sich aus Angst vor dem Publikum und aus Ehrfurcht
der gleichgesetzt – etwa indem Karl als ›stiller Musi- vor dem anwesenden, berühmten Organisten an das
kant‹ tituliert wird. Bereits zwei Jahre nach Erscheinen Klavierspiel mit seinem Vater zurückerinnert und
der Novelle konstatiert Erich Schmidt in seinen Er- gänzlich versagt. Aus »Angst vor der Welt, vor den
innerungen an Theodor Storm Bezüge zwischen dem Menschen« (299) flieht er panisch aus dem Konzert-
Musikmeister und Storms jüngstem Sohn (vgl. Storm– haus vor die Tore der Stadt und trägt sich mit Suizid-
Schmidt I, 15). In einem Nachruf auf Karl bezeichnet gedanken: Gleichsam zur Verdeutlichung seiner Ab-
Ferdinand Tönnies das Werk als »ein schönes Denk- sichten kommt ihm, an einem Fluss sitzend, Schuberts
mal« (Tönnies 1899, 462); siebzehn Jahre später wird »lyrische[r] Müllergesell« (ebd.) in den Sinn; jedoch
Gertrud Storm diese Worte Tönnies’ in Bezug auf die kann Anna ihn vom Selbstmord abhalten und am da-
Dichtung ihres Vaters wiederholen (vgl. G. Storm rauffolgenden Tag verlässt Christian Valentin die
1916, IV). Stadt. Zehn Jahre später lauscht der Rahmenerzähler
Zu Beginn der Novelle ruft der namenlose Ich-Er- zufällig einem Konzert, bei dem Annas Tochter Marie,
zähler die Erinnerung an den Musikmeister Christian Valentins einstige Schülerin, das Kindergedicht des
Valentin auf und berichtet von ihrer ersten Begegnung inzwischen verstorbenen Bekannten in Liedform vor-
in einem Antiquariat. In der folgenden – immer wie- trägt. Indem Christian Valentins musikalische Kom-
der eingeschobenen – Binnennarration erzählt ihm position und sein Lehrgeschick in Person Maries post-
der Klavierlehrer seine Lebensgeschichte. Er erinnert hum eine derartige Anerkennung erfahren, endet die
sich an den frühen Tod der Mutter und an ein anderes, Novelle im versöhnlichen »Andenken« (LL 2, 311; vgl.
ihn ebenfalls nachhaltig prägendes Erlebnis aus Kin- Meyer 1963, 219) an einen nunmehr für immer ver-
dertagen: einen Wutausbruch des Vaters, als der junge stummten ›stillen Musikanten‹.
Christian sich wegen seiner »Kopfschwäche« (LL 2, Neben Viola tricolor stellt Ein stiller Musikant die
285) unfähig zum kunstfertigen Klavierspiel zeigte. persönlichste Novelle Storms dar (vgl. Frommholz
Von diesem »Conflict des Wissens (Verstehens) und 1988, 85), die »aus den heiligsten Tiefen [s]einer See-

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194 III Werk – D Novellen

le« (Storm–Heyse I, 92), »mit allereigenstem Herzblut sitiv; Stuckert erkennt hierin »ein[en] späte[n] Nach-
geschrieben« (Storm–Fontane, 139) ist und ihm da- klang des Biedermeierlichen« (Stuckert 1955, 322).
her auch als »Zwillingsbruder der Viola tricolor« Mit der Figur der »Signora Katerina« wird diese Sen-
(Storm–Kuh, 214) galt. Nach eigener Aussage sei ihm timentalität allerdings ironisch-sarkastisch gebro-
das Verfassen der Novelle ein schriftstellerischer »Be- chen (vgl. auch Anton 1998, 167): Mit ihrem »roten
freiungsact« gewesen (Storm–Heyse II, 76; vgl. auch Shawl« (LL 2, 292) und ihren Pfefferminzpastillen-
Storm–Schmidt I, 46). Denn Storm war stets in Sorge Döschen als Requisiten ausgestattet wird die Figur,
um seinen jüngsten Sohn, den ein »Mangel an Kon- die dem Kunstgeschmack des 18. Jahrhunderts ver-
zentrationsvermögen« (Storm zit. nach Herrmann haftet ist, zur Karikatur. Im Gegensatz dazu und in
1915, 633 f.) an der Ausübung seines künstlerischen Abkehr vom romantischen Künstlerideal sieht Anton
Talents hinderte, wodurch auch er Gesangslehrer die »Einheit von Künstlertum und Bürgerlichkeit« in
wurde. Die autobiographischen Referenzen sowie die der Figur des Musikmeisters repräsentiert (Anton
Vorbildfunktion (vgl. LL 2, 878) des Sohnes wurden 1998, 163). Christian Valentin verkörpere mithin den
von der Forschung vielfach reflektiert (vgl. zuallererst typischen »Bürger-Künstler« des programmatischen
Herrmann 1915, 635–637). Nicht allein diese biogra- Realismus (ebd., 166). Indes wird dieses Kunstver-
phische Dimension des Dargestellten macht die Be- ständnis, anders als etwa in Eine Malerarbeit, nicht
deutung der Novelle für ihren Verfasser aus; überdies rückhaltlos bestätigt. Weitaus vieldeutiger wird die
vom poetischen Wert seines Textes überzeugt, den er verhandelte Künstlerproblematik präsent gehalten,
selbst als »eine [s]einer besten Prosadichtungen« be- indem Christian Valentin nicht vollständig in der
zeichnete (Storm zit. nach Mack 1936/37, 72), sah Existenz als Bürger-Künstler aufgeht, sondern inmit-
Storm sich gar auf der Höhe seines Schaffens ange- ten der Gesellschaft verstummt.
kommen (vgl. Storm–Pietsch, 219).
Gleichwohl wurde das Werk bislang nur ein- Literatur
geschränkt von der Forschung wahrgenommen (vgl. Anton, Christine: Selbstreflexivität der Kunsttheorie in den
Frommholz 1988, 77). Dabei zeigte sich v. a. ein reges Künstlernovellen des Realismus. New York 1998.
De Cort, J.: Zwei arme Spielleute. Vergleich einer Novelle
Interesse an dem Vergleich mit Grillparzers Novelle von F. Grillparzer und von Th. Storm. In: Revue des
Der arme Spielmann (1848). Bereits Erich Schmidt langues vivantes 30/4 (1964), 326–341.
stellt in seinem Essay in der Deutschen Rundschau Fey, Hermann: Theodor Storm und der »Stille Musikant«. In:
(1880) Berührungspunkte der beiden Werke fest (vgl. Lübeckische Blätter 90/9 (1954), 95–97, 106–109, 126–127.
Schmidt 1880, 52; vgl. auch De Cort 1964, 327; Mul- Frommholz, Rüdiger: »Mit Traumesaugen in seiner Zukunft
angeschaut«. Theodor Storms fast vergessene Novelle »Ein
lan 1991, 187). De Cort strebt als erster »einen thema-
stiller Musikant« (1875). In: Walter Zimorski (Hg.): Theo-
tischen und strukturellen Vergleich« der beiden Er- dor Storm. Studien zur Kunst- und Künstlerproblematik.
zählungen an (De Cort 1964, 326), räumt jedoch ein, Bonn 1988, 77–100.
dass Storm die Kenntnis seines literarischen Vorgän- Herrmann, Walther: Die Entstehung von Theodor Storms
gers nicht nachgewiesen werden könne (vgl. ebd., Novelle »Ein stiller Musikant«. (Mit einem bisher unge-
327). Auch Frommholz und Mullan erkennen motivi- druckten Briefe des Dichters). In: Euphorion. Zeitschrift
für Literaturgeschichte (1915), 632–639.
sche Parallelen der beiden Künstlernovellen (vgl.
Mack, Heinrich: Briefe Theodor Storms an Albert Nieß. In:
Frommholz 1988, 94; Mullan 1991, 193). In einer Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte 81
stark psychoanalytisch geprägten Deutung geht Stein (1936/37), 71–76.
soweit, eine psychopathologische Erklärung für das Meyer, Herman: Der Sonderling in der deutschen Dichtung.
Verhalten des erwachsenen Christian Valentins aus München 1963.
einem ›traumatisierenden‹ Kindheitserlebnis zu ge- Mullan, Boyd: Characterisation and Narrative Technique in
Grillparzer’s »Der arme Spielmann« and Storm’s »Ein stil-
nerieren (Stein 2006, 32). Ähnlich sieht auch Mullan ler Musikant«. In: German Life and Letters 44/3 (1991),
den Musikmeister einem ›ödipalen Beziehungskon- 187–197.
flikt‹ mit seinem dominanten Vater ausgesetzt (Mul- Ranft, Gerhard: Theodor Storms Briefe an Hermione von
lan 1991, 188). Preuschen. In: STSG 22 (1973), 55–94.
Insofern Ein stiller Musikant in der Tradition von Schmidt, Erich: Theodor Storm. In: Deutsche Rundschau 24
(Juli–August–September 1880), 31–56.
Storms ›Entsagungs-‹ (Stuckert 1955, 322) bzw. ›Re-
Stein, Malte: Vom Stillwerden des Musikanten in Theodor
signationsnovellen‹ (Herrmann 1915, 635; LL 2, 881) Storms Erzählung »Ein stiller Musikant«. Oder: Wozu
steht, geht der Text über »die schmerzselig genossene braucht der Mensch Selbstobjekte? In: Storm-Blätter aus
Erinnerung« hinaus und wendet die Resignation po- Heiligenstadt 12 (2006), 23–34.
54 »Ein stiller Musikant« (1875) 195

Storm, Gertrud: Einführung. In: Dies. (Hg.): Theodor Tönnies, Ferdinand: Karl Storm. Ein Gedenkblatt. In: Deut-
Storm: Briefe an seine Kinder. Braunschweig 1916, I–IV. sche Rundschau 99 (April–Mai–Juni 1899), 461–463.
Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Bremen 1955. Mareike Timm
196 III Werk – D Novellen

55 »Psyche« (1875) den Elementen der Novelle lassen sich gleich mehrere
Interpretationsansätze gewinnen, ein literaturhis-
Die Künstlernovelle Psyche erschien im Oktober 1875 torisch-programmatischer (I), ein gender-bezogener
in der fünften Ausgabe der Neuen Rundschau, ehe sie (II) sowie ein kulturkritischer (III).
bereits ein Jahr später zusammen mit den Novellen Zunächst dient der Rekurs auf die Antike ganz of-
Ein stiller Musikant und Im Nachbarhause links in ei- fensichtlich als historische Referenz auf die klassische
ner Buchpublikation zusammengefasst wurde. Die Ästhetik (I), die der »erst vor einem Vierteljahr aus
Novelle geht auf eine Zeitungsmeldung über einen Ba- Italien und Griechenland in die norddeutsche Haupt-
deunfall zurück, die Storm im März und April 1875 stadt« (LL 2, 319) zurückgekehrte Franz studiert hat.
zum Anlass für eine literarische Ausarbeitung des Dementsprechend hängt der Bildhauer zunächst ei-
Themas nahm. nem rein formalen, imitatorischen Kunstverständnis
Die heranwachsende Maria wagt zu Beginn des an (»Was geht den Künstler die Zeit, ja, was geht der
Sommers an der Nordseeküste bei stürmischem Wet- Stoff ihn an?«; 320). Indem er daraufhin allerdings die
ter trotz der Warnungen der alten Badefrau Kathi dramatische Begegnung mit dem anonymen Mäd-
Wulff, die einst das Kindermädchen ihrer Mutter war, chen unmittelbar in seine Skulptur »Die Rettung der
einen ersten Sprung ins Meer. Aufgrund des hohen Psyche« einfließen lässt, distanziert er sich von seinem
Wellengangs gerät das »junge Frölen« (LL 2, 315) je- einstigen klassizistischen Kunstideal und handelt sich
doch in Seenot. Zwei junge Männer, der Jurist Ernst von der Kritik für diese Wirklichkeitsnähe sogar den
und der Bildhauer Franz, die sich auf der gegenüber- Vorwurf ein, die Figurengruppe »zu naturalistisch«
liegenden Seite des Seebads auf einem Steg befinden, (335) angelegt zu haben.
bemerken den Unfall. Der gute Schwimmer Franz eilt Parallel zu dieser kunst-programmatischen Kehrt-
der Ertrinkenden zu Hilfe und birgt das benommene wende modelliert Storms Novelle auch eine sich in den
Mädchen aus dem tobenden Meer. Nach der Ret- Mythenrekursen manifestierende, geschlechtsspezi-
tungsaktion vermeiden Maria und Franz eine weitere fische Positionsverschiebung (II): Die wagemutige He-
Kontaktaufnahme und ziehen sich in ihre Elternhäu- ranwachsende Maria, die von den beiden Männern zu-
ser zurück. Grund für das Vermeidungsverhalten sind nächst u. a. mit einer rabiaten Frauengestalt der My-
Schamgefühle, die beide überkommen, weil die thologie vergleichen wird, nämlich der Kinds- bzw.
»Mädchenknospe« Maria (313) ihrem Retter bei ihrer Selbstmörderin Ino/Leukothea (320), legt die Erzäh-
Bergung durch ihre Nacktheit einen unziemlichen lung nach dem Unfall auf die Rolle der seit Apuleius’
Anblick darbot. Für Franz hat diese Abkapselung von Metamorphosen als Sinnbild der Jugendlichkeit und
der Außenwelt einen positiven Nebeneffekt: Denn Liebe geltenden Psyche fest. Die Nacherzählung der
dem Künstler gelingt es durch das Erlebnis, seine Geschichte von Amor und Psyche, deren Handlungs-
Schaffenskrise zu überwinden, vor der er zuvor an die gerüst Franz in einem inneren Monolog rekapituliert
Küste und zu seinem Freund Ernst geflüchtet war. Auf (332), entnimmt Storm Heinrich Wilhelm Stolls Die
der Kunstausstellung im Akademiegebäude avanciert Sagen des classischen Alterthums (vgl. Stoll 1862),
seine von den Ereignissen an der Nordsee inspirierte weicht aber von Stolls Fassung markant ab: Statt sich
Skulptur mit dem sprechenden Titel »Die Rettung der mit Amor zu identifizieren, imaginiert sich der junge
Psyche« schnell zum Publikumsmagneten. Der An- Bildhauer in die Rolle des Flussgotts und weigert sich
ziehungskraft der Figurengruppe, die Psyche auf den dagegen, Psyche an Amor auszuliefern: »O, süße Psy-
Armen eines Stromgotts zeigt, kann sich auch Maria che, ich hätte dich an keinen Gott zurückgegeben!« (LL
nicht entziehen. Knapp ein Jahr nach dem Badeunfall 2, 332). Mit diesem Akt der Verweigerung ähnelt Franz
kommt es daher vor dem Exponat zu einem unver- einerseits Prometheus, gleichwohl trägt er andererseits
hofften Wiedersehen des Künstlers und seiner Muse, durch sein Vorhaben, sich qua Kunst eine perfekte Ge-
die sich daraufhin überwältigt vom Augenblick ewige liebte zu erschaffen, Züge des Pygmalions aus Ovids
Treue schwören. Metamorphosen. Denn auch von Franz ist bekannt,
Psyche gilt gemeinhin als der »griechische[ ] Au- dass er einst ein unglückliches Bündnis mit einer
genblick Storms« (Stuckert 1955, 325). Ein Beleg für »furchtbare[n] Brunhilde« (329) einging, deren Mahn-
die Rechtmäßigkeit dieser Einschätzung mag allein mal noch in Form der »übermenschliche[n] Gestalt ei-
die schiere Anzahl von 15 Verweisen auf die Antike ner nordischen Walküre« in seinem Atelier thront und
sein, die sich in dem knapp 33-seitigen Prosastück fin- »finsteren Auges auf die heiteren Griechenbilder he-
den (vgl. Neumann 2013, 135). Aus den antikisieren- rabsah« (329). Anders als die nordisch-prüde »Walkü-

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55 »Psyche« (1875) 197

re«, die nur Stückwerk bleibt, vermag es die körper- 10-jährige Aristokratentochter Bertha von Buchan
lich-sinnliche Anschauung der »Mädchenknospe« richtet, entschiedene Vorbehalte. Fritz Böttger attes-
Maria, den graecophilen Bildhauer zu einer genuin tiert bereits 1959, dass »der Zeiger der [pädophilen]
schöpferischen Leistung zu inspirieren, die auf der Stormschen Wünsche von vornherein auf Verwirk-
Kunstausstellung das Laien- und Fachpublikum zu lichung« stand (Böttger 1959, 64). In den jüngeren
überzeugen weiß. Debatten hat sich im Anschluss an Detering mehr und
Im Umkehrschluss birgt der Antikenbezug eine mehr der Eindruck breit gemacht, dass »man dieses
kulturkritische Dimension (III), bei der die ›natürli- Motiv einer ›pädophil gefärbten Erotik‹ überall in
che‹ Nacktheit der griechischen und römischen Storms Texten« findet (Neumann 2013, 141). In Psy-
Kunstwerke der Restriktivität der bürgerlichen Ge- che fällt neben einzelnen Beschreibungen wie jener
schlechter- und Verhaltensnormen kontrastiert. Wie des nackten Mädchens (»ein junger Körper, gleich
ein Spiegel dieser strengen Moralvorstellungen, de- weit von der Fülle des Weibes, wie von der Hagerkeit
nen auch der Künstler Franz unterworfen ist, heißt es des Kindes« entfernt; LL 2, 323) oder der Reaktion der
von der »Walküre«, dass sie »nach unten zu [...] noch Badefrau Kathi nach der Bergung (»Die Alte stürzte
die ungestalte Masse des Tons [war], als wäre die Ge- vor ihr nieder und bedeckte unter hervorströmenden
stalt aus rauhem Fels emporgewachsen« (329). Die Tränen die Hände, die Brust, die Wangen des Kindes
von der Novelle akzentuierte Abwendung von dieser mit ihren Küssen«; 324) besonders die künstliche
kulturell bedingten Schamhaftigkeit unterstreicht die Konservierung der Unschuld der Protagonistin ins
Adaption und Modifikation des Amor und Psyche- Auge. Der Erzähler verwendet durchweg den »imper-
Stoffs. Bekanntermaßen ist bei Apuleius das Verhält- tinent redundante[n] Terminus ›Mädchenknospe‹«
nis von Amor und Psyche aufgrund der Angst vor Ve- (Börner 2009, 36) und selbst Franz, der die Minder-
nus’ Rache von Tabus geprägt: Um seine Anonymität jährige heiraten möchte, spricht sie nicht mit ihrem
zu wahren, besucht Amor Psyche nur bei Nacht, und bürgerlichen Namen »Maria«, sondern mit »Psyche«
fordert seine Geliebte auf, ihn nicht anzusehen. In der an, also dem Titel des Kunstwerks, in dem er den Zu-
Nacherzählung von Stoll und Storm sind dann der stand der weiblichen Schwäche fixiert hat. Der My-
Stromgott bzw. Franz die ersten männlichen Figuren, thos und das Phantasma überlagern daher von An-
denen Psyche jenseits dieses ›goldenen Käfigs‹ begeg- fang bis zum Ende die Realperson.
net. Das Motiv des Ausbruchs liegt auch Storms No- Michael Wetzel verortet Storms Novelle im histori-
velle zu Grunde. Das »blonde Götterkind« Maria ent- schen Panorama der Literatur des ausgehenden 18.
puppt sich als Tochter der Bürgermeisterin, um die und frühen 19. Jahrhunderts, in dem die Darstellung
ein regelrechter »Götzendienst« betrieben wird, der von Kindsbräuten spätestens seit Mignon in Goethes
die Pubertierende vom Rest der Gesellschaft isoliert, Wilhelm Meisters Lehrjahre Konjunktur hat. Im Ge-
sodass diese »[n]ur in den vertrautesten Kreisen« ver- gensatz zu dem Typus der femme fragile bzw. infans in
kehren darf (330). Klassik und Romantik lassen sich im Realismus laut
Obwohl Psyche gerade im Vergleich zu dem nur ein Wetzel eine Reihe von Texten finden, denen es primär
Jahr später erschienenen Aquis submersus als »aus- um eine »Entlarvung und damit buchstäblich um eine
gesprochen schwache[r] Text[ ] Storms« eingeschätzt Destruktion der Nymphchen« (Wetzel 2010, 126)
wurde (Fasold 1997, 134), ist der Novelle in den ver- geht. Im Vergleich zu Hans Christian Andersens Mär-
gangenen Jahren von Seiten der Forschung ein ver- chen Die Psyche wirkt Storms Novelle wie eine »kit-
gleichsweise hohes Maß an Aufmerksamkeit zuteilge- schige Korrektur«, denn hier weist die Angebetete ei-
worden. Nachdem der Text lange vor allem poetolo- nes Bildhauers – anders als Maria – den künstleri-
gisch als »Storms Wendung gegen den Klassizismus« schen Repräsentationsversuch selbstbewusst zurück.
und ein Votum für die »Begegnung mit dem Empiri- Gerhard Neumann untersucht Psyche als »Pendant-
schen« (Freund 1988, 118) gelesen wurde (vgl. Freund Geschichte« zu Storms Novelle Auf dem Staatshof, da
1988; Lefebvre 2008; Pizer 1998), nimmt die jüngere in beiden ein Wasserunfall im Zentrum des Gesche-
Debatte ihren Ausgang beim Pädophilie-Verdacht, hens steht und beide »Fall-Geschichten [...] vorzugs-
den mit Blick auf Storms Lyrik erstmals Heinrich De- weise als ›exemplarische‹ Novellen von einer lebens-
tering expressis verbis formuliert hat (Detering 2011, erfahrenen älteren oder alten Person vorgetragen
23). Schon vorher äußern Wissenschaftler nicht zu- [werden] – die jede hermeneutische Verantwortung
letzt aufgrund der erotischen Gedichte, die der junge von sich weist« (Neumann 2013, 145). Eine Besonder-
Storm ab dem Alter von 19 Jahren an die damals heit von Psyche ist dabei die institutionelle Rahmung
198 III Werk – D Novellen

der Handlung, da laut Neumann zwei »Heterotopien« schen Präsentationsformen des Weiblichen [1979]. Frank-
(Foucault) der Gründerzeit die Ereignisse ordnen, die furt a. M. 2003.
beide auf eine Naturalisierung des Körpers abzielen: Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
Ende der Romantik. Heide 2011.
»einerseits die Badeanstalt, das Seebad, als Institution Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart 1997.
der Verwaltung von Natur und natürlichem Körper, Freund, Winfried: Die Versöhnung von Stoff und Sinn.
andererseits die große Kunstausstellung als Institution Theodor Storms Programm-Novelle »Psyche« (1875). In:
der Verwaltung kultureller Güter und Werte, also des Walter Zimorski (Hg.): Theodor Storm. Studien zur Kunst-
menschlichen Körpers als Kunstwerk« (Neumann und Künstlerproblematik. Bonn 1988, 101–124.
Lefebvre, Jean: Autonomie und Fremdbestimmung im
2013, 137). In Psyche dienen die beiden symbolischen
künstlerischen Schaffen. Theodor Storms »Psyche« als
Aushandlungsorte in erster Linie dazu, ein konservati- Antwort auf Bernardin de Saint-Pierres »Paul et Virginie«.
ves Rollenmodell zu perpetuieren, das die Frau »einer- In: STSG 57 (2008), 37–55.
seits zur Trägerin der ideellen männlichen Harmonie- Neumann, Gerhard: Theodor Storms »Psyche«. Ein Wahr-
und Einheitssehnsüchte stilisiert« und sie andererseits nehmungsmodell des ›Realismus‹. In: Elisabeth Strowick/
»dem Gebot der Unterwerfung und des Stillhaltens« Ulrike Vedder (Hg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung.
Neue Perspektiven auf Theodor Storm. Bern 2013, 131–
(Bovenschen 2003, 32) unterstellt. 147.
Dass diese literarische Männerphantasie dabei ge- Otto, Beate: Unterwasser-Literatur. Von Wasserfrauen und
rade den Wasser-Topos als privilegiertes Imaginati- Wassermännern. Würzburg 2001.
onsvehikel nutzt, überrascht wenig: »Es ist ein Fluß Pizer, John: Auf der Suche nach der verlorenen Totalität.
ohne Ende und riesig breit, der so durch die Literatu- Raabes »Pfisters Mühle« und Storms »Psyche«. In: Jahr-
buch der Raabe-Gesellschaft 39 (1998), 115–125.
ren fließt. Immer wieder: die Frau aus dem Wasser, die
Roebling, Irmgard: Theodor Storms ästhetische Heimat. Stu-
Frau als Wasser, als brausendes, kühlendes Meer, als dien zur Lyrik und zum Erzählwerk Storms. Würzburg
reißender Strom, als Wasserfall, als unbegrenztes Ge- 2012.
wässer, durch das die Schiffe treiben« (Theweleit 1977, Schmiele, Walter: »Psyche«. Untersuchungen über das gen-
358). Zeitgleich zu Storms Psyche besteht im literari- rehafte Element bei Theodor Storm. Frankfurt a. M. 1941.
schen Feld gar ein »Nixenzwang« (Roebling 2012, Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
seiner Novellen. Bonn 1971.
277 f.), dem u. a. Wilhelm Jensens Eddystone (1872), Stoll, Heinrich Wilhelm: Die Sagen des classischen Altert-
Wilhelm Raabes Die Innerste (1876), Theodor Fonta- hums. Erzählungen aus der alten Welt, 2 Bände. Leipzig
nes Oceane von Perceval (1876–82) oder Paul Heyses 1862/63.
Erzählungen Seeweib (1875), Melusine (1894) oder Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Die Nixe (1898) folgen. Auch Storm belässt es nicht bei Bremen 1955.
Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 1. Frankfurt a. M.
der einmaligen Ausführung des Themas, sondern ent-
1977.
wickelt zwischen 1860 und 1875 in Die Regentrude Wetzel, Michael: Mignon im Norden. Fortwirkungen der
und Von Jenseit des Meeres weitere »Wasserfrauen- goethezeitlichen Modelle des »Kindsbraut«-Phantasmas
Phantasie[n]« (Otto 2001, 132). bei Theodor Storm. In: Malte Stein/Regina Fasold/Hein-
rich Detering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das
Literatur Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus.
Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 7. Berlin
Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009. 2010, 113–132.
Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959. Zimorski, Walter. Theodor Storm. Studien zur Kunst- und
Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplari- Künstlerproblematik. Bonn 1988.
sche Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literari-
Philipp Hubmann
56 »Im Nachbarhause links« (1875) 199

56 »Im Nachbarhause links« (1875) tier« (LL 2, 360), als eine Frau, die ihre ökonomische
wie sexuelle Selbstverwirklichung nicht zurückstellt
Die Anregung zur Novelle erhielt Storm im Mai 1875, und deren Vergangenheit vom Bürgermeister als ein
als er seinen Freund Hartmuth Brinkmann und seinen »Lustfeuerwerk« (357) erinnert wird, wie überhaupt
Schwager Gustav Nissen in Flensburg besuchte. Die umlaufende Gerüchte zur Stigmatisierung Botillas
Erzählungen der beiden Juristen vom gesellschaftli- beitragen.
chen Leben in der Stadt regten Storm zur Konzeption Dementsprechend sucht auch der Erzähler Ab-
der Geschichte an, die bereits Ende Juli vollendet war stand von ihr, befürchtet den Ich-Verlust in ihrer Nähe
und im Oktober in Westermann’s Illustrirten Deut- (daher auch die Ablehnung des Erbes) – ist aber glei-
schen Monatsheften erschienen ist (vgl. LL 2, 902 f.). chermaßen fasziniert von einem wilden Dasein, das er
Links vom Haus des Erzählers wohnt die alte Dame als behaglich lebender Bürger niemals führen könnte.
Botilla Jansen, einst eine wunderschöne, lebenslustige In diesem Sinne wird Botilla motivisch mit der Danaë
Frau, die als Witwe ein einsames und von allen ande- in Verbindung gebracht; nicht von ungefähr trägt sie
ren Menschen abgeschottetes Dasein in einem herun- als Kind ein »griechisches Jäckchen« und schüttet sich
tergekommenen Haus fristet. Ihre einzige Freude be- Goldstücke »in ihren Schoß« (ebd., 352–353). Ein so-
steht darin, ihr angehäuftes Geld- und Goldvermögen lipsistischer, gesellschaftlich unproduktiv agierender
zu zählen, das die kinderlose Frau nach ihrem Tod Eros, der weder Erben zeugt noch erben lässt, geht in
nicht ihrer Verwandtschaft, sondern einem Heim für diesem Haus um; dass das Vermögen nach Botillas
alte Seeleute zukommen lassen will. Als Botilla eines Ableben großteils in Alkohol umgesetzt werden soll,
Tages einen Schwächeanfall erleidet, tritt der Erzähler spricht Bände.
als juristischer Betreuer auf. Er erreicht, dass seine Im Gegensatz zu einer anderen Wiedergängerin
Nachbarin doch ihre junge bedürftige Nichte Mech- Danaës in Storms Oeuvre, nämlich Juliane in Carsten
tild zur Erbin machen will. Botilla berichtet dem Er- Curator (vgl. Theisohn 2015), überlebt Botilla ihren
zähler auch von ihrer Jugendliebe, bei der es sich um Lust- und Geldrausch, ohne in die Außenwelt zurück-
den Großvater des Erzählers handelt und den sie in zufinden. Der am Ende verschwundene rotseidene,
ihm wiederzuerkennen glaubt. Der Erzähler verleug- mit Goldmünzen gefüllte Beutel kann sexualsym-
net die Verwandtschaft jedoch, um das Erbe nicht auf bolisch als endgültiger Verlust von Erotik und Begeh-
sich selbst zu ziehen. Vor der Testamentsänderung ren interpretiert werden. So verdorrt Botilla in der
stirbt Botilla überraschend – sie wird inmitten ihrer moralischen Wirklichkeit der bürgerlichen Welt und
Goldstücke tot am Boden liegend aufgefunden. Die endet zwangsläufig als vertrocknete »Menschen-
selbstbewusste Mechtild heiratet einen Offizier und mumie«. Die Protagonistin trifft dabei keine unmittel-
verlässt mit ihm die Stadt. bare Verantwortung für ihr Scheitern, sondern ihre
Deutliche Bezüge zu E. T. A. Hoffmanns Das öde Naturanlage ist schuld an ihrem Schicksal (das Fortu-
Haus (alte Dame im verkommenen Haus, Goldmotiv, na-Motiv zieht sich durch den ganzen Text). Ihre
Tod der Protagonistin am Ende, vgl. Brate 1972, 59; Sucht nach Gold im Alter ist ein frühes Beispiel für ei-
Stuckert 1955, 329) erzeugen eine Atmosphäre des nen psychologisch ausgerichteten Fetischismus, der
›Übersinnlichen‹ (Brate 1972, 66). Der »Grenzbereich als Triebzielverschiebung zu interpretieren ist – Storm
des Phantastischen« (Onken 2009, 37) wird gleich- verortet sich hier also in einem als ›modern‹ zu be-
wohl nicht überschritten; als unerklärliches Element zeichnenden psychologischen Diskurs (zur Entste-
bleibt am Ende allein »der rotseidene Beutel mit den hung dieser Art des Fetischismus Ende des 19. Jahr-
fremden Goldmünzen« übrig (LL 2, 377), der aber hunderts vgl. Böhme 2012, 19).
zweifellos sowohl eine Funktion als Erinnerungs- Als Kontrastfigur fungiert dabei Mechtild, die
medium wie auch – siehe unten – einen mythischen durchaus wesensverwandte Züge mit Botilla verbin-
bzw. sexualsymbolischen Referenzrahmen besitzt. den. Mechtild ist ebenso schön wie Botilla, sie sepa-
Dieser erschließt sich über die Perspektivierung riert sich ebenso von der Gesellschaft und verfolgt ih-
des – so Thomas Mann – »eigentümlich lichtlosen« re eigenen Träume und Ziele, die mit erotischer Liebe
Charakters Botillas (Mann 1994, 239). In ihrer Aus- verbunden sind – doch verwirklicht sie ihre Freiheit
und Abgrenzung erweist sie sich als eine antisystemi- noch innerhalb der Grenzen des Bürgertums, indem
sche Figur, deren Werte und Überzeugungen quer zur sie selbstbewusst ihren armen Leutnant heiratet und
bürgerlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts stehen. der über sie klatschenden Stadt den Rücken kehrt. Der
So begreift sich Botilla selbst als »ein schönes Raub- Unterschied zwischen Mechtild und Botilla wird

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_56, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
200 III Werk – D Novellen

durch eine Anspielung auf eine andere Zeus-Geliebte deutlich die grenzüberschreitenden Tendenzen der
deutlich, nämlich auf Leda. Auf einem Schiff lässt sich Frühmoderne abspiegeln und die damit eine Sonder-
Mechtild von den Wellen schaukeln, blickt in die Fer- stellung in Storms Werk beanspruchen kann.
ne und beobachtet einen Schwan (LL 2, 367). Es bleibt
jedoch bei einem Blick; die im Tier mythologisch auf- Literatur
gespeicherte erotische Energie wird in ihrem Poten- Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere
zial erkannt, aber nicht gelebt – sondern in eine gesell- Theorie der Moderne. Reinbek b. Hamburg 2012.
Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959.
schaftsfähige Form transformiert. Botilla hingegen, Brate, Gertrud: Theodor Storms »Im Nachbarhause links«.
die nach hemmungsloser Lust strebt, kann sich nicht In: STSG 21 (1972), 57–67.
begrenzen. Ihr Streben bleibt unfruchtbar: Die aus- Knüfermann, Volker: Realismus. Untersuchungen zur sprach-
getrocknete »Bacchantin« (so deutet das Ende es an) lichen Wirklichkeit der Novellen »Im Nachbarhause links«,
wird von ihrem Goldregen jämmerlich erschlagen. »Hans und Heinz Kirch« und »Der Schimmelreiter«. Müns-
ter 1967, 7–42.
Brate betrachtet das Geld als ›Symbol‹: Botillas Fi-
Laage, Karl Ernst: Kommentar. In: LL 2, 902–912.
xierung auf Gold zeige sich schon in ihrer Kindheit Mann, Thomas: Theodor Storm. In: Hermann Kurzke/Ste-
und offenbare ihre Eitelkeit und Verwöhntheit. Später phan Stachorski (Hg.): Ein Appell an die Vernunft. 1926–
führe Botillas Geiz zu einer mangelnden Liebesfähig- 1933. Frankfurt a. M. 1994, 223–244.
keit, die in potentiellen Nachkommen lediglich Erb- Missfeldt, Jochen: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter
schleicher erkennen kann (Brate 1972, 64 f.). Onken Theodor Storm in seinem Jahrhundert. München 2013.
Onken, Aiko: Gedächtnis, Identität und Altruismus. Zu
entdeckt in der Geschichte unter Rückgriff auf moder-
Theodor Storms »Im Nachbarhause links«. In: STSG 58
ne Gedächtnistheoretiker einen moralisch gefärbten (2009), 33–48.
Erinnerungsdiskurs. Botilla wolle in der schönen Schütt, Hans-Friedrich: Der geschichtliche Hintergrund zu
Mechtild durch künstliche Reproduktion ihr Über- Theodor Storms Novelle »Im Nachbarhause links«. In:
leben sichern (Onken 2009, 37). Dem bösen Treiben STSG 25 (1976), 53–60.
der Botilla stünden die Jugenderinnerungen des Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Bremen 1955.
Großvaters gegenüber, die den Erzähler immer wieder Theisohn, Philipp: Der Sohn der Danaë. Manns Budden-
überkommen. Der Erzähler werde zum Träger der Er- brooks, Storms »Carsten Curator« und der Mythos der
innerung an seinen Großvater, was eine natürliche, Spekulation. In: Heinrich Detering/Maren Ermisch/Hans
moralisch einwandfreie Form der Reproduktion sei. Wißkirchen (Hg.): Verirrte Bürger: Thomas Mann und
Unabhängig vom Textzugang – der symbolorien- Theodor Storm. Tagung in Husum und Lübeck 2015.
Frankfurt a. M. 2016, 137–157.
tiert, mythologisch-intertextuell oder kulturtheore-
tisch erfolgen kann – erweist sich Botilla stets als eine Malte Denkert
selbstbewusste und antisystemische Figur, in der sich
57 »Aquis submersus« (1876) 201

57 »Aquis submersus« (1876) bend malt, dem man aber als Attribut des Todes einen
Totenschädel in die Hand gibt, rückt Aquis submersus
Storm schrieb die Novelle zwischen November 1875 das post mortem gemalte Portrait eines Knaben mit
und April 1876; die Entstehung begleiteten »eine ge- Lilie ins Zentrum.
wisse [...] Lebensmüdigkeit oder Verzagtheit« (Storm Sowohl Keller als auch Storm erhielten entschei-
an Emil Kuh, 6.7.1876, Storm–Kuh, 205). Handschrift- denden Anstoß durch die reale Begegnung mit Ge-
lich überlieferte Varianten zeigen, dass er insbesondere mälden. Storm berichtet am 20.6.1876 in einem Brief
am Schluss längere Zeit laborierte (vgl. die verschiede- an Paul Heyse wie ihm »die Geschichte in ihren we-
nen Fassungen in LL 2, 916‒919). Mit dem fertig- sentlichen Theilen« bei einer Reise im Herbst 1875
gestellten Werk war er dann aber hoch zufrieden; in deutlich geworden sei, die Textidee jedoch von einem
einem Brief an seine Verleger bezeichnete er Aquis sub- mehrere Jahre zurückliegenden Besuch der Kirche zu
mersus selbstbewusst als das »Beste, was an Prosa- Drelsdorf herrühre (Storm–Heyse II, 19). Dort war er
Dichtung bisher aus meiner Feder aufs Papier gelang- auf das bis heute erhaltene ›Bonnixsche Epitaph‹ aus
te« (Storm–Paetel, 91). Am 15. April sandte er das Ma- der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gestoßen, das in
nuskript an die Deutsche Rundschau, in der das Werk vier Einzelportraits die Familie des Pastors Andreas
im Oktober desselben Jahres erschien. Ein Jahr später Bonnix zeigt: Vater, Mutter, Tochter und den etwa
folgte die leicht überarbeitete Buchausgabe im Berliner zehnjährigen Sohn, der eine rote Nelke in Händen
Paetel Verlag. 1886 fasste Storm den Text, nochmals hält. Nachhaltig beeindruckte Storm nach eigener
mit einigen stilistischen Veränderungen versehen, mit Aussage ein weiteres, verloren gegangenes Gemälde,
vier anderen Novellen (Eekenhof, Zur Chronik von das den jung gestorbenen Sohn der Familie liegend
Grieshuus, Renate, Ein Fest auf Haderslevhuus) zu der und »als Leiche gemalt« darstellte und mit der Bild-
Novellensammlung Vor Zeiten zusammen. unterschrift »Incuria servi aquis submersus« versehen
Aquis submersus ist beispielhaft für die kulturhis- war. Mehrfach kommt er im Nachhinein auf das Irri-
torische Novellistik der Zeit, die nach einem detailge- tierende der Bildunterschrift zurück, auf »die merk-
sättigten Bild heimatlicher Geschichte strebte, ihre würdigen, harten Worte«, die »seltsam harte [...] In-
Impulse häufig aus geschichtlichen Realien bezog und schrift« (an Albert Nieß, 5.10.1876, GB 2, 121), »die
diese auch textintern inszenierte. Der Text ruft die Il- unbarmherzige Umschrift« (an Erich Schmidt,
lusion einer verifizierbaren, räumlich und zeitlich Storm–Schmidt II, 49). Die Bildunterschrift wird zum
exakt lokalisierbaren vergangenen Realität herauf. Als wichtigen Ansatzpunkt für die fiktionalisierende Um-
Quellen für das »culturhistorische[m] Drumherum« formung des Stoffes; an die Stelle der überlieferten la-
(Storm–Heyse II, 19) benutzte Storm nach eigener teinischen Inschrift setzt die Novelle das auslegungs-
Angabe die Kieler und Hamburger Nachrichten sowie bedürftige Kürzel »C. P. A. S.« (LL 2, 382).
die Husumer Stadtchronik von Johannes Laß (Sam- Das Bildnis des toten Knaben, das der Text freilich
melung einiger Husumischen Nachrichten, 3 Bde., markanten Abweichungen unterwirft, tritt ins Zen-
Flensburg 1750/52), aus der er zahlreiche zeit- trum der literarischen Fiktion. Die Umstände seiner
geschichtliche Details übernahm und an die er sich Entstehung und das Geheimnis der Bildunterschrift
auch sprachlich anlehnte. Als literarische Prätexte hat bilden das zentrale Motiv der analytisch konzipierten
man Clemens Brentanos Erzählung Chronika eines Novelle, die am Ende die Geschichte zum Bild liefert,
fahrenden Schülers (1818) und Goethes Roman Die ohne damit jedoch alle Fragen zu klären. Die Tektur
Wahlverwandtschaften (1809) ausgemacht, in dem der Rahmenerzählung lässt verschiedene Zeitschich-
ebenfalls ein Kind den Tod durch Ertrinken findet (LL ten achronisch aufeinanderstoßen und sich wechsel-
2, 921 f.). Ausgeprägter noch sind die Analogien zur weise reflektieren. Sie führt zurück von der Rezeption
Meretlein-Episode in Gottfried Kellers Roman Der des Gemäldes, das als Klammermotiv zwischen intra-
Grüne Heinrich (1. Fassung 1854/55), der zu Storms und extradiegetischer Ebene fungiert, zu den Bedin-
Lieblingslektüren zählte. Sie reichen von der Manu- gungen seiner Entstehung: Die Konfrontation mit
skriptfiktion über die anachronistische Sprache bis dem Bildnis ist der erste Höhepunkt der einleitenden
hin zur immanenten Kritik an einer lebensfeindlichen Rahmenpartie, während die Binnenerzählung mit der
Religiosität. Signifikant erscheint die kontrafaktische Bildentstehung endet. Der Text inszeniert die Begeg-
Aufnahme der Zentralmotive Tod und Malerei: Wäh- nung mit dem Gemälde als zentrales Phantasma, das
rend die Meretlein-Geschichte vom Tod eines kleinen, durch die Situierung in der Kindheit des Rahmen-
naturhaft-wilden Mädchens handelt, das man zwar le- erzählers lebensgeschichtlich verankert wird und als

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202 III Werk – D Novellen

Ursprung einer existenzbestimmenden Sehnsucht er- Kind, mit dem sie von Johannes schwanger war, einen
scheint. Angesichts des Gemäldes, so berichtet der Vater bekäme. Im Rausch des Wiedersehens vergessen
Rahmenerzähler retrospektiv, habe ihn »ein phantas- sie das gemeinsame Kind, das zur gleichen Zeit im na-
tisches Verlangen« ergriffen, »von dem Leben und hen Weiher ertrinkt. Die Binnenerzählung endet da-
Sterben des Kindes eine nähere, wenn auch noch so mit, dass Johannes auf den Auftrag des Pastors hin den
karge Kunde zu erhalten« (381 f.). Zusätzlich befeuert Kinderleichnam malt.
wurde dieser Wissensdurst vom Wunsch nach Klä- Die Entstehung dieses Totenportraits bildet den ab-
rung der enigmatischen Bild-Text-Relation. schließenden Höhepunkt einer ganzen Reihe von Mal-
Im Fortgang der Erzählung weitet sich das Interesse szenen. Gemälde stehen im Zentrum der Narration
vom Gemälde auf den Maler aus. Jahre später stößt und erinnern, auch wenn der Text keine Kunstgesprä-
der nun erwachsene Rahmenerzähler zufällig auf sei- che im engeren Sinn enthält, immer wieder an die Leis-
ne Hinterlassenschaften: auf ein weiteres Gemälde, tung der Malerei und die Zeichensprache der Bilder. In
auf dem er das tote Kind wiedererkennt, und auf auto- verdichteter Weise geschieht dies anhand des Bildnis-
biographische Aufzeichnungen, die dem Leser ‒ der ses des toten Knaben, auf das der Spannungsbogen der
Rahmenfiktion zufolge ‒ als Binnenerzählung präsen- Novelle und ihre zentralen Motivstränge zulaufen. Ins-
tiert werden. Sind Bild und Inschrift die zentralen besondere kulminieren hier die Fragen nach der Rela-
Motive der Novelle, so ist Johannes, der Maler des tion von Kunst und Leben, von Malerei und Realität,
Bildnisses, ihre Hauptfigur. Er ist in Anlehnung an von Text und Bild sowie die nach dem Einfluss der
den als Schüler Rembrandts in Amsterdam ausgebil- Subjektivität des Künstlers. Dass auch dieses Bild eine
deten Maler Jürgen Ovens (1623–1678) gestaltet, des- Auftragsarbeit vorstellt, steht im Missverhältnis zur
sen Name im Text fällt (401), und tritt gleich in dop- emotionalen Involviertheit des Malers, der zugleich
pelter Funktion als Autor auf, nämlich nicht nur als der leibliche Vater ist. Weshalb der Pastor Johannes
Maler der Bilder, sondern zugleich als intradiegeti- den Auftrag erteilt und ihm dadurch zuletzt zu einem
scher Erzähler, der aus zeitlicher Distanz die eigene Moment der Intimität mit seinem Kind verhilft, ob-
Geschichte vermittelt. wohl er ihm doch die Schuld an dessen Tod zuschreibt,
Sein Bericht setzt mit der Rückkehr aus Holland im bleibt ebenso unklar wie sein Interesse am Bildnis.
Jahr 1661 ein, wo er sich als Schüler des Malers van der Wenn sich der Pastor das Totenbild als Mahnmal der
Helst aufhielt. Auch dies ist eine historische Reminis- Vergänglichkeit wünscht, damit es daran erinnere,
zenz: Bartholomeus van der Helst (1813–1870) war »daß vor der knöchern Hand des Todes Alles Staub«
ein Zeitgenosse Rembrandts, ein auf Portraitmalerei (450) sei, dann widerspricht diese Funktionalisierung
spezialisierter holländischer Meister. Wieder in der der Malerei im Zeichen des memento mori seiner frü-
Heimat muss Johannes erfahren, dass sein väterlicher heren Diskreditierung der Malkunst als ein die Sinn-
Förderer Herr Gerhardus tot ist und dessen adelsstol- lichkeit anfachendes »Buhlweib mit der Welt« (450).
zer Sohn, der Junker Wulf, nun das Regiment führt. Bildern, die in literarischen Texten aufgerufen wer-
Wulf erteilt Johannes den Auftrag, seine Schwester den, eignet ein selbstreflexives Moment, insofern sie
Katharina, die er gegen ihren Willen verheiraten will, eine implizite Grenzüberschreitung des Mediums
für die Ahnengalerie zu portraitieren. Johannes und markieren. In Aquis submersus verweisen die Bilder
Katharina, die in einem geschwisterähnlichen Ver- auf die Relation von Realität und Abbild, nachdrück-
hältnis aufwuchsen und sich einander von Kindheit lich markieren sie die »Grenzstelle zwischen leben-
an verbunden fühlen, deren Heirat aufgrund des Stan- dem Betrachter und toten Modellen« (Bronfen 1990,
desunterschieds ‒ Katharina ist adliger und Johannes 314). Johannes tritt als Maler der Toten auf, gleich die
bürgerlicher Herkunft ‒ aber ausgeschlossen scheint, erste Malszene zeigt ihn bei dem Versuch, die »bald
schmieden Fluchtpläne und verbringen eine gemein- vergehenden Züge« (LL  2, 395) der Leiche seines
same Nacht. Als Johannes am nächsten Tag um ihre Ziehvaters Gerhardus festzuhalten, dessen »Antlitz«
Hand anhält, schießt Wulf ihn nieder. Zwar erholt er unter seinem Stift neu entsteht (395 f.). Auch mit dem
sich von der Schussverletzung, doch gelingt es ihm da- Bildnis seines toten Kindes sucht Johannes nicht die
nach nicht, auch nur eine Spur von Katharina ausfin- Unabänderlichkeit des Todes, sondern im Gegenteil
dig zu machen. Erst als er fünf Jahre später in die Hei- den flüchtigen Moment des Übergangs vom Leben
mat zurückkehrt und den Auftrag erhält, den Pfarrer zum Tod festzuhalten. Das Bild wird ihm zum Kampf
eines Nachbardorfs zu malen, begegnet er ihr als Frau gegen die Zeit; er malt »rasch, wie man die Todten ma-
des Pastors wieder. Sie hatte geheiratet, damit das len muß, die nicht zum zweiten Mal dasselbig’ Antlitz
57 »Aquis submersus« (1876) 203

zeigen« (451). Am kindlichen Rahmenerzähler er- der Ferne gegenwärtig bliebe, ein »zwitschernd Vöge-
weist sich das Gelingen dieses Vorhabens, denn er lein« (422) hinzu setzte, gibt er seinem toten Kind als
nimmt das Portrait als ein Vexierbild wahr, das nicht ein »klein Geschenk« eine weiße Lilie in die Hand, »als
nur das »Grauen des Todes«, sondern zugleich auch sei es spielend damit eingeschlafen« (452). Die Gabe
»eine letzte holde Spur des Lebens« (381) bewahrt. der Lilie versöhnt (entsprechend dem Verklärungs-
Derart thematisiert der Text die Gedächtnisfunktion postulat des Realismus) mit der schrecklichen Realität
der Bilder in ihrem Vermögen, als Mittler zwischen und zugleich öffnet sie den Raum für allegorische
Leben und Tod zu fungieren. Deutungen. Ikonographisch steht die weiße Lilie für
Die Bilder erscheinen aber nicht bloß als Medien, Reinheit und Jungfräulichkeit, im christlichen Kontext
die das Vergangene bewahren, sondern an sie knüpft begegnet sie als Marienattribut. Bemerkenswert ist,
sich zugleich die Drohung seiner unkontrollierbaren, dass ihr Anblick ausgerechnet den Pastor, den Feind
gespenstischen Wiederkehr. In der Ahnengalerie hält der Malerei, dem Marienbilder als »Säugammen der
das Bild der Ahnfrau, die mit ihren »stechend graue[n] Sinnenlust und des Papismus« (438) gelten, zu Tränen
Augen« (407) Katharina seit Kindheit in »Furcht« der Empathie rührt. Die bildliche Darstellung vermit-
(407) versetzt, die Erinnerung an ein früheres Un- telt also eine emotionale Nähe, die noch die Kluft des
glück wach, das den Tod des kleinen Johannes als Todes überwindet. Zeugt schon dieses Bild von der
Wiederholung erscheinen lässt. Als Johannes die leb- Mitleid und Verzeihen auslösenden Kraft der Kunst, so
losen Augen seines Kindes sieht, scheint es ihm für ei- tritt deren Versöhnungsleistung an einem anderen Ge-
nen Moment, als blicke er in »die Augen jener Ahne mälde, das freilich nur wie beiläufig erwähnt wird,
des Geschlechtes« (453). Doch verwirft er diesen Ein- noch deutlicher hervor. Die Entstehung dieses Bildnis-
druck als Projektion und setzt die Gegenwart ins ses bleibt im Dunkeln, klar ist, dass sie später erfolgt
Recht: »Nicht aus der Tiefe schreckbarer Vergangen- sein muss, denn die Bildkomposition vereint die bei-
heit ist es heraufgekommen; nichts Anderes ist da als den Toten des Johannes, der seinem Ziehvater sein to-
deines Vaters Schuld« (453). tes Kind »sanft in seinen Arm gebettet« (431) hat.
Statt sein Bild zu signieren, versieht Johannes es mit Freilich erscheint in der Erzählung die Erinne-
einer Schuldzuweisung, die den Tod des Kindes zu rungsleistung der bildkünstlerischen Hervorbringun-
seinem Werk erklärt: »C. P. A. S. Das sollte heißen: gen gefährdet und angewiesen auf das Medium der
Culpa Patris Aquis Submersus, ›Durch Vaters Schuld Schrift. Das betont die knapp gehaltene Schlusspartie,
in der Fluth versunken‹.« (453) Hat er dem Gemälde der zufolge sich die Spuren des Malers im Nebel ver-
damit zwar die eigene Verantwortung eingeschrieben, lieren: sein Lazarus-Bild ist »verschleudert und ver-
so doch nur in verschlüsselter, zur Interpretation he- schwunden« (455), sein Name in keinem »Künstler-
rausfordernder Form. Das kindliche Rahmen-Ich ver- lexikon zu finden« (455) und selbst in der Heimatstadt
anlasst dies zur Hypothese, die ersten beiden Buchsta- nicht mehr bekannt. Derart korrespondiert der Tragik
ben der Inschrift mit »Culpa Patris« (383) zu deuten, der Ereignisse die vielleicht noch größere Tragik des
wobei es wie selbstverständlich annimmt, dass der auf Vergessens, die das Einzelleben aus dem kulturellen
dem Portrait finster dreinblickende Pastor der Kinds- Gedächtnis löscht, und das, obwohl die künstlerischen
vater sein müsse. Näher besehen erweist sich dies als Hervorbringungen dieses Einzelnen als bedeutend
durchaus erwägenswert. Schließlich hat der Pastor die ausgewiesen werden und, wie sich am Rahmenerzäh-
Vaterstelle eingenommen, die dem leiblichen Vater Jo- ler erweist, von bleibender Wirkung sind. Die Ambiva-
hannes aus gesellschaftlichen Gründen verwehrt lenz von Bewahren und Vergessen durchzieht den
blieb, und er war doch im fraglichen Moment abwe- Text. So findet der Rahmenerzähler den Weg zu den
send, um dem zweifelhaften Schauspiel einer Hexen- Hinterlassenschaften des Malers paradoxerweise
verbrennung beizuwohnen. Auch des Pastors eigene durch eine Inschrift, die an das Verlöschen der Men-
Formulierung, dass die »beiden Eltern« (449) das schen erinnert: »Gleich so wie Rauch und Staub ver-
Kind hätten ertrinken lassen, lässt Spielraum für eine schwindt, / Also sind auch die Menschenkind’« (384).
solche Deutung. Obwohl die Worte an einem Hausgiebel der Heimat-
Seine besondere Wirkung erzielt das Bildnis durch stadt stehen, werden sie erst dem erwachsenen Rah-
die eigenmächtige Hinzufügung zweier Details: die In- men-Ich bewusst. In der Binnenerzählung erfährt
schrift und das Bildelement der Lilie. Ähnlich wie Jo- man, dass die Erhaltung der Inschrift sich der Ret-
hannes einst in die Skizze, die er für Katharina von ih- tungstat des Johannes verdankt, der sie bewahrte, als
rem Zuhause anfertigte, damit ihr die Heimat auch in das Haus, auf dem sie ursprünglich angebracht war,
204 III Werk – D Novellen

abgerissen wurde. Selbst die an die Vergänglichkeit niert seien (Bergengruen 2012). Achim Nuber führte
mahnenden Zeichen erscheinen vergänglich. Die No- ins Feld, dass der Titel und der Schluss der Binnen-
velle bringt gegen das Vergessen Praktiken des Er- erzählung sich auf die Worte »Aquis submersus« be-
innerns in Stellung: Sie nimmt der Herausgeberfiktion schränken und die Schuldfrage somit an »rezeptions-
zufolge das Manuskript des Malers in sich auf und ver- ästhetisch privilegierter« Stelle gerade ausgespart
hilft den vergessenen Bildern im Medium der Schrift würde (Nuber 1993, 227).
zu bleibender Erinnerung. In Untersuchungen, die den intermedialen Text-
Aquis submersus gehört nach Immensee und dem Bild-Relationen (Ort 1998; Nuber 1993) beziehungs-
Schimmelreiter zu den anerkanntesten Werken Storms. weise den verschiedenen Zeitschichten und diegeti-
Schon die Freunde, Paul Heyse, Emil Kuh, Erich schen Ebenen der Erzählung Beachtung schenken
Schmidt nahmen die Novelle begeistert auf und auch (Detering 2001; Arendt 2009), tritt die Schuldthema-
die Forschung würdigte sie eingehend. Fritz Martini tik aus dem Fokus und statt ihrer rücken die Relation
sah in ihr »Storms bedeutendste historische Novelle« von Gegenwart und Vergangenheit, die Memorial-
(Martini 1964, 653) und Heinrich Detering befand die funktion der Bilder und des Erzählens sowie die Rolle
für Storm zentrale Erinnerungsthematik hier auf solch des späteren Rahmenerzählers in seiner auffälligen
eindringliche und beklemmende Weise dargestellt wie emotionalen Affiziertheit in den Blick. Heinrich Dete-
in keinem seiner früheren Texte (Detering 2001, 141). ring betonte die Identifikation des Rahmen-Ich mit
Das Werk provozierte eine Vielzahl von Deutungen, dem Bildnis und leitete daraus den Projektionscha-
die in wechselnder Gewichtung psychologische und rakter des Erzählten als eines »phantastischen
gesellschaftskritische, aber auch intermediale, semio- Wunschtraum[s]« (Detering 2001, 146) ab. Als Beson-
logische und narratologische Aspekte betonen, inhalt- derheit hat man die Instabilität des fiktionalen Ent-
lich aber vor allem um zwei Zentren kreisen: um die wurfs hervorgehoben; Umschlagbewegungen kenn-
Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit und um die zeichnen den Text: von objektiver Realität in subjekti-
Erinnerungsleistung der Kunst. ve Imagination, vom Realistischen ins Phantastische
Zur Schuldthematik, der in der Rezeption von früh (Detering 2001), vom Realistischen ins Allegorische
an eine Schlüsselrolle zukam, nahm Storm selbst Stel- (Bronfen 1990; Nuber 1993).
lung. In einer Reaktion auf Erich Schmidt, der 1880 in
einem Beitrag in der Rundschau von einer »Verschul- Literatur
dung des Paares« gesprochen hatte, erklärte er, dass, Arndt, Christiane: Abschied von der Wirklichkeit. Probleme
wenn überhaupt von Schuld zu sprechen sei, dann von bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen lite-
rarischen Realismus. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2009,
der »Schuld oder Unzulänglichkeit des Menschen- 193–224.
thums« (Storm–Schmidt II, 49). Dass die Schuldfrage Bergengruen, Maximilian: Etwas in Katharinas Augen. Zur
dennoch bis heute immer wieder ins Zentrum von In- biologischen Vorgeschichte in Storms »Aquis submersus«.
terpretationen rückt, ist angesichts der figurenper- In: Johannes F. Lehmann/Roland Borgards/Maximilian
spektivischen Schuldzuweisungen (Johannes nimmt Bergengruen (Hg.): Die biologische Vorgeschichte des Men-
schen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wis-
die Schuld am Todseines Kindes auf sich und der Pas-
sensformation. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2012, 155–183.
tor weist den »beiden Eltern« Schuld zu) verständlich. Bernd, Clifford A.: Theodor Storm’s craft of fiction. The tor-
Die Forschung hat unterschiedliche Verantwortliche ment of a narrator. Chapel Hill ²1966.
am Tod des Kindes ausgemacht: Man hat die Schuld in Boehringer, Michael: The telling tactics of narrative strategies
der Hybris des Johannes gesehen (Mullan 1982); sie in Tieck, Kleist, Stifter, and Storm. New York 1999.
auf den Schultern der beiden Vaterfiguren verteilt: der Boll, Karl Friedrich: Das Bonnixsche Epitaph in Drelsdorf
und die Kirchenbilder in Theodor Storms Erzählung
des leiblichen Vaters, der den Sohn über seiner Lei-
»Aquis submersus«. In: STSG 14 (1965), 24–39.
denschaft für die Mutter vergisst, und der des Adop- Bronfen, Elisabeth: Leichenhafte Bilder – Bildhafte Leichen.
tivvaters, der ihm seine Liebe nicht zeigen kann (Kai- Zum Verhältnis von Bild und Referenz in Th. Storms No-
ser 1981); oder man hat generalisierend den gesell- velle »Aquis submersus«. In: Hans Körner (Hg.): Die Trau-
schaftlichen Verhältnissen, dem Standeskonflikt und ben des Zeuxis. Formen künstlerischer Wirklichkeitsaneig-
einer sinnenfeindlichen Religiosität die Verantwor- nung. Hildesheim 1990, 305–333.
Coupe, W. A.: Zur Frage der Schuld in »Aquis submersus«.
tung zugeschrieben (Jackson 1972; Hertling 1995, 76). In: STSG 24 (1975), 57–72.
Diskutiert wurde auch, inwiefern die Figuren über- Cunningham, William L.: Zur Wassersymbolik in »Aquis
haupt autonom handeln und nicht vielmehr durch submersus«. In: STSG 27 (1978), 40–49.
schicksalhaftes Verhängnis oder Vererbung determi- Detering, Heinrich: Storm oder Die Wiederkehr der Toten.
57 »Aquis submersus« (1876) 205

Zur Rahmenerzählung von »Aquis submersus«. In: Ders.: Martini, Fritz: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus
Herkunftsorte. Literarische Verwandlungen im Werk 1848–1898. Stuttgart 21964.
Storms, Hebbels, Groths, Thomas und Heinrich Manns. Müller, Thea: Theodor Storms Erzählung »Aquis Submersus«.
Heide 2001, 106–147. Marburg 1925.
Duroche, Leonard, L.: Like and Look Alike: Symmetry and Mullan, W. N. B.: Tragic Guilt and the Motivation of the Cat-
Irony in Theodor Storm’s »Aquis submersus«. In: Seminar astrophe in Storm’s »Aquis submersus«. In: Forum for Mo-
7 (1971), 1–13. dern Language Studies 18/3 (1982), 225–246.
Feise, Ernst (1938): Theodor Storms »Aquis submersus«: Nuber, Achim (1993): Ein Bilderrätsel: Emblematische
Eine Formanalyse. In: Monatshefte für Deutschen Unter- Struktur und Autoreferentialität in Theodor Storms Er-
richt 30 (1938), 246–256. zählung »Aquis submersus«. In: Colloquia Germanica
Ginsburg, Michal Peled: Portraits, Parents, and Children: 26/3 (1993), 227–243.
Storm’s »Aquis submersus« and Sand’s »Le Château de Ort, Claus-Michael: Zeichen und Zeit. Probleme des literari-
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Hertling, Gunter H.: Theodor Storms »Meisterschuß« »Aquis Pizer, John: Guilt, Memory, and the Motif of the Double in
submersus«. Der Künstler zwischen Determiniertheit und Storm’s »Aquis submersus« and »Ein Doppelgänger«. In:
Selbstvollendung. Würzburg 1995. The German Quarterly 65/2 (1992), 177–191.
Holub, Robert C.: Realism and Recollection. The Comme- Struve, Reinhard: Funktionen des Rahmens in Theodor
moration of Art and the Aesthetics of Abnegation in Storms Novelle »Aquis submersus«. In: STSG 23 (1974),
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Jackson, David A.: Die Überwindung der Schuld in der No- Works of Theodor Storm: A Comparative Study of »Aquis
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Kaiser, Gerhard: »Aquis submersus« ‒ versunkene Kindheit. teljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-
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Kamla, Thomas A.: Transitoriness and Christian Transcen- submersus«. In: Elisabeth Strowick/Ulrike Vedder (Hg.):
dence in Storm’s »Aquis submersus«. In: Forum for Mo- Wirklichkeit und Wahrnehmung: Neue Perspektiven auf
dern Language Studies 39/1 (2003), 27–52. Theodor Storm. Bern 2013, 169–186.

Katharina Grätz
206 III Werk – D Novellen

58 »Renate« (1878) weile, »ein fahlgraues Pferd« davor angebunden sei –


das Pferd, mit dem Renate, »die Hexe von Schwab-
Entstehung
stedte« (587), ihn besuchen komme.
Storm beginnt die Novelle Ende 1877, nach »allerlei
Querleserei in Chroniken von Husum und Umge-
Deutung
gend« (GB 2, 146). Im Manuskript heißt die Erzäh-
lung noch »Aus Anno Siebenzehnhundert«, woraus Die Erzählung beginnt auf einem alten Gehöft in
die strukturelle Bedeutung der historischen Ver- Schwabstedt, dessen Abriss mitsamt des alten Eichen-
ortung des Geschehens erkennbar wird. ›Anno 1700‹, bestandes bevorsteht. Der auffällig liebliche Charakter
der Zeitpunkt, an dem die Handlung der Chronikno- des Ortes, wie die Etymologie seines Namens (»Sua-
velle einsetzt, markiert eine Schwellensituation: So ist vesstätte d. i. lieblicher Ort«; LL 2, 523) es suggeriert,
auch die Erzählung zwischen dem noch nicht über- täuscht; soll an diesem Ort doch eine Hexe gelebt ha-
wundenen Obskurantismus und dem Vernunftden- ben und bis heute ihr Unwesen treiben. Der Rahmen-
ken des 18. Jahrhunderts angesiedelt – eine Konstella- erzähler (der im Laufe der Novelle ab und an ein-
tion, die Storm in Der Schimmelreiter (1888) weiter geschaltet wird, zu dem die Novelle am Ende aber
vertiefen wird. nicht mehr zurückkehrt) erfährt im Gespräch mit ei-
Renate wird erstmals 1878 in der Deutschen Rund- ner älteren Kräuterfrau, der »Mutter Pottsacksch«
schau veröffentlicht. Im selben Jahr erscheinen zwei (zur Namensgebung vgl. Pastor 2000, 178 f.), das Ge-
Buchausgaben bei Paetel in Berlin, eine Separatausga- rücht über eine Hexe, die regelmäßig auf einem
be und ein weiterer Druck unter dem Titel Neue No- schwarzen Pferd ins Moor geritten sein soll, während
vellen zusammen mit Carsten Curator. 1882 wird sie in die Gemeinde in der Kirche betete.
die Schriften (Bd. 12) übernommen. Die von Storm Die Neugierde, die die Legende beim Erzähler ge-
korrigierte Fassung in dem Sammelband Vor Zeiten, weckt hat, wird indessen erst Jahre später gestillt, als er
der in Berlin 1886 erschien, stellt die Ausgabe letzter bei seinem Großvater ein Manuskript aus dem Jahr
Hand dar. 1700 entdeckt. Die Binnenerzählung besteht aus einer
für den Leser erläuterten Fassung dieses Dokuments,
wobei der Herausgeber anmerkt, er habe an »der
Inhalt
Schreib- und Vortragsweise [...] so viel geändert, als
Der Erzählkern wird von der Grundopposition eines zur lebendigen Darstellung des Inhalts nötig erschien;
von Gegensätzen geprägten Paares bestimmt: Josias, an einzelnen Stellen für manche Leser vielleicht kaum
Pastorensohn und selbst Student der Theologie, ver- genug; an dem Inhalte selbst ist nicht von mir gerührt
liebt sich in Renate, die Tochter eines Hofbauern in worden« (LL 2, 526). Von Bedeutung ist, dass die Bin-
Schwabstedt, dessen Reichtum auf der ›verständige- nenerzählung mit verschiedenen Erzählern arbeitet,
ren‹ Einrichtung des Hauses gründet (LL 2, 549), der die jeweils eine andere Sicht auf die Geschehnisse ha-
von der abergläubischen Dorfbevölkerung jedoch als ben: So findet sich in den Aufzeichnungen des Josias
Schwarzkünstler verschrien wird. Im Zusammenfüh- die Niederschrift eines Briefes seines Vaters (566–
ren des jungen Theologen, der wie sein Vater Anhän- 569), der die dämonisierende Perspektive der Dorf-
ger der Teufelslehre Petrus Goldschmidts ist, mit der bewohner ungebrochen übernimmt; abgeschlossen
Familie des aufgeklärten Bauern, erwächst der Novelle wird die Novelle durch die Nachschrift eines Neffen
ihr struktureller Konflikt: Der Liebesbeziehung steht des Josias, dem vorbehalten bleibt, die geistige Läute-
ein Diskurs der Verblendung und Besessenheit im rung seines Onkels zu erzählen (583–587).
Weg, der Renate in den Augen Josias’ zu einer dämo- Der basale Konflikt der Novelle ist somit in der Tat
nisch behafteten Figur werden lässt, die zu heiraten ein perspektivischer: Die Handlung resultiert aus der
ihm sein Vater auf dem Sterbebett untersagt. Nach- konsequenten Doppelung von Wirklichkeit, der hete-
dem Josias Renate vor einem »Haufen junger Knech- rogenen Wahrnehmung des Geschehens. Josias fun-
te« rettet (579), die sie als Hexe ertränken wollen, ver- giert dabei von Anfang an als Träger einer Diabolisie-
lässt er das Dorf, um schließlich »ein geistlich Amt im rung der Welt, wie sich bereits in der Eingangsepisode
Norden unseres Landes, von Schwabstedt viele Meilen zeigt: Der Knabe Josias, der sich aus Unachtsamkeit in
fern« anzutreten (582). Erst im Alter erkennt er seine der Husumer Kirche hat einschließen lassen, hält den
Verblendung, und es wird kolportiert, dass fortan je- schwarzen Hund, der ja gerade die Kirche bewachen
den Sonntag, wenn der alte Josias allein im Pastorat soll und den Eindringling anfällt, für eine Inkarnation

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_58, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
58 »Renate« (1878) 207

des Teufels, der beim alten Taufstein sein Domizil ge- der von deinen [Renates] Lippen redet« (575). Der
wählt hat. (Und dementsprechend kann er auch nur von ihm begonnene, aber nicht vollendete Exorzismus
von den Engeln gerettet worden sein, die vom Kruzifix (»Exi immunde spiritus!«, ebd.) legt dabei eine Spie-
der Kirche herabgestiegen sind.) gelstruktur offen, unterstellt er doch Renate just jene
Die Vorstellung einer dämonisch durchzogenen diabolisch verfremdete Wahrnehmung (»Ein höllisch
Welt überschattet Josias’ Wahrnehmung. Dass in die- Blendwerk hat dein Aug verwirret«, ebd.), die sein ei-
sem Fall die »Bestia« (529) und der Engel zusammen- genes Handeln bestimmt.
gehören und nicht als Himmels- und Teufelsmächte Solange man auf Josias oder seinen Vater (zu des-
einander gegenüberstehen, vermag er nicht zu sehen, sen Bemächtigungsstrategien vgl. ausführlich Camp-
sondern muss es erst fünf Jahre später, beim Wieder- bell 1995) als Erzähler angewiesen ist, bildet deren
sehen mit Renate in Schwabstedt, lernen. Unbeein- Wahrnehmung die Grundlage der Wirklichkeits-
trächtigt von dieser Begegnung bleibt indessen seine struktur – und diese schließt lebende Schatten, ein
Neigung, teuflische Zeichen zu sehen und zu deuten: »unheimlich Wesen« (563) und auch ›Irrwische‹ (569)
Davon betroffen sind zunächst einmal die Tiere der ein. Eine originäre, fundamentale Gegenperspektive
Erzählung (vgl. Schuster 2003), allen voran die Els- ist für diese Erzähler unerreichbar, der Zweifel an der
tern, deren Gekrächze am »Renatenhof« in Schwab- Konsistenz seines Weltbildes, der Josias bisweilen be-
stedt immer wieder eingeblendet wird. Zum eigentli- fällt, wird allein getragen von der Liebe zu Renate. Ei-
chen Prüfstein für Josias wird jedoch der »Fingaholi«, ne echte Erschütterung des dämonischen Narrativs er-
der »Heidengötze« (LL 2, 545), der dem Hofbauern eignet sich erst in jenem Moment, in dem Josias selbst
einst als exotisches Souvenir aus Übersee von seinem von diesem kontaminiert wird: in der Rettung Renates
Onkel vermacht wurde. Während der Hofbauer den vor den Knechten, die ihn zum »Hexenpriester« wer-
Fetisch im Grunde als ›Kulturgegenstand‹ betrachtet, den lässt (580) und in deren Nachgang ihm das Ge-
an dem sich die Heterogenität religiösen Empfindens rücht zugetragen wird, das Mädchen sei »derzeit über
nachvollziehen lässt (»Wird in der Welt zu allerlei das Wasser und auf den Blättern der Teichrosen, wel-
Ding gebetet!«, ebd.), verknüpft Josias, angetrieben che sie getragen hätten« (582), zu ihm hingelaufen.
von den an ihn herangetragenen Gerüchten über den Doch selbst dies vermag er nicht als menschen-
Hofbauern, das »unförmlich und scheußlich Graun- gemachte Lüge zu benennen, sondern schreibt die
bild« unwillkürlich mit dem Diskurs der schwarzen verfälschte Wahrnehmung einem »Gaukelwerk des
Magie. Der rationalen Betrachtung der Dinge tritt so- argen Geistes« zu (ebd.).
mit immer die Reflexion gegenüber, dass diese auch Die theologische Verantwortung für diese Immu-
eine okkulte Wirksamkeit entfalten könnten. nisierung der Teufelserzählung gegen jede Anfech-
Diese Struktur durchzieht die ganze Novelle. Der tung von außen schreibt die Novelle dem aus Husum
gesunde Viehbestand des »Renatenhofs« ließe sich stammenden, später der Simonie überführten und
mit der magischen Wirkung des »Fingaholis«, Ratten seines Amtes enthobenen Theologen Petrus Gold-
und Mäuse vertreiben zu können, erklären – oder schmidt zu. (Zu Goldschmidt vgl. Gerrekens 2008,
eben mit dem Umstand, dass der Hofbauer intuitiv die 271–273.) In der Entwurfshandschrift hatte Storm
für den aufgeklärten Leser selbstverständlichen Re- noch statt Goldschmidt Friedrich von Spee eingesetzt,
geln der Hygiene beachtet. Der Tod von Renates Vater dessen Eintreten gegen die Hexenverfolgung ihn frei-
wird als Kampf mit dem Teufel kolportiert, nach den lich für die Novelle dysfunktional hätte werden lassen.
Maßstäben der Medizin des 18. Jahrhunderts könnte Goldschmidt, ein im Gegensatz zu Spee höchst dubio-
er hingegen Opfer eines Epilepsieanfalls gewesen sein. ser Charakter, wird von der Pastorenfamilie unter-
Als Renate bei der Kommunion die Hostie fallen lässt, würfig empfangen; Vater und Sohn verehren ihn glei-
vermutet Josias, dass es sich um eine frevelhafte Geste chermaßen unkritisch als aufrechten Verteidiger der
handelt: Hexen verweigern das Empfangen des hei- Orthodoxie, der in seinem Pamphlet Der höllische
ligen Leibs Christi. (Zum Motiv der Hostienschän- Morpheus (1704) das innerweltliche Wirken des Teu-
dung vgl. Rammelmeyer 1977.) Renates Erklärung, es fels durch Hexen und schwarze Magie behauptet und
habe sie vor der Vorstellung geschaudert, aus jenem gegen die Einwände der Aufklärer, zuvorderst gegen
Kelch zu trinken, den vor ihr ein von »greisenhaften die in Christian Thomasius’ De crimine magiae (1701)
Gebresten« entstelltes Ehepaar an die Lippen führte und Balthasar Bekkers Die bezauberte Welt (1693)
(LL 2, 574), kann zu ihm nicht durchdringen, ist es in vorgetragenen Argumente vehement verteidigt hat.
seiner Wahrnehmung doch »des Teufels Hochmuth, (Sowohl Goldschmidts als auch Bekkers Abhandlung
208 III Werk – D Novellen

befanden sich in Storms Bibliothek.) Für die zweifel- der Welt: Die Tiermetaphern bergen die Präsenz der
haften Züge dieser Persönlichkeit, die all ihre Fehlleis- Geliebten, ihre spirituelle Einkörperung in eine andere
tungen konsequent an den Teufel delegiert, welcher Gestalt und bestätigen somit einerseits die Existenz
etwa auch das Pferd Goldschmidts »vom Wege in das von Zusammenhängen, die jenseits der vernunftgelei-
Moor hineingegaukelt« haben soll (LL 2, 555), sind Jo- teten Weltwahrnehmung liegen. Andererseits stehen
sias und sein Vater blind. sie aber paradigmatisch der von Josias vormals dia-
Eine Aufhebung der Verblendung wird erst durch bolisch besetzten Tierwelt gegenüber. So handelt es
einen Erzählerwechsel möglich; die Schlusserzählung sich bei jenem kleinen Vogel um eine Wandlungsmeta-
von der Besinnung des Josias fällt dementsprechend pher, die zwar im Bildraster der Vorzeichen – der re-
der Nachschrift des Neffen zu. In der Erkenntnis, dass frainhaft beschworenen Elstern von Schwabstedt –
»der Teufel [...] nur ein im Abgrund liegender un- verankert bleibt, diese aber ideell überschreitet, ja: von
mächtiger Geist« sei (585), dringt die Novelle erstmals einer Befreiung von den Omen kündet. Aushalten
zu einer Position vor, die das Diabolische und die kann dieses Paradoxon aber eben nur die Dichtung,
Wirklichkeit in ein reflexives Verhältnis setzt. Erst von die einer imaginären Welt selbst immer nur mit Imagi-
dieser Position aus wird es möglich, Renate und Josias närem entgegentreten kann.
wieder zusammenzuführen, wobei die Wiedervereini-
gung des Paares nicht als eine finale Überwindung des Literatur
Aberglaubens gelesen werden kann. Geschildert wird Campbell, Ian R.: A Subtle Tyranny: The Father-Son Relati-
die sonntägliche Zusammenkunft der beiden immer onship in Theodor Storm’s Renate. In: Seminar 31 (1995),
189–202.
noch im Duktus des okkulten Gerüchtes; sie erfolgt Freund, Winfried: Renate. In: ders.: Theodor Storm. Stuttgart
immer just zu jenem Zeitpunkt, an dem die restliche 1994, 53–59.
Gemeinde in der Kirche weilt und Josias’ Vetter, der Gerrekens, Louis: Theodor Storms Novelle »Renate« zwi-
Ostenfelder Pastor, der immer noch an Teufelsmani- schen Aufklärungsoptimismus und Kampf aller gegen
festationen glaubt, darf von alldem nichts erfahren. alle. In: Roland Duhamel/Guillaume van Gemert (Hg.):
Nur Narr? Nur Dichter? Über die Beziehungen von Litera-
Dass derjenige, der »Alles nun gelesen«, »besser«
tur und Philosophie. Würzburg 2008, 265–284.
wüsste, »wer sie war, die seinen letzten Hauch ihm von Lefebvre, Jean: »Weltlich oder geistlich«? Ist »Renate« eine
den Lippen nahm« (587), ist leicht gesagt: ›Gewusst‹ Hexengeschichte? In: STSG 61 (2012), 37–56.
wird in Renate bis zum Ende nichts, alles bleibt Kol- Pastor, Eckart: Die männliche Stimme. Überlegungen zum
portage und dem Dafürhalten des Lesers anheim- Stormschen Erzählen anlässlich der Novelle »Renate«. In:
gestellt. Allerdings erfährt der Leser, dass Renates Gerd Eversberg/David A. Jackson/Eckart Pastor (Hg.):
Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Ge-
Pferd, das die Kräutermutter vor dem Rahmenerzähler
burtstag. Würzburg 2000, 163–182.
»Gnidderswart« (525) genannt hat, Gerüchten zufolge Rammelmeyer, Alfred: Die geschändete Hostie. Zu einer
doch wohl eher ›fahlgrau‹ gewesen sei (586). Und Motivübereinstimmung in »Rasskaz otca Alekseja« von
wenn zur Verwunderung des Pastors ein kleiner Vogel Ivan Turgenjev und Theodor Storms »Renate«. In: Frank-
»furchtlos« auf den Händen des toten Josias sitzt, der furter Abhandlungen zur Slavistik 24 (1977), 235–262.
alsbald in die »freie Himmelsluft« hinausfliegt, dann Schuster, Ingrid: Tiere und Aberglaube: »Renate«. In: dies.:
Tiere als Chiffre, Natur und Kunstfigur in den Novellen
schiebt sich schließlich das poetische Sprechen zwi- Theodor Storms. Bern 2003, 75–85.
schen die dämonische und die rationale Interpretation
Jean Lefebvre
59 »Carsten Curator« (1878) 209

59 »Carsten Curator« (1878) Hinzu kommt noch etwas anderes: Im Hause Cars-
tens wächst neben Heinrich noch eine Pflegetochter
Die bereits Ende der 1860er begonnene, aber erst 1878 auf, Anna, die über ein ererbtes Vermögen verfügt, das
erschienene Novelle wurde von Storm selbst einem sie von ihrem Ziehvater verwalten lässt. Am Ende des
ganz konkreten biographischen Subtext zugeordnet: Tages wird sie Heinrich heiraten, ihr Vermögen in ein
der Beziehung zu seinem dem Alkoholismus verfalle- gemeinsames Kaufmannsgeschäft stecken, das Hein-
nen ältesten Sohn Hans. In den Briefen, die den Ent- rich binnen kurzer Zeit in den Bankrott führt. Als
stehungsprozess und die Vollendung des Carsten Cu- Heinrich ein letztes Mal darauf bei seinem Vater vor-
rator abspiegeln, wird die Sorge um den »Sorgensohn spricht, um die letzten verbliebenen Wertpapiere aus
Hans« immer wieder parallel geführt (vgl. etwa Annas Besitz einzufordern, verweigert dieser ihm die
Storm–Schmidt I, 46 f.). Gegenüber Heyse legt er da- Freigabe. Auf dem Heimweg gerät der betrunkene
bei offen, dass die Novelle »auf einem inneren Befrei- Heinrich dann in eine Sturmflut und ertrinkt. Carsten
ungsact« beruht, insistiert zugleich jedoch darauf, muss zur Begleichung der Schulden seines Sohnes
»daß Hans in so unehrenhafte Dinge, wie der Sohn des sein Anwesen aufgeben und verbringt die letzten Tage
C. C. nie hineingerathen ist« (Storm–Heyse II, 76). seines Lebens mitsamt seiner Schwiegertochter und
Wiewohl zwischen Text und Leben ganz offenkundige seinem Enkelsohn in einem heruntergekommenen
Analogien bestehen, denen sich die Forschung bereits Haus am Rande der Stadt.
eingehend gewidmet hat (Laage 1994, 92–98; Gold-
ammer 2000), wäre es falsch, Carsten Curator auf die
Deutung
Erzählachse der Vater-Sohn-Konstellation, geschwei-
ge denn auf das biographische Substrat zu reduzieren. Das Fundament der Novelle bildet das Prinzip des
Vielmehr fungiert in gerader Umkehrung die Novelle ›Gleichgewichts‹, das durch einen ökonomischen wie
als eine Deutungsfolie, mit deren Hilfe Storm das Ver- libidinösen Triebverzicht gesichert wird. Die Erzäh-
hältnis zu seinem Sohn zu entziffern versucht, auf der lung beginnt mit der Schilderung einer Verwandlung,
sich tatsächlich aber auch ganz andere, »unehrenhafte nämlich mit der Verwandlung des homo oeconomicus
Dinge« abzeichnen. in einen Verwaltungsangestellten, des Wollwaren-
wändlers Carsten Carstens in »Carsten Curator«, dem
seine eigentliche Handelstätigkeit »zu einer Neben-
Inhalt
sache herab« sinkt. Dem Rückzug aus Handel und Ge-
In einer nordfriesischen Hafenstadt lebt zu Beginn winnstreben korrespondiert dabei die radikale Dis-
des 19. Jahrhunderts ein vierzig Jahre alter Woll- tanzierung der Lust: Obgleich Carsten durch seine
warenhändler mit Namen Carsten Carstens, der in- neue – literarisch vermittelte – Tätigkeit zum »Cura-
folge einer intensiven Beschäftigung »mit allerlei tor einer Menge von verwitweten Frauen und ledigen
Büchern und Schriftwerk« zu einem hochgerühmten Jungfrauen« wird, bleibt er dabei doch stets ein »un-
Sachverständigen in Fragen der Verwaltung von antastbarer Ehrenmann« (LL 2, 456), dessen Interesse
Nachlässen avanciert ist. Als solcher wird er eines allein den toten Männern und deren Erbmasse gilt.
Tages darum gebeten, den Nachlass eines ruiniert in Folglich nimmt die Novelle ihren Ausgang in einer
den Freitod gegangenen Spekulanten zu ordnen, des- sterbenden Welt, in der nichts Neues mehr entstehen
sen einziger »Aktivbestand« seine Tochter, die »hüb- kann, Familie und Vermögen nicht mehr produziert,
sche Juliane« ist. Carstens verliebt sich in das Mäd- sondern nur noch organisiert werden. Das Überleben
chen, es kommt zu einer recht spontanen Heirat und der Wirtschaftsgemeinschaft setzt demnach zwangs-
schon bald gebiert Juliane Carsten einen Sohn mit läufig einen Bruch mit dem sie konstituierenden
Namen Heinrich – sie selbst stirbt auf dem Kindbett. Gleichgewichtsprinzip voraus und in dieser paradoxa-
Der Sohn aber schlägt ganz nach der Mutter, von der len Struktur – der Selbstaufgabe um der Selbstrettung
er nicht nur das Aussehen, sondern auch die Proble- Willen – lässt sich die tragische Konstellation der No-
me im Umgang mit dem Geld geerbt hat. Die Stel- velle ausmachen.
lung bei einem Senator, zu der ihm sein Vater verhol- Entfalten kann sich die Tragik allerdings erst durch
fen hat, verliert er, da er ihm anvertraute Geldsum- die Verflechtung von Eros und Ökonomie. Offensicht-
men verspielt; später werden seine Verluste ihm im- lich ist, dass die durch den Kurator repräsentierte Poli-
mer wieder aus dem Vermögen des Vaters beglichen tik des ökonomischen Gleichgewichts sich vor allem
werden. anderen über die Verwaltung des den Frauen zuge-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_59, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
210 III Werk – D Novellen

wiesenen erotischen Potentials definiert. Als Schlüs- dessen Ausgang auch in Carsten Curator die Geburt ei-
selszene erweist sich diesbezüglich Annas angstvoller nes Sohnes – Heinrich/Perseus – steht, von dem Cars-
Eintritt in die Mündigkeit, der ihr den Zugang zu dem ten/Akrisios den eigenen Untergang zu befürchten
ihr vererbten Vermögen von achttausend Talern er- hat. Der Auszehrungsprozess, der im weiteren Verlauf
möglicht. Bei Licht besehen handelt es sich um die Ini- das Verhältnis zwischen Vater und Sohn bestimmen
tiation in den Kodex einer Gesellschaft, die den Frau- wird, geht dabei zurück auf eine Erschütterung der Ku-
en Geschäfts- und Wirtschaftsfähigkeit zuweist, in- ratorenwelt in ihrem Fundament, nämlich in der Statik
dem sie ihnen im Gegenzug ihre Trieblizenz nimmt. von Eigentum und Erbfolge. In der Verbindung mit Ju-
Wenn Carsten der Sorge seiner Ziehtochter, man habe liane setzt Carsten die Ordnung des Gleichgewichts
sie »das mit den vielen Talern [...] nicht lernen lassen« gleich in mehrfacher Hinsicht dem Prinzip der Spe-
(463), dadurch begegnet, indem er ihr anbietet, wei- kulation aus. Zum Ersten einmal natürlich im Sinne
terhin ihr »Curator« sein und »wie bisher die bösen der finanzökonomischen Spekulation, die, anders als
Taler tragen« helfen zu wollen, bis sie sich »den golde- Carsten (457), eben keine festen Preise kennt, sondern
nen Ring an den Finger stecken lassen« und »wieder gerade von der Intransparenz des Marktes lebt, den
unmündig werden« (ebd.) – dann lässt sich diese Of- vertrauten Bestand der Waren mit einer unbekannten,
ferte unschwer als ein verheerender Tauschhandel grundsätzlich unerschöpflichen Warenwelt verkop-
entziffern. Die Frau erhält das Gold aus den Händen pelt. Die Erzählung inszeniert diese Perforation der
der Männergesellschaft, die dafür die Kontrolle der geschlossenen Wirtschaftsräume zunächst auf einer
weiblichen Sexualität übernimmt. Carstens Schwester historisch-politischen Ebene – in der Durchbrechung
Brigitte, die den Wollwarenhandel ihres Bruders über- der napoleonischen Kontinentalsperre durch die
nommen hat und unverheiratet geblieben ist, hat die- Schmuggler und ›fremden Spekulanten‹, zu denen Ju-
sen Tausch bereits hinter sich gebracht. lianes Vater zählt. Später kehrt das ›verdeckte Wirt-
Erst vor diesem Hintergrund entschlüsselt sich die schaften‹ dann wieder in Heinrichs Projekten und Un-
eigentliche Bedeutung der Spekulantentochter Juliane, ternehmungen, die auf bereits eingeplanten Gewinnen
die weniger als handelnde Person (als welcher ihr nur aus noch anstehenden Geschäften beruhen (489) und
wenig Raum zugemessen wird) denn vielmehr als Wir- deren ideologischer Kern das ›Geldspiel‹ ist (welches
kungsprinzip die Novelle in ihrer Grundstruktur pro- Heinrich um seine Stelle beim Senator bringt).
grammiert. Im Gegensatz zu den anderen Frauen des Zum Zweiten ist die Abkunft des spekulierenden
Textes geht Juliane auf den Tausch Geld gegen Libido Sohnes selbst wiederum spekulativ. Nichts an Hein-
nicht ein, sondern nimmt gerne von Carsten ›das Gold rich verweist auf seinen Vater, dessen genetisches Erbe
am Finger‹ entgegen (um es mit vollen Händen wieder erst wieder im Enkel zum Vorschein kommt, der Cars-
auszugeben), ohne freilich umgekehrt ihr erotisches tens »Augen« besitzt (521). Heinrich hingegen ist ganz
Kapital ihm alleine zu überschreiben – wie sich an je- allein das Kind seiner Mutter, bisweilen scheint er sich
nem österlichen Tanzabend zeigt, an dem sie ihm im- sogar in sie zu verwandeln (489) und dabei auch die
mer wieder mit ›vor Lust leuchtenden Augen‹ »von den Geschlechtergrenzen zu überschreiten (479). Die Evi-
Offizieren fortgeholt« wird (476). Sie bleibt in jeder denz des Augenscheins, die das genetische Erbe aus-
Hinsicht eine Allegorie des Überschusses, die auf Cars- weist und damit den Grundmechanismus der Kurato-
ten einen zwiespältigen Reiz, Faszination wie Schre- renwirtschaft – die familiäre Erbfolge von Vater auf
cken ausübt, wie Carsten seiner Schwester gesteht: Sohn – sicherstellt, wird durch den sich wild vernet-
zenden Eros, die »böse Lust«, die Carsten in Julianes
Und als wir dann in unserer Kammer waren, als sie mir Augen spielen sieht (477), unterlaufen. So gehen diese
keinen Blick gönnte, sondern wie zornig Gürtel und an jenem Tanzabend mit jenen des »schönen Teufels«
Mieder von sich warf, und als sie dann mit einem Ruck »ineinander« (476 f.) und weisen hierbei auf eine Ver-
den Kamm aus ihren Haaren riß, daß es wie eine golde- bindung hin, die die biologischen Abstammungsver-
ne Flut über ihre Hüften stürzte – es ist nicht immer, hältnisse stets überlagert. Diese Autonomisierung
wie es sein sollte, Schwester – denn was mich hätte und Unverbindlichkeit des Augenscheins kehrt kon-
von ihr stoßen sollen, – ich glaub’ fast, daß es mich nur sequent wieder in Heinrich, dem Anna später unter-
mehr betörte. (477) stellen wird, sich »wohl andere Augen aus Hamburg
mitgebracht« zu haben (491) und der am Ende
Unzweifelhaft handelt es sich hier um eine Adaption schließlich nur noch »[z]wei stumpfe gläserne Augen«
des Danaë-Mythos (vgl. Theisohn 2016, 146–150), an besitzt (516).
59 »Carsten Curator« (1878) 211

Zum Dritten aber macht die Spekulation auch vor Tragisch bleibt die Erzählung deswegen, weil sie im
dem Erzählen selbst nicht halt. Wenn etwa räsoniert Protagonisten zwei gleichberechtigte Zwecke – Recht
wird, dass im Wohnzimmer der Familie Carstens und Familie – zusammen- und gegeneinanderführt.
»weiland Vater Carstens [...] Berichte aus fremden Die Kollision der Zwecke macht es Carsten unmög-
Welten nur einen Stoff zum behaglichen Weitererzäh- lich, entscheidend zu handeln. Als Vater obliegt ihm
len geliefert hatten«, während »sie in dem Sohne oft die Fürsorgepflicht für den Sohn, der »nicht verloren
eine Kette von Gedanken an[regten], für deren Ver- gehen« darf (LL 2, 479) und für den Fortbestand der
arbeitung er nur auf sich selber angewiesen war«, Familienerzählung unter Aufwendung aller finanziel-
dann wird damit explizit ein Konflikt auf der narrato- len wie physischen Ressourcen gerettet werden muss.
logischen Ebene sichtbar gemacht. An die Stelle einer Während Carsten in dieser parasitären Konstellation
Transformationsleistung, dem Ein- und Weiterspin- sein Leben an ›einen Anderen‹ verliert (501) und im
nen ›fremder Stoffe‹ zu einer Familiengeschichte tritt Laufe der Novelle folglich einen unerklärlichen Alte-
mit Julianes Einheirat eine symbolische, scheinbar re- rungsprozess durchläuft, bis am Ende nur noch von
gellose isotopische ›Verkettung‹ von Symbolen und der »steinerne[n] Gestalt des Alten« (519) gesprochen
Begriffen, von der die Novelle in ihrer Komposition wird, muss er sich schließlich in seiner Funktion als
nach und nach durchdrungen wird. Neben der bereits Kurator gegen den als »Verschwender« ausgewiesenen
erwähnten Kette der Augen, über welche Genealogien Heinrich wenden und diesem die Vollmacht über das
und Identitäten verhandelt werden, stößt man bei ge- Vermögen seiner Frau vorenthalten (vgl. Theisohn
nauer Lektüre u. a. auf die Kette der Eier (durch die 2006, 153). Im Rückzug auf das legalistische Feld gibt
sich Heinrichs Schicksal mit dem seines Onkels ver- Carsten die Integration von kuratorischer und väterli-
knüpft), die Kette des »Bösen« (welche Geld, Lust und cher Fürsorge auf, bleibt »Carsten Curator« und opfert
Gewissen zueinander in Beziehung setzt) und schließ- hierüber den Sohn.
lich auch die Kette der Ringe, welche die noch unver-
heiratete Pflegetochter Anna mit Carstens verstorbe-
Forschung
ner Juliane und über Lessings Nathan (der auch zum
Wohnzimmerinterieur der Familie Carstens gehört) Die literaturwissenschaftliche Wiederentdeckung der
mit dem Erbschaftsdiskurs verbindet. Eine solche Er- Novelle, von Thomas Mann in seinem Storm-Essay
zähllogik aber, die Bedeutung primär durch Autorefe- von 1930 ob ihrer »wunderbar ernste[n] und unerbitt-
rentialität aufbaut, entspricht geradezu idealtypisch liche[n] Schönheit« gerühmt (Mann 1994, 235) und in
dem Mechanismus der Wirtschaftsspekulation als – den Buddenbrooks (1901) alludierend aufgenommen
wie es Urs Stäheli formuliert – einer »abstrakte[n] (vgl. Laage 2006), verdankt sich in erster Linie der wis-
Kommunikationsweise, die [...] virtuos Referenzen in senspoetischen Annäherung an den Text. Aufgezeigt
ein Spiel selbsterzeugter Zeichen überführt« (Stäheli werden konnte in der jüngeren Vergangenheit, dass
2007, 11). Die narratologische Konfliktstellung ergibt Carsten Curator an den verschiedensten epistemologi-
sich in der Folge aus den Verstrickungen Carstens in schen Diskursen seiner Zeit partizipiert und die dort
den Zeichennetzen des spekulativen Erzählens – und auffindbaren Paradigmen poetisch transformiert. Das
den Versuchen, diese Verstrickung durch die Etablie- gilt zuallererst für die »degenerative Spur«, die Maxi-
rung eines Gegennarrativs aufzulösen. Dieses Gegen- milian Bergengruen als ein Residuum der zeitgenössi-
narrativ ist unverkennbar ein biblisches, nämlich das schen Genetikdebatte und Darwin-Rezeption lesbar
des Sohnesopfers, das die Erzählung zweimal aufruft, gemacht hat (Bergengruen 2010) und von der her sich
nämlich einmal im Bild der Bindung Isaaks auf Morija sowohl Heinrichs parasitäre Existenz als Schicksal der
(Gen  22,9; LL 2, 479) und einmal im Bild des nach »dritten Generation« wie auch Annas Entscheidung,
dem Vater rufenden Jesus von Golgatha (Mt 27,46; LL Heinrich zu heiraten (obwohl auch sie nicht »durch
2, 519). Während das biblische Narrativ jedoch im ihr Blut der Ehe zugetrieben« wird; LL 2, 480), als
Opfer gerade die Errettung der Söhne sucht, entpuppt Selbstopfer um der Zuchtwahl willen lesen ließe. Auf
sich Carsten Curator am Ende als eine Revision der dem Feld der Ökonomie wurde wiederum diskutiert,
Passionsgeschichte: Carstens sexuelle Verbindung mit inwiefern Carstens Wirtschaftsdoktrin nicht als eine
Juliane ereignet sich am Abend des Ostersonntag, also Auslegung der sich von Adam Smith abgrenzenden
am Tag der Auferstehung; Heinrichs Rufen in der deutschen Nationalökonomie zu verstehen sei (vgl.
Sturmflut bleibt hingegen unbeantwortet und endet in Bergengruen 2013) oder sich in der Vorstellung vom
einem auferstehungslosen Tod. »natural price« nicht vielmehr gerade Smith’sche
212 III Werk – D Novellen

Theoreme wiederfinden ließen (Theisohn 2016, 143) Goldammer, Peter: Culpa patris? Theodor Storms Verhältnis
– die mit dem Siegeszug der Finanzökonomie hinweg- zu seinem Sohn Hans und seine Spiegelung in den Novel-
gespült wurden. Als ein dritter Wissenskontext wurde len »Carsten Curator« und »Hans und Heinz Kirch«. In:
Gerd Eversberg/David A. Jackson/Eckart Pastor (Hg.):
zudem das schleswigsche bürgerliche Recht aus- Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Ge-
gemacht, mit dem Storm als praktizierender Jurist burtstag. Würzburg 2000, 143–150.
bestens vertraut war und über dessen Referenzierung Laage, Karl Ernst (Hg.): Theodor Storm: »Carsten Curator«.
einerseits Carstens Verbindung mit Juliane als nach Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Aufnah-
dem bürgerlichen Recht anfechtbarer Vorgang, ande- me und Kritik. Heide 1994.
Laage, Karl Ernst: Theodor Storms Makler Jaspers in der
rerseits Heinrichs Stilisierung als »Verschwender« als
Novelle »Carsten Curator«. Ein Vorbild für Thomas
letztmögliche, für die Peripetie der Novelle entschei- Manns Makler Gosch in den »Buddenbrooks«. In: Thomas
dende Zuspitzung der Novelle zu entziffern sind (vgl. Mann Jahrbuch 19 (2006), 71–76.
Theisohn 2016, 149–153). Indem die Erzählung die Mann, Thomas: Essays. Bd. III: Ein Appell an die Vernunft.
sie umspielenden Diskurse nicht nur bündelt, son- 1926–1933. Hg. v. Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 1994.
dern sowohl in ihrer potenziellen Ordnungsmacht Pätzold, Hartmut: Der verunsicherte Bürger. Bemerkungen
zum Paradigma misslingender pluripolarer Identität in
als auch in ihrem Scheitern an den sich verschieben- »Carsten Curator«. In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/
den Wirklichkeiten des 19. Jahrhunderts hervortreten Eckart Pastor (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl
lässt, avanciert Carsten Curator zu einem ›Schalter- Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 129–141.
text‹: das Abschreiten einer an sich selbst zerbrechen- Rakow, Christian: Die Ökonomien des Realismus. Kulturpoe-
den Realität, hinter der bereits die sozio-ökonomi- tische Untersuchungen zur Literatur und Volkwirtschafts-
lehre 1850–1900. Berlin 2013.
schen Paradigmen der Moderne aufscheinen.
Schweitzer, Christoph E.: Die Bedeutung des »Familienbil-
des« für die Interpretation von Theodor Storms Novelle
Literatur »Carsten Curator«. In: STSG 47 (1998), 41–46.
Bergengruen, Maximilian: Das genetische Opfer. Biologie, Stäheli, Urs: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der
Theologie und Ästhetik in Storms »Carsten Curator«. In: Ökonomie. Frankfurt a. M. 2007.
Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), 201–224. Theisohn, Philipp: Der Sohn der Danaë. Manns »Budden-
Bergengruen, Maximilian: Ökonomisches Wagnis / Literari- brooks«, Storms »Carsten Curator« und der Mythos der
sches Risiko. Zu den Paradoxien des Kapitalerwerbs im Spekulation. In: Heinrich Detering/Maren Ermisch/Hans
Poetischen Realismus. In: Monika Schmitz-Emans (Hg.): Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger. Thomas Mann und
Literatur als Wagnis / Literature as Risk. Berlin/Boston Theodor Storm. Frankfurt a. M. 2016, 137–157.
2013, 208–238.
Philipp Theisohn
60 »Im Brauer-Hause« (1879) 213

60 »Im Brauer-Hause« (1879) glauben – auslösen kann, zeigt er mithin in einem


Text, in dem das Leben unschuldiger Menschen durch
Die Novelle, mit deren Abfassen Storm im November die Mitmenschen skrupellos vernichtet wird. In sei-
1878 begann, erschien erstmals im Frühjahr 1879 in nen Erinnerungen an Theodor Storm hat Theodor Fon-
der Aprilausgabe von Westermann’s Illustrirten Deut- tane bei dieser Novelle bereits die »Macht des bloßen
schen Monatsheften, allerdings noch unter dem Titel ›Geredes‹« (Storm–Fontane, 177) hervorgehoben.
Der Finger. Erst in den späteren Buchausgaben wurde Wie später auch in der Novelle Ein Doppelgänger
die Novelle unter dem Titel Im Brauer-Hause ver- steht dieses zerstörerische Potenzial des Erzählens in-
öffentlicht. nerhalb der Binnengeschichte in einem deutlichen
In der behaglichen Atmosphäre eines »angesehe- Kontrast zur gemütlichen Stimmung der Rahmen-
nen Bürgerhause[s]« (LL 2, 647), in dem sich am Tag geschichte: Am »Abend-Teetisch in vertrautem Krei-
der Hinrichtung eines Raubmörders verschiedene se« (LL 2, 647) wird zur allgemeinen Unterhaltung der
Bürger versammelt haben, berichtet die inzwischen geladenen Gäste eine Vergangenheit heraufbeschwo-
schon über fünfzigjährige Erzählerin Nane von Ereig- ren, die inzwischen überstanden zu sein scheint und
nissen, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben offenbar versöhnlich endet. Erzähltechnisch leitet die
und für das Leben ihrer Familie wie für die von dieser Aussage »Ende gut, Alles gut! Es war ja Alles nur um
geführten Brauerei dramatische Folgen hatten. Die nichts gewesen!«, die von einer »muntere[n]« (669),
Hinrichtung, die in der Stadt für Unterhaltung und für naiven Zuhörerin ausgesprochen wird, diesen Schluss
die Verbreitung von »abergläubische[m] Unfug« ein. Nane schließt ihre Erzählung mit dem Kommen-
(648) sorgt, erinnert sie nämlich an ihre Jugend und tar ab, ihre Eltern hätten »Gottes Barmherzigkeit«
an den Mörder Peter Liekdoorn, von dem es damals zwar nicht erfahren, man wisse aber »daß [diese] oft-
hieß, sein Finger sei nach der Hinrichtung gestohlen mals im Verborgenen ihre Ader fließen läßt, um dann
worden. Da die Brauerei der Familie Ohrtmann zu am rechten Orte desto segensreicher aufzusprudeln.«
diesem Zeitpunkt nicht gerade floriert und der für sie (675) So habe die neue Generation mit der modernen
arbeitende Knecht Lorenz Hansen dem Aberglauben Brauerei ihr Glück gefunden.
notorisch verfallen ist, kursiert wenig später das Ge- Storms auf Anhieb positiv wirkende Darstellungs-
rücht, Lorenz habe den Finger ins Bier gelegt, um eine weise verschleiert allerdings, dass diese Entwicklung
größere Kundschaft anzuziehen. Wenngleich der das Leben mehrerer Menschen zerstört hat. Obwohl
Apotheker Hennings nachweisen kann, dass es sich nämlich das Gerücht zu Peter Liekdoorns Finger an-
bei dem vermeintlichen Finger, der in der Biertonne hand von handfesten Beweisen dementiert wird, hin-
eines Bauern gefunden wurde, um »eine verhärtete terlässt es bei der abergläubischen Gesellschaft eine
Gest- und Hefemasse« (667) handelt, blüht die Braue- Spur, die zur Vernichtung zwischenmenschlicher Be-
rei nicht mehr auf: Die Kunden holen sich ihr Bier lie- ziehungen sowie zum Untergang der alten Brauerei
ber beim Konkurrenten. Der Vater der Erzählerin ge- führt. Die Vorwürfe, die die Frau des Brauers ihrem
rät dadurch in Schulden, weshalb seine Tochter eine Mann macht und die seine zu große Laschheit Lorenz
Dienststelle in einer fremden Familie annehmen gegenüber betreffen, führen dazu, dass letzterer die
muss, in die sie dann hineinheiratet. Lorenz verlässt Familie verlässt und bald als »Geisteskranker in die
außerdem die Brauerei, sein Abschied vermag ihren Landesanstalt« (672) aufgenommen werden muss.
wirtschaftlichen Erfolg aber nicht mehr zu befördern Dem Brauer kommen bei der Verhandlung mit Herrn
– zu einem neuen Aufschwung kommt es erst in der Abel, seinem Gläubiger, vermutlich die beiden »Meer-
darauffolgenden Generation durch die Entstehung ei- schaumköpfe« (675) abhanden, womit symbolisch das
ner neuen, modernen Brauerei. Ende der alten Brauerei angedeutet wird.
Die Novelle Im Brauer-Hause gehört zu jenen Wer- Um Storms Novelle in ihrer ganzen Tiefe zu verste-
ken Storms, in denen sich seine Sozialkritik besonders hen, muss sich der aufmerksame Leser daher der fina-
offen kundtut. Als »Kritiker« und zugleich als »Hüter len »captatio benevolentiae« (Gerrekens 2002, 178)
der konventionellen Moral« (Jackson 2001, 267) in entziehen und auf das achten, was Nane nur wider
der kleinstädtischen Realität Husums wusste der Bür- Willen erzählt – etwa die Schulden ihres Vaters – oder
ger und Autor Storm nur allzu gut, wie wichtig es war, gar verschweigt: Dass ihr Bruder eine moderne Braue-
den eigenen Ruf zu wahren und Skandale möglichst rei eröffnen kann, liegt nämlich einzig daran, dass sie
zu vermeiden. Welche katastrophalen sozialen Folgen selbst ihre Familie verließ, als »Dienerin« in ein frem-
das Gerede – vor allem in Verbindung mit dem Aber- des Haus geschickt wurde und später den über zwan-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_60, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
214 III Werk – D Novellen

zig Jahre älteren Sohn dieser neuen Familie heiratete. der durch Nane vermittelte Kommentar zur Tante des
Wie in mehreren anderen Novellen Storms (etwa Mörders Peter Liekdoorn. Zwar tötet Liekdoorn seine
Carsten Curator) wird das Leben der Frau geopfert, Tante aus Geldsucht, doch wird zuvor mitgeteilt, dass
um einen Ausweg, eine Rettung zu ermöglichen. Zu er nur »mit Not und Hunger« aufgezogen wurde, weil
Storms Erzählkunst gehört das zentrale Paradoxon, sie die »Banktaler« zum »ehrlichen Begräbnis« (649)
dass gerade im Erzählen verschwiegen wird, dass Ge- aufgespart habe. Während die Gesellschaft den Mord
rede und Stille also unmittelbar miteinander verbun- aus Habgier mit dem Tod sanktioniert, wird das nach-
den sind. Es ist davon auszugehen, dass Storm sich lässige und verantwortungslose Verhalten der Tante
hierbei nicht nur auf Beobachtungen seiner sozialen kaum hinterfragt. Von Nächstenliebe ist bei diesen
Umgebung, sondern auch auf literarische Vorbilder scheinbar christlichen Menschen insgesamt kaum et-
wie etwa auf Heinrich von Kleists Drama Die Familie was zu spüren – im Gegenteil: Um in dieser Welt zu
Schroffenstein stützt (vgl. Gerrekens 2002). Die zahl- überleben, muss hart gekämpft werden. Ausgerechnet
reichen intertextuellen Bezüge zwischen beiden Tex- Nanes Bruder Christian, der sich mit seinen Kamera-
ten zeugen davon, wie präzise sich Theodor Storm mit den bis aufs Blut schlägt (vgl. 657), sich also vor Ge-
Prätexten auseinandersetzt, wie sehr seine Novellen walt nicht scheut, vermag am Ende eine neue Brauerei
also auch auf schriftlichen Quellen basieren und in ei- zu eröffnen.
nem Dialog mit anderen Werken stehen. Die Inter- Wie scharf Storms Kritik an der von ihm gezeich-
textualität in Storms Werken ist in diesem Sinne ein neten Gesellschaft ist, lässt sich schließlich besonders
zentraler, noch zu erweiternder Forschungsansatz. trefflich am zentralen Motiv des Fingers resümieren:
Wenngleich in der Novelle mit dem Gerede stets Obwohl die abergläubische Geschichte über den Fin-
der Aberglaube assoziiert wird (z. B. durch Figuren ger eines Mörders die Zerstörung einer Familie be-
wie der »alte[n] Krautfrau«; LL 2, 665), ist das leitende wirkt hat, weist selbst noch eine ihrer Angehörigen –
Movens aller Figuren dieses Textes das Geld, das von nämlich Nane – am Ende darauf hin, »jener Finger«
ihnen allgemein positiv gewertet wird: So spricht die habe wohl doch für die Wohlfahrt der Nachfahren
christlich erzogene Nane vom »lustige[n] Geldein- »den Weg gewiesen« (676). Ob sie wirklich daran
nehmen«, das »noch immer nicht in Gang kommen glaubt oder ob sie dies nur äußert, um ihren Neffen
wollte« (655). Zwischen dem Zählen und dem Er- Hieronymus zu beschwichtigen, lässt sich nicht ein-
Zählen entstehen mehrfache Bezüge: Ab dem Mo- wandfrei klären. Die Tatsache, dass die Menschen
ment, in dem die Gerüchte in Umlauf kommen, setzen aber selbst dann noch eine göttliche Fügung herauf-
die Einkünfte bei der Familie Ohrtmann aus, bevor beschwören, wenn ganz eindeutig die Mitmenschen
Bier und Geld später beim Konkurrenten im Über- das ›Schicksal‹ von Individuen bestimmen, muss als
fluss fließen. Die Metaphorik des Fließens lässt sich eine klare Absage an die Ideale der Aufklärung gedeu-
dabei im ganzen Text nachweisen (vgl. »Am heutigen tet werden.
Abend jedoch wollte das gewohnte Gespräch, worin
man sich sonst über Stadt- und Landesangelegenhei- Literatur
ten mit Behaglichkeit erging, noch immer nicht in Gerrekens, Louis: Heinrich von Kleists literarisches Nach-
rechten Fluß geraten«; 647) und verbindet die zentra- wirken. Storms Novelle »Im Brauer-Hause« als Adaption
des Trauerspiels »Die Familie Schroffenstein«. In: Kleist-
len Elemente Erzählen, Bier und Geld. Vor der Fassa-
Jahrbuch 2002, 165–186.
de einer abergläubischen Gemeinschaft zeigt die No- Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
velle hiermit eine Welt auf, in der Geld und Rede aufs scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
Engste miteinander verflochten sind. Wie sehr das Pe-
Valérie Leyh
kuniäre die Menschen beherrscht, verdeutlicht auch
61 »Eekenhof« (1879) 215

61 »Eekenhof« (1879) nöse Erscheinung – der aus dem Bildnis der verstorbe-
nen Mutter Dethlevs herausgetretene Geist – vereitelt.
Entstehung
Das Ende wirkt nüchtern: Dethlev und Heilwig sind
Die Novelle Eekenhof basiert auf Notiz- und Konzept- verschwunden, Hennicke bleibt allein als gebrochener
blättern mit den Überschriften »Es klingt wie eine Sa- Mann zurück. In den Häusern der Bauern heißt es, »es
ge« und »Die Zwillinge«. Der Erstdruck erschien seien die Schattenhände der toten Frau gewesen, die
1879 in der Deutschen Rundschau, erste Buchaus- Herrn Hennicke’s Kraft gebrochen hätten.« (720)
gaben erfolgten 1880 in den Bänden Drei Novellen
und Zwei Novellen (in letzterem Band zusammen mit
Deutung
Im Brauer-Hause).
Storms Novelle Eekenhof gehört zu den so genannten
Chroniknovellen, ist aber unter diesen als ein Sonder-
Inhalt
fall zu betrachten: Anders als etwa in Aquis submersus
Die Geschichte, die sich in der »zweiten Hälfte des und Zur Chronik von Grieshuus ist hier von einer
siebzehnten Jahrhunderts« (LL 2, 680) abspielt, schil- Chronik oder von anderen schriftlichen Quellen nir-
dert das Geschick des Adligen Hennicke und seiner gends die Rede. Die von der Forschung bislang wenig
Familie. Weil er als der jüngere Sohn einer adligen Fa- berücksichtigte Novelle beginnt indes mit einer Ein-
milie das Majoratsgut nicht erbt, heiratet Hennicke leitung, in der der recht diskrete Ich-Erzähler die
die letzte Erbin des »Eekenhof[s]«, eines alten Herren- mündliche Überlieferungsstruktur der Geschichte
hauses. Diese stirbt im ersten Kindbett; ihr Sohn kurz erläutert: An jener Stelle, die er für den »Schau-
Dethlev überlebt die Geburt jedoch unverhofft – und platz« der Geschichte hält, soll die Geschichte »von
zieht damit den Hass seines Vaters auf sich, der auf Geschlecht zu Geschlecht« weitererzählt worden sein.
den Besitz des Hofes spekuliert hatte. Durch den eige- An ihrem Ursprung steht der »erste Erzähler«, der
nen Sohn um den Nachlass seiner Frau gebracht, hei- sich wiederum auf die Aussagen des zu Hennickes
ratet Hennicke wenig später die kaltherzig erschei- Zeiten lebenden Dorfpastors stützt. Durch diese poe-
nende Benedicte, siedelt auf deren Erbhof über und tologische Einleitung wird sogleich die »Frage nach
zeugt mit ihr zwei weitere Söhne, Henno und Benno. der Rekonstruierbarkeit von Geschichte im Medium
Neben diesen wächst zudem Hennickes Patenkind, der Kunst« (Morrien 2002a, 10) gestellt. Klar wird
die Vollwaise Heilwig auf, die gemeinsam mit ihrer nämlich, dass die »Fragmente einer kollektiven Er-
Großmutter im Unterbau des Eekenhofs verbleibt. innerung« (ebd., 13), die sich in dieser Überliefe-
Nur Heilwig vermag Hennickes finstere und brutale rungsstruktur zu erkennen geben, keineswegs für his-
Art aufzuhellen; Gerüchte, denen zufolge sie seine un- torische Authentizität bürgen können, sondern gera-
eheliche Tochter sei, bestätigt Hennicke indirekt ge- dezu auf die Fiktion hindeuten. Im Gegensatz zu den
genüber Benedicte. sich in jener Zeit verbreitenden Ansichten des His-
Als der Erstgeborene Dethlev, der bei seiner Tante torismus versteht Storm Geschichte demnach nicht
in der Stadt aufgewachsen ist, nach deren Tod in die als eine positivistische Wissenschaft, die auf einem
Familie zurückkehrt, setzt die eigentliche Konflikt- Objektivitätsanspruch gründet und Originalquellen
handlung ein. Dethlev wird zum Zorn Hennickes von Quellen zweiter Hand trennt, sondern in der anti-
nicht nur Heilwigs engster Vertrauter, sondern stellt ken Bedeutung als Erzählung und Erfindung von Ge-
sich auch als künftiger Herr des Eekenhofs einer Straf- schichte(n) (vgl. Leyh 2016).
aktion entgegen, die sein Vater an einer Kätnerfamilie Über diese poetologische Dimension hinaus die-
verübt. Im Anschluss an die darauffolgende Gewalt- nen die zeitliche Verlagerung sowie die zahlreichen
eskalation verschwindet Dethlev spurlos, so dass ihn undeutlichen bzw. doppeldeutigen Formulierungen
Hennicke nach einigen Jahren für tot erklären lassen ganz offensichtlich der Camouflage. Zur Novelle selbst
will. Doch Dethlev kehrt ein zweites Mal wieder, er- hatte Storm sich geäußert, ihre Schwierigkeit bestehe
hebt offenbar Anspruch auf den Eekenhof, zu dem er in der »Oeconomie der Dichtung«, »dem Stoffe ge-
dann auch gemeinsam mit Heilwig aufbricht. Dort mäß« müsse es »im Wesentlichen so aus dem Nebel
überschlagen sich nun die Ereignisse: Zum einen wird hervorgetuscht, und, wenn es in der Schilderung zu
sich Heilwig ihrer Verwandtschaft mit Dethlev be- nahe auf den Leib rückte, wieder zurückgeworfen
wusst, zum anderen wird allem Anschein nach ein werden« (Storm–Schmidt I, 115). Was sich hinter die-
Mordanschlag auf Dethlev verübt, den aber eine omi- ser schleierhaften Erzählstruktur verbirgt, sprich: In-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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216 III Werk – D Novellen

Opfer in des Mannes Armen hing. Wenn er dann wie-


zest, familiäre Gewalt und Mordversuche, konnte kei-
der plötzlich von ihr abließ und schweigend, wie er ge-
neswegs direkt ausgesprochen werden. Der Autor
kommen, zur Kammertür hinausgeschritten war, so
Storm, der in früheren Jahren mit seinem Gedicht Ge-
lag sie auf ihr Kissen hingesunken und wagte sich
schwisterblut (1853) empörte Reaktionen bei der
nicht zu rühren, bis unten auf dem steinernen Haus-
Dichtervereinigung »Tunnel über der Spree« hervor-
gang sein harter Tritt verschollen war. (692)
gerufen hatte (s. Kap. II.8), konnte sich keinen weite-
ren Skandal erlauben.
Gleichwohl wird der Leser das überaus pessimisti- Die ausdrucksstarken Formulierungen (»gewaltsame
sche Bild familiärer Beziehungen in diesem Text un- Zärtlichkeit«, »riß er sie«, »gleich einem Opfer«, »ab-
schwer erkennen können. Ausgerechnet bei dieser so ließ«) alludieren hier ein Vergewaltigungsgeschehen,
kinderreichen Familie sind Hass und Gewalt überall für das es im Text allerdings keine weiteren Anzeichen
und permanent gegenwärtig. Davon betroffen sind gibt. Eine spätere Passage der Novelle, in der Hennicke
vor allem die beiden Kinder Dethlev und Heilwig. Aus Heilwig mitteilt, sie solle »da droben in den großen
psychoanalytischer Perspektive ist die Geschwisterlie- Stuben« (709) mit ihm wohnen, legt hingegen nahe,
be zwischen ihnen daher als ein »Ersatz« gelesen wor- dass Hennicke die »Erfüllung seines Inzestwunsches
den, zu dem das »Elementarerlebnis des Ausfalls der [...] nur auf später [verschiebt], wenn Heilwig volljäh-
Elternbindung« (Fasold 2000, 20) geführt habe. Dabei rig und seine ungeliebte Frau tot sein wird, so dass er in
liest sich die Novelle auch als eine Kontrafaktur der eheähnlicher Gemeinschaft mit seiner Tochter leben
heiligen Familie. Obwohl der Menschensohn Dethlev kann.« (Neumann 2010, 108) Zugleich drängt sich hier
(etym. ›Volks-Sohn‹) mit der jungen Heilwig den Weg auch eine übertragene Bedeutung von Hennickes Han-
zum Heil ebnen könnte, wird dem eine grundsätzliche deln auf: Indem er von Heilwig später regelrecht Besitz
Absage erteilt – am Ende verschwinden diese beiden ergreifen will, versucht er, die Beziehung zu der ehe-
Figuren, ohne ihre Mitmenschen zur Erlösung und zu maligen Geliebten und Mutter Heilwigs, der verstor-
einer positiven Zukunft zu führen. Hennicke, als ein benen Försterstochter, wieder aufzurichten und im Ee-
›kleiner Johannes‹, tauft keineswegs den verkündigten kenhof seinen adligen Wunsch nach materiellem Be-
Herrn, sondern löscht das Feuer seiner Bauern mit sitz zu befriedigen. Mit Heilwig im Eekenhof zu leben,
Wasser aus, schlägt seinen Sohn »in das Angesicht« bedeutet für ihn, sowohl seinen Wunsch nach Liebe als
(LL 2, 703) und vertreibt ihn schließlich aus seiner auch denjenigen nach Eigentum zu erfüllen.
Heimat. Mit seiner Frau Benedicte, die für die Familie Wie zerstörerisch diese Familienbeziehungen sind,
und die Mitmenschen keineswegs ein ›Segen‹ ist, gibt sich ferner an Hennickes Haltung zu seiner ver-
führt er ein feindseliges und aggressives Leben. In die- storbenen ersten Frau zu erkennen. Gegenwärtig ist
ser Novelle, in der – als Anspielung auf die apokalypti- diese nach ihrem frühen Tod nur noch in einem Bild,
schen Reiter – »sechs königliche Trompeter und ein das von ihr angefertigt wurde und im Rittersaal des Ee-
herzoglicher Heerpauker« »durch die Straßen rei- kenhofs hängt. Die im Dorfe kursierenden Gerüchte
ten[]« und das Landgericht »verkündig[en]« (707), führen jedoch zur gespenstischen Wiederkehr der
findet keine Offenbarung statt – ganz im Gegenteil: Mutterfigur, die nach ihrem verstoßenen Sohn Aus-
Die Novelle mündet in eine völlige Leere. schau hält. So wird auch erzählt, Hennicke habe ver-
Besonders hervorzuheben ist bei diesem Text zu- sucht, die spukhafte Gestalt durch ein Jagdmesser zu
nächst Hennickes Haltung zu Heilwig, die aufgrund töten. Diese für Storm durchaus typischen Szenen, die
einer zentralen Passage mehrfach als inzestuös be- mit dem Motiv des lebenden Bildes spielen und eine
zeichnet worden ist: rationale Erklärung nicht zulassen, ermöglichen es
dem Autor, die Familienkonflikte in ihrer ganzen Tiefe
Am meisten vielleicht fürchtete sie [Heilwig, V. L.] die zu artikulieren (vgl. Fasold 2003, 79). Formal erfüllt
ihr unverständliche, gewaltsame Zärtlichkeit des fins- dieser Text ferner die Bedingungen der phantastischen
teren Mannes selber. Nicht selten, wenn Morgens sie Literatur: Die unterschiedlichen Deutungsmuster, die
in ihrem Bett erwachte, sah sie die schwarzen Augen sich einer eindeutigen Erklärung im Sinne des Wun-
ihres Paten über sich; er sagte nichts, er strich ihr derbaren oder des Unheimlichen entziehen, erzeugen
stumm die Löckchen von der Stirn oder drückte ihr ver- jenes von Todorov definierte Moment der »Unschlüs-
schlafenes Köpfchen zwischen seine beiden rauhen sigkeit« (Todorov 1972, 26.) Eekenhof verbleibt somit
Hände; mitunter riß er sie vom Kissen auf an seine wie etwa auch Aquis submersus und Der Schimmelrei-
Brust, daß sie mit ihren nackten Ärmchen gleich einem ter in einer nicht aufzulösenden Zweideutigkeit.
61 »Eekenhof« (1879) 217

Dies bestätigt auch eine bislang kaum beachtete rungstechnik: Die Novelle enthält so viele Leerstellen
Passage des Textes (vgl. Leyh 2016). Gemeint ist jene und Irritationen, dass sich der Text selbst dem Leser
Schlussszene, in der offenbar der Mordversuch an permanent entzieht. Hierin ist wohl auch der Grund
Dethlev verübt wird und in der die väterlichen Macht- zu dafür sehen, dass die Novelle Eekenhof, die doch so
ansprüche auf die mütterlichen Kräfte stoßen. Erzähl- viele zentrale Themen und Tabus behandelt, ins-
technisch ist diese Szene insofern inkohärent, als sie gesamt zu den weniger gelungenen Texten Storms
ausdrücklich im »Rittersaal« stattfindet, obwohl der zählt. Wie mehrere intertextuelle Bezüge zur Novelle
Erzähler zuvor noch behauptet hat, der Rittersaal sei Zur Chronik von Grieshuus zeigen, hat der Autor zahl-
nach Hennickes Mordversuch an dem Mutterbild reiche Aspekte der früheren Novelle in der späteren
»von keinem mehr betreten worden« (LL 2, 706). Die- nochmals aufgenommen und dort anhand einer viel
se Inkongruenz findet auf der inhaltlichen Ebene ihre präsenteren und ausgefeilteren Erzählerfigur weiter-
Entsprechung: Nachdem Hennicke seinen Sohn geführt. Anzuerkennen gilt es gleichwohl, dass Eeken-
Dethlev nämlich beim Landgericht für verschollen er- hof in seinem ›Werkstattcharakter‹ spätere Novellen
klärt hat, kommt dieser plötzlich zurück. Die Szene, wie Hans und Heinz Kirch, Zur Chronik von Grieshuus
die die Familie (Mutter, Vater und die beiden Halb- und Der Schimmelreiter vorbereitet.
geschwister) zusammenführt, scheint hiermit auf ei-
ner realistisch-mimetischen Ebene nicht erklärbar Literatur
und sorgt beim Leser für Überraschung. Allerdings Fasold, Regina: Geschwisterliebe und Heimatsehnsucht in
wird das klassische Happy End hier konterkariert: An- Texten Theodor Storms. In: Storm-Blätter aus Heiligen-
stadt 6 (2000), 12–30.
ders als in der Novelle Im Schloß führt die Zusammen- Fasold, Regina: Romantische Kunstautonomie versus Realis-
kunft der einzelnen Familienmitglieder im Eekenhof muskonzept um 1864. Über die Bedeutung von Storms
nicht zu einer Vereinigung im Zeichen einer Liebes- Märchen für seine realistische Poetik. In: Heinrich Dete-
religion, sondern zu der Erkenntnis, dass Heilwig und ring/Gerd Eversberg (Hg.): Kunstautonomie und literari-
Dethlev Halbgeschwister sind, sowie zu Gewalt und scher Markt. Konstellationen des Poetischen Realismus.
Berlin 2003 (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung,
Flucht. Das Gerücht, »es seien die Schattenhände der
Bd. 3), 65–81.
toten Frau gewesen, die Herrn Hennicke’s Kraft ge- Leyh, Valérie: Geräusch, Gerücht, Gerede. Formen und Funk-
brochen hätten« (720), lässt darauf schließen, dass es tionen der Fama in Erzähltexten Theodor Storms und Ar-
sich bei der »taumelnde[n] Gestalt« (717) um Henni- thur Schnitzlers. Berlin 2016 (Husumer Beiträge zur
cke handelt – der Text selbst aber verweist durch das Storm-Forschung, Bd. 11).
unklare Pronomen »es« (»näherte es sich den Schla- Neumann, Christian: »Meine Augen waren nur auf dich ge-
richtet!« Kindsbräute und missbrauchte Kinder in Theo-
fenden«; ebd.) insgesamt auf einen Kampf zwischen
dor Storms Prosa. In: Malte Stein/Regina Fasold/Heinrich
psychischen Mächten sowie auf die Tierhaftigkeit des Detering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantas-
Menschen. Diese wird im Text durch zahlreiche weite- ma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Berlin
re Beispiele (Henno und Benno werden etwa als 2010 (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 7),
»Füchse« bezeichnet, Heilwig wird mit einem »Ku- 73–111.
ckuck« verglichen; LL 2, 708, 694; Hennicke wiede- Morrien, Rita: Der dunkle »Garten der Vergangenheit« –
historisches Erzählen als Lizenz zur Ausschweifung in den
rum erleidet in Analogie die gleichen Qualen wie der Chroniknovellen Theodor Storms. In: STSG 51 (2002a),
Stier, den er selbst »zum Hungertod verurteilt« hat; 9–25.
vgl. 704) bestätigt. Morrien, Rita: Die schreckliche Schönheit des Vergangenen.
Was genau in dieser letzten Szene geschehen ist, ob Dimensionen historischen Erzählens in Adalbert Stifters
sie wirklich stattgefunden hat oder ob sie nicht eher »Der Hochwald« und Theodor Storms »Eekenhof«. In:
Literatur für Leser 25/2 (2002b), 65–78.
eine Erfindung des Volks bzw. des Erzählers ist, kann
Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur.
nicht endgültig beantwortet werden. In diesem Text München 1972.
gelangt Storm hiermit an die Grenzen seiner Ausspa-
Valérie Leyh
218 III Werk – D Novellen

62 »Zur ›Wald- und Wasserfreude‹« Geborgenheit vor jener doch so nahen Welt ihres Va-
(1879) terhauses, in der sie immer weniger sich zurecht zu
finden wußte« (605). Aus literaturpsychologischer
Perspektive betrachtet stellt Kätti sich hier ihrem Va-
Die 1878 entstandene und 1879 erschienene Erzäh- terhaus vehement entgegen und tritt – symbolisiert im
lung Zur »Wald- und Wasserfreude« hat eine Kindfrau Rudern entgegen der Stromrichtung, in der kanalarti-
zur Protagonistin: Rosalie Zippel, genannt Kätti, ist die gen, engen Wasserstraße und dem Münden in einen
aparte Tochter eines verwitweten Unternehmers, der vollkommen ruhigen und abgeschirmten Binnensee –
im Laufe der Novelle besagte ›Wald- und Wasserfreu- eine Reise zurück in den Mutterleib an. Zeitgleich
de‹ kauft und leitet. Hierbei handelt es sich um eine wird aber auch deutlich, dass Kätti nie vollständig
Kurgaststätte, deren Gäste inmitten der urbar gemach- wird heimkehren können, befindet sich doch unüber-
ten Natur von den Strapazen der Stadt Erholung su- windbar zwischen ihr und der Wasserwelt die Boots-
chen. Auf der Suche ist auch die siebzehnjährige Kätti: wand. Jede Begegnung ist somit rein meditativer Na-
Von Fernweh geplagt, schließt sich das musikliebende tur, und Kätti ist gezwungen, in die ihr fremde bzw.
Mädchen dem fahrenden Volk an, und erst das unver- entfremdete Welt zurückzukehren und ihre ›Mutter‹
hoffte Wiedersehen mit Wulf Fedders, einem jungen jedes Mal aufs Neue in einer weiteren Geburt zu ver-
Mann, für den Kätti bereits als Dreizehnjährige ge- lassen – und sie fühlt sich verlassen: »Mit den Töch-
schwärmt hat, bringt sie zurück in die ›Wald- und tern der Bauern wußte sie nichts zu reden und diese
Wasserfreude‹. Dort möchte Kätti den attraktiven Ju- nichts mit ihr; nur der junge Unterlehrer [...] saß oft
risten für sich gewinnen und zieht hierfür sogar die stundenlang neben ihr am Klavier und blickte [...] in
schwarze Magie der »langen Trina«, einer einsam im stummer Anbetung zu ihr auf. Aber was kümmerten
Wald lebenden Frau, zu Rate; doch trotz einer offen- sie eigentlich diese [...] Menschen!« (604; Hervor-
sichtlichen Schwäche für die »petite princesse dans son hebung M. G.)
genre« (LL 2, 628) entscheidet Wulf sich gegen Kätti Das Motiv der Wasserfrau repräsentiert einen To-
und stattdessen für die blonde Majorstochter Cäcilie. pos überirdischer Liebe jenseits von Zeit und Raum,
Dies veranlasst Kätti dazu, sich ein letztes Mal auf den die die profane Gegenwart kurzzeitig aus den Angeln
Weg zu machen und ihr Glück in der Ferne zu suchen zu heben vermag. Dabei ist jedoch die persönliche
– ob sie es am Ende auch findet, lässt die Novelle offen. Entfaltung via Rückkehr zur Natur innerhalb einer
Die Erzählung ist durchsetzt von intertextuellen solchen Liaison zwischen Menschenmann und Was-
Anspielungen, sei es die Goethe’sche Mignon, Kleists serfrau zumeist eine Einbahnstraße, denn je freier der
Käthchen von Heilbronn (1808) oder aber Fouqués Mann wird, desto strikter werden die Grenzen um das
Undine (1811); besonders das letztgenannte Motiv der weibliche Gegenüber gezogen. So ist es auch Kätti ver-
Wasserfrau nimmt innerhalb der Novelle einen gro- sagt, sich von der »petite princesse« zu einer gestande-
ßen Raum ein, wie bereits die titelgebende Wasser- nen Dame zu entwickeln: »Nicht wahr«, tönt Wulf,
freude verrät. So präsentiert sich Kätti wortwörtlich »du läufst nicht wieder in die Welt hinaus?« (614)
als »Backfischchen« (596), als »grätiges Ding« (588), Nimmt man Kättis Wanderlust beim Wort, dann lässt
dessen »heimatlose Augen« (635) für den Betrachter sich der Terminus des »in-die-Welt-Hinausgehens«
zwar hübsch anzusehen sind, jedoch auf eine diesem als Code für den Beginn einer sexuellen Beziehung
Leben zugrundeliegende Tragik verweisen, die es ihr verstehen. Wulfs Rückkehr in die »Wald- und Wasser-
unmöglich macht, im Hier und Jetzt glücklich zu wer- freude« ist demnach als Initialerlebnis zu betrachten,
den. »Manchmal nahm sie das kleinste der beiden welches in Kätti den Wunsch weckt, endlich erwach-
weiß und grün gestrichenen Böte und ruderte den sen zu werden und eine reife Objektliebe einzugehen.
Fluß hinauf, bis wo am Ufer entlang sich große Bin- Die Welt der Männer möchte sie jedoch mit all ihren
senfelder streckten. Durch einige führte eine Wasser- Reizen auf ewig im künstlichen »Zauberwinkel« (625)
straße wieder auf die Flußbreite hinaus; in anderen ge- der »Wald- und Wasserfreude« gefangen halten,
langte sie nach einer schmalen Öffnung, durch welche schließlich geht es bei der Idee der Kindfrau darum,
das Boot nur mit eingezogenen Rudern hindurchglitt, den Status quo des antizipierten Werdens zu bewah-
auf einen stillen, rings umschlossenen Wasserspiegel. ren, statt das Mädchen real am Ziel seiner Reise, dem
[...] Die Abgeschiedenheit des Ortes, das leise Rau- Frausein, ankommen zu lassen. Als Projektionsobjekt
schen der Binsen, über denen das lautlose Gaukeln ist Kätti für Wulf demnach nicht mehr als eine Ur-
der Libellen spielte, versenkte sie in einen Zustand der laubsbekanntschaft, die ihn, wie auch die anderen

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_62, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
62 »Zur ›Wald- und Wasserfreude‹« (1879) 219

Gäste, sämtliche Querelen der modernen Welt für ein Doch die Zeit lässt sich nicht anhalten, geschweige
paar Tage vergessen machen soll; für das echte Leben denn zurückdrehen, wie Kättis Geschichte belegt: Das
hingegen braucht es echte Frauen – wie die blonde Versteck im idyllischen »Zauberwinkel« wird zuneh-
Majorstochter. mend obsolet, die Gegenwart verlangt ihren Tribut.
Auch das Finale der Dreiecksgeschichte zwischen
Kätti, Wulf und Cäcilie bedient sich des Motivs der Literatur
Wasserfrau, wird hier doch Andersens Die kleine Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
Meerjungfrau erschöpfend zitiert. So verliert Kätti Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009, 180–
214.
nicht nur sinnbildlich ihre Stimme – sie weigert sich, Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959,
in Anwesenheit der Majorstochter auch nur einen Ton 285–288.
zu singen (623) – sondern muss schließlich auch un- Gerrekens, Louis: Erzählte Kindsbräute bei Heinrich von
erlöst vergehen, ohne dass Wulf »irgend eine Schuld Kleist, E. T. A. Hoffmann und Theodor Storm. In: Malte
an sich entdecken« würde (643); hilflos sieht sie mit Stein/Regina Fasold/Heinrich Detering (Hg.): Zwischen
Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Bie-
an, wie ihr Angebeteter sich mit der menschlichen
dermeier und Realismus. Berlin 2010, 185–201.
Konkurrentin verlobt: »[U]ngesehen hinter der dunk- Gerrekens, Louis: Funktionen von Intertextualität in »Zur
len Binsenwand, war in diesem Augenblick ein ver- Chronik von Grieshuus« und »Zur ›Wald- und Wasser-
bleichendes junges Antlitz auf den Rand des Bootes freude‹« In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/Mark G.
hingesunken. – Das Abendrot überglänzte den Him- Ward (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage
mel und verging, der Tau versilberte das schwarze zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 59–78.
Giesen, Mareike: Frühlings Erwachen in »Zur ›Wald- und
Haar des schönen Mädchenkopfes, und fern im lich-
Wasserfreude‹« Eine Kindfrautragödie. In: Stormblätter
ten Blau des Äthers schimmerte der Stern der Liebe.« aus Heiligenstadt 16 (2011), 42–55.
(642) Gleich Andersens Meerjungfrau scheint Kätti Meyer, Hans: Schwabstedter Personen und Örtlichkeiten in
mit der Besiegelung ihres Schicksals zu sterben und Storms Erzählungen »Renate« und »Zur ›Wald- und Was-
sich in Meeresschaum aufzulösen. Scheinbar leblos serfreude‹« In: STSG 10 (1961), 39–53.
dahingesunken und überzogen von ihrer elementaren Schröder, Stefan: Von Feen und Nixen. Theodor Storms
»Zur ›Wald- und Wasserfreude‹« In: Zeitschrift für deut-
Feuchtigkeit, bleibt ihre eigene Liebessehnsucht ein sche Philologie 117/4 (1998), 543–563.
unerreichter Stern am Firmament; doch Kätti gibt Schneider, Jens Ole: Bürgerlichkeit als semantische Kon-
nicht auf. Trotz der zahlreichen Rückschläge weigert struktion. Zur narrativen Inszenierung moderner Iden-
sie sich weiterhin, den ihr zugesprochenen Status der titäten in Thomas Mann Buddenbrooks und Theodor
passiven Verfügbarkeit anzuerkennen, und nimmt Storms Die Söhne des Senators. In: Heinrich Detering/Ma-
ren Ermisch/Hans Wißkirchen (Hrsg.): Verirrte Bürger.
stattdessen im Anschluss an die zitierte Szene wort-
Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum
wörtlich das Ruder selbst in die Hand: Undine geht. und Lübeck 2015. Frankfurt a. M. 2016, 29–50.
Und dieses Mal für immer. Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
Das Drama der Pubertät eines jungen Mädchens, seiner Novellen. Bonn 1971, 48–51.
das Storm in seiner Novelle Zur ›Wald- und Wasser- Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
freude‹ skizziert, entpuppt sich als Drama einer Ge- Bremen 1955, 348–351.
Tschorn, Wolfgang: Idylle und Verfall. Die Realität der Fami-
sellschaft, die nicht erwachsen werden will, die sich lie im Werk Theodor Storms. Bonn 1978, 144–152.
zwar der Chancen des Fortschritts, des Übergangs in Yi, Mi-Seon: Männlicher Wunsch und weibliche Wirklichkeit.
eine technisierte Moderne bewusst ist, sich aber vor- Die Frauendarstellungen bei Annette von Droste-Hülshoff
erst nicht traut, diesen letzten Schritt auch zu gehen; und Theodor Storm. Düsseldorf 2000, 195–201.
stattdessen werden längst vergangene romantische
Mareike Giesen
Bilder und Ideale wie das der Wasserfrau bemüht.
220 III Werk – D Novellen

63 »Die Söhne des Senators (1880)« mentar (vgl. LL 2, 1046 f.). Am 14. Juni 1880 schreibt
Storm schließlich an Erich Schmidt: »Vorgestern setz-
Entstehung und Kontext
te ich das ›Finis‹ unter ›die Söhne des Senators‹ und
Mit der Arbeit an der Novelle Die Söhne des Senators sandte sie an die Rundschau« (an Schmidt, 16.6.1880,
begann Storm vermutlich erst nach der Fertigstellung Storm–Schmidt II, 13). Tatsächlich wurde die Novelle
von Eekenhof, also im Herbst 1879. Erstmals erwähnt im Oktober 1880 in der ›Deutschen Rundschau‹ pu-
wird der Text in einem Brief vom 16.1.1880 an Wil- bliziert.
helm Petersen. Dort bezeichnet Storm die Novelle als
»kleine[] freundliche[] Geschichte«, mit der er erst
Handlung und Erzählstruktur
dann werde »fortfahren können«, wenn für seine be-
vorstehende Pension wichtige Amtsangelegenheiten Storms Novelle erzählt die Geschichte zweier Kauf-
erledigt seien (an Petersen, 16.1.1880, Storm–Peter- manns- und Senatorensöhne, die bei der Aufteilung
sen, 64). Die frühe Erwähnung der Novelle gegenüber des elterlichen Erbes in einen heftigen Streit um einen
Petersen und ihre Charakterisierung als »freund- Familiengarten geraten. Während Christian Albrecht,
lich[]« dürfte wohl kein Zufall sein. Dieser hatte nach der ältere Sohn und Erbe der väterlichen Firma, vor-
der Lektüre von Eekenhof, wie Storm an Heyse schlägt, den Garten aufzuteilen bzw. dessen Erbe aus-
schreibt, »ein großes Klagelied [darüber] gesungen«, zulosen, verlangt der jüngere Sohn Friedrich Jovers
dass Autoren wie Storm und Heyse »stets so Düsteres mit Verweis auf ein verschollenes Testament den Be-
zu Markte bringen«. »Er [Petersen] will alte freundli- sitz des gesamten Gartens. Der Streit um den Garten
che Rococcogeschichten von mir«, so Storm, »wo er verhärtet sich und findet seinen manifesten Ausdruck
den Toback unserer Altvorderen riecht« (Storm–Hey- schließlich in einer hohen Mauer, die der jüngere Bru-
se II, 53). Eine solche Geschichte sollen die Söhne des der Friedrich durch den gemeinsamen Innenhof der
Senators offenbar sein. Gegenüber den Verlegern Her- brüderlichen Wohnhäuser bauen lässt. Der versöhnli-
mann und Elwin Paetel formuliert Storm dann auch che Schluss der Novelle weicht von der familien-
explizit, dass er den Text Petersen und seinem Ruf geschichtlichen Vorlage ab: Friedrich Jovers gibt nach
nach »heitere[n] Töne[n]« »zu Liebe geschrieben« ha- längerem Schweigen und einem verlorenen Prozess
be (Storm–Paetel, 128). gegen den Bruder nach und lässt die Mauer wieder ab-
Stofflich ist die Novelle von einem brüderlichen bauen (bzw. umsetzen, s. u.). Auf Christan Albrechts
Erbkonflikt inspiriert, der sich in der »mütterlichen Vorschlag hin wird der Garten schließlich als gemein-
Familiengeschichte« (Storm–Mörike, 95 f.) Storms samer Familienbesitz behandelt und auch räumlich
abspielte und tatsächlich – wie in dem Text selbst – zu von beiden Brüdern als Ganzes genutzt.
der Errichtung einer Mauer zwischen den beiden Zumindest dem ersten Eindruck nach wirkt der
Wohnhäusern der Familie führte. Wie Storm an Mar- Text tatsächlich wie eine »kleine[] freundliche[] Ge-
garethe Mörike schreibt, »vertrugen sich die Brüder« schichte« (Storm–Petersen, 64). Erzählt das Spätwerk
zeitlebens nicht mehr, weswegen »die Mauer zwischen Storm sonst von der allmählichen Auflösung der im
den beiden Höfen« stehenblieb (ebd., 96). 19. Jahrhundert etablierten Deutungsmuster, wie etwa
Lebensgeschichtlich fällt die Entstehung der Novel- denen der ›Realität‹, der ›Bürgerlichkeit‹, der ›Ver-
le nicht nur in Storms beginnende Pensionszeit, son- nunft‹ oder des ›Fortschritts‹, so scheinen v. a. durch
dern auch in die Phase seines Umzugs: Fängt Storm das idyllische Ende der Novelle diese Semantiken re-
mit der Arbeit an der Novelle noch in Husum an, so habilitiert und als konfliktlösende Sinninstanzen in-
schließt er sie erst an seinem neuen Wohnort Hade- szeniert zu werden. Besonders durch seine narrativen
marschen ab. Die darauffolgende Überarbeitung und raumästhetischen Verfahren lässt der Text aber
brachte kleinere Stilkorrekturen und lediglich eine ein durchaus stärkeres Problembewusstsein erken-
größere Änderung: Ursprünglich hatte Storm die sich nen, als dies zunächst zu vermuten wäre. Signifikant
in der geschilderten Familie ereignende Geburt eines ist allein der auf den Vater der beiden Brüder ein-
Sohnes in Form eines Gesprächs einfacher Stadtfrau- gehende Erzähleinstieg, der im grammatischen Mo-
en präsentieren und kommentieren lassen. Auf die dus einer Vorvergangenheit eine abhanden gekom-
Anmerkung Petersens hin, dass dem »Geklatsch der mene ökonomisch-repräsentative Größe beschwört.
Weiber« »etwas widerwärtiges« und »Vulgäres« an- Der »alte Senator [...] war«, so heißt es, »einer der letz-
hafte (Storm–Petersen, 77), strich Storm die Passage ten größeren Kaufherren unserer Küstenstadt gewe-
und ersetzte sie durch einen kurzen Erzählerkom- sen«. Zu Beginn des erzählten Geschehens »ver-

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63 »Die Söhne des Senators (1880)« 221

mehrt« er bereits »die stille Gesellschaft der Familien- menkommen der beiden Brüder und das abschlie-
gruft« und zum Zeitpunkt des Erzählens – markiert ßend beschriebene Fest im gemeinsamen Familien-
durch die Zeitangabe »nun« – ist er nicht nur gestor- garten erfolgt also um den Preis einer räumlichen Ab-
ben, sondern auch »vergessen« (LL 2, 721). Produziert schirmung des Gartens vom anliegenden Friedhof
wird hier eine Semantik des Niedergangs, des Todes und einer dementsprechenden Verdrängung des To-
und des Vergessens, die die Einzelheiten der in der des, der verlorenen familiären Größe und der Ver-
Folge berichteten Geschichte von vornherein über- gänglichkeit der eigenen Existenz. Der konstruiert-il-
schattet. Auffällig ist zudem die widersprüchliche Po- lusorische Charakter der familiären Versöhnung wird
sitionierung des Erzählers, der einerseits durch über- im Text denn auch angedeutet, wenn die Senatorin
blickshafte Auktorialität gekennzeichnet ist, anderer- den Abbau der Hofmauer als »Wunder« (757) be-
seits aber den Ort des Geschehens als »unsere Küsten- zeichnet und den Versöhnungsvorgang mit einem
stadt« bezeichnet und damit durchaus eine eigene »Döntje« – einem Märchen – vergleicht (ebd.). Storms
Involviertheit in die erzählte Welt und eine perspekti- Novelle erzählt zwar von einer letztlich noch gelingen-
vische Bindung andeutet. den Integration widersprüchlicher Interessen, ver-
Auch in raumsemantischer Hinsicht zeigen sich sieht diese Integration aber mit narrativen und raum-
immer wieder auffällige Brüche und Widersprüche. ästhetischen Vorbehalten. In diesem Sinne lässt sich
Repräsentiert der gemeinsame große Garten der Se- sagen, dass der Text in seiner narrativ-ästhetischen
natorenfamilie etwa auf den ersten Blick eine zentrale Gesamtheit eine bedrohte Bürgerlichkeits-Semantik
und ganzheitlich strukturierte bürgerliche Öffentlich- modelliert und sich dazu eines Erzählers bedient, der
keit, so überrascht es doch sehr, dass dieser Garten gerade mittels seiner räumlich-perspektivischen Bin-
»einige Straßen weit vom Hause« (722) liegt. Der im dung die wachsende Präsenz einer unkontrollierbaren
19. Jahrhundert virulent werdende Konflikt zwischen und unerzählbaren Welt hinter den Grenzen der Bür-
häuslicher Intimität und öffentlicher ›Rolle‹ bzw. gerlichkeit andeutet.
›Funktion‹ wird hier als eine Entkoppelung der jewei-
ligen räumlichen Kontexte modelliert. Auch der Bau
Rezeption und Forschung
der Hofmauer lässt sich als eine raumästhetische Ver-
bildlichung der abnehmenden familiären Inklusion Von den Zeitgenossen wurden Die Söhne des Senators
und der entstehenden Konkurrenz unterschiedlicher überwiegend positiv aufgenommen. Wolfgang Peter-
juristischer Interessen und Gebietsansprüche verste- sen – der implizite Auftraggeber der Novelle – bezeich-
hen. Ein Textelement, das wiederum für die Rehabili- nete sie als »[e]infach, wahr, voll interessanter Einzel-
tation eines ganzheitlich-gemeinsamen Raumes steht, heiten« (Storm–Petersen, 68) und als »Stück aus der al-
ist ausgerechnet ein »grüner Papagei aus Cuba« (723), ten Zeit, wie ich es im Sinne habe« (Storm–Petersen,
der mit seinem im Text immer wieder erwähnten Aus- 77). Paul Heyse nannte den Text ein »Dinglein [...] von
ruf »komm ’röwer!« (724, 753, 762) die Überwindung hübschen zarten und doch kräftigen Details« (Storm–
partikularer Einzelinteressen und Grenzen zu fordern Heyse, 67) und Gottfried Keller lobte die »Straffheit
scheint. Dieser kubanische Papagei ist allerdings selbst und Kraft der Composition u. Darstellung« (Storm–
ein Fremdkörper innerhalb der bürgerlichen Welt Keller, 61). Storm selbst zeigte sich hingegen nicht be-
und die tatsächliche Intention seines Ausrufes kann sonders zufrieden mit der Novelle. Als »schwächere
selbst von dem Erzähler nicht letztgültig entschlüsselt Schwester meines ›Vetter ChristianĦ‹«(Storm–Möri-
werden: »Der Himmel mochte wissen«, so merkt die- ke, 95) bezeichnet er sie gegenüber Margarethe Mörike
ser bloß an, »was der Vogel mit seinem plattdeutschen und an Paul Heyse schreibt er: »Der Stoff leidet am
Zuruf sagen wollte« (724). Anekdotischen und hat überdieß bei den wenig güns-
Auch das idyllische Ende der Novelle steht unter tigen Verhältnissen, unter denen er bearbeitet wurde,
den Vorzeichen einer vor allem perspektivisch-raum- wohl kaum die Tiefe erhalten, deren er dennoch fähig
ästhetischen Einschränkung. Die symbolträchtige war« (Storm–Heyse, 64). Die literaturwissenschaftli-
Mauer zwischen den Wohnhäusern der Brüder ver- che Forschung hat sich diesem negativen Urteil Storms
schwindet nämlich nicht ganz, sondern wird lediglich weitgehend angeschlossen. Storm habe, wie David A.
an die Grenze zwischen dem Garten und dem anlie- Jackson schreibt, die Novelle unter der besonders von
genden Friedhof versetzt (Vgl. 759). Dort befindet Petersen ausgehenden »pressure« geschrieben, »to
sich die eingangs vom Erzähler erwähnte – stetig treat idyllic, anodyne subjects« (Jackson 1992, 231).
wachsende – Familiengruft. Das harmonische Zusam- Die Novelle sei daher eher im Sinne von Storms frühen
222 III Werk – D Novellen

»Poetic-Realist norms« (ebd.) geschrieben und ent- Literatur


spräche nicht dem skeptisch-spätrealistischen Weg, Bollenbeck, Georg: Theodor Storm. Eine Biographie. Frank-
den Storm zuvor bereits eingeschlagen hatte (vgl. ebd.). furt a. M. 1988.
Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1954.
Auch Georg Bollenbeck formuliert, dass Storms Novel- Jackson, David A.: Theodor Storm. The Life and Works of a
le zu den Texten des Spätwerkes zähle, die nach wie vor Democratic Humanitarian. New York/Oxford 1992.
einer frührealistischen Verklärungsästhetik verhaftet Schneider, Jens Ole: Bürgerlichkeit als semantische Kon-
sind. Der »Versuch, vorgegebener Wirklichkeit eine struktion. Zur narrativen Inszenierung moderner Iden-
›poetische Seite‹ abzugewinnen« wirke hier »als be- titäten in Thomas Manns Buddenbrooks und Theodor
Storms Die Söhne des Senators. In: Heinrich Detering/Ma-
schönigender Mattfilter« (Bollenbeck 1988, 200).
ren Ermisch/Hans Wißkirchen (Hg.): Verirrte Bürger.
Positiv bewertet wurde die Novelle in der neueren Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum
Forschung lediglich von Michael White. Die Söhne des und Lübeck 2015. Frankfurt a. M. 2016, 29–50.
Senators seien, wie er scheibt, »undervalued« (White Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
2013, 109). Gerade durch seine bisher kaum beachte- seiner Novellen. Bonn 1971.
ten »spatial structures« entfalte der Text einen »subtle Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
Bremen 1955, 357–360.
and nuanced discourse on morally appropriate beha-
White, Michael: Space and ambiguous sentimentality. Theo-
viour, communication and the law« (ebd., 110). dor Storm’s »Die Söhne des Senators«. In: Timothy J. Me-
higan (Hg.): Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Lite-
ratur der Moderne. Bielefeld 2013, 107–121.

Jens Ole Schneider


64 »Der Herr Etatsrat« (1881) 223

64 »Der Herr Etatsrat« (1881) ins Auge, dass der Autor sein Werk gegen den Vorwurf
zu verteidigen hatte, die Grenzen des Anstandes ver-
Die düstere Novelle Der Herr Etatsrat verfasste Storm letzt zu haben – er musste sogar manches umformulie-
zwischen November 1880 und Februar 1881; sie er- ren, damit der Text überhaupt veröffentlicht werden
schien erstmals in Westermann’s Illustrirten Deutschen konnte, verstieß die Ursprungfassung mit der Darstel-
Monatsheften (50, 1881). Noch im selben Jahr wurde lung von Alkoholexzessen, Nacktszenen oder außer-
sie auch in überarbeiteter Buchfassung zusammen mit ehelichem Geschlechtsverkehr doch massiv gegen die
der humorvoll-heiteren Novelle Die Söhne des Sena- zeitgenössischen Sittlichkeitsvorstellungen.
tors veröffentlicht. Verletzt Der Herr Etatsrat somit bereits auf Inhalts-
Ein älterer Herr und ein junger Mann unterhalten ebene in mancher Hinsicht die Grenzen des verklä-
sich über einen längst verstorbenen, bereits zu Lebzei- renden Poetischen Realismus, so lässt sich sagen, dass
ten übel beleumundeten Mann, den Etatsrat, der im er auf Erzählerebene wohl noch deutlichere Züge ei-
kollektiven Gedächtnis als »Bestie« (LL 3, 9) fortlebt. nes schonungslosen Naturalismus trägt. Beide Ebenen
Daraus entspinnt sich die Binnenerzählung aus der divergieren nämlich deutlich, insofern der in seiner
Perspektive des ersteren, der rückblickend über den Jugend an den Ereignissen beteiligte anonym bleiben-
Etatsrat berichtet, den er in seiner Jugend persönlich de Ich-Erzähler sich bei genauem Hinsehen als wenig
gekannt hat. vertrauenswürdig erweist. In auffälliger Ähnlichkeit
Der an Alkoholismus leidende Etatsrat verweigert zu der Erzählsituation in Auf dem Staatshof (vgl. Ger-
seinen Kindern rücksichtslos all das, was sie zur rekens 2012, 8) wird nur wider Willen berichtet, die
Selbstverwirklichung brauchen. Archimedes, der vermeintlich souveräne Erzählung entpuppt sich
Sohn, wird viele Jahre lang durch den geizigen Vater letztlich als Akt der Verdrängung eines Menschen, der
vom Universitätsstudium abgehalten. Als er schließ- seine Verstrickung in das Geschehen und seine eigene
lich doch studieren darf, verfällt auch er endgültig Mitverantwortung bis zuletzt nicht wahrhaben kann
dem Alkohol und stirbt bald an den Folgen seines sich oder will – eine Unfähigkeit, sich den Pflichten den
zwischen Trinken und fleißigem Studieren aufreiben- Mitmenschen gegenüber zu stellen, die in der Novelle
den Lebens. Währenddessen verschlimmert sich die dadurch versinnbildlicht wird, dass er sich als Student
Lage der einsamen Tochter Phia, die ihrem Vater als vergebens »mit dem rätselhaften Kapitel der Korreal-
Magd zu dienen und sich darüber hinaus vor dem auf- obligationen« (14) plagt (vgl. Pastor 1988, 128).
strebenden Sekretär des Etatsrats, dem »Faktotum Kä- Hat der Leser diese Grundhaltung des Erzählers
fer« (29) zu hüten hat, dessen Intrigen sie nicht zu durchschaut und wird er auf dessen Widersprüche,
durchschauen scheint. Inkonsequenzen und Parteilichkeit aufmerksam, so
Phia wird schwanger und stirbt mit ihrem Neu- geht ihm allmählich auf, dass sich die bürgerliche Welt
geborenen. Käfer, dem die Schuld dafür gegeben wird, mitnichten besser verhalten hat als der Etatsrat. Bei
verlässt die Stadt, und der Etatsrat ist am Tag der Bei- der Lektüre mit Blick auf die Tiefenstruktur des Textes
setzung seiner Tochter sturzbetrunken und benimmt entsteht ein Bild der Welt, das auf allen Ebenen äu-
sich auf empörende Art und Weise. Einige Jahre später ßerst pessimistisch wirkt.
ist auch er »nicht mehr vorhanden« (57), und der ano- Weder die Stadtbewohner noch die Familie des Er-
nyme Ich-Erzähler schließt seinen Bericht über den zählers unternehmen Konkretes, um den Kindern des
Herrn Etatsrat mit einer letzten von Abscheu erfüllten Etatsrats, und insbesondere Phia, zu helfen, obwohl
Bemerkung über den weiteren Werdegang Käfers. ihre Not allen bekannt ist. Der Erzähler seinerseits
Wie so oft seit der Novelle Auf dem Staatshof (1859) weigert sich förmlich, den Alkoholismus seines
greift Storm auch im Herrn Etatsrat auf einen ehemals Freundes Archimedes zu erkennen, womöglich auch
am Geschehen beteiligten bürgerlichen Erzähler zu- weil er selber ein erst viel später eingestandenes Alko-
rück, der seiner Version des Vorgefallenen von vorn- holproblem hat. Stattdessen leugnet er bis zuletzt, dass
herein einen distanzierten und wertenden Ton ver- in dem jungen Mann, der bei jeder Gelegenheit und
leiht. Die dramatischen Geschehnisse betreffen die zu jeder Tageszeit trinkt, »eine eigentliche Neigung
Welt des machthabenden Etatsrats, die Welt des städti- zum Trinken« (43) vorhanden sei. Dass dieses hartnä-
schen Bürgertums wird davon nur am Rande berührt. ckige Verkennen der wahren Situation ihn auch der
Anders aber als in Texten wie Im Brauer-Hause (1879) Pflicht enthoben hat, dem Kommilitonen zu helfen
oder John Riew’ (1885) springt das Hässliche und die statt mit ihm zu trinken, scheint er auch in der Erzähl-
»Tragik« (Storm–Schleiden, 25) hier dennoch derart zeit nicht wirklich zu verstehen.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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224 III Werk – D Novellen

Genauso uneinsichtig berichtet er über das traurige gerügt wird. So bietet Käfer sich der bürgerlichen Welt
Los Phias. Die Tochter des Etatsrats geht ihn ein- als idealer Sündenbock für die eigenen Verfehlungen
gestandenermaßen sehr wohl etwas an, aber nicht so an. Folglich wird die Erzählung auch als ein schlei-
sehr als reale Person denn als eine »Willi«, ein phan- chender Diffamierungsprozess lesbar, an dessen Ende
tastisches, todgeweihtes Wesen aus »einem englischen »Musche Käfer« (54) selbstverständlich für Phias
Buche« (43). Zwar ist er also von Phia fasziniert, aber Schwangerschaft verantwortlich gemacht wird.
er kommt ihr nie wirklich zu Hilfe und protestiert nur Allerdings widerlegt der Text selbst diese scheinbar
sehr schwach dagegen, dass sie als Tochter des anrü- plausible Schuldzuweisung zugleich in mehrfacher
chigen Etatsrats von den anständigen Bürgern strikt Hinsicht (Gerrekens 2012, 17) und fügt der schreck-
gemieden wird. Dabei wird seine Unfähigkeit zur Er- lichen Geschichte eine zusätzliche tragische Dimensi-
kenntnis besonders sinnfällig, als er sie bei seinem on hinzu. In der Tiefenstruktur der Novelle stellt sich
letzten Besuch im etatsrätlichen Haus lange nicht er- nämlich heraus, dass die eigentliche Schuld wohl beim
kennt, obwohl sie als einziges weibliches Wesen dort Vater zu suchen ist, mithin dass Phia über alles andere
wohnt. Statt sich dann um die verzweifelt weinende Leid hinaus Opfer eines Inzests geworden ist. Erst auf
junge Frau zu kümmern, macht er ihr noch Vorwürfe dieser Lektüreebene wird verständlich, wie ernst es
in Bezug auf ihren Bruder und, als er, wieder zuhause, Storm meinte, wenn er als Inhalt der Novelle »die Zer-
von ihrer Schwangerschaft erfährt, lässt auch er sie störung der Familie oder vielmehr ›Die Familie in der
endgültig allein. Zerstörung‹ [...] durch den Vater« (Storm–Schleiden,
Wirft man nun einen genaueren Blick auf die Dar- 25) veranschlagte.
stellung des Sekretärs Käfer, so wird die auf Erzähler- Bei genauem Hinsehen erweist sich die Novelle
ebene entstandene Version einer Opposition zwi- auch als eine bewusst von Storm intendierte Aus-
schen heiler bürgerlicher Welt und kranker Welt des einandersetzung mit einem Text von E. T. A. Hoff-
etatsrätlichen Hauses schließlich vollends aufgeho- mann, der sozusagen als Palimpsest fungiert (Gerre-
ben. Der Erzähler stellt diesen jungen Mann in ein kens 2012, 17–20): In Rat Krespel (1818) beschreibt
derart negatives Licht, dass es ihm durchaus gelingt, Hoffmann, wie ein merkwürdiger Rat seine Macht-
ihn zum »offensichtlichen Schurken dieser Geschich- position tyrannisch missbraucht, um in scheinbar
te« (Dimitropoulou 2010, 162) zu machen. Nimmt skurriler Form sich als herrischer Vater seiner Tochter
man aber zur Kenntnis, dass der Hass des Erzählers zu bemächtigen und diese letztlich ebenfalls in den
auf den Bediensteten Käfer von Anfang an dermaßen Tod zu führen. Werden diese Vorgänge sowie inzes-
übersteigert ist, dass allein das Gesicht des jungen tuöse Neigungen bei Hoffmann noch externalisiert
Mannes schon »[s]eine flache Hand ins Zucken« (10) und durch Bilder und Gegenstände angedeutet, so
bringt, kann man auf den Gedanken kommen, dass schafft Storm eine sehr präzise ausgeführte Psycho-
die abschätzige Darstellung Käfers ihre Gründe auch logisierung sowohl des verdrängenden Erzählers als
in der Disposition des Erzählers besitzt. auch des Rabenvaters, wobei er die Arbeiten der be-
Zuallererst fällt auf, dass der Erzähler, ein Juristen- vorstehenden Moderne antizipiert.
sohn, der sich über die Herablassungen des höher ge-
stellten Etatsrats beklagt, den sozial niedriger gestell- Literatur
ten Sekretär genauso verachtungsvoll behandelt und Anderson, Lisa Marie: Der Herr Etatsrat: Theodor Storm’s
sich freut, dass dieser es nicht schafft, in der Gesell- Critical Reflection on Ersatzreligion. In: Seminar 45
(2009), 18 –30.
schaft aufzusteigen. Das Bürgertum redupliziert die
Bland, Caroline: »Das sind keine Dinge für die Ohren einer
Ausgrenzungsmechanismen des ständischen Be- jungen Dame«- vom Mythos des familiären Schutzes in
wusstseins, gegen die es eigentlich angetreten war. Da- Storms Der Herr Etatsrat. In: David A. Jackson/Mark G.
rüber hinaus gibt es entgegen allen anderslautenden Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative Strategies and Pa-
Urteilen durch den Erzähler und den seinen Hass auf triarchy. Lewiston et al. 1999, 177–197.
Käfer teilenden Freund Archimedes in der gesamten Detering, Heinrich: Entomologische Verwandlungen – Kaf-
ka als Leser von Storms Der Herr Etatsrat. In: Gerd Evers-
Novelle keinen einzigen Hinweis darauf, dass Käfer berg/David Jackson/Eckart Pastor (Hg.): Stormlektüren.
seine Arbeit nicht korrekt verrichtet. Im Gegenteil: Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würz-
Käfer ist immer zur Stelle, wenn er gebraucht wird, burg 2000, 349–362.
und tut, wie ihm befohlen wird. Darüber hinaus Dimitropoulou, Dimitra: Das Motiv der Kindsbraut in Der
scheint er die einzige Person zu sein, der Phia vertraut Herr Etatsrat. In: Malte Stein/Regina Fasold/Heinrich De-
tering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma
– was sowohl von dem Bruder als auch vom Erzähler
64 »Der Herr Etatsrat« (1881) 225

der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Berlin 2010. Jackson, David: Getarnt aber deutlich. Kritik am preußi-
(Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 7), 151– schen Adel in Theodor Storms Novelle Der Herr Etatsrat.
162. In: STSG 47 (1998), 25–39.
Eversberg, Gerd: Die Schuld des Erzählers in Theodor Pastor, Eckart: Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen
Storms Novelle Der Herr Etatsrat. In: David A. Jackson/ von Theodor Storm. Frankfurt a. M. 1988, 117–140.
Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative Strategies Schuster, Ingrid: Theodor Storm und E. T. A. Hoffmann. In:
and Patriarchy. Lewiston et al. 1999, 161–176. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 11 (1970), 209–224.
Gerrekens, Louis: Der Herr Etatsrat, eine Monsternovelle.
In: STSG 61 (2012), 5–23. Louis Gerrekens
226 III Werk – D Novellen

65 »Hans und Heinz Kirch« (1882) chend frankierter Brief, dessen Annahme der Vater
wie eine ›zu teure‹ Ware verweigert, da er seine in den
Die nach Aquis submersus (1876) in Storms Novellis- Sohn gesetzten Hoffnungen enttäuscht meint. Erst
tik bis dahin umfangreichste, 1882 in Westermann’s Il- fünfzehn Jahre später, nach dem Tod der stets auf sei-
lustrirten Deutschen Monatsheften erschienene Novel- ne Rückkunft hoffenden Mutter, erreicht das Gerücht
le um einen Vater-Sohn-Konflikt verarbeitet einen von der Wiederkehr Heinz Kirchs in einer Matrosen-
vom Schwiegersohn des Autors, dem Heiligenstädter unterkunft in Hamburg die Stadt. Der Vater holt den
Pastor Gustav Haase, mitgeteilten Stoff, dessen we- Rückkehrer nach Hause, zweifelt jedoch an der Iden-
sentliche Handlungselemente sie übernimmt. Auch tität des Fremden, zumal ein anderes Gerücht den
wenn Storm die »psychologisch realistisch[e]« Proble- Rückkehrer mit dem gleichfalls lange abwesenden
matik und Darstellungsweise betonte (Storm–Heyse Hasselfritz, einen Jungen aus dem Armenhaus, iden-
II, 95), ist sie als Hinwendung zur »Gesellschafts- tifiziert. Heinz’ Desinteresse am väterlichen Ver-
novelle« im Sinne der Kritik an »kleinbürgerlicher mögen macht ihn dem Vater indes ebenso verdächtig
Aufstiegsideologie« interpretiert worden (Vinçon wie es andernfalls sein Interesse getan hätte. Im Ver-
1973, 64). Tatsächlich führt der Erzähler zunächst in hältnis zwischen dem Vater und dem Sohn, der »mehr
die sozialen Verhältnisse einer norddeutschen Klein- als ein halbes Menschenleben kein ehrlich Hausdach
stadt ein, deren »kleines Patriziat« (LL 3, 58) auch die überm Kopf; nur wilde See oder wildes Volk oder bei-
bürgerlich-ökonomischen Aufstiegshoffnungen des des mit einander« um sich hatte (98), stoßen öko-
ehrgeizigen Titelhelden Hans Adam Kirch normiert. nomische, repressive Ordnung und ›unordentliche‹,
Dieser hat sich durch Fleiß und Sparsamkeit »vom leidenschaftliche Vitalität denkbar heftig aufeinander.
Setzschiffer zum Schiffseigentümer hinaufgearbeitet« Auch ohne Steuermannspatent hat Heinz bereits
(60) und erwartet die Vollendung seiner Ambitionen »manche alte Bark« gesteuert (freilich nicht mit Kurs
von seinem Sohn Heinz. Da der autoritäre, sein emo- auf bürgerlicheAnerkennung, wie seine Schwester Li-
tionales Kapital sparsam verwaltende Vater dessen na kommentiert: »Du bist nicht weit gekommen«; 98).
Laufbahn vom Schiffsjungen über den Steuermann Während der Verdacht gegen den ›Fremden‹ im Va-
bis zum Kapitän, Reeder und Magistratsmitglied im terhause unausgeräumt bleibt, werden bei der Wie-
Voraus fixiert hat, gerät seine bürgerlich-rechenhafte derbegegnung der einst Liebenden Heinz und Wieb in
Rationalität im Verlauf der Handlung zunehmend in ihrer schlechten Hafenschenke alle Zweifel an der
Konflikt mit dem Sohn, der auf die Strenge seines Va- Identität des Heimkehrers durch den (von Heinz fort-
ters mit Furchtsamkeit und Trotz reagiert: Nachdem geworfenen) ›wertlosen‹ Ring beseitigt. Dessen un-
er seine erste Reise auf dem väterlichen Schiff noch als geachtet entschließt sich Hans Kirch dazu, den un-
»Spielvogel« (61) antreten durfte, muss er bei der heimlichen Sohn loszuwerden, indem er die öko-
zweiten schon mit Gewalt an Bord gebracht werden. nomischen Bande zu ihm durchtrennt und ihm vor-
Bei einem Jahrmarktsbesuch auf dem Warder, einer zeitig sein Erbteil auszahlt, »damit er nicht noch
raumsemantisch dem kleinstädtischen Festland ent- einmal wiederkomme« (116). Dieser steckt jedoch
gegengesetzten Insel, ›verschwendet‹ Heinz seinen ge- nur einen kleinen Teil des Geldes ein und verlässt das
samten Besitz, um seiner aus schlecht beleumundeter Haus. Auch der Appell der Tochter Lina an seine
Familie stammenden Freundin Wieb einen silbernen Barmherzigkeit – »O Vater, [...]! Er ist es doch gewe-
Ring zu kaufen, und kehrt erst nach Ertönen der Bür- sen!« (120) – stimmen den Vater nicht um. – Als der
gerglocke nach Hause zurück. Die Zurechtweisung alternde Hans Kirch eines Nachts seinen Sohn Heinz
durch den Vater weist auf die Verstoßung des Sohnes durchnässt im Zimmer stehen sieht, deutet er diese
voraus: »Klopf nicht noch einmal so an deines Vaters traumhafte Erscheinung als Zeichen seines sicheren
Tür! Sie könnte dir verschlossen bleiben.« (72) Todes. Die versöhnliche Schlussszene zeigt ihn als
Nachdem Heinz einige Seefahrten absolviert hat, reuigen Vater, der »seinen Sohn verstoßen hat, zwei-
kehrt er von einer einjährigen Fahrt nicht zurück, mal!« (128), in den Armen der fürsorglichen Wieb.
sondern heuert auf einem weiteren Schiff an. Einen Das letzte Wort des Erzählers gleicht jedoch einem ab-
ersten Brief des vermissten Sohnes beantwortet der schließenden Geschäftsbericht, dem zufolge der
Vater im Zorn, nachdem er von dessen Beziehung zu Schwiegersohn Christian Martens die ›reiche‹ Erb-
der »Matrosendirne« (75) Wieb durch seine Schwes- schaft angetreten hat und sogar den begehrten Magis-
ter Jule erfährt. Nach vielen Monaten vergeblichen tratssitz erhalten wird, während die Frage nach Heinz
Wartens erreicht die Eltern ein zweiter, nicht ausrei- Kirchs Verbleib offen bleibt.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_65, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
65 »Hans und Heinz Kirch« (1882) 227

Storms Novelle erzählte eine Geschichte vom ver- Freund, Winfried: Theodor Storm. »Hans und Heinz Kirch«.
lorenen Sohn – indem sie freilich das biblische Gleich- Eine bürgerliche Tragödie. In: Erzählungen und Novellen
nis (Lk 15,11–32) gegen den Strich interpretiert: als des 19. Jahrhunderts, Bd. 2. Stuttgart 1990, 301–332.
Goldammer, Peter: Culpa patris? Theodor Storms Verhältnis
Unheilsgeschichte eines Verdammten (vgl. Pastor zu seinem Sohn Hans und seine Spiegelung in den Novel-
1988). Ebenso konterkarierend verfährt sie mit ande- len »Carsten Curator« und »Hans und Heinz Kirch«. In:
ren intertextuellen Anspielungen auf die Folie der Gerd Eversberg (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl
christlichen Überlieferung: Die Mutter erwartet den Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 143–150.
Sohn wie die Parusie des Menschensohns (»Er kommt Iurascu, Ilinca: German realism in the postal office: mail-
traffic, violence, and nostalgia in Theodor Storm’s »Hans
einmal so, wenn wir es gar nicht denken!«; LL 3, 84;
und Heinz Kirch« and Wilhelm Raabe’s »Stopfkuchen«.
vgl. Lk 12,40), erlebt seine Wiederkunft aber nicht In: German studies review 32/1 (2009), 149–164.
mehr. Das fehlende Briefporto von dreißig Schillingen Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
wird von Hans Kirchs Schwester Jule sogar explizit mit scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001, 266–267.
Judas’ Verrat an Jesus für dreißig Silberlinge in Ver- Karrasch, Günter: Perspektiven, Varianten, offene Fragen.
bindung gebracht (Mt 26,15). Auch der Appell von Strategien realistischen Erzählens in Storms Novelle
»Hans und Heinz Kirch«. In: Ulf Abraham (Hg.): Realis-
Heinz’ Schwester Lina nach der Verstoßung des Soh- mus. Seelze 2010, 24–29.
nes – »[s]prich nur ein Wort, Vater« (LL 3, 121) – ver- Laage, Karl Ernst: Kommentar zu »Hans und Heinz Kirch«.
weist auf das Wort des Hauptmanns von Kafernaum In: LL 3, 794–825.
(Mt 8,8; Lk 7,7), bleibt jedoch vom Vater aus »jahre- Mayer, Michael: »Auf der breiten Meeresflut«. Emotionale
lang angesammelte[m] Groll« unerhört. Wieb wiede- Seereisen in Storms Novellen »Eine Halligfahrt« und
»Hans und Heinz Kirch«. In: STSG 61 (2012), 75–87.
rum figuriert mit ihrem »Madonnengesichtlein«
Pastor, Eckart: Pietà und alter Adam. »Hans und Heinz
(LL 3, 66) und in der Verbindung von Hure und Hei- Kirch«. In: Ders.: Die Sprache der Erinnerung. Zu den No-
liger als eine Art Maria Magdalena aus der Hafenknei- vellen von Theodor Storm. Frankfurt a. M. 1988, 141–161.
pe. Wenngleich der Vater am Ende ein Wiedersehen Pätzold, Hartmut: Der soziale Raum als Ort »schuldlosen
mit dem Sohn (und ein unzweifelhaftes Wiedererken- Verhängnisses«. Zur Kritik der Rezeptionsgeschichte von
nen) »in der Ewigkeit« (129) anvisiert – und den Skep- Theodor Storms Novelle »Hans und Heinz Kirch«. In:
STSG 40 (1991), 33–50.
tiker, einen sozial deklassierten Tischler und angebli-
Shalaby, Safa’a: Generationskonflikt und Zeitenwechsel in
chen Sozialdemokraten, harsch zurückweist –, biegt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu Theodor
die Erzählung diese transzendente Aussicht doch auf Storms Novelle »Hans und Heinz Kirch«. In: Kairoer ger-
eine immanente Ethik der caritas zurück, welche die manistische Studien 11 (1998/99), 211–237.
Stelle der im Leben unmöglich gebliebenen Liebe ver- Song, Hi-Young: Kleine Welt, jedoch tiefer Blick? Eine Ana-
tritt (vgl. Freund 1990): »Aber nicht nur von den Ster- lyse von Theodor Storms Kunstverständnis anhand seiner
Novellen »Auf der Universität«, »Viola Tricolor« und
nen, auch aus den blauen Augen des armen Weibes »Hans und Heinz Kirch«. In: Togil-munhak 39/4 (1998),
leuchtete [...] ein Strahl jener allbarmherzigen Frau- 44–64.
enliebe, die allen Trost des Lebens in sich schließt« Weiß-Dasio, Manfred: Die Unzulänglichkeit des Ganzen. Zu
(LL 3, 129). Theodor Storms Novelle »Hans und Heinz Kirch«. In: Li-
teratur für Leser (1988), 149–62.
Vinçon, Hartmut: Theodor Storm. Stuttgart 1973.
Literatur
Wiese, Benno von: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kaf-
Baltensweiler, Thomas: Die Aporie in der bürgerlichen Fa-
ka. Interpretationen, Bd. 2. Düsseldorf 1962, 216–235.
milie. Zur Funktion des Erwerbssinns in »Hans und
Zimmermann, Bernhard: »Am grauen Strand, am grauen
Heinz Kirch« und »Der Schimmelreiter«. In: STSG 51
Meer«. Annäherungen ans literarische Erbe am Beispiel
(2002), 87–100.
einer Storm-Adaption des Fernsehens der DDR. In: STSG
Deupmann, Christoph: »Hans und Heinz Kirch«. Kontra-
48 (1999), 127–139.
fraktur der Heilsgeschichte. In: Christoph Deupmann
(Hg.): Theodor Storm, Novellen. Stuttgart 2008, 88–103. Christoph Deupmann
Doane, Heike A. (Hg.): Theodor Storm: Hans und Heinz
Kirch. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1985.
228 III Werk – D Novellen

66 »Schweigen« (1883) ge. Rudolph wird Vater eines Jungen und zum Ober-
förster befördert; »selbst mit der alten Gnädigen von
Die 1881/82 zunächst unter dem Arbeitstitel »psycho- Schlitz verstehen sie zu leben.« (197).
logische Novelle« ausgearbeitete, 1883 in der Deut- Die Ausarbeitung der »psychologisch difteligen
schen Rundschau zuerst veröffentlichte Novelle um ei- Geschichte«, die Storm auch in der späteren Buchaus-
ne psychische Erkrankung und die Folgen ihrer Ta- gabe (1883) seiner Novelle Hans und Heinz Kirch an
buisierung bearbeitet ein für Storm und den literari- die Seite gestellt hat, bereitete dem Autor offenbar
schen Realismus ungewöhnliches Sujet. Schwierigkeiten, da die Novelle einen ›inneren‹, kaum
Sie setzt mit einer Unterredung zwischen der Forst- in ›äußeren‹ Handlungen zutage tretenden Konflikt in
junkerin Frau von Schlitz und einem Arzt über ihren den Mittelpunkt stellt und Storm das »Motiviren vor
Sohn Rudolph ein, der wegen eines »schweren Ner- den Augen des Lesers« verhasst war (Brief an Paul
venübels« (LL 3, 144) in psychiatrischer Behandlung Heyse, 15.11.1882, Storm–Heyse III, 36 f.). Erzähl-
war und als »völlig geheilt entlassen« (159) worden ist. technisch verwendet die Novelle den Gedankenbe-
Um die Heilung dauerhaft sicherzustellen, empfiehlt richt und die erlebte Rede, nicht zuletzt aber in hoher
der Arzt Rudolphs rasche Verheiratung mit einem Dichte Zeichen des Unbestimmten, Anderen (»es«),
»deutsche[n] Hausfrauchen, heiter und verständig, um die psychische Bedrohung der Krankheit sprach-
nur keine Heroine!« (133) Die Mutter leitet daraufhin lich zu fassen (»er sah es in der Tiefe liegen und all-
die Bekanntschaft mit der Pastorentochter Anna in die mählich höher steigen, bis es endlich unverrückt mit
Wege, die tatsächlich zu einer Liebesheirat führt. Hin- feindlichen Augen zu ihm emporstarrte«; LL 3, 156,
sichtlich der überstandenen Krankheit verabreden Hervorhebung C. D.; vgl. auch Reulecke 2013). Die
Mutter und Sohn jedoch ein Stillschweigen, das für psychische Krankheit ist »jenes Andere, was er nicht
Rudolph zunehmend zur Belastung wird: Der ›Be- zu denken wagte, was er hinter sich in Nacht begraben
trug‹ an Anna, den er als persönliche Schuld empfin- wähnte!« (LL 3, 155) Gleichzeitig ist das titelgebende
det, evoziert bei ihm die Angst vor der Wiederkehr Schweigemotiv mit fast dreißig Nennungen (›Schwei-
der Erkrankung. Überall – in Berichten über einen gen‹, ›schweigen‹, bzw. ›stumm‹/‹verstummt‹ oder
mit Tollwut infizierten Hufschmied, bei dem die ›still‹) so dominant, dass es den Text fast schon über-
Krankheit nach dreizehn Jahren wieder ausbricht determiniert. Alle kommunikativen Momente – sol-
(154), einen nach der Entlassung aus einer »Anstalt« che des ›stillen‹ Glücks ebenso wie solche der wach-
scheinbar erneut ›wahnsinnig‹ gewordenen Holz- senden Entfremdung Rudolphs von seiner Frau – ste-
schläger (166), ja sogar in Insektenschwärmen bzw. hen im Zeichen dieser Sprachlosigkeit; sogar das
der Schauergeschichte von einer »schwarzen Fliege« Schweigebündnis mit der Mutter wird stillschweigend
(152 f.) – erblickt er Indizien für einen drohenden geschlossen. Das Schweigen deckt aber vor allem eine
Rückfall. Je länger jedoch das Schweigen dauert, desto auch vom Erzähler nicht näher benannte psychische
unmöglicher erscheint es ihm, das Redetabu gegen- Erkrankung (»Nervenübel«) zu, die gleich anfangs als
über der Ehefrau zu brechen, selbst als Arzt und Mut- überwunden gekennzeichnet wird und folglich eine
ter ihm dazu raten. Rudolph vermag nicht mehr zu re- leere Stelle bildet. Nicht die abwesende psychische
den, weil er bisher geschwiegen hat: »Wie soll ich jetzt Krankheit steht daher im Zentrum der Novelle, son-
noch zu ihr sprechen [...]?« (145) Auf dem Höhepunkt dern ihre Tabuisierung, die ihr zu einer Art Re-Prä-
der psychischen Krise entschließt sich Rudolph zum senz verhilft und damit selbst pathogen wirkt. Unter
Suizid in einem unkultivierten Waldbezirk, in dem ein dem tautologischen Bann des Schweigens, das sich
Runenstein mit der Aufschrift »Bis hieher; niemals seine Notwendigkeit selbst beglaubigt, kann die Angst
weiter« steht. Zuvor hinterlegt er jedoch einen Ab- vor der Wiederkehr der Krankheit sich bis zur schein-
schiedsbrief, in dem er der Ehefrau seinen verschwie- baren Ausweglosigkeit auswachsen.
genen ›Wahnsinn‹ offenbart. Im letzten Moment wird Da der Schweigevertrag zwischen Mutter und Sohn
ihm klar, dass er damit das »furchtbare Schweigen« zu Lasten der Ehefrau Anna als ausgeschlossener Drit-
selbst beendet hat (190). Anna eilt, nachdem sie sei- ter geht, impliziert er eine erotisch aufgeladene, ödi-
nen Brief gelesen hat, zu ihm und entlastet ihn vom pale Mutter-Sohn-Beziehung, die am Ende überwun-
Selbstvorwurf der Schuld, indem sie sein Schweigen den werden muss. Im Laufe der Erzählung erkennt
seiner Liebe zuschreibt. Zwar wird sie durch einen Rudolph selbst, dass er »von selbstsüchtiger Mutterlie-
Schuss aus Rudolphs Büchse noch verwundet, aber be sich den Mund [hat] verschließen lassen« (155).
dem Happy End der Novelle steht nichts mehr im We- Wenn in der dramatischen Szene von Rudolphs Ret-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_66, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
66 »Schweigen« (1883) 229

tung das beinah tödliche Schweigegebot endlich ge- möglichkeiten des Poetischen Realismus gesehen wer-
brochen wird, macht die Erzählerrede die Loslösung den (Wünsch 1992; Schwarz 2013). Storms Novelle
aus dieser ödipalen Mutterbindung wie vom schwei- erweist sich damit als Teil literarischer Bemühungen
gend bekräftigten Phantasma der psychischen Krank- um die Abgründe und Tiefenschichten menschlichen
heit in der erlebten Rede mehr als deutlich: »Sein Le- Bewusstseins, wie sie in zeitlicher Nähe auch in Hen-
ben – ja, jetzt konnte es beginnen!« (191) drik Ibsens Drama Gespenster (1881) oder Gerhart
Je mehr sich das Schweigen im Verlauf der Erzäh- Hauptmanns ›novellistischer Studie‹ Bahnwärter Thiel
lung verdichtet, desto schwieriger wird es indes, seine (1888) unternommen worden sind.
Auflösung überzeugend zu motivieren. Die Konflikt-
lösung am Ende der Novelle – Rudolphs Bruch des Literatur
Schweigens durch den Abschiedsbrief, die Rettung Deupmann, Christoph: Verdichtetes Schweigen. Paradoxien
durch seine Frau an derselben Stelle, an der sie einst der unterdrückten Rede in einer späten Novelle Theodor
Storms. In: STSG 56 (2007), 149–162.
ihre Verbindung eingegangen sind – erschien bereits Laage, Karl Ernst: Kommentar zu »Schweigen«. In: LL 3,
Paul Heyse als allzu angestrengt: »Daß er sie noch ver- 826–845.
wundet, daß noch der Maiblumenstrauß dort liegt, Jackson, David A.: The sound of silence. Theodor Storm’s
dass er sie – den ungeheuren Weg! – nach Hause trägt son Karl and the Novelle »Schweigen«. In: German life and
– dies Alles ist viel zu uneinfach.« (Storm–Heyse III, letters 45/1 (1992), 33–49.
Schuster, Ingrid: Stifters »Waldsteig« und Storms »Schwei-
50) Dass Anna sich hier als Retterin des Helden (also
gen«. In: Dies.: »Ich habe niemals eine Zeile geschrieben,
doch als »Heroine«) erweist, begründete auch Storms wenn sie mir fern war«. Bern 1998, 153–164.
eigenen Zweifel an der Novelle, durch deren Schluss- Reulecke, Anne-Kathrin: Dynamiken des Unaussprechli-
gebung der männliche Held »zu sehr herabgedrückt« chen in Theodor Storms Novelle »Schweigen«. In: Elisa-
werde (Brief an Albert Nieß vom 4.6.1883, Stadtarchiv beth Strowick/Ulrike Vedder (Hg.): Wirklichkeit und
Braunschweig, vgl. LL 3, 830). – Die neuere Forschung Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm.
Bern 2013, 91–105.
hat in den Storm beschäftigenden Darstellungsproble-
Schwarz, Anette: »Bis hierher; niemals weiter«. Krankheit
men freilich eher Merkmale spätrealistisch-frühmo- als Grenze literarischer Darstellung in Theodor Storms
dernen Erzählens gesehen. Indem Storms Novelle die Novelle »Schweigen«. In: Elisabeth Strowick/Ulrike Ved-
Macht einer vom Subjekt nicht mehr kontrollierten der (Hg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspek-
psychischen Dynamik zeigt bzw. ein psychisch Unbe- tiven auf Theodor Storm. Bern 2013, 205–221.
wusstes thematisiert, das erst in Erzähltexten der Mo- Wünsch, Marianne: Experimente Storms an den Grenzen
des Realismus. Neue Realitäten in »Schweigen« und »Ein
derne an die Erzähloberfläche gelangt, kann sie als Ex- Bekenntnis«. In: STSG 41 (1992), 13–23.
periment an der Grenze novellistischer Darstellungs-
Christoph Deupmann
230 III Werk – D Novellen

67 »Zur Chronik von Grieshuus« nichtadelige Bärbe vor einem Angriff marodierender
(1884) Soldaten. In zeichenhaft aufgeladenen Szenen – etwa
der Tötung eines Huhns, wobei der »Blutstrahl« auf
Bärbes »weiße[] Schürze« spritzt (220) – kommen die
Entstehung und Zeugnisse
beiden sich trotz äußerer Widerstände näher. Auch
Die Novelle ist 1884 in zwei Teilen in Westermann’s Il- Hinrichs Vater akzeptiert Bärbe nicht als Braut für sei-
lustrirten Deutschen Monatsheften erschienen. Zeit- nen Erben und erlässt vor seinem Tod ein Testament,
gleich publiziert Storm eine Buchausgabe, für die er das Hinrichs jüngeren Zwillingsbruder Detlev als Er-
am zweiten Teil umfangreiche Bearbeitungen vor- ben von Grieshuus einsetzt. Hinrich widersetzt sich
nimmt. Erste Skizzen zur Thematik von Zorn und Ver- dem väterlichen Testament, woraufhin Detlev als Herr
erbung finden sich bereits im Jahr 1881 (zum Zorn im über Grieshuus die bereits geschlossene Ehe seines
Kontext der Novelle vgl. Lehmann 2012, 402–414). Als Bruders mit der »Leibeigenen« Bärbe als nichtig er-
Anstoß nennt Storm zudem eine Erzählung Julius klärt (241). An dieser Stelle kommt es zur Katastro-
Mannhardts über einen italienischen »Einsiedler«, von phe: Die schwangere Bärbe erleidet eine Frühgeburt
der die Formulierung der »schlimmen Tage« sowie der und stirbt an deren Folgen; in Hinrich erwacht wieder
Brudermord in die Novelle einfließen. Allerdings der Zorn; bei einem Treffen auf der Heide erschlägt er
überführt Storm die Handlung nach Norddeutsch- Detlev, was von der Besenbindertochter Matten, einer
land, so dass diese »jetzt gut schleswig-holsteinisch« »Vorspuk«-Seherin, beobachtet, aber nicht erzählt
sei (an Fontane, 2.11.1884, Storm–Fontane, 144). wird – »Matten schwieg« (243; zur narrativen Insze-
nierung der Mordszene vgl. Theisohn 2015). All diese
Ereignisse finden am 24. Januar statt, der nun zum
Aufbau und Inhalt
Schicksalsdatum der »schlimmen Tage« wird.
Der Aufbau der Novelle folgt der für Storm typischen Der zweite Teil setzt um das Jahr 1700 ein (zum
Konstruktion einer Rahmen- und Binnennarration, Problem der Zeitdaten und damit zur Unzuverlässig-
die durch komplexe Überlieferungszusammenhänge keit des Rahmenerzählers vgl. Gerrekens 1998). Hen-
und Zeitschichtungen verknüpft sind. Der Rahmen- riette, die Erbin von Grieshuus, lebt in der Erwartung
erzähler erinnert sich an seine in der Jugendzeit unter- der Rückkehr ihres nach dem Brudermord ver-
nommenen »Wanderungen« im Naturszenario der schwundenen Vaters Hinrich außerhalb des Schlos-
norddeutschen »Heide« (LL 3, 198 f.). Dabei stößt er ses, das daraufhin verwildert – die Wölfe vermehren
auf die Überreste des Schlosses Grieshuus, das er nun sich, »denn einen Jäger hat es zu Grieshuus nicht mehr
– vermittelt über zuvor »mehr als einmal« vernomme- gegeben« (LL 3, 244). Henriettes Funktion im Text be-
ne Erzählungen – in seiner »Phantasie« wieder »er- steht ausschließlich darin, dass sie mit einem schwe-
baut« (200). Angetrieben durch das Wissen, dass dischen Obristen einen Sohn bekommt. Nach ihrem
»nicht alles Sage [war]«, sammelt er die schriftlichen Tod unmittelbar nach der Niederkunft bezieht der
Überlieferungen in »alten Archiven« sowie die münd- Obrist mit dem Grieshuus-Erben Rolf das Schloss und
lich tradierten Erzählungen der »damals Lebenden« bestellt den Magister Caspar Bokenfeld als Erzieher.
(201). Die Frucht dieser heimatkundlichen Tätigkeit Ab dieser Stelle gibt der Text bis zu seinem Ende – der
ist eine Rekonstruktion des Untergangs des Grieshu- Rahmenerzähler kommt nicht mehr zu Wort – die
us-Geschlechts, die den Rahmenerzähler nach einem »Niederschrift« des Magisters wieder. »[D]ie alte
»scherzend[en]« Wort seines Vaters zum »Chronisten Zeit«, so kommentiert der Rahmenerzähler, »begann
von Grieshuus« macht. »[A]ls solcher« erzählt er ein ja selbst zu sprechen« (250).
»halbes Jahrhundert« nach der ersten Wanderung zur Der Bericht des Magisters wird im Jahr 1701 von
Schlossruine die Binnenhandlung (202 f.). der Erzählung eines Wolfsangriffes auf Rolf eröffnet.
Die Binnenhandlung ist in zwei Teile gegliedert, Kurz darauf kehrt Hinrich zurück, der sich aber nicht
wobei der zweite Teil nahezu vollständig aus der Do- zu erkennen gibt, sondern als Wildmeister die Ausrot-
kumentfiktion der »Niederschrift des Magisters Cas- tung der Wölfe übernimmt. Auffällig ist, dass der
par Bokenfeld« (250) besteht. Der erste Teil handelt zweite Teil immer wieder Verdoppelungen zum ersten
von einem familiären Konflikt des Grieshuus-Ge- Teil aufweist, wobei zwischen Wiederholtem und
schlechts in den 1660er Jahren. Junker Hinrich, der Wiederholung signifikante Differenzen bestehen: So
trotz seiner jähzornigen Gewalttätigkeit gegen Tier ist bei Rolf das Erbe des Zorns zu erkennen, doch
und Mensch bei den Untertanen beliebt ist, rettet die kommt dieser dank einer Warnung von Hinrich vor

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_67, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
67 »Zur Chronik von Grieshuus« (1884) 231

dem eigenen »Blut« (265) nicht zum Ausbruch. Auch und Fiktion weist den Text als »Chroniknovelle« – eine
die Wiederholung einer nicht standesgemäßen Lie- Spielart der Erinnerungsnovelle – aus (vgl. Fasold
besbeziehung wird angedeutet, doch weist Rolf die 1997, 140–143). Zudem sind mit der Grieshuus-Novel-
»Küsse« der untergebenen Abel im Wissen über die le zwei für Storms Novellistik zentrale poetologische
Folgen der Ehe seiner Großeltern zurück: »Es ist kein Implikationen verknüpft. Erstens klassifiziert Storm
Unglück, daß ich nicht bin wie meiner Mutter Vater« den Text als »Romantische Novelle«, die – anders als
(270). Die Überwindung des Zorns und die Einhal- die »Psychologische Novelle« mit dem ungeliebten
tung der Standesordnung scheinen den Verfall des »Motivieren vor den Augen des Lesers« – durch eine
Grieshuus-Geschlechts abzuwenden. Auch das äußere »symptomatische[] Behandlung« gekennzeichnet sei,
Geschehen verweist in diese Richtung: Hinrich hat die mit der die Motivation der Handlung »verschluck[t]«
Wölfe ausgerottet, den letzten Wolf lockt er zum Wild- werde (an Heyse, 15.11.1882, GB 2, 259). Dies wiede-
meisterturm und überlässt es Rolf, diesen in einem rum verlangt vom Leser, die Leerstellen des Textes
symbolischen Akt zu töten – Rolf tritt auf diese Weise durch ein Verweisungsnetz zwischen Handlung, Figu-
das Erbe des Grieshuus-Geschlechts an. ren und diegetischem Hintergrund zu füllen. Die The-
Einige Jahre später – Hinrich hat Grieshuus verlas- matisierung der geschichtlichen Fakten erweist sich
sen, Rolf ist Fahnenjunker in der »schwedische[n] Mi- damit nicht bloß als Simulation eines historisch-realis-
liz« (277) – kommt es dennoch zur abermaligen Ka- tischen Szenarios – in Anlehnung an Roland Barthes’
tastrophe: Am 24. Januar 1713 berichtet Abel auf der »Realitätseffekt« ließe sich von einem Geschichtseffekt
Grundlage einer Vision dem Obristen und dem Ma- sprechen. Stattdessen gewinnen die Fakten im Bedeu-
gister, dass noch in dieser Nacht Rolfs Miliz angegrif- tungssystem der Novelle auch einen zeichenhaften
fen werden wird. In dieser Notsituation tritt Hinrich Sinn, was etwa am Verweisungszusammenhang zwi-
plötzlich wieder auf, allerdings scheitert er bei dem schen den Wölfen als tatsächlichen Tieren auf der ei-
Versuch, Rolf zu retten: Unter mysteriösen Umstän- nen, dem fiktiven Grieshuus-Geschlecht auf der ande-
den kommt Hinrich bei seinem Ritt über die Heide – ren Seite deutlich wird (vgl. Borgards 2007).
also dort, wo er ein halbes Jahrhundert zuvor seinen Zweitens protestiert Storm in einem Brief an Fonta-
Bruder erschlagen hat – ums Leben. Und nicht genug ne gegen dessen Beschreibung der Novelle als »Bilder-
der Schicksalsmächtigkeit, wird im Folgenden berich- buch«. Vielmehr seien »alle einzelnen Szenen, aus
tet, dass gerade Hinrichs Pferd Falada (zu diesem Na- dem Zentrum heraus geschrieben, nur Strahlen eines
men vgl. Howe 1999, 231) Rolf während der Schlacht Ganzen« (an Fontane, 2.11.1884, GB 2, 307). Diese
ablenkt und so dessen Tod verursacht. Zum Ende Aussage entspricht Storms berühmter Explikation der
kündigt sich nun in der Niederschrift des Magisters ei- Novelle: Analog zum Drama verlange diese »einen im
ne neue Geschichte an: Rolfs Tod und das Aussterben Mittelpunkt stehenden Konflikt, von welchem aus das
des Adelsgeschlechts ermöglichen es ihm, die seit lan- Ganze sich organisiert« (LL  4, 409). Die Integration
gem begehrte Abel zur Frau zu nehmen und eine bür- der Textdetails zu einem geschlossenen Ganzen ver-
gerliche Kleinfamilie zu gründen: »In dieser Zeit aber deutlicht erneut die zeichenhafte Aufladung aller Er-
ist aus dem großen Unglück der vornehmen Leute zähleinheiten, die sich sämtlich um ein Zentrum
mein allergrößtes Glück erwachsen« (LL 3, 292). Der gruppieren und auf dieses verweisen. Damit aber stellt
Magister beschließt seinen Text mit vier Versen, die sich die Frage, worin dieses Textzentrum besteht.
als Veranschaulichung der Schleifung des Schlosses Die Forschung hat verschiedene Aspekte als Sinn-
(»Grieshuus ist abgebrochen«) und der Rodung der zentrum der Novelle hervorgehoben, z. B. die Über-
»Rieseneichen« gleichermaßen auf eine Geschicht- windung der »kriegerischen Aristokraten« durch das
lichkeit der menschlichen Institutionen und der Natur »herrschaftsbefreite[] Geschlecht« des Bürgertums
gerichtet sind (293). (Freund 1987, 133), die Verknüpfung mit der Ge-
schichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, deren abso-
lutem Erkenntnissubjekt die »Endlichkeit des Wissen-
Phantasmatische Geschichtsschreibung –
den« entgegengestellt wird (Kaiser 1991, 28), oder die
zur Deutung
Figur des Rahmenerzählers, dessen Narration Brüche
Basierend auf einem Quellenstudium bilden histori- aufweist, so dass sie weniger als gefunden, sondern als
sche Ereignisse den diegetischen Hintergrund, vor erfunden zu verstehen ist (vgl. Gerrekens 1998). Tat-
dem Storm die Verfallsgeschichte des fiktiven Grieshu- sächlich ist es der Rahmenerzähler, der einerseits die
us-Geschlechts inszeniert. Die Verknüpfung von Fakt Geschichte vom Verfall des Grieshuus-Geschlechts
232 III Werk – D Novellen

hervorbringt, und zwar im Modus eines allwissenden lichkeit einer kontemplativen Geschichts(er)findung.
Erzählers und als kohärente Narration, die zudem Entscheidend ist dabei, dass Storms Novelle nicht nur
durch die vermeintlich authentische Niederschrift des ein Herkunftsnarrativ entwirft, sondern das Erzählen
Magisters gestützt wird (zur Bewertung dieses Doku- solcher Erzählungen vielmehr selbst zum Thema wird:
ments als Fiktion innerhalb der erzählten Welt vgl. Die Chronik von Grieshuus, von der man in Zur Chro-
ebd., 58). Andererseits markiert der Text durch die nik von Grieshuus liest, gäbe es jedenfalls nicht ohne
Thematisierung des eigenen discours deutlich, dass die einen Erzähler, der auf der Suche nach der eigenen
Binnenhandlung ein Geflecht heterogener Erzählun- Herkunft schriftliche und mündliche Berichte zusam-
gen darstellt: Auf der Ebene der Überlieferung besteht menfügt. Der Text inszeniert auf diese Weise die kon-
sie aus einem Amalgam aus historischen Fakten und tingenten Möglichkeitsbedingungen des Erzählens
ungesicherten Gerüchten; aus abergläubischen Spuk- und damit die Konstruiertheit der Wirklichkeiten, in
geschichten, die von der zyklischen Wiederkehr der denen man lebt.
»schlimmen Tage« künden, und einem Aufklärungs-
narrativ des Magisters, der den »Nachtspuk« als »nu- Literatur
gae« (Hirngespinste) abqualifiziert und den Unter- Borgards, Roland: Wolfs-Notstand. Zum Bann der Bestie in
gang des Adelsgeschlechts mit dem Aufkommen des Storms »Zur Chronik von Grieshuus«. In: Nobert Otto
Eke/Eva Geulen (Hg.): Texte, Tiere, Spuren. Sonderheft der
Bürgertums verknüpft (LL 3, 291). Auf der Ebene des Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), 167–194.
Rahmens kommt schließlich die Phantasmatik hinzu, Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart/Weimar 1997.
mit welcher der Rahmenerzähler die Leerstellen der Freund, Winfried: Theodor Storm. Stuttgart 1987.
Überlieferung ausfüllt und derart noch von Ereignis- Gerrekens, Louis: »Und hier ist es« – Die verwirrende Fikti-
sen berichten kann, die »[k]ein Menschenauge, nur on erzählerischer Objektivität in Storms Novelle »Zur
Chronik von Grieshuus«. In: STSG 47 (1998), 47–72.
die Amseln« beobachtet haben (222).
Howe, Patricia: »Zur Chronik von Grieshuus«. In: David A.
Entgegen Versuchen, die Phantasmatik des Rah- Jackson/Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative
menerzählers psychologisch zu begründen (vgl. Ger- Strategies and Patriachy / Theodor Storm – Erzählstrategien
rekens 1998, 62 f.), liegt es näher, den Willen zur Auf- und Patriarchat. Lewiston, N. Y. 1999, 217–237.
findung und Erfindung der Geschichte im Lichte eines Kaiser, Herbert: Tod, Erinnerung, Geschichte. Zur Kritik des
Herkunftsnarrativs zu sehen. Zum einen steht der historischen Bewußtseins in Meyers »Huttens letzte Tage«
und Storms »Zur Chronik von Grieshuus«. In: Der
Rahmenerzähler selbst in jener Genealogie, die im
Deutschunterricht 43 (1991), 20–31.
Text mit dem Untergang des Adels und dem Aufstieg Lehmann, Johannes F.: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur-
des Bürgertums dargestellt wird. Zum anderen ist und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg i. Br. 2012.
auch die Naturlandschaft, die er bei seinen heimat- Theisohn, Philipp: Über Leichen gehen. Storms Zur Chronik
kundlichen Wanderungen durchstreift, ein Produkt von Grieshuus (1884) und die Logik des novellistischen
dieser Geschichte: Der Wald der »Rieseneichen« und Mords. In: STSG 64 (2015), 5–20.
die Wölfe sind verschwunden, und erst in einem sol- Alexander Kling
chen friedlichen Naturszenario eröffnet sich die Mög-
68 »Es waren zwei Königskinder« (1884) 233

68 »Es waren zwei Königskinder« dann am Wege liegen lassen.« (317 f.), tönt Marx, und
(1884) möchte sich, in Gesellschaft seines verehrten Freun-
des Fritz, hemmungslos betrinken. Der wiederum
weiß genau um die »kindliche[] Liebe« (310), die
Die Novelle erschien erstmals unter dem Titel Marx in Marx ihm gegenüber hegt – und dennoch wird er sei-
Spemann’s Illustrirter Zeitschrift für das Deutsche Haus ner Verantwortung als Freund nicht gerecht: Drei Mal
›Vom Fels zum Meer‹; den Titel »Es waren zwei Königs- lässt er Marx in dieser Nacht allein – u. a., weil er »eine
kinder« erhielt der Text erst in der ersten Buchausgabe Weile mit normalen Menschen verkehren« will (318;
von 1888. Hervorhebung M. G.) – und trägt so eine beträcht-
Die Rahmennovelle aus dem Jahre 1884 teilt sich in liche Mitschuld daran, dass der sturzbetrunken und
zwei divergente Hälften auf, die kaum miteinander vollkommen hilflos zurückgelassene Marx am Ende
verbunden scheinen: Im ersten Teil finden vier Freun- verhaftet wird. Die darauf folgende Nacht in der Ar-
de, allesamt Musikstudenten, zueinander, und be- restzelle, inklusive Misshandlung durch die Soldaten,
schließen eines nachts spontan, zu Fuß von Stuttgart bedeutet für den distinguierten jungen Mann eine De-
nach Waiblingen zu wandern, ohne nennenswertes mütigung, die er schlussendlich nicht zu verwinden
Geld in der Tasche, dafür aber mit einem Terzett be- vermag. Hier wird deutlich, wer Marx an diesem
währt, dessen inbrünstiger Vortrag ihnen Semmeln Abend wirklich das Herz herausriss und ihn dann am
und Kaffee einbringt – eine romantische Hommage an Wege liegen ließ: Es war kein Weib, sondern sein bes-
längst vergangene Künstlertage. Doch das Idyll bricht ter Freund.
jäh ab, als der zweite Teil der Novelle das tragische War Marx bis zu seinem Arrest lediglich »nicht
Schicksal eines einzelnen Freundes weiterzeichnet, eben [...] bequem[]« (310), so ist sein Verhalten da-
der sich infolge eines gebrochenen Herzens und ver- nach nahezu unerträglich. Umso mehr ist es Fritz zu-
letzten Stolzes das Leben nimmt. gute zu halten, dass er seine Fehler scheinbar wieder-
»Es waren zwei Königskinder«» leiht sich nicht nur gutmachen will, doch er kommt an den mittlerweile
den Titel, sondern auch das Leitmotiv von dem gleich- völlig paranoiden Freund einfach nicht heran: »Ich
namigen Volkslied, doch im ersten Teil der Novelle suchte ihn zu beruhigen; jeden Abend redete ich das-
steht ein anderes Lied im Vordergrund, nämlich Trop- selbe und jeden Abend umsonst, und immer wieder
fen von Thau, das die Freunde während ihres nächt- begann dasselbe Spiel aufs Neue.« (322) Die Bezie-
lichen Ausflugs fünfmal vortragen. Dieses Lied be- hung der beiden dreht sich im Kreis, und es ist nicht
singt die immerwährende Treue, die sich hier in erster verwunderlich, dass Fritz im Wunsch nach Ausbruch
Linie nicht auf die Liebe zwischen den Geschlechtern schließlich wieder in seine alten Muster verfällt – und
bezieht, sondern auf das, was die jungen Studenten damit seinen vierten (und letzten) Fehler begeht. Im-
miteinander verbindet: wahre Männerfreundschaft. mer wieder hat Marx gegenüber seinen Freunden an-
Einer dieser Männer ist Marx, der zeitlebens unter ei- gedeutet, es gebe »noch Wege aus der Welt heraus«
ner quälenden »Abhängigkeit von der Meinung An- (321), doch Fritz gibt freimütig zu: »Wir kannten diese
derer« leidet (LL 3, 310). In der Gunst der Freunde Reden und achteten nicht darauf [...]« (ebd.). Diese fa-
steht Marx auf unterster Stufe, denn die drei anderen tale Fehleinschätzung kostet Marx am Ende das Le-
Männer nehmen das überzarte Gefühlsleben des ben, denn nachdem seine zahlreichen Hilferufe unge-
»Halbfranzöschen[s]« (303) partout nicht ernst. Diese hört verhallen, erschießt er sich im Wald, muttersee-
fatale Herablassung gestaltet am Ende das zentrale lenallein und fernab seiner vermeintlichen Freunde.
Moment der Novelle, denn wenngleich der Erzähler Unerwiderte Liebe und Verzweiflung, Kummer
Fritz die Reizbarkeit seines Freundes Marx als »krank- und Verrat: »Es waren zwei Königskinder« ist ein klas-
haft[]« bezeichnet (310), ist ihm nicht bewusst, dass sisches Beziehungsdrama – mit der ausgemachten Be-
Krankheiten der Seele nicht minder schwer wiegen sonderheit, dass die Hauptfiguren allesamt dem
wie körperliche Gebrechen. männlichen Geschlecht angehören; dabei geht es hier
Zu Marx’ allgemeinen Problemen gesellt sich bald mitnichten um homosexuelle Neigungen, sondern
ein großer Liebeskummer, denn Linele, eine hübsche um das Grundbedürfnis nach menschlicher Zunei-
Tischlertochter, mit der er für kurze Zeit liiert gewe- gung. Dass neben diesem auch noch ein sexuelles Be-
sen ist, hat ihn verlassen. »[E]s soll einen Rausch ge- gehren existiert, dafür bürgt wiederum die Neben-
ben, einen Rausch, der mich die Weiber vergessen figur der Linele. Diese verharrt – im Gegensatz zu
läßt, die uns das Herz aus der Brust nehmen und uns zahlreichen anderen »unschuldige[n] Mädchenk[ö]p-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_68, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
234 III Werk – D Novellen

f[en]« (312) des Stormschen Œuvres – keineswegs im heiler Welt und menschlichen Abgründen. Wie viel ist
ästhetischen (Fenster-)Rahmen, durch den Marx sie eine Freundschaft wert, die das echte Leben abseits
das erste Mal erblickt, sondern tritt aus diesem heraus, von lustigen Studentenabenteuern ausklammert? Im
um mit ihm eine ungewöhnlich reife und progressive Königskinder-Lied gibt es bekanntlich das »falsche[]
Beziehung einzugehen. Ja, Linele ist sogar so selbst- Nönnchen«, das die Kerzen auslöscht, die dem jungen
bewusst, dass sie sich eines Tages von ihrem Verehrer Prinzen den Weg durch das tiefe, dunkle Wasser wei-
lossagt, obgleich er doch ihr »Einzigs auf der Welt« ist sen sollen (315), und die Parallele zu Fritz, der seinen
(317). Warum? Freund Marx in dessen dunkelster Stunde allein lässt,
»Es waren zwei Königskinder / Die hatten einander liegt nahe; die Melodie gleicht somit einem Kassan-
so lieb / Sie konnten beisammen nicht kommen, / Das draruf, der trotz aller Vehemenz nicht erhört wird.
Wasser war viel zu tief.« (313) Mit dem Wasser als ge- Andererseits stellt sich die Frage, ob die Freunde über-
läufiges Symbol für das Unbewußte wird die Anspie- haupt eine reale Chance hatten, Marx zu retten. Si-
lung des Novellentitels von einer rein intertextuellen cherlich sind Liebe und Empathie die Basis einer gu-
auf eine psychologische Ebene überführt: Das Wasser ten Freundschaft, doch ob sie auch eine kranke Seele
der Königskinder markiert das Tohuwabohu, das in zu heilen vermögen, bleibt strittig.
der seelischen Tiefe tobt und Marx’ Verstand nach Am Ende unterliegt die Novelle ihrer unverkenn-
und nach zu überschwemmen droht. Die nachfolgen- bar tragischen Kernstruktur und nimmt dabei auch
de Frage der Liebenden: »Ach, Liebster, kannst du ganz offen Anleihen in der Antike: Nicht nur, dass die
schwimmen[?]« (ebd.), bezieht sich dementsprechend Seherin unerhört bleibt; auch die Überlegung, dass
auf Lineles begründete Skepsis gegenüber Marx’ fragi- der Held möglicherweise dem Orakel folgt (man den-
ler Psyche, die ihn für die Rolle als gestandener Ehe- ke an Ödipus), verspricht keine Rettung. Stand der
mann und Familienernährer disqualifiziert. Mensch früher seinem von den Göttern bestimmten
Marx’ Freunde befinden sich in einer regelrechten Schicksal ohnmächtig gegenüber, so kommt heutzuta-
Handlungsstarre, die es ihnen unmöglich macht, auf ge alles Wohl und Wehe aus ihm selbst heraus – eine
die hier thematisierte Ausnahmesituation adäquat zu nur vermeintliche Emanzipation, wie Marx’ Ge-
reagieren. So wissen weder Fritz noch Linele »das schichte zeigt: Sein Verhängnis kann allenfalls er-
Richtige [...] zu finden« und »versäum[]en« deshalb kannt, jedoch keineswegs gebannt werden – die Tra-
»für immer« (323) die wichtige Aussprache über den gödie des modernen Individuums.
desolaten Zustand ihres gemeinsamen Freundes. Kurz
vor Marx’ Freitod spüren beide genau, dass Diskus- Literatur
sionsbedarf besteht, doch statt ihre Erfahrungen zu Giesen, Mareike: »So ist es nun, wie es ist«: Theodor Storms
teilen und Marx’ bespöttelten Spleen endlich als ernst- »Es waren zwei Königskinder« und die Frage nach dem
»Warum«. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 17 (2013),
hafte Krankheit zu thematisieren, wird dessen Psy-
91–113.
chose mit einem weiteren Tabu belegt – und alle Betei- Hagel, Jürgen: »Es waren zwei Königskinder«. Zum örtli-
ligten damit mehr oder minder unfreiwillig zu Ver- chen Hintergrund von Theodor Storms berühmter Novel-
schwörern. le. In: Mitteilungen aus dem Stormhaus 16. Heide 2003,
»Es waren zwei Königskinder« diskutiert die Frage, 30–33.
wo Freundschaft beginnt und endet. Während der Er- Kommentar in: LL 3, 893–906.
Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
zähler Fritz trotz eindeutigem Fehlverhalten weder in seiner Novellen. Bonn 1971, 70–72,
der Binnen- noch in der Rahmenerzählung zur Ver- Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
antwortung gezogen wird, offenbart die demonstrati- Bremen 1955, 379–381.
ve Gegenüberstellung der in ihrer Stimmung so unter-
Mareike Giesen
schiedlichen Teile ein deutliches Missverhältnis von
69 »John Riew’« (1885) 235

69 »John Riew’« (1885) Großmutter ein Haus, in dem Riekchen alsbald stirbt.
Der Ich-Erzähler entschließt sich, seinem Freund
Die späte, um die Jahreswende 1884/85 entstandene Riew’ bei der Erziehung des »Bengels« Rick zur Seite
Novelle wurde zuerst unter dem Titel Eine stille Ge- zu stehen. Nach einem weiteren Zeitsprung von zehn
schichte in der Deutschen Rundschau 42 (1885) ver- Jahren wird die erneuerte Freundschaft zwischen dem
öffentlicht. Im gleichen Jahr erschien in Berlin die ers- ersten Erzähler und Riew’ beschworen und vom
te Buchausgabe (zusammen mit der Chroniknovelle glücklichen Schicksal des jungen Rick Geyers erzählt,
Ein Fest auf Haderslevhuus). der gerade, wie Riew’ berichtet, nach dem plötzlichen
Ein erster Ich-Erzähler mit Doktortitel berichtet Tod seines Vorgängers zum Kapitän ernannt wurde
von seiner Wiederbegegnung mit seinem alten und am nächsten Tag bei der Ankunft seines Schiffes
Freund, dem Kapitän John Riew’, mit dem er etwa 20 von den beiden verschworenen Freunden am Ham-
Jahre zuvor in Hamburg als Oberschüler bei der Schif- burger Hafen begrüßt werden soll.
ferwitwe Riekchen Geyers zur Miete gewohnt hatte. Der Kontrast zwischen »dem eigentlich furchtbaren
Deren trunksüchtiger Mann Rick war im Rausch bei Stoff« und der »milde[n] und behagliche[n] Art der
einem Unfall ums Leben gekommen und hatte seiner Erzählung« hat bereits Storm selbst irritiert (Storm–
Frau ein Häuschen und die kleine Tochter Anna hin- Keller, 125), und doch liegt gerade in dieser scheinba-
terlassen. Dieses hübsche, inzwischen halbwüchsige ren Inkongruenz eine der Qualitäten der Novelle. Die
Mädchen wurde dem schon damals bejahrten Riew’ zwei Ich-Erzähler, John Riew’ und sein alter Freund,
als Bedienung zugewiesen und immer wieder, so die beide direkt oder indirekt ihren Anteil an dem
konnte der Erzähler beobachten, zu einem rituellen »furchtbaren« Geschehen haben, übertünchen ihre
Zeremoniell herangezogen, der Zubereitung und er- Beteiligung am Schicksal Annas und ihre Verantwor-
staunlicherweise auch Verköstigung eines heißen tung im behaglichen Plaudern und folgen damit einem
Grogs. Bei der Beschwörung dieser Szene entsinnt zentralen Prinzip, das die persönlichen, am Geschehen
sich der Erzähler seiner Überraschung über das Beha- beteiligten Erzähler bei Storm immer wieder antreibt,
gen, mit dem damals die Kleine den steifen Trank dem enthüllenden Verhüllen: Der joviale Seemanns-
konsumierte; auch heute noch – er ist verheiratet – hat jargon des »guten« Riew’ kleidet etwa die entsetzliche
er das »anmutige Kind« und seinen »süßen Mädchen- Szene, in der die zehnjährige Anna zum ersten Mal den
mund« in lebhafter, fast verstörender Erinnerung. Als Grog des »Ohms« probiert, nachträglich in eine gera-
zweiter Erzähler rollt sodann John Riew’ dem gebannt dezu verzeihliche Harmlosigkeit, obschon der Bericht
lauschenden Freund seine Geschichte von Rick und in seiner Bildlichkeit ungewollt von Verführung und
Riekchen Geyers und ihrer Tochter Anna auf. Er be- Vergewaltigung erzählt. Im Akt des verhüllenden
richtet von Ricks erfolgreicher Kapitänslaufbahn, aber Schönredens enthüllt sich die grässliche Wahrheit ei-
auch wie der nach der Heirat mit dem, so Riewe, un- nes Vergehens, das das Opfer Anna wie eine wirkliche
attraktiven und »einfältigen Tugendmenschen« Riek- Vergewaltigung ein für allemal zeichnen wird.
chen und nach Annas Geburt immer mehr dem Alko- Auf der narrativen Ebene erweist sich John Riew’ als
hol verfallen sei. Schließlich sei er im Rausch von ei- eines der eindrücklichen Beispiele für die in Storms
ner Hamburger Fleetbrücke ins Wasser gestürzt und Novellen aufgipfelnde, multi-perspektivische und sub-
ertrunken. Riew’ war daraufhin in die Oberetage des jektive, realistische Erzählkunst. Virtuos handhabt der
Geyersschen Hauses eingezogen, in dem dann auch Dichter hier die seit den 1850er Jahren erprobten Stra-
später der erste Erzähler und künftige Doktor sein Un- tegien im Umgang mit seinen Ich-Erzählern. Der Ti-
terkommen fand. Unterdessen, so erzählt Riewe, habe telheld und der ihn je länger, je solidarischer begleiten-
er mit seinem folgenschweren Grog-Zeremoniell die de Freund und erste Erzähler tun sich vor allem durch
gerade zehnjährige Anna bereits an Alkohol gewöhnt. sofort relativierte Schuldbekenntnisse und das Zur-
Und so sei es einige Jahre später einem skrupellosen schaustellen der eigenen Sorgsamkeit hervor und la-
Baron ein Leichtes gewesen, das kaum achtzehnjähri- den dabei den aufmerksamen Leser ein, hinter dem
ge Mädchen in einer Ballnacht betrunken zu machen harmonisierenden Erzählen die bestürzenden Beispie-
und zu schwängern. In tiefer Depression nach der Ge- le bürgerlichen Fehlverhaltens zu erfassen. Die offen
burt ihres kleinen Sohnes Rick stürzt sich Anna früh gegeißelte »Sünde« des adligen Verführers von Anna
morgens von der Fleetbrücke und ertrinkt. Etwa zwölf wiegt kaum das Sündenregister auf, das der Titelheld,
Jahre später errichtet Riewe im Dorf des ersten Erzäh- Annas Eltern und indirekt auch der erste Erzähler sich
lers für sich, den kleinen Rick und dessen hinfällige haben zuschulden kommen lassen. Wie in Auf dem

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_69, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
236 III Werk – D Novellen

Staatshof, Auf der Universität und Zur Chronik von ständnis, ja, Einverständnis begleitet: Schon längst hat-
Grieshuus, drei vorangegangenen Novellen mit ähn- te auch er sich daran erinnert: »Es war etwas Begehr-
licher Konfiguration, erweist sich Storm einmal mehr liches in dem Mädchen« (337), das, so soll man wohl
nicht allein als Ankläger des Adels, sondern ebenso als folgern, selbst für sein Unglück verantwortlich sei.
klarsichtiger wie unerbittlicher Kritiker auch und vor So verstanden ist John Riew’ eine Novelle, die, wenn
allem seiner eigenen Klasse: Der poetische Realist sie den Leser findet, den sie verdient, Aufschlüsse gibt
Storm lässt die »guten« Bürger erzählen und sich da- über männliches Begehren und männliches Wegdis-
durch selbst entlarven. Verklärung sieht anders aus. kutieren, über Wiedergutmachung des nicht wieder
Die verschachtelte und zugleich so einnehmende gut zu Machenden und – vielleicht am erschreckends-
Erzählweise erlaubt es dem Dichter, Wahrheiten aus- ten – über weibliche Opfergänge, für die die Frau sich
zusprechen, die den zeitgenössischen Lesern und vor selbst die Schuld zuweist: Ein gelungenes Lehrstück
allem Leserinnen anders kaum zuzumuten waren. So allemal.
konnte die Novelle lange Zeit in ihrer einfachsten Les- Mit der schonungslosen Behandlung des Alkoho-
art ausschließlich als rechtschaffene Warnung vor un- lismus und der (durchaus wissenschaftlich fundier-
gezügeltem Alkoholkonsum verstanden und immer ten) Diskussion um Fragen der Vererbung, aber auch
wieder gezielt auf ihren autobiografischen Hinter- mit der Schilderung der verheerenden Wirkung
grund hin, die eigenen Nöte nämlich des Dichters mit männlicher Rücksichtslosigkeit gegenüber Frauen be-
seinen trinkfreudigen Söhnen, gelesen werden. Der wegt sich Storm (wie etwa auch in Der Herr Etatsrat)
umsichtige und kritische Leser jedoch, den Storms No- zum Naturalismus hin (vgl. Zolas L ’assommoir).
vellen durchweg verlangen, wird sich Fragen stellen,
wenn er von Riew’ erfährt, dass der, angeblich »den Literatur
Kopf voll guter Werke« (LL 3, 378), »Verlangen nach Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959,
unserer kleinen Anna« (357), jenem »begehrliche[n] 341–343.
Gerrekens, Louis/ Pastor, Eckart: Storms späte Novelle John
Ding« (377), empfindet und mit scheinbarer väterli- Riew’ oder: Wie alles gut wurde. In: STSG 55 (2006), 99–
cher Fürsorglichkeit kaum verbergen kann, wie eifer- 116.
süchtig er ist, als das Mädchen dem Baron verfällt und Jackson, David A.: Theodor Storm: Dichter und demokrati-
diesem »mit brennenden Augen« (364) »begehrlich« scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001 (Husumer
nachschaut. Und sein Erzählen von all dem Berücken- Beiträge zur Storm-Forschung, Bd. 2), 292–293.
den und Bedrückenden wird von dem zuhörenden ers- Eckart Pastor
ten Erzähler, dem wohlanständigen Doktor, mit Ver-
70 »Ein Fest auf Haderslevhuus« (1885) 237

70 »Ein Fest auf Haderslevhuus« zessive wächst Wulfhilds Misstrauen gegenüber dem
(1885) distanzierten Ehepartner. Daher hält sie ihren Schrei-
ber Gaspard dazu an, Rolf auszuspionieren. Gerade
als dem Ritter eine Aufhebung der unliebsamen Ehe
Entstehung, Rezeption, Forschung
möglich erscheint – Rolf hat in einem Wirtshaus ein
Storm hat mit der Abfassung seiner Chroniknovelle, Gespräch belauscht, in dem Wulfhild des Gatten-
die in einem mittelalterlichen Kontext situiert ist und mords bezichtigt wurde –, gelingt es Gaspard, die Ge-
zahlreiche intertextuelle Bezüge zur höfischen Epik, liebte des untreuen Ehemannes bei seiner Herrin zu
v. a. zu Gottfried von Straßburgs Tristan enthält, im identifizieren. Auf Anraten der eifersüchtigen Ad-
Frühjahr 1885 begonnen: Am 2. März verwies er in sei- ligen fällt Hans Ravenstrupp die Pappel – und löst da-
nem Braunen Taschenbuch auf H. Wenzels Ballade Zur mit den Tod der herzkranken Dagmar aus. Ihrem
Hochzeitsfeier, die als Inspiration für den Text diente. letzten Wunsch Folge leistend, lädt er Rolf unter dem
(Vgl. zur Entstehungsgeschichte LL 3, 928.) Seinem Vorwand, eine Hochzeit auf Haderslevhuus zu halten,
Freund Wilhelm Petersen teilte er am 10.März den Be- zur Leiche seiner Tochter. Das vermeintliche Freu-
ginn der Arbeiten mit. Unter der Überschrift Noch ein denfest entpuppt sich als Totenfeier und mündet in
Lembeck wurde die Novelle im Oktober 1885 erstmals eine Fehde, in deren Folge sich Rolf mitsamt dem
in Westermann’s Illustrirten Deutschen Monatsheften Leichnam vom Burgturm stürzt.
veröffentlicht. Es folgten neben der Buchausgabe von
1885, die eine überarbeitete Einleitung enthielt und
Geschlechterkonflikt
nun den Titel Ein Fest auf Haderslevhuus trug, wei-
tere Publikationen, für die Storm verschiedene Ver- Für Rolfs Abneigung gegenüber Wulfhild sind zwei
besserungen (z. B. Tilgung des Blankverses) vornahm Aspekte von Bedeutung: Als konfliktträchtig erweist
(ebd., 927). Wie der Briefwechsel u. a. mit seinem sich zum einen das dominante Auftreten der macht-
Dichterkollegen Paul Heyse belegt, sind jene Abände- hungrigen Gattin, die mit dem Mord an ihrem ersten
rungen nicht zuletzt der ablehnenden Haltung durch Ehemann einen Emanzipationsprozess durchlaufen
die Zeitgenossen geschuldet, die Inhalt und Stil glei- hat. Konnte sie sich diesem gegenüber kaum behaup-
chermaßen beanstandeten (ebd., 946–951). Der kriti- ten (vgl. LL 3, 394), wähnt sie sich nun sogar in der La-
schen Aufnahme durch Storms Weggefährten ent- ge, Rolfs Politik zu beeinflussen (vgl. 410). Dieser ver-
spricht die eher verhaltene Auseinandersetzung der weist seine Frau jedoch auf ein traditionelles Auf-
neueren Forschung mit dem Text, die die Novelle »zu gabengebiet: »Nimm deine Kunkel und sorg’ für Kin-
den eindeutig schwächeren Arbeiten Theodor Storms« derhemde« (410). Aus Rolfs Perspektive übertritt
(Börner 2009, 215) rechnet oder gar als »stilistisch und Wulfhild den ›natürlichen‹ Wirkungskreis der (Ehe-)
sprachlich mißlungen« (Laage 1980, 80) bewertet. Frau, wie ihn etwa Eduard Reich in seinem System der
Hygieine von 1870 definiert (vgl. Reich 1870, 353).
Klar spricht sich Reich gegen emanzipatorische Be-
Inhalt
strebungen aus. Insbesondere die politische Aktivität
Die Novelle spielt Mitte des 14. Jahrhunderts in Nord- von Frauen entfremde selbige ihrer ›natürlichen‹ Be-
schleswig und erzählt vom tödlichen »Minneaben- stimmung als »Hausfrau, Gattin und Mutter« (ebd.),
teuer« (LL 3, 390) des jungen Ritters Rolf Lembeck. führe zu »Unzufriedenheit in der Ehe [...] und Dishar-
Auf Geheiß seines Vaters heiratet er die schöne Witwe monie der Ehegatten« (ebd.). Ebendiese Disharmonie
Wulfhild von Schauenburg, ohne zu wissen, dass die- nimmt auch Storm in seiner Novelle in den Blick. Der
se ihren ersten Ehemann vergiftet hat. Anfänglich geschilderte Konflikt der Ehegatten verweist somit
von der reizvollen Frau angezogen, empfindet der durchaus auf eine kulturhistorische Debatte innerhalb
Ritter mit der Zeit eine immer größere Abneigung ge- des 19. Jahrhunderts, die die bisherige Geschlechter-
genüber der dominanten Gattin. Auf der Suche nach ordnung im Kontext der Frauenbewegung zur Diskus-
der ›wahren Minne‹ verliebt sich Rolf in die konträr sion stellt.
zu Wulfhild gezeichnete, kränkliche Kindfrau Dag- Problematisch erscheint zum anderen die über-
mar, deren Vater, Hans Ravenstrupp, Schlosshaupt- betonte Sexualität Wulfhilds, die »als Femme fatale
mann auf der Bergfeste Haderslevhuus ist. Im Garten den Witwenkleidern wie nach einer Verpuppung ent-
der Burg, den Rolf mithilfe einer Pappel erklimmt, schlüpft« (Börner 2009, 224) ist. Vehement artikuliert
kommt es zu geheimen Treffen der Liebenden. Suk- sie ihre erotischen Bedürfnisse, anstatt auf die Initiati-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_70, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
238 III Werk – D Novellen

ve ihres Gatten zu warten. Von jener fordernden »Lei- – in Bezug auf den Protagonisten hochgradig sym-
denschaft des Weibes« (LL 3, 410) fühlt sich Rolf in bolisch aufgeladenen und sexuell konnotierten – Pap-
seiner Ehe förmlich erdrückt (vgl. 411), ja er fürchtet pel (vgl. ebd., 236 f.), welches die Verbindung der Lie-
gar »die starken Weiberarme« (426) seines verführeri- benden kappt, hat dementsprechend den Tod der
schen Vollweibs. Damit affirmiert er die geschlechts- Jungfrau zur Folge. Dadurch lässt sich schließlich
spezifischen Keuschheitsvorstellungen des frühen auch dem Motiv der Pest eine spezifisch narrative
19. Jahrhunderts, die beispielhaft in Dietrich Wilhelm Funktion zuschreiben: So ist es der Schwarze Tod, der
Heinrich Buschs Abhandlung über das Geschlechts- die blasse Schönheit Dagmar auf besondere Weise
leben des Weibes von 1839 beschrieben sind. Busch be- (kenn-)zeichnet und der auf symbolischer Ebene zu-
wertet die sexuelle Aktivität der Frau als »niedrige[] gleich für »das tödliche Element des Eros« (Mojem
Frechheit« (Busch 1839, 69), zumal sie vom Mann 2009, 52) steht. Ebenso wie in seinen übrigen Chroni-
»nach den Gesetzen der Natur in geschlechtlicher Be- knovellen dient Storm der historische Hintergrund
ziehung besiegt werden soll« (ebd., 70). Indem Wulf- somit als Folie, um einen »zeitlos aktuellen Befund[]
hild diese ›Gesetze‹ übertritt, avanciert sie für ihren über die tendenziell destruktive Struktur von Famili-
Gatten zum »Paradigma des dämonisierten Eros« en- und Geschlechterbeziehungen« (Morrien 2002,
(Korte 1989, 142). So ist es Rolf, der seine lustbetonte 22) vor der distanzstiftenden Kulisse des Mittelalters
Ehegattin disqualifiziert und zu sich selbst gewandt zu inszenieren (vgl. dazu auch Mojem 2009, 50).
verbittert feststellt: »Die du freitest, ist kein Weib zum Das titelgebende finale Fest auf Haderslevhuus
Minnen [...]« (LL 3, 411). Damit demonstriert Ein Fest changiert auf unbestimmte Weise zwischen Vermäh-
auf Haderslevhuus jedoch zugleich die Widersprüch- lungs- und Begräbniszeremonie: Die als Hochzeit aus-
lichkeit seines Begehrens: Wirkte Wulfhilds »wilde[] gewiesene Veranstaltung, zu der Rolf willkürlich-un-
Schöne« (396) anfänglich noch anziehend auf den Rit- willkürlich in schwarzem Trauergewand erscheint,
ter, ist es gerade diese ›Wildheit‹, die Rolf in der Ehe manifestiert sich sukzessive als Totenfeier (vgl. LL 3,
abschreckt. 453–455). Jene wird jedoch durch den Ritter umco-
diert, wenn er beim Anblick des Leichnams konsta-
tiert: »O Dagmar, das ist unsere Hochzeit!« (455) und
Ein tödliches »Minneabenteuer«
die kindlich-kalte Braut küsst. Indem Rolf schließlich
Jenem von Wulfhild verkörperten Frauentypus der mit der Leiche im Arm vom Burgturm springt und da-
ebenso begehrenswerten wie bedrohlichen femme fa- mit der verstorbenen Geliebten nachfolgt, stiftet er ei-
tale wird mit der fast sechzehnjährigen Dagmar die ne ebenso dauerhafte wie absolute Verbindung, bei
femme fragile gegenübergestellt: eine »kindfrauliche[] der sich Ehe und Tod in paradoxer Weise überlagern:
Version zerbrechlicher Weiblichkeit« (Börner 2009, Letzterer bildet nicht den Augenblick des Scheidens,
217), die Rolfs Sehnsucht nach reiner Seelenliebe sti- sondern der ewig währenden Vereinigung.
muliert. Doch das »Minneglück[]« (LL 3, 426) der bei-
den steht unter dunklen Vorzeichen, die den tödlichen Literatur
Ausgang der Novelle bereits antizipieren (vgl. Mor- Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die
rien 2002, 21 f.). Denn der Reiz der zarten Kindfrau Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.
Busch, Dietrich Wilhelm Heinrich: Das Geschlechtsleben des
liegt nicht zuletzt in ihrem tragischen Schicksal be-
Weibes in physiologischer, pathologischer und therapeuti-
gründet, welches der Erzähler in einer Rückschau scher Hinsicht, Bd. 1. Leipzig 1839.
skizziert (vgl. LL 3, 402 ff.): Zwar hat Dagmar – im Ge- Korte, Hermann: Ordnung und Tabu. Studien zum poeti-
gensatz zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern – die schen Realismus. Bonn 1989.
Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts überlebt. Doch Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Leben und Werk. Husum
leidet sie seitdem an einer Herzkrankheit (vgl. 423 f.), 1980.
Laage, Karl Ernst: Theodor Storms Chroniknovellen – ein
mit der eine pathologisch-emotionale Disposition unromantischer Rückgriff in die Vergangenheit. In: Klaus-
einhergeht, aufgrund derer sie »starkes Leid und Freu- Detlev Müller/Gerhard Pasternack/Wulf Segebrecht/Lud-
de [...] nicht ertragen« (424) könne. Im buchstäbli- wig Stockinger (Hg.): Geschichtlichkeit und Aktualität.
chen Sinne mutet ihre Liebe zu Rolf als Minnekrank- Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Fest-
heit an, die sich in körperlichen Symptomen äußert schrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag. Tübin-
gen 1988, 336–343.
(vgl. 420) und »bereits jene Dekadenz [...] [vorweg-
Mojem, Helmuth: Seuche als Metapher. Zu Raabes »Sankt
nimmt], die Dagmar [...] an ihrer Erregung zugrunde Thomas«, Stifters »Die Pechbrenner« und Storms »Ein
gehen lassen wird« (Börner 2009, 219). Das Fällen der
70 »Ein Fest auf Haderslevhuus« (1885) 239

Fest auf Haderslevhuus«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesell- Chroniknovellen Theodor Storms. In: STSG 51 (2002),
schaft (2009), 40–53. 9–25.
Morrien, Rita: Der dunkle »Garten der Vergangenheit« – Reich, Eduard: System der Hygiene, Bd. 1. Leipzig 1870.
historisches Erzählen als Lizenz zur Ausschweifung in den
Dagmar Wahl
240 III Werk – D Novellen

71 »Ein Doppelgänger« (1886) Die Erzählung dieser Lebensgeschichte entspinnt


sich aus einem Gespräch des namenlos bleibenden
Entstehung, Stoff, Komposition
Ich-Erzählers mit John Hansens nunmehr erwachse-
Theodor Storms Erinnerungsnovelle Ein Doppelgänger ner Tochter Christine, der Gemahlin des Oberförsters
erschien zwischen dem 1.10. und dem 15.12.1886 in Franz Adolf, dessen Eltern Christine nach dem Tod
den ersten 6 Heften der von Karl Emil Franzos heraus- ihres Vaters adoptiert hatten. Die in der Rahmen-
gegebenen Zeitschrift Deutsche Dichtung; die leicht handlung geschilderte bürgerliche Behaglichkeit der
überarbeitete Buchausgabe wurde 1887 im Verlag Försterfamilie kollidiert mit der Hoffnungslosigkeit
Gebr. Paetel publiziert. Storm hatte Franzos’ Bitte vom der Binnenhandlung, die fast naturalistische Tenden-
25. Juni 1886 um einen Beitrag zunächst eine Absage zen hat, und verstärkt so die sozialkritischen Akzente
erteilt. Die Publikation »in Portionen« bedeutete für der Novelle. Die im Brunnenmotiv kulminierende
den stets am Text nachkorrigierenden Autor eine Ausweglosigkeit devianter Lebenswege rief bereits bei
»Hetzjagd« und er sorgte sich, dass eine »Revision des den Zeitgenossen Mitgefühl hervor und führte bei-
Ganzen« unmöglich sei und sich dadurch »Fehler« ein- spielsweise in Husum zur Gründung eines Hilfsver-
schleichen würden. Doch schon zehn Tage später be- eins für Haftentlassene. Storms Novelle behandelte
gann er mit der Arbeit an einer Novelle. Ein Bericht sei- mit der Frage nach der Resozialisierung von Straf-
ner Schwägerin Charlotte Storm über den »etwas un- gefangenen also ein hochaktuelles Thema.
heimlichen Tod eines Husumer Menschen« hatte eine Die Kulisse der Eingangsszene ist an die Stadt Jena
nachhaltige Wirkung auf ihn, wie er in einem Brief angelehnt, genauer an die »alte Gastwirtschaft zum
vom 16.9.1886 schrieb. Quasi über Nacht stellte sich ei- Bären«, in der Storm auf der Rückreise von Weimar
ne genaue Vorstellung über Form und Inhalt des noch 1886 wohnte. Johns Gefängnisaufenthalt in Glück-
zu schreibenden Werks bei ihm ein: »Wie ich andern stadt basiert insoweit auf historischen Gegebenheiten,
Morgens aufsteh, ist die Geschichte fertig in meinem als dass es in dieser Stadt an der Elbe, ca. 40 km nord-
Kopf.« Die zeitgenössische Kritik bedachte die Novelle westlich von Hamburg, tatsächlich seit 1738 ein Ge-
ebenso wie Bötjer Basch mit Lob, da in beiden Werken fängnis gab. Storm, der im Laufe seines Lebens auf-
die Verdienste der »kleinen Leute« deutlich würden. grund seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt, Landvogt so-
Die in Rahmen- und Binnenhandlung aufgeteilte wie Kreis- und Amtsrichter viele Einblicke in die Welt
Novelle Ein Doppelgänger erzählt das Schicksal John des Verbrechens erhielt, kannte dieses Gefängnis. Die
Hansens, der in jungen Jahren eine Straftat begeht und übrige Szenerie der Erzählung lässt sich (bis auf weni-
zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wird. Nach der ge Anleihen aus Husum für die Binnenerzählung) kei-
Haftentlassung wird er in seiner Heimatgemeinde so- nen realen Örtlichkeiten zuordnen.
zial ausgegrenzt und nach dem Ort seines Gefängnis- Die Struktur der Novelle entfaltet sich über drei
aufenthalts stigmatisierend John Glückstadt gerufen. Zeitebenen. Ausgangspunkt ist die Erzählgegenwart
Zunächst scheint Johns Resozialisierung zu gelingen, des Ich-Erzählers, der seine Geschichte den außerhalb
denn er findet eine Anstellung als Aufseher beim Zi- der Fiktion gedachten Lesern berichtet. Seine Reise,
chorienanbau, heiratet die junge Hanna und wird Va- auf der die Zufallsbegegnung mit dem Försterehepaar
ter einer Tochter, Christine. Doch das bescheidene stattfindet, liegt wiederum einige Jahre zurück. Die
Glück der Familie ist durch die steten Anfeindungen Ereignisse um John Hansen müssen dementspre-
und Vorurteile der Mitmenschen getrübt, die selbst chend in einem Zeitraum verortet werden, der 30–40
der Bürgermeister als einziger Fürsprecher Johns Jahre vor der Erzählgegenwart datiert. Storm hatte zu-
nicht zu unterbinden vermag. Als ihn auch Hanna im nächst beabsichtigt, seine Novelle Der Brunnen zu
Streit mit dem »Vorwurf seiner jungen Schande« (LL nennen, doch gelang es ihm erst mit dem Titel Ein
3, 545) konfrontiert, verursacht er im Jähzorn ver- Doppelgänger, die erinnernde Vergegenwärtigung ei-
sehentlich ihren Tod. Aufgrund neuer Verdächtigun- ner Vergangenheit zu thematisieren und so die Er-
gen gegen ihn verliert er seine Arbeit und gerät mit zählebenen organisch miteinander zu verbinden (vgl.
seiner Tochter in tiefe Armut. Als er eines Nachts die Pastor 1988, 166). Zwar fand Storm diesen Titel »et-
auf einem Feld übriggebliebenen Kartoffeln stehlen was geschraubt«, wie er in einem Brief vom 19.5.1887
will, stürzt er in einen verfallenen Brunnenschacht. an seinen Neffen Ernst Esmarch schrieb. Doch der Ti-
Sein Tod bleibt unentdeckt, so dass im Dorf das Ge- tel verweist darauf, dass die Rahmenhandlung die in-
rücht entsteht, er sei entflohen, um sein kriminelles trikaten Wechselwirkungen von Realität und Fiktion
Leben wieder aufzunehmen. demonstriert, da die dargestellte Wirklichkeit von ei-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_71, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
71 »Ein Doppelgänger« (1886) 241

nem sich erinnernden Subjekt poetisiert wird (vgl. Erzähler im Gespräch mit dem Ehepaar nur einige
Leuschner, 512). Storm schildert, wie eine Geschichte Eckpunkte von John Hansens Leben erfährt und da-
erfunden und gefunden wird und welche identitäts- von unabhängig den genauen Hergang der Ereignisse
stiftende Wirkung sie auf die Zuhörer innerhalb der in »halbvisionärem Zustande« (574) poetisch weiter-
erzählten Geschichte haben kann. Darüber hinaus hat verarbeitet. Seine Traumeingebungen haben demnach
die Forschung das Doppelgänger-Motiv besonders eine andere Qualität als Christines Kindheitserinne-
unter dem Gesichtspunkt der Parallelen zu Droste- rungen, da ihnen ein spezifisch poetisches Potenzial
Hülshoffs Die Judenbuche untersucht (vgl. Rölleke inhärent ist.
1992; Pizer 1992), vor allem weil beide Texte mit Die Forschung hat sich intensiv mit dem Erinne-
Dingsymbolen – Buche/Brunnen – arbeiten, in denen rungsphänomen im Doppelgänger beschäftigt. Sie at-
sich die Verbindung von individueller Schuld und Mi- testiert dem Erzähler und seiner Geschichte eine iden-
lieuproblematik zu einer neuen – gesellschaftlichen – titätsstiftende Kraft (vgl. Pastor 1988, 179), gleicher-
Form der Tragik materialisiert. maßen bezogen auf John Hansen sowie Christine.
Doch auch wenn die Rahmenhandlung durchaus
komplementär zur erinnerten Gegebenheit steht, be-
Zentrale Aspekte
wirkt sie nicht deren Aufhebung, sondern ist vielmehr
Bereits in der Rahmenhandlung wird über die bruch- eine Rückversicherung der eigenen Gegenwart. In-
stückhaften Erinnerungen seiner Tochter ein ambiva- dem so die beiden Zeitebenen miteinander verknüpft
lentes Bild von John Hansen gezeichnet. Zum einen werden, kommt es zu einer Aussöhnung von tragi-
erinnert sich Christine an einen fürsorglichen Vater scher Binnen- und harmonischer Rahmenerzählung
mit »schönen großen Augen«, der sie in den Arm (vgl. Meyer-Krentler, 190 ff.).
nimmt, sodass sie an »der warmen Brust des mächti- Die Frage nach dem sozialkritischen Impetus der
gen Mannes« (LL 3, 526) trotz Hunger sorglos ein- Novelle entzündete sich vor allem an der Einschätzung
schläft. Zum anderen aber besitzt Christine auch vage der Schuld Johns. Auf der Suche nach Arbeit trifft er
Bilder von einem wütenden und brutalen Vater, »den auf Wenzel, einem entlassenen Schleusenbauarbeiter,
ich fürchtete, vor dem ich mich verkroch, der mich der ihm »allerlei lustige Spitzbuben- und Gewalts-
anschrie und mich und meine Mutter schlug ... und geschichten« erzählt und bei ihm »die Lust [weckt],
das ist doch unmöglich!« (ebd.). Dieses »Schreckbild« auch seinerseits einmal den Hals zu wagen« (LL 3,
sucht Christines Verstand »vergebens zu fassen« 533). Die Szene wird von dialogischen Partien do-
(527) und sie bemüht sich, es zu verdrängen, doch miniert, die Johns »wilde Kraft« (532) als Handlungs-
kann sie dem »doppelgängerische[n] Schatten« (577) motivator verdeutlichen: »Du wolltest mir gestern was
des Vaters nicht entkommen. Die Familie ist im Dop- erzählen, Wenzel!« (533). Kurz darauf begehen die bei-
pelgänger kein idyllischer Rückzugsort, sondern wird den einen »unerhört frechen Einbruchdiebstahl[]«
von unkontrollierbaren Leidenschaften und Trieben (534), bei dem sie vor Gewalt nicht zurückschrecken:
heimgesucht, deren zerstörerische Kräfte erst durch Ihr Opfer, der Exsenator Quanzberger, wird »gebun-
den Tod beendet werden können. den, mit einem Knebel in seinem zahnlosen Munde
Die Binnenerzählung ist in erster Linie von den Be- neben seinem Bett« (ebd.) aufgefunden, während sei-
richten der Beteiligten beeinflusst und geht nicht, wie nem Diener Nikolaus »nur mit genauer Not noch Leib
etwa in Zur Chronik von Grieshuus, von bestimmten und Seele« (ebd.) gerettet werden kann. Die Novelle
Gedächtnisorten aus. Erst die Erklärungen von Chris- berichtet summarisch von Johns Festnahme und dem
tines Ehemann beflügeln das Imaginationsvermögen Urteil, überspringt jedoch seinen Gefängnisaufenthalt
des Erzählers, der als Kind von einem John Glückstadt und schildert im Anschluss das Leben des zurückgezo-
zwar gehört hatte, sich aber zunächst kaum an ihn er- genen Haftentlassenen John Glückstadt, der sich stark
innert. Der Advokat interessiert sich für John, weil vom draufgängerischen John Hansen unterscheidet –
sich dessen Leben stark von seiner eigenen bürger- auch in dieser Dichotomie lässt sich das von Storm im
lichen Existenz unterscheidet. Dabei ist die Radikali- Vergleich zur romantischen Tradition seit E. T. A.
sierung der Normabweichung hin zur Kriminalisie- Hoffmann recht eigenwillig durchgeführte Doppel-
rung des Erzählobjekts im Vergleich zu Storms restli- gänger-Motiv verorten. Zwar hat John mit dem Ein-
chem Œuvre auffallend. bruchdiebstahl eine Straftat begangen, die nach den
Eine bislang von der Forschung wenig beachtete Gesetzen der Zeit als Schwerverbrechen eingestuft
Besonderheit der Novelle besteht darin, dass der Ich- wird, aber er zeigt sich in den nächsten Jahren als inte-
242 III Werk – D Novellen

grationswillig und diszipliniert. Er hat zudem nicht Durch seine poetisierte Sonderform der Erinne-
nur seine Tat gesühnt, sondern auch die moralischen rung kann der Erzähler sogar John Hansens Todes-
Maßstäbe der bürgerlichen Gesellschaft internalisiert umstände erhellen, die bis zu seinem Besuch beim
(vgl. Segeberg 1992, 78) und hätte daher die Rehabili- Försterehepaar ein Rätsel waren. Ausgehend von eini-
tierung verdient. Doch erst die Biographien seiner gen wenigen Hintergrundinformationen – Christines
Nachkommen, der Tochter Christine und des Enkels ambivalentes Vaterbild, die Anmerkungen des Förs-
Paul, verlaufen im Rahmen bürgerlicher Normen. Eine ters über Johns Gefängnisaufenthalt und seine eige-
hereditäre Belastung und Degenereszenz, wie sie etwa nen Erinnerungen an einen in Kindertagen beobach-
im Schimmelreiter nachgewiesen werden können, las- teten Streit zwischen John und dessen Frau – füllt er
sen sich für den Doppelgänger nicht plausibel machen. die Lücken in der Erzählung. Seine Art der Geschich-
Da Johns Verbrechertum auf seine spezifischen bio- tenproduktion qua Schlafes-Eingebung kann als kri-
graphischen und sozialen Umstände zurückzuführen minalistische Narrationsmethode verstanden werden.
war, wurde es auch nicht an seine Nachkommen wei- Diese Aufklärungsleistung kann der Erzähler glaub-
tervererbt. Der Schwerpunkt von Storms literarisierter würdig erbringen, da er als Jurist mit Theorie und Pra-
Lebensbeschreibung eines Verbrechers liegt demnach xis der kriminalistischen Ermittlungsarbeit vertraut
auf der individuellen Exegese verbrecherischer Hand- ist. Seine Geschichte schwankt daher nur bei ober-
lungen und der Auslotung psychologisch-pädagogi- flächlicher Betrachtung zwischen Fakt und Fiktion
scher Lösungswege. (vgl. Pastor 1988, 179), wird sie doch in den entschei-
denden Punkten von diversen Beweisen im Text un-
terfüttert. So etwa wird seine Theorie von Johns Sturz
Die Erzählerfigur
in den Brunnenschacht durch die Zeugenaussage ei-
Der namenlose Ich-Erzähler der Novelle, ein Advo- nes 14-jährigen Jungen gestützt, der damals eine Stim-
kat auf Reisen, ist eine nur grob charakterisierte Fi- me hörte, die »hohl und heiser« (LL 3, 575) aus dem
gur, weshalb er in der Forschung bislang wenig Be- Brunnen rief, was ihm aber niemand glaubte. Hinzu
achtung erfuhr. Jedoch besitzt er eine entscheidende kommt, dass sich das vom Erzähler solcherart Er-
Eigenschaft – er ist außergewöhnlich schläfrig und innerte auf der Ebene der Rahmenhandlung geradezu
bedarf häufiger Ruhepausen. Sein Schlaf wiederum materialisiert, etwa im Bildnis Johns als eines »Sol-
birgt ein poetisches Potenzial, das zur Entfaltung der daten in Uniform« (576), und damit die von Christine
bis dato im Försterhaus tabuisierten Geschichte um bislang verdrängte und nun erzählend wiederher-
John Hansen führt. Von äußeren Einflüssen inspi- gestellte Vergangenheit konstituiert (vgl. Ladenthin
riert, wird der Advokat »von einem plötzlichen Ge- 1994, 81). Die vom Erzähler geleistete Rekonstruktion
danken bis zur Vergessenheit der Gegenwart hin- von John Hansens Schicksal wird von dessen Nach-
genommen« (LL 3, 529). Mithilfe des kreativen Kata- kommen als Wahrheit über die Familiengeschichte
lysators Schlaf imaginiert er Ereignisse, die er nicht akzeptiert.
selbst erlebt hat, indem er sie »vorphantasiert« (531)
und kann im Schlaf weiterentwickeln, was zuvor le- Literatur
diglich fragmentarisch vorlag. Die Binnenhandlung Bürner-Kotzam, Renate: Vertraute Gäste. Befremdende Be-
ist also nur eine Quasi-Erinnerung des Erzählers, der gegnungen in Texten des bürgerlichen Realismus. Heidel-
berg 1999.
die Geschehnisse um John Hansen mit großem De- Burns, Barbara: ›Vorbestraft‹. Differing Perspectives on
tailreichtum vor seinem »innere[n] Auge« (531) ab- Reintegration and Recidivism in Narratives by Storm and
laufen sieht und später Christine erzählt. In der No- Fallada. In: Neophilologus 86 (2002), 437–453.
velle wird diese enge Verbindung von Schlaf und Haut, Gideon: Theodor Storms »Ein Doppelgänger« und das
Poesie kurz angedeutet, als der Förster im Gespräch Strafrecht oder Warum John Hansen seinen Hals riskiert.
In: Yvonne Nilges (Hg.): Dichterjuristen. Studien zur Poe-
mit einem Bekannten anmerkt: »Du bist ein Stück
sie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert. Würzburg 2014,
von einem Träumer, Fritz; du hast sogar schon ein- 163–177.
mal ein Gedicht gemacht« (517). Die träumerisch- Ladenthin, Volker: Erinnerndes Erzählen. Ein Beitrag zur
imaginative Fähigkeit des Erzählers hat eine Literari- Interpretation der Novelle »Ein Doppelgänger« von Theo-
sierung der Wirklichkeit zur Folge – ein Charakteris- dor Storm. In: Literatur für Leser, H. 2 (1994), 77–83.
tikum des Poetischen Realismus, der die subjektive Lehmann, Johannes F.: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur-
und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg i. Br. 2012.
Realitätswahrnehmung zur poetologischen Leitlinie
Leuschner, Brigitte: Erfinden und Erzählen. Funktion und
erhebt.
71 »Ein Doppelgänger« (1886) 243

Kommunikation in autothematischer Dichtung. In: Mo- duktive Rezeption in der Novellistik des Poetischen Rea-
dern Language Notes 100 (1985), 498–513. lismus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 111 (1992),
Meyer-Krentler, Eckhardt: »Stopfkuchen« – »Ein Doppel- 247–255.
gänger«. Wilhelm Raabe erzählt Theodor Storm. In: Jahr- Segeberg, Harro: Theodor Storm als ›Dichter-Jurist‹. Zum
buch der Raabe-Gesellschaft 1987, 179–204. Verhältnis von juristischer, moralischer und poetischer
Neumann, Christian: Ein Text und sein Doppelgänger. Eine Gerechtigkeit in den Erzählungen »Draußen im Heide-
plurale Lektüre von Theodor Storms Novelle »Ein Dop- dorf« und »Ein Doppelgänger«. In: STSG 41 (1992), 69–
pelgänger«. In: STSG 52 (2003), 53–73. 82.
Pastor, Eckart: Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen Schunicht, Manfred: Theodor Storm »Ein Doppelgänger«.
von Theodor Storm. Frankfurt a. M. 1988. In: Jutta Kolkenbrock-Netz/Gerhard Plumpe/Hans Joa-
Pizer, John: Guilt, Memory, and the Motif of the Double in chim Schrimpf (Hg.): Wege der Literaturwissenschaft.
Storms »Aquis submersus« and »Ein Doppelgänger«. In: Bonn 1985, 174–183.
The German Quarterly 65/2 (1992), 177–191. Tschorn, Wolfgang: Der Verfall der Familie. »Der Herr
Reiter, Christine: Gefährdete Kohärenz. Literarische Ver- Etatsrat« und »Ein Doppelgänger« als Beispiele zu einem
arbeitung einer ambivalenten Wirklichkeitserfahrung in zentralen Darstellungsobjekt Storms. In: STSG 29 (1980),
den Novellen Theodor Storms. St. Ingbert 2004. 44–52.
Rölleke, Heinz: Theodor Storms »Ein Doppelgänger« und
Annette von Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche«. Pro- Gideon Haut
244 III Werk – D Novellen

72 »Bötjer Basch« (1886) er den zweiten Teil der Melodie von »Üb’ immer Treu
und Redlichkeit« (473) beibringt. Als ein Amerika-
Die im Winter 1885/86 entstandene Altersnovelle Rückkehrer im Dorf berichtet, dass Fritz in der neuen
wurde zuerst in der Deutschen Rundschau im Oktober Welt erstochen worden sei, und dem Böttchermeister
1886 unter dem Titel Aus engen Wänden. Eine Ge- zudem noch sein Vogel gestohlen wird, fasst Basch in
schichte veröffentlicht. 1887 folgte der überarbeitete seiner Verzweiflung den Entschluss sich umzubrin-
Buchdruck zusammen mit der Erzählung Ein Doppel- gen. Mit dem misslingenden Versuch des Protagonis-
gänger in dem Band Bei kleinen Leuten. Zwei Novellen, ten, sich im »Brautloch« (502) zu ertränken, und sei-
hier bereits unter dem neuen Titel Bötjer Basch. Im sel- ner Rettung durch zwei Jugendliche aus dem Dorf
ben Jahr (1887) erschien zudem eine Einzelausgabe setzt der abschließende dritte Teil der Erzählung ein.
der Erzählung, die Storm seiner jüngsten Tochter Frie- Von da an nimmt die Handlung eine entscheidende
derike mit folgenden Worten zueignete: »Meiner Wendung zum Guten: Der totgeglaubte Sohn Fritz
Tochter Dodo gewidmet ›will he nich mehr leben kehrt gesund aus Amerika heim und kann seinen Va-
mag‹«(vgl. Laage, LL 3, 976). 1889 wurde Bötjer Basch ter von nun an tatkräftig unterstützen, so dass der Fa-
dann zusammen mit zehn anderen Novellen in den milienbetrieb wieder Gewinn abwirft. Von seinen fi-
Gesammelten Schriften (Bd. 16) abgedruckt. nanziellen und persönlichen Zukunftssorgen befreit,
Die in drei Teile gegliederte Novelle über den Bött- verstirbt der alte Böttchermeister schließlich »sanft«
cher Daniel Basch wird aus der Erinnerungsperspekti- (516) am Tag vor der Hochzeit seines Sohnes.
ve eines Landvogts geschildert, der die letzten 25 Jahre Verschiedene das Werk Theodor Storms durchzie-
aus dem Leben des Handwerkmeisters Revue passie- hende Motive sind auch für Bötjer Basch bedeutsam:
ren lässt. Die erzählte Zeit setzt – genau wie die zweite Neben dem Tod der Ehefrau und der Trauerbewälti-
Rahmenhandlung des Schimmelreiters – »[i]m dritten gung des Ehemannes fällt insbesondere die für
Jahrzehnt unseres Jahrhunderts« (LL 3, 459), also in Storms Spätwerk charakteristische Vater-Sohn-Pro-
den 1820er Jahren ein, in denen Basch im Alter von 45 blematik auf. Wie auch in den Novellen Carsten Cura-
Jahren ein »kleines Haus« aus dem 17. Jahrhundert er- tor und Hans und Heinz Kirch ist die konfliktreiche
wirbt, »über dessen Eingangstür sich ein in Sandstein Familienkonstellation auf die gefährdete patriarchale
ausgehauenes Bild« befindet (ebd.). Dieses Relief zeigt Nachfolge konzentriert (vgl. auch Küng 2015, 181 f.).
einen »Mann in einem Schifflein, zu dem durch hohe Die soziale Ausgrenzung betrifft aber hier den Vater
Wellen der Tod geschwommen war und schon den selbst, der infolge seiner psychopathologischen Zu-
Mann zu sich ins Meer hinabriß« (ebd.). Meister Da- richtung der bürgerlichen Norm nicht mehr zu ent-
niel bezieht das neue Haus zunächst mit seiner erheb- sprechen vermag und von der Stadtgemeinschaft in
lich älteren Schwester Salome und dem Gesellen Mar- seiner Trauer nicht nur allein gelassen, sondern in sei-
ten. Als er kurze Zeit später die Tochter des Hafen- ner verzweifelten Suche nach dem entwendeten
meisters Line Peters ehelicht, zieht Salome in das Dompfaff zum »Spaß für die ganze Stadt« (LL 3, 499)
St. Jürgen-Stift nebenan. Das Ehepaar bekommt einen wird. Noch nicht einmal seine direkten Nachbarn, die
Sohn, Fritz, woraufhin der Handwerksmeister das Un- das Geschehen hinter ihren Fenstern beobachten,
glück verheißende Totenbildnis über der Tür mit kommen ihm in dieser Situation zur Hilfe (vgl. 498 f.).
Mörtel verdeckt und eine »rote Provinzrose mit zwei Neben der sozialpsychologischen Dimension des
grünen Blättern« (462) als neues Motiv beim Maler Textes fällt der in der Novelle thematisierte sozial-
Hermes in Auftrag gibt. Unter dem schlechten Omen geschichtliche Paradigmenwechsel auf: Die im Zuge
des ehemaligen Türreliefs sterben jedoch Line und ihr des beginnenden Industriezeitalters sich ereignende
zweites Kind, eine Tochter, an den Folgen der Geburt. Kollision feudaler Strukturen mit neuen Wirtschafts-
Im Mittelpunkt des zweiten Erzählteils stehen die Ju- formen wird in der Novelle mit dem Diskurs um die
gend und Gesellenzeit des Sohnes Fritz, der schließ- Neue Welt verschränkt. (Multi-)kulturelle Fremdheit
lich nach Kalifornien aufbricht, um dort in den Gold- wird zur Bedrohung herrschender Ordnung, wenn
minen zu arbeiten. Sein Ziel ist es, hierdurch seinen eine Schlüsselfigur des Textes, der alkoholkranke
Vater zu unterstützen, dessen Betrieb der wirtschaftli- Amerika-Rückkehrer, berichtet: »[...] im Süden, im
che Ruin durch die zunehmende Industrialisierung Oregon war’s; ein neues Goldlager! Ihr kennt das
droht. Meister Daniel ist nach Fritz’ Abreise und dem nicht: von Asien, Afrika, Europa rannten sie herbei;
Tod seiner älteren Schwester vereinsamt; ihm bleibt der Staub, der Morast, das Schnauben und Toben von
lediglich der Vogel seines Sohnes, ein Dompfaff, dem Menschen und Vieh; aus hundert Sprachen schrien

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_72, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
72 »Bötjer Basch« (1886) 245

sie durcheinander, schlimmer, als beim Turmbau zu »zahlreiche Zeichen gibt, dass dieser die aufoktroyier-
Babel« (489). te Perspektive nicht teilen soll« (Gerrekens 2010, 15),
Die von der Forschung bisher eher vernachlässigte demonstriert zuletzt auch der auffallende Schlusssatz.
Novelle, der aufgrund ihres idyllisierenden Endes »ei- Die resümierende Bemerkung des Erzählers – »Das ist
ne Sonderstellung im Spätwerk« des Autors zukommt es, was ich aus diesen engen Wänden zu erzählen hat-
(Gerrekens 2010, 5), scheint auf den ersten Blick weni- te« (LL 3, 516) – verweist nämlich nicht nur auf die be-
ger vieldeutig und komplex als die anderen Alters- grenzten Lebensumstände der Dörfler, sondern stellt
novellen Storms zu sein. Dass eine solche übereilte auch einen »Metakommentar« zu der grundsätzlich
Einschätzung aber täuscht, zeigt eine detaillierte Ana- beschränkten Sicht- und Erzählweise des Landvogts
lyse der »beschränkte[n] Erzählperspektive« (ebd.). dar (vgl. Gerrekens 2010, 17).
Die zuerst über einen längeren Zeitraum auktorial an- Erzählerisch auffällig ist zudem die nicht nur leit-
mutende Erzählinstanz entpuppt sich am Ende des motivische, sondern auch strukturell bedeutsame
zweiten Teils als handelnde Figur, als der ›erzählende‹ Funktion des singenden Dompfaffs. Das durch den
Landvogt Daniel unversehens in seiner Werkstatt be- Vogel ›halbierte‹ berühmte ›preußische‹ Volkslied des
sucht, um eine in Auftrag gegebene Badewanne ab- Hainbund-Dichters Ludwig Christoph Heinrich Höl-
zuholen (vgl. LL 3, 491 f.). Der aufmerksame Leser ty, das in der Melodieführung Wolfgang Amadeus
kann bei genauer Lektüre verschiedene Widersprüche Mozarts Papageno-Arie »Ein Mädchen oder Weib-
und Unerklärliches im Erzählten ausfindig machen; chen« aus Die Zauberflöte folgt, steht nicht nur für die
so gibt es Stellen, die den Landvogt als »am Geschehen »halbe Redlichkeit« (LL 3, 473), sondern trennt auch
Beteiligten« entlarven, während er selbst »alles tut, den »Unterhaltungswert« des Dompfaffs von dem das
um sich eine neutrale und überlegene Position zu ver- Böttcher-Haus überlagernden memento mori »bis an
schaffen« (Gerrekens 2010, 16). Besonders auffällig dein kühles Grab« – das der verstorbenen Ehefrau
ist, dass der Erzähler nicht bereit ist, seine Mitschuld und Mutter gilt (vgl. Tebben 2006, 79 f.).
an Daniels Selbstmordversuch oder der unterlassenen
Hilfeleistung einzuräumen, obwohl er seine christli- Literatur
che Überzeugung hervorhebt, wenn er dem trauern- Bollenbeck, Georg: Theodor Storm. Eine Biographie. Frank-
den Witwer und Vater floskelhafte Ratschläge erteilt: furt a. M. 1988.
Gerrekens, Louis: Das seltsame Ende von »Bötjer Basch«:
»[...] möge Gott Euch trösten, Meister Daniel; die Welt Wahrer Optimismus oder beschränkte Erzählperspektive?
ist ja so reich« (LL 3, 492). Der Landvogt erzählt also In: STSG 59 (2010), 5–20.
aus einer fadenscheinigen »naiv-christlichen Perspek- Küng, Peter: Die Krise der liberalen Anthropologie in der Li-
tive« (Gerrekens 2010, 15), die das positive, aber vor teratur des Bürgerlichen Realismus. Männlichkeit, Bürger-
allem unrealistische Ende auf Gottes Güte zurück- lichkeit und Individualität bei Theodor Storm, Theodor
Fontane und Paul Heyse. Würzburg 2015.
führt; denn dass sich ein kleiner Handwerksbetrieb
Kunz, Josef: Die deutsche Novelle im 19. Jahrhundert. Berlin
wirtschaftlich wieder erholen soll, während in der 1970.
Nachbarschaft »eine große neumodische Brauerei mit Laage, Karl Ernst: Kommentar zu »Bötjer Basch«. In: LL 3,
eigenem Böttcher« (LL 3, 477) eröffnet, ist mehr als il- 757–1130.
lusorisch (vgl. auch Lowsky 1999, 63; Thürmer 1979, Lowsky, Martin: Fritz Basch oder Die Sensibilität für die
31; Kunz 1970, 136; Schuster 1971, 53). Die Schil- Sprache. Über Theodor Storms Novelle »Bötjer Basch«.
In: STSG 48 (1999), 57–63.
derung der ökonomischen Krise in Bötjer Basch er-
Schuster, Ingrid: Theodor Storm. Die zeitkritische Dimension
innert außerdem an den bekannten naturalistischen seiner Novellen. Bonn 1971.
Roman von Max Kretzer, Meister Timpe (1888); aller- Tebben, Karin: Musik und Tanz im Werk Theodor Storms,
dings lässt Kretzer seinen Protagonisten wirtschaftlich in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 141
scheitern, was angesichts der realhistorischen Um- (2006), 52–81.
stände angemessener erscheint (vgl. auch Bollenbeck Thürmer, Wilfried: Revozierte Erkenntnis als ästhetisches
Problem. Zur Vermittlung historisch-soziologischer und
1988, 329). Die christliche Erzählperspektive wird so- ästhetischer Momente in Theodor Storms Novelle »Bötjer
mit durch die Technik des unzuverlässigen Erzählens Basch«. In: Diskussion Deutsch 10 (1979), 30–36.
kritisch unterlaufen. Dass die Novelle dem Leser
Ariane Totzke
246 III Werk – D Novellen

73 »Ein Bekenntnis« (1887) Identität beider Figuren gegeben hat (Malinowski


2003, 92 f.). Die Differenz der Perspektive des Juristen
Entstehung
und des Mediziners bleibt allerdings thematisch rele-
Das Thema der Novelle fasst Storm nach eigenen An- vant, nicht nur mit Blick auf das Verhältnis zwischen
gaben im Herbst 1885 ins Auge, arbeitet es aber erst Storms und Heyses Erzählungen.
zwischen Februar und Mai 1887 aus (LL 3, 1029 f.). In
die Zwischenzeit fällt die Lektüre der Ende 1885 er-
Die Thematik der Sterbehilfe
schienenen, thematisch verwandten Erzählung Auf
Tod und Leben aus Paul Heyses Novellenband Himm- Die lange Zeit in ihrer Vielschichtigkeit nicht an-
lische und irdische Liebe. Storms Novelle wird im Ok- gemessen gewürdigte Erzählung ist erst in den letzten
tober 1887 in Westermann’s Illustrirten Deutschen Mo- Jahren von der Forschung ›entdeckt‹ worden. Von be-
natsheften gedruckt, ein Jahr später erscheint eine sonderer Bedeutung ist dabei das Thema der aktiven
leicht überarbeitete Buchausgabe in Berlin. Sterbehilfe bzw. einer ›Tötung auf Verlangen‹ (vgl.
Burns 1998; Käser 1998, 150–178; Elsaghe 2011; Grüb-
ler 2011, 75–80; Fleming 2013). Um diese juristische
Inhalt
und medizinethische Problematik hat sich eine briefli-
Die Rahmennovelle lässt sich grob in drei Hauptteile che Diskussion zwischen Heyse und Storm über ihre
mit zwei Erzählerfiguren gliedern. Der Ich-Erzähler Erzählungen entsponnen, die die unterschiedlichen
Hans, ein Jurist, erinnert sich an eine drei Jahrzehnte Positionen und Intentionen deutlich macht (vgl. LL 3,
zurückliegende Begegnung mit einem früheren Studi- 1031–1042). Geht es bei Heyse um einen »rechtlich-
enfreund, dem Mediziner Franz Jebe, im Kurort Bad moralischen Kasus«, die Abwägung zwischen konkur-
Reichenhall. Jebe erzählt ihm in Form des titelgeben- rierenden Normen (Tötungsverbot vs. Liebespflicht),
den »Bekenntnisses« die Geschichte seiner Ehe sowie so legt Storm seine Erzählung als »medizinische[n]
deren Vor- und Nachgeschichte. Während einer Schar- Fall [...], somit als eine Frage des Wissens« an (Fleming
lachepidemie war dem Gymnasiasten Franz im Traum 2013, 188). Heyse, in dessen Erzählung gleichfalls ein
das gleichermaßen faszinierende wie unheimliche Bild Ehemann, allerdings kein Mediziner, seine sterbens-
eines von seuchentoten Knaben umstandenen Mäd- kranke Frau auf deren Wunsch tötet, rechtfertigt text-
chens erschienen, das ihn nicht mehr loslässt. Jahre immanent dieses Handeln und lässt den Ehemann
später heiratet Franz, der mittlerweile ein bekannter Vergebung finden. Am Text Storms kritisiert er u. a.,
Gynäkologe geworden ist, die feenartige Else Füßli, ei- dieser habe die grundsätzliche Problematik durch ei-
ne Großnichte des Malers Johann Heinrich Füssli, in nen Randaspekt verkompliziert, nämlich den Irrtum
der er sein »Nachtgesicht« (LL 3, 587) wiederzuerken- über die tatsächlich eben doch bestehende Behand-
nen glaubt. Else erkrankt an Unterleibskrebs, und lungsmöglichkeit. Storms Protagonist hingegen ver-
Franz vergiftet sie auf ihren eigenen Wunsch, um ihr urteilt die von ihm praktizierte Sterbehilfe nachträg-
maßloses Leiden zu ersparen. Kurz darauf stellt er je- lich als Mord (LL 3, 619). Diese Bewertung ist nicht
doch bei der Lektüre eines Zeitschriftenartikels fest, nur durch die Rechtslage begründet, die sich allerdings
dass er die Möglichkeit einer Operation mit guten Hei- im Rahmen der mehrere Jahrzehnte umfassenden er-
lungschancen übersehen hat, und verfällt darüber in zählten Zeit sehr deutlich in Richtung einer differen-
schwere Melancholie. Zwei Jahre später kann er die zierteren und milderen Beurteilung der Sterbehilfe
Etatsrätin Roden durch dieselbe Operation heilen. Ih- verschiebt (Käser 1998, 165–171; Elsaghe 2011, 26 f.),
re Tochter wäre einer Ehe nicht abgeneigt, aber Jebes sondern gerade durch den von Heyse monierten Spe-
Selbstvorwürfe sind zu groß. Er geht zur »Buße« (633) zialfall. Dieser weist nämlich auf das Tempo des medi-
als Arzt nach Ostafrika und stirbt dort Jahrzehnte spä- zinischen Fortschritts und eine damit einhergehende
ter, wie im abschließenden Rahmenteil mitgeteilt wird. Entscheidungsproblematik hin. »Gefragt wird hier, ob,
Als Erinnerung an eine Erinnerungserzählung ist oder verneint wird vielmehr, daß ein Arzt die Unheil-
der Text doppelt perspektiviert, wobei die Verbindung barkeit eines Menschen überhaupt noch definitiv sta-
beider Erzähler durch einen »phantastische[n] Zug« tuieren darf« (Elsaghe 2011, 29; Käser 1998, 174–176).
(581) ebenso wie der große zeitliche Abstand der Nie- In der Konsequenz zieht sich Jebe auf die Position ei-
derschrift vom erzählten »Bekenntnis« nicht nur ner »absolute[n] Moral« zurück (Fleming 2013, 203 f.).
Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erzählens geweckt Zwar vergibt er sich zuletzt die konkrete Tötung Elses,
(Küng 2015, 21), sondern auch Anlass zur These einer nicht aber den prinzipiellen Verstoß gegen eine ärzt-

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DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_73, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
73 »Ein Bekenntnis« (1887) 247

liche Ethik, die sich strikt der »Heiligkeit des Lebens« bild«, einer »Undine, eine[r] Elbe, eine[r] Fee« (595),
und nicht dem Tod zu verschreiben habe (LL 3, 629). d. h. zur Verkörperung einer elementaren ›Natur‹, die
In dieser Formulierung spricht sich ein bei Storm viel- dem auf Intellekt und Ratio fixierten Mann abhanden
fach, z. B. in Viola tricolor, nachweisbares Lebens- gekommen ist. Die Phantasie des aufgeklärten Wissen-
pathos aus: Das Leben tritt als das einzige, was nach schaftlers ist ganz und gar von mythischen Elementen
dem Ende der Metaphysik und der christlichen Un- durchdrungen (vgl. Küng 2015, 87 f.). Als sein proji-
sterblichkeit bleibt, an deren Stelle. ziertes Anderes fasziniert Elsi, trägt aber zugleich –
Im übrigen, so repliziert Storm auf Heyses Kritik, schon ganz i. S. Freuds – Züge des Un-Heimlichen, ge-
sei es ihm um einen sehr viel spezielleren Aspekt der spenstisch Wiederkehrenden (LL 3, 604–606), einer
Sterbehilfe gegangen, nämlich um die Frage, wie je- Todesnähe, Lebensschwäche und Krankhaftigkeit. Sie
mand dazu komme, »sein Geliebtestes zu tödten« (LL lockt mit der Ergänzung des Eigenen und bedroht die-
3, 1039). Anders als bei Heyse eröffnet sich damit un- ses zugleich mit Untergang und Selbstverlust. Das ro-
ter der ethischen Schicht eine psychodynamische Pro- mantische Erbe erweist sich so als pathologisch und
blematik. Offenkundig ist die Tötung Elsis nicht mit infektiös (Jackson 2001, 62; Malinowski 2003, 107).
den von Jebe selbst genannten Argumenten allein er- Von ähnlichen Ambivalenzen durchzogen ist die
klärbar, sondern gründet in unbewussten Impulsen, Frage nach einer Identität Elsis mit der nächtlichen
wie die Forschung seit dem an C. G. Jung orientierten Vision, die, wäre sie der Fall, das immanent-materia-
Aufsatz von Terpstra (1983) verschiedentlich fest- listische Weltbild in Richtung einer anderen Dimensi-
gestellt hat (vgl. jüngst Küng 2015, 78 f.). on aufbrechen müsste: sei es einer metaphysischen
Sphäre oder einer immanenten Transzendenz, jeden-
falls aber der Existenz einer vom Körper unterschie-
Psychodynamik des ›modernen‹ Wissenschaftlers
denen Seele, die telepathisch kommunizieren oder so-
Der aufs Grundsätzliche zielende Zug der Novelle geht gar den leiblichen Tod überdauern kann (vgl. LL 3,
nicht nur aus der Konstellation der bestimmenden 633). »[W]ie traumredend« geht Jebe einerseits davon
Diskursmächte Recht und Medizin hervor. Er setzt aus, er habe sein »Nachtgespenst geheiratet« (594),
sich darin fort, dass Storm auch den Mediziner Jebe leugnet jedoch Elsi gegenüber andererseits eine frühe-
als exemplarischen Repräsentanten der ›modernen‹ re Traum-Begegnung mit ihr, verdrängt also mit ›ra-
Wissenschaft, ihrer Widersprüche und Folgeschäden tionalen‹ Argumenten genau das, woran er doch zu-
anlegt. Die »Persönlichkeitsstörung« Jebes (Jackson gleich zu glauben scheint (606). Tritt Jebes »phantasti-
2001, 40) muss daher in ihren zeittypischen Zügen ge- scher Zug« also in eine Lücke, die sein szientistisches
sehen werden. Einerseits ist Jebes Weltbild geprägt Denken offen lässt, kompensiert Defizite und füllt ein
vom modernen Szientismus, speziell der pathologi- »Vakuum [...], das die institutionalisierte Religion des
schen Anatomie, dem Materialismus und einer meta- Christentums hinterließ« (Elsaghe 2011, 36), so pro-
physiklosen Immanenz. Das Verhalten des schnellen duziert dieser Vorgang zugleich einen prekären inne-
Diagnostikers ist bestimmt von Professionalismus, in- ren Widerspruch, der nicht nur seine Identität als auf-
tellektuellem Hochmut und sozialen Defiziten. Ande- geklärter Wissenschaftler bedroht.
rerseits eignet ihm ein »phantastischer Zug« (LL 3, Die Sterbehilfe an Elsi, die mit dem Mitleidsargu-
581), der ihn mit den epochentypischen Tendenzen ment nicht hinlänglich begründet ist, ist auch in dieser
des Okkultismus und Spiritismus verbindet und ihm psychodynamischen Perspektive zu lesen. Bezeich-
offenbar – und das ist eine der Pointen der Erzählung nenderweise erfolgen das ›Übersehen‹ des wissen-
– nur teilweise bewusst ist. Er äußert sich v. a. im Ver- schaftlichen Artikels mit der Beschreibung der retten-
hältnis zu seiner Frau Elsi. Das »Nachtgesicht« des jun- den Operation, das Heraussuchen des Giftes und
gen Mädchens inmitten der toten Knaben, gewisser- schließlich dessen Verabreichung in einem fast tran-
maßen der ›Traum der Vernunft‹, enthüllt eine ambi- ceartigen Zustand auf der Bewusstseinsschwelle, »oh-
valente Begehrensstruktur, für die »das Geheimnis des ne eine Absicht [...] ich kann nicht sagen, ob gedan-
Weibes« mit dem »Genius des Todes« zusammenfällt kenvoll oder gedankenlos« (LL 3, 612). Auf der Ebene
(589). Sobald die reale Elsi in Jebes Leben tritt, wird sie unbewusster Regungen, um deren Exploration es dem
von ihm, seinen Neigungen zum Unheimlichen fol- Text ganz offenkundig geht, ließen sich für die Tötung
gend, mit allen mythischen Konzepten des Weiblichen Elsis weniger altruistische Motivationen feststellen:
im Gefolge der Romantik besetzt und zum reinen Pro- der Ausschluss des gerade als solchen lockenden
jektionsschirm. Jebe stilisiert sie zu einem »Märchen- Fremden, Anderen, Naturhaften, das aber auch die ei-
248 III Werk – D Novellen

gene Identität bedroht (Wünsch 1992, 22; Malinowski 148) hingegen hat das phantastische Moment in der
2003, 102 f.; Küng 2015, 88), sowie die endgültige Ab- Novelle als »dominant« beschrieben. Tatsächlich blei-
trennung bestimmter eigener Persönlichkeitsanteile ben die Aussagen des Erzählers Jebe über seine Frau
(Onken 2009, 167–169; Küng 2015, 83, 88). In man- und ihre Identität mit dem »Nachtgesicht« ganz i. S.
cher Hinsicht realisiert Jebe mit Elsis Tötung nur, was von Tzvetan Todorovs Kriteriums der Unschlüssigkeit
er dem Bild des Weiblichen immer schon beigelegt (hésitation) in der Schwebe (vgl. Todorov 1992, 31):
hatte, und zwar in doppelter Hinsicht. Als dem Okkul- »Was wissen wir denn auch von diesen Dingen!« (LL 3,
ten ergebener Träumer amalgamiert er von Anfang an 594) Im Psychogramm des aufgeklärten Szientisten
das »Geheimnis des Weibes« mit dem Tod (LL 3, 589), kommt nicht nur das Begehren nach einem ›Roman-
und als Mediziner versucht er ihm konsequenterweise tisch‹-Mythischen zum Vorschein, sondern auch die
mit Hilfe der materialistischen Wissenschaft bei- Frage, ob diesem nicht eine spezifische ›Realität‹ zu-
zukommen und wird Gynäkologe: »an Leichnamen komme. Wenn die phantastische Erzählliteratur Rena-
hatte ich den inneren Menschen kennen gelernt, [...] te Lachmann zufolge das Verdrängte, Vergessene und
und wie mit solchen rechnete ich mit den Lebendi- Unbewusste einer Kultur artikuliert (Lachmann 2002,
gen« (591). Retrospektiv erscheint diese verkehrte 10 f.), dann tut Storms Novelle genau das, ja sie führt
Ausrichtung auf den Tod statt auf das Leben nicht nur zudem den Prozess von Verdrängung und Wiederkehr
in der moralischen Kategorie des »Frevels[s]« (ebd.), selbst noch vor. Man darf sich aber fragen, ob das ge-
sondern auch als pathologischer Sachverhalt: Sie führt gen den ›Realismus‹ des Textes spricht. Mit demselben
bildlogisch zur Fortpflanzungsunfähigkeit des kinder- Recht ließe sich sagen, Storm inszeniere eine Debatte
losen Paars und schließlich zur todbringenden Krank- um zeitgenössische Konzepte von ›Realität‹ selbst und
heit. Der »heilige Keim« des »Nachtgesichts« (ebd.) betreibe eine Art tentativer Komplettierung eines do-
wächst sich gleichsam im Leib der Frau aus, aber nicht minant werdenden Verständnisses von ›Wirklichkeit‹
zu einem Baby, sondern zu einem Karzinom am Ute- um abweichende und ausgegrenzte Facetten. In seiner
rus, dem Differenzorgan »des Weibes«. formalen und strukturellen Anlage reagiert der Text
Ob sich am Ende eine Wendung abzeichnet (Jack- damit auf die Problematik, die er an seinem Protago-
son 2001, 58–62), bleibt fraglich. Vor einer Bindung nisten analysiert.
an die mit vollem Leben konnotierte Hilda Roden
flieht Jebe jedenfalls geradezu nach Afrika, eine jener Literatur
»dunklen Regionen« (LL 3, 581), die er immer schon Burns, Barbara: Heyse and Storm on the Slippery Slope: Two
suchte: einen Ort der imaginativen Auslagerung des Differing Approaches to Euthanasia. In: German Life and
Letters 51/1 (1998), 28–42.
eigenen Fremden, der im späten 19. Jahrhundert mit
Elsaghe, Yahya A.: »Krankheit unserer Marschen«. Zur Ver-
dem Unbewussten und dem Weiblichen konnotiert drängung der Krebsangst in Theodor Storms Novelle »Ein
war und nicht zuletzt deswegen Phantasien kolonialer Bekenntnis«. In: Zeitschrift für Germanistik NF 20 (2010),
Unterwerfung und Zivilisierung evozierte (vgl. Küng 508–521.
2015, 98–104). Bei aller aufopferungsvollen Tätigkeit Elsaghe, Yahya A.: Sterbehilfe, Glaubensverlust und Religi-
scheint Jebe sich darin treu zu bleiben. onsersatz in Theodor Storms »Bekenntnis«. In: Zeitschrift
für Religions- und Geistesgeschichte 63/1 (2011), 23–44.
Fleming, Paul: Vom Kasus zum Fall. Heyses »Auf Tod und
Realismus und Phantastik Leben« und Storms »Ein Bekenntnis«. In: Elisabeth Stro-
wick/Ulrike Vedder (Hg.): Wirklichkeit und Wahrneh-
Ob die Erzählung trotz des »phantastische[n] Zug[s]« mung: Neue Perspektiven auf Theodor Storm (Publikatio-
ihres Protagonisten und trotz ihrer eigenen phantasti- nen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Bd. 27).
Bern 2013, 187–204.
schen Züge einer realistischen Poetik folgt, ist in den
Franz, Andrea: Visionen von Liebe, Krankheit und Tod. Zur
letzten Jahren mehrfach diskutiert worden. Von einem Rolle von Füßlis »Nachtmahr« in Theodor Storms Novelle
wechselseitigen Ausschluss von Realismus und Phan- »Ein Bekenntnis«. In: Günter Lange (Hg.): Lese-Erlebnisse
tastik gehen Wünsch, die die Novelle als Erzählexperi- und Literatur-Erfahrungen. Annäherungen an literarische
ment »an den Grenzen des Realismus« verortet Werke von Luther bis Enzensberger. FS für Kurt Franz. Ho-
(Wünsch 1992, 13), und Onken (2009, 167–169) aus. hengehren 2001, 226–241.
Grübler, Gerd: Euthanasie und Krankenmord in der deut-
Demnach würden die im Text eingeführten potentiell schen Literatur 1885–1936. Marburg 2011.
phantastischen Elemente marginalisiert und die »Ord- Jackson, David: »Ein Bekenntnis« – Theodor Storms frauen-
nung der empirischen Welt« i. S. eines realistischen freundliche Abrechnung mit einem mörderischen roman-
Schreibens bestätigt (Onken 2009, 168). Küng (2015, tischen Liebesideal. In: STSG 50 (2001), 37–63.
73 »Ein Bekenntnis« (1887) 249

Käser, Rudolf: Arzt, Tod und Text: Grenzen der Medizin im Realismus. In: Zeitschrift für Germanistik NF 19 (2009),
Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998. 161–170.
Küng, Peter: Die Krise der liberalen Anthropologie in der Li- Storm, Theodor: Ein Bekenntnis. Text und Materialien. Hg. v.
teratur des Bürgerlichen Realismus: Männlichkeit, Bürger- Walter Zimorski. Schleswig 2004.
lichkeit und Individualität bei Theodor Storm, Theodor Terpstra, Jan U.: Die Motivik des Visionären und Märchen-
Fontane und Paul Heyse. Würzburg 2015. haften in Storms Novelle »Ein Bekenntnis« als archetypi-
Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiege- scher Ausdruck des Unbewußten. In: Amsterdamer Bei-
schichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt träge zur neueren Germanistik 17 (1983), 131–168.
a. M. 2002. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur.
Malinowski, Bernadette: Mimesis als Transgression. Gat- Frankfurt a. M. 1992.
tungsdiskursive Untersuchungen zu Theodor Storms Be- Marianne Wünsch: Experimente Storms an den Grenzen des
kenntnisnovelle »Ein Bekenntnis«. In: Jahrbuch der Raa- Realismus: neue Realitäten in »Schweigen« und »Ein Be-
be-Gesellschaft 2003, 77–116. kenntnis«. In: STSG 41 (1992), 13–23.
Onken, Aiko: Vampirin, Brautgeist, Elfenfrau. Theodor
Storms phantastische Frauengestalten und die Novelle des Christian Begemann
250 III Werk – D Novellen

74 »Der Schimmelreiter« Quellen und Einflüsse


Entstehung und Veröffentlichung
Für die Darstellung der Quellenlage konnte Laage
Theodor Storms letzte, »umfangreichste, komplexeste 1988 (LL 3, 1064–1082) zwar noch nicht auf die 1999
und zugleich künstlerisch anspruchsvollste Novelle« aufgetauchte »Concept«-Handschrift und nicht auf
(Fasold 1997, 152), sein »meistgedeutete[r] Text[]« darauf aufbauende Forschungsergebnisse zurückgrei-
(ebd., 153), ist in seiner Genese erst seit dem Fund der fen, doch werden bereits hier Storms umfangreiche
sogenannten »Concept«-Handschrift 1999 vollstän- Recherche für seine Deichnovelle und der komplexe
dig rekonstruierbar; die Entstehungsgeschichte, Text- Entstehungsprozess deutlich. Die Quellen, die Storm
stufen und Varianten sind inzwischen in der His- für seine Deichnovelle benutzt hat, sind zahlreich.
torisch-kritischen Edition der Schimmelreiter-Novelle Eversbergs Historisch-kritische Textedition führt
bei Eversberg (2014) dokumentiert (zur Textgenese erstmals ein annotiertes Verzeichnis aller Quellen auf,
vor dem Auftauchen des »Concepts« vgl. LL 3, 1049– das über 50 verschiedene Titel umfasst (Eversberg
1082; dort auch der ursprüngliche, später gestrichene 2014, 527–551; vgl. zur Entstehungsgeschichte der
und von Laage 1979 aufgefundene Schluss, ebd., Novelle ebd., 379–408). Unterschieden werden muss
1060–1062). dabei allerdings zwischen direkt von Storm benann-
Erste Spuren gehen laut Storm zurück auf seine Lek- ten oder mittelbar aus dem Novellentext erschließ-
türe der an der Weichsel situierten westpreußischen baren Quellen und solchen, die nur mit »gewisse[r]
Deichsage Der gespenstige Reiter, die 1838 im Danziger Wahrscheinlichkeit« (ebd., 531) als solche betrachtet
Dampfboot erschienen war und die Storm in einem im werden können. Storms vorrangiges Interesse galt vor
selben Jahr erfolgten Nachdruck in den von J. J. C. Pap- allem Schriften und Chroniken zur Geschichte der
pe in Hamburg herausgegebenen Lesefrüchten vom Sturmfluten, des Deichbaus und der Landgewinnung
Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes gele- an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste sowie
sen haben dürfte (vgl. LL 3, 1066; Eversberg 2014, 379); regionalhistorischen und juristischen Schriften. Bera-
eine Quelle, die er später allerdings vergeblich wieder- ten ließ er sich in Deichbauangelegenheiten von sei-
aufzufinden versucht. Eine erste Konzeption seiner nem Heider Freund, dem Wasserbauingenieur Chris-
Novelle datiert vom 3.2.1885; der Beginn der eigentli- tian Eckermann, der selbst über die Geschichte der
chen Niederschrift erfolgt allerdings erst im Juni/Juli Eindeichungen in Norderdithmarschen publiziert hatte
1886 und wird bald darauf – u. a. für die Arbeit an den (1882) und der ihm für die Arbeit an der Novelle eini-
Novellen Ein Doppelgänger und Ein Bekenntnis, aber ge (von Storm allerdings nicht im Einzelnen benann-
auch aufgrund Storms von schwerer Krankheit im te) Schriften und Manuskripte anvertraute (dazu
Winter 1886/87 – wieder unterbrochen, so dass das Eversberg 2014, 436, 535; vgl. auch Laage 2000). Si-
erste Kapitel des Schimmelreiters erst im Mai 1887 vor- cher belegt durch ihre Erwähnung oder Zitation in
liegt (vgl. Eversberg 2014, 397). Am 1.11. notiert Storms »Concept«-Handschrift sind neben Anton
Storm, die Reinschrift sei auf »126 S. Oktavpostpapier Heimreichs erstmals 1666 erschienener Nordfresischer
[...] gewachsen, und in Konzept ist schon wieder recht Chronik aber eine Reihe weiterer Quellen, darunter
viel vorhanden« (vgl. LL 3, 1058). Am 5.12. kündigt die Laßsche Sammlung Husumscher Nachrichten
Storm seinem Verleger Paetel die Fertigstellung des (1750–52), Christian Johansens Halligenbuch (1866),
Manuskripts binnen zweier Monate an (vgl. Eversberg Johann Georg Kohls Die Marschen und Inseln der Her-
2014, 401), was mit dem Abschluss der Arbeit und der zogthümer Schleswig und Holstein (1846), Christian
Absendung an den Verlag am 9.2.1888 auch gelingt Peter Hansens Das Schleswig’sche Wattenmeer und die
(vgl. LL 3, 1058; zu einzelnen nachträglichen Ergän- friesischen Inseln (1865), Nikolaus Falcks Handbuch
zungen und Änderungen Storms sowie zur Einrich- des Schleswig-Holsteinischen Privatrechts (1825 ff.),
tung der Buchausgabe, deren letzte Korrekturen Storm das von Cai Lorenz von Brockdorff und Friedrich
dem Verlag am 28.5. übermittelt, vgl. Eversberg 2014, Ludwig von Eggers herausgegebene Corpus Statuto-
402 ff.). Dem Erstdruck in der Deutschen Rundschau rum Slesvicensium (1794) und Knut Jungbohn Cle-
(April u. Mai 1888) folgte noch im selben Jahr, aller- ments Lebens- und Leidensgeschichte der Frisen (1845).
dings erst nach Storms Tod am 4.7., im Herbst die erste Eine ganze Reihe weiterer Quellen lässt sich aus dem
Buchausgabe als Der Schimmelreiter. Novelle von Theo- Novellentext erschließen (Eversberg 2014, 532 ff.), un-
dor Storm bei Paetel in Berlin – mit den vorangestellten ter anderem Aemil Storms medizinische Dissertation
19 Worterklärungen »Für binnenländische Leser«. De Febre sic dicta Marchica (1857) und Johann Nicolai

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_74, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
74 »Der Schimmelreiter« 251

Tetens Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur se These konnte erst die Auffindung der »Concept«-
Beobachtung des Deichbaus in Briefen (1788). Dem Handschrift den endgültigen Beweis liefern. Evers-
historischen Deichvogt Hans Momsen, der die Dar- berg kann daher in seiner Edition auf der Basis eines
stellung des jungen Hauke Haien inspirierte, begegne- Abgleichs von »Concept« und »Reinschrift« folgerich-
te Storm in Claus Harms’ Schleswig-Holsteinischem tig von einer ›Fiktionalisierung‹ der Landschaft durch
Gnomon (1843). Zur allgemeinen Information dien- Storm sprechen, die dem Muster einer »Spiegelung
ten ihm darüber hinaus weitere Schriften wie u. a. der wirklichen Landschaft« folgt, wie er am Beispiel
Christian Ulrich Beccaus Versuch einer urkundlichen des Kooges ausführt (Eversberg 2014, 447). Der für
Darstellung der Geschichte Husums (1854) oder Carl die Entstehungsgeschichte von Storms Novelle rele-
Schraders Systematische Übersicht des Deichrechts vante landesgeschichtliche Hintergrund ist zudem in
(1805). Johannes Mejers in Caspar Danckwerths Newe einzelnen Studien seit den 1970er Jahren erschlossen
Landesbeschreibung der Zwey Herzogthümer Schles- und vertieft worden (vgl. u. a. Holander 1976, Laage
wich und Holstein (1652) abgedruckte Karte der Nord- 1970 u. 1979, Lohmeier 1980, Barz 1982).
goesharde nördlich von Husum gab die Vorlage ab für
eine Arbeitszeichnung, die er sich von Eckermanns
Aufbau und Inhalt
Tochter Gertrud anfertigen ließ.
Storms lebenslangem Interesse an Heimatsagen, Die in der Mitte des 18. Jahrhunderts angesiedelte Ge-
Spukgeschichten und Anekdoten verdanken sich eine schichte vom Deichgrafen Hauke Haien wird ein-
Reihe literarischer Quellen und Einflüsse, die z. T. in- gebettet in einen ersten Erzählrahmen, der in den
tertextuell aus der Novelle erschließbar sind: Neben achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von der 50 Jahre
der Weichselsage Der gespenstige Reiter (1838), die das zurückliegenden Lektüre des Ich-Erzählers des Ge-
Wiedergängermotiv für die Begegnung mit dem samttextes (auf der Ebene E 1) berichtet, in den ein
Schimmelreiter auf der Ebene von Storms Binnenrah- zweiter Rahmen eingebettet ist, in dem von einem
men beisteuerte (Abdruck bei LL 3, 1066–70; Evers- weiteren Ich-Erzähler (auf der Ebene E 2) berichtet
berg 2014, 466–68), sind hier v. a. Karl Müllenhoffs wird, der »im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts«
Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schles- (LL 3, 634) an einem stürmischen Oktobernachmittag
wig, Holstein und Lauenburg (1845), Georg Scham- bei einem Ritt an einem nordfriesischen Deich einem
bachs und Wilhelm Müllers Sammlung Niedersächsi- Gespensterreiter begegnet zu sein glaubt. Er gelangt
sche Sagen und Märchen (1855), Wilhelm Johann Al- schließlich in ein Wirtshaus, wo er zum Zuhörer der
bert von Tettaus und Jodocus Deodatus Hubertus Geschichte von Hauke Haien wird, die ihm von einem
Temmes Sammlung Die Volkssagen Ostpreußens, Litt- aufgeklärten Dorfschulmeister (auf der Ebene E 3) er-
hauens und Westpreußens (1837) sowie Storms aus ei- zählt wird und die schließlich im Bericht von der gro-
ner Lübeckischen Quelle übernommene und in Karl ßen Sturmflut, die sich 1756 ereignete, kulminiert.
Leonhard Biernatzkis Volksbuch für das Jahr 1847 ver- Was erzählt wird, ist also die Erinnerung des Endver-
öffentlichte Anekdote Das Wunderkind zu nennen. schrifters (E 1) an die Lektüre einer (durch den Erst-
Neben der Luther-Bibel, aus der Storm im Schimmel- verschrifter mitgeteilten) Nacherzählung (E 2) der
reiter zitiert, ist zudem Klaus Groths De Heisterkrog mündlichen Erzählung des Schulmeisters (E 3), wel-
(aus: Quickborn, Teil 2, 1871) ebenso Motivquelle wie che das Wissen über die Lebensgeschichte Hauke Hai-
v. a. Theodor Mügges Erzählung Sam Wiebe. Ein Le- ens aus diversen und divergierenden Einzelerzählun-
bensbild aus den Marschen (1854), in der Storm eine gen bezogen hat. Unter ihnen sind auch solche, die
das Erzählen von vergangenen Sturmfluten einleiten- Elemente des Aberglaubens enthalten, die mitzuer-
de Begegnung mit einem alten Schulmeister auf dem zählen sich der Schulmeister auf Bitten des Erstver-
Deich vor Husum vorgeprägt finden konnte. schrifters bereit erklärt (LL 3, 639).
Aufschlussreich für Storms Arbeitsprozess ist ins- Der Protagonist der von E 3 erzählten Binnen-
besondere sein Umgang mit geographischem Karten- geschichte, Hauke Haien, stammt aus ärmlichen Ver-
material und mit historischen Quellendaten. Bereits hältnissen und ist ein Autodidakt in Mathematik und
Laage (LL 3, 1079–82) beschreibt diesen von der kon- Physik. Schon früh hegt er Pläne und Träume von ei-
kreten topographischen Situation der Mejerschen ner Deichverbesserung. Er wird schließlich Knecht
Karte ausgehenden Prozess als umorientierende Ver- beim reichen Deichgrafen Tede Volkerts und nähert
lagerung des eigentlich von Husum aus südlichen Ge- sich, sehr zum Missfallen des Großknechts Ole Peters,
bietes in den Norden des Hattstedter Kooges. Für die- Haukes späterem Kontrahenten, dessen Tochter Elke
252 III Werk – D Novellen

an. Nach dem Tod des Deichgrafen kommt es zur Ehe sche Konzeption von Realität, die sich dort, wo sie an-
zwischen Hauke und Elke, und Hauke kann dank ih- gewandt wird, wie dem Deichbau Haukes, auch be-
res Erbes Deichgraf werden, was ihm viele Anfein- währt. Hauke wirft sich am Schluss sogar vor, dass er
dungen seitens seiner Umwelt einbringt. Auch sonst sie nicht konsequent genug angewandt hat (LL 3, 751).
steht er in Opposition zu seiner sozialen Umwelt, die Diese rationalistische Sicht auf die Realität wird von
keinen neuen Deich will. Schließlich setzt Hauke den Hauke immer wieder bekräftigt, wenn er Phänomene
Bau eines neuen Deiches durch: als Schutz gegen das des Aberglaubens (wie das Eingraben des lebenden
Meer und die Sturmflut und als Mittel der Landgewin- Hundes in den Deich) oder des gespenstischen Sehens
nung. Der Widerwille der Neuem gegenüber ver- (die nebelhaft erscheinenden Seegespenster/Gestal-
schlossenen Dorfbewohner gegen ihren Deichgrafen ten) als eben diese entlarvt (645). Diese Realitätskon-
führt zur abergläubischen Dämonisierung Haukes, zeption wird von der gebildeten Oberschicht (dem
der dieser auch durch seine Verhinderung eines Schulmeister, dem Deichgrafen Hauke Haien und
Deichopfers – er rettet einen kleinen Hund, den die partiell auch dem jetzigen Deichgraf auf der Ebene der
Arbeiter im Fundament des neuen Deiches eingraben Gegenwartshandlung) vertreten. Demgegenüber steht
wollten – sowie durch den Erwerb eines den Arbeitern zum anderen eine Realitätskonzeption, die auch irra-
unheimlich erscheinenden Schimmels weiteren Vor- tionale, okkulte Elemente anerkennt. Diese wird von
schub leistet. Parallel zur Fertigstellung seines neuen ungebildeten Unterschichten und Frauen (mit Aus-
Deiches beginnt eine Unglücksserie, die in der finalen nahme von Haukes Frau Elke) vertreten. Der Status
Katastrophe endet: Elke stirbt beinahe im Kindbett, dieser Gruppe wird klar in der Jevershallig-Episode,
ihre Tochter Wienke ist schwachsinnig, Hauke er- wenn von der Verwandlung eines Pferdegerippes in
krankt schwer, und eine Schadstelle zwischen altem ein lebendes Pferd gesagt wird: »Das ist ja Altweiber-
und neuem Deich lässt der so Geschwächte nur not- glaube« (697), was im übrigen von jemandem gesagt
dürftig ausbessern. Diese bricht denn auch bei einer wird, der selbst auch dieser Gruppe angehört. Die Je-
Sturmflut. Als Frau und Tochter vor seinen Augen er- vershallig-Episode macht dabei deutlich, wie die
trinken, stürzt sich Hauke mit seinem Schimmel selbst phantastische Existenz eines Phänomens von Formen
in den Tod. Seitdem lebt er als gespenstischer Schim- des Sehens und Wahrnehmens abhängt (s. Kap.IV.85).
melreiter im kulturellen Gedächtnis der Marsch- Die zwei Knechte von Hauke Haien nehmen aus der
bewohner fort. Ferne etwas wahr (die Verlebendigung des Pferde-
gerippes), was sich für den einen Knecht aus der Nähe,
als er auf die Hallig übersetzt, nicht bestätigt. Was sich
Deutungsaspekte des Erzählens:
als gespenstisch/phantastisch erweist, ist also von den
Problematisierung der Realität des Erzählens und
Wahrnehmungsbedingungen abhängig, wozu auch
der erzählten Realität
die meteorologischen gehören (Nebel, Dunst, Nacht),
Die jüngere Stormforschung hat vor allem auf die auf- weshalb denn auch die Erzählung beim »goldensten
fällige Dominanz des discours über die histoire, des er- Sonnenschein« (LL 3, 755), der die Sicht auf die ratio-
zählerischen Verfahrens über das erzählte Geschehen nale Realität freigibt, endet. Was also auf der Ebene
hingewiesen (u. a. Meier 2002, Blödorn 2005). Erinne- der Schulmeistererzählung (E 3) als phantastisch er-
rung und Überlieferung, schriftliches und mündliches scheint, wird vom Text weder bestätigt noch falsifi-
Erzählen, sind denn auch die in der einleitenden dop- ziert. Gleiches gilt für die Ebene der Erstverschriftung
pelten Rahmung der Binnengeschichte reflektierten (E 2): Hier gibt es zwar die phantastische Erscheinung
Bedingungen eines ausschließlich männlichen Erzäh- des Gespensterreiters, die der jetzige Deichgraf ei-
lens (vgl. Hoffmann 1990, 336 f.), das stets in seiner gentlich bestätigt (»Sie können Ihren eigenen Augen
ambivalenten Perspektiven- und Mediengebunden- doch nicht mißtrauen«, 755), doch der Reisende (E 2)
heit bewusst gehalten wird. Mit dieser auffällig aus- distanziert sich davon, er will es überschlafen (755),
gestellten Ebene des Erzählens selbst thematisiert der womit zumindest eine Unentscheidbarkeit des Phan-
Text folglich gleich zu Beginn implizit Aspekte der tastischen im Sinne Todorovs (1972) vorliegt.
Wahrnehmung, Speicherung und Wiedergabe bzw. Zentral ist die in dieser Erzählung komplexe Er-
Darstellung von Realität. zählsituation aber auch noch in anderer Hinsicht. Der
Zentral und konstitutiv für die Organisation des Schulmeister (E 3) beruft sich bei seiner Erzählung auf
Textes ist zunächst die Existenz zweier Realitätskon- die »Überlieferungen verständiger Leute« (695) bzw.
zeptionen im Text. Da ist zum einen die rationalisti- auf »Erzählungen der Enkel und Urenkel« (695) und
74 »Der Schimmelreiter« 253

bei der Einbeziehung der Elemente des Aberglaubens (E 1), so fällt zudem auf, dass es immer ungewisser
auf das »Geschwätz des ganzen Marschdorfes« (695), wird, aus welchem Grund die jeweilige Person erzählt.
wobei die Unterscheidung zwischen historisch gesi- Speziell die Rede des Endverschrifters (E 1) ist völlig
chertem Bericht und Elementen des Aberglaubens unmotiviert und scheint eindeutig die Autorenrolle zu
nicht leicht fällt, selbst wenn der Reisende (E 2) be- beanspruchen. Der Schimmelreiter wäre also unter
tont, dass er »schon selbst die Spreu vom Weizen son- diesen Aspekten eine Erzählung über die Bedingun-
dern werde« (639). Diese scheinbar klare Differenzie- gen des Erzählens und des Verhältnisses von Tatsa-
rung der mit unterschiedlichem Wahrheitsanspruch chenbericht und Fiktion, von ›Realität‹ und ›Literatur‹
verbundenen Erzählweisen wird jedoch unterlaufen, im ausgehenden Realismus.
indem der Schulmeister auch Dinge erzählt, die auch Am Beispiel der alten Trien’ Jans führt der Novel-
seine Gewährsleute nicht wissen können. Prominen- lentext selbst diese mehrfache Problematisierung von
testes Beispiel dafür ist die Schilderung von Hauke ›Erzählen‹ und ›Realität‹ explizit vor, indem das Wahr-
Haiens Tod, bei dem niemand als Zeuge dabei war, die nehmungsproblem (irrational-phantastischer »Alt-
der Schulmeister gleichwohl plus der letzten Worte weiberglaube« vs. rationalistische Realitätssicht) mit
Hauke Haiens, die niemand gehört haben kann, so er- dem Darstellungsproblem (Authentizität durch Quel-
zählt, als hätten sich diese real ereignet. Der Schul- lenberufung vs. Fiktionalität des Erzählens) korreliert
meister könnte die Erzählung von Hauke Haiens Tod wird. Der kleinen Wienke erzählt Trien’ Jans die phan-
als Legende deklarieren im Sinne von »Man sagt« – er tastische Geschichte vom in den Gräben gefangenen
tut dies aber nicht. Somit stellt sich die Frage, ob die Wasserweib (732 ff.). Ihrer anfänglichen Beteuerung
Erzählung des Schulmeisters einen Bericht seiner »Ich sah es und hörte sie selber schreien!« (733) steht,
Quellen wiedergibt, oder ob sie selbst schon ein Stück Hauke Haiens rationalistischer Intervention »Hab ich
fiktionaler Literatur ist, bei der der Schulmeister un- Ihr nicht geboten, Ihre Mären für sich zu behalten«
übersehbar als Autor fungiert. Auf der Ebene E 2 des (ebd.) folgend, die Verschiebung der vermeintlich au-
Erstverschrifters, der die Frage nach der Authentizität thentischen, durch eigenes Erleben verbürgten Ge-
des Tradierten gar nicht stellt, verschärft sich dieses schichte ins Reich der Fiktion gegenüber: »[D]as hat
Problem nochmals, wird doch die – sehr lange – Er- mein Großohm mir erzählt« (ebd.). Der rationalen
zählung des Schulmeisters von ihm in direkter Rede Glaubhaftigkeit und realitätskompatiblen Verbürgt-
mit Anführungszeichen wiedergegeben. Wie, so ließe heit des Erzählten stehen hier die schwebende Unent-
sich hier einwenden, hat sich der Reisende aber all scheidbarkeit und Ungewissheit zwischen Glaube und
dies merken können? So stellt sich auch für den Erst- Vernunft bzw. Realität und Fiktion gegenüber. Haukes
verschrifter (E 2) die Frage, ob er nicht in seinem Be- Hinweis, dass sie es doch »eben selbst erlebt haben«
richt fiktionale Literatur produziert, womit dann auch wollte, kann die Alte daher entgegnen: »Das ist egal«
der Realitätsanspruch des von ihm am Anfang Berich- (ebd.).
teten, die Begegnung mit dem Gespensterreiter, in
Frage gestellt werden müsste. Schließlich stellt sich
Deutungsaspekte des Erzählten: Natur vs. Kultur,
auch auf der obersten Erzählebene von E 1 dasselbe
Tod vs. Leben, Aberglaube vs. Rationalismus
Problem. Der äußere Rahmenerzähler und Endver-
schrifter (E 1) macht zwar vorgebliche Quellenanga- Hauke Haien, um nun auf die histoire-Ebene zu spre-
ben, dass er das im Folgenden Berichtete einer Lektüre chen zu kommen, bekleidet einen für den Realismus
eines Zeitschriftenheftes verdanke, diese Quelle aber typischen Beruf: den des Deichgrafen, der ähnlich,
nie wiederfinden konnte, sodass sich die »Tatsachen«, wenn dort auch in abgeschwächter Form, der des Förs-
die er »niemals aus dem Gedächtnis verloren« habe ters in Storms Schweigen entspricht. Es handelt sich
(634) und die sich »durch keinen äußeren Anlaß in um Figuren, die die Kultur gegen die bedrohliche – sie
mir aufs Neue belebt [haben]« (634), auch nur als Fik- zerstörende oder überwuchernde – Natur zu erhalten
tion erweisen statt als korrekte Wiedergabe der »Tat- suchen. Semantisiert wird im Schimmelreiter ein räum-
sachen«. Auf allen drei Erzählebenen stellt sich also licher Grenzbereich zwischen Meer und Land, der eine
dasselbe Problem: ob es sich bei den Erzählungen um latent bedrohliche Natur vom menschlichen Kultur-
faktisch wiedergegebene Realität handelt, oder ob das raum trennt und somit durch die Opposition ›Tod‹ vs.
Erzählte fiktionale Literatur ist trotz der jeweils rekla- ›Leben‹ beschreibbar ist. Letztlich liegt der erzählten
mierten Quellenberufung. Verfolgt man den Weg von Geschichte von Hauke Haien das für den Realismus ty-
der innersten (E 3) über E 2 zur äußeren Erzählebene pische Problem der Grenze zwischen ›Natur‹ und ›Kul-
254 III Werk – D Novellen

tur‹ zugrunde, die der rationale und technisch versier- ser Hinsicht folglich zwei Seiten desselben Versuchs,
te Mensch hinauszuschieben versucht, um für das All- »das angstbesetzte Natürliche der Kontrolle des Schöp-
gemeinwohl dem Meer Land (und damit dem latent fers« zu unterwerfen, der der Natur ein ›Werk‹ ent-
›tödlichen‹ Raum ›Leben‹) abzutrotzen. In diesem gegensetzt (vgl. Fasold 1997, 157).
Kontext führt die Erzählung am Ende jedoch vor, dass Unkontrollierbar ist aber auch das Biologische und
die Natur die Kultur nicht nur bedroht, sondern zu- Vererbte. Schon Elkes Vater war seinem Job nicht
gleich, dass Sturmfluten letztlich nicht beherrschbar mehr gewachsen, er übersah die mangelhafte Pflege
sind; nur die Schäden sind mittels eines rational-tech- des Deiches und der Priele, und dies setzt sich als De-
nischen Realitätskonzepts zu mildern. So wie die Na- generationserscheinung im weiblichen Kind von Elke
tur die Kultur bedroht und es eines Mannes bedarf, fort: Die Tochter Wienke, die das Erbe der Eltern nicht
der den Kulturraum gegen die zerstörerische Natur fortsetzen wird, ist schwachsinnig (s. Kap. IV.90).
schützt, so geht es dabei immer auch um die Abgren- Im Schimmelreiter zeichnet sich nicht zuletzt auch
zung zwischen Realität und Phantastik, zwischen einer ein Erzählmodell ab, das für die Literatur der Frühen
rationalistischen und einer phantastisch-abergläubi- Moderne in verschiedenen Ausformungen prägend
schen Realitätskonzeption. So wie die Abgrenzung sein wird: Es ist das Modell des privilegiert-elitären
zwischen dem Kulturraum und dem zerstörerischen Einzelsubjekts, das sich gegen die traditionsgebunde-
Naturraum in Form der Sturmflut nicht gelingt, so ge- nen Einstellungen der Anderen stellt, eine Konstellati-
lingt auch die Ausgrenzung der phantastisch-aber- on, wie sie z. B. in Sudermanns Der Katzensteg oder in
gläubischen Elemente aus dem rationalistischen Reali- Schnitzlers Paracelsus oder auch in Thomas Manns To-
tätskonzept nicht: Das Auszugrenzende leistet Wider- nio Kröger zum Tragen kommt. Haukes neuer Deich
stand, die Dorfbewohner sind unbelehrbar und der hält bis in die Gegenwart der Erzählung, aber der alte
Schimmelreiter lebt im kulturellen Gedächtnis der Be- Deich bricht, den er wider besseren Wissens wegen des
völkerung unbeirrbar fort. Dabei steht hier signifikan- sozialen Widerstandes nicht hatte erneuern lassen: »Er
terweise eine dritte Grenze, nämlich die zwischen Le- allein hatte die Schwäche des Deichs erkannt; er hätte
ben und Tod, die im Realismus immer eine klare trotz alledem das neue Werk betreiben müssen: ›Herr
Grenze darstellt, zur Disposition. Zumindest in der Gott, ja ich bekenn es [...] ich habe meines Amtes
okkultistisch-phantastischen Sicht verschwimmt diese schlecht gewartet!‹« (LL 3, 751). Der bedeutende Ein-
Grenze, insofern in der Jevershallig-Episode diese zelne, so präsupponiert Storms Erzählung, lädt Schuld
Grenzziehung auf ein Wahrnehmungsproblem redu- auf sich, wenn er dem Druck der traditionsgebunde-
ziert wird. Dasselbe Problem tritt auf, wenn ein Ver- nen Menge, die den alten Deich nicht reparieren will,
storbener als Gespenst wiederkehrt, das weder lebend nachgibt: Abweichung von des Volkes Meinung wird
noch tot ist (oder sowohl lebend als auch tot ist) und hier also zur Pflicht, wenn etwas als richtig erkannt ist.
jederzeit unter bestimmten Bedingungen erscheinen Der ›Mann‹ im emphatischen Sinne hat unbeirrbar
kann. Der Einbruch des Naturraums in Form der seine Überzeugungen zu leben, auch wenn er sozial
Sturmflut in den Kulturraum und die Existenz des dafür bezahlen muss. Mit seinen letzten Worten »Herr
Phantastisch-Okkulten im Bereich der Realität setzen Gott, nimm mich; verschon die Andern!« (753) bietet
eine Welt voraus, die Unkontrollierbares enthält. er sich selbst als Opfer an: als Sühne der eigenen Schuld
Sturmflut und Phantastik stehen im Schimmelreiter der Unterlassung. Damit erfüllt er paradoxerweise zu-
folglich für alles Unkontrollierbare, das der Realismus gleich die Forderung der Dorfgemeinschaft, dass in
auszugrenzen versucht, was aber hier eben nicht länger den Deich etwas »Lebiges« eingegraben werden müs-
gelingt. Dieser in der Tiefenstruktur des Schimmelrei- se. Das Meer als »Raubgetier der Wildnis« (748) mar-
ters zentral gesetzte Bereich des Unkontrollierbaren, kiert hier bis zum Schluss die wilde Natur schlechthin.
der die Realitätskonzeption des Realismus infrage Der menschliche Versuch seiner Bändigung erscheint
stellt, beinhaltet nun außerdem noch etwas Anderes, aber als möglich: Haukes neuer Deich hält bis zur Ge-
nämlich das ebenfalls unkontrollierbare Innere der genwart des Binnen-Icherzählers. Nicht die Kultivie-
Person, aus dem ungeahnte Aggressionen ausbrechen rung der Natur ist folglich gefährlich, sondern nur die
können wie im Fall von Haukes Katermord. Der äuße- inkompetente, wie sich das auch Hauke Haien selbst
ren Gewalt des Naturraums korreliert somit eine Ge- vorwirft; nicht die Kultivierung ist eine Schuld, son-
walt der inneren Natur des Menschen. Haukes Ratio- dern ihre Unterlassung wider bessere Einsicht.
nalismus sowie sein diesen Rationalismus im Außen- Hauke Haien wird schon zu Lebzeiten mythisiert,
raum spiegelndes Deichbauprojekt markieren in die- wenn er aufgrund seines unheimlichen Pferdes von
74 »Der Schimmelreiter« 255

der Bevölkerung als ›Schimmelreiter‹ benannt wird mantische Tradition ordnete vergleichbar auch Wil-
(713) – und dieser Name lebt bis in die Gegenwart fort helm Brandes Storms Schimmelreiter ein, wenn er die
in quasi entpersonalisierter Form als mythischer der überwältigenden Stimmung der Novelle eigenen
Schimmelreiter, der die Bevölkerung vor dem drohen- »Züge bald eines groben Aberglaubens, bald einer
den Unheil einer Sturmflut warnt. Der Text nimmt auf phantastischen Durchgeistigung der Natur« als »ein
der Ebene der Figurenrede weitere Mythisierungen Erbtheil der Romantik« wertete (Brandes 1888, 806).
vor, wenn der Erwerb des Pferdes einem Modell des Die frühe, schon zu Storms Lebzeiten einsetzende
Teufelspakts (703) angenähert wird und das Pferd literaturgeschichtliche Aufnahme seiner letzten No-
wiederholt als ›Teufelspferd‹ (706) bezeichnet wird, velle urteilte demgegenüber zögerlicher; sie stand zu-
das, einmal von der Hallig verschwunden, den Knech- nächst ganz im Zeichen der Deutungsmuster ›Natur‹,
ten jetzt »in unserem Stall« zu stehen scheint (705). Zu ›Stimmung‹ und ›Heimat‹ bzw. ›Erlebnis‹ und ›Er-
solcher verbalen Mythenbildung gehört andererseits innerung‹. Während Paul Schütze und Feodor Wehl
auch die finale Stilisierung Haukes durch den Schul- den Schimmelreiter »als die Krone von Storms dichte-
meister (am Schluss von E 3) in Analogie zum Gifttod rischem Lebenswerk« (Schütze 1887, 271) bzw. als ei-
des Sokrates und zum Opfertod Christi (754). Diese ne seiner »vorzüglichsten Schöpfungen« (Wehl 1888,
mythischen Konnotationen sind für die erzählte Ge- 93) hochschätzten und in die Nähe seiner Erinne-
schichte gleichwohl nur schwer funktionalisierbar, sie rungsnovellen rückten, ordnet Hartwig Jeß die Novel-
dienen eher einer unbestimmbaren Mythenbildung le lediglich als »einen gewissen Höhepunkt seines
des Schimmelreiters, als dass sie semantisch eindeutig Schaffens« ein, bedeutend zwar, aber »nicht Storms
auflösbar wären. (Zu diesen und weiteren mythischen Meisterwerk« (Jeß 1917, 42). Im Ganzen seien vor al-
und religiösen Anspielungen und Kontexten der Hau- lem Storms Natur- und Landschaftsdarstellungen von
ke Haien-Gestalt vgl. Findlay 1975; Hoffmann 1990; überragender Bedeutung, denn »Natur, Menschen
Demandt 2010, 185 ff.) und Handlung stimmen hier geheimnisvoll und doch
in greifbarer Wirklichkeit zueinander« (ebd., 61). Für
Paul Remer ist gerade der Storm des Schimmelreiters
Wirkung, Rezeption und Deutungsgeschichte
denn auch in erster Linie norddeutscher »Heimat-
Das wohlwollende Urteil des mit Storm befreundeten dichter« (Remer 1897, 14): »Natur und Menschen«
Berliner Literaturhistorikers Erich Schmidt, der am habe er »in ihren geheimsten Stimmungen, ihrer tiefs-
Schimmelreiter »die Verbindung des Abergläubisch- ten Eigenart« »belauscht und wiedergegeben« (ebd.,
Geheimnißvollen mit dem sachkundigen Realismus« 16); ein Urteil, das den Blick für die von Thomas Mann
lobte, verbreitete Storm parallel zur Erstveröffent- später attestierte »absolute Weltwürde der Dichtung«
lichung 1888 erfreut in Briefen an andere Freunde Storms lange verstellte (Mann 1930, 13).
weiter (u. a. an seinen Verleger Elwin Paetel, Storm– Die Geschichte der Deutungen des Schimmelreiters,
Paetel, 258). Gegenüber Heyse hatte Storm schon im die bis heute »einen wesentlichen Teil der Rezeptions-
August 1886 auch auf eine mit dem zentralen Konflikt geschichte des Stormschen Gesamtwerks überhaupt«
zwischen irrational Spukhaftem und verstandeskom- darstellt (Fasold 1997, 158) und hier nur in groben
patiblem Rationalismus verbundene poetologische Zügen pointiert werden kann, hat einige der in den
Schwierigkeit hingewiesen, »eine Deichgespenstsage frühen Kritiken und Rezensionen herausgestellten
auf die vier Beine einer Novelle zu stellen, ohne den Beobachtungen zu Storms letzter Novelle vertieft, ins-
Charakter des Unheimlichen zu verwischen« (Storm– besondere die Konzeption Haukes als »Willens-
Heyse III, 140). Heyse beglückwünschte Storm daher mensch[]« in Analogie zum Goetheschen Faust des
auch direkt nach der Lektüre von dessen Novelle: »Ein zweiten Teils, wo es um den Kampf gegen das Meer
gewaltiges Stück, das mich durch und durch geschüt- und den Versuch der Landgewinnung geht (vgl. Silz
telt, gerührt und erbaut hat. Wer machte Dir das 1955, 10). Loeb erkennt dabei im Schimmelreiter folge-
nach!« (ebd., 173). richtig einen »Faust ohne Transzendenz«, der den
Auch die zeitgenössische Literaturkritik lobte Protagonisten in seiner Todesstunde einsam und ohne
Storms letztes und »bedeutendste[s]« Werk als eines Erlösung untergehen lässt (Loeb 1963, 122). Die dafür
der »Juwelen unserer Nationalliteratur«, das einen zentrale Frage nach der Bedeutung des mit dem
beinahe »dem alten Faust« vergleichbaren Helden zei- Schimmelkauf eingegangenen Teufelspakts auf der
ge, den nur sein Ehrgeiz »von dem Goethischen Ideal- Ebene der erzählten Lebensgeschichte Hauke Haiens
menschen« trenne (Necker 1889). In die klassisch-ro- behandelt auch Hoffmann, der das teuflisch Verführe-
256 III Werk – D Novellen

rische und eine ›dämonologische Semantisierung‹, von mehr Humanität« werde (ebd., 138). Als schließ-
wie sie dem »teuflisch geförderte[n] Werk« des Deichs lich »entzauberte[n] ›Übermensch‹« bezeichnet je-
angelagert wird (Hoffmann 1990, 347), zugleich auch doch erst Segeberg Hauke vor dem Hintergrund einer
auf der Ebene des Erzählens verwirklicht sieht und so diskursanalytisch fundierten Untersuchung der in
im »Erzählpakt« zwischen Erzähler und Zuhörer der Hauke verkörperten Ausprägung technischer Ratio-
Binnengeschichte (auf E 3) Züge dieses Teufelspakts nalität, der gegenüber seiner ebenfalls ›rechnenden‹
nachweist (ebd., 341; zum Dämonischen im Schim- Frau Elke doch der Blick für Natur und Mitmenschen
melreiter vgl. grundlegend Peischl 1983, Freund 1993, fehlt (Segeberg 1987, 84). Und so ist auch der Triumph
Harnischfeger 2000). Haukes, dessen letztlich erfolgreiches Werk, der Hau-
Der Charakter Haukes, der als der große Einzelne ke-Haien-Deich, ihm am Ende doch ein dauerhaftes
sein Deichprojekt zunächst gegen die Dorfgemein- metonymisches Fortleben sichert, nur um den Preis
schaft durchzusetzen versucht, ist in den 1930er Jah- jener Hybris zu haben, die ihn selbst und seine Familie
ren dann in völkischer Mystifizierung umgedeutet schließlich das Leben kostet. Aus literaturpsychologi-
worden zu einer ›Führergestalt‹ (so u. a. auch in Curt scher Sicht hat Fasold in diesem Zusammenhang auf
Oertels Verfilmung der Novelle von 1933; s. Kap.V.97). die »narzißtische[] Selbstwertstörung« (Fasold 1997,
Diese Deutung verkürzte die komplexe und tragische 156) und »Identitätsschwäche« des (wie seine Frau El-
Doppelvalenz Haukes, der in seiner »entwicklungs- ke) mutterlos aufgewachsenen Hauke Haien aufmerk-
romanartig angelegten Sozialisation« (Fasold 1997, sam gemacht, dessen Beziehung zum mütterlich kon-
154) zwar einerseits zum genialen, rational begabten notierten Meer auf eine durch eine »aggressive Mutter-
Techniker wird und seinen Kampf gegen die Natur- imago« gekennzeichnete, von Vernichtung bedrohte
gewalt auch gegen die abergläubische und verstandes- »innerpsychische Realität« verweise (ebd., 155). So
mäßig beschränkte Dorfgemeinschaft führt (vgl. Stu- wirke in ihm der »Grundwiderspruch des Menschen,
ckert 1955, 400 f., der in dieser Konfrontation von In- Natur- und Kulturwesen zu sein«: Neben seinem
dividuum und Gemeinschaft eine sich in der Ge- »zielorientierte[n] Durchsetzungsvermögen« und sei-
schichte wiederholende, das tragische Scheitern nem »asketische[n] Arbeits- und Tatethos« ist Hauke
einschließende Konstellation erkennt). Andererseits von einem zerstörerischen, »starken Aggressions-
jedoch treibt Hauke sein individueller Ehrgeiz so sehr trieb« geprägt, der nur durch eine »rigide Unterwer-
in die Isolation von der Gemeinschaft, dass er schließ- fung der eigenen ›Natur‹ unter das kulturstiftende
lich einer Schwäche nachgibt, sein Amt vernachlässigt Aufsteigerkonzept« gebändigt werden kann (ebd.,
und daher schuldig wird (so die rational-aufkläreri- 154). Und so repräsentiert auch der von Hauke errich-
sche Deutungslinie der Novelle, vgl. dazu Stein 2006, tete Deich zugleich ein »Abwehrkonstrukt gegen die
174 ff.). In seiner »Verleugnung des Irrationalen« als Angst vor der Zerstörungsgewalt des chaotisch Ele-
»Muttergrund der Vernunft« sieht Wittmann jedoch – mentaren« (ebd., 155) und ein »den Schöpfer über-
der entgegengesetzten, eher aufklärungskritischen dauernde[s] Bild seines Größen-Selbst« (ebd., 156).
Deutungslinie folgend – Haukes ins Scheitern führen- Die Forschung hat darüber hinaus der Schuld Hau-
de Hybris begründet (Wittmann 1961, 85; vgl. auch kes am Deichbruch und am Untergang seiner Familie
Stein 2006, 175). Jost Hermand charakterisiert Hauke auch die in der Novelle angelegte Gegenperspektive
aus epochengeschichtlicher Perspektive vergleichbar einer humanistischen Menschenliebe konfrontiert.
als den Prototyp eines »gründerzeitlichen Übermen- Diese humanistische Deutungsperspektive ist vor al-
schen«, dessen nietzscheanischer »Egoismus der See- lem durch die Kontextualisierung der Novelle im
le« (Hermand 1965, 41) und sein »Wille zur Verewi- Licht eines darwinistischen Kampfs ums Dasein (vgl.
gung der eigenen Person durch eine alles überragende Frühwald 1981) und vor dem Hintergrund familien-
Leistung, die Schaffung eines neuen Landes« (ebd., und geschlechterbezogener Fragen und im Kontext
45) am Ende Gottes Allmacht in Frage stellt (ebd., 46; der »soziale[n] Natur des Menschen« (Freund 1987,
zur Kritik daran vgl. Fasold 1997, 160 f.; Segeberg 158) diskutiert worden, die etwa Haukes einseitig
1987, 56 ff.; Meyer 2009, 426 f.). Dieser Deutung hat männliche, das Rational-Abstrakte gegenüber dem
Freund insofern widersprochen, als er Storms Alters- Sinnenhaften privilegierende als eine egozentrische
novelle unter den Primat eines »Bankrott des Ego- Sozialisation fokussieren (ebd., 146 f.). Erst mit sei-
ismus« und einer »[b]ürgerliche[n] Krisenerfahrung« nem finalen Selbstopfer für die Gemeinschaft (»Herr
stellt (Freund 1987, 136 ff.), die erst zur »Bedingung Gott, nimm mich; verschon die Andern!«; LL 3, 753)
der Neubesinnung auf einen Aufbruch im Zeichen erfüllt sich demgemäß sein »zwischen Schuld und
74 »Der Schimmelreiter« 257

Läuterung gespannte[r] Lebensweg«, indem er Trien’ herzustellen zwischen den beiden Modi ›Aberglaube‹
Jans zuvor geäußertes »Bekenntnis zum Mitmen- vs. ›aufklärerisches Wissen‹ (Ort 1998, 44 f.). Storms
schen« (»Gott gnåd de Annern!«; LL 3, 742) sinn- doppelter Erzählrahmen weist den Erzähl- als Erinne-
gemäß wiederholt und damit in seiner Todesstunde rungsakt auf allen Erzählebenen dabei als »rekur-
durch eben jene Frau geläutert und zur Menschlich- sive[n] Prozeß« aus, der »in drei äquivalenten Repro-
keit bekehrt wird, an der er zuerst schuldig geworden duktions- und Reduktionszyklen« verläuft (ebd., 46)
war (Freund 1987, 157 f.). Dass diese mit dem Selbst- und Haukes Deichbau über die Äquivalenz von visuel-
opfer verbundene, von Hauke angestrebte und auf ler Wahrnehmung/Imagination und Lesen/Schreiben
Dauer zielende »Werkstiftung«, wie sie sich im Deich als semiotischen Verschriftungsprozess lesbar macht.
repräsentiert, umgekehrt die Folge des Scheiterns sei- Dass erinnerndes Erzählen bzw. erzählendes Er-
ner um alle Zukunftshoffnung beschnittenen »Fort- innern dabei als spukhafte, gespenstisch-untote ›Ver-
pflanzungsfamilie« ist, hat Hoffmann im Kontext ei- lebendigung‹ von eigentlich Vergangenem, Verlore-
ner im 19. Jahrhundert noch aus der Goethezeit nach- nem und somit ›Totem‹ einen grundsätzlich ambiva-
wirkenden Lebenslaufnorm beschrieben (Hoffmann lenten Status »auf der Grenze von Tod und Leben«
1990, 359 f.). einnimmt, hat bereits Hoffmann hervorgehoben, der
dem wiederbelebenden, »totenerweckende[n] Erzäh-
len«, dem »wiederbelebenden Erinnerungsvorgang«
Neuere Forschungsansätze
im Moment seiner Verschriftung eine »gegenläufige
Angesichts der Erkenntnis, dass es dem Schimmelrei- Fixierung der lebendigen Überlieferung« und somit
ter neben und über der stofflichen Geschichte »min- einen »Tötungsvorgang« an die Seite stellt (Hoffmann
destens ebenso sehr um die Bedingungen der Mög- 1990, 338). Theisohn (2008) hat dieses ›gespenstische
lichkeit allen Erzählens« gehe (vgl. Meier 2002, 176; Erzählen‹ im Rahmen einer poetologischen Lektüre
der Storms Novelle als »transzendentalpoetische[s] weiter ausdifferenziert und die Geschichte des Deich-
Erzählexperiment[]« betrachtet), hat die Storm-For- baus als eine »Reflexion über die Verfertigung des
schung im Rahmen kulturwissenschaftlicher Ansätze Textes, als eine Werktheorie« (ebd., 105) in ihrer »ge-
seit den 1990er Jahren eine Reihe von Fragestellungen spenstischen Logik« (ebd., 121) lesbar gemacht, die
verfolgt, die sich dezidiert dem Erzählverfahren in die Erzählung selbst zum Gespenst werden lässt: »ein
Storms »hochgradig poetologische[r]« Altersnovelle von den Toten auferstandenes Geschöpf, dessen Zeit
(Roebling 2000, 213) widmen. Dabei sind vor allem eine andere ist als die, in der es sich zeigt« (ebd.).
die Themenkomplexe ›Erzählen und Erinnern‹, Mit der Ambiguisierung des Erzählvorgangs pro-
›Wahrnehmung und Wirklichkeit‹ (inklusive der Fra- blematisiert Storms letzte Novelle immer wieder auch
ge nach dem ›Unheimlichen‹ und ›Phantastischen‹ so- die Wahrnehmung und Wirklichkeit von ›Realität‹;
wie der medialen Disposition der Novelle) sowie ›Ge- ein Aspekt, den die jüngere Storm- wie die Realismus-
nealogie und Geschlecht‹ wiederholt in den Blick ge- Forschung insgesamt verstärkt in den Blick genom-
nommen worden. men hat (vgl. Arndt 2009, Meyer 2009, Strowick/Ved-
Der komplexe, auf dem räumlichen Rückzug vom der 2013; von einem »[f]otografische[n] Blick« und
bedrohlichen Außenraum ins sichere Innere des Hau- einer ›filmischen‹ Schreibweise spricht schon Sege-
ses (und innerhalb des Hauses von unten nach oben) berg 1993, 290 ff.). Storms »Poetologie der Wahrneh-
basierende, durch Rahmung mehrfach gestaffelte Er- mung« trägt dabei »deutlich moderne Züge« (Stro-
zählprozess im Schimmelreiter relationiert dabei die wick 2011, 94), indem visuelle und akustische Wahr-
für den deutschsprachigen Realismus insgesamt kon- nehmung gleichermaßen immer wieder als Phänome-
stitutiven Oppositionen Leben/Tod, Gegenwart/Ver- ne im Grenzbereich zur Undeutlichkeit, zur
gangenheit und Zeichen/Realität, indem sich das Er- Unsicherheit und zur Unzuverlässigkeit sowie gänz-
zählen als erinnernde, rückblickende Rekonstruktion lich zum »Wahrnehmungsausfall« angesiedelt sind
verlorener Realitäten am Übergang von Mündlichkeit (ebd., 95 ff.). Das Unheimliche der Wahrnehmung
zu Schriftlichkeit selbst reflektiert. Als ein »dyna- liegt denn auch, so vermag Strowick zu zeigen, nicht
mischer Werkprozeß« (vgl. Segeberg 1997, 170) leistet so sehr im wahrgenommenen Gegenstand begründet,
der Erzählakt dabei im narrativen discours auf der sondern in dessen Beschreibung und »im Wahrneh-
Ebene E 3 etwas, das in der Binnengeschichte Hauke mungsakt selbst« (ebd., 100). Demandt leitet die Her-
Haiens selbst unmöglich erscheint: diskursivierend kunft des Unheimlichen und der Gespenster dagegen
(und im ›Nacheinander‹ der Erzählung) Kohärenz vor dem Hintergrund der Stormschen Behandlung
258 III Werk – D Novellen

von Religion und Religionskritik her, wenn er die Ver- Brandes, Wilhelm: Von Storm und Raabe. In: Blätter für lite-
nunft selbst und ihre »Destruktion christlicher Glau- rarische Unterhaltung, Nr. 51 (20.12.1888), 805–809.
benshoffnung« ursächlich sieht für das zurückkehren- Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor
Storm. Berlin 2010.
de »Grauen vor dem Unheimlichen« (Demandt 2010, Eversberg, Gerd (Hg.): Der Schimmelreiter. Novelle von Theo-
248). Storms Novelle leiste in diesem Sinne »Aufklä- dor Storm. Historisch-kritische Edition. Berlin 2014.
rung für Aufklärer über das Nicht-Aufzuklärende« Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart 1997.
(ebd., 194 ff.), obgleich sie dies im Rahmen einer »von Findlay, Ian: Myth and Redemption in Th. Storm’s »Der
theologischen Denkmustern imprägnierte[n] Anti- Schimmelreiter«. In: Papers on Language and Literature 11
(1975), 397–403.
Theologie« tut (ebd., 210).
Freund, Winfried: Theodor Storm. Stuttgart 1987.
Genealogie und Geschlecht markieren einen weite- Freund, Winfried: Heros oder Dämon? Theodor Storm:
ren Schwerpunkt der jüngeren Storm-Forschung. »Der Schimmelreiter« (1888)«. In: ders. (Hg.): Deutsche
Schon Segeberg weist auf den anfänglichen »Ge- Novellen: Von der Klassik bis zur Gegenwart. München
schlechterkampf« zwischen Hauke und Elke und ihre 1993, 187–198.
beiden kontrastierten Ausprägungen technischer Ra- Frühwald, Wolfgang: Hauke Haien, der Rechner: Mythos
und Technikglaube in Theodor Storms Novelle »Der
tionalität als ›Rechner‹ hin (Segeberg 1987, 79). Roeb- Schimmelreiter«. In: Jürgen Brummack et al. (Hg.): Litera-
ling untersucht den (zuvor bereits von Fasold 1997, turwissenschaft und Geistesgeschichte: Festschrift für Ri-
154 ff. benannten) Konnex von ›Natur(geheimnis)‹ chard Brinkmann. Tübingen 1981, 438–457.
und bedrohlichem ›Weiblichen‹ und ›Mütterlichen‹. Harnischfeger, Johannes: Modernisierung und Teufelspakt:
So wie das dargestellte männliche Kulturmodell im Die Funktion des Dämonischen in Theodor Storms
»Schimmelreiter«. In: STSG 49 (2000), 23–44.
Schimmelreiter das Weibliche und die lebendige Natur
Hermand, Jost: Hauke Haien. Kritik oder Ideal des gründer-
ausgrenze, so versuche andererseits der Novellentext zeitlichen Übermenschen?. In: Wirkendes Wort 15 (1965),
dies nicht nur als eine »Verarmung und gesamtgesell- 40–50.
schaftliche Fehlentwicklung« darzustellen, sondern Hoffmann, Volker: Theodor Storm: »Der Schimmelreiter«.
diesem Defizit zugleich durch ›erinnerndes Erzählen‹ Eine Teufelspaktgeschichte als realistische Lebens-
entgegenzuwirken (Roebling 2000, 214). Mit Kittstein geschichte. In: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhun-
derts, Bd. 2. Stuttgart 1990, 333–370.
ließe sich dem entgegenhalten, dass dieses Erzählen
Jeß, Hartwig: Theodor Storm. Sein Leben und sein Schaffen.
jedoch selbst wiederum als dominant männlich mar- Berlin et al. 1917.
kierter Verschriftungsakt auftritt, welcher der weibli- Kittstein, Ulrich: »...was ist das mit dem Schimmelreiter?«.
chen als mündlicher Erzählrede kontrastiert (und da- Geschichten vom Fortschritt in Theodor Storms letzter
durch ihr als Modus übergeordnet) wird (vgl. Kittstein Novelle. In: Ulrich Kittstein/Stefani Kugler (Hg.): Poeti-
2007, 279; bereits Plöschberger 1998, 261, markiert sche Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus.
Würzburg 2007, 273–288.
die mündliche Schulmeistererzählung als eine, die Laage, Karl Ernst: Der ursprüngliche Schluß der Stormschen
»die Elaboration des Schriftlichen zur unabdingbaren »Schimmelreiter«-Novelle. Eine Neuentdeckung. In:
Voraussetzung hat«). Steins literaturpsychologische STSG 30 (1981), 57–68.
Analyse der Generationen- und Geschlechterkonflik- Laage, Karl Ernst: Die Beziehung Storms zu seinem »Schim-
te in Storms Schimmelreiter rückt hingegen Angst, melreiter«-Berater Christian Eckermann und dessen Fa-
milie (mit unveröffentlichten Briefen). In: STSG 49 (2000),
Kränkung und Traumatisierung Haukes als Antriebs-
45–63.
gründe einer angestrebten psychischen Selbststabili- Loeb, Ernst: Faust ohne Transzendenz: Theodor Storms
sierung in den Mittelpunkt, die unter den gegebenen »Schimmelreiter«. In: Erich Hofacker/Liselotte Dieck-
sozialen Bedingungen aber weder »intrafamiliär« mann (Hg.): Studies in Germanic Languages and Literatu-
noch »auf gesellschaftlichen ›Schlacht‹-Feldern« ge- res: In Memory of Fred O. Nolte. St. Louis 1963, 121–132.
lingen kann und Hauke schließlich in die Flucht, »in Mann, Thomas: Theodor Storm. In: Friedrich Düsel (Hg.):
Theodor Storm: Sämtliche Werke, Bd. 1. Berlin 1930,
die unendliche Regression« seines Wassertods, trei- 7–26.
ben (Stein 2006, 257 f.). Meier, Albert: »Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?«
Die Subversion des Realismus in Theodor Storms »Der
Literatur Schimmelreiter«. In: Hans Krah/Claus-Michael Ort (Hg.):
Arndt, Christiane: Abschied von der Wirklichkeit. Probleme Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirk-
bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen lite- lichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Mari-
rarischen Realismus. Freiburg i. Br. 2009. anne Wünsch. Kiel 2002, 167–179.
Blödorn, Andreas: Vom Erzählen erzählen: Storms »Schim- Meyer, Ingo: Im »Banne der Wirklichkeit«? Studien zum Pro-
melreiter«. In: Der Deutschunterricht 55 (2005), 8–17. blem des deutschen Realismus und seinen narrativ-sym-
bolistischen Strategien. Würzburg 2009.
74 »Der Schimmelreiter« 259

Necker, Moritz: Posthuma. In: Die Grenzboten, Nr. 48 Silz, Walter: Theodor Storms »Schimmelreiter«. In: STSG 4
(1889), 82–88. (1955), 9–30.
Ort, Claus-Michael: Zeichen und Zeit. Probleme des literari- Stein, Malte: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologi-
schen Realismus. Tübingen 1998. sche Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt
Peischl, Margaret T.: Das Dämonische im Werk Theodor im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.
Storms. Frankfurt a. M./Bern 1983. Strowick, Elisabeth: »Und schon konnte ich nicht mehr mit
Plöschberger, Doris: »... und niemandem ... durfte er davon Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen.« Erosion
reden!« Zur Problematik der Überlieferung in Theodor der Wahrnehmung in Theodor Storms »Der Schimmelrei-
Storms »Der Schimmelreiter«. In: Sprachkunst 29 (1998), ter«. In: Christiane Arndt/Silke Brodersen (Hg.): Organis-
249–268. mus und Gesellschaft. Der Körper in der deutschsprachigen
Remer, Paul: Theodor Storm als norddeutscher Dichter. Ber- Literatur des Realismus (1830–1930). Bielefeld 2011, 93–
lin 1897. 121.
Roebling, Irmgard: »Von Menschentragik und wildem Na- Strowick, Elisabeth/Vedder, Ulrike (Hg.): Wirklichkeit und
turgeheimnis«. Die Thematisierung von Natur und Weib- Wahrnehmung: Neue Perspektiven auf Theodor Storm.
lichkeit in »Der Schimmelreiter«. In: Gerd Eversberg/ Da- Bern 2013.
vid Jackson/Eckart Pastor (Hg.): Stormlektüren. Festschrift Stuckert, Franz: Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt.
für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, Bremen 1955.
183–214. Theisohn, Philipp: »Der Schimmelreiter«: Gespenstisches
Schütze, Paul: Theodor Storm. Sein Leben und seine Dich- Erzählen. In: Christoph Deupmann (Hg.): Theodor Storm:
tung, Berlin 1887. Novellen. Stuttgart 2008, 104–125.
Segeberg, Harro: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Wehl, Feodor: Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens und
Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. und Schaffens. Altona 1888.
frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987. Wittmann, Lothar: Theodor Storm: »Der Schimmelreiter«.
Segeberg, Harro: Literatur im technischen Zeitalter: Von der In: Heinrich Gaese et al. (Hg.): Deutsche Novellen des
Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ers- 19. Jahrhunderts. Interpretationen zu Storm und Keller.
ten Weltkriegs. Darmstadt 1997. Frankfurt a. M. 1961, 50–92.

Andreas Blödorn / Marianne Wünsch


E Weitere Prosaarbeiten

75 »Celeste« (publ. 1988) Deutung


Entstehung
Die recht schwülstige, mit Adjektiven überladene
Die als »Phantasie« untertitelte Prosaskizze Celeste Sprache hat wenig mit der indirekten, sparsamen und
wurde erstmals 1988 von Dieter Lohmeier in LL 4 detailgenauen Darstellungsweise zu tun, die den poe-
veröffentlicht. Sie galt einige Zeit lang als Storms erste tischen und psychologischen Realismus des reifen
literarische Erzählung überhaupt, bis Gerd Eversberg Storm auszeichnen. Trotz dieser literarischen Schwä-
2005 im Storm-Nachlass auf den bereits 1835 erschie- che ist die frühe Prosaskizze von einigem Interesse,
nenen Jahrmarktsbericht »Etwas über die Süderstap- denn der Autor spielt hier Phantasien durch, die sich
ler Marktnacht vom 22. April d. J.« (vgl. Eversberg auch in seinen späteren Novellen und Erzählungen bis
2005, 27–37) stieß. Für eine genaue Datierung der hin ins Alterswerk immer wieder als Subtexte finden,
Prosaskizze gibt es keine Anhaltspunkte in anderen dort aber stärker camoufliert sind. Dabei handelt es
Quellen. Während Lohmeier aufgrund des Papierfor- sich zum einen um Phantasmen, die um die Motive
mats und des Schriftduktus die Entstehungszeit auf der Geschwisterliebe, der Kindsbraut und des von der
die Jahre um 1840 ansetzt (vgl. LL 4, 748), datiert Außenwelt abgeschlossenen paradiesischen Ortes
Eversberg die kleine Erzählung wegen ihrer motivi- kreisen, zum anderen um die Angstfantasie einer töd-
schen Verwandtschaft mit den Gedichten Mein schö- lichen Bedrohung durch wilde und feindselige Natur-
nes Wunderland und Träumerei auf Storms Lübecker kräfte. Dass die Insel hier gleichermaßen auf den locus
Zeit (Herbst 1835–1837; vgl. Eversberg 2007, 59). amoenus wie auf den locus terribilis verweist, begrün-
Eversberg weist auch auf die Quelle hin, nämlich Bür- det sich aus der unaufhebbaren Ambivalenz, die den
gers Gedicht Die Königin von Golkonde (1794), des- libidinösen Regungen des Ich-Erzählers innewohnt.
sen Eingangsvers »Ich überlasse mich, o Feder, dei- Das schöne Mädchen Celeste ist ein reines Phan-
nen Grillen« Storm seiner »Phantasie« als Motto vo- tasiegeschöpf, sie entspricht ganz dem Typus einer
ranstellte. Stormschen Kindsbraut. Zart, hilflos und unschuldig,
mit kleinen Händen, blauen Augen und »rosigen
Wangen« (LL 4, 265), welche aufgrund des Unglücks
Inhalt
»bleich geworden [waren] wie die Blätter der Lilie«
In der als Traum inszenierten Erzählung befindet sich (265), spricht sie ihren männlichen Begleiter mit
der junge Erzähler mit seiner Begleiterin Celeste in- »dem Ausdrucke des heiligsten Vertrauens« (266) als
folge eines Schiffbruchs allein auf einer exotischen In- ihren Bruder an. Auf der »blühenden Insel« (265), die
sel. Nachdem er dem Mädchen zunächst eine ge- mit ihren märchenhaften Pflanzen und Tieren zu-
schwisterliche Beziehung als Grundlage für ihr weite- nächst durchaus Züge eines ursprünglichen Paradie-
res Leben in völliger Abgeschiedenheit vorgeschlagen ses trägt, sind die beiden allein, »abgeschlossen von al-
hat, wird er bereits während der ersten Nacht von im- len übrigen Menschen der Erde« (265), sozusagen, wie
mer heftigeren sexuellen Empfindungen gepeinigt. es in der späten Novelle Schweigen heißt, »in der Ein-
Der hieraus resultierende innere Kampf führt schließ- samkeit des ersten Menschenpaares« (LL 3, 141). Da
lich zu seinem Erwachen. die Unschuld integraler Bestandteil dieser Paradies-
vorstellung ist, der Erzähler sein Begehren nach einer
erotischen Begegnung mit seiner Begleiterin aber
kaum im Zaume halten kann, bietet er ihr zunächst
ein Bruder-Schwester-Verhältnis an, das ihn in die

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_75, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
75 »Celeste« (publ. 1988) 261

Rolle des Vertrauten und Beschützers bringt. Doch die – überaus präsent. Dem schiffbrüchigen Pseudo-Ge-
Beschwörung der Unschuld durch immer neue Be- schwisterpaar ist der Weg zur »freundliche[n] Hei-
nennungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass mat« abgeschnitten, denn dazwischen liegt das »dunk-
die reißenden Tiere nichts anderes als das sexuelle Be- le, unermessliche[ ]« Meer mit seinen »treulosen Wel-
gehren symbolisieren, gegen die die selbstgewählte len« (265). Wie die »freundliche Heimat« auf das Bild
Bruder-Schwester-Idylle zu verteidigen ist. Allerdings der guten Mutter verweist, die für etwas nunmehr Un-
ist diese schon von vornherein unverkennbar erotisch erreichbares und Unwiederbringliches steht, so kon-
aufgeladen, woraus der Erzähler auch gar keinen Hehl notiert das stürmische Meer die »treulose«, also die
macht, gesteht er doch gleich zu Beginn, dass nur sein versagende Mutter, die die »schwankende Brücke«
Mund Celeste gefragt hat, ob sie seine Schwester sein (265) zwischen den Kindern und der guten Mutter
wolle; sein Herz aber spreche: »Celeste, Celeste, sei zum Zerschellen brachte, was auf den Untergang einer
mein Weib!« (LL 4, 266). Als die jungfräuliche Ge- vermeintlich glücklichen frühen Mutter-Kind-Sym-
fährtin dann im Duft der Geißblattranken, einem von biose hindeutet und deren Ersatz durch einen Bezie-
Storm auch später mehrmals verwendeten Symbol für hungsmodus, der von unsicheren Gefühlen und feh-
sinnliche Liebe (vgl. etwa in Aquis submersus, LL 2, lendem Vertrauen geprägt ist. Dementsprechend in-
411; Ein Fest auf Haderslevhuus, LL 3, 411; Ein Doppel- terpretiert Regina Fasold die hier dargestellte inzes-
gänger, LL 3, 518 f. und 578 f.), neben ihm einschläft tuöse Liebe als Ausdruck eines Wunsches »nach
und im Traume seinen Namen stammelt, stimmen ewiger Infantilität im mütterlichen Bezirk« (Fasold
nicht von ungefähr die Hyänen ihr Geheul an. Denn 1997, 15).
genau an dieser Stelle droht die scheinbar auf Keusch- Der Verlust einer bergenden und verlässlichen
heit gegründete Geschwisterfantasie umzuschlagen in Mutter stürzte die Kinder in eine lebensbedrohende
ein nicht mehr zu unterdrückendes Verlangen, das der Notsituation, in der sie nun aneinander den Verlust
Ich-Erzähler nun nicht nur bei sich selbst, sondern kompensieren müssen. Zieht man an dieser Stelle
auch bei der Schlafenden spürt. Dieser Umschlag Freuds Melancholie-Theorie heran, so erscheint die
wurde zuvor durch zahlreiche erotisch konnotierte Kindsbraut Celeste für den träumend fantasierenden
Naturbilder, die den Celeste zugeschriebenen Attribu- Ich-Erzähler als Substitut einer in früher Kindheit ver-
ten von Reinheit und Unschuld entgegenstehen, vor- lorenen, jedoch nie gänzlich aufgegebenen guten Mut-
bereitet: die Wellen, die »züchtig Celestens zarten ter, mit der sich der kleine Junge identifiziert hat, um
Fuß« (LL 4, 265) küssen (man kennt den Fußfetischis- sein schwesterliches Spiegelbild so lieben zu können,
mus aus späteren Storm-Novellen wie Auf der Univer- wie er selbst von der Mutter geliebt werden möchte.
sität und Der Herr Etatsrat); die Dämmerungsfalter, Auf diese Weise wird eine Fusion mit einem das eigene
die sich »im süßen Duft der Blütenkelche« berau- Selbst spiegelnden Objekt im anderen Geschlecht an-
schen; die Vögel, die »ihr süßverstecktes Nest« (266) gestrebt. Diese narzisstische Phantasie wird in Celeste
suchen usw. Die zunehmende Erotisierung der Situa- bis zur gemeinsamen Rückkehr in den Uterus fort-
tion hebt aber nicht die zuvor festgelegte Beziehungs- getrieben: »Laß uns zurückgehn; es wird schon spät,
definition als ›Geschwister‹ auf, sondern verbindet mein guter Bruder!« (LL 4, 266), schlägt Celeste ihm
sich mit ihr zu einer inzestuösen Fusionsfantasie. Die- vor, bevor sie sich in die moosbestandene Grotte mit
se wird paradoxerweise durch die gegenüber den ihrer engen, fast verschließbaren Mündung begeben.
Raubtieren gemeinsam eingenommene Abwehrhal- In diesem Moment scheint der Bann der Mutter ge-
tung noch verstärkt, da die beiden Liebenden sich in brochen. Die Libido des männlichen Helden hat sich
der Folge noch enger zusammenschließen, so dass von ihr abgelöst, sich dabei scheinbar desexualisiert
sich die nach außen projizierte Bedrohung wieder ins und auf die Schwester gerichtet. Doch bereits hier ge-
Intrapsychische zurückwendet. Als schließlich »der rät das kaum entstandene Gleichgewicht wieder ins
Hauch ihres Mundes über [s]eine glühenden Wangen Wanken, und zwar aus mehreren Gründen. Zum ei-
strömt[ ]« (267), kann sich der Held aus diesem Kampf nen ist, wie bereits gezeigt, die geschwisterliche Bezie-
zwischen »Himmel und Hölle« (268) nur noch durch hung keineswegs so keusch, wie es ständig beschwo-
Aufwachen retten. ren wird, sondern hochgradig erotisiert. Zweitens
Wie in vielen Erzählungen Storms das Kindsbraut- bleibt die Kindsbraut nicht ewig ein »die Geschlech-
phantasma mit der Abwehr einer bedrohlichen Müt- terdifferenz kurzschließendes [...] Übergangswesen
terlichkeit verbunden wird, so ist auch in Celeste die [...] an der Schwelle zwischen Kind und Frau« (Wetzel
Mutterimago – wenn auch nicht auf der Figurenebene 1999, 72). Wird sie aber erst zur Frau und möglicher-
262 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

weise selbst zur Mutter, dann ist sie für das unreife raffinierteren »Erotisierung des ›Kindes‹« führten
männliche Selbst verloren, das außerstande ist, eine (ebd., 74). Eversberg arbeitet die Zusammenhänge mit
erwachsene Mann-Frau-Beziehung auf Augenhöhe Bürgers Verspos Die Königin von Golkonde heraus, in
einzugehen, welche sowohl die Anerkennung sexuel- dem sich die beiden Liebenden ebenfalls zunächst mit
ler Differenz voraussetzt als auch die Bereitschaft, der ›Bruder‹ und ›Schwester‹ anreden. Storm entferne
Partnerin eine gewisse Autonomie zuzugestehen und sich aber grundlegend von dieser Vorlage, »indem er
sie nicht permanent unter Kontrolle halten zu wollen. aus der spielerisch-galanten erotischen Episode einen
Und drittens wird die Beziehung zur Kindsbraut von ernst gemeinten Konflikt zwischen Seelenliebe und
der Mutterimago heimgesucht, denn sie basiert ja auf Sexualität konstruiert« und »die Angst vor der Gewalt
einer melancholischen Fixierung an die Mutter mit der Sinnlichkeit« in den Mittelpunkt stellt (Eversberg
dem Ziel, das verlorene Objekt durch seine Verinner- 2007, 41). Während Storm in diesem frühen Prosatext
lichung zu bewahren. noch ganz den Konventionen früherer Epochen, vom
Rokoko bis zum Biedermeier, verhaftet sei, durchbre-
che er, so Eversberg, auf inhaltlicher Ebene jedoch be-
Forschung
reits diese Konventionen, insofern er die Verwirk-
Die Erzählung ist bisher in der Forschung nur wenig lichung verbotener Begierden einfordere.
beachtet worden. Die oben ausgeführte literaturpsy-
chologische Interpretation ist bereits in nuce in Regi- Literatur
na Fasolds Storm-Monographie im Kapitel über Ber- Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
tha von Buchan, um deren Liebe Storm zur Entste- Ende der Romantik. Heide 2011.
Eversberg, Gerd: Neues zu Storms frühen Schreibexperi-
hungszeit des Textes warb, enthalten (vgl. Fasold 1997, menten. Mit den frühesten Briefen Storms und einem bis-
14 f.). Zusammenhänge zwischen Celeste und späteren her unbekannten Prosatext aus dem Jahre 1835. In:
Storm-Erzählungen, die den Konflikt zwischen ge- STSG 54 (2005), 26–63.
schwisterlicher und erotischer Liebe behandeln, ar- Eversberg, Gerd: »Bürgers trunkene Liebesphantasie«.
beitet Fasold in ihrem Aufsatz »Geschwisterliebe und Theodor Storm und Gottfried August Bürger. In: Storm-
Blätter aus Heiligenstadt (2007), 29–61; zu »Celeste«: 35–
Heimatsehnsucht in Texten Theodor Storms« detail-
42.
liert heraus (vgl. Fasold 2000, 12–30). Biographische Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart 1997.
Bezüge zu Storms unerfüllten Sehnsüchten während Fasold, Regina: Geschwisterliebe und Heimatsehnsucht in
der Bertha-Episode nimmt Detering in den Blick, der Texten Theodor Storms. In: Storm-Blätter aus Heiligen-
im Übrigen Celeste als eine »noch ganz unbeholfene[ ] stadt (2000), 12–30.
und literarisch misslungene[ ] [...] erotische Knaben- Neumann, Christian: »Meine Augen waren nur auf dich ge-
richtet!« Kindsbräute und missbrauchte Kinder in Theo-
phantasie« (Detering 2011, 37 f.) einstuft. Er betont
dor Storms Prosa. In: Malte Stein/Regina Fasold/Heinrich
den kindlichen Charakter der Celeste-Figur – der Text Detering (Hg): Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantas-
sei »im Blick auf ein zehn-, allenfalls vierzehnjähriges ma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Berlin
Kind« geschrieben worden – und betrachtet Celeste als 2010, 73–111; zu »Celeste«: 76–81.
Prätext zu Immensee, wo die »Ambivalenz von Ge- Wetzel, Michael: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der
schwisterlichkeit und Geschlechtsbeziehung« und die Goethezeit. München 1999.
»Sexualisierung der Landschaft« zu einer ungleich Christian Neumann
76 Aus dem »Volksbuch« (1844–51) 263

76 Aus dem »Volksbuch« (1844–51) Inhalts, die unter Sammelüberschriften ohne Auto-
rennamen als »Mitgetheilt« bezeichnet sind, sowie ne-
Als Theodor Storm seine juristischen Studien an der ben den Gedichten auch eine Reihe von plattdeut-
Kieler Universität beendete, verabredete man im dor- schen Versen und Sinnsprüchen, die ohne Verfasser-
tigen Freundeskreis, dem auch der Historiker Theo- angabe abgedruckt wurden.
dor Mommsen angehörte, Anekdoten, Sagen, Mär-
chen, Schwänke, Lieder und Sprichwörter aus der Verzeichnis der Texte Theodor Storms (Gedichte
Heimat zu sammeln. Zur gleichen Zeit plante der in sind mit (G) markiert):
Friedrichstadt wirkende Lehrer und Publizist Karl Volksbuch für das Jahr 1844, mit besonderer Rück-
Leonhard Biernatzki die Herausgabe eines Volksbuchs sicht auf die Herzogthümer Schleswig, Holstein und
für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauen- Lauenburg, hg. v. K(arl) L(eonhard) Biernatzki.
burg, das jährlich erscheinen sollte und für das er Ma- Altona 1843:
terial aus den Herzogtümern suchte, unter anderem • Sprichwörter in plattdeutscher Sprache (mit
auch »heimische Sagen, kurze historische, landwirth- Theodor Mommsen), Sprichwörter, Schles-
schaftliche Miscellen, Sinnsprüche, Wortspiele und wig-Holsteinische Sagen (mit Theodor
dergleichen mehr«, wie aus einer gedruckten Ankün- Mommsen), Die Herrgottskinder (G), Platt-
digung vom Februar 1843 hervorgeht. Man beschloss, deutsche Reime (mit Theodor Mommsen).
eine Auswahl von Sagen, die Theodor Mommsen und Im Jahrgang 1845 sind keine Texte von Storm ent-
Theodor Storm zur Sammlung beigetragen hatten, zu- halten.
sammen mit einem Vorwort, das einen Aufruf zur Volksbuch auf das Jahr 1846 für die Herzogthümer
Mitarbeit enthielt, unter dem Titel Schleswig-Holstein- Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. v. K(arl)
sche Sagen zu veröffentlichen. L(eonhard) Biernatzki. Altona 1845:
Das Volksbuch für das Jahr 1844 wurde im Septem- • (im Kalendarium) Volksreime (G), En Stück-
ber 1843 fertiggestellt und ausgeliefert; es enthält ne- schen ut de Muuskist (G), Das Kind im Bette
ben der Einleitung elf Sagen und eine Reihe von (G), Kranzwinden (G), Wie munter die Ähren
Sprichwörtern und Versen, die in vier Text-Komple- sich regen (G), Weihnachten (G); (im redak-
xen über den Band verstreut sind. tionellen Teil) En Döntje, Schneewittchen, Ge-
Als die Sagensammlung, zu der Storm selbst mehr schichten aus der Tonne, Der Bau der Marien-
als einhundert Texte beisteuerte, unter der redaktio- kirche zu Lübeck (G); Vaterländische Sagen
nellen Leitung des Germanisten Karl Müllenhoff 1845 und Geschichten (Das Wunderhorn, Die Roß-
in Buchform erschien, hatte Storm in der Zwischenzeit trappe, Der Doctor Jacob, Die nächtliche Ge-
bereits weitere Sagen, aber auch andere kurze Erzäh- sellschaft auf dem Flensburger Landtage, Die
lungen schwankhaften und humoristischen Charak- Glocke); Im Frühling (G), Aus Großkrähwin-
ters sowie Skizzen mit historischem Inhalt zusammen- kel (G).
getragen. Außerdem verfügte er über eine Reihe von Volksbuch für das Jahr 1847, mit besonderer Rück-
kulturhistorischen Exzerpten unterschiedlichen In- sicht auf die Herzogthümer Schleswig, Holstein und
halts, die er aus Lexika, nordfriesischen Chroniken so- Lauenburg, hg. v. K(arl) L(eonhard) Biernatzki.
wie aus anderen Büchern des 17. Jahrhunderts heraus- Altona 1846:
geschrieben hatte, die aber zum Teil nicht in das Kon- • (im Kalendarium) Weihnachtslied (G); (im
zept einer Sagensammlung passten bzw. auf die er erst redaktionellen Teil) Vaterländische Anekdo-
nach Abschluss der Drucklegung der Sagen aus Schles- ten, Sagen und Geschichten (Der bekehrte Har-
wig-Holstein gestoßen war. Neben Gedichten entstan- desvogt, Der Griper und sein Herr, Der offen-
den nun auch erste Prosaskizzen und Schwänke, für herzige Polizeimeister, Das theure Zeugniß,
deren Veröffentlichung sich die Volksbücher anboten. Hartnäckige Vertheidigung, Der Geisterseher,
So hat Storm für die Jahrgänge 1844–1851 des Das Wunderkind).
Volksbuchs insgesamt mehr als zwanzig Gedichte bei- Volksbuch auf das Schalt-Jahr 1848 für Schleswig,
getragen; außerdem schickte er an Biernatzki eine Rei- Holstein und Lauenburg, hg. v. Karl Biernatzki. Al-
he von Sagen sowie seine ersten längeren Erzählungen tona (1847):
Marthe und ihre Uhr, Im Saal, Immensee und Stein und • (im Kalendarium) O wär’ im Februar doch
Rose (später Hinzelmeier). In den Jahrgängen 1846– auch (G), Und aus der Erde schauet nur (G),
1851 finden wir jeweils kleinere Beiträge historischen Die Kinder schreien Vivat hoch (G), Und sind

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_76, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
264 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

die Blumen abgeblüht (G), Schon in’s Land der Nach Reisegesprächen (G), Der kleine Häwel-
Pyramiden (G); (im redaktionellen Teil) Ab- mann. Ein Kindermärchen, Einer Todten (G),
seits (G), Marthe und ihre Uhr, Gesegnete Immensee, Oktoberlied (G).
Mahlzeit (G). Volksbuch auf das Jahr 1851 für Schleswig, Holstein
Volksbuch auf das Jahr 1849 für Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. v. Karl Biernatzki. Altona
und Lauenburg, hg. v. Karl Biernatzki. Altona (1850):
(1848): • (im redaktionellen Teil) Waldweg (G), Stein
• (im Kalendarium) Im Winde wehn die Lin- und Rose. Ein Märchen.
denzweige (G), Wer rechtzeitig erndten will
(G), Die Kränze, die du dir als Kind gebunden Literatur
(G), Die Sense rauscht, die Ähre fällt (G), Die Müller, Lothar: Neues zu den frühen Gedichtveröffent-
verehrlichen Jungens, welche für dieses Jahr lichungen Theodor Storms. In: STSG 41 (1992), 31–44.
Eversberg, Gerd: Storms erste Gedichtveröffentlichungen.
(G); (im redaktionellen Teil) An der Westküs- In: STSG 41 (1992), 45–49.
te (Auf dem Deich, Morgane) (G); Züge aus Eversberg, Gerd: Einige bisher Storm nicht zugeschriebene
unserem vaterländischen Volksleben (Der Pro- Sagen und Geschichtserzählungen. In: STSG 43 (1994),
zeß, Die Dorfcomödie, Der Sturm von 1799, 75–95.
Weshalb sie den Nachtwächter nicht begraben Eversberg, Gerd: Theodor Storm. Anekdoten, Märchen, Sa-
gen, Sprichwörter und Reime aus Schleswig-Holstein. Texte,
wollten [Auch eine Dorfgeschichte]); Von Kat-
Entstehungsgeschichte, Quellen. Unter Berücksichtigung der
zen (G), Die alten Möbeln (G). von Theodor Mommsen beigetragenen Sagen nach den
Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein Handschriften und Erstdrucken. Heide 2005.
und Lauenburg, hg. v. Karl Biernatzki. Altona Eversberg, Gerd: Theodor Storm als Schüler. Mit vier Prosa-
(1849): texten und den Gedichten von 1833 bis 1837 sowie sechs
• (im Kalendarium) Frühlingsankunft (G), Briefen. Heide 2006.
Morgengruß (G); (im redaktionellen Teil) Gerd Eversberg
77 »Zerstreute Kapitel« (1871/72) 265

77 »Zerstreute Kapitel« (1871/72) Zunächst erscheinen die Zerstreuten Kapitel – ohne Be-
titelung und Unterscheidung von Ober- und Unter-
Entstehung
kapiteln, sondern jeweils nur durch den Zwischentitel
Bei den Zerstreuten Kapiteln handelt es sich um das »Kapitel X« gegliedert – in Westermann’s Illustrirten
einzige Werk, das Storm von Anfang an als einen grö- Deutschen Monatsheften zwischen Februar 1871 und
ßeren Erzählkomplex avisiert hat. Seine Entstehung Februar 1872 in drei Folgen, beginnend mit (um die
verdankt der Komplex einer Krisis. Im Januar 1870 späteren Titel hier einzuführen) Der Amtschirurgus –
schreibt Storm an seinen Sohn Ernst, dass sein Ver- Heimkehr, gefolgt von Zwei Kuchenesser der alten Zeit
leger mit Blick auf die Zweitauflage der Gesammelten und Eine Halligfahrt, abgeschlossen durch Wie den al-
Schriften »neue Novellen« gewünscht habe, »die ich ten Husumern der Teufel und der Henker zu schaffen ge-
nicht liefern kann« (Storm–E.Storm, 52). Seit 1867, macht. Letzteres wurde nur an dieser Stelle veröffent-
dem Jahr der Entstehung von In St. Jürgen und Eine licht. 1873 erfolgte dann die erste Buchausgabe im Ver-
Malerarbeit, stockt Storms literarische Produktion, lag der Gebrüder Paetel (Westermann hatte eine Sepa-
wofür sich private (die Zäsur der sich schwierig anlas- ratausgabe abgelehnt, vgl. GB 2, 115) mit einer leicht
senden zweiten Ehe) wie politische Gründe (die Ent- erweiterten Fassung des Amtschirurgus, der Hallig-
täuschung der liberalen Hoffnungen nach dem An- fahrt, den Neuen Fiedel-Liedern, der Novelle Draußen
schluss der Herzogtümer Schleswig und Holstein an im Heidedorf (bereits 1872 in Julius Rodenbergs Salon
Preußen) finden ließen. Unabhängig davon liegt für Literatur, Kunst und Gesellschaft publiziert) und
Storms Problem in der ihm scheinbar unverfügbar ge- den Zwei Kuchenessern, wobei zwischen den Amtschi-
wordenen ›geschlossenen Form‹. Einen Ausweg eröff- rurgus und die Halligfahrt noch einige bislang unver-
net ihm der sich wandelnde Literaturbetrieb (vgl. öffentlichte Gedichte Storms eingeschoben wurden.
Jackson 2000, 124 f.), der nun immer stärker durch die Im Herbst 1873 erscheint Von heut’ und ehedem als
literarischen Zeitschriften geprägt wird und kleinere Fortsetzung der Zerstreuten Kapitel in Westermann’s Il-
Erzählformen begünstigt. Die Zerstreuten Kapitel be- lustrirten Deutschen Monatsheften. Für die Aufnahme
dienen just dieses Marksegment: Geschrieben werden der Zerstreuten Kapitel in die 1877 erschienene zweite
sie für den seriellen Abdruck in Zeitschriften. Zu- Serie seiner Schriften arbeitete Storm das Korpus dann
gleich suggeriert die Bezeichnung ›Kapitel‹ die Exis- abermals um: Die Gedichte wurden herausgenommen,
tenz einer größeren – ideell wie auch immer zu kon- Eine Halligfahrt und Draußen im Heidedorf den Novel-
kretisierenden – Einheit und hält dem Verfasser die len zugeschlagen, Wie den alten Husumern der Teufel
Möglichkeit einer späteren Buchausgabe offen. und der Henker zu schaffen gemacht weggelassen. Hin-
Erstmals erwähnt in einem Brief an seinen Sohn zu kamen dafür die 1873 bzw. 1877 gedruckten »Ge-
Ernst aus dem April 1870 (Storm–E.Storm, 57), prägt denkblätter« Lena Wies sowie Von Kindern und Katzen,
die Zerstreuten Kapitel ihr – auch in Storms Wahrneh- und wie sie Nine begruben. Die folgenden Ausführun-
mung – von Anfang an ungeklärter Status. Im Schrei- gen orientieren sich an dieser Letztfassung, versuchen
ben an Mörike vom 10.11.1870 nennt Storm sie »noch gleichwohl das Ensemble der mit den Zerstreuten Kapi-
so einen Krautsalat: ›Zerstreute Kapitel aus der grauen teln verbundenen Texte in den Blick zu nehmen.
Stadt am Meer‹ [...]; aber das ist nicht Dichtung allein;
sondern ›Wahrheit und Dichtung‹« (Storm–Mörike,
Inhalt
77). Gegenüber Karl Theodor Pyl präzisiert er mit Blick
auf das geplante Werk, dass »Jugenderinnerungen des »Der Amtschirurgus – Heimkehr«
Verfassers seinen Inhalt bilden, d. h. in poetischer Frei- Die wunderliche, auf einer realen Vorlage beruhende
heit verwertet« (GB 2, 28); an anderer Stelle räumt Gestalt des »Amtschirurgus« (vgl. Storm–E.Storm,
Storm freilich ein, dass diese Zwischenstellung der 64), von der Husumer Bevölkerung für einen Narren
Textsorte, »die Composition, die Verbindung des Me- gehalten, verbindet die zwei Teile der Erzählung. De-
moirenartigen mit dem frei Phantasirten [...] sich in ren erster erinnert die Primanerrede »Mattathias, Be-
der Ausführung so schwierig [erweist] daß ich oft ver- freier der Juden«, die der junge Storm im Rathaussaal
zweifle« (Storm–E.Storm, 61). Neben der Frage des gehalten hat, über welchem der Amtschirurgus mit
Genres und des Verhältnisses von Poesie und Autobio- seinen Ratten wohnte (und den der Erzähler dort auch
graphie wird das Problem der ›Zerstreuung‹, der Kohä- einst besucht hat). Der zweite Teil wiederum sieht den
renz der Einzeltexte im Laufe der Publikations- aus Heiligenstadt zurückgekehrten Storm der 1860er
geschichte des Textes augenfällig (vgl. LL 4, 658–664). die Gräber verstorbener Jugendfreunde auf dem Hu-

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266 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

sumer Kirchhof suchen, auf dem auch der Amtschi- gestanden wurde« (218), beschreibt der Text zwei
rurgus begraben liegt. durch die Konsumation von Kuchen in ihrer gesell-
schaftlichen Devianz gekennzeichnete Figuren: den
»Lena Wies« »Onkel Hahnekamm« und den ›Ratsverwandten‹
Das Gedenkblatt erinnert die Bäckerstochter Lena Quanzfelder. Während der erste – der seinen Namen
Wies – mit bürgerlichem Namen Sophia Magdalena einem Toupet verdankt – dabei auch als eine ge-
Jürgens –, in deren Familie Storm schon als Knabe schlechtlich ambivalente Gestalt erscheint (er erinnert
Hausgast war und die ihm vor allem als Erzählerin den Erzähler an eine »verstorbene Tante«, 218), wird
plattdeutscher Geschichten im Gedächtnis geblieben der zweite zu einer unheimlichen, im Hoffmannschen
ist. Gewürdigt wird Lena Wies aber auch als regulative Sinne ›serapiontischen‹ Figur stilisiert (224), deren
Instanz der Sittlichkeit, die in der Stadtgemeinschaft Gier nach Süßspeisen sie monströs verzerrt, ent-
bis ins Alter hinein ordnend wirkt. menschlicht.

»Von heut’ und ehedem« »Von Kindern und Katzen, und wie sie Nine
Im Zentrum der in vier Kapitel unterteilten Erzählung begruben«
steht die Imagination der jungen Liebe von Storms Der kleine Text, der dem Tierhaushalt Storms gewid-
Großeltern mütterlicherseits. Nach der kurzen Schil- met ist, vertieft einerseits das Familienleben Storms in
derung der Zugreise nach Hamburg und einer sich mit Heiligenstadt, das sich über die Präsenz der Tiere als
der Zugfahrt verbindenden Anekdote über einen ›klas- Versuch einer Restitution der mit dem Weggang aus
senbewussten‹ Offizier (die auf ein wahres Erlebnis Husum verlorengegangenen Ordnung entziffert. An-
Constanze Storms zurückgeht, vgl. GB 2, 141) bildet dererseits rückt hierbei das zunächst mit einem Pa-
ein Beisammensein im Haus des Hamburger Kauf- pierkater gespielte, später dann am Hasen »Nine«
manns Jonas Scherff und dessen Frau Friederike, einer wirklich vollzogene Tierbegräbnis in den Vorder-
Cousine von Storms Mutter, den Rahmen der hinter grund. Über die kindliche Auseinandersetzung mit
das Erleben des Erzähler-Ichs zurückreichenden Er- dem Tod und dem Akt des ›Begrabens‹ ergibt sich
innerung. Die literarische Phantasie sucht dabei zu- hierbei die thematische Verbindung zu den anderen
nächst ein Treffen von Husumer Honoratioren, der Kapiteln.
»Vereinigten freundschaftlichen Gesellschaft« (vgl.
Schmidt 1953) im Haus von Storms Urgroßvater Joa- »Wie den alten Husumern der Teufel und der
chim Christian Feddersen auf, an dem auch Friedrich Henker zu schaffen gemacht«
Woldsen, der Vater seines Großvaters Simon Woldsen Wenn Storm diesen Text nie in eine Buchausgabe auf-
teilnimmt. Dieser überreicht der Tochter des Hauses, genommen hat, dann hat dies seine Gründe in dessen
Magdalena Feddersen, einen Brief ihres Verlobten, sei- eher dokumentarischem Charakter. Im Bemühen da-
nes Sohnes, der »zu seiner kaufmännischen Ausbil- rum, das Ausmaß der okkult-magischen Glaubens-
dung die Handelsstädte Frankreichs« bereist (LL 4, schichten und ihrer alltagspraktischen Auswirkungen
205). Das Schreiben führt die junge Frau in ihr künfti- in der jüngeren Geschichte Husums transparent zu
ges Heim in der Husumer Hohlen Gasse, das in Abwe- machen, werden – teils mit ausführlicher Zitation – im
senheit des Geliebten noch von dessen Schwester be- Wesentlichen vier lokale Autoren referenziert: Johann
wirtschaftet wird, mit der gemeinsam sie den Brief aus Melchior Kraffts Ein zweifaches zweihundertjähriges
der Ferne liest. Das letzte Kapitel zeigt das Haus der Jubelgedächtnis (1723), Petrus Goldschmidts Höl-
Großeltern schließlich in der Erinnerung des jugend- lischer Morpheus (1704), Augustus Gieses Weh-schrei-
lichen Storms. Das diesem Haus eingeschriebene Fa- ender Stein (1687) und Martin Holmers Feur Predigt
milienleben hat sich in eine Gemeinschaft der Toten (1669). Erklärt werden sollen im Rückgriff auf diese
verwandelt, mit denen die verwitwete Großmutter lebt Schriften »Szenen und Gestalten, welche nur möglich
und die sie – gemeinsam mit dem Erzähler – in der Fa- waren, so lange die abstrakte Lebensauffassung der
miliengruft aufsucht. Jetztzeit den derb sinnlichen Zug des Mittelalters nicht
völlig verdrängt hatte« (LL 4, 232). Storm skizziert hier
»Zwei Kuchenesser der alten Zeit« somit eine Denktradition des schleswig-holsteini-
Ausgehend von der Beobachtung, dass das überall schen Obskurantismus, die insbesondere für das no-
verbreitete Kuchenessen »in unserer Jugend [...] für vellistische Spätwerk eine strukturelle Bedeutung be-
ganz unmännlich galt und lediglich den Frauen zu- sitzt und in Petrus Goldschmidt – der in der 1878 er-
77 »Zerstreute Kapitel« (1871/72) 267

schienenen Novelle Renate seinen Auftritt hat – auch Hörern auf« (179). Bedenkt man, dass diese Erzählerin
gestalthaft wird. Jenseits der okkulten Thematik spricht in ihrem Gedenkblatt als die wahre Lehrerin Storms
für die Einbindung des Textes in den Rahmen der Zer- berufen wird, der er nicht nur den Stoff seiner bedeu-
streuten Kapitel insbesondere die Verhandlung der tendsten Novelle, die »Sage von dem gespenstischen
Angst vor einer ›Ansteckung‹ mit dem Tod, wie sie Schimmelreiter« (179) zuschreibt, sondern von der er
Gieses Schrift ausführlich am Beispiel des »Ehrlich- auch selbst behauptet, ihm die »Kunst des Erzählens«
keitsfanatismus« (244), der noch den Kontakt mit dem (180) nahegebracht zu haben, so lässt sich durchaus er-
toten Scharfrichter zur Schande erklärt, illustriert. wägen, ob und inwiefern man es hier zugleich mit ei-
ner Allegorie der Stormschen Poetik zu tun hat.
Tatsächlich – und das würde für diese Überlegung
Deutung
sprechen – lässt sich konstatieren, dass das Verhältnis
Die Interpretation der Zerstreuten Kapitel als Werk dieses ›Erzählens aus der Tiefe‹ zu seiner Erfinderin
steht und fällt natürlich mit der Textauswahl, die man kein unmittelbares, sondern ein durch den Tod gebro-
der Deutung zugrunde legt. Insofern es sich nicht um chenes Verhältnis ist. An die Erzählungen der Lena
einen durchkomponierten Zyklus handelt, sondern Wies kann der sich ihrer Erinnernde nicht mehr ohne
um eine Gruppe von Texten, deren Entstehungskon- weiteres anknüpfen, sie wiedergeben oder sich mit ih-
text und -zeitraum zum Teil stark divergiert, wird man nen zusammenschließen. Die lebendige Mündlichkeit
mit totalisierenden Thesen vorsichtig sein müssen. ist nur noch zugänglich über »die Inschrift auf ihrem
Bisweilen erhellen sich Konstellationen und Themen- Grabkreuze«, eine sie adressierende und zugleich ver-
felder auch und gerade mit Blick auf Texte, die nicht stellende Schriftlichkeit, in der sich die Zerstreuten
oder nicht mehr dem Zyklus angehören. So spricht si- Kapitel bewegen. »Auch hier singen dann die Grillen;
cher einiges dafür, Von heut’ und ehedem in Verbin- aber es sind nicht die Heimchen des häuslichen Her-
dung mit der zeitgleich entstandenen Novelle Beim des, und Geschichten werden bei ihrem Gesange nicht
Vetter Christian zu lesen – und der Einschluss von Ei- erzählt« (185). Freilich werden am Grab und gerade
ne Halligfahrt in den Deutungshorizont führt eben- am Grab dann eben doch Geschichten erzählt; aber
falls, wie das David A. Jacksons Lektüre beweist (Jack- diese Geschichten entstehen nicht mehr aus einem
son 2000), zu deutlichen Akzentverschiebungen. In- ›Naturton‹ heraus, sondern beruhen von Anfang an
dessen soll an dieser Stelle versucht werden, Storms fi- auf dem Entzogen-Sein des Begrabenen. (Dement-
nale Auswahl ernst zu nehmen und insbesondere die sprechend ist es nur konsequent, wenn die Schimmel-
kleineren Kapitel nicht nur als »Füllsel« (ebd., 43) von reiter-Sage weder im Gedenkblatt ausgeführt, noch –
scheinbar minderer Qualität zu betrachten. in der Umkehrung – in der Schimmelreiter-Novelle
Das thematische Band, welches die einzelnen Kapi- ihr mündlicher Ursprung bei Lena Wies bestätigt
tel verknüpft, ist die Wiederkehr der Vergangenen in wird.) Es handelt sich um Versuche der schriftlichen
der poetischen Reminiszenz. Das Erzählen avanciert Wiederbelebung toter Stimmen, und die Zerstreuten
hierbei zu einem Akt der Transformation des Toten ins Kapitel lassen sich vor diesem Hintergrund auch als
Lebendige. Nicht von ungefähr entschuldigt sich der ein nekromantisches Laboratorium verstehen.
Erzähler in Von heut’ und ehedem dafür, »ein unge- So erhält in diesem Horizont auch eine unschein-
wandter Nekromant«  zu sein (LL 4, 217). Die Be- bare Memoire wie Von Kindern und Katzen, und wie
schwörung der Toten aus ihren Gräbern ist eine Kon- sie Nine begruben ihre Bedeutung. Begreift man Lena
stante der Zerstreuten Kapitel – und es handelt sich kei- Wies als das poetologische Zentrum der Zerstreuten
neswegs nur um eine motivische, sondern auch um ei- Kapitel, so findet sich hier ihre Didaxe. Eingeübt wird
ne poetologische Konstante. Der Gang über den ein Verhältnis zu den Toten, erst am begrabenen – und
Kirchhof (in Der Amtschirurgus – Heimkehr) oder das dann wieder ausgegrabenen – ›alten Herrn‹ aus Pa-
Herabsteigen in die Familiengruft, das dann sogar mit pier, sodann im Begräbnis des Hasen Nine. Das auf
einem Öffnen der Särge und dem Küssen eines Kin- den ersten Blick verstörende Moment, nämlich der
derschädels endet (in Von heut’ und ehedem), korres- »erlösende[] Zauber« (229), der im Begraben liegt
pondieren motivisch mit einem Erzählverfahren, als und der den Kindern am Ende ein »vergnügliche[s]
dessen Meisterin die ebenfalls aus ihrem »engen Kirch- Begräbnis« (231) bereitet, entziffert sich dabei als eine
hofsgrab« erweckte Lena Wies fungiert. »Alles erhielt schöpferische Energie, die erst durch den Tod freige-
in ihrem Munde sein eigentümliches Gepräge und setzt werden kann und sich metonymisch zum Ver-
stieg, wie aus geheimnisvoller Tiefe, leibhaftig vor den storbenen verhält, die Erinnerung an ihn unmerklich
268 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

verschiebt und auf einem angrenzenden Feld poetisch deine Zaubergläser sein Bild an der grauen Wand er-
sich entfaltet. Das Begräbnis, das Anfertigen und Aus- scheinen lassen« (224) nicht nur auf Hoffmanns er-
kleiden des Sarges, das Polieren des Tiergrabs – all zählerische Größe, sondern auch auf das Verschwin-
dies übersetzt das vergangene Leben in ästhetisch- den der Distinktion zwischen Erinnerungsbild und
kreative Tätigkeit und in dieser bleibt es aufgespei- dem Referenzhorizont der Gegenwart.
chert. Hierin aber verhält sich das Begräbnis analog Bei genauer Lektüre ergibt sich hierbei auch eine
zum Erzählen über den Gräbern, insofern es den To- Verbindung zur Erzählung vom Amtschirurgus, der
ten einerseits Zeichen stiftet, andererseits aber die Er- ebenfalls nicht nur als skurriles Original, sondern
innerung an die Lebenden notwendig ›poetisieren‹, ebenso als Sachwalter einer vergangenen, ›perversen‹
verschieben muss. (Und Storms eingangs erwähnte und gerade darin erinnerungsfähigen Ordnung agiert.
Charakterisierung der Zerstreuten Kapitel als »in poe- So kehren Hoffmanns ›geheimnisvoll glühende Far-
tischer Freiheit« verwertete Jugenderinnerungen im- ben‹ in den »hübschen Bilderbogen« wieder, die die
pliziert genau dies.) Wände des Bretterverschlags bekleiden, hinter dem
Ein Effekt dieser Verschiebung ist die Annäherung der Amtschirurgus haust und von denen jeder »vor
an Hoffmanns ›serapiontisches Prinzip‹, das am Ende der Erfindung des Steindrucks [...] ein illuminierter
der Zwei Kuchenesser der alten Zeit beschworen wird Kupferstich und zum mindesten ein halbes Kunst-
(224). Schon Ingrid Schuster (1970, 216) hat darauf werk« war (163). Unter ihnen hervorgehoben wird da-
aufmerksam gemacht, dass der explizite Rückgriff auf bei der »berühmte[] Bilderbogen von der verkehrten
Hoffmann die Verwandlung der erinnerten Personen Welt« (ebd.) – und so wird auch in diesem Fall sugge-
in »spukhafte Träume« einschließt und dass das sera- riert, dass das Verhältnis der erzählend erinnerten
piontische Erzählen seinen Reiz gerade aus der ver- Vergangenheit zu der sie ›bunt‹ erinnernden Gegen-
zerrten Wiederkehr verlorener Figuren zieht. Im Falle wart strukturell durch eine ›Inversion‹ bestimmt wird,
der »Kuchenesser« erklären sich hieraus aber nicht dass also ›Erinnern‹ immer auch zwangsläufig ›Ver-
nur die dämonisch-hybriden Gestalten des Onkel kehren‹ bedeutet.
Hahnekamm und des Ratsverwandten Quantzfelder Die Zerstreuten Kapitel werden somit als eine Ver-
(dessen historisches Modell wohl den Nachnamen suchsanordnung lesbar, in welcher die dem Tod abge-
Hauberger trug; vgl. Storm–E. Storm, 113). Die vom rungene ›poetische Freiheit‹ immer wieder von neuem
Erzähler an Hoffmann gerichtete Klage, »weshalb Bilder der Vergangenheit erstehen lässt, Bilder, die zu-
schlägt nicht mehr die Stunde deiner Serapionsaben- gleich aber verraten, dass diese Vergangenheit erzäh-
de, auf daß ich dir diesen Kuchenesser der alten Zeit lerisch nicht wieder eingeholt werden kann, sondern
überliefern könnte« (LL 4, 224), gibt den Blick zu- eben Faktur der Gegenwart bleiben muss. Die ›Über-
gleich frei auf ein (literar-)historisches Problem: So, griffigkeit‹ dieses Verfahrens zeigt sich am deutlichsten
wie Lena Wies’ Erzählkunst mit ihr ins Grab gegangen am Beispiel der Großmutter in Von heut’ und ehedem,
ist, so ist auch das Hoffmannsche Erzählmodell dem die »für unsere, der Jüngeren, Anschauung weit aus ei-
Realismus entzogen und kann gleichfalls nur als nander liegende Zeiten und Personen verwechselte«
›Spukgestalt‹ aufgerufen werden, die ihre Wirkung (216). Wenn der Erzähler ihr in diesem Zusammen-
nur noch mittelbar entfalten kann. Den Grund für das hang den Rat, »Gebrauch doch unser junges Gedächt-
Verschwinden des serapiontischen Prinzips gibt die nis« (217), gegeben haben will, dann geht es dabei nur
Erzählung gleich mit an: Das, was einer älteren Zeit vordergründig um die Wiederherstellung einer ›kor-
noch als Verkörperung eines Verdrängten erscheint – rekten‹ Chronologie. In Wahrheit befolgt die Groß-
ein Verlangen, das seine Träger effeminiert, wo nicht mutter diesen Rat gerade in der Verwechslung, indem
entmenschlicht –, ist einer späteren Zeit nur noch als sie nämlich das Skelett ihres im Kindesalter verstorbe-
gesellschaftliche Norm erkennbar. Storms »Kuchenes- nen Sohnes Simon mit einer Kindheitserinnerung ih-
ser« enttarnen diese Norm (»Denker, Dichter und res Enkels Theodor verknüpft (216), das mit letzterem
Helden, Alles ißt jetzt Kuchen«, 218) als eine vormali- verknüpfte Bildreservoir somit ›gebraucht‹, um den
ge Perversion, deren Ausbreitung sich der Lehre »des Toten wieder als Schatten lebendig werden zu lassen.
Verfassers der Urhygiene«, dem norddeutschen Wan- Erinnerungsarbeit steht folglich immer auch für
derprediger und Gesundheitsapostel Ernst Mahner, ein Tauschgeschäft: Die Toten sind das Medium,
verdankt. So zielt der dem Vater der Serapionsbrüder durch welches hindurch eine vergangene Welt imagi-
hinterhergerufene Lobpreis »In welch’ wunderbaren, niert werden kann, umgekehrt stiften die Erinnern-
geheimnisvoll glühenden Farben würdest du durch den den Toten die Bilder ihres eigenen Lebens. Dem
77 »Zerstreute Kapitel« (1871/72) 269

gegenüber steht der sogenannte »Ehrlichkeitsfanatis- zu Storms letztem Werkabschnitt. Nicht von ungefähr
mus« (244), den der Husumer Stadtsekretär Augustus entstehen diese Texte, so lose sie auch miteinander ver-
Giese in seinem Weh-schreienden Stein (1687) schil- knüpft sein mögen, alle im Bewusstsein einer fun-
dert und den Storms Wie den alten Husumern der Teu- damentalen Zäsur, aus einer Perspektive des privaten
fel und der Henker zu schaffen gemacht ausführlich re- Verlustes heraus und nicht zuletzt im Angesicht der
feriert. Die Abscheu vor den »unehrlichen Leuten« prekären politischen Verhältnisse, der preußischen
entpuppt sich dabei als die Angst vor der Kontamina- Annexion Schleswig-Holsteins, als deren allegorische
tion mit dem Tod, die man dem Amt und der Person Kritik David A. Jackson den Amtschirurgus wie die
des Scharfrichters und des Abdeckers überlassen Halligfahrt gelesen hat (Jackson 2000). Indessen ist es
möchte, die dadurch wiederum mitsamt ihren Ange- die in ihnen zutage beförderte Konstellation eines Er-
hörigen zu einer Kaste von Unberührbaren werden. zählens ›vom Tode her‹, die für Storms Spätwerk von
Gilt Gieses Interesse noch ganz ungebrochen den so- Bedeutung bleiben wird, die Zerstreuten Kapitel über
zialen Verwerfungen und der Rechtsproblematik, die den Rang eines nicht zu Ende geführten Schreibexperi-
aus dem Irrglauben resultieren, so erhalten seine Aus- ments erhebt und sie vielmehr als die notwendige
führungen im Kontext der Zerstreuten Kapitel eine Grundlage der großen Novellen der 1870er und 80er
weiterreichende Bedeutung: Die Weigerung, den Fa- Jahre erkennbar werden lässt.
milien der Henker und Abdecker bei Begräbnis oder
Geburt beizustehen, entziffert sich als ein Verkennen Literatur
des Umstandes, dass es ein Leben ohne den Zusam- Jackson, David A.: Theodor Storms »Zerstreute Kapitel«. In:
menschluss mit den Toten nicht geben kann und sich Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 3
(2000), 123–143.
dieser Kontakt somit auch nicht delegieren lässt. Vor Schmidt, Harry: Theodor Storm und die Vereinigte freund-
allem aber: Ein Erzählen nach Maßgabe der Zerstreu- schaftliche Gesellschaft. In: STSG 2 (1953), 52–68.
ten Kapitel ist nur im Stande der ›Unehrlichkeit‹, in Schuster, Ingrid: Theodor Storm und E. T. A. Hoffmann. In:
der steten Verhandlung mit den Toten möglich. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 11 (1970), 209–223.
Die Zerstreuten Kapitel bilden somit auch eine – not-
Philipp Theisohn
wendige – narratologische Reflexion auf der Schwelle
270 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

78 »Geschichten aus der Tonne« ten Spinnfrauen gegen den auf seinen ökonomischen
(1845) Nutzen fixierten Bräutigam; Se dohn sick wat to gude
setzt der Lästerei zweier Frauen die rohe, strafende
Gewalt des Ehemanns entgegen; in »Dree to Bedd«
Entstehung
schließlich vertreibt eine alte Frau unwillentlich drei
Das kleine Erzählstück entstand offensichtlich im Diebe. Auffällig ist dabei die durchgängige Über-
Kontext der von Karl Müllenhoff herausgegebenen höhung der weiblichen Figuren zu Instanzen, die im
Anthologie Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthü- Verborgenen schicksalhaft wirken. Den drei Spinn-
mer Schleswig, Holstein und Lauenburg (Kiel 1845), an frauen (zu deren mythologischer Verwandtschaft
der Storm gemeinsam mit Theodor und Tycho eben auch die Nornen gehören) korrespondieren in
Mommsen seit 1842 gearbeitet hatte. Die erste der drei der zweiten Erzählung Frau Marthe und »Fru Na-
Binnenerzählungen hat Storm Theodor Mommsen of- versch«, die gemeinsam auf dem Dachboden in ihrem
fenbar erfolglos zur Aufnahme in die Sammlung vor- Gerede »die ganze Stadt« verschlingen (LL 4, 275).
geschlagen (Storm–Mommsen 48); die letzte Erzäh- Das alte Weib der letzten Erzählung wird wiederum
lung findet sich in einer niederdeutschen Fassung tat- mit dem »bös’ Gewissen« enggeführt, das ihr die
sächlich auch dann bei Müllenhoff (Müllenhoff 1845, Macht verleiht, den Gewissensträger »mit der Nacht-
464 f.). Erschienen sind die Geschichten aus der Tonne mütze durch’s Schlüsselloch [zu] jagen« (ebd., 278).
– datiert »Husum 1844« – in Biernatzkis Volksbuch auf Die ersten beiden Geschichten assoziieren mit die-
das Jahr 1846 für Schleswig, Holstein und Lauenburg. ser Partizipation am verborgenen Wissen auch die
Für die 1875 erschienene zweite Auflage seiner Drei monströse Verwandlung resp. die Entmenschlichung
Märchen (Die Regentrude, Bulemanns Haus und Der der Frau: Die Spinnfrauen werden durch ihre »Miß-
Spiegel des Cyprianus) hat Storm sowohl den Titel als gestaltungen« gekennzeichnet, auch Marthe und ihre
auch Teile der Rahmenerzählung ein zweites Mal ver- Nachbarin durchlaufen eine Dämonisierung: Men-
wendet. schen vertilgend »schmatzten sie mit den Lippen und
die Zungen gingen ihnen wie zwei Messerspitzen, und
ihre Augen wurden immer brennender und gieriger«
Inhalt und Deutung
(ebd., 275). Ganz offensichtlich handelt es sich um die
Bei den Geschichten aus der Tonne handelt es sich um Vorstellung eines regressiven Erzählens, in dem Spre-
drei durch einen Erzählrahmen verknüpfte Klein- chen und Essen eins werden; ein Akt des Kannibalis-
erzählungen unterschiedlichen Charakters. Am An- mus, der durch den eintretenden Schuster unterbro-
fang steht Das Märchen von den drei Spinnfrauen, das chen und sanktioniert wird. Der narrativen, unter-
eine Variante des in der Grimmschen Märchensamm- schiedslosen Einverleibung der Stadt und ihrer Be-
lung vorhandenen Die drei Spinnerinnen ist – zugleich wohner durch die Frauen (»Väter, Mütter, Bräute,
handelt es sich just um das Märchen, das später Rein- Kinder, alle mußten herhalten, kaum die Wiegenkin-
hardt in Immensee (1850) »stecken lassen« muss (LL 1, der blieben verschont«, ebd.) setzt der Mann dabei
297). Dem folgen die beiden ›Döntjes‹ Se dohn sick wat nicht nur körperliche Gewalt, sondern zugleich auch
to gude und »Dree to Bedd«. Die Geschichten verbin- das Prinzip der Unterscheidung entgegen, indem er
det die Verhandlung geschlechtlicher Machtverhält- seine Schläge wieder den beiden Geschlechtern zu-
nisse. Zum Ersten gilt das auf der Ebene der Text- weist (»Dat is för Hans und dat is för Greth, und dat is
genealogie: Der erste Text, das Märchen, schreibt der för Greth und dat för Hans«, ebd., 276). Sichtbar wird
Kamerad des Ich-Erzählers, Claas Räuber, einer weib- in diesem Vorgang das Perhorreszieren der weibli-
lichen Erzähltradition zu, handelt es sich doch um ein chen Rede als wirklichkeitssubvertierendem (und
»ganz altes Stück [...] [›] das meiner Großmutter schon eben auch wirklichkeitsverschlingendem) Prinzip,
von ihrer Urgroßmutter erzählt ist« (LL 4, 270). Dem- von dem her der patriarchalen Geschlechterordnung
gegenüber verdanken sich die beiden anderen Texte ihre Auflösung droht. Zugleich tritt dabei zutage, dass
dem Erzählfundus des Vaters und werden auch aus die Legitimationsgrundlage dieser Ordnung längst
dessen Position heraus nachträglich kommentiert. brüchig geworden ist. Wenn der Vater Claas Räubers
Zum Zweiten aber wird der Geschlechterkonflikt auch die Züchtigung seiner Frau mit dem Hinweis rechtfer-
auf der Inhaltsebene fortgeschrieben: Das Märchen tigt, »das sei nach dem jütschen Lov« (ebd.), rekurriert
inszeniert ein strategisches Bündnis zwischen dem er auf ein Recht, das zwar zum Zeitpunkt der Abfas-
heiratswilligen Dienstmädchen Marie und den drei al- sung der Geschichten aus der Tonne zwar noch in den

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_78, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
78 »Geschichten aus der Tonne« (1845) 271

Herzogtümern Schleswig und Holstein Gültigkeit be- chen, zum anderen aber auf der Erzählerebene auch
sitzt, aber schon längst in seinem Anachronismus und die hieraus resultierenden Ordnungskonflikte reflek-
in seiner Unzulänglichkeit erkannt ist und dement- tieren. Wenn Claas als Quintessenz des Märchens die
sprechend stets durch Hilfsrechte abgestützt werden Sentenz seiner Mutter anführt, »das müsse eine
muss (s. Kap. II.9). schlechte Frau sein, die ihrem Mann nicht einmal was
Tatsächlich widerspiegelt die Rahmenerzählung vormachen könne« (LL 4, 274), dann zielt das direkt
ebendiese Konstellation. Auch dort wird ein unmittel- auf die weibliche Fiktionalisierung der Wirklichkeit,
barer Zusammenhang zwischen der Situierung der Er- die Errichtung des Scheins über dem Sein – gegen die
zählgemeinschaft im Verborgenen und der Wirkungs- sich der Ich-Erzähler verwahrt haben will. Der Folge-
macht des Erzählens hergestellt. »Je heimlicher aber text erscheint sodann als der brutale Versuch, ebenje-
und verborgner wir unseren Märchensaal aufgeschla- nem (in der patriarchalen Erzähltradition zur Bedro-
gen hatten, desto schöner hörten sich die Geschichten hung stilisierten) weiblichem Erzählen Einhalt zu ge-
an, desto lebendiger traten all’ die wunderlichen und bieten, ehe das letzte ›Döntje‹ die Wirksamkeit der
süßen Gestalten [...] vor unsere Phantasie; ja ich er- Frauenrede als einen Zufallseffekt, der seinen Ur-
innere mich, daß wir einmal bei einer solchen Gelegen- sprung im männlichen »Gewissen« hat, zu entlarven
heit ganz deutlich den Niß-Puck aus einer Dachöff- versucht.
nung in meines Vaters Scheune herausgucken sahen« Trotz aller Heterogenität des ursprünglichen Text-
(ebd., 269). Erst das Dunkel der Tonne ermöglicht die korpus ist somit zu konstatieren, dass die Geschichten
Poiesis und so, wie Vorbeigehende »ein dumpfes Ge- aus der Tonne allemal einen erhellenden Blick auf die
murmel aus der alten Tonne aufsteigen hörten und ein- Entwicklung der Stormschen Geschlechterpoetik er-
zelne verlorene Lichtstrahlen daraus hervorschim- möglichen. In ihrer Komposition entziffern sie sich als
mern sahen« (ebd., 270), so erzeugt das verborgene Er- – nicht naiver, sondern reflexiv gebrochener – Ab-
zählen eine zweite, imaginäre Wirklichkeit. wehrversuch gegenüber einer weiblich-imaginären
Diese Zeugung aus der Tiefe wird anderthalb Jahr- Redeordnung, die erst ausgestellt, dann bekämpft und
zehnte später Johann Jakob Bachofen im athenischen schließlich entzaubert werden soll. Zugleich aber blei-
Mütterkult ausfindig machen, wo sie den weiblichen ben die Erzähler in der Tonne dem Imaginären ver-
Personifikationen der chthonischen Urkraft zu- pflichtet – und unterlaufen somit die von ihnen kol-
geschrieben wird, die Leben und Tod, Gebären und portierte Moral.
Verzehren in sich vereint (Bachofen 1948, 194 f.). Oh-
ne dem Anachronismus zu verfallen lässt sich für Literatur
Storm zumindest konstatieren, dass die »Geschichten Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Erste Hälfte. In:
aus der Tonne« zum einen Figuren hervorbringen, die ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Karl Meuli. Zweiter Band.
Basel 1948.
sowohl physiognomisch wie funktional dem von
Bachofen exhumierten Typus der ›Urmütter‹ entspre- Philipp Theisohn
272 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

79 Fragmente renzieren (LL 4, 948). Der zweifellos biografische In-


halt bildet nur die Basis einer poetischen Verhandlung
79.1 »Beroliniana« (1838) der literarischen Vorbilder.

Storm widmet seine wohl früheste erhaltene Prosa-


skizze Beroliniana den Husumer Schulfreunden Carl 79.2 »Im Korn« (1862)
Friedrich Krebs und Albrecht Klander und betont da-
mit den biografischen Ansatz des 1838 entstandenen Die wohl von einer Zeitungsmeldung angestoßene Er-
Erzählfragments. In sechs kurzen Kapiteln entwickelt zählung Im Korn ist Gegenstand eines mittlerweile
der zuerst in den Sämtlichen Werken publizierte Text verlorenen Briefes an Constanze vom 28.6.1862
(LL 4, 448–466) die Ankunft des deutlich autofiktional (Storm 1915, 124 f.). Storm greift das Thema 1882 in
gezeichneten »Studiosus Nordheim« in Berlin. Der einer kurzen Notiz wieder auf (LL 4, 519), verfertigt
sprechende Name der Hauptfigur deutet auf die hand- jedoch keine weiteren Entwürfe.
lungstragende Alteritätserfahrung des von »der grau- Der projektierte Text orientiert sich an Berthold
en Nordsee« (448) stammenden Studenten hin. Die Auerbachs Roman Joseph im Schnee (1860), geht aber,
für Stormsche Verhältnisse ungewöhnlich humoris- Storms eigener Ansicht nach (286), konzeptionell da-
tisch angelegte Erzählung bedient sich handfester rüber hinaus. Endet Auerbach mit dem Wiederfin-
Pointen. So macht der von der einfahrenden Kutsche den des auf der Suche nach dem Vater sich im Schnee
aufgewirbelte Staub die Pracht der damaligen Resi- verirrenden Sohnes, findet bei Storm der Gutsherr
denz unsichtbar oder korrigiert ein Kellner »mitlei- sein uneheliches Kind tot im Kornfeld. Die Schuld
dig« die hochdeutsche Aussprache des Wortes »Jur- des Adligen, der die »Tochter des Schullehrers unter
kensalat« (451). Im dritten Kapitel imaginiert Nord- Eheversprechen [verführt]« hat (285), sie dann aber
heim eine Auseinandersetzung mit einem »Wanzen- fallen ließ, vergegenständlicht sich im Schicksal des
könig«, der seine Bettstatt beherrscht (453–457). Hier Kindes, das »in seines Vaters Reichtum« verhungern
wie dort lässt der sprachliche Duktus an Schriften von muss (286).
Jean Paul (etwa Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Lohmeier weist darauf hin, dass Im Korn an die
Flätz, 1808) oder E. T. A. Hoffmann denken, dessen Problematik der dem ersten Entwurf zeitlich nahen
selbstreflexiver Schreibgestus (exemplarisch in Der Novellen Auf der Universität und Im Schloß anknüpft
goldne Topf, 1814) unter anderem in der vom Verfas- (765). Stärker noch als in den genannten Texten kon-
ser annotierten Auslassung des vierten Kapitels hör- zentriert sich die Tragik auf das moralische Versagen
bar wird. Diesen intertextuellen Zusammenhang er- einer definiten Figur und scheint das Hauptaugen-
hellt ausgerechnet ein biografisches Zeugnis, nament- merk, trotz eines angedeuteten Kindsmord-Motivs,
lich die Erinnerung an Ferdinand Röse, welche Storm auf der männlichen Perspektive zu liegen. Die Kritik
1885 anlässlich von Carl Conrad Theodor Litzmanns an der Willkür des Adels ist somit rein gesellschaftlich
Geibel-Biografie verfasst. Die im fünften Kapitel der taxiert und lässt kaum Spielraum für eine individuelle
Beroliniana ausführlich beschriebene »Lustfahrt nach »Herzensbildung« (ebd.).
dem Grunewald« (LL 4, 458) ist in Ferdinand Röse
(441–447) als gemeinsame Unternehmung erwähnt
und erlaubt es, die Figur des »Doktor Antonio« (448) 79.3 »Marie von Lützow« (1884)
mit dem Genannten zu identifizieren. Darüberhinaus
gilt, was Storm über Röses literarisches Werk schreibt, Lohmeier ordnet die undatierte Handschrift aufgrund
gleichermaßen für den fraglichen Text: »[A]uch die des verwendeten Papierformats dem Entstehungszeit-
Bewegung seiner Figuren ist Hoffmannisch, er selbst raum der Florentiner Novelle (1884) zu (LL 4, 767). Es
war eigentlich, als hätte der alte Kammergerichtsrat finden sich, etwa in den Briefen, keine weiteren Zeug-
ihn erfunden« (447). Dass Storm sein (mit ›HTW nisse einer Beschäftigung mit dem Storm »zweiffellos
Storm‹ gezeichnetes) Fragment mit einem Besuch von mündlich mitgeteilt[en]« Stoff (ebd.). Im Zentrum des
Christoph Willibald Glucks Oper Alceste enden lässt, Textes steht die 1848 erfolgte Eroberung Rendsburgs
spielt wohl ebenfalls auf Hoffmann (Ritter Gluck, durch schleswig-holsteinische Freikorps und die da-
1809) an. Dieter Lohmeiers Entscheidung, die »litera- mit verbundene Aufgabe der Festung durch den in dä-
risch belanglos[en]« Beroliniana den »Autobiographi- nischen Diensten stehenden Generalmajor Gotthard
schen Zeugnissen« zuzuordnen, ist demnach zu diffe- von Lützow (1784–1950), dessen Tochter Marie

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79 Fragmente 273

(1823–1893) zur tragischen Figur wird. Fraglich ist, ob che Freundschaften [...] wie ein Minnesänger« besin-
und in welchem Maße Storm der oralen Tradition his- gen lasse (288 f.). Auf der anderen Seite kann Marie,
torische Darstellungen unterlegt, und ob er persönli- nachdem sie sich verlobt hat, der Erzählerin »kein
che Anschauung literarisch verarbeitet. Der Erstdruck Leids mehr tun« (288). Zunehmend erweist sich die
erfolgt in den Sämtlichen Werken (LL 4, 286–290). Exaltiertheit Maries als Ausdruck eines Diskurses um
Das Manuskript deutet eine Rahmenerzählung an: Herkunft und Heimat. So deutet eine bei einem Fest
Eine namenlos bleibende »Dame« erinnert sich an- auftauchenden »Zigeunerin« das Scheitern der Liebe
lässlich eines Gesprächs über »[p]olitische[n] Fanatis- voraus (ebd.) und ist an einer anderen Stelle davon die
mus« an die Geschichte der titelgebenden Marie von Rede, dass Marie sich, als sie ihren Bruder an der Spitze
Lützow und will den Beweis antreten, dass »[d]ie Lie- der Freischärler sieht, wie »Lenore [gebärde]« (289).
be« eben nicht »darüber geh[e]« (286), d. h. keine die Vor allem der Hinweis auf Gottfried August Bürgers
gesellschaftlichen Realitäten aussetzende Kraft habe. Ballade Lenore, die das Paradox eines gemeinsamen
Die Erzählerin berichtet, mit der vier Jahre älteren Lebens im Tode vorstellt, bereitet die Problematisie-
Marie zur Schule gegangen zu sein, und entwickelt ein rung von Zugehörigkeit vor. Maries verstorbene Mut-
von Konkurrenz und Kameradschaft geprägtes Ver- ter ist, wie fast nebenbei erwähnt wird, Dänin, wohin-
hältnis. Die Halbwaise Marie zeichnet sich dabei gegen der Vater dem mecklenburgischen Adel ent-
durch freiheitliches Denken aus: »sie hatte vor nie- stammt (ebd.). Und auch der »Bräutigam hat etwas
mandem Respekt« (287). In der Adoleszenz führt die- Ritterliches, Fremdartiges«; seine Mutter ist »Kreolin«,
ses Verhalten – einige Mädchen um Marie treiben der Vater geflüchtet (»Réfugié«; ebd.). Nicht zuletzt
»spät Abends [...] allerlei Unfug« – beinahe zur Arre- stirbt Maries zweiter Bruder aufgrund schlechter me-
tierung, der die Hauptfigur aber durch Hinweis auf ih- dizinischer Versorgung an durchschossenen Füßen
ren Vater, den Brigadegeneral, entgehen kann (ebd.). und wird – wiederum in diskretem Rekurs auf Bürgers
Dieser Hang zur Insubordination wird mit der nach- Lenore – »in nicht geweihter Erde despektierlich ein-
sichtigen Erziehung des Vaters erklärt, und verschlim- gescharrt« (290), womit die Möglichkeit auch sozialer
mert sich, nachdem ein Bruder (biografisch nicht kor- Mobilität in Abrede gestellt wird. Zwar transzendiert
rekt) an der »Schwindsucht« verstirbt, die er sich – der »allgeliebt[e]« Vater den deutsch-dänischen Kon-
ironischerweise – aufgrund übersteigerten Pflicht- flikt, indem er die moralische Integrität als (auch na-
bewusstseins zuzieht (288). Ungefähr zu dieser Zeit tional) übergeordneten Maßstab verkörpert, doch
verliebt sich Marie in »H.« (das ist der Kriegsgerichts- dringt diese Haltung nicht bis zu seiner Tochter durch,
rat Andreas von Harbou) und plant die Hochzeit; die die zuletzt »eigentümlich sphinxenhaft« schaut (ebd.).
Beziehung steht allerdings im Zeichen des 1846/47 Das (Rahmen-)Thema der Erzählung, also die Frage
aufbrechenden Konflikts. Der auf dänischer Seite ste- nach der den »[p]olitische[n] Fanatismus« überstei-
hende Vater ist nach Aufgabe der Garnison gezwun- gende Liebe, bleibt somit an das Figurenhandeln rück-
gen nach Kopenhagen zu fliehen. Marie geht mit ihm, gebunden (286). Obwohl es Harbou ist, der seine gro-
obwohl ihr Verlobter die Schleswig-Holsteinische Sa- ße Liebe der politischen Idee opfert, wird Maries Un-
che vertritt und in Rendsburg bleibt. Ein Wiedersehen willen (oder Unfähigkeit), sich der Anschauung des
der beiden in Schleswig endet mit der Abreise Har- Verlobten unterzuordnen, zum eigentlich tragischen
bous, der Marie »seine einzige Liebe« nennt, ein Zu- Moment.
sammenleben aber aufgrund der politischen Differen-
zen für unmöglich hält (290).
Im Unterschied zu den anderen nicht ausgeführten 79.4 »Florentiner Novelle« (1884)
Werken lässt sich die Anlage des Textes nur erahnen.
Unklar bleibt zum Beispiel, inwiefern die Rahmen- Von der Arbeit an der Florentiner Novelle ist zuerst in
erzählung inhaltlich funktionalisiert würde. Nach et- einem Brief vom 16.6.1884 an Paul Heyse die Rede.
wa der Hälfte des Manuskripts wird der Vater der Er- Storm bittet darin um Zusendung einer »Art guide
zählerin in Zusammenhang mit Harbou erwähnt; an- über Stadt und Umgebung«, die er zur Ausarbeitung
sonsten scheint die jugendliche Freundin eher als Kon- eines ihm »zugekommenen« Stoffes benötigt, »der in
trastfolie zu Maries eigentümlichem Charakter zu Florenz spielt, nicht zwischen Dortigen, sondern zwi-
dienen. Nach Maßgabe der Erzählerin eignet ihr »et- schen einem Deutschen u. einer Engländerin«
was königlich Nachlässiges« (288) und verfügt sie über (Storm–Heyse III, 82). Tatsächlich verfügt Storm über
ein besonderes Temperament, das sie »leidenschaftli- etwas mehr als den bloßen Stoff, namentlich das Ma-
274 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

nuskript der 1885 in Westermann’s Illustrirten Deut- Grund für den (vollständigen) Abbruch der Arbeit an
schen Monatsheften (Bd. 85, 655–669) veröffentlichten der Novelle (778). Bemerkenswert bleibt, dass das von
und von ihm selbst mit einem Vorwort versehenen Lohmeier bemängelte Fehlen eines novellentypischen
»Geschichte eines faux ménage« des unter dem Pseu- inneren Zwiespalts zwar in der ambigen Anlage der
donym ›G. Dur‹ publizierenden Kellinghusener Au- Charaktere vorgedacht ist, aber nicht auf die Hand-
genarztes Julius Mannhardt. Der Text behandelt das lungsebene gelangt. Der Erzähler gerät gar nicht erst
Schicksal der in einem deutschen Kloster aufgewach- in die Situation, mehr für die Dame zu empfinden:
senen Tochter eines in Indien stationierten britischen »[I]hr wirklich schöner Mund öffnete sich, als wolle er
Offiziers, die nach dem Tod des Vaters als Gesellschaf- Bedeutendes mir verkünden; dann aber schloß er sich
terin nach Italien geht und sich in den Sohn des Hau- doch wieder und die jugendliche, nicht übergroße Ge-
ses verliebt. Mit dem aus Deutschland stammenden stalt erhob sich«, lautet der Schluss des Textes (293).
Erzähler Lothar verbringt die mittlerweile nach Flo- Betrachtet man die Erzählung hingegen nicht als Vor-
renz verschobene Bianka einige unbeschwerte Tage in stufe oder Entwurf, sondern geht von dem vorhande-
›falschem‹ (d. h. vorgetäuschtem) Eheverhältnis. Weil nen Textmaterial aus, ergibt sich eine Reflexion auf
sie aber an der (unerwiderten) Liebe zum Sohn fest- das permanente Aufschieben sprachlicher Bedeutung,
hält, verlässt Lothar sie und erfährt Jahre später von die durchaus für eine dekonstruktivistische Lektüre
ihrem Selbstmord. anschlussfähig wäre.
Storms erstmals in den Sämtlichen Werken ver-
öffentlichter Entwurf beschränkt sich auf die Schil-
derung der Ankunft des Erzählers in Florenz und eine 79.5 »Sylter Novelle« (1887)
Beschreibung der hier namenlosen »Dame«, von der
er wenige Tage später scheidet, ohne ihr Geheimnis ge- Der bereits schwer kranke Storm nimmt im Sommer
lüftet zu haben (LL 4, 291 ff.). Auffallend ist das Bemü- 1887 eine Einladung des Sylter Strandbad-Direktors
hen um narrative Ambiguität. Die skizzierte Rahmen- Julius Pollacsek an, währenddessen ihm der Stoff der
handlung spricht von der »[z]eitweilige[n] Abwesen- Novelle vom ebenfalls auf Sylt urlaubenden Regie-
heit des Erzählers«, den – ähnlich der Exposition von rungspräsidenten Christoph von Tiedemann bei ei-
Immensee – ein visueller Reiz (hier »eine junge Rothaa- nem Spaziergangs (am 14.8.1887) mitgeteilt und zur
rige«) in den Erinnerungsraum führt (291). Gleichzei- freien Verfügung überlassen wird (LL 4, 780). Zusätz-
tig ist der Erzähler, dessen »junge Frau mit ihrem Kin- lich sind Parallelen zu Sagen aus den Sammlungen von
de« bei seinen Eltern weilt und der sich selbst als Karl Müllenhoff (Das Licht der treuen Schwester) und
»Weltfahrer« bezeichnet, innerdiegetisch ganz fak- Christian Peter Hansen (Pidder Lüng, Niß Ipsen, Der
tisch abwesend (ebd.). Die »unzweifelhafte Dame«, der Dikjendälmann, P. C. Lund und Maiken Peter Ohm)
er in der unwirtlich gezeichneten Herberge begegnet, nachweisbar (Laage 2015, 69–76). Storm arbeitet den
ist »nicht eben schön[,] aber von jener Zartheit, welche Entwurf noch während seines Aufenthaltes auf der In-
mit dem rötlichblonden Haar verschwistert ist«; die sel aus, deponiert die entstandenen sechs Oktavseiten
»Schönheit« ihrer Augen kontrastiert einer »lieblichen aber nach seiner Rückkehr im Hademarscher Schreib-
Beklommenheit«, die über ihrem Wesen liegt (ebd.). tisch. Der Erstdruck des wieder aufgefundenen Manu-
Abweichend von Mannhardt, der Bianka als geschwät- skripts wird 1969 durch Clifford Albrecht Bernd und
zig zeichnet, kommt bei Storm keine tiefergehende Karl Ernst Laage besorgt (1969, 41–53).
Unterhaltung zustande, obwohl die Dame mehrere In Auseinandersetzung mit den zahlreichen Quel-
Sprachen fließend spricht und sich vor dem Kamin der len, und vielleicht angeregt durch Gottfried Kellers
Pension zahlreiche Gelegenheiten bieten (292). Im Ge- Erfolgsnovelle, entwickelt Storm eine nordfriesische
genteil ist es ihr Klavierspiel, das den Erzähler berührt, Variante des ›Romeo und Julia‹-Stoffes. Der Konflikt
und zeigt sich die Besonderheit der Figur durch non- zwischen einem strandraubenden Sylter, dessen »ein-
verbale Kommunikationsakte: »[E]s war die Anmut zige Tochter von einem dänischen See-Offizier [...]
ihrer Bewegung, ihrer Hände, und wenn sie nur ein verführt« wurde und »im Wochenbett« verstarb, und
Salzfaß damit faßte, und endlich ihre Augen; wenn sie einem vom dänischen König eingesetzten »energi-
einen mit gutem Sinn ansah, es war doch immer, als schen Landvogt« verlagert sich auf die Ebene der
wenn sie Gnaden austeilte« (ebd.). nachfolgenden Generation (LL 4, 294). Lars, der
Lohmeier vermutet in diesen beiden Änderungen – »schön[e], stark[e]« Enkel des »alten Sylters« begeg-
Storms Held ist verheiratet, die Dame wortkarg – den net der ebenfalls schönen und starken Tochter des
79 Fragmente 275

Landvogts (Friederica bzw. ›Fritze‹) auf dem Jahr- den Zeit betäuben [könne]« (Bernd/Laage 1969, 51).
markt (ebd.). Versuche, den »auf der Insel [verrufe- Die raumsemantische Analyse offenbart demgegen-
nen]« Jungen wegzujagen, scheitern; erst als das Mäd- über ein sorgfältig austariertes Beziehungsgeflecht,
chen ihn »mit ihren kleinen festen Händen [...] packt, das den ursprünglichen Gegensatz zwischen dem
kommt es wie Lähmung über ihn, sie wirft ihn und (städtischen) Ort der exekutiven Gewalt und dem
setzt ihren Fuß auf seinen Nacken« (ebd.). Dieser (auch rechtlichen) Zwischenraum der Dünen in Rich-
Erstkontakt präfiguriert die Handlung, insofern der tung Letzterer verschiebt. Der den Text beschließende
für den Entwurf zentrale Gegensatz von Kraft und Irrsinn der weiblichen Hauptfigur deutet so auf eine
Macht eingeführt und an eine topologische Ordnung Fundamentalkritik stratifikatorischer Gesellschafts-
(oben/unten, Stadt/Küste) rückgebunden wird. Als ordnungen hin.
die Tochter des Landvogts kurz darauf in die Dünen
geht und den alten Sylter trifft, hebt Lars das auf der
Flucht gestürzte Mädchen auf und trägt es heim. Diese 79.6 »Die Armesünder-Glocke« (1888)
Erfahrung sät »Zwiespalt bei ihr, wer der Mächtigste«
und führt aufseiten Lars’ zum Vorhaben, sich durch Nach Abschluss des Schimmelreiters im Februar 1888
Arbeit auf See ehrlich zu machen (295). Seine nach wendet sich Storm einem Stoff zu, dessen »Keim wäh-
zwei Jahren erfolgende Rückkehr auf die Insel steht je- rend [s]einer Krankheit [im Winter 1886/87] in [s]eine
doch im Zeichen einer vom Landvogt arrangierten Seele fiel«, wie er Erich Schmidt kurz darauf brieflich
Hochzeit Friedericas; Lars »wirft« seinen Nebenbuh- mitteilt (Storm–Schmidt II, 146). Die thematische Re-
ler »über den Zaun« (ebd.). Eine darauf folgende cherche zu der ursprünglich »Armesünder-Glöcklein«
»Brautnacht in den Dünen« wird von beiden als mo- (ebd.) benannten Geschichte gestaltet sich schwierig.
ralische Grenzüberschreitung empfunden (ebd.). Ein von Schmidt empfohlenes Buch von Hans Otte
Friederica fordert von Lars »nie wiederzukommen, sie (Glockenkunde, Leipzig 1858) erweist sich als wenig
nie wiederzusehen« und lässt die Hochzeit aufgrund brauchbar. Die schließlich von Ferdinand Tönnies bei-
des »Zwiespalt[s] in ihr, [...] schon mit einem Ehe- gebrachten Unterlagen aus der Preußischen Staats-
bruch in die Ehe« zu treten, platzen (ebd.). Als ihre bibliothek beantwortet der schwer erkrankte Storm be-
Schwangerschaft sichtbar wird, verstößt sie der Vater; reits mit dem Hinweis, die »Arbeit ruh[e] wie für im-
sie findet Obdach beim alten Sylter, der eine »[h]öh- mer« (zit. nach LL 4, 786). Neben solchen allgemeinen
nische Freude an seinem Enkel« empfindet, weil der Quellen verwendet Storm die von Johannes Laß he-
»seine Mutter gerächt« habe (296). Die Katastrophe rausgegebenen Sammelung einiger Husumischen Nach-
ereignet sich, als »ein gewaltige[r] Kapitän« die Insel richten, aus welcher zumindest der Name der Haupt-
während eines Sturms passieren will und es zum figur (hier: Johann Hinrich Armovitz) stammt (Laß
»Strandfall«, d. h. zur Havarie des Schiffes kommt 1981, Teil 2, 33). Der Entwurf erscheint zuerst 1913 in
(ebd.). Friederica, die »als Aschenbrödel« lebt und Gertrud Storms Biografie (Storm 1913, 248–260).
»bei Strandraubfällen Dienste tun« muss, wird »von Erzählt wird die Geschichte des Glockengießer-
der Angst gefaßt, es könne Lars sein«, und »folgt dem Gesellen Franz Armowitzer, dessen handwerkliches
Alten« (ebd.). Am Strand findet sie den vom eigenen Geschick sich mit einer integren Haltung paart. Franz
Großvater erschlagenen Geliebten »sterbend oder ist der sehr dezent als exotische Schönheit gezeichne-
tot«; der Verlust lässt sie »irrsinnig [...] in den Dünen ten Maike (es ist von ihren »dunkeln Augen« sowie
um[gehen]« (ebd.). dem »jungen bräunlichen Antlitz« die Rede; LL 4, 302,
Der Entwurf ist von Karl Ernst Laage in einer gan- 305) seit Kindestagen zugetan. Ein im ersten Anlauf
zen Reihe von Studien untersucht worden, die sich al- verhinderter Beischlaf der adoleszenten Maike mit ei-
lerdings mehrheitlich auf die – in beeindruckender nem ›jungen Patrizier‹ (»›Das – das wirst du lassen!‹
Dichte dokumentierten – Entstehungszusammenhän- raunte Franz Armowitzer ihm in die Ohren; ›die ist
ge konzentrieren (v. a. Laage 2015). So plädieren Laa- nicht für deines Gleichen!‹« 300) wird in der Folge
ge und Bernd dafür, die »Sage zum mitsprechenden wahrscheinlich zur Geburt eines unehelichen Kindes
Formelement des dichterischen Ordnungszusam- führen, das Maike – ihre Bezeichnung als »Dirne«
menhangs« zu machen, und attestieren dem Autor (304) lässt sich auf eine wiederholt so benannte Delin-
den Wunsch, »innerhalb der dichterischen Wirklich- quentin (»eine blasse<,> noch gar junge Dirne«, die
keit eine Macht zu konstruieren, die sein unerträgli- »arme Dirne«; 298 f.) beziehen – »mit eigenen Hän-
ches Gefühl der Ohnmacht vor der alles verschlingen- den [...] erdrosselt« (298). Auf dem Weg zum ›Galgen-
276 III Werk – E Weitere Prosaarbeiten

berg‹ erklingt die Armesünder-Glocke »so tröstlich, Maike versteckt heimlich einen Teil. Vielleicht noch
als riefe eines Engels Stimme, so lieblich <,> als sei es wichtiger als die Blumen ist die Thematisierung des
auf einmal wieder Frühling worden und die Maililien Jagdverhalten des ›Neuntöters‹ (Vogel), der seine Beu-
brächen duftend aus ihren lichtgrünen Blättern« te (Insekten) auf Dornen spießt, was Franz »grausam«
(299). Storm entwickelt folglich am Motiv des Kinds- nennt, Maike aber nach kurzem Bedenken der Schöp-
mordes einen Ständekonflikt, der zudem mit einem fungsordnung subsumiert: »Dann [...] will es wohl der
Fremdheitsdiskurs konvergiert (auch Franz ist »Sohn liebe Gott« (303). Die die alte Zeit wieder ›einläuten-
eines zugewanderten Handwerksgesellen«; 299). de‹ Glocke Armowitzers und die neuerliche Inbetrieb-
Die Tragik der Geschichte entfaltet sich auf der nahme der Femstätte werden so mit einem (frühneu-
Textoberfläche anhand argumentativ verknüpfter Mo- zeitlichen) Naturzustand in Beziehung gesetzt, der –
tivkreise. Zunächst verbildlicht die hohe Qualität der in scharfem Kontrast zum Bürgertum – Brutalität als
von Armowitzer gewerkten Glocke, wohl auch mit gottgewollt akzeptieren kann. Dass Maike als Resultat
Blick auf Friedrich Schiller (»Daß er im innern Her- kultureller Repression ihr Kind »erdrossel[t]« (298),
zen spüret, / Was er erschafft mit seiner Hand«, heißt hat folglich seinen Ursprung in der Natur (des Men-
es im Lied von der Glocke, 1799), die Redlichkeit des schen): »›Hat die Drossel hier ihr Nest?‹ frug das Mäd-
Handwerksgesellen. In diesem Sinne vermag es sein chen leise, als ob es kaum zu sprechen wage« (302).
Fabrikat, die zum Tode Verurteilten nicht nur »aus der Es existiert ein kurzer Forschungsbeitrag von
Gefängnistür hinaus«, sondern auch »in das Tor zu je- Heinz Rölleke, der den Text auf Ähnlichkeiten zu
ner Welt hinein[zu]läuten« (298), wie in einem einlei- Gottfried Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem
tenden Exkurs erklärt wird. Durch ihre semantische Dorfe hin untersucht, aber einige Missverständisse
Aufladung unterlegt das »Armowitzer Glöcklein« die aufweist und zudem kaum verwertbare Befunde lie-
Hinrichtung Maikes folglich erstens mit dem Hinweis fert (Rölleke 2001). Im Gegenteil scheint die Erzäh-
auf das verpasste Glück (299), und ruft zweitens eine lung gerade nicht (wie z. B. die Sylter Novelle) auf ei-
nur scheinbar vergangene, archaische Zeit auf, »[a]ls nen innergesellschaftlichen Konflikt abzuzielen, son-
nämlich die Exekutionen an Hals und Leben zunah- dern die Konstituenten von Gesellschaft überhaupt zu
men« (298). Die hiermit adressierte Frühe Neuzeit, in diskutieren. Das leitende Paradigma zivilisatorischer
der »Hexlein zum Schmauchen«, »Raubmörder zum Normen wäre hier der von Franz repräsentierte
Rade« und »hochfürstliche Hofverwalter wegen be- ›Zwang zum Selbstzwang‹.
gangener Untreue« verurteilt wurden, kommentiert
nun die vom Text (mutmaßlich) als grausam bewerte- Literatur
te Hinrichtung Maikes (ebd.), die (dem Kindsmord- Bernd, Clifford Albrecht/Laage, Karl Ernst: Sylter Novelle.
Schema folgend) aus innerer Not heraus und nicht aus Ein unbekannter Novellenentwurf Theodor Storms. In:
STSG 18 (1969), 41–53.
kriminellem Antrieb gehandelt hat.
Eversberg, Gerd: Theodor Storms Bibliothek. In: STSG 52
Diesen Zusammenhang stiftet die in »Notizen zum (2003), 9–29.
Armsünder-Glöcklein« enthaltene Beschreibung ei- Laage, Karl Ernst: Theodor Storms letzte Reise und seine »Syl-
nes gemeinsamen Spaziergangs der Kinder zum ge- ter Novelle«. Heide 22000.
genwärtig inaktiven »Galgenberg«: »Der [Galgen, Laage, Karl Ernst: Theodor Storms »Sylter Novelle«. Erläute-
O. P.] ist seit lange abgebrochen; ich glaub’, sie brau- rungen zu einem fragmentarischen Novellenentwurf. In:
Ders.: Theodor Storm. Neue Dokumente, neue Perspekti-
chen ihn nicht mehr«, sagt Franz (303). Ein dennoch ven. Berlin 2007, 105–111.
empfohlener Sicherheitsabstand wird von der for- Laage, Karl Ernst: Theodor Storm auf Sylt und die »Sylter No-
schen Maike unterlaufen, weil sie »Immortellen« velle«. Heide 2015.
(Strohblumen) pflücken möchte, die an dieser Stelle Laß, Johannes: Sammelung einiger Husumischen Nachrich-
»wie Purpur leuchten« (304). Sowohl der sprechende ten. Unveränderter Nachdr. der kompletten Ausgabe
Flensburg 1750 ff. Mit einem Nachwort von Ulf Dietrich v.
Name der Blumen (Maike greift nach den ›Unsterbli-
Hielmcrone. St. Peter-Ording 1981.
chen‹) als auch Franz’ Warnung, »[d]as ist von Blut! Rölleke, Heinz: Kinderszenen. Storms Novellenskizze »Die
[...] laß sie stehen!« (ebd.), übertragen die symbolische Armesünder-Glocke« und Kellers »Romeo und Julia«. In:
Ordnung des Textes auf den zweiten Motivkreis, die Wirkendes Wort 51 (2001), 1–3.
belebte Natur. Das katastrophale Ende der Geschichte Schuster, Ingrid: Theodor Storm und E. T. A. Hoffmann. In:
wird vom Verbleib des Straußes vorgedeutet: Maikes Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 11 (1970), 209–223.
Storm, Gertrud: Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens, Bd. 2.
Mutter will die Blumen vernichten, weil sie von einem Berlin 1913, 248–260.
›Kirchhof‹ stammen (»Fort mit Schaden!«; 306), doch
79 Fragmente 277

Storm, Gertrud (Hg.): Theodor Storms Briefe an seine Frau. Schwalm, Eberhardt: Volksbewaffnung 1848–1850 in Schles-
Braunschweig 1915, 124 f. wig-Holstein. Vorarbeiten zu einer Psychologie und Soziolo-
Storm, Theodor: Sylter Novelle. Skizze. Der Schimmelreiter. gie der schleswig-holsteinischen Erhebung. Neumünster
Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Abbil- 1961, 76–82.
dungen. Hg. v. Karl Ernst Laage. Heide 1970.
Ole Petras
F Autobiographisches und Tagebuch

80 Zur Konsistenz der autobio- sische Autobiographik eines Theodor Fontane (Meine
graphischen Schriften Kinderjahre, 1894) oder Paul Heyse (Jugenderinnerun-
gen und Bekenntnisse, 1900) verdeutlicht. Hier wie
dort wird mehr erzählt als berichtet, im retrospektiven
Storm hat keine Autobiographie geschrieben, auch Fokus steht (vor allem bei Fontane) die Kinder- bzw.
seine – im weitesten Sinne – autobiographischen Jugendzeit. Auch sucht man bei beiden, analog zur
Schriften sind nicht nur vom Umfang her insgesamt Storm, vergeblich nach Privatem oder gar Intimem.
eher bescheiden, sie sind auch kaum mit einem tra- Autobiographie hat hier also nichts gemein mit einer
dierten Autobiographieverständnis kompatibel. Al- heutigen voyeuristischen Bekenntnisliteratur, viel-
lenfalls Ansätze einer ›Selberlebensbeschreibung‹ las- mehr versteht sie sich als tendenziell anekdotischer,
sen sich in seinen vereinzelten autobiographischen zeitgeschichtlicher Einblick, bei dem das autobiogra-
Fragmenten finden, die allerdings unisono nicht den phische Individuum dann zeitweise eben in den Hin-
Eindruck revidieren können, dass Storm ohne eine ge- tergrund rückt. Das Besondere bei Storm besteht frei-
wisse »poetische Freiheit« (LL 4, 688) ausgesprochen lich darin, dass er – etwa im Gegensatz zu Heyse– die
ungern über sich selbst schrieb. Zwei Aspekte sind in Lückenhaftigkeit, ja teilweise sogar die Vergeblichkeit
diesen Texten besonders augenscheinlich. Zunächst seiner Erinnerungsversuche explizit macht. Auch in
richten sie ihren zeitlichen Fokus fast ausschließlich Storms Erzählungen und Novellen, die oftmals einen
auf Storms Kinder- und Jugendzeit, während sie den autographischen Hintergrund erkennen lassen, ist
älteren und alten Storm demonstrativ ausklammern. diese Erinnerungsarbeit ein zentrales Motiv (vgl. Laa-
Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz (wie sie ge 1988, 15 ff.), und wohl auch deshalb lassen sich bei
vor allem nach Storms Tod von seinem Sohn Ernst Storm seine ›wirklichen‹ autobiographischen Texte
kolportiert wurden) hat Storm auch niemals ernsthaft nur mühsam identifizieren.
daran gedacht, eine bis in sein Alter reichende Auto- Im Ganzen betrachtet fällt nämlich die uneinheitli-
biographie zu schreiben: Von einer »unvollendeten che Gattungszugehörigkeit auf, mit der die verschie-
Selbstbiographie« (924), an der Storm noch bis zu sei- denen Texte – von der Storm-Forschung auch wieder
nem Tod arbeitete, kann also keine Rede sein. Dafür uneinheitlich – das Etikett autobiographisch verliehen
spricht schließlich auch, dass Storm sich selbst in die- bekommen haben. Hier finden sich, immer unter dem
sen oftmals unvollendet gebliebenen Texten, die ge- Label ›Autobiographische Schriften‹, neben Erzäh-
wissermaßen ›nebenbei‹ (»um etwas Leichteres zu lungen, Theaterfragmenten und Jugenderinnerungen
thun«; 922) entstanden sind, zur bloßen Nebenfigur auch Tischreden und Nachrufe. Entsprechend schwie-
degradiert. Im Blickpunkt stehen dafür Storms Ur- rig zu beantworten und zugleich wenig diskutiert ist
groß- oder Großeltern, seine weitverzweigte Familie die Frage, welche Texte man überhaupt zu Storms au-
oder das alte Husum, an die der ebenfalls bereits im tobiographischen Texten zählen darf.
Großvateralter befindliche Storm sich (oft vergeblich) Orientiert man sich an Philippe Lejeunes Definition
zu erinnern versucht und mit Quellen aus zweiter des Autobiographischen (»Rückblickende Prosaerzäh-
oder dritter Hand ergänzt. Storm als autobiographi- lung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Exis-
sches Subjekt ist in diesen Texten zwar präsent, tritt tenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Le-
aber so weit in den Hintergrund, dass er häufig ledig- ben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persön-
lich als Erzählerfigur fungiert. lichkeit legt«; vgl. Lejeune 1994, 14), dann erfüllt ge-
Freilich ist diese autobiographische Erzählhaltung nau genommen kein einziger Text von Storm alle
kein Sonderfall, wie ein kurzer Blick auf die zeitgenös- Kriterien: Weder erzählt er die Geschichte seines Le-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_80, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
80 Zur Konsistenz der autobiographischen Schriften 279

bens, noch steht er überhaupt im narrativen Fokus sei- Mag auch die Grenze zwischen Fiktionalität und
ner autobiographischen Textfragmente. Andererseits Faktualität hier oftmals eine fließende sein, darf den-
lässt sich die von Lejeune geforderte (Namens-)Iden- noch nicht Storms produktionsästhetisches Credo
tität von Autor, Erzähler und Protagonist als rezepti- dieser im Subjektiv-Regionalen verankerten Texte
onsästhetisches Identifikationsmerkmal für autobio- übersehen werden, eben Selbsterlebtes mit dem »frei
graphische Texte bei kaum einem (um nicht zu sagen: Phantasirten« (666) zu kombinieren. Gewissermaßen
keinem) Stormschen Prosatext feststellen, der als Au- lassen sich folglich alle diese Texte zum Autobiogra-
tobiographie klassifiziert wurde. Mit einem ›klassi- phischen zählen – und ebenso gut gar keiner. Damit
schen‹ Autobiographieverständnis durchaus kompati- soll aber keineswegs eine Ununterscheidbarkeit von
bel wären wiederum manche brieflichen Zeugnisse, Fiktion und Realität behauptet werden, wie sie vor al-
insbesondere Storms für Mörike angefertigte, recht lem für postmoderne Autobiographietheorien zentral
umfangreiche Selbstbiographie aus dem Jahr 1854 ist. Auch wenn so manche Erzählung durch ihre offen-
(Storm–Mörike, 50–53), in der Storm sich tatsächlich sichtlichen Verweise auf den realen Storm offensiv da-
an einem chronologischen Lebensabriss versucht. Ent- zu einlädt, als autobiographisch gelesen zu werden:
sprechend unterschiedlich, ja widersprüchlich werden Die gängigen Kriterien an einen autobiographischen
Storms Texte als autobiographische Schrift verein- Text erfüllen sie nicht. Genau genommen handelt es
nahmt, zumeist ohne diese Vereinnahmung zu be- sich um eine konventionelle, auf Selbsterlebtem basie-
gründen oder gar zu problematisieren. rende Erzählprosa, die aber keineswegs den Anspruch
Unter der Rubrik »Autobiographisches« wird in erhebt oder implizit in sich trägt, Gattungsgrenzen
den Sämtlichen Werken mit den Beroliniana beispiels- einzureißen. Durchaus sinnvoll scheint es also zu sein,
weise eine frühe Prosaarbeit Storms mit der Begrün- all jenen Prosatexten das Etikett ›autobiographische
dung aufgeführt,, Storm habe offenbar von seinen ei- Schrift‹ abzusprechen, die lediglich vereinzelte Reali-
genen Erlebnissen berichten wollen, deshalb dürfe tätsreferenzen erkennen lassen. Anders formuliert:
man die »fiktive Erzählung« (LL 4, 948) durchaus hier Bei Storm ist das inzwischen als überholt geltende Kri-
einordnen. Mag die inhaltlich wie literarisch eigent- terium des Fiktionsstatus eines Textes, also die Frage
lich kaum erwähnenswerte Erzählung um den Studio- nach seiner Fiktionalität oder Faktualität, ein durch-
sus Nordheim auch durch Storms eigene Erfahrungen aus probates Identifikationsmerkmal für seine auto-
als Student inspiriert sein, qualifiziert sie sich deshalb biographischen Schriften. Denn schließlich bürgt aus
gewiss noch nicht zu einem autobiographischen Text: produktionsästhetischer Sicht die »autobiographische
Welche Literatur basiert schließlich nicht auf dem Intention«, also ein »Wille zur Wahrheit« für das re-
Empfinden und Erleben ihres Autors? zeptive Vertrauen, dass in einem autobiographischen
Der Storm-Biograph Roger Paulin wiederum Text die ›Wahrheit‹ gesagt wird, wovon bei einem fik-
spricht einer Erzählung wie Der Amtschirurgus – tionalen Werk freilich keine Rede sein kann (vgl.
Heimkehr den Rang eines »autobiographischen Frag- Schabacher 2007, 13). Für das Stormsche Werk bedeu-
ments« zu (Paulin 1992, 15), freilich ebenso ohne den tet dies dann aber, dass die Erzählung Beroliniana un-
Gattungs- bzw. Fiktionalitätsstaus des Textes zu dis- ter Autobiographisches in den Sämtlichen Werken
kutieren. Nahezu beliebig ließe sich diese Liste erwei- ebenso falsch einsortiert wäre wie das knappe Thea-
tern, vor allem Storms Zerstreute Kapitel bieten einen terfragment Eine Episode aus dem Berliner Studienjahr
reichen Fundus an autobiographisch grundierter Pro- 1839; auch der gerade einmal halbseitige Entwurf Wie
sa. Die Erzählung Lena Wies (»ein Stück aus meiner wird man Schriftsteller von Beruf? scheint hier eher de-
Knabenzeit«, so Storm; LL 4, 680) könnte man bei- platziert. Übrig bleiben dann jene Texte, in denen
spielsweise ebenso gut wie Beroliniana unter Autobio- Storm Episoden aus seinem Leben berichtet, ohne
graphisches in den Sämtlichen Werken einordnen (wo sich offensichtliche poetisch-fiktionale Freiheiten zu
sie aber ebenso wie der Amtschirurgus fehlt), gleiches nehmen. Dass dieser Anspruch gerade bei Storm ein
gilt für Von heut’ und ehedem, in das Storm gar einen kaum einlösbarer ist, wird noch zu zeigen sein.
Brief seines Großvaters wortwörtlich integriert hat Die skizzierten unklaren Gattungsfragen haben ge-
(688). Berücksichtigt man die lokale Komponente, wiss auch dazu beigetragen, dass die autobiographi-
dann steht nahezu jede Prosaarbeit Storms, die in oder schen Schriften in der Storm-Forschung (insofern sie
um Husum spielt – gewiss nicht völlig zu Unrecht – überhaupt Erwähnung finden) nur am Rande auftau-
unter Generalverdacht, dass hier Selbsterlebtes litera- chen: Kaum eine Publikation hat sich ihrer bisher an-
risch verarbeitet wird. genommen. Selbst Storms Biographen nutzen diese
280 III Werk – F Autobiographisches und Tagebuch

Texte, die durch ihren engen zeitlichen Fokus auf den Heyse, Paul: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse [1900].
juvenilen Storm gewiss auch keine sonderliche Lukra- Berlin 2013.
tivität versprechen, nicht durchgängig. Ihre Relevanz Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
scher Humanist. Berlin 2001.
und Brauchbarkeit zur Rekonstruktion der Storm- Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Studien zu seinem Leben
schen Vita wird von ihnen allerdings höchst unter- und Werk mit einem Handschriftenkatalog. 2., erweiterte
schiedlich beurteilt: David A. Jackson (2001) konsul- und verbesserte Aufl. Berlin 1988.
tiert etwa Storms autobiographische Fragmente kaum, Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt
Hartmut Vinçon (1989) greift ebenso nur sehr spora- a. M. 1994.
Paulin, Roger: Theodor Storm. München 1992.
disch auf sie zurück, während Roger Paulin (1992) sie
Schabacher, Gabriele: Topik der Referenz. Theorie der Auto-
ebenso ausführlich wie kommentarlos zitiert und ihre biographie, die Funktion der ›Gattung‹ und Roland Bart-
Faktizität grundsätzlich nicht diskutiert. hes‹ »Über mich selbst«. Würzburg 2007.
Vinçon, Hartmut: Theodor Storm. Hamburg 1989.
Literatur
Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Autobiographischer
Jörg Pottbeckers
Roman [1894]. Frankfurt a. M./Leipzig 1983.
81 Autobiographisches 281

81 Autobiographisches nachdrücklich auf ihrer fragilen Konstrukthaftigkeit


insistieren, dass sie allenfalls als Momentaufnahme
Recht spät erst (und aus unterschiedlichen Anlässen) taugen. Keineswegs ist dies aber als ein Manko zu ver-
hat Storm begonnen, einzelne autobiographische Epi- stehen: Vielmehr drückt sich hier ein poetisches Ver-
soden niederzuschreiben: Aus der Jugendzeit, sein ständnis aus, in welchem das autobiographische
umfangreichster autobiographischer Text, ist größten- Schreiben in die Nähe des mündlichen Erzählens ge-
teils erst ab Mitte der 1880er Jahre quasi als ›Neben- rückt wird. Mag dies auch bisweilen sentimental an-
produkt‹ seiner novellistischen Arbeit entstanden, an- muten, meint ›Erinnern‹ bei Storm immer auch Ver-
dere Texte – wie Ferdinand Röse (1885) oder Erinne- gegenwärtigung als ein Sich-Stemmen gegen das Ver-
rungen an Eduard Mörike (1876) – entstanden jeweils gängliche und das Vergessenwerden. Es ist dieser
als Auftragsarbeiten. Charakteristisch für diese Texte Gesichtspunkt – und nicht der ihrer Faktizität – unter
ist die zeitliche Differenz zwischen Erleben und Auf- dem Storms autobiographische Schriften betrachtet
schreiben; mitunter versucht Storm sich an Ereignisse werden sollten.
zu erinnern, die gut 70 Jahre zurückliegen! Dieser
enorme zeitliche Abstand zwischen erinnerndem und
erlebendem Ich wird von Storm aber keineswegs ver- 81.1 »Aus der Jugendzeit«
schwiegen, ganz im Gegenteil. Seine fragile Erinne-
rungsarbeit, die fast zwangsläufig unsicher und lü- Konträr zum Titel schildert der Fragment gebliebene
ckenhaft ausfallen muss, wird beständig und explizit Text, der größtenteils ab Mitte der 1880er Jahre ent-
thematisiert. Die entsprechend verblassten Bilder sei- standen ist, weniger Storms Jugendzeit als die Genea-
ner Vorfahren sowie seine »nebelhafte Erinnerung« logie seiner Familie seit ihrer Ankunft auf Husum.
(LL 4, 437) an Vergangenes führen zwar zu einer etwas Der recht unspezifische Titel ist aber schon allein des-
eigentümlichen retrospektiven Schreibsituation, die halb programmatisch, weil Storm hier ausdrücklich
allerdings die grundsätzliche Fiktionalität autobiogra- auf ein Personalpronomen verzichtet; der Text trägt ja
phischer Erinnerungsarbeit nochmals potenziert. eben nicht die Überschrift Aus meiner Jugendzeit. Im
Storm, so wird schnell klar, fühlt sich weniger einer narrativen Fokus der Rückschau steht also ein be-
autobiographischen Referenzialität oder gar Faktizität stimmter Zeitabschnitt, nicht ein Individuum.
verpflichtet als einer Schreibweise, die mit dezidiert li- Inhaltlich rekonstruiert der Text zunächst die Ge-
terarischen Mitteln vergangene Bilder und Stimmun- schichte von Storms Familie mütterlicherseits, einset-
gen evozieren will. Storm schreibt also weder aus- zend mit deren Ankunft in Husum, anschließend,
drücklich über sich selbst noch über andere. Vielmehr deutlich kürzer, jene »von Vaters Seite« (LL 4, 429).
unternimmt er den Versuch, eine nebulöse Vergan- Markant ist das selbstreflexive Bild, dass Storm von
genheitsepoche regelrecht heraufzubeschwören. sich als Schreibenden entwirft: Die Miniatur-Famili-
Die Fragilität der Erinnerungsarbeit, die in den au- enbilder seiner Urgroßeltern hängen »in silbervergol-
tobiographischen Schriften so nachdrücklich betont deten Medaillons an meiner Wand« (416), die Altvor-
wird, scheint Storm aus seiner Novellistik exportiert deren blicken ihm beim Schreiben über die Schulter.
zu haben. Auch hier wird (z. B. in Eine Halligfahrt Im Text reiht Storm einzelne, freilich überlieferte und
oder Ein stiller Musikant) vom Erzähler immer wieder nicht selbsterlebte Episoden von drei Generationen
darauf hingewiesen, wie weit das Erzählte zurückliegt auf engem Raum aneinander: Beginnend bei der Ur-
und wie lückenhaft das Erinnerte oder Überlieferte sei großmutter und endend mit seiner Mutter Lucie wird
(vgl. Laage 1999, 172). Als geradezu ›Storm-typisch‹ jede Person, vor allem über ihr jeweiliges Bildnis,
erscheinen die selbstreflexiven Einschübe, die dem knapp skizziert. Ein analoges Konzept verfolgt Storm
Leser den Vorgang des Sich-Erinnerns vor Augen füh- anschließend bei der Familiengeschichte seines Va-
ren sollen (vgl. Laage 1988, 7) und den eklatanten ters, die allerdings weit weniger ergiebig ist, denn vie-
Zeitabstand zwischen erzählendem und erlebendem les »deckt ein gewisses Dunkel« (429).
Ich betonen. Nicht nur dadurch wird deutlich, wie In lediglich zwei Episoden gibt Storm schließlich
sehr Storms autobiographische Texte im Literarischen Auskunft über seine Kinderzeit: Einmal beschreibt er
verhaftet bleiben und sich analoger Erzählstrategien in einer an Goethes Dichtung und Wahrheit erinnern-
bedienen. Sind sie aber dadurch weniger wahr? Ge- den Szene seine »Geburtsstunde« (425), dann berich-
wissermaßen stellt sich diese Frage bei Storm gar tet er in knappen Sätzen vom Besuch seiner ersten
nicht, weil seine autobiographischen Schriften so Schule im Alter von vier Jahren. In der Hauptsache er-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_81, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
282 III Werk – F Autobiographisches und Tagebuch

innert das Erzählen jedoch Personen, Ereignisse und sonen. Vieles wirkt wie eine literarische Exposition,
Stimmungen einer vergangenen Zeit, ohne dabei das die erst den Ort des Geschehens vorstellt – und dann
erinnernde Subjekt in den Mittelpunkt zu stellen: Ge- abbricht. Die Stormschen Vergangenheitsbilder schei-
schildert werden generationenübergreifende Famili- nen sich dabei erst im Moment des Erinnerns zusam-
engeschichten, die damalige »Beamtenherrlichkeit« mensetzen, sie können aber eben nicht als etwas im
(430), der Bürgermeister von Husum oder »allerlei Gedächtnis Feststehendes schlicht abgerufen werden.
wunderliche[] Gesellen« (433) die sich seinerzeit in Der autobiographische Text wird dadurch zu einem
Husum tummelten und einen nachhaltigen Eindruck Provisorium, der keinerlei Anspruch auf eine dauer-
in Storms »Kleinkind-Gemüt« (434) hinterließen. Ei- hafte oder gar allgemeingültige Relevanz erhebt. Dem-
ne chronologische Folgerichtigkeit lässt sich in den lo- entsprechend beschwört Storm ein altes, versunkenes
sen Textbausteinen kaum auszumachen, allenfalls fü- Husum mit seinen prägenden Figuren und Eigentüm-
gen sich die einzelnen Fragmente zu einem Husumer lichkeiten zwar herauf, er stellt es aber im eigentlichen
Panoptikum zusammen. Persönliches oder gar Pri- Sinne nicht dar. Dementsprechend gibt der Text
vates findet sich entsprechend fast gar nicht, auffällig schließlich über Storm selbst nur indirekt Auskunft.
ist jedoch, wie wenig Storm seine frühkindlichen Er-
innerungen an Vater oder Mutter idealisiert. Seine al-
lerfrüheste Erinnerung – Storm liegt mit seinem Va- 81.2 »Aus der Familie Mummy«
ter, der ihn zärtlich umarmt, in einem Himmelbett –
wird durch eine harmlose »Bettquaste« konterkariert: In enger Verbindung zu Aus der Jugendzeit, passagen-
»Es war das erste Mal, dass mich das Grauen rührte« weise gar redundant, weil erneut die Familiengeschich-
(425). Auch der Beginn der Schulzeit wird durch ei- te mütterlicherseits thematisierend (auch die Ge-
nen »begreiflichen Schauder« (427) realisiert, generell schichte des Medaillons seiner Urgroßmutter schilder-
sind es eher »dunkle Bilder« (425), die vor dem sich te Storm bereits in Aus der Jugendzeit), ist das knappe
erinnernden Storm aufsteigen. Textfragment Aus der Familie Mummy. Wieder skiz-
Kontrastiv idyllisch wirken dagegen jene Passagen, ziert Storm eine selbstreflexive Schreibsituation, die
die Storm aus zweiter oder dritter Hand wiedergibt ihn am Schreibtisch sitzend im Arbeitszimmer zeigt,
und nicht von subjektiver Erinnerung überlagert wer- in dem die Miniatur-Familienbilder in Medaillons an
den. Das Haus der Großeltern wird verklärt zum ewig der Wand hängen. Gewissermaßen betrachtet Storm
sonnigen und heiteren Märchenschloss, an das sich seine Familie bei der Arbeit gerade so, wie seine Fami-
der zweijährige Storm eigentlich gar nicht erinnern lie ihn betrachtet – ein durchaus sprechendes Bild für
kann (wie er auch einräumt) und das er stattdessen als sein schriftstellerisches Selbstverständnis.
ein über spätere Besuche rekonstruiertes Bild wieder- Bemerkenswert ist an dem genau durchkom-
gibt. Überdeutlich wird in Aus der Jugendzeit die Rele- ponierten, im Gegensatz zu Aus der Jugendzeit auch
vanz, die Storm, gewissermaßen zu Ungunsten seiner durchweg stringenten Text aber vor allem, wie subtil
Eltern, den älteren Generationen beimisst. Nicht die Storm die Familiengeschichte mit dem politischen
Mutter, sondern die Großmutter, Magdalene Wold- Zeitgeschehen verzahnt. Die zunächst konstatierte
sen, wurde für das Kind Storm eine »Hauptperson« unklare Schreibmotivation (»Ich weiß kaum, weshalb
(Paulin 1992, 12); der Garten der Urgroßmutter Fed- ich wie selbstverständlich diese Niederschrift [...] mit
dersen wird gar zu einem dichterischen Initialereignis den verblassten Bildern meiner Vorfahren beginne«;
(vgl. ebd., 13) im Sinne einer idyllischen Behaglichkeit LL 4, 437) geht über in die Beschwörung einer Män-
nostalgisch verklärt. nerfreundschaft zwischen Storms Großvater und dem
Das Erinnern sowie die Lückenhaftigkeit dieser Er- Großvater von Storms zweiter Frau Dorothea Jensen,
innerungen werden während dieser Beschreibungen einem Mann namens Arfast. Zwischen den Enkeln
wiederholt thematisiert: Storm nimmt mit »kaum be- der beiden Männer entstehen – neben Storms eigener
wussten Augen« Ereignisse und Bilder wahr, die lange, – noch zwei weitere Eheschließungen, durch die das
»fast 70 Jahre« (LL 4, 422) zurückliegen. Auffällig, aber Bündnis zwischen den Familien immer wieder neu
im Kontext der problematischen Erinnerungsarbeit beglaubigt wird. Schließlich aber fällt Arfast jun. »von
durchaus folgerichtig, ist der hohe quantitative Text- der deutschen Sache ab« (440), indem er die dänische
anteil den Storm den Landschaften, Häuser und Ört- Seite unterstützt, wodurch die Freundschaft schließ-
lichkeiten einräumt, und – damit kontrastierend –, die lich zerbricht. Als harmonischer Gegenentwurf dazu
fast schon demonstrative Vernachlässigung von Per- fungiert das idyllische Bild des Ehepaar Storms, das
81 Autobiographisches 283

sich »des Sonnenscheins freuend, ausruhend bei ei- gewogenen Bild als es eine simple Lobhudelei sein
nander« (438) sitzend skizziert wird. Allen politischen könnte. Merkwürdig deplatziert erscheint dagegen
Querelen zum Trotz ist diese private Harmonie, die der pathetische Schlusssatz, in dem der im Alter ver-
das Verbindende betont, die Quintessenz des Textes. armte Röse, zu dem Storm längst keinerlei Kontakt
Als Idylle darf der Text aber dennoch nicht missver- mehr hatte, als »einer von den wenigen Unvergess-
standen werden, eine Lösung der politisch motivier- lichen« (447) bezeichnet wird. Bedeutsam war Röse
ten Feindschaften ist nämlich nicht in Sicht. Das Ver- für Storm wohl nur als ein früher Wegbereiter zur Li-
gangene verweist vielmehr auf die Gegenwart, die teratur und weniger als ein prägender Charakter für
wiederum eine unsichere politische Zukunft verheißt seinen weiteren Lebensweg.
– auf knappem Raum also entwirft Storm unter dem
Deckmantel des Autographischen eine durchweg kri-
tische Zeitdiagnose. Als ›klassisch‹ autobiographi- 81.4 »Meine Erinnerungen an Eduard
scher Text taugt auch Aus der Familie Mummy zwar Mörike«
nur bedingt, denn auch er gibt lediglich indirekt Aus-
kunft über Storm selbst; als politisches Statement ist Auf Anfrage einer Zeitschrift (deren Name sich nicht
der Text allerdings auch in autobiographischer Hin- mehr rekonstruieren lässt), schildert Storm seine Er-
sicht aufschlussreich. innerungen an den 1875 verstorbenen Mörike, den er
als Dichter zwar bewunderte, aber lediglich nur ein
einziges Mal, im August 1855, in Stuttgart persönlich
81.3 »Ferdinand Röse« traf. Storm hatte sich bereits unmittelbar nach dem
Besuch, auf der Rückfahrt von Stuttgart im Zug Noti-
Für eine Biographie Emanuel Geibels schrieb Storm zen gemacht, auf die er für seine Erinnerungen zu-
1885 eine knappe Charakterskizze ihres gemeinsamen rückgreifen konnte. Wie schon bei Ferdinand Röse ist
Lehrers aus Lübecker Gymnasialzeiten, des titel- Storm von schwärmerischer, vorbehaltloser Begeiste-
gebenden Ferdinand Röse, liebevoll-despektierlich rung für den Portraitierten weit entfernt: Positiv äu-
auch »Wanst« oder »Magister Wanst« (LL 4, 441) ge- ßert Storm sich lediglich über den Lyriker Mörike
nannt. Der übersichtlich gehaltene Text besticht aller- (»der letzte Lyriker von zugleich ursprünglicher und
dings weder durch eine nuancierte Charakterisierung durchstehender Bedeutung«; LL 4, 471). Der Mensch
Röses (den Storm wohl auch nicht sonderlich gut Mörike ist für Storm aber eher eine gelinde Enttäu-
kannte), noch durch frappante Selbstauskünfte. Be- schung. Entsprechend zirkuliert ein Großteil des Tex-
merkenswert ist allenfalls, dass Röse Storm mit Heines tes auch um die Spezifika des lyrischen Schaffen Möri-
Buch der Lieder (444), an anderer Stelle neben Goethes kes sowie um die Frage, warum Mörike nur einen
Faust als »Zauberbuch« geadelt (470), bekannt ge- recht kleinen Leserkreis anspräche. Spätestens hier
macht hat, das auf Storm wiederum bleibenden Ein- entsteht der Eindruck, dass Storm über sich selbst re-
druck hinterließ. Zu verdanken habe er Röse ferner, so flektiert, wenn er ›Mörike‹ sagt. Denn die Stormsche
Storm, die Fähigkeit, »Kritik ertragen zu können und Ursachenforschung für die fehlende Anerkennung,
sie an mir selbst zu üben«. (447) Geschildert wird von die Mörikes Lyrik widerfuhr, lässt sich unschwer mit
Storm allerdings wenig gemeinsam Erlebtes, auch Storms Hadern über die eigene Geringschätzung als
wenn es – zusammen mit Emanuel Geibel – einige ge- Lyriker synchronisieren – beide Dichter sind letztlich
meinsame Theaterbesuche in Lübeck bzw. Ausflüge in verkannte Lyriker. Die Projektionsfläche Mörike dient
Berlin gegeben hat. Die spätere Tragik im Leben Röses Storm also in erster Linie dazu, eine kaum verklausu-
streift Storm nur am Rande: der Verlust seiner Stel- lierte Eigenaussage zu formulieren.
lung als Dozent in Tübingen, ein Selbstmordversuch Allerdings ist Storms Enthusiasmus für die Lyrik
sowie eine undurchsichtige Verbrechensanschuldi- Mörikes deshalb nicht weniger ›echt‹. Auch an ande-
gung fallen allesamt in eine Zeit, in der zwischen Röse rer Stelle (u. a. in Entwürfe einer Tischrede) sieht er den
und Storm keine direkte Verbindung mehr bestand. Künstler Mörike vom Rang her gleichberechtigt ne-
Die auf den ersten Blick erstaunlich Röse-kritische ben Goethe und Heine stehen. Entsprechend findet
Bemerkungen (wie z. B. seine latente Arroganz, ja sein lyrisches und erzählerisches Werk auch in den Er-
Überheblichkeit sowie sein äußerst unvorteilhaftes innerungen seine vorbehaltlose Zustimmung, Mörike
Äußeres) fügen sich dabei, flankiert von den deutlich habe »in einzelnen Partien vielleicht das Höchste ge-
dominanteren positiven Aspekten, zu einem aus- leistet [...], was überall der Kunst erreichbar« sei.
284 III Werk – F Autobiographisches und Tagebuch

(473). Storms Mörike-Begeisterung ging sogar so in Westermann’s Illustrirten Deutschen Monatsheften


weit, dass er in »den seltsamen Irrtum« verfiel, diese bedankte sich die Mörike-Witwe Margarethe zwar
»Begeisterung auch bei allen anderen Menschen vo- freundlich für Storms Erinnerungen, monierte aber
rauszusetzen« (473). Das Resultat dieser schwärmeri- zugleich auch mehrere Punkte. Weder habe sie selbst
schen Mörike-Missionarsarbeit war schließlich, dass noch jemand anders Mörike jemals »so schwäbisch re-
Storm sich in Husum »kaum noch irgendwo sehen den hören« (961), wie Storm es beschrieben habe.
lassen konnte, ohne ein mitleidiges Kopfschütteln [...] Storm verteidigte sich halbherzig, er habe den »Dia-
einzukassieren« (473). lect-Anflug« (962) zwar durchaus mit Missfallen be-
Ab den 1850er Jahren nimmt Storm zaghaften merkt, wohl aber nur deshalb so hervorgehoben, weil
schriftlichen Kontakt zu Mörike auf, der erste Versuch er für ihn als Norddeutschen besonders ungewohnt
(Storm schickt ihm seine Sommergeschichten und Lie- sei. Kritik an der Stormschen Mörike-Darstellung
der) wird von Mörike aber erst Jahre später beantwor- kam aber, kaum verwunderlich, auch von anderer Sei-
tet. Nach und nach etabliert sich ein Briefwechsel, bis te: Mörikes SchwesterClara beispielsweise las Storms
es schließlich im August 1855 zu einem ersten persön- Text »nicht mit Wohlgefallen«  (963). Zugutehalten
lichen Treffen kommt. Diese Begegnung zwischen bei- muss man Storm sicherlich, dass er sich um ein aus-
den Dichtern in Mörikes Haus in Stuttgart, die von gewogenes Bild bemühte, seine weniger schmeichel-
Storms Ankunft am Bahnhof Stuttgart an unter kei- haften Eindrücke – analog zu Ferdinand Röse – also
nem guten Stern zu stehen scheint (»Mörike war nicht keineswegs verschweigt. Damit verstößt er zwar ge-
im Wartesaal, wie er geschrieben hatte«; 479) schildert wissermaßen gegen die Konventionen einer sonst den
Storm recht detailliert im zweiten Teil des Textes. Die Verstorbenen ja durchweg rühmenden Nachrufprosa,
vordergründig charmant-anekdotische Schilderung sein Bericht gewinnt damit aber auch entschieden an
spart allerdings nicht mit kritischen Kommentaren, Glaubwürdigkeit.
beginnend bereits mit Mörikes äußerem Erschei-
nungsbild. In seinen Zügen wäre, so Storm, etwas »Er-
schlafftes, um nicht zu sagen Verfallenes« (480), auch 81.5 »Entwürfe einer Tischrede zum
missfällt Storm der stark ausgeprägte schwäbische siebzigsten Geburtstag«
Dialekt Mörikes, der seine schwindenden dichteri-
schen Kräfte dann auch noch, nach Storms Meinung, Als autobiographisches Dokument durchaus aussage-
an die falschen Werke vergeude. Zwar verläuft der Be- kräftig, wenn auch nicht sonderlich schmeichelhaft
such insgesamt wohl harmonisch (man vertieft sich in für Storm selbst, sind seine beiden Entwürfe einer
Gespräche über Heine, Geibel und Heyse, am Nach- Tischrede, die er anlässlich seines 70. Geburtstags im
mittag liest Mörike seine Novelle Mozart auf der Reise Jahre 1887 verfasste. Erhalten ist allerdings nicht
nach Prag vor), doch eine Freundschaft zwischen Storms gesamte Rede, sondern nur ein »Bruchteil«
Storm und dem deutlich älteren Mörike entwickelt (LL 4, 9745) davon, genau genommen zwei Entwürfe,
sich nicht. Lakonisch vermerkt Storm nach seiner Ab- die sich in Inhalt und Tonfall jedoch kaum unterschei-
reise, er »habe Mörike nicht wiedergesehen; auch ge- den. Analog ist ihr Aufbau: Storm schildert seine prä-
schrieben hat er mir [...] nur noch einmal« (487). Ob genden literarischen Einflüsse (Heines Buch der Lie-
hier nun ein Bedauern mitschwingt oder nicht, sei da- der, Goethes Faust sowie die Lyrik Eichendorffs und
hingestellt; festzuhalten bleibt jedenfalls, dass der Mörikes) um schließlich seinen eigenen Rang als Lyri-
briefliche Kontakt nach dem Besuch, mit Ausnahme ker zu reflektieren. Durch ihren hadernden und vor
eines Kondolenzbriefs zu Constanzens Tod, fast allem äußerst unbescheidenen Tonfall bereiten diese
schlagartig abricht. Über die Gründe hierfür kann nur Passagen gewiss nicht nur dem heutigen Leser ein la-
spekuliert werden, konkrete Disharmonien zwischen tentes Unbehagen, auch Storms Geburtstagsgäste (»es
den beiden Dichtern werden von Storm nicht erwähnt. war überaus peinlich«; LL 4, 975) quittierten Storms
Es wäre aber kaum verwunderlich, wenn das schwär- Klage über seine Verkennung als Lyriker mit Irritati-
merische Mörike-Bild, das Storm quasi nach Stuttgart on: »In jener Stunde war Theodor Storm von den gu-
mitbrachte, sich schlicht als inkompatibel mit der ten Göttern seines Lebens verlassen«, berichtet der
Wirklichkeit entpuppte: Das Idol seiner Jugend zu tref- Augen- und Ohrenzeuge Wilhelm Jensen (975).
fen, kann schließlich nur in Ernüchterung münden. Tatsächlich wirkt der Tonfall, den Storm hier für
Fast schon interessanter als der Text selbst ist seine seine kurze künstlerische Lebensrückschau anschlägt,
Rezeption. Nach erfolgter Publikation im Januar 1877 in seinem Insistieren auf der eigenen Größe etwas be-
81 Autobiographisches 285

fremdlich: Storm sieht sich als Lyriker gleichberech- nuel Geibel herabgesetzt fühlte. In dieser Hinsicht be-
tigt neben Goethe und Heine (»dies Gefühl ist meine hielt Storm mit seiner Selbsteinschätzung also durch-
feste Überzeugung«; 491); er selbst gehöre, so Storm, aus Recht.
»zu jenen wenigen Lyrikern, die die neue deutsche Li-
teratur besitzt«, doch »die Welt weiß es nicht, auch Literatur
nicht die, die es hätten wissen müssen« (489). Das sind Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Studien zu seinem Leben
gewiss irritierend selbstbewusste Worte, doch will und Werk mit einem Handschriftenkatalog. 2., erw. und
verb. Aufl. Berlin 1988.
man Storm hier Gerechtigkeit widerfahren lassen, Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Biographie. Heide 1999.
dann muss auch erwähnt werden, dass er sich primär Paulin, Roger: Theodor Storm. München 1992.
im Vergleich zum heute fast vergessenen, damals aber
ebenso gefeierten wie auflagenstarken Lyriker Ema- Jörg Pottbeckers
286 III Werk – F Autobiographisches und Tagebuch

82 Tagebuchaufzeichnungen wie nie Reflexionen fest und erlauben keinen Blick in


Gedanken oder Gefühle des Schreibers. Dazwischen
Tagebuchschreiber war Storm nur in seiner Studen- benutzte Storm ein Schreibheft im Quartformat, das
tenzeit. Überliefert sind zwar nur verstreute Notizen er auf dem Etikett auf dem Deckel mit Was der Tag gibt
aus den Jahren 1841 und 1842, die er in seine Sammel- bezeichnete (LL 4, 510–533). Er benutzte es von Ende
handschrift Meine Gedichte eingetragen hat, und Auf- September 1881 bis Oktober 1883. Zunächst trug er
zeichnungen aus dem Frühjahr 1842, als er sich von eine durchnummerierte Reihe von Reflexionen über
seiner Jugendliebe Bertha von Buchan löste (LL 4, seine Erzählkunst und ihre Prinzipien ein, aber dann
495–504), doch erwähnt Storm in einem Brief an sei- bekam das Heft mehr und mehr den Charakter eines
ne Braut Constanze Esmarch vom 30.5.1844 ein nicht Arbeitsbuches, denn Storm notierte hier den Stoff für
überliefertes Tagebuch, das er zwischen August 1837 die Novelle Hans und Heinz Kirch, Quellen für die No-
und September 1839 führte. Aus den fast 30 Jahren velle Zur Chronik von Grieshuus sowie den Stoff der
vom Ende des Studiums 1842 bis 1870 sind keine Ta- Novelle John Riew’. Daran schlossen sich die Skizze ei-
gebuchaufzeichnungen erhalten, und es gibt auch kei- ner Szene und der Erzählsituation, und schließlich
ne Hinweise, dass solche existiert hätten. wurde das Heft zur Kladde dieser Novelle.
Erst für die Jahre 1870–1874 gibt es wieder Noti- Die tagebuchartigen Aufzeichnungen aus der Stu-
zen, die Storm in den Taschenkalender Agenda ein- dienzeit und aus dem Heft Was der Tag gibt sind an
getragen hat. Es sind aber nur spröde Vermerke über den jeweils genannten Stellen vollständig abgedruckt,
eingetroffene und abgesandte Briefe (LL 4, 504–509). die Notizen aus den Agenda und dem Braunen Ta-
Ähnlichen Charakter haben die Eintragungen, die schenbuch in einer Auswahl, die sich auf Eintragungen
Storm von Februar 1883 bis wenige Tage vor seinem beschränkt, die für Leben und Werk Storms auf-
Tod in sein sog. Braunes Taschenbuch geschrieben hat schlussreich sein können, aber auf diejenigen über re-
(LL 4, 533–564). Sie sind reichhaltiger als diejenigen gelmäßige Lieferungen von Torf, Lohnzahlungen an
in den Agenda, denn sie vermerken nicht nur die an- die beiden Hausmädchen oder andere Haushaltsange-
gekommenen und abgeschickten Briefe, sondern auch legenheiten verzichtet.
Besuche, verliehene Bücher, Vereinbarungen mit Ver-
Dieter Lohmeier
lagen oder Geldangelegenheiten, halten aber so gut

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_82, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
G Das Briefwerk

83 Storm als Briefschreiber was seine Funktion als Medium der Autorschaftsinsze-
nierung betrifft, einen neuen Status. Briefwechsel von
Theodor Storm zählt zu den produktivsten Brief- Autoren können – in der Doppelfunktion als Doku-
schreibern im Umkreis des Poetischen Realismus, ment und Monument – nun etwa veröffentlicht (und
weit über 3.000 Briefe sind von ihm überliefert. Zu un- also auch bereits mit einem Seitenblick auf eine mögli-
terscheiden sind erstens die Briefwechsel im engsten che Publikation verfasst) werden. Frühe und promi-
familiären Umfeld, etwa mit der Braut und späteren nente Beispiele dafür sind der Briefwechsel Goethes
Frau Constanze Esmarch, dem Schwiegervater Ernst mit Schiller, den jener 1828/29 selbst mit herausgab,
Esmarch und Storms Sohn Ernst, zweitens Korres- sowie seine Korrespondenz mit Carl Friedrich Zelter
pondenzen mit Freunden wie Hartmuth und Laura (1833/34), die er selbst mit vorbereitete.
Brinkmann, Wilhelm Petersen und Heinrich Schlei- Storms Briefproduktion erfolgt im Wissen um und
den sowie drittens der epistolare Austausch mit teilweise im bewussten Rückgriff auf diese epistolaren
Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen von Funktionen, die jedoch innerhalb des 19. Jahrhun-
Theodor Fontane, Klaus Groth, Paul Heyse, Gottfried derts spezifische Transformationsprozesse durchlau-
Keller und Eduard Mörike über Otto und Hans Speck- fen. Indem der Postverkehr, der epochalen Signatur
ter bis hin zu Theodor Mommsen und Erich Schmidt. der Beschleunigung folgend, kontinuierlich erleich-
Alle wichtigen Briefwechsel liegen mittlerweile in zu- tert wird – etwa durch die Einführung von Briefkästen
verlässigen wissenschaftlichen Editionen vor. und Postboten –, gewinnt der serielle epistolare Aus-
In literatur- und kulturhistorischer Hinsicht ist tausch eine Eigendynamik und wird als bildungsbür-
Storms Briefproduktion, wie generell die Briefkultur gerliche kulturelle Praxis zum Selbstzweck. An die
des 19. Jahrhunderts, vor der Folie der grundlegenden Stelle emphatischer Inszenierung von Subjektivität
Innovationen zu sehen, die das Genre Brief, markiert und Introspektion treten, von der literaturwissen-
u. a. durch Christian Fürchtegott Gellerts Briefe, nebst schaftlichen Forschung bislang noch nicht ausrei-
einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschma- chend analysiert, produktive Formen der Selbstver-
cke in Briefen (1751) und literarisch prominent reprä- sicherung im Sinne des Sich-Orientierens und -Be-
sentiert in Briefromanen wie Samuel Richardsons Cla- hauptens im literarischen Feld.
rissa (1747 f.), Jean-Jacques Rousseaus Nouvelle Héloï- Storms Briefe verfolgen auf spezifische Weise den
se (1761) oder Johann Wolfgang von Goethes Werther doppelten Zweck, sich als Schriftsteller zu situieren
(1774), seit der Empfindsamkeit erfahren hatte. Gellert und sich im Privatleben zu arrangieren. Auf welch
hatte eine Abkehr von der traditionellen Regel-Episto- komplexe Weise dabei Konzepte des Intim-Privaten
lographie und einen individuell-›natürlichen‹ Briefstil und der Literatur im Rahmen epistolarer Strategien
gefordert. Der Brief galt in der Folge als privilegiertes miteinander verwoben sind, zeigt paradigmatisch der
Medium der Subjektivität, in dem das Ich ›sich aus- zwischen 1844 und 1846 geführte Briefwechsel mit
spricht‹. Die spezifische Medialität, der Charakter des Constanze Esmarch und deren Vater (vgl. hierzu
Briefs als schriftliches Distanzmedium der persönli- grundlegend Fasold 2014). Er folgt der Tradition der
chen Kommunikation, der einerseits die Intimität des brieflichen ›Unterweisung der Braut‹, transformiert
Gesprächs suggeriert, andererseits aber gerade die sie aber in signifikanter Weise durch das einseitige Bil-
zeitliche und räumliche Distanz der Kommunikati- dungs- und Erziehungsprogramm, das Storm ent-
onspartner zueinander voraussetzt, eröffnet immense wirft; es dient, einen festen Stundenplan vorgebend,
Potentiale, sich als Subjekt zu inszenieren. Auch inner- primär der musischen Ausbildung (Musizieren, Le-
halb des literarischen Felds erhält der Brief, besonders sen) und kulminiert gewissermaßen in epistolaren

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_83, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
288 III Werk – G Das Briefwerk

Schreibübungen, die er von ihr fordert. Das empfind- bes-)Briefwechsel mit Constanze zahlreiche (Liebes-)
same Modell der Selbstaussprache fungiert dabei als Gedichte Storms resultieren. Auf mehrfache Weise
Ideal, an dem Storm die Briefpartnerin misst und das fungiert das epistolare Schreiben an die Braut in seiner
sie aus seiner Perspektive kontinuierlich verfehlt: Eigenlogik und -dynamik zwanghaft fortgeführter
»Deine Briefe geben mir nur sehr selten den Eindruck Idealisierung somit als Katalysator für die Literatur.
Deiner Persönlichkeit, wie das bei meinen, glaub ich, Mindestens ebenso wichtig ist die Wechselbezie-
der Fall ist; daher hab ich gewöhnlich beim Lesen Dei- hung zwischen Brief und Literatur erwartungsgemäß
ner Briefe ein Gefühl der Täuschung« (BB 2, Nr. 118, in den Korrespondenzen mit Schriftsteller-Kollegen,
115). Was Storm als »Täuschung« bezeichnet, ist frei- die oft auf Storms Initiative zurückgehen (so im Fall
lich eher die enttäuschte Erwartungshaltung, dass der Briefe an Gottfried Keller und Eduard Mörike).
Constanze nicht dem Muster entspricht, das er, sich an Auch wenn sie völlig andere Zwecke verfolgen als der
literarischen Vorbildern orientierend, etabliert. Als Braut-Briefwechsel, lassen sich doch ähnliche Grund-
Modell dient insbesondere Bettina von Arnims Goe- strukturen beobachten. Die Funktion des Briefwech-
thes Briefwechsel mit einem Kinde (1835), das er der sels etwa mit Theodor Fontane, Paul Heyse, Gottfried
Braut als »wahres Buch der Liebe« (BB 1, Nr. 24, 113) Keller oder Eduard Mörike besteht im Aufbau eines
preist und dessen identifikatorische Funktion er vo- epistolaren Netzwerks, innerhalb dessen ›auf Augen-
raussetzt: »Du wirst es mit großer Befriedigung lesen höhe‹ über literarische Probleme, die eigene Produkti-
und oft gewiß Dich selbst im reinsten Spiegel sehen« on und die Werke von Zeitgenossen diskutiert werden
(ebd.). Der Vorwurf der »Täuschung« kehrt sich so im kann. Um Netzwerke handelt es sich insofern, als ein-
Grunde um und potenziert sich, indem Storm ein li- zelne Briefpartner Storms auch untereinander korres-
terarisches Idealbild auf Constanze projiziert, das sich pondieren (oder im direkten persönlichen Austausch
zudem einem Werk verdankt, das er wie seine Zeitge- sind) und in den Briefen somit auch Informationen
nossen, Arnims Fiktionalisierungsstrategien über- über und an dritte weitergegeben werden. Das ekla-
sehend, nur fälschlich für ein authentisches (›Liebes‹-) tanteste Beispiel ist der – als Anthologien-Heraus-
Dokument hielt. geber im literarischen Betrieb versierte – Paul Heyse,
Das epistolar vermittelte Lektüreprogramm dient der neben Storm mit Fontane, Keller und Mörike kor-
dazu, ein Liebesideal zu propagieren, an dem gemes- respondiert. Für Storm geht es dabei zugleich darum,
sen die Braut nur scheitern kann. Gleichwohl erweist auf epistolarem Weg den Kontakt aus der Provinz zu
sich das für diesen Briefwechsel konstitutive Span- den literarischen Metropolen München und Berlin zu
nungsfeld von lebensweltlicher Liebe, Brief und Lite- halten. Der Briefwechsel hebt die Differenz zwischen
ratur als durchaus produktiv. Das ständige Bemühen, Zentrum und Peripherie gewissermaßen auf und er-
die eigenen Emotionen, die eigene Liebe und Partner- möglicht den literarischen Austausch auf eine kon-
schaft durch die Bezugnahme auf literarische Vorbil- tinuierliche Weise, wie sie Storm sonst nicht möglich
der – von Ignaz Aurelius Feßlers Abälard und Heloise gewesen wäre – teilweise (so im Falle Gottfried Kel-
über Eichendorff, Heine und Immermanns Münch- lers) mit Kommunikationspartnern, denen er zeit sei-
hausen bis zu Mörikes Maler Nolten – zu idealisieren nes Lebens nie persönlich begegnet ist. Wie im Fall
und zu sakralisieren, wirkt als Antriebsfeder, als dyna- der Korrespondenz mit Constanze Esmarch über-
misches Grundprinzip, das die epistolare Produktion rascht dabei aus heutiger Sicht die Fülle an literari-
nie versiegen lässt. Die Liebe wird stets aufs Neue mit- schen Werken, auf die in diesen Briefwechseln ein-
tels Schrift hergestellt, und zwar in doppelter Weise, gegangen wird. Dass in diesem Zusammenhang kuli-
im Schreiben der Briefe und durch den Bezug auf Li- narische Metaphern verwendet werden – eine eigene
teratur. Wenn auch die ästhetische Erziehung der Novelle bezeichnet Storm als seine »Speckseite«
Braut nur sehr bedingt erfolgreich ist, so dient Storms (Storm–Heyse I, 34), über ein Gedicht Heyses be-
epistolare Strategie doch immerhin einem anderen merkt er, dass es ihm »natürlich schmeckt« (ebd., 31)
Zweck: dem Ausstellen der eigenen umfassenden lite- –, verweist zum einen auf die Art der Rezeption als
rarischen Bildung vor der Adressatin. Die Liebe und (massenhafter) Konsum, zum anderen auf den dezi-
der Briefwechsel als ihr Medium bilden einen Fokus, diert persönlich-privaten ›Geschmack‹, der die
der die eigenen Lektüreerlebnisse zu bündeln vermag. Grundlage des ästhetischen Urteils darstellt. Auf-
Und schließlich erweist sich das Zusammenspiel von schlussreich für die Haltung, in der sich Storm als
lebensweltlichem Korrespondieren und Literatur Briefschreiber inszeniert, sind Schreib-Szenen wie je-
auch in dem Sinne als produktiv, dass aus dem (Lie- ne, die er in einem Brief an Gottfried Keller schildert.
83 Storm als Briefschreiber 289

Das räumliche Ambiente, in dem er nach dem Umzug die Briefwechsel zum einen jenem innerhalb des
nach Hademarschen im April 1881 schreibt, lässt sich 19. Jahrhunderts in industrieller Weise florierenden
als eine Position der gelassenen Zurückgezogenheit Journal-Wesen, das ständig nach Fortsetzungs-
beschreiben, die es erlaubt, aus dem durch »matt-rese- geschichten verlangt. Zum anderen handelt es sich um
dagrüne Tapeten und schwere Jute Vorhänge [...] be- eine ganz ähnliche Grundstruktur wie im Fall der Be-
haglich gedämpfte[n]« Interieur heraus auf die Welt ziehung mit Constanze, in der das unter Rückgriff auf
zu blicken und von dort aus in epistolaren Kontakt mit literarische Muster erfolgende Erschreiben der Liebe
ausgewählten Partnern in der Ferne zu treten (vgl. ein Perpetuum mobile des Briefwechsels darstellt.
Storm–Keller, 69). Es handelt sich um einen bewusst Was die literaturwissenschaftliche Erschließung
abgegrenzten Raum des Schreibens, wie auch inner- und Aufarbeitung von Storms Briefwechseln betrifft,
halb der Briefe oft schematisch konventionelle private so ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den zahlrei-
Mitteilungen und Erkundigungen vom literarischen chen wissenschaftliche Standards erfüllenden Editio-
Austausch abgegrenzt werden. Das Briefschreiben ist nen und der nur spärlichen Forschung zu Storm als
den Regeln strenger Organisation, Konvention, Kal- Briefschreiber festzustellen. Wertet die ältere Mono-
kulation, Ökonomie und Diätetik unterworfen. graphie von Altmann die Briefe als biographische
Der entscheidende Punkt ist dabei, dass es sich hier Quellen aus, so sind an neueren, komplexere literatur-
um eine Art der Kommunikation handelt, die, als of- und kulturhistorische Zusammenhänge in den Blick
fensichtlich bewusst kultivierter Bestandteil des eige- nehmenden Beiträgen lediglich die Aufsätze von Fa-
nen Handelns innerhalb des literarischen Felds, ein sold und Spies zu nennen. Auf diesen Ansätzen auf-
Komplement zur öffentlichen Literaturkritik bildet. bauend gilt es, das Klischee vom in epistolographi-
Der Wert dieses Austauschs besteht dabei weniger in scher Hinsicht epigonalen und in Konventionen er-
einer intensiven Auseinandersetzung, die es auf den starrten 19. Jahrhundert (vgl. Baasner 1999, 15) einer
kontroversen Disput ankommen lassen würde. Viel- kritischen Revision zu unterziehen und nach für das
mehr folgen die Briefe, oft an der Grenze zur Mono- literarische Feld produktiven epistolaren Aspekten
tonie, einem ständig wiederholten Muster, das die Ar- wie serieller Eigendynamik und kulturell-habitueller
tikulation der gegenseitigen Hochschätzung mit ver- Selbstversicherung zu fragen.
einzelter, als dezidiert persönliches Geschmacksurteil
gekennzeichneter Kritik verbindet. Der Zweck dieser Literatur
Korrespondenzen besteht somit zumeist weniger im Altmann, Minna K.: Theodor Storm. Das Persönlichkeitsbild
tatsächlichen Werkstatt-›Gespräch‹ und noch weniger in seinen Briefen. Bonn 1980.
Baasner, Rainer: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommuni-
in der Diskussion über grundsätzliche poetologisch- kation, Konvention, Postpraxis. In: Ders. (Hg.): Briefkul-
ästhetische Positionen (die es im Sinne eines ›Pro- tur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, 1–36.
gramms‹ des Poetischen Realismus, im Gegensatz et- Fasold, Regina: Eine Liebe in Lyrik und Prosa. Zum Liebes-
wa zum darauffolgenden Naturalismus, ohnehin nicht diskurs im Briefwechsel zwischen Theodor Storm und
gibt). Er ist vielmehr in der ständigen Versicherung, ei- Constanze Esmarch (1844–1846). In: STSG 63 (2014),
67–87.
nander als Künstler zu akzeptieren und zu schätzen, zu
Günter, Manuela: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten
sehen (vgl. hierzu maßgeblich Spies 1999). Der Wert der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2006.
der Briefwechsel besteht somit letztlich darin, dass sie, Spies, Bernhard: Ein bürgerlicher Großschriftsteller. Paul
um diesen Zweck zu erreichen, ständig fortgeführt Heyses Briefwechsel. In: Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur
werden, er besteht in der Serialität, im dauernden Per- im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, 207–238.
petuieren der Korrespondenz. Storm selbst verwendet Strobel, Jochen: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern.
Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg
den »Perpendikel« (Storm–Heyse II, 20) als Metapher
2006.
für die von ihm gewechselten Briefe. Darin gleichen
Jörg Schuster
290 III Werk – G Das Briefwerk

84 Der Briefwechsel Storm – Con- oder wegen langwieriger ärztlicher Untersuchungen


stanze Esmarch (verh. Storm) getrennt, so bevorzugte Storm – wie während seiner
Verlobungszeit – tagebuchartige Texte, die er dann
auch von Constanze energisch abforderte. Diese Brief-
Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Con- form mit minutiösen Aufzeichnungen äußerer Ereig-
stanze Esmarch, verh. Storm, von 1844 bis 1864 um- nisse und vor allem innerer Erlebnisse über mehrere
fasst zwei große Abschnitte des brieflichen Austau- Tage hin ist charakteristisch für die gesamte Korres-
sches mit einer Zäsur von etwa fünf Jahren nach ihrer pondenz, freilich besonders für das Schreib- und Mit-
Heirat: Zwischen Mitte September 1846 und Anfang teilungsbedürfnis des Dichters.
August 1851 – da lebte das junge Ehepaar zusammen Obwohl die Briefe aus verschiedenen Lebens-
in Husum – wurden keine Briefe gewechselt bzw. abschnitten stammen, so sind es doch allesamt vom
überliefert, so dass die frühen Briefausgaben, die noch Genre her Liebesbriefe, die über ein ambitioniertes
von der jüngsten Tochter des Ehepaars Constanze und Liebesprojekt des Autors Auskunft geben und zu-
Theodor Storm, Gertrud Storm, 1915 im George Wes- gleich über die intensivsten Beziehungen, zu denen er
termann Verlag (ohne die Gegenbriefe von Constan- fähig war, dabei seine komplizierte Persönlichkeit in
ze) herausgegeben wurden, unter dem Titel Theodor all ihren Facetten sichtbar machend. Denn trotz ge-
Storm. Briefe an seine Braut und Theodor Storm. Briefe wisser Übersteigerungen im Gefühlsausdruck, die an
an seine Frau erschienen. (Für kritische Anmerkun- den Briefstil des Zeitalters der Empfindsamkeit er-
gen zu diesen Ausgaben, die Storms Briefe höchst un- innern könnten und die vor allem manche Briefe an
genau datiert sowie nur gekürzt und bearbeitet wie- die Verlobte prägen, äußert sich Storm in seinen Brie-
dergeben, vgl. BB 1, 21 f.). fen an Constanze doch auf eine unverstellte, oft gera-
Die Korrespondenz der Verlobten setzte Mitte April dezu unkontrollierte und tabulose Weise, die ihres-
1844 ein, nachdem die Braut in ihre Heimat nach Sege- gleichen sucht und die von seinen starken inneren
berg zurückgekehrt war, und endete kurz vor der Ehe- Spannungen und Ängsten zeugt. Die Bedeutung die-
schließung am 15. September 1846. In nur rund sieb- ses Briefwechsels liegt eindeutig darin, dass er ein
zehn Monaten reiner Korrespondenzzeit, Constanze noch unausgeschöpftes, umfangreiches Quellenmate-
war von Ende Juli 1844 bis Mitte Juli 1845 erneut in rial bereithält, anhand dessen die Formen einer ins Pa-
Husum, ist der, wenn nicht umfangreichste, so doch thologische spielenden Bindungsproblematik des Au-
intimste Briefwechsel des Dichters entstanden. Die tors analysierbar werden, deren Strukturen sich in sei-
überschaubare Anzahl der Briefe täuscht dabei etwas – nen Werken, vor allem in den Beziehungen seiner
insgesamt 222, davon 136 von Storm und 86 von Con- Protagonisten wiederfinden.
stanze (ca. 20 Briefe von Storm und ca. 60 von Con- Die Einblicke in die äußeren Verhältnisse des Paares
stanze aus diesem Zeitraum sind nicht erhalten), denn treten demgegenüber zwar in den Hintergrund, sind
das Brautpaar schrieb tagebuchartige Briefe, die zwei- jedoch insofern von Interesse, als Storm sich vor allem
mal pro Woche abgeschickt wurden. Ein Brief umfasst in Husum zusammen mit der geliebten Frau vor den
jeweils die detaillierten Schilderungen der Lebens- oft als borniert empfundenen kleinstädtischen Ver-
abläufe von drei bzw. vier Tagen, wobei es Storm pro hältnissen in das häusliche Refugium zweier gebilde-
Brief im Durchschnitt auf vier bis sechs eng beschrie- ter, belesener und innerlich reicher Menschen zurück-
bene Seiten des Formates 27 × 21,5 cm brachte. zuziehen wünschte. Die Jahre 1844 bis 1846 standen
Der Briefwechsel der Eheleute Storm erstreckt sich zwar in Schleswig-Holstein bereits unter dem Zeichen
über einen Zeitraum von dreizehn Jahren, beginnend einer erstarkenden politischen Bewegung, die um die
mit einem Ferienaufenthalt Constanzes bei ihrer Fa- Selbständigkeit der Herzogtümer gegenüber dem dä-
milie in Segeberg im August 1851 und endend wenige nischen Gesamtstaat kämpfte und sich z. B. 1844 in
Monate vor ihrem Tod, als sie im Dezember 1864 den großen Volks- und Sängerfesten von Bredstedt
noch einmal zu Besuch in ihrer Heimat weilte. Der (10.6.) und Schleswig (24.7.) manifestierte. Auch das
Hauptteil der Korrespondenz entstand während der Verbot Christians VIII. (28.7.1845), die schleswig-hol-
Exilzeit der Storms, vor allem im preußischen Hei- steinischen Landesfahnen öffentlich zu zeigen, sowie
ligenstadt; 121 Briefe sind überliefert, davon 71 von sein »Offener Brief« (8.7.1846) über die Erbfolge im
Storm und 50 von Constanze (25 Briefe, die heute als Herzogtum Schleswig fielen in diese Zeit und waren
verloren gelten, konnten erschlossen werden). Waren im Land von heftigen Protesten begleitet. Aber Storms
die Eheleute aufgrund von Erholungsaufenthalten Reaktionen darauf in den Briefen fielen äußerst zu-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_84, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
84 Der Briefwechsel Storm – Constanze Esmarch (verh. Storm) 291

rückhaltend aus und waren zum Teil von ironischer zum Musizieren, eine Stunde nachmittags zum Lesen
Distanz gegenüber den politischen Akteuren geprägt und danach zwei Stunden, um an ihn zu schreiben
(vgl. Brief Nr. 22 zum Sängerfest in Bredstedt, 11.– (vgl. BB 1, Nr. 75, 290). Constanze mit seinen Briefen
12.6.1844, BB 1, 105–109). Sein in den Briefen nach- »zur Theilnehmerin meines innern Lebens und mei-
vollziehbares Alltagsleben wurde in dieser noch recht ner Bildung zu machen« (BB 2, Nr. 159, 257), war das
friedlichen Zeit tagsüber im Wesentlichen bestimmt erklärte Ziel seiner Korrespondenz, für die ihm an-
durch seine Arbeit in der Kanzlei und abends durch fangs als Ideal Bettina von Arnims 1835 erschienenes
Gespräche mit Freunden und Husumer Bekannten. Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde vorschweb-
Anfangs ist da vor allem sein Jugendfreund, der Arzt te, das damals noch als authentisches Zeugnis der Be-
Dr. Lorenz Kuhlmann, zu nennen, ab Ende 1845 dann, ziehung zwischen Goethe und Bettina galt. Als er Con-
als er in das Haus in der Neustadt einzog, sein Mit- stanze den dritten Band davon, das Tagebuch, schickte,
bewohner Ernst Lorenzen, der Bräutigam seiner schrieb er: »[...] es enthält Erinnerungen an Göthe und
Schwester Helene, und ab 1846 schließlich der Sekre- enthusiastische Liebe. Du wirst es mit großer Befriedi-
tär des Husumer Amtmannes, Hartmuth Brinkmann, gung lesen und oft gewiß Dich selbst im reinsten Spie-
der ein enger Freund werden sollte. Kleine Abend- gel sehen [...] Lies Dich recht hinein, süße Dange; es ist
gesellschaften bei seinen Eltern in der Hohlen Gasse ein wahres Buch der Liebe; ich weiß nichts schöneres,
oder bei anderen Honoratiorenfamilien der Stadt was Du lesen möchtest« (BB 1, Nr. 24, 113). Dass sich
brachten zwar etwas Abwechslung in die geistige Öd- Constanze, die in Segeberg nur wenige Jahre unter-
nis; der Mitte April 1843 gegründete Gesangverein, richtet wurde und anfangs Mühe hatte, orthographisch
mit dem Storm auch anspruchsvolle Chormusik seiner korrekt zu schreiben und sich einigermaßen differen-
Zeit aufführte, stellte dann aber schon den geselligen ziert auszudrücken, in dieser Art von Literatur, die ide-
Höhepunkt in dieser kleinstädtischen Welt dar. Nur enreich, phantastisch ausschweifend, ja exzentrisch
wenige Kontakte wie die zu den Brüdern Biernatzki, anmutet, wie in einem Spiegel wiedererkannt haben
die das Volksbuch für die Herzogtümer Schleswig, Hol- könnte, bleibt eine Illusion des Bräutigams genauso
stein und Lauenburg herausgaben, deuten zaghafte wie die Vorstellung, die innig und zart empfindende
Entwicklungsschritte des Autors Theodor Storm an, Constanze könne diesen leidenschaftlichen Enthusias-
der in den Volksbüchern bis 1846 einige Sagen, Anek- mus der mignonhaften Bettine für ihn entwickeln. Be-
doten und Gedichte veröffentlichte, aber erst 1847 er- reits diese wenigen Briefzeilen Storms zeugen von sei-
schien dort sein erster Novellentext, Marthe und ihre nen überspannten, realitätsenthobenen Vorstellungen,
Uhr. Als Künstler befindet sich Storm während seiner die aber das geliebte Mädchen unter enormen Druck
Verlobung in einer Art ›Inkubationszeit‹, in der durch setzten, da er ihr suggerierte: Du fühlst so, »Du denkst
die exzessive und in den Briefen verbalisierte Intro- so« (vgl. diesen Satz im Zusammenhang mit seinem
spektion eine intensive Selbstbegegnung stattgefunden Rollen-Gedicht Ich bin mir meiner Seele, BB 1, Nr. 85,
haben mag. Verbunden ist sie mit dem Ringen um ein 338). Der Austausch über die verabredeten anspruchs-
Liebesideal, das Storm in der Ehe mit Constanze zu vollen Lektüren, neben Goethes Briefwechsel mit einem
verwirklichen gedachte, das in der Korrespondenz Kinde auch Wilhelm Meisters Lehrjahre und Die Wahl-
aber im Wesentlichen erst entwickelt wurde. Unbe- verwandtschaften, gestaltete sich denn auch als ein-
dingt vermeiden wollte Storm, dass seine Beziehung ziges Desaster, weil Constanze nie in der Lage war,
später in einer langweiligen, von »ewige[n] Haushal- auch nur wenige Sätze über das Gelesene zu formulie-
tungsgespräche[n]« (BB 1, Nr. 54, 206) bestimmten ren. Meist bestätigte sie nur die gedanklichen Vor-
Konvenienz-Ehe landete, von der er meinte, dass seine gaben ihres Bräutigams. Deshalb ging Storm auch bald
Eltern und viele Honoratioren-Paare Husums sie führ- dazu über, ihr nur noch von den eigenen Lektüren zu
ten. Die Gefahr lag nahe, da die Segeberger Bürger- berichten, so wie z. B. über Eduard Mörikes Roman
meisterstochter wie viele Mädchen der bürgerlichen Maler Nolten, einen seiner Lieblingstexte, der ihm »so
Mittelschicht in den kleinen Landstädten vor allem zu aus der Seele geschöpft« war, dass er »beim Lesen fort-
einer guten Hausfrau erzogen wurde, ihre Schulbil- während eine Art von Befriedigung« seines Gefühls
dung dagegen kläglich blieb. Dem abzuhelfen, startete für sie empfand (BB 2, Nr. 159, 255). Der Umfang von
Storm sofort mit einem umfangreichen Erziehungs- Storms literarischen Kenntnissen, die in den Briefen
und Bildungsprogramm für sie, für das er bei seinem Erwähnung finden, überrascht. Sie reichen von den
künftigen Schwiegervater wenig später auch einen täg- Vertretern der Weimarer Klassik, über den aus dem
lichen Zeitfonds einforderte: eine Stunde vormittags Gleim-Kreis hervorgegangenen Wilhelm Heinse (Ar-
292 III Werk – G Das Briefwerk

dinghello), die Romantiker Tieck (Tod des Dichters, ihn wohl letztlich unhinterfragbar geblieben. »[G]laub
Franz Sternbalds Wanderungen), Eichendorff (Dichter es immer, Liebe ist unmittelbare Gottheit. Liebe ist An-
und ihre Gesellen), E. T. A. Hoffmann (Das Fräulein dacht, ja Liebe ist schon Religion« (BB 1, Nr. 5, 42) –
von Scuderie), Fouqué, über die frührealistische Prosa das schrieb ein Mann, der dezidiert dem kirchen- und
eines Karl Gutzkow, Karl Immermann (Münchhausen, religionskritischen Geist eines Karl Immermann, eines
Memorabilien, Tristan und Isolde), Ernst Willkomm Ernst Willkomm, eines Heinrich Heine zugeneigt war
(Die Europamüden), Berthold Auerbach (Der Tol- (vgl. zum ›Liebesevangelium der Brautbriefe‹ De-
patsch, Schwarzwälder Dorfgeschichten) bis hin zu mandt 2010, 91–126). Dem Perpetuieren und Sakrali-
Charles Dickens (Das Heimchen auf dem Herde, Nicho- sieren der Gefühle dienten Storms ganze briefliche Ar-
las Nickleby, Oliver Twist) und Walter Scott (Guy Man- gumentationskunst, aber insbesondere auch die in den
nering, Ivanhoe, Waverley). Und damit sind nur Ver- Briefen mitgeteilte Liebeslyrik. Dreißig Gedichte fin-
treter der sogenannten Höhenkamm-Literatur ge- den sich dort insgesamt und darüber hinaus Verse, die
nannt und auch nicht die Vielzahl der Lyriker und Ge- Constanze aus den an sie gerichteten und heute z. T.
dichte, die er aus allen literarischen Epochen kannte, verlorenen Briefen abschrieb und die nur dadurch er-
wobei in dieser Zeit Heine und Eichendorff zu seinen halten geblieben sind (z. B. Wie ist die Nacht so trübe,
Lieblingen zählten. Im Mittelpunkt der für Constanze LL 1, 238 f.). Mit Wer je gelebt in Liebesarmen (BB 1,
ausgewählten und umfangreich zitierten Literatur Nr. 32, 137; in der späteren Fassung LL 1, 33), Sprich,
stand das Liebesthema, das er ihr vor allem anhand bist du stark? (BB 2, Nr. 164, 275; LL 1, 247 f.), An die-
von Immermanns Münchhausen und dem von Ignaz sen Blättern meiner Liebe hangen (BB 2, Nr. 164, 275;
Aurelius Feßler 1806 verfassten Buch über das große LL 1, 248) und dem Rollengedicht Ich bin mir meiner
Liebespaar des Mittelalters, Abälard und Heloise, er- Seele (BB 1, Nr. 85, 338; LL 1, 243) thematisierte Storm
läuterte (vgl. dazu Fasold 2014, besonders 74–79). Sein das zentrale Motiv in diesem Zusammenhang: die ein-
Liebesideal, so ergibt sich aus dem Sichten der literari- malige und einzigartige Liebe zweier Menschen, die
schen Muster, knüpft vor allem an im 18. Jahrhundert für immer und ewig dauern soll (vgl. dazu auch Fasold
entwickelte Vorstellungen an, enthält also im Kern das 2014, besonders 80–87). Das Begehren nach einer Lie-
Bekenntnis zum großen Gefühl zwischen Mann und be über den Tod hinaus als Schwerpunktthema bei ei-
Frau und verteidigt die Neigungsehe gegen alle religiö- nem Autor, der die Existenz eines Transzendenten eher
se und soziale Schranken. Es geht aber auch darüber bezweifelte, verdient besondere Beachtung. Die Verse
hinaus. Denn bei Storm stehen im Mittelpunkt dieses »Wer je gelebt in Liebesarmen, / Deß Herz kann nim-
Ideals ganz individualistisch quasi die ›autochthonen‹ mermehr verarmen« z. B. haben zum Grundgedanken,
Empfindungen der Liebenden selbst. Gegen einen dass das Hochgefühl einer einzigen, aber nicht von un-
Standesunterschied ankämpfen musste das Brautpaar gefähr als »selig«-machend apostrophierten Liebes-
ja auch nicht, und selbst ihre »Hauscopulation« (vgl. stunde hinreichend sei für ein ganzes Dasein und dass
BB 2, Anm. zu Nr. 157, 500 f.) – Storm empfand die danach selbst der einsame Tod nicht mehr schrecken
Trauung in der Segeberger Kirche als »Profanation der könne. Was hier im lyrischen Sprechakt als Tatsache
Liebe« und lehnte sie ab (BB 2, Nr. 201, 399) – war pro- formuliert wird, erweist sich vor dem Hintergrund der
blemlos zu arrangieren. Damit verlor dieses Liebeside- Briefe als frommer Wunsch. Denn die bezeugen, dass
al aber auch die Spannung, die es einst aus dem Wider- der Autor selbst nicht in der Lage war, auch nur für
stand gegen ›die Verhältnisse‹ bezog. Das, worauf der kürzeste Zeit die Sicherheit in der Zuneigung zu einer
junge Autor seine Ehe zu gründen versuchte, hatte Frau zu erleben, die sein lyrisches Ich bereits nach ei-
demnach etwas ungemein Flüchtiges, Veränderbares, ner einmaligen Begegnung für immer errungen zu ha-
Vergängliches. Gänzlich aus sich selbst heraus waren ben scheint. Als Grund für den lyrischen Beschwö-
die Gefühle immer wieder neu zu generieren und stän- rungsakt lässt sich über den Briefkontext die totale
dig drohten Gefühlsabschwächung und Zuwendungs- Verunsicherung des Autors gegenüber dem Realitäts-
verlust. Darin lag ein Problem (wenngleich nicht das status des im Gedicht Mitgeteilten ausmachen. Die fik-
einzige), das die Beziehung und den Briefwechsel un- tive Realität der Liebesgedichte simuliert die Lebens-
gemein quälend machte. Aber es mobilisierte bei wirklichkeit des Brautpaars Theodor und Constanze
Storm gleichwohl eine ungemeine Beredsamkeit und im Sinne eines modernen Poetischen Realismus nur
all sein sprachliches Können, um den so flüchtigen bedingt. Denn die Wurzeln des überstarken Liebes-
Empfindungen letztlich etwas Numinoses zu verlei- wunsches bleiben in der Lyrik zumeist verdeckt wie
hen. Denn nur als Glaubenserfahrung wären sie für auch die hochproblematischen Folgen für eine Frau,
84 Der Briefwechsel Storm – Constanze Esmarch (verh. Storm) 293

die einen solchen Wunsch erfüllen soll. Beides aber pondenz der Eheleute, das dort in der Einführung in
enthüllt die Briefprosa. die Briefausgabe näher erläutert wird und sich um die
Eine abgründige, aber stets verleugnete Angst von Constanze nicht erfüllte Bitte Storms drehte, auf
Storms vor dem Liebesverlust grundiert und be- ihrer Reise gewisse Strumpfbänder nicht zu tragen
herrscht die Korrespondenz des Brautpaars und auch (vgl. EB, 19–25). Eine vergleichbare Episode ereignete
noch die der Eheleute. Sie stellt zum einen den Hinter- sich kurz vor Weihnachten 1845, als Constanze, die ei-
grund für die enervierende Frage in so vielen Briefen ne schöne Altstimme besaß, in Segeberg gesungen
an Constanze dar (vgl. die Briefe Nr. 5, 20, 53, 120, hatte, obwohl Storm sie gebeten hatte, die Stimme zu
151, 162, 164, 166, 168), ob sie ihren Bräutigam lieben schonen und mit dem Singen auf seinen Besuch, der
könne, auch über seinen, als nicht allzu fern gedach- im Februar 1846 zur Silberhochzeit seiner künftigen
ten Tod hinaus, eine Frage, die sie ihm in unendlicher Schwiegereltern erfolgen sollte, zu warten. Constanze,
Geduld immer wieder mit ›ja‹ beantwortet hatte und die offenbar von ihrer Mutter gedrängt wurde, die Bit-
die er dennoch immer wieder stellen musste und ihr te einer kleinen Segeberger Gesellschaft nicht ab-
als Ringen um Übereinstimmung im Denken über die zuschlagen, berichtete von dieser Ausnahme auch ge-
sogenannten ›letzten Dinge‹ des Lebens ausgab. Und treulich nach Husum und entschuldigte sich zugleich
diese Angst setzt zum andern eine nie abreißende Ket- bei ihrem Bräutigam. Damit war die Sache für ihn
te von Forderungen nach Liebesbeweisen seiner Braut aber keineswegs abgetan, sondern er fuhr sofort seine
in Gang, die diese jedoch nur in der von ihm vor- stärksten Geschütze auf, indem er ihr vorwarf, sie ha-
geschriebenen Form zu erbringen hatte. Im Zentrum be ihre Liebe verleugnet: »Wenn Deine Liebe so
der Korrespondenz steht ein ungemein fragiles Ich, schwach in meiner Abwesenheit ist, wie wolltest Du
ein von »Heftigkeit und Launen« geschüttelter Mann dann, wenn ich gestorben bin, mir noch leben kön-
(BB 2, Nr. 123, 139), der eine erstaunliche Energie in nen? Und ist das nicht Dein wie mein sehnlichster in-
die Arbeit an einem Bild seiner Geliebten steckte, das nigster Wunsch, daß uns auch der Tod nicht zu tren-
sie ihm in ihrer Korrespondenz spiegeln sollte. Ihre nen vermöge?« (BB 2, Nr. 113, 98). Damit aber nicht
Briefe aber waren ihm eigentlich nie recht: »Deine genug, steigerte er sich unablässig von Brief zu Brief,
Briefe geben mir nur sehr selten den Eindruck Deiner bis das Ganze in eine die Frau geradezu vernichtende
Persönlichkeit, wie das bei meinen, glaub ich, der Fall Standpauke einmündete: »Das ist es eben, was mich
ist; daher hab ich gewöhnlich beim Lesen Deiner Brie- quält, daß Du das, was Du gethan, nicht als eine
fe ein Gefühl der Täuschung« (BB 2, Nr. 118, 115).Was Schuld empfindest, wäre Deine Liebe der höchste In-
mit kleinen Nörgeleien über formale Mängel begann begriff Deines Lebens, und ich im Besitz dieser Liebe,
– über das Fehlen des exakten Datums beim Schrei- so würdest Du fühlen, daß Du Dich an deinem Hei-
ben, die zu blasse Tinte, die nicht mit einer Papier- ligsten versündigt; – daß Du dieß, wenn nicht jetzt, so
schere beschnittenen Briefe, das zu flüchtige oder zu doch ehe der Tod uns trennt, aus tiefster Seele empfin-
lustige Schreiben, das mangelnde Eingehen auf seine dest, das ist mein höchstes Gebet zu Gott« (BB 2,
Fragen –, endete auch noch nicht mit der ihr oft ver- Nr. 123, 137). Er beruhigte sich erst, wenn auch nur
mittelten tiefen Enttäuschung darüber, dass sie nicht für kurze Zeit, als Constanze einen brieflichen Buß-
»mit liebessichrer Ahnung« (BB 1, Nr. 89, 351) vo- gang sondergleichen vollzog: »[...] führe mich zum
rausfühlte, was er im fernen Husum zum Zeitpunkt Besseren, mein Theodor und ich will Dir mit Dank
der Niederschrift ihres Briefes in Segeberg gerade folgen. O! ich hab’ Dich so lieb, so lieb, mein Theodor
emotional benötigte. Den Höhepunkt in diesem Zu- und will Dir den Kummer den ich Dir gemacht gerne
sammenhang bilden erst die Affekte-Stürme eines zu- abbitten, mich gerne vor Dir demüthigen, sei mir
tiefst Gekränkten, die sich nicht selten über viele Brie- denn auch lieb und süß und hab mich lieb, Du bist so
fe hinziehen – in der gedruckten Fassung manchmal gut mein Theodor, ich erkenne es mit jedem Tage
über mehr als vierzig Seiten – und bei denen selbst der mehr!« (BB 2, Nr. 125, 145 f.). Am Ende dieser ver-
interessierteste Leser von heute leicht den Überblick balen ›Zurichtung‹ Constanzes schickte Storm seiner
verliert, weil man den Grund – oft geringfügig und ba- Geliebten zarteste Poesie, deren dunkle Kehrseite frei-
nal erscheinend – rasch überliest und dann auch nicht lich im Verborgenen blieb: »Hast du mein herbes
sofort mit den späteren heftigen Attacken Storms ge- Wort vergeben? / O schaue wieder lieb und hell! / An
gen Constanze in Zusammenhang zu bringen vermag. deinem Lächeln hängt mein Leben; / Du kannst mir
Es gibt mehrere Beispiele dafür im Briefwechsel des Wohl und Wehe geben, / Dein Herz ist meines Lebens
Brautpaars und ein pikant anmutendes in der Korres- Quell« (BB 2, Nr. 132, 167).
294 III Werk – G Das Briefwerk

Das manipulative Verfahren, mit dem Storm in Das Frauenbild, an dem Storm in seiner Korres-
den Briefen argumentierte und die Verinnerlichung pondenz mit nie ermüdender Kraft arbeitete, fiel im
seiner minutiös erläuterten Vorgaben einforderte Vergleich zu dem enormen Wortreichtum, mit dem er
und dabei sogar erpresserisch seine Gesundheit ins es beschwor, recht dürftig aus, er benötigte dafür im
Spiel brachte (vgl. BB 2, Nr. 195, 381 f.), trägt zweifel- Grunde nur wenige Striche: »Du glaubst nicht, wie ich
los demagogische Züge. Hinter dem hochgespannten solche ruhige milde Klarheit an den Frauen verehre,
Ideal, das er, so will er seine Braut überzeugen, in sich wie glücklich es mich macht, es an Dir, an meiner ge-
bereits verwirklicht habe –«so ist Deine Liebe zu mir liebten Frau verehren zu können« (BB 2, Nr. 111, 94).
bis jetzt doch nur Stimmung meine aber Gesinnung« An anderer Stelle schrieb er, dass ihm in ihrer Nähe
(BB 2, Nr. 123, 139) – verbirgt sich ein von Constanze sei, als blicke er »in einen thaufrischen Frühlingsmor-
kaum zu durchschauendes immenses Kontroll- und gen hinaus« (vgl. BB 2, Nr. 118, 115). Auch die »Rein-
Herrschaftsverlangen, das von einer Frau niemals zu heit des Diamanten« (BB 2, Nr. 195, 381), die Reinheit
befriedigen war, weil ihm offenbar ein narzisstisches eines Kindes (BB 1, Nr. 24, 114) bzw. die »gesunde[]
Syndrom zugrunde lag. Beim Kontrollverlust über reine[] Natur« (BB 1, Nr. 11, 70) werden als Vergleiche
das Liebesobjekt stürzt der darunter Leidende tat- bemüht, wenn es z. B. um den gewünschten Grad ih-
sächlich in Zustände verzweifelter Ohnmacht und rer Treue, Offenheit und Zuwendung ging. Den ge-
abgründiger Einsamkeit (vgl. dazu BB 1, Einleitung, ringsten Fehler an ihr würde er »als eignen Schmerz
besonders 16). Wenn sich der Autor allerdings zu der fühle[n]«, und es sei sein »höchstes Glück«, sie »gut
damit verbundenen schweren Grundangst bekannte, und vollkommen zu wissen« (BB 2, Nr. 130, 161). Man
sie nicht verleugnete wie so oft – »Eifersüchtig kann gewinnt aus alledem den Eindruck, dass nur eine Hei-
ich niemals werden, denn ich bin zu stolz um einen lige bzw. besser noch die Gottesmutter selbst diesen
Nebenbuhler für möglich zu halten« (BB 1, Nr. 11, Ansprüchen eines zutiefst Erlösungsbedürftigen ge-
69) – dann konnte seine »selbstquälerische Phantasie« nügen konnte. Und so sah es Storm schlussendlich
(BB 2, Nr. 200, 397; Hervorhebung im Original) auch auch: »Du bist mein letzter Engel«, schrieb er gleich zu
so herausragende Verse generieren wie Hyazinthen Beginn ihrer Korrespondenz (BB 1, Nr. 16, 85), oder:
(LL 1, 23). Wir kennen zwar die exakte Entstehungs- »Heile mich von meinen Grillen und ich werde Dich
zeit dieses Gedichtes nicht, eine Abschrift taucht erst anbeten« (BB 1, Nr. 78, 310), und später noch: »Ich
in einem von Storm 1851 zusammengestellten Ge- will doch sehen, ob meine Liebe Dir nicht alles abge-
dicht-Konvolut auf (vgl. LL 1, 776), es könnte aber winnen kann, was mein Herz begehrt; ob ich Dich
von den tiefen Eifersuchtsgefühlen getragen sein, die nicht noch dazu bringe, daß Dein Auge mich so behü-
Storm immer wieder heimsuchten, wenn Constanze thet, wie die Mutter das Kind« (BB  2, Nr. 127, 152).
auf kleinen Hausbällen in Segeberg tanzte, so Mitte Auf dem Wege zurück in eine symbiotische Beziehung
Juli 1846, aber auch Ende Oktober 1845. In Storms versuchte der herrische Liebhaber, seinem Mädchen
Brief Nr. 90 (BB 1, 360 f.) tauchen dann bereits die im Grunde ihren eigentümlichen Charakter aus-
später berühmt gewordenen, auch an Büchners Lied zutreiben, ihr lebendiges Wesen in einen stillen Spie-
der Rosetta in Leonce und Lena erinnernden Motive gel seiner selbst zu verwandeln. Aber das, was er Con-
von ›Schlaf‹ und ›Tanz‹ zum ersten Mal auf: »[...] stanze als »Trotz und Egoismus« auslegte, als innere
komm jetzt und wirf Dich in meine Arme, meine »gefährliche Feinde«, die es zu bekämpfen galt (vgl.
Frau! So, ich umschlinge die ganze Person, und nun BB 2, Nr. 123, 139), das erwies sich letztlich als ihre
– aber Du sollst mir Deinen Mund nicht so bald weg- Stärke. Wiederholt nahm sie nach vielen langwierigen
ziehn! – – Ach Dange, ich dachte gar nicht daran; ich und zermürbenden Debatten mit ihrem Bräutigam
hör Tanzmusick; Du fliegst eben in einem wüthenden die berühmte Lutherhaltung ein: »Süsser Theodor ich
Galopp vorbei, ja freilich Du hast jetzt wichtigere glaube fast ich werde Dich nie durch einen Brief von
Dinge vor, als mich zu küssen. – Ja, mein allerliebstes mir befriedigen, aber ich kann nun eben nicht anders
Herz, das ist eben das Bitterste der Trennung, [...] kei- schreiben wie ich es thue, Du mußt schon Nachsicht
ner kann an dem Thun des andern persönlich An- mit mir haben« (BB 2, Nr. 121, 133 f.; vgl. auch BB 1,
theil nehmen; was ja eben uns verliebten Leuten so Nr. 81, 321). Hätte Constanze die natürliche innere
süß ist; ich geh jetzt zu Bett, und Du – thust wenigs- Stärke nicht besessen, mit der sie diesen Mann aus-
tens etwas sehr Andres. Denk Dir Dange, könntest hielt und zugleich stabilisierte, sie wäre wohl, psycho-
Du schlafen, wenn Du wüßtest, daß ich währenddeß logisch gesehen, zu einer der ›Totenbräute‹ geworden,
tanzte?« die Storm wenig später in seinen Novellen-Texten
84 Der Briefwechsel Storm – Constanze Esmarch (verh. Storm) 295

darstellte (vgl. das Ende von Elisabeth in Immensee, theoretische Aspekt hierbei camoufliert aber nur, dass
von Lene in Auf dem Staatshof oder von Lore in Auf die Stormschen Versuche, seine Frau nach Maßgabe
der Universität). seiner Projektionen zu überformen, immer wieder ge-
Zu diesem Zeitpunkt stand Constanze das Ärgste scheitert waren (vgl. dazu auch Demandt 2010, 103 f.):
allerdings erst noch bevor, da sich ihr Ehemann kurz »[A]uch in nächster Nähe haben wir immer nur die
nach der Heirat am 15. September 1846 leidenschaft- eigne Vorstellung der Eine von dem Andern; das Bild,
lich in die jüngere Schwester seiner Schwägerin, in das wir uns selber abstrahiren; uns selber haben wir
Doris Jensen, verliebte, die seine spätere zweite Frau doch eigentlich nie [...] und wenn Du in hingebend-
werden sollte. Aus dieser bewegten Zeit sind keine ster Liebe an meinem Herzen liegst, ich muß auf Dich
Briefe des Ehepaars überliefert. Die Korrespondenz sehen wie auf ein Geheimniß, in das ich nie hinein-
setzte erst wieder ein, als Storm sich auf Bewerbungs- zudringen vermag« (EB, Nr. 36, 125, Hervorhebung
reisen nach Berlin begeben musste, nachdem die dä- im Original).
nische Behörde in Kopenhagen Ende November 1852 Trotz der vielen Briefe auch in dieser Korrespon-
seine Anwaltszulassung nicht bestätigt hatte. Die Be- denz, in denen Storm sich wie in seiner Verlobungs-
ziehung des Ehepaars scheint in dieser Phase bereits zeit an der als unzulänglich empfundenen prosaischen
wieder gefestigt zu sein, mit Sicherheit kann man das Wirklichkeit in Gestalt der geliebten Frau gleichsam
nach der Geburt der drei Söhne sagen. Einen neuen ›abarbeitete‹ mit dem Ziel – um es euphemistisch aus-
beruflichen Anfang in Preußen zu wagen und für die zudrücken – deren poetische Seite zum Vorschein zu
Familie dort ein Auskommen zu finden, bedeutete ei- bringen (vgl. dazu die Einführung in EB, 16–25), ist
ne der stärksten Herausforderungen in Storms Leben, das Paar doch während der Exilzeit, wo es ganz auf
die er ohne die stetige Unterstützung seiner Frau nie- sich allein gestellt war, partnerschaftlich erst so recht
mals hätte meistern können. zusammengewachsen. Die Kämpfe blieben auf den
Der Hauptteil der Korrespondenz der Eheleute Kernbereich ihrer emotionalen Beziehung be-
Storm, drei Viertel der überlieferten Briefe, stammt schränkt. Die Verständigung der beiden erfolgte im-
aus den Heiligenstädter Jahren; in der Potsdamer Zeit mer wieder durch das Alltagsleben und vor allem
von Ende 1853 bis Mitte 1856 waren sie nur aus- durch den Austausch über die Charaktere, die Erzie-
nahmsweise getrennt. Aber zwischen dem 19. August hung und die Ausbildung der Kinder. Dass sich die
1856, Storms Ankunft in Heiligenstadt, und dem Eheleute aussprechen konnten, auch und gerade über
23. April 1864, Constanzes Rückkehr nach Husum, la- die schwierige Entwicklung der Söhne z. B., war zwei-
gen mehrfache Urlaubs- und Erholungsreisen vor al- fellos die Basis für ein tiefes Gefühl der Verbundenheit
lem in der Sommerzeit nach Schleswig-Holstein, die und Zugehörigkeit zum Anderen, das letztlich beide
sich Theodor und Constanze gemeinsam oft nicht empfanden. Constanze Storm entwickelte sich – das
leisten konnten. Erst in diesen längeren Trennungs- zeigen ihre Briefe, die das Echohafte der Brautzeit ver-
zeiten und in dem äußerlich wieder beruhigten Le- lieren und an Umfang und inhaltlichem Format ge-
bensabschnitt seiner Kreisrichterexistenz in Heiligen- winnen – zu einer geduldigen und ausgleichenden
stadt entfaltete Storm wieder seine ganze briefliche Partnerin ihres Mannes, der er seine zartesten Emp-
Darstellungskunst, die sich nun auch auf lebendige findungen genauso mitteilte wie seine finanziellen
Schilderungen der Erlebnisse mit den Kindern, den Nöte und körperlichen Schwächezustände, seinen Är-
Freunden, auf den Ausflügen in die Umgebung und ger mit den Dienstmädchen und seine Erfahrungen
auf Berichte über seinen richterlichen Alltag erstreck- im Berufsalltag als Richter. Nicht zuletzt war sie seine
te. Zu seinem innersten Bedürfnis gehörte es aber im- erste Vertraute, wenn es um seine poetischen Arbeiten
mer noch, sich vor allem über seine Beziehung zur ging. Sie war freilich nicht die Frau, mit der er einzelne
Partnerin und über deren intimes Verhältnis zum ihm Szenen seiner Novellen brieflich diskutieren konnte,
auszusprechen. So liest man auch in seinen Briefen an sie erscheint eher als stille Zuhörerin, deren wohlwol-
die Ehefrau von seinem überstarken Bedürfnis nach lender Zustimmung er eigentlich immer sicher sein
Nähe zu ihr, seinem Wunsch nach einer Teilhabe an konnte. Nur selten äußerte sie eine Meinung zu seinen
ihrer inneren Welt und einem tiefen Leiden an der ge- Gedichten und Novellen, die sie gleichwohl alle gele-
fühlten Distanz zum Anderen, die offenbar nie zu sen haben muss: »[G]laube nur nicht, dass es ein ein-
überbrücken war. Das existenzielle Einsamkeitsgefühl ziges Deiner Gedichte giebt, die ich nicht kennte«, be-
des Schreibenden vermochte er zwar nun auch ins teuerte sie und spielte damit auf die Lyrik an, die aus
Philosophische zu verallgemeinern, der erkenntnis- seiner Doris-Jensen-Affäre erwuchs, »manche kenne
296 III Werk – G Das Briefwerk

ich zu meiner Freude, manche zu meiner Quaal, wenn Wahres über seine Gefährtin enthielten. Wir verdan-
ich sie lese« (EB, Nr. 64, 2008). Oft begnügte sie sich ken ihr letztlich einige der schönsten Liebesbriefe
mit ihrem berühmten ›reizend‹, wenn Storm ihr seine deutscher Sprache, die aus einer langjährigen Ehe her-
Novellenpläne vorstellte wie etwa den Stoff zu der nie vorgegangen sind: »So einmal voll und ohne alle Stö-
ausgeführten Erzählung Im Korn (EB, Nr. 63, 202 f.). rung aus empfinden können, was wir einander sind,
Entschiedener beteiligt war Constanze dann, wenn es allmählich immer mehr geworden sind, das wäre die
darum ging, mit Buch- und Zeitschriftenverlagen zu Stunde des Glückes, die mir jetzt die schönste auf der
verhandeln. Sie wusste nur zu gut, wie sehr ihr Mann Erde scheint. Und jetzt wo bei der langen Trennung
die schriftstellerische Arbeit neben seinem Beruf als wir den innersten Kern unsres Wesens klarer und tie-
Jurist körperlich aufrieb. Und da insistierte sie schon fer empfinden, als dieß in der Jagd des täglichen Le-
einmal und empfahl, eine Novelle in der Gartenlaube bens möglich ist, wo ich meine Liebe zu Dir wie einen
zu veröffentlichen, die zu dieser Zeit wohl die höchs- leibhaftigen süßen Strom in meinem Blut empfinde, –
ten Zeitschriftenhonorare garantierte. Und sie bangte jetzt wäre die Stunde. Aber – lebwohl – auf Wieder-
mit ihrem Mann, als der Münsteraner Verleger E. C. sehen, meine einzig Geliebte!« (EB, Nr. 70, 230 f.).
Brunn, zu dem Storm erst Anfang der 1860er Jahre
Kontakt aufgenommen hatte, sich monatelang nicht Literatur
meldete und das Honorar für Auf der Universität Baßler, Moritz: »Die ins Haus heimgeholte Transzendenz«.
schuldig blieb. Constanze Storm war freilich zualler- Theodor Storms Liebesauffassung vor dem Hintergrund
der Philosophie Feuerbachs. In: STSG 36 (1987), 43–60.
erst immer Hausfrau, die für die Ernährung, die Klei- Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor
dung, das gesundheitliche Wohlergehen der Familie Storm. Berlin 2010.
Sorge trug. Und das erforderte ihre ganze Kraft. Dass Fasold, Regina: Eine Dichterliebe in Husum. Anmerkungen
mit ›Hausfrauen‹-Themen viele ihrer Briefe gefüllt zum Briefwechsel Theodor Storm – Constanze Esmarch.
sind, versteht sich fast von selbst. Kunst, Musik und In: STSG 52 (2003), 43–52.
Fasold, Regina: Eine Liebe in Lyrik und Prosa. Zum Liebes-
Literatur, die sie liebte, waren für sie im Grunde ein
diskurs im Briefwechsel zwischen Theodor Storm und
Luxus, den sie sich bestenfalls nach der Erledigung ih- Constanze Esmarch (1844–1846). In: STSG 63 (2014),
res Tagewerks gönnte, das sie oft erschöpfte, zumal in 67–87.
den Zeiten ihrer wiederholten Schwangerschaften Jackson, David A.: Storms Stellung zum Christentum und
und Krankheiten. zur christlichen Kirche. In: Brian Coghlan/Karl Ernst Laa-
Storm setzte seiner Frau nach ihrem frühen Tod am ge (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Berlin
1989, 41–99.
20. Mai 1865 in Briefen an Freunde eine Art Denkmal
Laage, Karl Ernst: Liebesqualen. Theodor Storm und Con-
(vgl. Storm–Brinkmann, 8.6.1865, 140 f.; Storm– stanze Esmarch als Brautpaar. Heide 2005.
Pietsch, 22.5.1865, 148 f.; Storm–Mörike, 3.6. und Storm, Gertrud (Hg.): Theodor Storm. Briefe an seine Braut.
6.7.1865, 71–75), von dem man annehmen musste, Braunschweig 1915.
dass er darin das Wesen von Constanze im Nach- Storm, Gertrud (Hg.): Theodor Storm. Briefe an seine Frau.
hinein verklärte. Doch bezeugt der Briefwechsel der Berlin/Braunschweig/Hamburg 1915.
beiden auch, dass Storms elegische Erinnerungen viel Regina Fasold
85 Der Briefwechsel Storm – Theodor Fontane 297

85 Der Briefwechsel Storm – ren beigelegten Gedichthandschriften sind geprägt


Theodor Fontane von den schönen Erinnerungen an die geselligen Ge-
spräche in Berlin. Storm hatte Fontane 1850 mit sei-
nen Sommer-Geschichten und Liedern (1851) beein-
Theodor Storms Korrespondenz mit Theodor Fontane druckt; mit den Gedichten (1852), so schreibt Fontane
umfasst 104 überlieferte bzw. erschlossene Briefe und bewundernd, lebe Storm jedoch nunmehr »als eine
gehört zu den bedeutenden Schriftstellerbriefwechseln Art Gattungsbegriff« im Rütli fort (Storm–Fontane,
Storms. Neben vielen biographischen Details berührt Nr. 3, 3). Storm hingegen hat der herzliche Empfang
er auch zentrale literarische und zeitgenössische politi- »wohl« getan, weil er »auf eine verständige Weise ge-
sche Themen und gibt Einblicke in das literarische Le- ehrt« wurde (Storm–Brinkmann, 3.2.1853, Nr. 24,
ben Berlins. (s. Kap.II.8) Wenngleich er 35 Jahre an- 83), und bedankte sich dafür bei Fontane mit seinem
dauerte und verschiedene Lebensstationen Storms Gedicht Im Herbste 1850. Bereits in Fontanes erstem
und Fontanes streifte, zeigen die Briefe bereits im Ver- Gruß an Storm wird angedeutet, dass der Briefwechsel
zicht auf das vertrauliche Du einen distanzierten Um- durch einen zentralen Aspekt motiviert wurde: die li-
gangston. Obwohl Storm und Fontane am Anfang ih- terarische Zusammenarbeit für das belletristische
rer schriftstellerischen Karriere standen, sich lange Jahrbuch Argo (vgl. Böckmann 1968). Fontane hatte
Zeit um ihre wirtschaftliche Existenz sorgten und viele als Co-Redakteur die Aufgabe übernommen, auch bei
Jahre außerhalb ihrer Heimat leben mussten, trugen Storm Beiträge einzuwerben (vgl. Storm–Fontane,
weder gemeinsame Erfahrungen noch das Interesse an Nr. 3, 3; Nr. 5, 5–7), der daraufhin die Novelle Ein grü-
Dichtung und Literatur zu einer anhaltenden Annähe- nes Blatt (vgl. Nr. 6, 7–10) sowie die Gedichte 24 De-
rung bei (vgl. Goldammer 1968, 251). Über die Grün- cember 1852 und Abschied schickte (vgl. Nr. 11, 22–25;
de sind viele ertragreiche Forschungsarbeiten vor- Nr. 12, 25–27). Bald gehörte Storm zum engen Mit-
gelegt worden; vermutlich haben nicht nur politische arbeiterkreis der Argo und steuerte noch bis 1860 wei-
Differenzen (vgl. Laage 1992; Nürnberger 1997, 214– tere Texte bei. Fontanes Rückmeldung zu Storms Im
217) und ästhetische Konkurrenz (vgl. Goldammer Herbste 1850 verdeutlicht allerdings, dass ihre unter-
1968; Lohmeier 1990) zu dieser konfliktanfälligen Be- schiedliche regionale Herkunft verschiedene Lesarten
ziehung beigetragen, sondern auch Storms und Fonta- verursachte und zu ersten Missverständnissen führte.
nes grundverschiedene Temperamente (vgl. Gold- Vor allem die preußischen Beamten Franz Kugler und
ammer 1968, 255; Nürnberger 1997; Aust 2000). Den- Karl Bormann nahmen Anstoß am Wort »Trikolore«,
noch haben die beiden prominenten Schriftsteller nie- denn sie assoziierten damit nicht zunächst die be-
mals den Kontakt endgültig abgebrochen. absichtigte dreifarbige Fahne von Storms Heimat,
Der Briefwechsel beginnt im Dezember 1852 mit sondern vielmehr die Freiheitsziele der Revolution
einer nicht überlieferten Besuchsankündigung Storms von 1848 sowie der Französischen Revolution (vgl.
für Fontane (erstmals erschlossen in Storm–Fontane, Nr. 13, 29 f.) und befürchteten mit dieser zweideuti-
Nr. *1, 1). Er lässt sich in drei Abschnitte aufteilen, die gen Formulierung empfindliche berufliche Sanktio-
durch die Monate und Jahre vor, während und nach nen (vgl. Lohmeier 1982, 44). Zu einer Textänderung
Storms Aufenthalt in Potsdam von 1853 bis 1856 kam es jedoch nicht (vgl. Nr. 14, 32), so dass auch
markiert sind. An die herausragende Bedeutung von Friedrich Feddersen nach seiner Argo-Lektüre in ei-
Storms Briefen der beiden ersten Jahre, in denen etwa nem Brief an Storm am 17.2.1854 in ähnlicher Weise
zwei Drittel entstanden sind, erinnert sich Fontane als seine Bedenken äußerte (vgl. Kommentar zu Nr. 13,
»mit das Beste von all dem«, was er »durch ein langes 259). In den Briefgesprächen klingen weitere Dis-
Leben hin von Briefen« Storms empfangen habe (Fon- sonanzen an, etwa in Storms Bemerkungen über das
tane-Erinnerungen, 169). »Berliner Wesen« (Nr. 5, 6; Nr. 6, 8) und die »Berliner
Luft« (Nr. 9, 16 f.; Nr. 10, 19), in denen sich bereits sei-
ne Kritik an Preußen und am Adel abzeichnet, die auf
Ende 1852 bis November 1853: Literarische
seiner negativen Erfahrung im Berliner Alltagsleben
Geschäftskorrespondenz
(vgl. Berbig 1993, 45) sowie den Karikaturen in der Sa-
Schon im ersten Teil wird deutlich, dass es sich weni- tire-Zeitschrift Kladderadatsch beruhte.
ger um einen privaten Freundschaftsbriefwechsel als Trotz dieser ersten Spannungen überwogen zu-
vielmehr um eine literarische Geschäftskorrespon- nächst noch die positiven Inhalte, weil Storm und
denz handelt. Fontanes und Storms erste Briefe mit ih- Fontane gleichermaßen voneinander profitierten. An-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_85, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
298 III Werk – G Das Briefwerk

geregt durch die Gespräche mit Storm beschäftigte te er sich gar einen »unbedingte[n] Stormianer« (Fon-
sich Fontane nunmehr mit Klaus Groth und der platt- tane-Erinnerungen, 174). Nachdem er Storms Gedich-
deutschen Dichtung. In seinem im März und April te während einer Sommerfrische im Harz 1868 wie-
1853 entstandenen Essay Unsere lyrische und epische derholt gelesen hatte, schrieb Fontane als dessen
Poesie seit 1848 widmete er Groth einen kleinen Ab- größter »Verehrer« seinem »Lieblingsdichter« (Nr. 90,
schnitt (vgl. Kommentar zu Brief Nr. 20, 277) und 130) und »Lieblingslyriker« (Nr. 93, 138). Wie erfreut
schrieb das erst postum veröffentlichte Gedicht An umgekehrt Storm über Fontanes uneingeschränktes
Klaus Groth (Nr. 97, 452 f.). Storm sammelte außer- Lob war, zeigt sein sehr emotional geschriebener
dem Grabinschriften und Literatur für Fontanes Pro- Dank: »Behalten Sie mich lieb; ich habe Sie recht in
jekt einer Sammlung von volkstümlichen Inschriften, mein Herz geschlossen; Sie und Ihre sehr liebe Frau«
deren Titel Deutsche Inschriften er vorgeschlagen hatte (Nr. 17, 36). Nicht nur Fontanes vertraute Anrede
(vgl. Nr. 18, 37; Nr. 20, 42; Nr. 22 f., 44–47). Umge- »Lieber Storm« (erstmals am 6.10.1853, Nr. 18, 36),
kehrt zog auch Storm Nutzen aus Fontanes journalis- sondern auch die weiteren Briefe belegen, dass die
tischen Fähigkeiten. Da ein Verkaufserfolg der Ge- große Distanz der vergangenen Monate zumindest
dichte (1852) ausgeblieben war (vgl. Nr. 14, 32), be- vorübergehend überwunden schien. So ging es nicht
mühte er sich mit Erfolg, Fontane als öffentlichen Für- mehr nur um die Argo, den Rütli und um poetische
sprecher zu gewinnen. Fontane erwähnte Storm nicht Projekte, sondern auch um private Angelegenheiten,
nur in Unsere lyrische und epische Poesie von 1848, die Fontane in seinen ersten Schreiben noch vermie-
sondern veröffentlichte auch den separaten Beitrag den hatte. Storm hingegen äußerte sich gelegentlich
Theodor Storm in der Preußischen (Adler-)Zeitung etwas deutlicher als zuvor über die politische Situation
(1853), in dem er als einer der ersten Storms heraus- in Schleswig-Holstein (vgl. Nr. 19, 39). Wie sehr Storm
ragende Bedeutung als Lyriker erkannte und zu sei- Fontane überdies vertraute, verdeutlichen nicht zu-
nem »Durchbruch« verhalf (Lohmeier 1990, 29). Zwei letzt die »8 Mappen«, in denen er mehrere Briefe sei-
Jahre später revanchierte sich Storm dann mit dem Es- ner Freunde Hartmuth Brinkmann, Theodor Momm-
say Theodor Fontane (1855) für das Literatur-Blatt des sen und Ferdinand Röse aufbewahrte und die er Fon-
Deutschen Kunstblattes und erwähnte seine Gedicht- tane nach Berlin mitgebracht hatte (vgl. Nr. 18, 38 und
bände sowie sein reiseliterarisches Werk Ein Sommer Kommentar, 271 f.). Auch Eduard Mörikes Briefe wa-
in London (1854). ren darunter, den Storm als sein großes Vorbild be-
Der dreiwöchige Aufenthalt Storms in Berlin im wunderte. Fontane studierte die Konvolute sehr genau
September 1853 (vgl. Berbig 1992) veränderte das und zitierte in seinen Antwortschreiben sogar aus
Verhältnis zwischen Storm und Fontane kurzzeitig. Mommsens Briefen (vgl. Nr. 20, 42).
Noch unmittelbar von dem Eindruck der letzten Ge-
spräche schwärmte Fontane am 3.10.1853 seinem
November 1853–1856: Konfliktanfällige Brief-
Freund Friedrich Witte von den »schöne[n], anregen-
gespräche
de[n] Tage[n]« vor, in denen es um »das eigentliche
Dichtertum« und um das »echte Talent« Storms ge- Mit Storms Umzug nach Potsdam im November 1853
gangen war (Fontane-Briefe, 132 f.). Fontanes Begeis- erwarteten Storm und Fontane durch die Nähe zu Ber-
terung für Storm war deutlich größer geworden, denn lin eine Vertiefung ihrer Beziehung. Die Vorfreude da-
er empfand ihn nunmehr als ein Vorbild der »reine[n] rauf täuschte allerdings nicht darüber hinweg, dass
Verkörperung [...] des lyrischen Dichters« (Lohmeier Storm der Abschied von Husum sehr schwer gefallen
1990, 31). Er habe somit »im Hineinschauen in die war und zu Recht befürchtete, den anstehenden beruf-
Werkstatt [...] erst wieder recht fühlen gelernt, welche lichen Belastungen nicht gewachsen zu sein. Gegen-
ernst und schwere Sache das Versemachen« sei (Fon- über Fontane beklagt sich Storm zuweilen über eine
tane-Briefe, 132 f.). In seinen Briefen an Storm, aber »gänzliche körperl. Unfähigkeit« (Nr. 25, 49) und sein
auch in den Erinnerungen und in Von Zwanzig bis »sehr kümmerliches« Befinden (Nr. 29, 53). Storms
Dreißig brachte Fontane immer wieder seine Bewun- Schwierigkeiten, sich in die preußische Gerichtsord-
derung für Storms Werk, insbesondere für seine Lie- nung einzuarbeiten, werden im Briefwechsel ebenfalls
besgedichte zum Ausdruck. Nach der Lektüre von Auf thematisiert. Schon in seinem ersten Brief aus Pots-
der Universität (1863) bekannte sich Fontane auch dam sprach er sich über »das wirklich Grauenvolle«
Jahre später noch freimütig als »Stormianer« (Storm– seiner Situation aus (Nr. 25, 49) und berichtete von ei-
Fontane, Nr. 79, 121), und in den Erinnerungen nann- ner permanenten Überforderung und Arbeitsüberlas-
85 Der Briefwechsel Storm – Theodor Fontane 299

tung (vgl. Nr. 39, 67). Trotz aller beruflichen Verpflich- fensichtlich nur oberflächliche Gespräche stattgefun-
tungen führten Storm und Fontane ihre literarischen den haben. Vermutlich waren jedoch auch umgekehrt
Briefgespräche des ersten Jahres zunächst weiter, wo- Storms gelegentliche Dichtereitelkeiten und Erzie-
bei allerdings die Intensität deutlich abgenommen hat. hungsmethoden für die gegenseitige Distanzierung
Es ging um die durchwachsene öffentliche Resonanz mitverantwortlich, wie es Fontane in Von Zwanzig bis
der Argo (vgl. Nr. 32, 56) und die gescheiterten Ver- Dreißig geschrieben hat. So verabschiedete sich Fonta-
handlungen wegen des zweiten Bandes (vgl. Nr. 49, 80; ne von Storm vor seinem Umzug nach England am
Nr. 51, 84; Nr. 53, 86) sowie um die Vorbereitungen 30.8.1855 lediglich mit einem Brief (vgl. Nr. 69, 104 f.)
von Storms Artikel Theodor Fontane, für den Fontane und sagte eine letzte Einladung nach Potsdam ab.
seinen Lebenslauf für Storm skizzierte (vgl. Nr. 32,
56 f.). Fontane übermittelte Storm nur noch knapp die
1856–1888: Politische Differenzen und letzte
Rütli-Beurteilungen seiner Beiträge (vgl. Nr. 32, 56 f.;
Annäherungsversuche
Nr. 36, 62 f.), und auch Storm äußerte sich nur hin und
wieder über Fontanes Texte, etwa über seine Ballade Storms Jahre in Potsdam führten nicht zu der erhoff-
Wangeline, die weiße Frau, die er als »nicht lebendig ten Vertiefung seiner Beziehung zu Fontane, so dass er
geworden« kritisierte, da »Spuck [...] doch nicht [Fon- am 30.8.1855 mit Bedauern feststellen musste, in den
tanes] Sache« sei (Nr. 37, 64). Gelegentlich setzte sich zurückliegenden Jahren doch »was aneinander ver-
Storm erneut für die Verbreitung von Fontanes Werk säumt« zu haben (Nr. 70, 105). Fontane empfand zu-
ein, etwa durch eine Lesung des Gedichts Johanna mindest rückblickend vermutlich ähnlich und kam in
Grey (vgl. Nr. 33, 59). Eine Ausnahme bildete die aus- seinen Erinnerungen wiederholt auf Storms ernüch-
führliche Debatte um Karl Gutzkows Verriss von Gus- ternde Bilanz zurück (vgl. Fontane-Erinnerungen,
tav Freytags Roman Soll und Haben, der bei Storm auf 174 f.). In den anschließenden dreißig Jahren bis zu
Zustimmung, bei den Rütlionen aber, die Gutzkows Storms Tod 1888 gelang es den beiden Schriftstellern
Kritik an der Argo noch nicht überwunden hatten (vgl. nun auch nicht mehr, das Versäumte nachzuholen.
Nr. 28, 52), auf große Ablehnung gestoßen war (vgl. Die Korrespondenz weist große Lücken auf und in
Nr. 64–67, 98–102). Auch über gesellige Ereignisse den Zeiten, in denen Briefe gewechselt wurden, folgte
wurde sich ausgetauscht, z. B. über die Vorbereitungen auf ein Schreiben oftmals nur ein höflicher Antwort-
für Constanze Storms Geburtstag, zu dem ihr Storm brief. Selbst die Wiederbegegnungen in Husum 1864
unter Fontanes Mithilfe ein Album mit Autographen und Berlin 1884, wo sie »so bitter wenig von einander«
der Rütlionen schenkte (vgl. Nr. 35 f.; Nr. 42–44 und hatten (Nr. 100, 144), trugen nicht zu einer Annähe-
Kommentar, 316; 319–321). rung bei. In seinem letzten Brief aus Potsdam hatte
Ein Grund für die deutliche Abkühlung der Bezie- Storm seine »kleinen Bücher« angekündigt, die er
hung zwischen Storm und Fontane war die große Ver- Fontane zukommen lassen wollte, damit sie »von Zeit
stimmung, die durch Fontanes erotische, das Ehepaar zu Zeit erinnern helfen« (Nr. 70, 105). In der Tat blieb
Storm zutiefst verletzenden Anzüglichkeiten gegen- der Kontakt zwischen Storm und Fontane u. a. beste-
über Constanze Storms Schwangerschaft im Juli 1854 hen, weil Storm seine Neuerscheinungen – Hinzelmei-
ausgelöst wurde (vgl. Nr. 50–52). Wie sehr Fontanes er (vgl. Nr. 72, 111–113) und Auf der Universität (vgl.
freizügige Bemerkungen noch Jahre später die Bezie- Nr. *78–80, 120–123) – an Fontane schickte und die-
hung der beiden belastet haben, zeigt seine briefliche ser sich mit Jenseit des Tweed (1860) und den Balladen
Erwähnung am 4.2.1857 (vgl. Nr. 72, 113); auch in Von (1862) revanchierte (vgl. Nr. *83, 125). Darüber hi-
Zwanzig bis Dreißig (vgl. Fontane 2014, 236) kam er naus belebten ihre gegenseitigen Anfragen zeitweise
auf diesen Fauxpas noch einmal zurück, der auch im den Briefwechsel, mit denen sie sich wie in den ersten
Berliner Freundeskreis heftig kritisiert wurde (vgl. Monaten ihres Kennenlernens eine wechselseitige
Fontane–Lepel, 5.9.1854, Nr. 277, 393 f.). Nach die- professionelle Unterstützung versprachen, etwa als
sem äußerst peinlichen Vorfall wurde die Korrespon- Storm Fontanes Hilfe wegen Helen Clarks Immensee-
denz zwischen dem 14.9.1854 und dem 11.2.1855 un- Übersetzung in Anspruch genommen hatte (vgl.
terbrochen. Storm und Fontane begegneten sich zwar Nr. 74, 113 f.; Fasold 2006; Radecke 2014) oder auch
gelegentlich in Berlin, etwa beim Tunnel-Stiftungsfest als Fontane Storm um historische Informationen für
am 3.12.1854 (vgl. Storm–Fontane, Kommentar zu seine Arbeit an Der Schleswig-Holsteinsche Krieg von
Brief Nr. 84, 423), aber der erste Brief nach fünfmona- 1864 (1866) bemühte (vgl. Nr. *85 f., 127–129; Fonta-
tiger Schreibpause machte nur allzu deutlich, dass of- ne-Erinnerungen, 173).
300 III Werk – G Das Briefwerk

Nicht nur »die Uebersetzungsgeschichte« gab er- abzuschreiben (Fontane–Emilie Fontane, Bd. 2,
neut Anlass für Zwistigkeiten (Fontane-Erinnerun- Nr. 445, 544). Dass Fontane immer noch über Storms
gen, 173). Auch die politischen Differenzen, die sich aktuelle Publikationen informiert war, belegt schließ-
bereits 1853 abgezeichnet hatten, traten nunmehr lich sein anrührender Brief vom 28. Oktober 1884, in
deutlicher zum Voschein. Ein Grund hierfür ist ver- dem er Storm nach der Lektüre von Zur Chronik von
mutlich Fontanes Anstellung bei der erzkonservativen Grieshuus (1884) »zu dem Schönsten«, was er geschaf-
regierungsnahen Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung fen habe, gratulierte (Storm–Fontane, Nr. 99, 143).
zwischen 1860 und 1870, die auch zu großen Irritatio- Schließlich las er in den beiden ersten Lieferungen der
nen in Fontanes Freundeskreis geführt hatte. Hinzu Gesamtausgabe, die Storm ihm über seinen Verleger
kam Storms bittere Enttäuschung von Schleswig-Hol- George Westermann mit der Bitte um eine Rezension
steins Anschluss an Preußen am Ende des Krieges. hatte zukommen lassen (vgl. Nr. 92, 135–137; Nr. 95,
Der Höhepunkt der politischen Meinungsverschie- 139 f.). Nach Storms Tod nahm sich Fontane für die
denheiten zeigt sich in Storms empörtem Antwort- Vorbereitung seiner Erinnerungen und des Storm-Ka-
schreiben auf die Sendung der Gedichte Der Tag von pitels in Von Zwanzig bis Dreißig (1898) seine Werke
Düppel und Einzug im Dezember 1864 (vgl. Nr. 84, und Briefe ein letztes Mal vor; wenige Jahre später las
125–127), in denen Fontane den Sieg der preußischen er dann noch »mit Vergnügen« den Schimmelreiter
Armee über die dänischen Truppen bejubelt und (Fontane-Tagebücher, Bd. 2, 256). Wie sehr sich Storm
Storm gleichermaßen aufgefordert hat, eben eine sol- und Fontane dennoch – trotz aller menschlichen und
che Hymne zu dichten. Die Kluft zwischen Storm und politischen Differenzen – gegenseitig geschätzt haben,
Fontane hatte sich inzwischen so vertieft, dass Storm zeigt nicht zuletzt die Aufnahme von Gedichten in ih-
Fontane »politisch fast« als seinen Gegner betrachtete re Anthologien. Fontane hatte nicht nur sein Deut-
und es sogar ablehnte, ihn für die geplante »Lebens- sches Dichter-Album seit der ersten Auflage (1851) mit
skizze« mit »eingehende[r] Besprechung des Poeten« Storms Oktoberlied eröffnet, sondern noch weitere
zur »Vorbereitung« der Gesamtausgabe in Wester- neun Gedichte folgen lassen. Und Storm versammelte
mann’s Illustrirten Deutschen Monatsheften vorzu- in der Erstausgabe seines Hausbuchs aus deutschen
schlagen (vgl. Storm an Westermann; GB 1, 661). Dichtern seit Claudius (1870) einige Balladen aus der
Trotz ihrer angespannten und konfliktreichen Be- ersten Auflage von Fontanes Gedichten.
ziehung ließen Storm und Fontane dennoch niemals
ganz voneinander ab. Bis zuletzt interessierten sich
Fontanes »Von Zwanzig bis Dreißig«
beide für die poetischen Neuerscheinungen des ande-
ren. Fontanes ersten Roman Vor dem Sturm (1878) las Das Storm-Bild wurde bis in die 1980er Jahre geprägt
Storm in der Zeitschrift Daheim (vgl. Nr. *98, 143), durch Fontanes Storm-Kapitel in Von Zwanzig bis
und auch in den 1880er Jahren bezog er noch weitere Dreißig, in dem Fontane schonungslos mit Storm ab-
Werke Fontanes, etwa Grete Minde (1880), Schach von rechnet, in der Beschreibung der menschlichen
Wuthenow (1883), Ellernklipp (1881) und Graf Petöfy Schwächen übertreibt und sich über sein Äußeres na-
(1884), die er zum Teil an seine Familie verschenkte. hezu lustig macht. Bereits unter den zeitgenössischen
Umgekehrt gehörte Fontane noch mehr zu den Lesern Rezipienten gab es nur wenige Stimmen, die Fontanes
von Storms Werken. Schon in England, wo er als poli- Darstellung mit der gebotenen kritischen Distanz ge-
tischer Redakteur der Zentralstelle für Preß-Angele- lesen haben (vgl. Goldammer 1988). Insbesondere
genheiten eine Deutsch-Englische Correspondenz Fontanes Formulierungen »Husumerei« und »Provin-
zwischen 1855 und 1859 aufgebaut hatte, nahm er sich zialsimpelei« trugen erheblich zur negativen Beurtei-
im Februar und März 1856 erneut Storms Gedichte, lung von Storms Werk bei (vgl. Jackson 1993, 26;
die Novelle Ein grünes Blatt (1854) sowie die Erzäh- Nürnberger 1993; Eversberg 2001, 9 f.). Fontanes Au-
lung Wenn die Äpfel reif sind (1856) vor (vgl. Fontane- tobiographie wird bis heute als faktualer Text gelesen,
Tagebücher, Bd. 1, 82). Bei der Entstehung des auto- obwohl sie zahlreiche poetische Verschleierungen
biographischen Kriegsgefangen (1871) erinnerte sich und sachliche Fehler enthält. Im Storm-Kapitel be-
Fontane ebenfalls wieder an Storms Gedichte und bat trifft das auch die Erstveröffentlichung der Storm-
seine Frau Emilie noch während seiner Gefangen- Briefe, die Fontane zum Teil falsch datierte und deren
schaft in Frankreich, ihm »einige Einleitungs-Stro- Wiedergabe er ohne Kennzeichnung verkürzte, was
phen verschiedener Gedichte [...] die sich auf die u. a. zu einer Zuspitzung der negativen Darstellung
Strandlandschaft und das Meer bei Husum beziehn« der Charakterzüge Storms führte. Umgekehrt beein-
85 Der Briefwechsel Storm – Theodor Fontane 301

flusste aber auch Storms Meinung die Forschung, ins- Fontane–Emilie Fontane: Fontane, Theodor/Emilie: Geliebte
besondere wenn es darum ging, die unterschiedlichen Ungeduld. Der Ehebriefwechsel 1857–1871. Hg. v. Gott-
politischen Standpunkte zu bewerten und daraus hard Erler u. Therese Erler. Berlin 1998 (= Große Bran-
denburger Ausgabe – Der Ehebriefwechsel, Bd. 2).
Konfliktpotentiale abzuleiten (vgl. Berbig 1993, 43). Fontane–Lepel: Theodor Fontane – Bernhard von Lepel. Der
Hinzu kam, dass man die Beziehung zwischen Storm Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Gabriele Radecke.
und Fontane auf die politische Dimension konzen- Berlin 2006 (= Schriften der Theodor Fontane Gesell-
trierte und bislang nur am Rande Fontanes und der schaft, Bd. 5.1/5.2).
Rütlionen Einfluss auf Storms Erzählkunst fokussierte Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographi-
sches. Hg. v. der Theodor Fontane-Arbeitsstelle. Berlin
(vgl. Eversberg 1992). Eine ausgewogene Beurteilung
2014 (= Große Brandenburger Ausgabe – Das autobiogra-
der facettenreichen und ambivalenten Beziehung zwi- phische Werk, Bd. 3).
schen Storm und Fontane bleibt also nach wie vor eine Goldammer, Peter: »Er war für den Husumer Deich, ich war
wissenschaftliche Herausforderung, wozu vielleicht für die Londonbrücke«. Fontanes Storm-Essay und die
auch neue Ansätze hilfreich sein können, die die »psy- Folgen. In: Otfried Keiler (Hg.): Theodor Fontane im lite-
chosozialen Tiefenstrukturen« dieses Briefwechsels rarischen Leben seiner Zeit. Potsdam 1988, 379–396.
Goldammer, Peter: Storms Werk und Persönlichkeit im Ur-
untersuchen (vgl. Kraus 2011, 49). teil Th. Fontanes. In: Fontane Blätter 1/6 (1968), 247–264.
Jackson, David: Perspektiven der Storm-Forschung. Rück-
Literatur blicke und Ausblick. In: STSG 42 (1993), 23–34.
Aust, Hugo: Fontane und Storm. In: Christian Grawe/Hel- Kraus, Stefanie: »Kein unmittelbares Wort«. Zur wechselsei-
muth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Stuttgart tigen Wahrnehmung Storms und Fontanes. In: STSG 60
2000, 328–331. (2011), 49–66.
Berbig, Roland: Ausland, Exil oder Weltgewinn? Zu Theo- Laage, Karl Ernst: Die politischen Dissonanzen zwischen
dor Storms Wechsel nach Preußen 1852/53. In: STSG 42 Theodor Storm und Theodor Fontane. In: Fontane Blätter
(1993), 42–47. 54 (1992), 48–61.
Berbig, Roland: »... wie gern in deiner Hand / Ich dieses Lohmeier, Dieter: Einige Ergänzungen zur neuen Ausgabe
Theilchen meiner Seele lasse«. Theodor Storm bei Franz des Briefwechsels zwischen Storm und Fontane. In: STSG
Kugler und im Rütli: Poet und exilierter Jurist. In: Fontane 31 (1982), 43–49.
Blätter 53 (1992), 12–29. Lohmeier, Dieter: Theodor Fontane über den »Eroticismus«
Böckmann, Paul: Theodor Storm und Fontane. Ein Beitrag und die »Husumerei« Storms. Fontanes Briefwechsel mit
zur Funktion der Erinnerung in Storms Erzählkunst. In: Hedwig Büchting. In: STSG 39 (1990), 26–45.
STSG 17 (1968), 85–93. Nürnberger, Helmuth: »Der große Zusammenhang der Din-
Eversberg, Gerd: Die Bedeutung Theodor Fontanes und sei- ge«. ›Region‹ und ›Welt‹ in Fontanes Romanen. Mit einem
nes Kreises für die Entwicklung der Stormschen Erzähl- Exkurs: Fontane und Storm sowie einem unbekannten
kunst. In: Fontane Blätter 54 (1992), 62–74. Brief Fontanes an Ada Eckermann. In: Fontane Blätter 55
Eversberg, Gerd: Region und Poesie. Theodor Storms Ent- (1993), 33–68.
wicklung zum Schriftsteller. In: STSG 50 (2001), 7–21. Nürnberger, Helmuth: Fontanes Welt. Berlin 1997.
Fasold, Regina: »... daß die Novelle nur entweder ›Auf der Radecke, Gabriele: »Als hätten wir was aneinander ver-
Universität‹ oder ›Lore‹ heißen dürfe«. Theodor Storms säumt« – Zur kritischen und kommentierten Neuedition
Briefwechsel mit dem Verleger Emil Carl Brunn in Müns- von Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Fontane.
ter. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 12 (2006), 72–95. In: STSG 60 (2011), 33–48.
Fontane-Briefe: Fontane, Theodor: Briefe in zwei Bänden. Radecke, Gabriele: »Schließlich die Bitte, mir das M. S. bald-
Hg. v. Gotthard Erler. München 1981. möglich wiederzusenden, da es brennt« – Zur Kommen-
Fontane-Erinnerungen: Fontane, Theodor: Erinnerungen tarfunktion von Briefbeilagen am Beispiel von Theodor
an Theodor Storm. In: Storm–Fontane, 167–183. Fontanes Briefwechseln mit Bernhard von Lepel und
Fontane-Tagebücher: Fontane, Theodor: Tagebücher. 1852, Theodor Storm. In: Wolfgang Wiesmüller (Hg.): Probleme
1855–1858. Hg. v. Charlotte Jolles u. Rudolf Muhs. Berlin des Kommentierens. Beiträge eines Innsbrucker Workshops.
1994 (= Große Brandenburger Ausgabe – Tage- und Rei- Innsbruck 2014, 131–146.
setagebücher, Bd. 2).
Gabriele Radecke
302 III Werk – G Das Briefwerk

86 Der Briefwechsel Storm – ersuchen sie um Rat und bitten um Beiträge zu Antho-
Gottfried Keller logien. Der 59jährige Storm hatte schon früh mit sei-
nen Gedichten und Novellen, insbesondere mit Im-
mensee (1850), Aufsehen erregt. Auch die literarische
Am 27. März 1877 schrieb Storm einen ersten Brief an Anerkennung des 57jährigen Keller gründete sich vor
Gottfried Keller, in dem er von dem Eindruck berich- allem auf seine Novellen. Als »Shakespeare der Novel-
tet, den die sonntägliche, gemeinsam im Familien- le« feiert ihn Paul Heyses Sonett Gottfried Keller
kreis vorgenommene Lektüre der Züricher Novellen (1877), eine Bezeichnung, die Storm in einem Brief an
bei ihm hinterlassen habe und den er zum Anlass Erich Schmidt bestätigend aufgreift (Storm‒Schmidt
nimmt, um ausdrücklich um die Freundschaft Kellers I, 33). Bereits erschienen waren die beiden Teile des
zu werben: »Als ich die schöne Geschichte vom Johan- Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (1856 und
nes Hadlaub aus der Hand legte, war mir so warm und 1874/75), die Sieben Legenden (1872) und gerade zu
froh um’s Herz, und der Johannes wurde mir zum Beginn des Briefkontakts der erste Band der Züricher
Gottfried, und ich dachte: ihr Wenigen, die ihr gleich- Novellen (1877). Konnten Storm und Keller sich der-
zeitig auf der Erde wandelt, wenn auch ein warmer art auch mit dem Selbstbewusstsein anerkannter Au-
Händedruck nicht möglich ist, ein Gruß aus der Ferne toren begegnen, frei von persönlichen Vorbehalten
sollte doch hin und wieder gehen« (Storm‒Keller, 20). waren sie nicht.
Die Identifikation von Autor und literarischer Figur Keller, der einige von Storms Novellen gelesen hatte,
bildet den Auftakt zu einem brieflichen Austausch, lobte ihn in einem Brief an Emil Kuh vom 18. Mai 1875
der sich über zehn Jahre erstrecken sollte, ohne dass als einen präzise arbeitenden Autor, einen von den
sich Storm und Keller auch nur ein einziges Mal be- »stillen Goldschmieden und silbernen Filigranarbei-
gegnet wären. Im Briefwechsel wird die Möglichkeit tern«, die freilich auch ihre »Nücken« hätten (Smidt/
eines Treffens verschiedentlich angesprochen: »wir Streitfeld 1988, 142). Storm ästimierte nicht nur Kel-
werden wohl irgendwo einmal einen kleinen Congreß lers Novellen, den Landvogt von Greifensee hatte er
abhalten können« (35), erwartet Keller 1878. Und »mit Entzücken gelesen« (Storm‒Schmidt I, 33), vor
Storm wünscht sich noch 1884 die Anwesenheit des allem zählte er den Roman Der Grüne Heinrich zu sei-
Briefpartners, damit endlich einmal das Gespräch an nen »liebsten Bücher[n]« (Storm‒Keller, 30). Der Ruf
die Stelle des schriftlichen Verkehrs treten könne: des Ungehobelten, der dem Schweizer Autor anhaftete,
»Wenn Sie hier wären, was würde ich Ihnen Alles jetzt scheint Storm allerdings nicht unbeeindruckt gelassen
erzählen, was in einem Brief unmöglich ist!« (121). zu haben – von »grob« und »abstoßend« ist in einem
Da es tatsächlich nie zu einem solchen Zusammen- Brief an Wilhelm Petersen die Rede (Storm‒Petersen,
treffen kam, vollzog sich der Dialog der beiden Dichter 38). Doch im Verlauf des Briefwechsels, den er auf An-
ausschließlich in schriftlicher Form und blieb ganz an regung des gemeinsamen Freundes Petersen aufnahm,
das Medium des Briefs gebunden. Allein das verleiht gelangte er rasch zu einer anderen Einschätzung: »Er
dieser Korrespondenz ein eigenes Profil und unter- ist der bescheidenste aller Menschen«, teilt er Paul
scheidet sie von den anderen Briefwechseln, die Storm Heyse im Juli 1882 brieflich mit (Storm‒Heyse III, 28).
zeitgleich etwa mit Paul Heyse, Wilhelm Petersen oder Tatsächlich erweist sich Keller als aufmerksamer Brief-
Erich Schmidt unterhielt, zu denen er jeweils zugleich schreiber, der genau auf das Mitgeteilte eingeht, Anteil
in unmittelbarem persönlichen Kontakt stand. Damit am Familienleben seines Briefpartners nimmt und
erhalten die Briefe eine besondere Bedeutung, weil sie diesem kleine Gefälligkeiten erweist (wie etwa die
die einzige Form sind, sich dem Briefpartner zu prä- Übersendung des ihm fehlenden zweiten Bandes von
sentieren und eine bestimmte Vorstellung von sich im Salomon Geßners Werken).
Anderen zu festigen. Freilich traten Storm und Keller In den Lebensumständen fördert der Briefwechsel
nicht als Unbekannte miteinander in Kontakt, viel- deutliche Asymmetrien zutage: Während der Zürcher
mehr setzte ihr Briefverkehr zu einer Zeit ein, da beide Junggeselle mit seiner Schwester in eher trister Ge-
durch gemeinsame Freunde miteinander indirekt in meinschaft lebt, präsentiert Storm sich als Familien-
Verbindung standen und sich durch ihre literarischen mensch, der insbesondere die Vorbereitungen zum
Werke schätzen gelernt hatten. Weihnachtsfest zelebriert und davon jährlich wieder-
Zum Zeitpunkt, da sie ihren Briefverkehr aufneh- kehrend berichtet. Und während Keller zur Miete
men, sind Storm und Keller bereits fest etablierte Grö- wohnt und eine liebgewonnene Wohnung wechseln
ßen im literarischen Leben der Zeit. Jüngere Autoren muss, lässt sich Storm 1880 ein stattliches Haus in Ha-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_86, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
86 Der Briefwechsel Storm – Gottfried Keller 303

demarschen errichten, von dem er sogar eine Fotogra- Briefdokumente aus Rücksicht gegenüber Verwandten
fie nach Zürich schickt. So dürften die Briefe, was sich und Zeitgenossen in gekürzter Form präsentierte, war
freilich nur vermuten lässt, bei Keller an wunde Punk- die »völlig umgearbeitete und vervollständigte Auf-
te des eigenen Existenzentwurfs gerührt haben. Wäh- lage«, die Köster 1924 vorlegte, frei von solchen Ein-
rend Storm von sich sagt, er habe in Berlin »fast zu viel griffen. Eine ebenfalls vollständige und neu an den
Bekannte« (Storm‒Keller, 117), wirkt Keller sozial iso- Briefmanuskripten erarbeitete Edition publizierte der
lierter und in den praktischen Belangen des Lebens ostdeutsche Germanist Peter Goldammer 1960 im
unsicherer; bezeichnend ist, dass er in Honorarfragen Berliner Aufbau-Verlag. 1992 folgte schließlich im
Storms Rat sucht. Rahmen der von der Theodor-Storm-Gesellschaft ge-
Die Einbettung in je ein anderes Umfeld und ein förderten Brief-Ausgabe die von Karl Ernst Laage er-
anderer sozialer Habitus sind prägend für ihre Autor- arbeitete kritische Edition. Sie enthält einen ausführ-
schaft ‒ und um diese geht es in ihrem Briefwechsel in lichen Kommentar, der die Brieftexte sorgfältig im bio-
erster Linie. Nicht die wechselweise gewährten Einbli- graphischen, werk- und literaturgeschichtlichen Kon-
cke in den Alltag, sondern die Verständigung über das text verankert.
literarische Schaffen steht im Zentrum. Im epistolaren Insgesamt umfasst der Briefwechsel 59 Briefe und
Austausch finden beide Autoren Ersatz für fehlende li- Karten aus den Jahren 1877 bis 1887; im Schnitt macht
terarische Gespräche. In Zürich habe er »keine Seele«, das gerade mal sechs Briefe pro Jahr. Vor allem Keller
klagt Keller, mit der er »in dieser Beziehung verkeh- lässt bis zu seiner Antwort oft viele Monate verstrei-
ren« könne (Storm‒Keller, 27), zwar gebe es Schrift- chen; auf Storms Schreiben vom 7. April 1877 etwa
steller und Literaturmenschen zu Dutzenden«, doch reagiert er erst am 31. Dezember, und auch wenn er
keinem von ihnen sei »in concreto ein Wort aus dem verspricht, »rascher zuweilen eine kleine Epistel ab-
Stockfischmaule zu locken« (28). Bei Storm verhält zustoßen« (Storm‒Keller, 91), bleibt das ohne Folgen.
sich die Sache etwas anders. Er, der in Hademarschen Die Unaufgeregtheit der Reaktionen und ein Zugleich
notgedrungen isolierter lebt als früher, nimmt in die- von Vertrautheit und Distanz entsprechen dem Duk-
ser Zeit nicht nur den Briefkontakt mit Keller auf, son- tus eines Altersbriefwechsels. Nach einem Brief
dern knüpft zur »Erweiterung seiner Kommunikati- Storms vom 9. Dezember 1887 versiegt der Briefkon-
onspotentiale« (Bollenbeck 1988, 288) ein ganzes takt. Storm stirbt am 4. Juli 1888, Gottfried Keller zwei
Netz von Briefwechseln. Jahre später, am 15. Juli 1890.
Der Reiz der Briefe liegt vor allem darin, dass sich Reminiszenzen an das fortgeschrittene Alter durch-
hier zwei Autoren über ihr Schaffen verständigen und ziehen die Briefe: »Man muß Nachmittags keine Briefe
sich gleichermaßen anerkennend wie kritisch mit den schreiben«, räsoniert Storm, »das ist die Zeit der Me-
neusten literarischen Produkten des jeweils anderen lancholie, zumal im Herbste und zumal im Alter«
auseinandersetzen. Die Briefe vermitteln Einblick in (Storm‒Keller, 121). Immer wieder ist vom Tod nahe-
die Entstehung einzelner Werke, in die damit verbun- stehender Personen die Rede; »ein Altersgenosse nach
denen praktisch-handwerklichen Fragen, aber auch in dem andern wird kampfunfähig oder segelt gar von
die Geschmacks- und Wertvorstellungen der beiden dannen« (44). Über allem schwebt das Bewusstsein
Autoren. In allgemeiner Hinsicht geben sie Auskunft vom Schwinden der eigenen Lebenszeit, dem schmaler
über ihr künstlerisches Selbstverständnis und die so- werdenden »Lebensrestranzen« (ebd.) und dem irre-
zialen Bedingungen ihrer Autorschaft; darüber hinaus versiblen Verrinnen der verbleibenden Schaffenszeit:
enthalten sie Stellungnahmen zu anderen Autoren, zu »Noch trinkt Ihr Auge von dem ›goldnen Ueberfluß
literarischen Strömungen und zum zeitgenössischen der Welt‹« mahnt Storm, indem er aus Kellers Abend-
literarischen Betrieb. lied zitiert, »aber es ist doch das ›Abendfeld‹, auf wel-
Bereits der erste Herausgeber Albert Köster, der den chem Sie, wie ich, nur noch zu wandeln haben« (49).
Briefwechsel 1903/04 in zwei Heften der Deutschen Die Rede vom »Greisen-Briefwechsel« (Köster
Rundschau erstmals zugänglich machte, betonte seine 1924, 8) weckt dennoch falsche Vorstellungen. Denn
Bedeutung als Dichterbriefwechsel, der sowohl in die trotz der Furcht vor dem Versiegen der künstlerischen
»Tiefen des künstlerischen Schaffens« (Deutsche Schaffenskraft, ja ihr zum Trotz, kreisen die Gedanken
Rundschau 1903, Nr. 117, 35) hinab leuchte als auch beider Autoren fortwährend um ihre literarische Ar-
dessen handwerklich-technische Seite in den Blick beit. Sie entwickeln Ideen, arbeiten an neuen Projek-
nehme. Während Kösters Zeitschriftenedition wie ten und suchen sich darin wechselseitig zu befeuern:
auch die auf ihr gründende Buchausgabe von 1904 die Zu einem »Hexenmeister von Fleiß« (Storm‒Keller,
304 III Werk – G Das Briefwerk

42) erklärt Keller seinen Briefpartner, und dieser bessere Schlußzeilen, strich Strophen, [...] kurz ich
spornt umgekehrt den Schweizer Kollegen in seinen kam in den pa‹a›r Stunden weiter, als sonst in einem
vielfältigen literarischen Aktivitäten an: »nun bin ich halben Jahre« (27).
aber endlich begierig, wie es denn mit den ipsissimus Storm ist der Aktivere; nicht nur initiiert er den
operibus steht: die Gedichte, der Roman, die in Novel- Briefwechsel, sondern er schreibt auch häufiger – 34
len zu verwandelnden Dramen-Embryonen« (103). der 59 Briefe stammen aus seiner Feder – und bemüht
Tatsächlich waren für Keller zumindest die An- sich den Austausch selbst dann noch in Gang zu hal-
fangsjahre des Briefwechsels eine Zeit vielfältiger und ten, als Keller am 29. Dezember 1886 bei sich selbst
konzentrierter literarischer Tätigkeit. Im Juli 1876 ein »allgemeines Einfrieren der Correspondenzlust«
hatte er sein Amt niedergelegt, um sich unein- (128) diagnostiziert und seine Mitteilungslust zur
geschränkt der Schriftstellerei widmen zu können, Gänze versiegt. Indem Storm den Briefwechsel ein-
und im August 1877 verkündete er Friedrich Theodor fädelt, gibt er Ton und Themen vor. Gleich in seinem
Vischer, dass er »schrittweise nachzuholen« gedenke, Eröffnungsbrief betätigt er sich als Kritiker von Kel-
was er »während Dezennien habe versäumen müs- lers Erzählung Hadlaub, die er nicht nur lobt, sondern
sen«. In den Folgejahren überarbeitete er nicht allein auch tadelt. Zu blass dünkt ihm die Gestaltung der ab-
frühere Werke, insbesondere den Grünen Heinrich, schließenden Liebesbegegnung; sie erwecke den Ein-
sondern brachte Das Sinngedicht (Buchausgabe 1882) druck, als hielte der Dichter, »es unter seiner Würde,
und den Roman Martin Salander auf den Weg, der nun eine gewöhnliche [...] Liebesscene zu schreiben,
1886 in Fortsetzungen in der Deutschen Rundschau und thut den großen Moment mit einer wie nur bei-
erschien. Außerdem widmete er sich intensiv einer läufig referirenden Zeile ab« (20). Keller reagiert kei-
Ausgabe seiner Gesammelten Gedichte (1883), für die neswegs verschnupft, sondern biegt den Einwand sou-
er ältere Gedichte überarbeitete und neue verfasste ‒ verän ins Scherzhafte um: »die Thatsache, daß ein lu-
eine Arbeit, die ihn, wie er Storm im Juni 1882 vermel- therischer Richter in Husum, der erwachsene Söhne
dete, »viel Cigarren« (Storm‒Keller, 90) koste. Auch hat, einen alten Canzellaren helvetischer Confession
für Storm, der im Mai 1880 in den vorzeitigen Ruhe- zu größerem Fleiß in erotischer Schilderei auffordert,
stand trat, war die Zeit des Briefwechsels eine produk- und zwar auf dem Wege der kaiserlichen Reichspost,
tive, und seine neu entstehenden Novellen, etwa Die ist gewiß bedeutsam genug!« (21). Trotzdem bleibt,
Söhne des Senators (1880), Der Herr Etatsrat (1881), wie die spätere Erweiterung der Liebesszene belegt,
Hans und Heinz Kirch (1882), Zur Chronik von Gries- die Kritik nicht ohne Wirkung.
huus (1884) und Ein Doppelgänger (1887), finden im Überhaupt lässt sich Keller auf die Rollenverteilung
Briefwechsel ebenso ihren Reflex wie Kellers literari- ein, die Storms Eröffnungsbrief vorgibt. Er gesteht
sche Arbeiten. Im letzten Brief kündigt Storm noch ei- dem neuen Briefpartner den Part des Urteilenden zu
ne Novelle an, von der er erwartet, dass sie Kellers be- und sucht sich seinen Rat dienstbar zu machen. Die
sonderen Beifall finden dürfte: »Sie heißt ›Der Schim- »kurzen sicheren Winke« täten ihm »so wohl«, schreibt
melreiter‹ und spielt irgendwo hinter den Deichen in er am 25. Juni 1878, dass er ihn sogleich um Rat für die
der nordfriesischen Marsch« (133). Neufassung des Grünen Heinrich »anbohren« (28)
Storm und Keller schicken sich ihre Bücher zu, tau- wolle. Mit der Überarbeitung seines Romans wollte
schen sich über ihre Lektüreerfahrungen aus und nut- Keller Disproportionen und konzeptionelle Probleme
zen das als Quell der Motivation: »ich hoffe mich an ausbügeln, derer er sich von früh an bewusst war und
ihrem Novum wieder zu kräftigen u. zu erbauen« (94), auf die auch Storm mit sicherem Urteil hinweist. Sie
lässt Keller im September 1882 vor der Lektüre von betreffen vor allem das Zerfallen des Romans in einen
Hans und Heinz Kirch verlauten. Und Storm fragt im autodiegetisch und einen heterodiegetisch erzählten
Februar 1879 an: »Und nun – haben Sie nicht wieder Teil sowie das desillusionierende Ende, das Storm als
irgend etwas, worüber es Ihnen gesellig ist, auch mei- »gewaltsam« (63) einstuft. Kellers Lösung besteht in
ne dumme Meinung zu hören? Man kommt dann so der Umarbeitung in eine durchgehend autodiegetisch-
viel leichter wieder einmal zum Schreiben« (40). Der autobiographische Erzählung. Hinsichtlich der Gestal-
Briefwechsel dient als Schreibelixier. Im Juni 1878 be- tung des Romanbeginns und -schlusses zeigt er sich
richtet Keller, wie ihn das »Blättern« in Storms Gesam- aber unsicher und so fällt Storms Ratschlag, keinesfalls
melten Schriften dazu animiert habe, an seinen eige- das Ende von Heinrichs Lebensgeschichte an den Be-
nen Gedichten zu feilen: »Ich [...] hantirte mit dem ginn des Romans zu stellen, auf fruchtbaren Boden.
Bleistift bis gegen 2 Uhr Morgens darin herum, fand Damit und mit Vorschlägen zur konkreten Ausgestal-
86 Der Briefwechsel Storm – Gottfried Keller 305

tung des Endes nimmt Storm prägenden Einfluss auf Storm hingegen veranlassen diese zu dem abwehren-
die Neugestaltung des Grünen Heinrich (vgl. Morgen- den Urteil: »Ein Lyriker ist er nicht« (100).
thaler 2009, 27 f.). Auch Kellers eigene Gedichtsammlung findet nur
So einseitig wie am Beginn des Briefwechsels bleibt zu kleinen Teilen die ungebrochene Anerkennung
der Austausch über dichtungspraktische Fragen nicht. Storms, der eingesteht, »im Punkt der Lyrik ein mür-
Auch Storm liegt viel am Urteil seines Schweizer Kolle- rischer griesgrämiger Geselle« (32) zu sein. Neben
gen. »Ich bin einigermaßen begierig, wie es Ihnen ge- dem bewunderten Abendlied – das »reinste Gold der
fallen werde« (Storm‒Keller, 48), drängt er 1879 an- Lyrik« (47) – hebt er gerade mal fünf weitere Gedichte
lässlich des Zeitschriftenabdrucks seiner Novelle Ee- als gelungen hervor. Überhaupt zeichnen sich unter
kenhof. Sofern das Urteil positiv ausfällt, gibt er es stolz der freundschaftlichen Oberfläche des Briefwechsels
an Dritte weiter; so lässt er Petersen wissen, Keller habe grundsätzliche ästhetische Differenzen ab. Zu Kellers
die Novelle Zur Chronik von Grieshuus einen »schlan- letztem Werk, dem Roman Martin Salander, findet
ken Hirsch« (Storm‒Petersen, 159) genannt. Zugleich Storm keinen Zugang. Auf brüskierende Weise er-
mit ihren kritischen Stellungnahmen geben sie sich klärt ihn in einem auf dem Krankenbett diktierten
Einblick in die eigene Werkstatt, tauschen sich über ih- Brief zum persönlichen Verhängnis: »Dann kam der
re Arbeitsweise, über die konzeptionelle und erzähl- Tod meines Sohnes, dann meine schwere Krankheit;
strategische Anlage ihrer Texte aus. So erläutert Storm, dann ihr Buch.« (131) Doch nicht erst der als »grau-
wie er in Eekenhof der Unmittelbarkeit der Darstellung sam realistisch« (134) eingestufte späte Roman, son-
bewusst entgegenwirkte: »Manche gedachte oder dern schon die früheren Novellen rufen mit ihrem
schon geschriebene Scene wurde hinter die Coulissen spezifischen Humor den norddeutschen Kunstrichter
geschoben, und dann darauf hin gearbeitet, daß nur auf den Plan, der die derben Späße als für »unsre Ner-
die Reflexe davon vor dem Zuschauer auf die Bühne ven zu fein« (31) abqualifiziert und nach Lalenburg
fallen« (Storm‒Keller, 48). Charakteristisch ist die enge verweist. Bei Keller scheint sich zunehmend der
Anlehnung an den literaturwissenschaftlichen Dis- Eindruck mangelnder Einfühlung breit gemacht zu
kurs, die auch Kellers Urteile prägt, etwa wenn er an haben; jedenfalls schreibt er an Heyse, dass Storm
Storms Novelle Der Finger (später unter dem Titel Im sehr wohl brauchbar wäre für einzelne Korrekturen,
Brauer-Hause) die »stramme Composition« und die »aber nicht im ganzen, weil er etwas borniert« sei
»sehr gute Peripetie« (50) lobt. (25.6.1884).
Derart belegt der Briefwechsel ein Konvergieren Über die Jahre hinweg verändert sich der Charakter
von literarischer Produktion und literaturwissen- des Briefwechsels. Zum einen verschieben sich die
schaftlicher Betrachtung. Storm, der zur gleichen Zeit Gewichte zwischen den Briefpartnern, zum andern
ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Germanis- nehmen Äußerungen zur zeitgenössischen Literatur
ten Erich Schmidt unterhält, lenkt die Aufmerksam- und anderen Autoren zunehmend mehr Raum ein:
keit immer wieder auf gattungspoetische Fragen, auf die Anteilnahme an »Meister Paolo«, dem befreunde-
das Wesen der Lyrik und insbesondere auf die Bedeu- ten Paul Heyse und seinen literarischen Projekten; die
tung und Leistung der novellistischen Form. Erklärt widersprüchliche Haltung gegenüber C. F. Meyer, der
er anlässlich der Chronik von Grieshuus zwar, »den laut Keller »voll kleiner Illoyalitäten und Intrigelchen
Boccaccioschen Falken laß ich unbekümmert fliegen« steckt« (Storm‒Keller, 83); oder die Aversion gegen-
(108), so bringt er an anderer Stelle die Novelle als über dem beim breiten Publikum anerkannten Viel-
»strengste u. geschlossenste Form der Prosa-Dich- schreiber Georg Ebers. Häufig spricht Keller seine
tung« (73) gegenüber dem Roman in Stellung. Keller Haltung bestimmter aus, wie er denn auch Storm bei
hingegen lehnt normative Gattungsbestimmungen seinem antisemitischen Ausfall gegen »den frechen
(»aprioristische Theorieen u. Regeln«; 76) ab. Aus- Juden Ebers« (73) deutlich in Schranken weist: »Ueb-
drücklich wendet er sich gegen Storms »etwas rigens hat sein Judenthum [...] mit der Sache nichts zu
streng[es]« (35), ganz auf die Aussprache der subjekti- schaffen« (76).
ven Empfindung ausgerichtetes Verständnis des Lyri- Einig sind sich Keller und Storm in ihrer Abwehr-
schen. Kellers eigene, epische Elemente einschließen- haltung gegenüber dem Naturalismus. Für die Aktivi-
de Lyrikauffassung findet Niederschlag nicht nur in täten der Brüder Hart, die seit 1879 den Allgemeinen
seiner lyrischen Produktion, sondern auch in der Deutschen Literatur-Kalender herausgaben und dafür
Wertschätzung von C. F. Meyers Gedichten mit ihrem um Beiträger warben, haben sie nur Spott übrig. Um
»ungewohnt schöne[n] und körnige[n] Ton« (90). »unreifes, wüstes Zeug« (69) handle es sich, urteilt
306 III Werk – G Das Briefwerk

Storm. Überhaupt zeugen die Stellungnahmen zum auf den Markt angewiesen ist und ihn bedient, zu-
aktuellen literarischen Betrieb von kritischer Distanz. gleich aber sehnsüchtig einer Vorstellung von Kunst-
Storm wettert gegen »gewisse Fabrikanten in poesi« autonomie nachhängt. So dient der Briefwechsel als
(87); Keller gegen geist- und blutleere Lohnschreiber: kleine Enklave eines marktenthobenen Schreibens.
»den Ductum hantiren sie bald alle gleichmäßig und
schneiden Einem dazu noch allerhand Knöpfe von Literatur
Rocke, die sie unverfroren an ihren Kittel nähen« (94). Goldammer, Peter (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Theodor
Literatur verkommt nach Keller zur Massenware, wo- Storm und Gottfried Keller. Berlin/Weimar 1967.
Köster, Albert (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Theodor
bei die eigentlichen, die ›originalen‹ Autoren auf der Storm und Gottfried Keller. Berlin 1924.
Strecke blieben: »Die Wuth der Verleger, Bücher zu Bollenbeck, Georg: Theodor Storm. Eine Biographie. Frank-
drucken, scheint sich zur Leidenschaft zu steigern, es furt a. M. 1988.
ohne Mitwirkung der Schriftsteller zu thun.« (75) Laage, Karl Ernst: »Der Storm-Keller-Briefwechsel ist ein
Gleich zu Beginn unterlegt Keller dem Briefwech- unschätzbarer Besitz unserer Literatur« (H. Maync) – Zur
Neuedition der Briefe. In: STSG 42 (1993), 7–13.
sel das Gegenbild einer von Öffentlichkeit und Markt
Morgenthaler, Walter: Die ›Grünen Heinriche‹. Zur Text-
unangetasteten Autorschaft. Er imaginiert sich als und Überlieferungsgeschichte eines Romans. In: Wolfram
»ältlichen Klosterherren, der einem Freunde in einer Groddeck (Hg.): Der grüne Heinrich. Gottfried Kellers Le-
andern Abtei von den gesprenkelten Nelkenstöcken bensbuch – neu gelesen. Zürich 2009, 11–32.
schreibt, die sie jeder an seinem Orte züchten« (23). Smidt, Ingrid/Streitfeld, Erwin (Hg.): Gottfried Keller – Emil
Dass Storm dieses Bild aufgreift und von den eigenen Kuh. Briefwechsel. Zürich 1988.
»Nelkenstöcken« handelt, zeugt von dem zwiespälti- Katharina Grätz
gen Bewusstsein dieser Autorengeneration, die zwar
87 Der Briefwechsel Storm – Paul Heyse 307

87 Der Briefwechsel Storm – tag feierte. Ein letztes (zu Storms Bedauern nur sehr
Paul Heyse kurzes) Treffen fand anlässlich der Uraufführung von
Heyses Stück Das Recht des Stärkeren am Hamburger
Thalia-Theater im November 1883 statt. Anschließend
Zur Edition
kam es zu keiner weiteren Begegnung mehr, obwohl
Die teils in der Schleswig-Holsteinischen Landes- Storm sich mehrfach darum bemühte.
bibliothek in Kiel, teils im Heyse-Nachlass der Baye- Ihren Anfang nimmt die Korrespondenz mit den
rischen Staatsbibliothek in München befindliche Kor- Zusendungen der neuesten Werke Storms. Wahr-
respondenz zwischen Storm und Heyse wurde bislang scheinlich erbat sich Heyse diese für sein Storm-Por-
zwei Mal ediert. Die erste Edition erfolgte während trait, das in der Dezemberausgabe 1854 in der Beilage
der Kriegsjahre 1917/1918 in einer zweibändigen des deutschen Kunstblattes erschien. Heyse war zu die-
Ausgabe beim J. F. Lehmanns Verlag (München). Be- sem Zeitpunkt (auch wegen seiner Berufung an den
sorgt wurde sie durch den Heyse-Enthusiasten Georg Hof des bayerischen Königs Maximilians II.) fest im
J. Plotke. Aufgrund akuter Papierknappheit wurden Literaturbetrieb etabliert und nutzte seinen Einfluss,
zahlreiche Briefe (vor allem Storms) gekürzt oder um für das Werk des 13 Jahre älteren Dichterkollegen
ganz weggelassen. Neben Falschdatierungen weist zu werben. Heyse selbst wurde vier Jahre zuvor durch
diese Edition zahlreiche Lesefehler der Handschriften den Berliner Verleger Alexander Duncker auf Storms
durch den Herausgeber auf. Werk aufmerksam.
Die zweite Edition erschien ab Ende der 1960er Jah-
re bis Mitte der 1970er Jahre in Verbindung mit der
Die »Stille Compagnonschaft« – Die Jahre des
Theodor-Storm-Gesellschaft im Erich Schmidt Verlag
»Deutschen Novellenschatzes«
(Berlin). Herausgeber war der Storm-Forscher Clifford
Albrecht Bernd. Diese Korrespondenz ist nach wissen- Die ersten vierzehn Jahre bleibt es zwischen den bei-
schaftlichem Standard editiert und kommentiert. Der den Dichtern bei einem Austausch von Höflichkeiten
aufwendig recherchierte Erläuterungsapparat bietet und der »Bekanntschaft [...] auf Druckpapier« (I, 29).
sowohl Zugänge zu entlegenen Texten, auf die sich die Man schickt sich Neuerscheinungen zu, nimmt aus er
Korrespondenz bezieht, als auch zahlreiche Hinweise Ferne am persönlichen Schicksal des anderen Teil
auf bis heute noch offene Forschungsfelder. (beide vereint der Verlust der Ehepartner in dieser
Zeit), trotzdem bleibt der Briefkontakt eher oberfläch-
lich und von großen zeitlichen Lücken durchsetzt. Erst
Vorbemerkungen
Anfang der 1870er Jahre intensiviert er sich. Beide ver-
Die 35 Jahre währende Korrespondenz mit Heyse ge- bindet in diesen Jahren ihre Tätigkeit als Herausgeber:
hört nicht nur zu den umfangreichsten Storms, son- Zusammen mit Hermann Kurz ediert Heyse den Deut-
dern – wie oft von ihm geäußert – auch zu den »bedeu- schen Novellenschatz und ab 1872 zusätzlich den No-
tendsten« (Storm–Heyse I, 9). Der erste der rund 260 vellenschatz des Auslandes, während Storm zeitgleich
erhaltenen Briefe, ein kurzes Billet anlässlich einer ein Hausbuch aus deutschen Dichtern herausbringt.
Werkzusendung Storms an Heyse, stammt vom No- Von der »Novellensammlerei [...] gründlich ange-
vember 1853, der letzte, eine Antwort Heyses auf steckt« (I, 41) unterbreitet Storm Heyse in seinen Brie-
Storms Pfingstgrüße, ist datiert auf Mai 1888, also gut fen unermüdlich Vorschläge für die Aufnahme weite-
einen Monat vor Storms Tod. Persönlich begegnet sind rer Novellen in das aus seiner Sicht sehr verdienstvolle
sich die beiden Dichter vier Mal in ihrem Leben: Das Projekt. Seinerseits erbittet er auch von Heyse, ihm für
erste Treffen fand im Rahmen des Rütli-Kreises, einem das Hausbuch seine »vermißten Lieblinge anzugeben«
Ableger des Tunnels über der Spree, Anfang der 1850er (I, 42). Die »Novellenschatzgräberei« (I, 75) bildet lan-
Jahre im Hause des Berliner Kunsthistorikers Franz ge Zeit den Hauptgegenstand ihrer Korrespondenz.
Kugler statt. Ein zweites Treffen ergab sich im Sommer Storm entpuppt sich als eifriger Leser zeitgenössischer
1872 in München und Prien, als Storm auf einer Reise Literatur (besonders auch der Veröffentlichungen in
nach Salzburg auf seiner Hin- und Rückreise eine Zwi- Zeitschriften). Seine Empfehlungen, die brieflichen
schenstation bei Heyse einlegte. Eine dritte Begegnung Diskussionen sowie die schließlich getroffene Auswahl
kam neun Jahre später im September 1881 zustande, geben einen literarhistorischen Einblick in die Ge-
als Heyse einen Kuraufenthalt nutzte, um Storm in Ha- schmacks- und Werturteile der Briefpartner und ihrer
demarschen zu besuchen und mit ihm seinen Geburts- Zeit. Storms Beitrag geht über den des interessierten

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_87, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
308 III Werk – G Das Briefwerk

und kritischen Beobachters hinaus. So ist er Heyse schlechte »Composition wenigstens zu retten ist« (III,
auch bei der schwierigen Beschaffung einzelner Werke 49). Für einen Novellenstoff, der in Florenz spielen soll,
behilflich (vgl. etwa I, 54) und macht Vorschläge zur bittet er Heyse um eine »Art guide über Stadt u. Umge-
Erweiterung des gesamten Projekts (I, 86). Entspre- bung« (III, 82), woraufhin ihm Heyse einen »Bädeker«
chend ist es kaum verwunderlich, dass Heyse seinen zustellt (III, 83). Als Heyse schließlich nach der Lektüre
Rat insbesondere nach dem Tod seines Mitheraus- der Königskinder als angeblicher »Specialist in Mund-
gebers im Herbst 1873 wertschätzt und ihm für die arten« Storm seine Hilfe anbietet, das »böse Schwä-
»stille Compagnonschaft beim Novellenschatz« (I, 64) bisch« zu verbessern (III, 168), nimmt Storm das An-
dankt. Als Heyse das Projekt im August 1883 wieder gebot sofort für die Aufnahme des Textes in seine Ge-
aufnimmt, steht Storm ihm mit seinem Ratschlag er- samtausgabe an (vgl. III, 170). Umgekehrt ist Storm
neut zur Seite. Auch versucht Heyse nach Eine Maler- Heyse auf dessen Bitte hin bei der Auswahl seiner Ge-
arbeit, die 1872 im ersten Deutschen Novellenschatz er- dichte für eine eigene Anthologie behilflich, obwohl er
schien, eine weitere Novelle Storms für den Neuen der Überzeugung ist, dass diese Gattung nicht Heyses
Deutschen Novellenschatz zu erhalten. Von Anfang an eigentliche »Sache« ist (III, 77). Storm nutzt die Zusen-
schwebt ihm dabei Aquis submersus (1876) vor, was dungen des Freundes auch, um sie regelmäßig im Kreis
Storm jedoch zunächst aus finanziellen Gründen ab- der Familie vorzulesen und Heyse die »strenge Haus-
lehnt: Heyse kann ihm statt eines Honorars nur die kritik« (III, 175) unmittelbar mitzuteilen.
»Ehre als Lockvogel« in Aussicht stellen (III, 59). Nach Im Rahmen dieser Kritik an den eigenen Werken
zähen Verhandlungen (auch mit Storms Verleger) und kommt es 1887/ 1888 zu einer bemerkenswerten Dis-
inständigen Bitten gelingt es ihm erst drei Jahre später, kussion über einen Novellenstoff, den sowohl Heyse
diesen Text in seiner Reihe zu publizieren. als auch Storm in diesen Jahren bearbeiten. Als Heyse
im November 1885 Storm seinen dritten Novellen-
band zusendet, behauptet Storm nach der Lektüre von
»Aber von Ihnen möchte ich gern gekannt sein« –
Auf Tod und Leben, sich kurz zuvor denselben Stoff
Heyse und Storm als gegenseitige Kritiker
notiert zu haben (III, 122). Zwei Jahre später sendet er
In den 1870er Jahren nehmen auch die Diskussionen Heyse seine Novelle Ein Bekenntnis. Doch ebensowe-
über die eigenen Werke zu. Zwar versprach man sich nig wie sich selbst gesteht Heyse der Stormschen Ver-
bereits in einem der ersten Briefe, einander »reinen sion zu, »das spröde Motiv [...] bezwungen« (III, 153)
Wein – in geschliffenen oder ungeschliffenen Kruge, zu haben. Er schreibt Storm eine ausführliche Kritik,
gleichviel – ein[zu]schenken« (I, 22), erst jetzt aber löst deren »Principial-Einwände« (III, 155) Storm an-
direkte Kritik die bisherige höfliche Zurückhaltung ab. erkennt. Womöglich herausgefordert durch das bei-
So »disputiert« (I, 82) man einzelne Stellen – selbst, derseitige Misslingen wendet sich Heyse in der Folge-
wenn es sich um ein »Geplauder über fertige Dinge« (I, zeit noch einmal dramatisch dem Motiv zu, das er
80) handelt – und legt auch dabei keinen anderen Wert- Storm gegenüber kollegial als »unser Motiv« (III, 163)
maßstab an als bei den fremden Werken. Nach der Lek- bezeichnet. Es entsteht der tragische Einakter Die
türe von Storms Waldwinkel (1874) und Pole Poppen- schwerste Pflicht (1887), mit dem Heyse glaubt, »dem
späler (1874) moniert Heyse beispielsweise, dass er auf- Problem sein Recht angethan« zu haben (III, 168),
grund seiner »Schatzgräberei«, wo er »jede Novelle zu- auch wenn er sicher sei, dass sich kein Theater aus sitt-
nächst auf ihren ›Falken‹ ansah« (I, 101), bei dieser lichen Gründen daran wagen würde (vgl. III, 163).
»Reihe Genrebilder« ein »Verlangen nach einem Mit- Auch Storm zollt dieser dramatischen Bearbeitung »in
telpunkt, der das Ganze organisiert« (I, 101), empfände Composition u. Ausführung« (III, 166) seinen Res-
(vgl. auch III, 105). Storm antwortet, dass trotz des von pekt, wenn auch vielleicht nur, weil Heyse mit dem
ihm »sehr respectirten Falken [...] ein bedeutender Drama eine Storm fernstehende Gattung gewählt hat.
poetischer Werth auch ohne ihn vorhanden sein [kön-
ne]« (II, 11). Diese gegenseitige, immer auf Augenhöhe
Zwischen ›völliger Unfruchtbarkeit‹ und
geführte Kritik setzt sich bis in die letzten Briefe fort.
›behaglich-müden Wöchnerstimmungen‹ –
Man fordert sie sogar regelrecht vom anderen ein (vgl.
Alltagssorgen
etwa III, 122). Als Storms Novelle Schweigen 1883 in
der Deutschen Rundschau erscheint, bittet er den Kolle- Neben diesen Besprechungen eigener und fremder
gen ausdrücklich um Rat, ob ihm für die spätere Buch- Werke berichten die Briefe auch vom alltäglichen
ausgabe etwas einfällt, wodurch die aus seiner Sicht Schriftstellerdasein: vom Schreibprozess und Schreib-
87 Der Briefwechsel Storm – Paul Heyse 309

blockaden sowie von der Veröffentlichung und der sönlicher. Das Verhältnis wird immer mehr zur
Aufnahme durch die Kritik. So erzählt etwa Storm die Freundschaft, so dass Heyse, immerhin der jüngere
Entstehungsgeschichte von Aquis submersus (II, 19), der beiden, Storm im April 1876 das Du vorschlägt,
von einigen biographischen Anleihen u. a. in seiner weil ihm »das ›Sie‹ [...] durchaus nicht mehr aus der
Erzählung Unter dem Tannenbaum (1862) (III, 23) Feder« will (II, 12). Begeistert nimmt Storm diesen
und von seiner Angst, seine Novelle Der Schimmelrei- Vorschlag mit dem studentischen Ausruf des »Fedu-
ter (1888) nicht mehr bewältigen zu können (III, 123). cit!« (II, 14) an – auch wenn sich (von einigen Ausnah-
Der zum Erstaunen seines älteren Dichterkollegen un- men abgesehen) an der gegenseitigen Anrede mit
ermüdlich produktive Heyse berichtet von Phasen Nachnamen nichts ändert. Welchen Stellenwert die
»völlige[r] Unfruchtbarkeit« (III, 21), aber auch von Freundschaft insbesondere für Storm hatte, erkennt
den »behaglich[]-müden Wöchnerstimmung[en]«, man an der vorbehaltlosen Offenheit, mit der er Heyse
wenn er »von einem neuen Stück entbunden« wurde Privates erzählt, während er anderen Briefpartnern ei-
(III, 74). ne »heile Welt« (Hettche 1995, 43) vorgaukelt. Sicht-
Analog zu Storm, der zeitlebens um seine Anerken- bar wird dies vor allem, wenn er über seinen ältesten
nung als Lyriker rang (vgl. etwa II, 13), zeigt die Kor- Sohn Hans schreibt, der zu schwerem Alkoholismus
respondenz ferner sehr deutlich den jahrelangen neigte. Heyse gegenüber empfindet es Storm geradezu
Kampf Heyses um seine Anerkennung als Dramatiker. als Pflicht, von diesem »Sorgenkind« (II, 21) und
Als schließlich Anfang der 80er Jahre die Stücke »aller- »ganz Verlorenen« (II, 44) zu berichten und lässt ihn
orten« gegeben werden (III, 73), Heyse »einen Kranz teilhaben an den Hoffnungen und Sorgen, die er als
nach dem anderen« gewinnt (III, 150) und sogar mit Vater bis zum Tod seines Ältesten (1886) durchlebt.
dem begehrten Schillerpreis für seine »Dienste um die Genauso vertrauensvoll erzählt er auch vom Rest der
dramatische Dichtkunst« (III, 98) ausgezeichnet wird, Familie, von seinem Leben in Hademarschen und der
ist die Freude bei beiden groß (vgl. III, 160): Wechsel- in den letzten Lebensjahren immer schlechter wer-
seitig nehmen die Freunde regen Anteil am Erfolg des denden Gesundheit.
jeweils anderen. Heyse nutzt seinen Einfluss dafür, Umgekehrt teilt Heyse, der grundsätzlich in Briefen
dass Storm 1882 mit dem Maximilianorden für Kunst eher zurückhaltend ist (vgl. II, 46), dem norddeut-
und Wissenschaft ausgezeichnet wird. Storm, der sich schen Freund auch die meisten Ereignisse aus seinem
im höfischen Protokoll unsicher fühlt, sucht Rat beim Privatleben mit. So berichtet er von seiner zweiten
Erfahreneren, wie er sich Seiner Majestät gegen- Frau und ihrer beider zeitweise schlechten Gesund-
über verhalten soll (vgl. III, 39). Doch zieht der Erfolg heit, von seinen Töchtern und den eigenen »Vatersor-
auch manch skurrile Begleiterscheinung nach sich: gen« (II, 51) um seinen ältesten und einzig gebliebe-
Beide klagen, dass das Verlangen der Leser nach Auto- nen Sohn, den er nach dessen Abschied aus der Armee
grammen und vor allem Autographen »so maß- und lange nicht von seiner »Sorgenliste« (III, 113) strei-
schamlos um sich [greift]« (III, 92), dass kein Tag ver- chen kann.
geht, an dem sie keine Anfrage erhalten. Heyse weigert Diese Gespräche über das Private finden innerhalb
sich schließlich, diesem Modetrend zu entsprechen, der Korrespondenz in erster Linie auf Nachfrage oder
macht aber natürlich eine Ausnahme, als Storm ihn für über Parallelisierung mit den eigenen familiären Le-
eine Bekannte darum bittet. bensumständen statt. Insgesamt nehmen sie aber, ver-
glichen mit den Diskussionen und Gesprächen über
literarische Themen, nur einen quantitativ bescheide-
»Ich kann Dich für den Rest meines Lebens nicht
nen Raum ein.
mehr gut entbehren« – Freundschaft
Mag auch der Großteil der Korrespondenz das eigene Literatur
literarische Schaffen bzw. die zeitgenössische Literatur Hettche, Walter: Theodor Storm und Paul Heyse. Literari-
behandeln, so bleibt die Beziehung der beiden Schrift- sche und biographische Aspekte einer Dichterfreund-
schaft. In: Storm-Blätter aus Heiligenstadt 1 (1995), 39–57.
steller nicht nur eine rein kollegiale. Bereits nach dem
ersten Besuch Storms in München wird der Ton per- Christoph Grube
310 III Werk – G Das Briefwerk

88 Der Briefwechsel Storm – ner Schwester bei, die ebenfalls Aufnahme in das Al-
Eduard Mörike bum fanden.
Gestaltet sich der Kontakt zwischen den beiden
Männern somit wie selbstverständlich ›familiär‹ und
Theodor Storm lernte Eduard Mörikes in den 1830er weicht die »ich«-Form immer öfter einem »wir«, so
Jahren erschienene Dichtungen (Gedichte, Iris, Maler handelt es sich dabei doch gleichzeitig von Anfang an
Nolten) zunächst als Schüler des Katharineums in Lü- um eine recht einseitige Intimität. Storm breitet seine
beck und dann als Student durch Vermittlung seines Vita, sein Familienleben und seine berufliche Situati-
Studienfreundes Theodor Mommsen in Kiel kennen on (die vor allem durch den erzwungenen Weggang
und bewunderte die Modernität der handwerklich aus Husum 1853 geprägt wird) vor Mörike aus; dieser
perfekt konstruierten Texte. Mörikes Verse repräsen- bleibt freundlich, aber bestimmt reserviert, bedankt
tierten für Storm ebenso wie die Lyrik Heines den Ide- sich für Storms literarische Empfehlungen (u. a.
altypus des rein lyrischen Gedichts, das phrasenhaft- Groths Quickborn) und retourniert auch eigene Ge-
rhetorische Reflexionen vermeidet und ohne didakti- dichte. Die Ernsthaftigkeit, mit der Storm auf die ihm
schen Anspruch auf die Unmittelbarkeit sensueller zugesandten Texte eingeht (40 f.), findet, wie auch sei-
Präsenz setzt. Damit entsprachen sie seinem Konzept ne sich über Jahre hinziehende kritische Auseinander-
vom liedhaften Gedicht, in dem er sich bemühte, sei- setzung mit Maler Nolten, in Mörike kein dankbares
nem dichterischen Empfinden unmittelbaren Aus- Gegenüber.
druck zu geben. Nach der brieflich angebahnten persönlichen Be-
Mitte November 1850 übersandte Storm seine ers- gegnung (56) in Stuttgart im Sommer 1855 kam es
te selbständige Publikation Sommergeschichten und dann endgültig zur Entfremdung und Storm erhielt
Lieder an Mörike, in der neben den Erzählungen Im auf seine sechs Briefe zwischen 1855 und 1862 keine
Saal, Der kleine Häwelmann, Posthuma, Marthe und Antwort mehr. Mörike reagierte lediglich auf die
ihre Uhr und Immensee 35 Gedichte enthalten sind. Nachricht von Constanzes Tod im Jahre 1865 pflicht-
In einem Begleitbrief sucht der jüngere, unbekannte gemäß mit einem Kondolenzschreiben. Danach hat
Storm, der sich als »Dilettant« einführt (Storm–Mö- Storm noch zweimal an Mörike geschrieben, ohne
rike, 25), Anerkennung bei dem Älteren, bereits Arri- Antwort zu erhalten. Über die Gründe kann nur spe-
vierten. Mörike gewährt Storm erst nach einem Jahr kuliert werden. Zu konstatieren ist in jedem Fall die
Schweigen vorsichtig eine gewisse persönliche Nähe, beträchtliche Inkongruenz in der Hingabe an diesen
lobt die Sommergeschichten (die einzige Kritik gilt er- Briefwechsel. Storm hatte ein großes Bedürfnis, über
staunlicherweise »der Erzählung Immensee«, der seine weitläufige Familie und über das gesellschaftli-
Mörike »mehr individuelle Bestimmtheit« wünscht) che Leben seiner jeweiligen Lebensumwelt zu spre-
und versichert dem Adressaten, »in Ihrem Büchlein chen und scheute dabei keine Details. Mörike hin-
alsbald einen sinn- und seelverwandten Freund« er- gegen hielt Storm eher auf Distanz und achtete selbst
kannt zu haben (27). Storm deutet die Höflichkeiten in persönlich erscheinenden Briefen darauf, dass we-
des anderen euphorisch und sieht durch die aus- sentliche Ereignisse seines Lebens nicht thematisiert
gesprochene ›Seelenverwandtschaft‹ in der Folgekor- wurden. Die literarische Öffentlichkeit interessierte
respondenz eine innige Vertraulichkeit angezeigt, in ihn eher am Rande, während Storm sich mitten in die
die auch gleich die Ehefrauen einbezogen werden: Diskussion warf und mit seinen Wertungen über Kol-
Während Mörikes »Steindruckporträt« den Schreib- legen nicht hinter dem Berg hielt. In zweien seiner
tisch Constanzes ziert (28), sucht Storm in Mörikes Briefe an Mörike schilderte Storm ausführlich seine
Gedichten vergeblich die »Spuhr« seiner Frau Marga- Herkunft aus einer erfolgreichen und bedeutenden
rethe (31). Deren Bibliothek vermacht Storm die ers- Kaufmanns- und Senatorenfamilie in Husum (28 f.)
te Nummer der Argo und erbittet sich im Gegenzug und erzählt langatmig von einem Besuch mit seiner
von Mörike ein Autograph von »Das verlassene frisch angetrauten Frau Constanze bei seinen Ver-
Mägdlein« (1829) für das Album, das er Constanze wandten väterlicherseits in der Nähe von Rendsburg
zum 29. Geburtstag schenken will. Mörike kommt (50 f.). Beide Texte idealisieren Storms familiäres Ein-
der Bitte nicht nur nach, sondern organisiert weitere gebundensein in einer idyllischen Weise und über-
Autographen von Karl Mayer, Justinus Kerner und höhen seine Lebensumstände ins Literarische. Mörike
Ludwig Uhland und legt der Sendung auch eigens ge- wird dies bei seiner eher gebrochenen beruflichen
fertigte Silhouetten von Mörike, seiner Frau und sei- Karriere und den konfliktgeladenen persönlichen

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


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88 Der Briefwechsel Storm – Eduard Mörike 311

Verhältnissen wohl mit zwiespältigen Gefühlen gele- Die Korrespondenz zwischen beiden ist sehr fami-
sen haben. liär, zwar schreibt Storm unbekümmert über seine
Als Eduard Mörike im Juni 1875 gestorben war, Novellistik, obwohl Frau Mörike dazu kaum etwas sa-
wurde Storm von einer Zeitschriftenredaktion auf- gen kann und von Storms poetischen Überlegungen
gefordert, einen Nekrolog zu schreiben. Er lehnte die- deutlich überfordert ist, aber er hält an der Familien-
ses Ansinnen zunächst ab, begann aber im Sommer freundschaft fest, von der er sich wohl auch intime
1876 mit der Niederschrift seiner Erinnerungen, die er Details vom Leben Mörikes und über seine Familien-
zunächst der Deutschen Rundschau anbot. Die Redak- beziehungen erhofft hatte. Während der nächsten
tion lehnte ab, so dass Meine Erinnerungen an Eduard zwölf Jahre wurden fast 60 Briefe gewechselt, die inte-
Mörike im Januar 1877 in Westermann’s Illustrirten ressante Einblicke in die familiäre Entwicklung der
Deutschen Monatsheften erschienen (s. Kap. F.80.4). Mörikes und der Storms ermöglichen. Wenn auch der
Bemerkenswert ist indessen, dass nach Mörikes von Storm angeregte und engagiert forcierte Brief-
Tod die Korrespondenz zwischen Storm und Mörikes wechsel mit den Mörikes nicht in der gewünschten
Witwe Margarethe wieder auflebt. Im Dezember 1876 Weise zum Austausch über literarische und private
schickte Storm ihr die Buchausgabe seiner drei Novel- Herzensangelegenheiten führte, so hat die Beziehung
len Ein stiller Musikant, Psyche und Im Nachbarhause zwischen den beiden so unterschiedlich lebenden Fa-
links mit einem freundlichen Brief, dann sandte er milien mit ihren mitunter entgegengesetzten Mentali-
Anfang 1877 ein Exemplar seiner Erinnerungen an täten zumindest dazu geführt, dass eine Reihe von Fa-
Eduard Mörike ebenfalls an dessen Witwe; damit er- milienphotographien erhalten blieben, die sonst für
öffnete Storm einen Briefwechsel, der bis wenige Tage die Nachwelt verloren wären.
vor seinem Tod fortgesetzt wurde.
Gerd Eversberg
312 III Werk – G Das Briefwerk

89 Der Briefwechsel Storm – ersten Platz in der hochdeutschen, Groth in der nie-
Klaus Groth derdeutschen Lyrik habe (vgl. 50), festigt den Kontakt.
1869 zeigt sich die Korrespondenz vertraut. An Inten-
sität gewinnen die Briefe über Textbezüge; so schätzt
Die Korrespondenz zwischen Storm und Klaus Groth Groth Storms Lob von 1870 für das Versepos De Heis-
(1819–1899) ist zwischen 1852 und 1887 belegt und terkrog (72–74); und Storm ist von Groths Hans und
durch eine längere Pause sowie spätere Freundschaft Heinz Kirch-Lektüre (vgl. 83) angetan, so dass er am
geprägt. Überliefert sind 60 Texte, von denen sieben 15.10.1882 erneut erwidert: »Besseres kann man ja
von Groth an Storm und 53 von Storm an Groth ge- nicht dafür eincassiren, als die Zustimmung der Mit-
richtet sind. So überwiegt die stormsche Gestaltung strebenden« (84). Dieses Konzept des gemeinsamen
der Korrespondenz, deren Initiator Groth ist, dem am Poetentums, des Mitstrebens und Wissens um die
Austausch mit Künstlern und Akademikern gelegen Mühen poetischer Arbeit und ihrer Kritik bestimmt
ist (vgl. zu Groth Bichel/Bichel/Hartig 1994; Langhan- den Briefwechsel. Dessen Vertrautheit bleibt bei ab-
ke 2015). Zu Beginn adressiert Groth Storm selbst- nehmendem Enthusiasmus im Alter erhalten.
bewusst als Dichterkollegen und bittet um Bespre- Für Hinrichs erfüllen sich 1862/1863 geäußerte Zie-
chung seiner Sammlung Quickborn (1852), die Nukle- le nicht; »[m]it den siebziger Jahren verliert ihre Bezie-
us der Freundschaft ist, da Storm Groths niederdeut- hung an Intensität« (Hinrichs 1990, 17), »Freundschaft
sche Lyrik schätzt und eigene poetische Maßstäbe ist zum Austausch von Freundlichkeiten geworden«
erfüllt sieht (vgl. Laage 1986, 13 f.). Storm wird zwei- (ebd., 24). Laage hingegen betont zunächst den Kon-
maliger Rezensent und häufiger Rezitator des Quick- flikt, um dann von »einem harmonischen freund-
born. Die Korrespondenz bricht nach Storms poetolo- schaftlichen Ausklang« zu sprechen (Laage 1986, 17),
gischem Brief vom 6.4.1853 ab und ruht bis zu Groths was berechtigt ist. Das fortschreitende Alter und Ver-
Wiederaufnahme im Dezember 1862, nachdem Storm änderungen der Verhältnisse sind der Freundschafts-
Auf der Universität zur Besprechung übermitteln ließ. pflege weniger zuträglich. Doch schreibt Storm 1882
Dazwischen liegt Storms 1854 erschienene Bespre- aus Hademarschen gleich einer Reminiszenz an 1863,
chung Groths hochdeutscher Lyrik Hundert Blätter dass beide »überhaupt für den Rest nun noch etwas nä-
(1854), der »nur eine mäßige und oberflächliche Ge- her zusammen halten [sollten]« (Storm–Groth, 82).
fühlsregung« (LL 4, 349) attestiert wird: »Im Übrigen Zudem macht Storm Groth gegenüber noch 1882 ver-
– ist es eben schwierig, in zweien Sprachen Dichter zu trauliche Angaben über finanzielle Verhältnisse (85).
sein [...].« (353) Beachtung verdient Storms Interesse Größerer Abstand entsteht, als sich Groth nach 1864
vom 3.1.1863: »[...] Ihr Quickborn hat fern der Hei- von der Idee eines Herzogtums abwendet und für preu-
math und in schwerer bittrer Zeit oft seinen Namen an ßische Strukturen einsetzt (vgl. Löding 1985; Lohmeier
mir bewährt. So lassen Sie uns denn, da dem so ist, 1989; Langhanke 2014). Da die Korrespondenz jedoch
und da wir einer Kunst und einer Heimath angehören, keinen politischen Schwerpunkt hat, ist dies nicht be-
für den noch übrigen Teil unseres Lebens und Wir- stimmend, obwohl Storm Groths Panegyrik gegenüber
kens nach Möglichkeit zusammenhalten!« (Storm– Dritten kritisiert (vgl. Hinrichs 1990, 17, Anm. 7; Lang-
Groth, 34) Der Wunsch nach Zusammenhalt wird hanke/Volkmann 2016). Alfred Bieses spät notierte,
über Lyrik vermittelt, wobei die regionale Bindung dem 2.10.1883 zugeschriebene Storm-Äußerung »mit
zwischen Groth und Storm besonders bedeutsam ist. Geibel und Groth habe ich kaum nähere Beziehungen«
Laage zeigt vergleichend Stationen der Lebensläufe ist nicht belastbar (Hinrichs 1990, 17, Anm. 5).
bis zu den Erstausgaben der Gedichte 1852 auf (vgl. Auffällig sind die seltene Erwähnung Storms in
Laage 1986, 9–12). Poetische Grundlagen bringt Groths Memoiren (vgl. Groth 2005) und die geringe
Storm am 6.4.1853, als er Groth versichert, »bis auf Beachtung von Groth in Storm-Biographien (vgl. u. a.
den Tüpfelchen das volle Verständnis ihres poetischen Laage 1982; Jackson 2001). Die vielfach eher abseits
Strebens [zu] habe[n]« (Storm–Groth, 31), und dass des hochdeutschen Kulturbetriebs verortete nieder-
sich das Niederdeutsche »für die Poesie besonders eig- deutsche Literatur verantwortet diese Knappheit; aber
nen müsse« (30), so dass Groth 1862 schreibt: »Wir neben Groths Netzwerk-Interesse ist gerade Storms
haben Beide vielleicht kaum gewußt, was wir einander gutes Verhältnis zur niederdeutschen Sprache ein
gewesen sind« (33). Storms Bemerkung, »nur ein Mit- Hauptmotiv der Freundschaft. Im Diskurs mit und
strebender kann uns den recht erquicklichen Lohn ge- über Groth spricht Storm sich mehrfach für eine nie-
ben« (46) von 1868 und die Auffassung, dass er einen derdeutsche Literatursprache aus, kann diese jedoch

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89 Der Briefwechsel Storm – Klaus Groth 313

nicht selbst nutzen. Das liegt weniger daran, dass für Sprache zu lebendiger Anschauung gelangen könne,
Storm »allein das Hochdeutsche [...] genügend Flexibi- ab 1854 mehrjähriges Schweigen (vgl. 348–353). Doch
lität und Reichweite besaß, um mit dem modernen so sehr Storm den hochdeutschen Groth ablehnt, so
Denken und den Problemen in Staat und Gesellschaft sehr erhöht er den niederdeutschen Groth: Fortan hält
fertig zu werden« (Jackson 2001, 66 f.), als daran, dass Groth sich daran, nur seine Literatursprache zu gestal-
ihm das »so feine Ohr für die plattdeutsche Sprache« ten, für die er Deutungshoheit beansprucht. Seine bei-
(LL 4, 352) fehlt, das er Groth für die hochdeutsche den Rezensionen stormscher Texte verzichten auf Kri-
Sprache abspricht (vgl. 352). Storm ist sprachlich nicht tik und bemühen sich um Storm als schleswig-holstei-
hinreichend niederdeutsch verankert, um es literatur- nischen Dichter (vgl. Storm–Groth, 184–193). Zu
sprachlich gestalten zu können. Verweise auf Storms Groths tagespolitisch-hochdeutscher Gelegenheits-
positive Einstellung zur niederdeutschen Sprache (vgl. lyrik des Jahres 1864 (vgl. Löding 1985; Langhanke
Storm 1912, 143, 201; Laage 1982, 136–141; Jackson 2014) gehört ein Widmungsgedicht an Storm (vgl.
2001, 66 f.) zeigen ihn als genauen Sprachbeobachter Storm–Groth, 37, 111–113), das den »Sängerbruder
und -verfechter, worin ein Grundmotiv für den Groth- stammverwandt« (Str. 1, v. 4) auf gemeinsames Han-
Kontakt liegt, denn im Quickborn sieht Storm seine deln für Friedrich VIII. anspricht, das sich jedoch
Vorstellungen von niederdeutscher Dichtung verwirk- nicht ergibt.
licht (vgl. Storm–Groth, 30 f.; Laage 1986, 13 f.). Neben Neben Verweisen auf eigene Arbeiten und Äuße-
das Sammeln niederdeutscher Stoffe tritt bei Storm rungen zu Texten des Anderen stehen die Familien im
niederdeutsche Figurenrede, doch prominent sind Vordergrund. Groth zeigt sich in Briefen nach 1860 als
zwei Gedichte: Das 1850 entstandene, 1853 an Groth Familienvater und wird es auch gegenüber Storm so
gesandte und veröffentlichte Gode Nacht (vgl. LL 1, halten, der ebenfalls viel Anteil haben lässt am Werde-
37 f., 795), und das 1872 entstandene und publizierte gang der Kinder. Der Austausch über Privates, obwohl
An Klaus Groth (vgl. 92, 869 f.). Beide Texte werden persönliche Begegnungen selten waren (1867, 1869,
von Storm in den Schatten des Quickborn gestellt, später seltener; nach Gertrud Storm auch in Hade-
bringen aber Form und Empfinden in Einklang. Auf marschen; vgl. Storm 1913, 205), bringt Eigentüm-
das jüngere Gedicht repliziert Groth 1877 mit An lichkeiten mit sich; so Groths Schreiben zum Tode
Theodor Storm (vgl. Storm–Groth, 78). Hinrichs weist Constanze Storms vom 25.5.1868, das über Aussagen
auf den Abdruck beider Widmungsgedichte auf der wie »Gott der Allmächtige, und die heilende Zeit hel-
Titelseite des Plattdütschen Husfründ vom 15.9.1877 fen Ihnen« (Storm–Groth, 38) christliche Bezüge auf-
und auf zwei bald darauf an gleicher Stelle als An Theo- baut und ergänzt, dass »ich Sie besser kenne als Ihre
dor Storm und Klaus Groth publizierte Gedichte von Nächsten« (38) und dass das, »[w]as Sie leiden [...]
Karl Gaedertz und Theodor Souchay hin, welche die vielleicht auch niemand Sterbliches [weiß] wie ich«
kombinierte Wahrnehmung der Dichter zeigen (vgl. (38 f.), wobei Groth übersieht, dass Storm nicht christ-
Hinrichs 1992, 50). Ähnliches veranlasste Groth 1899 lich gebunden ist (vgl. Storm–Groth, 114, Anm. 3).
zur Kritik: »Es ist überhaupt merkwürdig, dass man Storms Schreiben zum Tode Doris Groths fällt 1878
von meinem ersten Auftreten an bis zur Gegenwart hin nüchterner, aber nicht weniger empathisch aus: In
mich nie allein lassen konnte, es musste immer einer diesen Briefen manifestiert sich vertrauensvoller Aus-
neben mir genannt werden. Anfänglich nahm man tausch. Dass die Freundschaft in die Familien hinein-
Theodor Storm. Er schrieb mir einmal einen plattdeut- reicht, zeigen Aufenthalte von Storms Kindern bei
schen Vers [...], der ganz nett und stimmungsvoll ist Groth und Reminiszenzen Gertrud Storms (vgl.
[An Klaus Groth R. L.] [...].Sobald das Gedichtchen be- Storm 1913, 140; 1922). Über eigene Arbeit hinausrei-
kannt wurde [...], war bald immer von den beiden chende Sachthemen ergeben sich zweimal – 1883 die
plattdeutschen Dichtern die Rede, von Klaus Groth Förderung des Rezitators Theodor Horstmann und
und Theodor Storm« (Groth 2005, 321 f.). Die Basis 1882/1883 die Bemühungen um ein Denkmal für
der Dichterfreundschaft sind jedoch die verschiede- Friedrich Hebbel. Beide Male möchte Groth Storm in-
nen Literatursprachen. volvieren, der sich jedoch zurückhält.
Hilfreich sind die Rezensionen. Wenn Storms Hin- Somit erweist die Korrespondenz zwischen dem
weis auf den Quickborn 1852 Beginn seiner Bewun- Akademiker Storm und dem Autodidakten Groth die
derung ist (vgl. LL 4, 329 f.), die er in der Rezension des Fragilität, aber auch das Potenzial von Dichterfreund-
Quickborn II 1870 behält (vgl. 367–370), so erreicht schaften, die auf Literatur aufbauend entstehen, daher
seine Kritik der Hundert Blätter, dass man nur in einer einen gleichsam beruflichen Charakter haben und
314 III Werk – G Das Briefwerk

nicht allein durch persönliche Sympathie getragen schen Theodor Storm und Klaus Groth. In: Klaus-Groth-
werden. Wertschätzung des anderen Werks ist vor- Gesellschaft. Jahresgabe 34 (1992), 39–50.
dringlich, zumal dann, wenn Öffentlichkeit hinzutritt. Jackson, David A.: Theodor Storm. Dichter und demokrati-
scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
Storm und Groth sind befreit von den Gefahren des Laage, Karl Ernst: Theodor Storm und Klaus Groth – Dis-
Werkvergleichs, da sie in unterschiedlichen Sprachen sonanzen und Übereinstimmungen. In: Klaus-Groth-Ge-
dichten. Als Groth die Schwelle zur hochdeutschen sellschaft. Jahresgabe 28 (1986), 9–18.
Literatur überschreitet und Storm kritisch reagiert, tut Laage, Karl Ernst: Theodor Storm. Studien zu seinem Leben
das der Verbindung zunächst Abbruch. Zwei Gedichte und Werk mit einem Handschriftenkatalog. Berlin ²1988.
Langhanke, Robert: Vor 150 Jahren. Klaus Groth im Jahre
Storms in niederdeutscher Literatursprache bleiben
1864: »Wir leben kaum für uns, nur für andere.« In:
Grußadressen, flankiert von der Feststellung, hier den Klaus-Groth-Gesellschaft. Jahrbuch 56 (2014), 55–80.
eigenen Wirkungskreis zu verlassen. Auf diese Weise Langhanke, Robert: Zur Bedeutung Klaus Groths für die
können die Autoren konfliktfrei interagieren. niederdeutsche Sprachgeschichte. In: Markus Hundt/Ale-
In der Zusammenschau zeigt sich die Verbindung xander Lasch (Hg.): Deutsch im Norden. Berlin/Boston
zwischen Storm und Groth weniger eng, als in Einzel- 2015, 319–349.
Langhanke, Robert/Volkmann, Christian: Der verhinderte
briefen angedeutet, doch ist sie ein Nachweis für die Panegyrikus und sein Vorbild. Anmerkungen zu Groth
Anerkennung Groths und seiner neuniederdeutschen und Geibel. In: Klaus-Groth-Gesellschaft. Jahrbuch 58
Texte im Kulturbetrieb des 19. Jahrhunderts und ein (2016), 49–62.
Hinweis auf das weitreichende Interesse Storms an Löding, Frithjof: Theodor Storm und Klaus Groth in ihrem
niederdeutscher Sprache und Literatur. Verhältnis zur schleswig-holsteinischen Frage. Dichtung
während einer politischen Krise. Neumünster 1985.
Lohmeier, Dieter: Theodor Storm und die Politik. In: Brian
Literatur Coghlan/Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm und das
Bichel, Ulf/Bichel, Inge/Hartig, Joachim: Klaus Groth. Eine 19. Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen
Bildbiographie. Heide 1994. Storm-Symposions aus Anlaß des 100. Todestages Theodor
Groth, Klaus: Bunte Erinnerungen [1899]. In: Ders.: Me- Storms. Berlin 1989, 26–40.
moiren. Hg. v. Ulf Bichel u. Reinhard Goltz. Heide 2005, Storm, Gertrud: Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. Ju-
301–323. gendzeit. Berlin ²1912.
Hinrichs, Boy: Einführung. Theodor Storm – Klaus Groth: Storm, Gertrud: Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. Man-
eine Dichterfreundschaft? In: Theodor Storm – Klaus nesalter. Berlin ²1913.
Groth: Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Boy Hin- Storm, Gertrud: Klaus Groth. In: Dies.: Vergilbte Blätter aus
richs. Berlin 1990, 13–24. der grauen Stadt. Regensburg/Leipzig 1922, 61–70.
Hinrichs, Boy: »Geehrter Herr und Landsmann, / oder viel-
mehr Lieber Theodor Storm«. Zum Briefwechsel zwi- Robert Langhanke
IV Diskurse
90 Storms poetisches Selbstver- liche Festhalten am Bürgerlichen steht, wie Georg Lu-
ständnis und der Realismus kács zusammenfasst, dem innovativen Formgebrauch
nicht entgegen: »Aber seine [Storms; Vf.] Anschau-
ungsweise ist so verfeinert, so verinnerlicht, daß kaum
Storms Texte stehen in einem Spannungsverhältnis die Möglichkeit besteht, in der alten einfach-starken
zur Theorie und Praxis des Poetischen Realismus, das Novellenform den Ausdruck zu finden [...].« (Lukács
sowohl sein literarisches Werk, seine überschaubaren 1911, 160)
explizit poetologischen Äußerungen wie auch die li- Als Vertreter der Realismusprogrammatik bezeich-
teraturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit sei- net beispielsweise Julian Schmidt das, »was man frü-
nem Werk betrifft. Insbesondere die formale Präg- her Objectivität nannte«, als eine dem bestehenden
nanz, die sich in Lyrik und Rahmennovelle zeigt, so- realistischen Anspruch nach einer der »innern Wahr-
wie die an die Grenzen realistischer Darstellung rei- heit« entsprechende »Idealität der Kunst«. Davon
chenden Themen von Unheimlichem und Tod fordern grenzt er das »neue[] Princip« ab, bei dem es »nicht
die Programmatik der literaturgeschichtlichen Epo- mehr um die innere, sondern um die äußere Wahr-
che heraus und beschäftigen konsequenterweise auch heit, nicht um die Uebereinstimmung mit sich selbst,
die Stormforschung durchgängig. sondern die Uebereinstimmung mit der sogenannten
Die theoretisch-poetologischen Texte der Realis- Wirklichkeit« gehe (Schmidt 1856, 156). Dieser An-
musprogrammatik, wie sie prominent etwa von Gus- spruch erhält eine bereits in der Qualifizierung der
tav Freytag, Otto Ludwig, Julian Schmidt oder Fried- »sogenannten« Wirklichkeit enthaltene Relativierung,
rich Theodor Vischer insbesondere in der literarischen die die heute kanonischen Autoren des bürgerlichen
Zeitschrift Die Grenzboten (1841–1922) verfasst wur- Realismus reflektieren. Stellvertretend statuiert Fonta-
den, verstehen sich als handlungsweisende Grund- ne in seinem für die Epochenbestimmung zentralen
legung realistischen Schreibens. Als selbstbewusste li- Text Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848: »Der
terarische Strömung entwickelte sich der Realismus Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts
nach dem Scheitern der Revolution von 1848 als eine als diese; er will am allerwenigsten das bloß Hand-
vornehmlich ästhetische, gemeinhin als unpolitisch greifliche, aber er will das Wahre« (Fontane 1969,
wahrgenommene Reflexion der Grenzen einer künst- 242). Diesem Dictum entspricht Storms Einschätzung
lerischen Darstellung der wahrgenommenen Realität. der Aufgabe der zeitgenössischen Literatur, wenn er in
Gemeinsam ist seinen Autoren, zu deren prominentes- einem Brief an Erich Schmidt mit Blick auf das Werk
ten neben Storm auch Theodor Fontane, Gottfried Gustav Freytags schreibt, der Dichter solle »auch auf
Keller, Wilhelm Raabe und Adalbert Stifter zählen, im Kosten der photographischen Treue, uns seine Gestal-
Allgemeinen eine Auseinandersetzung mit der ästheti- ten in That u. Rede so vorführe[n], daß sie uns Gegen-
schen Formbildung im Handlungsraum der bürger- wärtigen nicht gespreizt u. daher mit einem Anstrich
lichen Gesellschaftsschichten und ihrer sozialen Be- des Puppenhaften oder Komischen erscheinen«
rührungsbereiche. Diese vordergründige Charakteri- (Storm–Schmidt I, 40). Vertreten also sowohl Fontane
sierung betrifft auch Storm, der in seinen Novellen den als auch Storm die Ansicht, dass das minutiöse Abbild
typischen Personenkreis des Realismus (mittelstän- der Wirklichkeit und die künstlerische Wahrheit aus-
dische Berufe sowie novellentypische Randfiguren der einanderfallen, so stellt sich der Literatur des Realis-
Gesellschaft, vor allem Künstler, z. B. Aquis submersus, mus die Aufgabe, diese Diskrepanz und ihre Komple-
Pole Poppenspäler, Ein stiller Musikant) um für den xität ästhetisch aufzuarbeiten. Konsens der Forschung
norddeutschen Raum charakteristische Berufsgrup- ist, dass dafür eine Auseinandersetzung der Literatur
pen erweitert (z. B. Seeleute in Hans und Heinz Kirch mit den Entwicklungen im wissenschaftlichen, tech-
oder den Deichgrafen in Der Schimmelreiter). Realis- nischen, medizinischen und sozialen Bereich produk-
mustypische historische Novellen (z. B. Ein Fest auf tiv war (vgl. z. B. Eisele 1979; Braese/Reulecke 2010;
Haderslevhuus, Zur Chronik von Grieshuus) ergänzen Arndt/Brodersen 2011; Gretz 2011; Strowick/Vedder
den Handlungsraum der Texte Storms. Das oberfläch- 2013). Hervorzuheben ist unter den zeitgenössischen

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_90, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
90 Storms poetisches Selbstverständnis und der Realismus 317

Kontexten die Reflexion des neuen Mediums der Fo- menwechsel ab (vgl. z. B. Geppert 1994; Begemann
tografie, das die Literatur mit seiner (vorgeblichen) 1995; Ort 1998; Simon 1999; Downing 2000; Korten
Möglichkeit der wirklichkeitsgetreuen Abbildung he- 2009). Schon Richard Brinkmann weist auf die Eigen-
rausfordert (vgl. Plumpe 1990; Arndt 2009; Hoffmann gesetzlichkeit realistischer Darstellung hin: »Erzäh-
2011). lende Dichtung ist nicht Wiedergabe einer Wirklich-
Konkret für Storms Werk wird das Spannungsver- keit ›draußen‹ mit mehr oder weniger ästhetischem
hältnis, das die grundsätzliche Herausforderung einer Firnis. Sie baut eine eigene Wirklichkeit auf mit eige-
realistischen Wirklichkeitsdarstellung in der Schere ner Struktur, eigenen Gesetzen, eigener Logik«
von Theorie und literarischem Text fortführt, von der (Brinkmann 1966, 309). Nach einem Hiatus (s. Kap.
Gattung des Märchens und insbesondere des Schauer- V.96) setzt die Forschung diese Beobachtung fort, in-
märchens vertieft. Storms Märchen eröffnen in ihrem dem sie die vordergründig problematischen Interfe-
idiosynkratischen Verhältnis zum Realismus einen renzen von Storms Werk zwar unterschiedlichen Kon-
poetologisch ergiebigen Blick auf das Verhältnis zu texten zuordnet, den Texten jedoch grundsätzlich eine
den Theorievorgaben, der auch die phantastischen komplexe Poetologie zuspricht, die an einem Verhält-
Elemente (etwa in Draußen im Heidedorf, Renate, Ee- nis zur Wirklichkeit arbeitet, das die Widersprüche
kenhof oder Der Schimmelreiter) seiner Novellen ein- des Wirklichen, die Ambivalenzen der Abbildung und
schließt. Dieser Aspekt betrifft die innerprogramma- die Prozesse der Selbstreferenz thematisiert. Damit
tische Abgrenzung von den weitreichenden Implika- weist das Werk Züge moderner Literatur auf. Ralf Si-
tionen des Realismusbegriffs. Konkret präsentiert mon schreibt zusammenfassend und programma-
Storms Spukgeschichtensammlung Am Kamin (1862) tisch: »Was im literarischen Realismus noch gleich-
einen Erzählrahmen, innerhalb dessen, nach dem sam latent ist und erst in der fortgeschrittenen Moder-
Vorbild von Hoffmanns Serapionsbrüdern (1819–21), ne des 20. Jahrhunderts an die Oberfläche durch-
unheimliche Geschichten erzählt werden. Die Figuren bricht, sorgt im inneren literarischen System der Texte
der Rahmung diskutieren dabei vor allem den Unter- für deren ästhetische Spannung« (Simon 2007, 209).
haltungswert der dargebotenen Geschichten. Zur De- Der Riss der Moderne, der Verlust der angenom-
batte steht unter anderem die Frage, wie das Grauen menen Selbstverständlichkeit der Repräsentation be-
beschaffen ist, das die Erzählungen hervorrufen. Der trifft die Texte Storms, setzt sich in ihnen fort und
Versuch, den Effekt zu benennen und ihn so zu kon- wird reflektiert. Die Thematisierung der so indizierten
trollieren, muss jedoch misslingen, da – so heißt es – Grenzüberschreitung ist sowohl inhaltlich als auch
dieser Effekt nicht in den Erzählungen selbst liege und formal exemplarisch für Storms Werk.
aus ihnen heraus erklärt werden und damit getilgt Indem Storm die 1881 entstandene Vorrede für die
werden könne (LL 4, 77). Stattdessen hätten die Ge- dritte Serie der Gesamtausgabe seiner Schriften vor
schichten eine Funktion, die das eigene Fortbestehen deren Druck zurückzieht, steht er dabei allerdings be-
sichere – sie übertragen ihr Rätsel auf den Zuhörer: reits selbst für den Vorrang des Literarischen vor des-
»Aber ein Teil dieser Geschichten tritt eben mit dem sen theoretischer Begründung ein. Explizit begründet
Reiz des Rätsels an uns heran, und drängt uns, den Storm die Streichung der »so im ersten Zorn geschrie-
Dingen nachzuspüren, die, wenn gleich selbst längst ben[en]« (LL 4, 910) Vorrede in einem Brief an Wes-
vergangen, noch solche Schatten aus dem leeren Rau- termann damit, dass er »die Sache für sich sprechen
me fallen lassen« (59). Die Rahmenkonstruktion wird [...] lassen« wolle (Storm–Schmidt II, 174).
in den Effekt der Geschichte eingebunden, der intrin-
sisch zwar in die Programmatik des Realismus fällt,
diese aber in inhaltlicher, formaler und gattungspoe- 90.1 Novelle
tologischer Hinsicht gleichermaßen auslotet und zu-
mindest herausfordert. Die grundsätzliche Komplexi- Die wenigen konkreten poetologischen Äußerungen
tät von Storms autopoetologischer Aussage deckt sich Storms weisen Gattungsgrenzen überschreitende
mit der Komplexität, die neuere Untersuchungen dem Konzepte auf. Zentral ist die Beschreibung der Novelle
Verhältnis von Programmatik und Praxis realisti- als »Schwester des Dramas« (LL 4, 409) und die Aus-
schen Schreibens zusprechen. Hinsichtlich der vielfäl- sage »meine Novellistik ist aus meiner Lyrik erwach-
tigen Ausprägungen literarischer Selbstreferenz zeich- sen« (Storm–Schmidt II, 57), die die Novellengattung
net sich in der wissenschaftlichen Auseinanderset- als inhärent gattungsübergreifend charakterisieren
zung mit dem Realismus seit einiger Zeit ein Paradig- (s. Kap. II D.28). Für die Nähe seiner Novellen zur
318 IV Diskurse

Dramatik hat Brian Coghlan (vgl. Coghlan 1989) die ten ästhetischen Formbildung. Auf diese Weise ist die
dramatische Konstellation der Ereignisse, die wie Rahmennovelle als Reflexion entlang der Erzählgren-
Bühnenanweisungen anmutenden Beschreibungen zen zentral für die Eruierung von Storms Verhältnis
und die Dialogstruktur als Merkmale inhärenter Dra- zum Realismus. Einige wesentliche Elemente der Rah-
matik identifiziert. Storms weitere Qualifizierung der mennovelle sind dabei besonders aussagekräftig für
»heutige[n] Novelle« als »die strengste Form der Pro- Storms Verhältnis zum Realismus: die Hierarchisie-
sadichtung«, als »geschlossenste Form« sowie als »die rung unterschiedlicher Zeitebenen, die Möglichkeit
Ausscheidung alles Unwesentlichen; sie duldet nicht des Einbindens anderer Medien (meist überlieferter
nur, sie stellt auch die höchsten Forderungen der Quellen als sogenannte Quellenfiktion), die Möglich-
Kunst« (LL 4, 409) betrifft vor allem die Komposition keit, das aus dem Realismus vordergründig aus-
der Novelle. Ihre formal stringente Ästhetik fügt, so geschlossene Unheimliche in die Erzählung einzube-
Coghlan, »Stück für Stück ein dynamisches, lebendi- ziehen, und die Offenheit der Form als Ansatz der
ges, bewegtes und sich bewegendes Tableau zusam- Übertragung des Effekts auf den Leser. Im Folgenden
men[], wobei dieses Bild, dieses dreidimensionale werden drei Novellen (Immensee, Aquis submersus
Tableau mit der jeweiligen Spannungssteigerung, mit und Der Schimmelreiter) mit Blick auf diese Punkte
dem unerbittlichen, nicht aufzuhaltenden Aufkom- betrachtet. Dabei werden die genannten Novellen, als
men der Katastrophe, dem Hereinbrechen des Unver- Vertreterinnen unterschiedlicher Schaffensperioden,
meidlichen Schritt hält« (Coghlan 1989, 27). Storm für jeweils unterschiedliche Aspekte der Rahmentech-
schreibt, dass die Novelle »erschüttern« und nicht nik herangezogen.
»rühren« (Storm–Schmidt II, 17) solle, und diese Er- Storms frühe Novelle Immensee (1850) erweist sich
schütterung wird durch dramatische Elemente erzielt, in ihrer zweiten Fassung als gattungshybride, offene
die ihrerseits auch die Formaffinität in Bezug auf die Form durch die an mehreren Stellen eingesetzte Lyrik
Programmatik des Realismus näher beschreiben. Da- sowie die in der Binnenerzählung locker verbundenen
mit inszenieren die Texte nicht nur eine »Ausgeliefert- Vignetten oder Stimmungsbilder. Der zentrale Kon-
heit des Menschen an das Unverfügbare« (Preisen- flikt der Novelle kreist um eine verfehlte Liebe und das
danz 1977, 214), sondern auch eine Auslieferung des Scheitern eines künstlerisch-veranlagten Bildungs-
Lesers an den Effekt der Form. Dieser Formeffekt ist bürgers zugunsten eines bürgerlichen Unternehmers.
Storms Variante der in der Realismusprogrammatik Indem die Erzählung weder Kohärenz noch Geschlos-
beschriebenen »höchst modernen Aufgaben« der No- senheit erreicht, wird das Erzählen selbst, die Überlie-
velle, die beinhaltet, dass die Novellenform auf die ferung und die (zweifelhafte) Referenz hervorgehoben
Anforderungen der Zeit reagiert und zwar mit »je- (vgl. Ort 2007, 23). Die Rahmenhandlung beginnt mit
ne[n] Mittel[n] höchst individueller Vortragsweise« einem Erzähler, der in einem Objektivierungsgestus
(Heyse/Kurz 1872, IX). Indizien wie staubige Schuhe und Spazierstock auf-
Der Effekt der Form kommt insbesondere in der zeigt, um daraus die vorausgegangene Handlung in
Rahmennovelle zum Tragen, indem diese die formale den Text zu integrieren, ohne diese selbst zu schildern.
Grenzüberschreitung exponiert: Die Textgrenze wird Die Platzierung der Gegenstandsbeschreibung am
durch die Rahmung multipliziert und in die Narration Ende der Binnenerzählung indiziert eine rahmen-
integriert. Diese narrative Geste transferiert den übergreifende Handlung, die die ordnungsstiftende
Übergang Text-Wirklichkeit in den literarischen Text Funktion des Rahmens herausfordert. Diese auch auf
und ermöglicht so eine formale (literarische) Ver- die Zeit gerichtete Ordnungsfunktion wird jedoch po-
handlung der Komplexität dieses Kernthemas der rös, indem zum Beispiel die Augen der Hauptfigur auf
Realismustheorie. Gleichzeitig ermöglicht die Rah- eine andere Zeitebene verweisen: in seinen Augen
mennovelle, dass der innertextlich verhandelte Über- schien sich »die ganze verlorene Jugend gerettet zu ha-
gang Text-Wirklichkeit auch außerhalb des Texts pro- ben« (LL 1, 295). Den Übergang zur Binnenerzählung
jiziert wird. Diese intrinsisch eigentlich widersprüch- markiert ein weiteres Medium: ein kleines im schlich-
liche Doppelprojektion ist formaler Ausdruck der von ten schwarzen Rahmen gerahmtes Portrait. Als die
Storm proklamierten Nähe zur Dramatik. Der Leser Augen des alten Mannes »unwillkürlich« einem
ist zum einen Rezipient der literarischen Formalisie- Mondstrahl folgen, der auf das Portrait scheint, und er
rung der theoretischen Auseinandersetzung, zum an- den Namen seiner Jugendliebe ausspricht, so »war die
deren ist er durch die Rahmung aber auch – wie der Zeit verwandelt; er war in seiner Jugend« (296). Das
Theaterzuschauer – Teil der auf Rezeption gegründe- Bild lässt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein-
90 Storms poetisches Selbstverständnis und der Realismus 319

ragen, die Abwesenden werden präsent, wenn auch Erzählerin seiner Kindheit, die »[p]lattdeutsch, in ge-
nur im Modus der Abbildung (vgl. Neumeyer 2007, dämpftem Ton, mit einer andachtsvollen Feierlich-
106). Der Zeitsprung zwischen verschiedenen Le- keit« erzählte, »mochte es nun die Sage von dem ge-
bensphasen wird von der Forschung größtenteils zum spenstischen Schimmelreiter sein [...], oder mochte es
Anlass genommen, den Text als »Erinnerungsnovelle« ein eignes Erlebnis oder eine aus dem Wochenblatt
zu klassifizieren (vgl. z. B. Laage 1958; Bernd 1958; oder sonst wie aufgelesene Geschichte sein, Alles er-
Sammern-Frankenegg 1976; Pastor 1988; Schilling hielt in ihrem Munde sein eigentümliches Gepräge
1995; Morrien 2002; Lee 2005; Neumeyer 2007). und stieg, wie aus geheimnisvoller Tiefe, leibhaftig
Storm selbst bestimmte den »wirklichen Dichter« als vor den Hörern auf« (LL 4, 179). Storms dokumen-
den, »der uns Menschen einer weit dahinliegenden tierte Schwierigkeit, folkloristische Vorlagen in No-
Zeit schildert« (Storm–Schmidt I, 40). Im Vergleich vellenform zu fassen (vgl. Storm 1966, 49), findet Ein-
zu medial-unterstützten Überlieferungsvorgängen in gang in Immensee: »Sie [die gesammelten Volkslie-
den späteren Novellen erzeugt im Frühwerk die Er- der] werden gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen
innerungsperspektive einer einzelnen Figur eine text- aus der Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn,
interne Realität und eine »realistisch-wirkende Über- hierhin und dorthin, und werden an tausend Stellen
lagerung der getrennten Zeiten« (Neumeyer 2007, zugleich gesungen« (LL 1, 320). Storms Abwendung
104), die den Leser »in seiner vorgeführten Welt hei- vom Sammeln von Volkssagen, wie er sie zunächst im
misch [...] machen« (Storm–Schmidt I, 40). In ihrem Neuen Gespensterbuch (Storm 1991) verfolgte, und
Überblick über die Forschung zur Erinnerungsper- seine konsequente Verwendung von Volksliedern
spektive bei Storm betont Regina Fasold den Versuch und Sprichwörtern zeugt davon, dass sich die Texte
Storms, durch die Erinnerung und deren mediale Er- an der Vorgabe der Unmittelbarkeit abarbeiten und
fassung Vergänglichkeit und Todesangst entgegen- zur Erzeugung dieser Unmittelbarkeit auf folkloristi-
zuarbeiten (vgl. Fasold 1997, 93 f.). So wird das Er- sche Textformen zurückgreifen. Wenn Ethel Matala
innern zum Anlass des Erzählens und mit zeitlichem de Mazza über das Gespensterbuch schreibt: »Die au-
Aufschub wiederholbar und damit übertragbar (vgl. tochtonen Erzähler sind dabei wichtiger denn je, weil
Plumpe 1999). Elisabeth Strowick hingegen wertet es – wie die Novellen zeigen – ohne die Rede, die über
den Zeitsprung nicht als Erinnerungsmoment, son- Geister geführt wird, keinen Spuk gäbe« (Matala de
dern als Wiedergabe der Wahrnehmung einer ande- Mazza 2013, 117), dann lässt sich darüber hinaus
ren Zeit. Wirklichkeit wird damit nicht in ein Refe- auch festhalten, dass die Funktion des Mündlichen
renzverhältnis gesetzt, sondern als »Simulakrum« für die Novellen im Aufschreiben und in der ästheti-
(Strowick 2013, 57) erzeugt. Die Wiederholung und schen Exploration des Schreibens aufgeht.
Medialisierung der (Wirklichkeits-)Erfahrung durch In der Novelle Aquis submersus (1876) agiert die
Schrift und Bild konstruieren in beiden Fällen eine Malerei als Spiegelbild zur Literatur, indem sie deren
Welt, indem der Leser sich vielleicht »heimisch« füh- Verhältnis zur Realität reflektiert; die narrative Ästhe-
len kann, die aber das Unheimliche in Form der he- tik wird zunächst über ein anderes Medium verhan-
reinragenden Vergangenheit nicht ausschließt. delt (vgl. Bronfen 1990, 308 f.). Dabei inszeniert der
Die Medienverschiebung von der Mündlichkeit Text die Funktionsweise realistischen Schreibens als
zur Schriftlichkeit in Immensee wird durch die schrift- ästhetische Formel des Textes selbst. Am Anfang der
stellerische Tätigkeit des Protagonisten thematisiert. Novelle wird der Leser mit der Beschreibung eines
Dabei ist die Idealisierung des Künstlerlebens Remi- Gemäldes konfrontiert, auf dem ein totes Kind abge-
niszenz der Romantik, die Desillusionierung bezüg- bildet ist. Die Geschichte, die den Kontext dieses Ge-
lich der praktischen Umsetzbarkeit eines idealisierten mäldes bildet, findet der Erzähler in Form von über-
Künstlerlebens gleichzeitig Abgrenzung von der Ro- lieferten autobiographischen Dokumenten in einer
mantik. In der Produktion der Texte geht es darum, in Truhe. Indem die so entdeckte Geschichte in der Bin-
der Übertragung des Stoffs die Unmittelbarkeit der nenerzählung wiedergegeben wird, verkörpert der
Mündlichkeit adäquat zu integrieren. Sowohl die Text eine typische Rahmennovelle. Die Quellenfiktion
Wirkung des mündlichen Erzählens als auch die Wei- der aufgefundenen Dokumente ruft einen Gestus der
tergabe und damit die potentielle Unsterblichkeit des Authentifizierung auf, der dem programmatischen,
Künstlers in der Kunst fordern den schriftlichen Text realistischen Anspruch der Schilderung des »Wirk-
heraus. Paradigmatisch für diese Perspektive auf die lichen« genügt und so einen Objektivierungsgestus
Mündlichkeit ist Storms Vignette über Lena Wies, die indiziert. Das ebenfalls dezidiert in seiner Rahmung
320 IV Diskurse

geschilderte Gemälde vertritt das Streben nach einer zung mit der vordergründigen Diskrepanz von Un-
(narrativen) Ordnung, in der die Zeitebenen erzähl- heimlichem und abbildender Darstellung auch in
technisch getrennt werden. Eine Vielzahl metaphori- Storms letzter und bekanntester Novelle Der Schim-
scher und tatsächlicher Durchlässe im Text unterwan- melreiter (1888) eklatant. Zunächst ist auch im Schim-
dert jedoch die ordnungsstiftenden realistischen Er- melreiter (wie in Aquis submersus) der von Korten als
zählparadigmen. Das ausführlich ausgearbeitete Mo- Ästhetisierungsstrategie bezeichnete Einsatz des Rah-
tiv der durchschrittenen Türrahmen markiert in mens als Mechanismus einer medial verschobenen
seinem ersten Auftreten (LL 2, 384) den Beginn der Quellenfiktion erkennbar, wie sie in realistischen No-
Geschichte durch das Auffinden der autobiographi- vellen häufig vorkommt (vgl. Korten 2009, 187).
schen Dokumente. Im Verlauf des Textes erscheint das Storms letztes Werk kann darüber hinaus als Kulmi-
Motiv als Vergegenständlichung der Sehnsucht des nationspunkt seiner Auseinandersetzung mit realisti-
Erzählers, die Rahmen der Gemälde sinnbildlich zu schen Erzählprinzipien verstanden werden (vgl. Blö-
überschreiten, indem er diejenigen Geschichten sucht dorn 2005), da nicht nur die Hybris des Technikadep-
und erzählt, die ihren Kontext ausmachen (vgl. Dysart ten Hauke Haien, sondern auch die ästhetische Pro-
1992, 57 f.). Gerade die Überschreitung des ordnungs- blematik der Gespenstergeschichte als kanonisches
stiftenden, programmgemäßen Rahmens ist damit auf Beispiel realistischen Erzählens die Forschung be-
unterschiedlichen Ebenen der Anlass des Erzählens schäftigt (vgl. Freund 1989; Webber 1989; Reichelt
und die Geschichte bleibt nicht innerhalb der kon- 2001; Meyer 2002). In der Novelle findet sich zunächst
sequenten narrativen Ordnung, sondern entsteht in die Eröffnung durch den fiktionalen Ich-Erzähler:
der Unterwanderung oberflächlich prominenter Er- »Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reich-
zählprinzipien. lich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Ur-
Die Unsterblichkeit der Kunst – ein zentrales The- großmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund
ma bei Storm – wird erreicht in der Verlebendigung geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend,
der Toten in ihren Geschichten, und diese Geschich- mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebunde-
ten werden erzählt aus dem Gestus der Rahmenüber- nen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich
schreitung heraus. Indem die Figuren in ihrer Narrati- nicht mehr zu entsinnen, ob von den ›Leipziger‹ oder
vierung unsterblich werden, überschreitet die Kunst von ›Pappes Hamburger Lesefrüchten‹« (LL 3, 634).
die Grenze des Todes (vgl. Pfeifer 1995, 15). Die Wer- Auf diese Eröffnung, die in typischer Weise eine me-
tung in Aquis submersus fällt eindeutig aus: Die Ge- diale Variation als Binnengeschichtsquelle vorstellt,
mälde sind fast vergessen, sie hängen in nie besuchten folgt der Bericht eines weiteren Erzählers, eines Rei-
Kirchen und »im Schatten eines Schrankes« (LL 2, senden, der abermals als Ich-Erzähler auftritt. Dieser
385) und ebenso erfahren die Rahmenüberschreitun- reisende Erzähler wiederum trifft einen alten Schul-
gen ins Schauerliche gegenüber dem ewigen Leben in meister, der schließlich die Sage vom Schimmelreiter
der Kunst eine deutliche Abwertung. Es ist vielmehr erzählt. Die erzählende Urgroßmutter als Zeitschrif-
das Manuskript, die Erzählung, die zum Wiedererzäh- tenleserin kommentiert den publizistischen und tech-
len anregt, zur Verewigung in und als Literatur. »Diese nischen Fortschritt der Zeit (vgl. Hackert 1995, 99 f.).
produktive Überschreitung, die letztlich die Narration (Druck-)Technischer Fortschritt und Repräsentation
in Gang setzt und so die Unsterblichkeit des Toten in des Unheimlichen sind für den ästhetischen An-
der Kunst initiiert, stellt sich hier sowohl als formale spruch des Realismus insofern interessant, als die Pro-
als auch als inhaltliche heraus« (Arndt 2009, 213). duktionsbedingungen der Zeit wachsenden Einfluss
Aquis submersus ist ein prägnantes Beispiel für die in- auf die Inhalte der literarischen Texte nehmen (vgl.
tensive Auseinandersetzung mit dem Tod und dessen Jackson 1992, 125 f.). Storms Text geht jedoch über ei-
ästhetischer Überwindung in Storms Novellen, und ne für die Zeit typische Statuierung der Desillusionie-
diese Auseinandersetzung mit dem Tod als Nicht- rung hinaus, insofern der Rahmen das Verhältnis von
Darstellbarem ist exemplarisch für die widersprüchli- Medien und Unheimlichem produktiv verhandelt.
che Komplexität der auf Mimesis beruhenden Narra- Der Spuk ist nicht, wie es die realistische Programma-
tionsstrategie des Realismus. tik vorschreibt, auf die Ebene der Binnenerzählung
Während das Unheimliche auch in Aquis submer- beschränkt: Vielmehr glaubt der Ich-Erzähler der
sus auftritt – beispielsweise wenn die auf den Gemäl- mittleren Erzählebene, den unheimlichen Reiter be-
den dargestellten Vorfahren in den Figuren der Er- reits zu sehen, ohne Kenntnis von der Sage zu haben.
zählgegenwart wiederkehren – ist die Auseinanderset- Die innerfiktionale Realität des Unheimlichen wird in
90 Storms poetisches Selbstverständnis und der Realismus 321

der Schwebe gehalten, ein Charakteristikum, mit dem Diskrepanzen (die Schachtelung der Quellenfiktion,
Der Schimmelreiter beispielsweise direkt Wilhelm Böl- der Situierung der Novelle zwischen Mündlichkeit
sches Verbot des Erscheinens von Geistern jeglicher und Schriftlichkeit und die fehlende Schließung des
Art in realistischen Texten entgegensteht, wie dieser es Erzählrahmens) verstärken die narrative Unsicherheit
in den Prolegomena einer realistischen Ästhetik, die ein und tragen zum Zweifel an der Möglichkeit einer
Jahr vor der Veröffentlichung des Schimmelreiters er- ›richtigen Version‹ der Geschichte bei. Im Vergleich
schien, statuierte: »Die Basis unseres gesammten mo- zur unsicheren medialen Überlieferung ist das Ge-
dernen Denkens bilden die Naturwissenschaften [...]. dächtnis des intradiegetischen Lesers verlässlich:
Es kann ihr [der Poesie], was Jedermann einsieht, von »Nur so viel kann ich versichern«, bemerkt der Erzäh-
dem Puncte ab, wo das Dasein von Gespenstern wis- ler des äußeren Rahmens, »daß ich sie seit jener Zeit,
senschaftlich widerlegt ist, nicht mehr gestattet wer- obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufs
den, dass sie zum Zwecke irgend welcher Aufklärung Neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis
einen Geist aus dem Jenseits erscheinen lässt, weil sie verloren habe« (LL 3, 634). Die Übertragung wird im
sich sonst durchaus lächerlich und verächtlich ma- Schauer zudem konkret körperlich: »Noch fühl ich es
chen würde« (Bölsche 1976, 4 f.). Die Rahmung in Der gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der
Schimmelreiter hätte die Möglichkeit geboten, das Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupt-
poetologische Problem relativ umstandslos zu umge- haar ihres Urenkels hinglitt« (ebd.). Diese Geste der
hen. Stattdessen bleibt die Unsicherheit des Gespens- Berührung wird verstärkt durch die fehlende Schlie-
tischen unaufgelöst stehen und wird somit dem Leser ßung des Rahmens. Diese Übertragung der narrativen
überantwortet. Storm insistiert geradezu auf dem Un- Formgebung auf den Leser in der Rezeption steht der
heimlichen als Teil der Wirklichkeitskonstruktion des gängigen Realismusproblematik entgegen, die eine
Textes und nimmt damit einen Anspruch wieder auf, in sich geschlossene Erzählwelt proklamiert (vgl.
den er in einem Brief an Gottfried Keller beschreibt, in Theisen 2000, 158). Storms Diktum der Novelle als
dem er das Unheimliche als das »Natürliche, was nicht »strengste Form der Prosadichtung« (LL 4, 409) in sei-
unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt, [und ner »zurückgezogenen Vorrede« bekräftigt die in den
das] bei weitem noch nicht erkannt ist« bezeichnet Texten selbst offenliegende minutiöse Durcharbei-
(Storm 1967, 101). Die Aussage ist eine Reaktion auf tung der Form auch theoretisch.
Kellers Warnung, daß er eine seiner »geheimnis- und Die vermeintliche narrative Unsicherheit der
reizvollen Hausgeschichten« schreiben möge, aber Schimmelreiternovelle erfährt damit eine Umwer-
keine »ernstliche, wenn auch pur mythologisch ge- tung: Die der Lesererwartung wie der narrativen Kon-
meinte Geistergeschichte« verfassen solle. Keller fügt vention entgegenstehende fehlende Schließung der
mit Nachdruck hinzu: »Dergleichen soll man in dieser mehrfachen Rahmung, die Katja Malsch als virtuelle
Zeit des Spiritistenunfuges und der Schwachköpfig- Unabschließbarkeit des Textes bezeichnet hat (vgl.
keit unterlassen« (ebd., 98). Die Konzeption von Der Malsch 2007, 117), spricht für eine Entgrenzung des
Schimmelreiter widerspricht diesem Urteil, ohne dabei Textes in Richtung auf den realen Leser. Unsichere Er-
einem naiven Spiritismus anheim zu fallen. Stattdes- zählung, narrative Grenzüberschreitung und formale
sen zeigt der Text »Storms dämonische[n] Realismus Inszenierungen medialer Prozesse lassen sich unter
in seiner vollkommensten Form«, wie Ernst Oster- der Rubrik »Darstellungsstörung« zusammenfassen
kamp schreibt. »Alles ist mit äußerster Trennschärfe (vgl. Korten 2009, 22) und weisen Storms Form der
der Wahrnehmung wirklichkeitskonform aufgenom- Rahmennovelle als Geste poetologischer Selbstrefe-
men, und alles ist doch zugleich in der Ungewissheit renz innerhalb des Realismus aus. Eine der Hauptfigu-
der »Nachtdämmerung« dämonisch aufgeladen« (Os- ren in Am Kamin erklärt: »Wenn wir uns recht besin-
terkamp 2013, 54). nen, so lebt doch die Menschenkreatur, jede für sich,
Zusätzlich ist die Quelle dezidiert an den Zeit- in fürchterlicher Einsamkeit; ein verlorener Punkt in
schriftenkontext und damit an die mediale Realität dem unermessenen und unverstandenen Raum. Wir
der Zeit gebunden. Die ungenaue Erinnerung – der vergessen es; aber mitunter dem Unbegreiflichen und
Erzähler kann nicht mehr genau sagen, ob er die Ge- Ungeheuren gegenüber befällt uns plötzlich das Ge-
schichte gelesen oder gehört hat und falls er sie gelesen fühl davon; und das, dächte ich, wäre etwas von dem,
hat, in welcher von zwei in Frage kommenden Publi- was wir Grauen zu nennen pflegen« (LL 4, 77). Elisa-
kationsorganen sie zu finden ist – kontrastiert mit beth Strowick und Ulrike Vedder sehen das Grauen
dem darauf folgenden detailgetreuen Erzählen. Diese als Teil der Wahrnehmung und des Wirklichkeits-
322 IV Diskurse

modus der Moderne: »Insofern Storms unheimlicher schrieben und der Versuch, diese Grenze in der lyri-
Realismus Gespenstisches auf der Ebene von Wahr- schen Form festzuhalten, ist einigen Gedichten Storms
nehmung situiert, zeigt er, dass das Gespenstische gemeinsam. Diese Auseinandersetzung findet – und
nicht das Andere des Realismus, sondern konstitutiv hier schließt die Lyrik abermals an die Novellistik an
für Wirklichkeit ist, sich als »Wirklichkeitseffekt« – in der Form statt: Indem ihre formelhafte Sprache
(Roland Barthes) geltend macht« (Strowick/Vedder hinter der Form zurücktritt, zeigen widersprüchliche
2013, 11). Dies kann als der Programmatik des Realis- sprachliche Mittel wie der den jähen Abbruch des
mus inhärent oder als diesen überwindend interpre- Sprechens formalisierende Gedankenstrich und das
tiert werden; in der Erzählung scheint es fast so, als diesem oberflächlich in seiner narrativ-verbindenden
nehme Storm durch seine Figur Abschied von der ei- Funktion entgegenstehende Enjambement (vgl. Fohr-
genen Epoche: »es ist spät, meine Herrschaften; Bür- mann 1996, 457) die Sehnsucht nach einer Möglich-
ger Bettzeit, wie ich fast in dieser auserwählten Gesell- keit sprachlicher Erfassung sowie die Versprach-
schaft gesagt hätte« (LL 4, 78). lichung des Versagens der Sprache. Diese Gespalten-
heit hinsichtlich der Leistung sprachlicher Repräsen-
tation verweist direkt auf eine Gespaltenheit zwischen
90.2 Lyrik einem Abschied von der Sehnsucht nach romanti-
schem Leben in der Kunst und dem Bewusstwerden
Storms zweite zentrale gattungspoetologisch-auto- der Unausweichlichkeit des Nihilismus der Moderne.
poietische Aussage betrifft die Lyrik, indem er konsta- Stefan Scherer fasst die Pointe dieses Moments zusam-
tiert, dass seine »Novellistik« aus seiner »Lyrik er- men, wenn er konstatiert, dass sich in Storms Lyrik
wachsen« (Storm–Schmidt II, 57) sei. Zunächst ist da- »ein Strukturwandel gegen die eigene Poetologie
bei die materielle Dinglichkeit Ausgangspunkt des durch[setzt]« (Scherer 2005, 210) und Storms Selbst-
Novellistischen, wie schon am Titel der ersten ver- einschätzung, nämlich dass der Gestus der Lyrik sich
öffentlichten Novelle Storms, Marthe und ihre Uhr in die Novellistik einschreibt, kann auf dieses Moment
(1847) deutlich wird. In den Novellen »spürt« Storm der Unterminierung realistischer Prinzipien sowohl
»den Dingen nach [...] die, wenn gleich selbst längst durch die ästhetische Formulierung der Dynamik der
vergangen, noch solche Schatten aus dem leeren Rau- Todesdarstellung als auch durch die Ästhetik der Ge-
me fallen lassen« (LL 4, 59). Diese Orientierung am spaltenheit der Form hin gelesen werden. Dabei trifft
Dinglichen bedingt für die Lyrik auch den oft kritisch ebendiese Gespaltenheit Storms Werk insgesamt, und
geäußerten Vorrang des Dekorativen. Lukács be- auch der Tod als Herausforderung der Darstellung
schreibt Storms Lyrik als »letzte dekorative Zusam- und damit inhärent der Realismusprogrammatik ist –
menfassung einer großen Entwicklung« (Lukács 1911, neben der beschriebenen Ästhetik der Rahmennovel-
168), die in ihrer Einfachheit auf das Kommende vo- le – weiterhin in Storms Novellen prominent.
rausdeutet. Die hier indirekt auch kritisch angemerkte Während insbesondere diejenigen Texte, die sich
Oberflächlichkeit des Dekorativen und darüber hi- metaphysisch-reflektierend einer Auseinanderset-
naus die vielfach festgestellte konventionelle Meta- zung mit dem Thema Tod stellen, dazu anhalten, wie
phorik und eingeschränkte Thematik findet sich si- Thorsten Voß zusammenfasst, »sowohl Lukács Kon-
cherlich in einer Vielzahl von Storms Gedichten. Da- textualisierung als auch Manns reine Ekphrase von
rüber hinaus ist die Lyrik aber auch in anderer Hin- Eindrücken der Stormschen Gedichte als verharm-
sicht ein Referenzpunkt für die Novellistik und die losende Beurteilungen« zu korrigieren (Voß 2010,
Realismusproblematik: Die Auseinandersetzung mit 84), zeigen jedoch auch einige derjenigen Gedichte
den Themen Tod und Vergänglichkeit, aus denen sich Storms, die vor allem in einer idealen ästhetischen
die zum Teil verzweifelte, oft existentielle Suche nach Symbolik – darunter auch die sehr bekannten Texte
einem Festhalten des Gegebenen in der Kunst ergibt, Abseits, Die Stadt und Meeresstrand – zumindest zum
findet sich auch in Gedichten wie Geh nicht hinein (LL Teil eine über Lukács und auch Thomas Manns
1, 93 f.). Der Text thematisiert den Tod fernab der Auseinandersetzung hinausgehende, darstellungs-
Möglichkeit des Trostes und befasst sich in der Aus- bewusste Reflexion des Wirklichkeitsproblems. Diese
einandersetzung mit dem Tod auch mit den Grenzen auf inhaltlicher Ebene an der Grenze vordergründig
realistischer Darstellung. Marianne Wünsch hat den unproblematischer Wirklichkeitsdarstellung situier-
Tod als die »unbekannte Grenze der Realität, für die es ten Gedichte bieten Ansatzpunkte für eine Eruierung
keine adäquate Sprache gibt« (Wünsch 2000, 261) be- des Verhältnisses zum Realismusprogramm, die über
90 Storms poetisches Selbstverständnis und der Realismus 323

Storms der zeitgenössischen Positionierung zwi- Zeuxis – Formen künstlerischer Wirklichkeitsaneignung.


schen Natur und Ästhetik geschuldeten Aussage (vgl. Hildesheim/New York 1990, 306–334.
Detering 2004, 26), die Lyrik solle »Naturlaut in Coghlan, Brian: Theodor Storms Novelle: eine Schwester des
Dramas? In: STSG 38 (1989), 26–38.
künstlerischer Form« sein (LL 4, 381) hinausgeht. Decker, Jan-Oliver: Erinnern und Erzählen. Konservieren,
Auch hier trifft die eingangs erläuterte Hierarchie Transformieren und Simulieren von Realität in männ-
von programmatischer Theorie und literarischer Pra- lichen Erinnerungen im Realismus. In: Jahrbuch der Raa-
xis zu. Wenn bereits in Abseits das abschließende Zei- be Gesellschaft 46 (2005), 104–130.
lenpaar »– Kein Klang der aufgeregten Zeit/drang Detering, Heinrich: »Der letzte Lyriker.« Erlebnis und Ge-
dicht – zum Wandel einer poetologischen Kategorie bei
noch in diese Einsamkeit« (LL 1, 12), das durch Tem-
Storm. In: STSG 53 (2004), 25–41.
puswechsel und Gedankenstrich vor dem ersten Downing, Eric: Double Exposures. Repetition and Realism in
Versfuß bereits exponiert ist, zusätzlich mit der nicht Nineteenth-Century German Fiction. Stanford, Calif. 2000.
ganz eindeutig realisierten Senkung der Silbe »kein« Dysart, David: The Role of the Painting in the Works of Theo-
gelesen werden kann, dann dringt durch diese metri- dor Storm. New York/Bern 1992.
sche Zwischenstellung die Zeitmessung (»ein Schlag Eisele, Ulf: Der Dichter und sein Detektiv. Raabes »Stopfku-
chen« und die Frage des Realismus. Tübingen 1979.
der Dorfuhr, der entfernten«; ebd.) aus der Entfer- Fohrmann, Jürgen: Lyrik. In: Edward McInnes/Gerhard
nung in die geschilderte Idylle des Gedichts ein. Das Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit
Gedicht setzt damit metrisch die inhaltlich spürbare 1848–1890. München 1996, 394–461.
Verunsicherung um, es »konstruiert« einerseits auf Fontane, Theodor: Unsere lyrische und epische Poesie seit
ästhetische Weise »Welt als Sinn« (Fohrmann 1996, 1848. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. 3, Bd. 1. Aufsätze,
Kritiken, Erinnerungen. Hg. v. Jürgen Kolbe u. Walter Kei-
420), lässt in dieser Welt aber auch eine Verunsiche-
tel. München 1969, 236–260.
rung wörtlich anklingen (vgl. Müller 1975, 84). Dabei Freund, Winfried: Der Bürger und das Grauen. In: Brian
ist es auch hier – wie in Storms erster Novelle – das Coghlan/Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Stom und das
Symbol der Uhr, das die Vergänglichkeit markiert 19. Jahrhundert. Berlin 1989, 108–114.
und gleichzeitig die Dinglichkeit stellt, der der Text Geppert, Hans Vilmar: Der realistische Weg. Formen prag-
nachspürt. matischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller,
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324 IV Diskurse

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91 Figurenkonstellationen I: Familie und Vererbung 325

91 Figurenkonstellationen I: mals eine »Erwiderung« hat zuteilwerden lassen


Familie und Vererbung (408 f.). In gewissem Sinne verdoppelt sich dabei die
Konkurrenten-Situation: Neben den durch Stand ent-
hobenen adligen Nebenbuhler tritt im Weiteren ein fi-
Vorsichtige Entwicklung einer Niedergangs-
nanziell potenterer Konkurrent, nämlich der »Sohn ei-
struktur (»Immensee«, »Auf dem Staatshof«,
nes reichen Brauers« (416), der schließlich »die kleine
»Auf der Universität«)
Juliane« heimführt, die eigentlich »in allen Ecken«
In den Novellen der »Immensee-Periode« (Schmidt nach Marx gesucht hat (419) – ein Interesse, das dieser
an Storm, 26.11.1882, LL 3, 811) wird das Thema Fa- jedoch nicht erwidern konnte, weil er auch zu diesem
milie aus einer doppelten Perspektive angegangen: Be- späten Zeitpunkt seine »Augen nicht« von Anne Lene
schrieben wird die meist großbürgerliche Familie (vgl. »abwenden« konnte (399).
Strehl 1996, 17–56), aus der der männliche Protago- In Auf der Universität (1863) wird das geschilderte
nist stammt, und imaginiert wird die Familie, die die- Szenario nochmals variiert (zum Zusammenhang der
ser als junger Erwachsener zu gründen anstrebt (vgl. beiden Novellen Fasold 1997, 107 f.). Auch hier er-
zu diesem Zusammenhang Detering 2011, 23). Diese zählt der Icherzähler Philipp die Geschichte seines ge-
Familiengründung scheitert jedoch in den meisten scheiterten erotischen Interesses an einem Mädchen
Fällen, sei es, weil die Liebe von der jeweils angebete- bzw. einer Frau namens Lore (die nicht von Ungefähr
ten Frau nicht erwidert wird, sei es, weil widrige Um- an die Lore Lay erinnert; hierzu Stein 1996) von den
stände, z. B. die Heiratspolitik der Eltern, aber auch Kindertagen bis zum Studium, auch hier finden sich
die räumliche Entfernung dies verhindern. zwei Konkurrenten, ein Bürgerlicher namens Chris-
In der Binnengeschichte von Immensee (1849) wird toph und ein Adliger, der als »Raugraf« bezeichnet
dies paradigmatisch vorgeführt: Die schon zur Kin- wird (LL 1, 567). Der entscheidende Unterschied liegt
derzeit thematisierten Heiratspläne zwischen Rein- jedoch darin, dass der bürgerliche Konkurrent keiner
hardt und Elisabeth werden nicht realisiert; dies ent- Akademikerfamilie entstammt und selbst auch kein
scheidet sich während der studienbedingten Abwe- Akademiker werden wird, was ihn insofern für Lore
senheit des Ersteren. In dieser Zeit hat sein Neben- prädestiniert, als diese »nur eine arme Nähterin und
buhler Erich »den zweiten Hof seines Vaters am eines Schneiders Tochter« (573) ist. Aus eben diesem
Immensee angetreten« (LL 1, 310), was ihn in den Au- Grund hatte Lore das Werben des aus einer großbür-
gen von Elisabeths Mutter zu einem idealen, weil fi- gerlichen Familie kommenden Philipp auch abge-
nanziell potenten, Schwiegersohn macht; ein Ansin- lehnt: »Du heiratest doch einmal nur eine von den fei-
nen, dem Elisabeth sich schließlich nicht widersetzt, nen Damen« (560). Dieser Ausschluss aus der Gruppe
auch weil ihr Geliebter aus Jugendzeiten »nicht Wort« möglicher Heiratskandidaten erlaubt es dem Icher-
hält und ihr keine Märchen, ja wohl nicht einmal Brie- zähler, das Verhältnis von Christoph und Lore weit-
fe aus der Universitätsstadt schickt. Sie spürt, dass die gehend eifersuchtsfrei, ja beinah mitfühlend zu be-
Ausrede von Reinhardts Mutter, er habe viel zu tun, schreiben; ein Verhältnis, das an der unheilvollen, kei-
nicht greift: »es ist wohl anders« (308). Und in der Tat neswegs auf Ehe ausgerichteten Beziehung Lores zum
hat sich der Geliebte in die »schönen, sündhaften Au- Raugrafen scheitert.
gen« eines »Zithermädchen[s] mit feinen zigeuner- Der entscheidende Unterschied von Auf dem Staats-
haften Zügen« verguckt (304 f.). hof und Auf der Universität gegenüber Immensee be-
In Auf dem Staatshof (1859) wird die Schuld des Pro- steht nun darin, dass die begehrte weibliche Protago-
tagonisten Marx am Nichtzustandekommen einer Fa- nistin nicht nur unerreichbar ist, sondern auch vorzei-
milie zurückgenommen. Auch in diesem Falle trifft die tig stirbt. Dies steht im Zusammenhang mit ihrer fami-
angebetete Frau, Anne Lene, die Marx seit Kinderzei- liären Vorgeschichte, die sich in beiden Fällen als eine
ten kennt (es handelt sich um symbolische »Geschwis- Niedergangs-Geschichte lesen lässt und somit not-
ter«, da Anne Lene das »Mündel« seines Vaters ist; LL 1, wendig auf das unheilvolle Ende hinführt. Während
401), eine Entscheidung zu Gunsten eines »Edel- wir in Immensee lediglich erfahren, dass die Mutter ih-
mann[s]«, während sich der Jugendfreund in der »Uni- re Tochter in die, aus Sicht des männlichen Protagonis-
versitätsstadt« aufhält. Diese Entscheidung kommt in- ten, falsche Ehe hineingetrieben hat, entfalten die spä-
sofern nicht ganz unerwartet, als Anne Lene, wie der teren Novellen ausführlich die Entwicklung der Fami-
als Ich-Erzähler fungierende Marx schreibt, der »seit lie der weiblichen Protagonistin und vor allem: ihren
meiner Knabenzeit in mir keimende[n] Neigung« nie- Niedergang. In Auf der Universität spricht der Vater

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_91, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
326 IV Diskurse

von Lore den Fall seiner Familie explizit aus, wenn er der Pastor Hans Kirch auf, »sich doch einmal wieder
erwähnt, dass »sein Großvater unter Louis seize Ofen- um den Sohn [zu] bekümmern«. Auf die Bemerkung
heizer in den Tuilerien gewesen war«, und fährt fort: seines Gegenübers, dass dies »nach dem vierten Ge-
»so kann eine Familie herunterkommen!« (537; Her- bot« (Ehrung der Eltern) »umgekehrt« zu denken wä-
vorhebung M. B.). Der Vater hat an diesem Nieder- re, antwortet wiederum der Pastor: »aber nicht nach
gang, insbesondere in finanzieller Hinsicht, Anteil – er dem Gebote, in welchem nach des Herrn Wort die an-
wird als »Tausendkünstler«, der »leider Gottes« alles dern all’ enthalten sind« (LL 3, 78). Das Gebot, auf das
ein bisschen und nichts richtig kann (531), als »armer der Pastor anspielt, ist nicht, wie vermutet wurde (vgl.
törichter Mann« bezeichnet –, aber er hat sich, aus Laage in LL 3, 819), die Nächstenliebe, sondern, wie ja
Sicht Lores, keiner moralischen oder rechtlichen Ver- auch der Kontext nahelegt, das erste der Zehn Gebote.
fehlung schuldig gemacht. Im Gegenteil: Er hat seine Denn von diesem sagt Luther, dass es das »heubt ge-
Tochter wie »Keiner [...] geliebt« (591). bot« beschreibt und seine Worte – das meint der Pfar-
Anders in Auf dem Staatshof: Anne Lene erfährt, rer mit »die andern all’ enthalten sind«– »auff alle ge-
dass ihrem Großvater, der wie der Vater des männ- pot gehen« (Luther 1883 ff., Bd. I/30.1, 137).
lichen Erzählers, ein Curator war, »in seiner Amtsfüh- Gemeint ist also 2 Mo 20,3: »Du solt kein andere
rung die obervormundschaftlichen Angelegenheiten« Götter neben mir haben«. Worauf der Pfarrer jedoch
einer Frau übertragen worden waren, die behauptet, insbesondere anspielt, ist die Strafe, die Gott im Falle
dass eben dieser Großvater sie in diesem Zusammen- der Nichtbeachtung des ersten Gebotes (und mit ihm
hang »um ihr mütterliches Erbteil betrogen« habe. aller weiteren) ausspricht: »Denn ich, der Herr dein
Diese Frau, die mittlerweile zu einer »Bettlerin« abge- Gott, bin ein eiueriger Gott, Der da heimsucht der Ve-
sunken ist, verheißt Anne Lene im Rahmen einiger ter missethat an den Kindern, bis in das dritte vnd
»leidenschaftlichen Verwünschungen« das gleiche vierde Glied, die mich hassen« (2 Mos 20,5; nach Lu-
Schicksal. »[E]s sind Bettelmannsschuhe, Du kannst ther 1545). Der Pastor möchte also bei näherem Hin-
sie bald gebrauchen« (406 f.): eine Verheißung, die sehen Hans Kirch auf seine eigenen Sünden hinwei-
sich in gewissem Sinne bewahrheiten, ja durch den sen, die Gott in den nachfolgenden Generationen –
Tod der Protagonistin sogar übertroffen werden wird. und d. h. in diesem Falle an Heinz Kirch – strafen
Das Besondere der ›Staatshof‹-Variante besteht al- wird; und zwar, das macht das Weitsichtige und Kom-
so darin, dass es eine Person in der Familie gegeben plexe an der ›Vorhersage‹ aus, durch Hans’ eigene
hat, die – wenn die Bettlerin Recht hat (was freilich Hand. – »Wie Du ihn Dir selbst gemacht hast« (LL 3,
keinesfalls sicher ist) –, sich einer Verfehlung schuldig 88), nennt das die Schwester.
gemacht hat, und somit, manifest in den Verwün- Der Pastor spielt also einerseits auf den Geiz, auf-
schungen bzw. im Fluch der alten Frau, den Nieder- grund dessen Hans seine Schwester um den Anteil »in
gang der Familie bis zu deren Aussterben mitzuver- unserem elterlichen Hause« (74) gebracht hat, ande-
antworten hat. Der Tod von Anne Lene hat nämlich, rerseits und vor allem aber auf den »jähe[n] Zorn«
wie der Selbstmord von Lore, nicht nur eine indivi- (76) an, der ihn dazu bringt, seinen Sohn zu »versto-
duelle, sondern auch eine gesamtfamiliäre Dimensi- ßen« (104). Am deutlichsten manifestiert sich dieser
on: Nach dem Ableben der Protagonistin ist die Fami- Zusammenhang in der Szene, in der Hans einen Brief
lie ausgelöscht. Heinz’ nach vielen Jahren nicht erfolgten Kontakts
aufgrund der nicht angebrachten Frankierung von
»dreißig Schillinge[n]« (80) zurückschicken lässt. Die
Das theologische Paradigma: Zorn, Fluch, Tod der
im Text an späterer Stelle noch einmal unterstrichene
nachfolgenden Generationen (»Hans und Heinz
Anspielung auf die 30 Silberlinge, für die »Christus
Kirch«)
verraten« wurde (88; Mt 26,15), macht deutlich, dass
Das theologische Paradigma, das in Auf dem Staatshof die alttestamentliche Perspektive eines gnadenlosen
noch sehr vorsichtig formuliert wird, wird von dem Gotteszorns durch neutestamentliche Gnade aufgeho-
vielleicht nicht gläubigen (vgl. Jackson 1989), wohl ben werden könnte. Die (nicht erfüllte) Vorausset-
aber auf biblische Strukturen konzentrierten Protes- zung wäre freilich, dass Hans von seinem Geiz und vor
tanten Storm (vgl. Demandt 2010) wesentlich später allem Jähzorn ließe, der Gottes Zorn hervorgerufen
auf den Begriff gebracht; aber auch hier noch so de- hat. Genau das passiert aber nicht. Die Novelle endet
zent, dass es in der Forschung zu Missverständnissen damit, dass der Vater den zurückgekehrten Heinz –
Anlass gab. In Hans und Heinz Kirch (1882) fordert Storm spielt hier auf das Gleichnis vom verlorenen
91 Figurenkonstellationen I: Familie und Vererbung 327

Sohn (Lk 15,11–32; vgl. Weiß-Dasio 1988, 157 f.), aber weder, wie der Vater glaubt, gegen das vierte Gebot
auch die neutestamentliche, verschieden variierte Ge- (»gegen den Vater seine Faust gehoben«) noch gegen
dankenfigur des Nicht-Erkennen Christi (Lk  24,16; das zweite (»Gotteslästerung«) und schon gar nicht
Joh 20,14–15; Mt 25,31 ff.) an – nicht wiedererkennen gegen das sechste Gebot (»Jungferschänder«; alle Zita-
und, was damit verbunden ist, nicht anerkennen will, te 228–231) verstößt. Womit aber Hinrich die zehn
so dass dieser erneut das Elternhaus verlässt und mut- Gebote, genauer gesagt: das fünfte und damit auch das
maßlich in der Fremde zu Grunde gehen wird. erste, verletzt und so tatsächlich den »Zorn« Gottes
Die Niedergangs-Struktur aus den früheren Novel- (s. o.) und einen »Fluch« auf die Familie geladen hat,
len hat also, wie jedoch erst hier ex post expliziert ist die Tatsache, dass er, die Geschichte Kains und
wird, ihren Ursprung im ersten Gebot und der Andro- Abels variiert wiederholend, seinen Bruder Detlev
hung Gottes, bei dessen Nichteinhaltung bzw. der »im jähen Zorn erschlagen« hat (289 f.).
Nichteinhaltung aller Gebote die nachfolgenden Ge- Dabei spielt es keine Rolle, dass dieser Bruder ihm
nerationen im Zorn auszulöschen. Und sie bleibt bis nicht nur das Erbe entreißen, sondern auch die Ehe
in die 80er Jahre tragfähig, wie die Ähnlichkeiten zwi- annullieren lassen wollte, was seine Frau Bärbe so sehr
schen den beiden, zeitlich weit auseinanderliegenden, aufregte, dass sie frühzeitig gebar und dabei verstarb.
Novellen Auf dem Staatshof und Hans und Heinz Kirch Hinrichs Logik des Auge um Auge (»sie stirbt; ich will
zeigen: die moralische Verfehlung in einer ersten Ge- dafür das deine!«; 242) steht, so die Logik der Ge-
neration – der mutmaßliche Betrug durch Anne Lenes schichte, nur Gott zu, nicht aber dem Menschen.
Großvater, der mutmaßliche Betrug der Schwester Dementsprechend ist es alles andere als ein Zufall,
durch Heinz Kirch – und das unheilvolle Auftreten dass Hinrichs vielversprechender Enkel Rolf, der
der Geschädigten, die Verwünschungen bzw. einen Sohn der vor dem Brudermord geborenen Tochter
Fluch ausspricht und daher den Gotteszorn explizit von Bärbe und Hinrich, am Ende in einer Schlacht
macht. Es ist jedoch in der zweiten Novelle ein neues verstirbt und damit die »letzte« Stunde des »Hauses
Element hinzugetreten, das das theologische Paradig- angebrochen« ist (209). Auch Hinrich ist im Übrigen
ma vervollständigt: der Jähzorn. Er wird so gedeutet – noch ein ›Zorniger‹, der diesen starken Affekt in ei-
und das legitimiert das vom Pastor angesprochene nem Akt der Explikation der ganzen Geschichte direkt
erste Gebot in seiner eigentlichen Bedeutung und gegen Gott richtet. So deutet es jedenfalls der metadie-
nicht nur als Hauptgebot (das alle anderen in sich ent- getische Erzähler Caspar Bokenfeld, wenn er Rolf an-
hält) –, dass der Zornige sich im Zorn direkt gegen zusehen meint, dass dieser sogar noch im Tode »sei-
Gott stellt. nem Schöpfer zürne« (289).
Zorn kennzeichnet auch Hauke Haien, den Pro-
tagonisten von Storms bekanntester Novelle Der
Zorn und Gotteszorn (»Grieshuus,
Schimmelreiter (1888): »Seine Augen sahen grimmig
Schimmelreiter«)
zur Seite«; »eine jähe Zornröte stieg ihm ins Gesicht«;
Dass es gerade der Zorn ist, in dem sich der Mensch »der Zorn stieg dem Reiter in die Augen«, sein »zorn-
gegen Gott und damit diesen infrage stellt, mithin also rotes Antlitz war totenbleich geworden«, heißt es im
das erste Gebot bricht und seine Nachkommen der Laufe der Novelle über den Protagonisten (LL 3, 689;
Vernichtung aussetzt, dies wird in zwei Novellen aus 721 f.; 750, 2x). Das erste Mal trifft es, wie bei Junker
den achtziger Jahren deutlich: Zur Chronik von Gries- Hinrich, der »im jähen Zorn« seinen an sich über alles
huus (1884/85) und Der Schimmelreiter (1888). In der geliebten Hund Tiras »erschlagen« (221) hat, ein Tier,
Binnengeschichte von Grieshuus entspinnt sich die nämlich den Angorakater von Trien’ Jans: »Ein
Familientragödie an der Entscheidung des an sich Grimm, wie gleichfalls eines Raubtieres, flog dem jun-
durch Primogenitur begünstigten Junker Hinrich, die gen Menschen ins Blut; er griff wie rasend um sich«
bürgerliche Bärbe zu heiraten. Dies erzürnt seinen Va- (647; vgl. zur Bedeutung von Tieren in Storms Novel-
ter, den Herrn von Grieshuus, dessen Antlitz nach Be- len Borgards 2007a; 2007b).
kanntgabe der Entscheidung seines Sohnes »gerötet« An dieser Stelle wird nun, wie schon im Auf dem
wird und der »schrie«, der Pastor möge Hinrich den Staatshof, der Fluch explizit gemacht: »Du sollst ver-
»Bann und Gottes Zorn« ankündigen (LL 3, 229). Der flucht sein! Du hast ihn totgeschlagen, du nichtsnutzi-
Pastor macht jedoch dem zornigen Herrn von Gries- ger Strandläufer; du warst nicht wert, ihm seinen
huus deutlich, dass Hinrichs Entscheidung zur Ehe, Schwanz zu bürsten!« (LL 3, 648). Die theologische
auch wenn sie der ritterlichen Erbfolge entgegensteht, Konnotation der Verfluchung Haukes durch Trien’
328 IV Diskurse

Jans wird durch die Anlehnung an die neutestamentli- nicht. Ganz im Gegenteil: Wenn man die theologische
che Formulierung Joh 1,27 »Des ich nicht werd bin / bzw. paratheologische Lesart weiterverfolgt, so zeigt
das ich seine Schuchriemen aufflöse« deutlich hervor- sich in dieser Haltung nur ein erneuter Aufweis für
gehoben: In Trien’ Jans’ Augen hat sich Hauke mit nie- seine Hybris gegenüber Gott.
mand anderem als Jesus Christus – in Person eines sei-
ner »geringsten Brüder []« (Mt 25,40) – auf Tod und
Eine zweite Lesart: biologische Vererbung
Leben angelegt. Der zweite Fluch kommt aus dem
(»Schimmelreiter«, »Der Herr Etatsrat«)
Mund des Großknechtes Ole Peters anlässlich der Be-
vorzugung Haukes auf dem Deichgrafenhof: »Hol der Nun werden die Konventikel-Brüder nicht nur in die
Teufel den verfluchten Schreiberknecht!« (LL 3, 657). erzählerische Logik prominent integriert, sondern zu-
Den dritten Fluch spricht ein Mitglied der radikalen gleich auch als Wahrheitsinstanz desavouiert: Dem
pietistischen Gemeinde, der so genannten »Konventi- den Fluch ausstoßenden Laienprediger werden näm-
kel«-Brüder, über Hauke aus: Dieser, so die Behaup- lich durchaus persönliche Motive attestiert, ist er doch
tung, »lastet gleich einem Stein auf der Gemeinde – der ein »vom Deichgrafen aus der Arbeit gejagte[r] Pan-
ist von Gott gefallen und suchet den Feind Gottes, den toffelmacher« (LL 3, 717). Die damit verbundene Ab-
Freund der Sünde zu seinem Tröster«. Dieser Bann- wertung der theologisch-paratheologischen Lesart ist
Fluch ist deswegen von herausragender Bedeutung, insbesondere dem metadiegetischen Erzähler, dem
weil er bereits ein Gegenfluch ist. Haukes »Gebet« war Schulmeister, zu verdanken. Dieser, ein »verständi-
nämlich, so die Argumentation, bereits selbst ein ger« Mann (755) und Gegner des »Aberglaube[ns]«
»Fluch« (717), genauer: eine Verfluchung Gottes (zu (639), behauptet nämlich, dass der Gedanke des Bü-
verstehen als Genitivus objectivus), die, zumindest aus ßens für die Sünden der Vorväter nichts anderes als
Sicht der Konventikel-Brüder, darin bestand, diesem eine historische Selbstentschuldung und Selbstauf-
die Allmacht abzusprechen. Diese Argumentation ent- wertung der jeweils Erklärenden durch Legendenbil-
behrt nicht einer gewissen Logik: »Ich weiß ja wohl«, dung darstelle: »Ihr wisset auch wohl, es braucht nur
betet Hauke zu Gott anlässlich von Elkes Kindbettfie- einmal ein Größerer zu kommen, so wird ihm Alles
ber, »du kannst nicht allezeit, wie du willst, auch du aufgeladen, was in Ernst oder Schimpf seine Vorgän-
nicht« (715; Hervorhebung M. B.). Hat man die Goethe ger einst mögen verübt haben« (640).
zugeschriebene Sentenz »Nemo contra deum nisi deus Wollte man diese verständige Lesart für die genera-
ipse« (›Niemand gegen Gott, außer Gott selbst‹; Goe- tionelle Verflechtung der Familie Haien zur Anwen-
the 1948 ff., 727) im Ohr, lässt sich in dieser Passage, dung bringen, dann ließe sich, über die biographisch
immer aus der Perspektive der Konventikel-Brüder ge- orientierte Forschung hinausgehend (Laage 1997;
sehen, nicht weniger als eine hybride und aggressive Goldammer 2000, 148; Jackson 2001, 286–292), eine
Konfrontation Haukes gegenüber Gott erkennen. zeitgenössische, allerdings aufgrund der realistischen
Auch in diesem Falle entlädt sich der alttestament- Poetik dezent formulierte, Vererbungstheorie mit de-
liche Zorn Gottes nicht nur gegen seinen mensch- genereszenter Ausrichtung in Anschlag bringen. Hau-
lichen Widersacher Hauke, sondern, wie im ersten der ke, dessen geistige Fähigkeiten die seines Vaters deut-
Zehn Geboten beschrieben, gegen dessen gesamte Fa- lich übertreffen (manifest in seiner Lektüre des »Eu-
milie: Haukes und Elkes Tochter Wienke ist geistes- klid«, dem der Vater sprachlich und mathematisch
krank (s. u.) und wird sich nicht mehr verheiraten und nicht gewachsen ist; LL 3, 639 f.), verfügt über eine
fortpflanzen. In dieser Geisteskrankheit wiederholt sie psychische Disposition, die eine in der Degeneres-
die Sünden des Vaters, indem sie diesem die Gott ab- zenz-Lehre oft thematisierte Verbesserung intellek-
gesprochene Allmacht zuerkennt: »Vater kann Alles – tueller Eigenschaften bei gleichzeitiger Verschlechte-
Alles!« (LL 3, 731). Doch der Satz der fluchenden rung der seelischen Gesundheit aufweist. Der damit
Trien’ Jans – »Du strafst ihn, Gott der Herr! Ja, ja, du verbundene »progès d’un mal« (Morel 1857, 316) wird
straft ihn!« (728) – bewahrheitet sich in einem jähen in der Novelle anzitiert, wenn Haukes Vater Tede ge-
Tod in der Sturmflut, welche nicht nur Hauke, son- genüber Elkes Vater, der auch Tede heißt, den Aus-
dern seine gesamte Familie mit alttestamentlicher spruch tut: »Denn im dritten Gliede soll der Familien-
Härte und ohne »barmherzig« zu sein, verschlingt verstand ja verschleißen« (LL 3, 655). Dieser Satz wen-
(752). Dass sich Hauke in einer Jesus-ähnlichen Posi- det sich, nicht nur, aber auch, weil Hauke und Elke
tion als Opfer für diese anbietet (»›Herr Gott, nimm heiraten, gegen die eigene Familie der Haiens, mani-
mich; verschon die anderen‹«; 753), rettet die Familie fest in der unheilbaren psychischen Krankheit in der
91 Figurenkonstellationen I: Familie und Vererbung 329

letzten Generation: Wienke »wird«, wie Elke sich ir- glück herbeiführt (September 1881, Storm–Schmidt
gendwann eingestehen muss, »für immer ein Kind II, 51 f.; Hervorhebung M. B.). In eine ähnliche Rich-
bleiben«. Sie ist »schwachsinnig« (731). tung zielt ein Brief an Hans Mommsen, in dem Storm
Dies lässt sich mit der zeitgenössischen Verbindung auf einen »Einwand« seines Briefpartners eingeht:
von Neurasthenie- und Degenereszenzlehre verstehen: Dieser hatte nach der Lektüre von Hans und Heinz
Hauke, als ein Mensch, der durch seine in der Novelle Kirch die »grimme Faust des großen Schicksals« in die-
penibel beschriebenen Überlastung eine »übermässi- ser Novelle vermisst (so Storm in einer Paraphrase des
gen Consumtion von Nervenkraft« (Krafft-Ebing verlorengegangenen Briefs in einem Schreiben an Paul
1885, 25) herbeigeführt hat, hat bereits die Reserven Heyse vom 2.10.1884, Storm–Heyse III, 94). Darauf
der nachfolgenden Generation mitaufgebraucht: »Die- antwortet Storm so: »Man sagte einmal: das moderne
se angeborene Schwäche der nervösen Elemente durch Schicksal sind die Nerven; ich sage: es ist die Ver-
Einflüsse der Zeugung«, schreibt Richard von Krafft- erbung, das Angeborene, dem nicht auszuweichen ist,
Ebing, »hat das Leben des Kindes schon in den ersten und wodurch man [...] auch wohl zum Untergang
Entwicklungsstadien so schwer getroffen, dass eine kommt« (Storm–Mommsen, 126).
normale Entwicklung gar nicht mehr möglich ist«, so Explikationen zum Thema der Vererbung schlagen
dass diese »angeborene Krankheit« zu »Entwicklungs- sich auch in Storms Novellistik nieder: In John Riew’
hemmung« und schließlich zur »Idiotie« führen muss (1885) diskutieren z. B. zwei Männer, einer davon Arzt,
(ebd., 27). In Storms eigener Terminologie gesprochen über einen Artikel im Hamburgischen »Correspon-
heißt das, dass »die Kraft« des (einzelnen wie familiä- denten«, der von »Vererbung« handelt. Thematisiert
ren) »Lebens abstumpfte, wenn nicht gar völlig austat« wird dort die »Schuld« der »Väter« an den »Nei-
(LL 3, 201). gung[en]« und Verfehlungen ihrer Kinder im All-
Letzten Endes unterläuft die Novelle jedoch auch gemeinen und das Problem der hereditären Belastung
ihr Angebot von zwei voneinander disjunkten Les- eines »Trinker[s]« (LL 3, 376) im Besonderen. Dieses
arten, da beide bei näherem Hinsehen keine Alternati- Thema fand, allerdings ohne diegetischen Hinweis auf
ven darstellen. Auch die Degenereszenz-Theorie geht die Vererbungslehre, auch Niederschlag in Der Herr
ja davon aus, dass der erwähnte »progrès d’un mal« Etatsrat (1881). Die Novelle verhandelt die hereditären
schließlich zu eben der »extinction de la famille« (Mo- Folgen der in der Degenereszenz-orientierten Medizin
rel 1857, 96) führt, die Haukes Familie aufgrund des immer wieder thematisierten »Trunksucht« (Griesin-
Gotteszorns gewärtigen muss. Dies ist deswegen nicht ger 1876, 160), in diesem Falle des Vaters (des titel-
weiter erstaunlich, weil im Rahmen der Gedankenfi- gebenden Etatsrats), für die nachfolgende Generation.
gur der Degenereszenz ebenfalls auf das erste der zehn So kann Archimedes, der Sohn des Etatsrats, der – no-
Gebote rekurriert wird (Krafft-Ebing 1885, 24 f.). So men est omen – wie Hauke Haien aus dem Schimmel-
gesehen führt also die Novelle vor, dass auch wissen- reiter eine starke Neigung und Begabung zur Mathe-
schaftliche Ansätze nicht frei von dem Aberglauben matik hat, diese nicht ausleben, weil er ebenfalls schon
sind, von dem sie sich abzusetzen behaupten (vgl. Ber- »früh am Tag« zu »trinken« beginnt (LL 3, 17) und auf-
gengruen 2010a). grund seiner heriditären Disposition an einer »Ge-
Dennoch stellt die im Schimmelreiter auf die Spitze mütsstörung« leidet, die in ein »Krankenlager« (50)
getriebene exemplarische Darstellung einer medizi- übergeht, das schließlich in den Tod mündet. – Auch
nisch-psychologischen Vererbungslehre eine nicht zu in diesem Falle ist die Familie damit ausgestorben.
unterschätzende Erneuerung in Storms Erzählwerk
dar, weil sie die alttestamentliche Struktur mit neuen,
Experimente mit der symbolischen Familie
medizinisch-psychologischen Elementen anreichert.
(»In St. Jürgen«, »Waldwinkel«)
Auch wenn die Beschäftigung mit diesem Thema frü-
her beginnt, so wird sie erst ab den achtziger Jahren ex- Bevor Storm die Entscheidung fällt, Familien bzw. Ge-
plizit, z. B. in Reflexionen zur Grieshuus-Novelle. Im nerationsfolgen als Komplement zur theologischen
Zusammenhang ihrer Entstehung schreibt Storm in ei- Ausgestaltung im Lichte der biologischen bzw. medi-
nem Brief an Erich Schmidt, dass es sein höchster zinischen Vererbungslehre darzustellen, prüft er auch
Wunsch sei, »eine Novelle schreiben zu können, worin ein Alternativmodell zur Beschreibung der Familien-
der Held, voll Bewußtseins einer ihm von den Vorfah- zusammenhänge, das er aus der ›Immensee‹-Periode
ren angeerbten Leidenschaft, sei es Jähzorn, Eifersucht mitbringt und ausbaut: die symbolische Familie und
oder sonst was« agiert und gerade deswegen sein Un- ihre Verflechtungen mit der biologischen.
330 IV Diskurse

In seiner dritten Husumer Periode (zur Periodisie- Kleinstadttratsch wiedergegeben wird, der besagt –
rung s. Missfeldt 2013, 264–378) beschreibt Storm in und das treibt die Verschränkung von biologischen
seinen Novellen, wie schon im Staatshof geschehen und symbolischen Familienstrukturen auf die Spitze –,
(da die Liebenden wie »Geschwister« zusammen- dass Franziska auch biologisch die Tochter Richards
leben; LL 1, 401), bemerkenswert oft symbolische Ver- (»sein eigen Blut«; 277) sein könnte.
wandtschaftverhältnisse bzw. Familienstrukturen, die
sich anstelle von biologischen setzen. Man denke zum
Schuld-Frage und Biologische Vererbung
Beispiel an In St. Jürgen (1867), eine Novelle, in der das
(»Aquis submersus«)
durch Verlobung eigentlich bereits beschlossene ehe-
liche Zusammenkommen der beiden Liebenden, die Ab Aquis submersus (1876) lässt sich bei Storm ein
ihrerseits aus einer, zumindest losen symbolischen Fa- Durchschlag des Biologischen im Rahmen der sym-
milie stammen (Agnes’ Vater wird der »Vormund« des bolischen Familienstrukturen feststellen. Hierfür
Nachbarsjungen Harre, nachdem dessen Eltern ge- greift er auf die in der Immensee-Periode entwickelte
storben sind; LL 1, 701), deswegen nicht zustande Idee der Niedergangs-Familiengeschichte der Frau zu-
kommt, weil der Mann in der Fremde in die Familie rück; mit dem Unterschied, dass durch die nun mögli-
seines plötzlich verstorbenen Meisters, inklusive drei- che eheliche und/oder sexuelle Beziehung zu der an-
er Kinder, einheiratet, die er zuvor von dem beinahe gebeteten Frau deren Familiengeschichte in Form der
sicher geglaubten Bankrott gerettet hat. Erst kann er gemeinsamen Nachkommen zu der des erzählenden
»die Kinder«, die biologisch gesprochen nicht seine oder in der Erzählung fokussierten Mannes wird.
sind, »nicht verlassen«; schließlich geht er sogar auf Auch in der Binnengeschichte von Aquis submersus
»Wunsch« dieser, mittlerweile herangewachsenen, beginnt alles mit einer symbolischen Verschwis-
Kinder »das Ehebündnis mit der Frau« (728) ein. Und terung. Der bürgerliche Johannes liebt die adlige Ka-
so kehrt Harre am Ende seines Lebens nach Husum tharina, die seine symbolische Schwester darstellt,
zurück, wo Agnes, die ihrerseits den, in diesem Falle weil ihr Vater, Herr Gerhardus, sich der »verwaiseten
erfolgten, Bankrott ihres Vaters miterleben musste, ihr Jugend« des jungen Malers angenommen hatte (LL 2,
ganzes Leben auf ihn gewartet hat und kurz vor seiner 387). Aus dieser symbolischen Verschwisterung wird
Ankunft verstorben ist. Liebe und erotisches Begehren. Ihrem vorehelich ge-
Eine ebenfalls nicht glückliche Variante der Ver- zeugten Kind wird nicht das Glück einer Familie zu-
schränkung von biologischen und symbolischen Fa- teil, in der der biologische Vater auch der rechtliche
milienstrukturen schildert die Novelle Waldwinkel ist. Weil Katharinas Bruder, der adelsstolze Junker
(1874), die von der Verbindung eines älteren Botani- Wulf, die angestrebte Mesalliance seiner Schwester
kers Richard, mit einer jungen Frau, Franziska, han- nicht akzeptieren kann (das Motiv wird Storm in Zur
delt. Letztere ist eine Waise; um bei Richard leben zu Chronik von Grieshuus wieder aufgreifen), werden die
können, muss dieser von ihrem »Vormunde« alle beiden nach Zeugung ihres Kindes voneinander ge-
»Fürsorge auf sich« (LL 2, 245) nehmen. Doch es ist trennt. Katharina wird schließlich mit einem Prediger
nicht nur die übernommene Vormundschaft, sondern vermählt, der das Kind als seines anerkennt. Nach Jah-
auch und besonders der Altersunterschied, der dazu ren treffen die Liebenden sich jedoch wieder und ha-
führt, dass man den Botaniker in der Stadt für den ben erneut Geschlechtsverkehr, zeugen dabei aber
»Herrn Vater« (246) der Frau hält, die eigentlich hei- kein neues Kind, sondern lassen vielmehr aufgrund
raten möchte. Und auch Franziska verbleibt in der Be- fehlender Aufmerksamkeit das alte ertrinken. Das Ge-
ziehung auf eine gewisse Weise in der Kinderrolle, was schlecht ist damit einmal mehr ausgestorben.
sich darin manifestiert, dass sie von ihm »Kinderschu- Durch den Titel und die im Zentrum der Rahmen-
he« (247) gekauft bekommt, die er allerdings nicht als erzählung stehende Bildunterschrift zu einem Bild Jo-
solche wahrnimmt, blickt er doch »wie verzaubert« hannes’ – »C. P. A. S.«, was für »Culpa Patris Aquis
(255) auf ihre schmalen und schönen Füße, die für ihn submersus«, »Durch [des] Vaters Schuld in der Fluth
weniger das Kindsein, denn eine Jugend darstellen, der versunken«, steht (LL 2, 453) – wird die Schuldfrage
er in der Beziehung auch gerne teilhaftig wäre. Franzis- ins Zentrum der Erzählung gestellt, allerdings ohne
ka entzieht sich diesem Wunsch schließlich dadurch, eindeutiges Ergebnis. Entsprechend der Bildunter-
dass sie mit einem Mann ihres Alters, einem Jäger und schrift klagt sich der Maler am Totenbett seines Soh-
Schürzenjäger in Personalunion, verschwindet. Die nes selbst an: »nichts Anderes ist da als deines Vaters
Schlusspointe der Novelle wird dadurch gesetzt, dass Schuld« (453). Der Prediger hingegen sieht nicht nur
91 Figurenkonstellationen I: Familie und Vererbung 331

Johannes, sondern auch seine untreue Frau in der ten Ahnfrau bis zum Junker Wulf, ganz im Gegenteil
Pflicht: »Die beiden Eltern haben es [das Kind] ertrin- »kleine«, Augen in einem »harten Antlitz« vor (402).
ken lassen« (449; Hervorhebung M. B.). Storm selbst Dies ist deswegen nicht verwunderlich, weil das Bild
spannt den Rahmen weiter und spricht Junker Wulf derjenigen, der der Fluch der Ahnfrau galt, wohl nie-
bzw. den ganzen Adel, der nur, weil er sich »besseren mals Eingang in die Galerie gefunden hat oder, wenn
Blutes dünkt« (Storm, Was der Tag gibt, Eintrag zwi- doch, nachträglich entfernt wurde. Dass sie tatsäch-
schen dem 8.4. und dem 28.5.1883; LL 4, 525), gegen lich Katharinas und ihres Kindes Augen hatte, darauf
die Interessen der Menschen handelt, schuldig, wäh- verweist jedoch eine zweite, die erste begleitende Fa-
rend er die Culpabilitätsfrage an anderer Stelle noch milienähnlichkeit: Die oben erwähnte Blässe des Kna-
weiter auffächert und von der »Schuld oder Unzuläng- ben, die keineswegs nur seinem Tod zuzuschreiben
lichkeit des Menschenthums« spricht. Damit meint ist, findet sich sowohl bei der Mutter, über deren
Storm, wie er ausdrücklich betont, nicht weniger als »blasse[s] Antlitz« (447) des Öfteren gesprochen wird,
die »Vererbung des Blutes« (Storm an Schmidt, Sep- als auch bei der bilderlosen ursprünglich Verfluchten,
tember 1881, Storm–Schmidt II, 49): Johannes und die in der Rede der Familien nur als »das blasse Fräu-
vor allem Katharina handeln also nicht allein aus sich lein« apostrophiert wird (407).
heraus, sondern auch und besonders als biologische In Aquis submersus thematisiert Storm also zum
Nachfahren ihres Geschlechts. ersten Mal den Gedanken latenter Erbeigenschaften,
Und in der Tat spielt Vererbung eine zentrale Rolle die erst nach einer längeren oder kürzeren Generatio-
in der Novelle – und zwar bereits auf Basis des Szena- nenfolge wieder zum Vorschein kommen können.
rios, das am Beispiel des Schimmelreiters vorgestellt Anders als bei Rolf aus Zur Chronik von Grieshuus, der
wurde, wozu auch die beschriebene theologisch-biolo- gerade nicht die Schwäche seines Vaters, sondern die
gische Doppelstruktur gehört. Der zweite Beischlaf Jo- Stärke seines Großvaters geerbt hat, oder Hauke Hai-
hannes’ und Katharinas geschieht nämlich nicht nur en, der klüger als sein Vater ist, spielt hier der oben ge-
aus Liebe, sondern auch aus »fast wilde[m] Zorn« (LL schilderte Gedanke einer scheinbar und nur vorläufig
2, 448) heraus. Die damit verbundene Auflehnung ge- verbesserten geistigen Gesundheit im Rahmen einer
genüber dem Gott des Alten Testaments (s. o.) hat eine grundsätzlichen Degenereszenz-Struktur (s. o.) noch
lange Vorgeschichte in der Verwandtschaft Katharinas. keine Rolle. Vielmehr führen in diesem Falle die ge-
Es gibt nämlich eine »Ahn[in]« (453), eine »Gemahlin nannten Erbeigenschaften, verstärkt durch die ero-
eines früheren Gerhardus«. Ihre Tochter hatte sich, tische Komponente, die mit Katharinas Blick verbun-
ähnlich wie Katharina, in einen Mann verliebt, der den ist, direkt zum Aussterben des Geschlechtes (vgl.
»nicht ihres Standes« war, und wollte daher in eine, Bergengruen 2012).
von ihrer Mutter arrangierte, standesgemäße Ehe nicht
einwilligen. Daraufhin hat die Ahnfrau ihre Tochter
Vererbung mit Darwin (»Carsten Curator«)
»verfluchet«, mit dem Ergebnis, das man »das blasse
Fräulein aus einem Gartenteich gezogen« (407 f.), sie Auch Carsten Curator (1877) basiert auf der Gedan-
also höchstwahrscheinlich Selbstmord begangen hat. kenfigur, dass die zukünftige Schwiegertochter bereits
Unter diesem Fluch agieren also Johannes und Ka- vor der Ehe mit dem Hause symbolisch verbunden ist,
tharina. Die damit angesprochene (para-)theologi- entwickelt sich doch die Ehe von Heinrich und Anna
sche Dimension hat – und das macht die Doppel- aus einer Quasi-Geschwisterschaft. »Da das Kind die
struktur aus – ein ganz und gar physisches Pendant, Mutter bereits bei seiner Geburt verloren hatte« und
nämlich Katharinas Augen und ihr Blick, den der be- ihr Vater in ihrem achten Jahr stirbt, »so wurde nach
törte Maler Johannes (zu Bild und Bildlichkeit in der dem Wunsche des Verstorbenen Carstens«, also Hein-
Novelle vgl. Weissberg 2013) niemals vollständig ein- richs Vater, »nicht nur der Vormund der kleinen An-
fangen kann: »Mitunter war’s, als schaue mich etwas na, sondern sie kam auch völlig zu Kost und Pflege in
heiß aus ihren Augen an; doch wollte ich es dann fas- sein Haus« (LL 2, 461). In diesem Fall spielt jedoch
sen, so floh es scheu zurück« (LL 2, 406). Dieses »et- nicht mehr die biologische Vorgeschichte der Frau,
was« ihres Blickes hat Katharina an ihren Sohn ver- sondern die Vorgeschichte des Mannes, also Hein-
erbt: »Die Augen des schönen blassen Knaben, es wa- richs, eine zentrale Rolle in der Novelle.
ren ja ihre [Katharinas] Augen« (440), aber in der Ah- Heinrichs Mutter ist nämlich in allem das genaue
nengalerie sucht Johannes vergeblich nach einer Gegenteil von Carsten. Während dieser ein Curator,
Familienähnlichkeit. Hier herrschen, von der genann- ein Kümmerer, ist, weist Juliane jede Verantwortung
332 IV Diskurse

für andere Menschen von sich. »Ich kümmere mich Das erste Darwin-Zitat besteht in diesem Falle da-
[...] um nichts« (LL 2, 458), sagt sie gleich zu Beginn rin, dass Heinrich und seine Mutter wunderschöne
der ungleich Verbindung zwischen ihr und Carsten; Menschen sind. Bei seiner Mutter ist die Schönheit be-
und so hält sie es auch weiterhin. Julianes Charakter reits quasi in den Namen überführt worden. Sie wird
wird wiederum mit dem ihres Vaters erklärt. Dieser gleich zu Beginn als »die hübsche Juliane« eingeführt
war ein aus der Fremde kommender »Spekulant[]«, und später als »schönes Mädchen« beschrieben (LL 2,
der Bankrott macht und schließlich Selbstmord be- 458). Heinrich wiederum wird schon als kleines Kind
geht: »Als einer der letzten [Spekulanten] wurde er auf »als der geistige« und körperliche Deszendent »seiner
dem Boden seines Speichers erhängt gefunden« (457). schönen Mutter« beschrieben. Der Erzähler vergisst
Heinrich besitzt nun all diese schlechten Erbeigen- nicht, die »schönen Kinderaugen« (460) hervorzu-
schaften seines Großvaters und seiner Mutter. Auch er heben, die den jungen Heinrich ausmachen. Gleiches
ist ein Nicht-Kümmerer (»Wir kümmern uns um gilt für ihn als jungen Mann, zumal er jetzt seiner
nichts!«; 461); auch er neigt, vermittelt über seine Schönheit auch durch Kulturtechniken nachhelfen
Spielleidenschaft, zur Spekulation und geht zweimal in kann: Heinrich ist, heißt es zum Zeitpunkt seiner
seinem Leben Bankrott. Auch die Neigung zum Selbst- Werbung um Anna, ein »schöner Mann« mit einem
mord hat er, vermittelt über seine Mutter, von seinem »stattlichen Backenbarte«, der sich im in Hamburg
Großvater geerbt. In späteren Jahren kommt auch zugelegten »modischen Rock« ganz vorzüglich aus-
noch der Alkohol dazu. Mit all diesen Eigenschaften macht (487 f.).
scheint er direkt auf sein Ende und mithin auf das der Julianes und Heinrichs gutes Aussehen ist ein ent-
Familie Carstens hinzustreben. Im Gegensatz zu allen scheidendes Plus im Kampf ums Dasein, zumindest
anderen bisher erwähnten Novellen bleibt die Gedan- wenn man Charles Darwins jüngeres Hauptwerk Die
kenfigur der degenereszenten bzw. aus göttlichen Zorn Abstammung des Menschen – The Descent of Man
erfolgten Auslöschung der Familie jedoch am Ende (1871) – hinzuzieht. Darwin argumentiert hier, dass
ausgespart. Vielmehr gibt der Sohn von Heinrich und für das Überleben nicht mehr allein die »natürliche[]«
Anna, ungeachtet der schlechten Erbeigenschaften sei- (Darwin 2004, 100), sondern die »geschlechtliche[]
nes Vaters, Anlass zur Hoffnung, dass sich das Ge- Zuchtwahl« (Darwin 2005, 233) von höchster Bedeu-
schlecht regenerieren kann. Heinrich der Jüngere er- tung sei. Gemäß dieser Vorgabe muss das Individuum
innert nämlich an seinen Großvater Carsten und seine nicht mehr ausschließlich selbst Anpassungsleistun-
Mutter Anna, nicht jedoch an den Träger aller schlech- gen aufweisen, die ihm und seinen Nachkommen für
ten Erbeigenschaften der Familie, Heinrich den Älte- das Überleben hilfreich sind, sondern auch und vor
ren: Carsten sieht »die Züge der Mutter in dem kleinen allem eine »Überlegenheit« gegenüber den eigenen
Antlitz seines Enkels«, und Anna weist darauf hin, dass Geschlechtsgenossen besitzen, um als erster oder ein-
»der Junge« Carstens »Augen« geerbt hat (521). ziger an Sexualpartner mit diesen Leistungen heran-
Um diesen Umstand deuten zu können, muss man zukommen (Darwin 2005, 236). Eine der Möglichkei-
wissen, dass Storm seine Novellen sehr häufig in po- ten, um qua sexueller Zuchtwahl in der natürlichen
pulärwissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, Zuchtwahl zu reüssieren, ist für Darwin die »Schön-
insbesondere in Westermann’s Illustrirten Deutschen heit« (Darwin 2005, 653; vgl. Menninghaus 2003,
Monatsheften und in der Deutschen Rundschau. Mei- 66 ff.), die sich nach Darwin durchaus mit künstlicher
nungsführer bei diesen Zeitschriften sind Karl Vogt Verschönerung, also z. B. einem »Bart« (Darwin 2005,
und Ernst Haeckel, beides bekennende Darwinianer. 633), wie ihn Heinrich trägt, vereinigen darf. Mit ihrer
In den genannten Zeitschriften finden sich demzufol- Schönheit haben sich also Juliane und ihr Sohn Hein-
ge vor, hinter und zwischen den realistischen Novel- rich das hereditäre Fortkommen gesichert, weil sie mit
len außergewöhnlich viele Artikel zum Thema Evolu- ihr Menschen wie Carsten oder Anna anziehen kön-
tion und Vererbung. Storm konnte also, allein aus der nen, die insbesondere moralische Charaktereigen-
Publikationssituation seiner (und anderer realisti- schaften aufweisen, die ihnen abgehen, für das Über-
scher) Novellen heraus, gar nicht anders, als diese leben der Art bzw. Familie jedoch von hoher Wichtig-
neue biologische Theorierichtung zur Kenntnis zu keit sind.
nehmen (vgl. Fasold 2000, 51 ff.). Insofern verwun- Bleibt die Frage, warum Carstens positive Erb-
dert es nicht, dass auch in Carsten Curator wie selbst- eigenschaften bei der Zeugung von Heinrich d. Ä.
verständlich zwei darwinsche bzw. darwinistische nicht zum Zuge kamen, während Anna eben diesen
Theorien zitiert werden. familiären Erbeigenschaften wieder zu ihrer ur-
91 Figurenkonstellationen I: Familie und Vererbung 333

sprünglichen Geltung verhelfen konnte. Man muss für Theologie und Ästhetik in Theodor Storms »Carsten Cu-
diese Frage zusätzlich die grundsätzlich degeneres- rator«. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 129 (2010b),
zente Anlage der Familie bzw. der Geschichte berück- 201–224.
Bergengruen, Maximilian: Etwas in Katharinas Augen. Zur
sichtigen (die, nebenbei gesagt, noch Einfluss auf Tho- biologischen Vorgeschichte in Storms »Aquis submersus«.
mas Manns Buddenbrooks hatte; vgl. Laage 2007, 99– In: Ders./Roland Borgards/Johannes Lehmann (Hg.): Die
104). Carsten hat zwar einerseits, was bereits durch biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnitt-
seine altruistische Curator-Tätigkeit sichtbar wird, punkt von Erzählordnung und Wissensformation. Freiburg
viele gute Erbeigenschaften und ist auch (wie Hauke i. Br. 2012, 155–184.
Borgards, Roland: Wolfs-Notstand. Zum Bann der Bestie in
Haien) intelligenter als sein Vater, aber er ist, anders
Storms »Zur Chronik von Grieshuus«. In: Norbert Otto
als seine Vorfahren, »von etwas grübelnder Gemüts- Eke/Eva Geulen (Hg.): Texte, Tiere, Spuren. Sonderheft der
art« (LL 2, 456), neigt also zur Melancholie. Im Gegen- Zeitschrift für Deutsche Philologie 126 (2007a), 167–194.
satz zu den anderen Novellen führt dies jedoch nicht Borgards, Roland: Wolf, Mensch, Hund. Theriotopologie in
notwendigermaßen zu einem »progrès d’un mal« in Brehms »Tierleben« und Storms »Aquis Submersus«. In:
seiner Familie. Zwar kann er sich gegenüber Juliane Anne von Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie.
Zürich/Berlin 2007b, 131–147.
angesichts seiner dezent-pathologischen Disposition Darwin, Charles: Die Entstehung der Arten durch natürliche
nicht durchsetzen; seine guten Erbeigenschaften sind Zuchtwahl, übers. v. Carl W. Neumann. Hamburg 2004.
deswegen jedoch nicht verloren, sondern latent bei Darwin, Charles: Die Abstammung des Menschen, übers. v.
seinem Sohn aufgehoben. Mit Darwins heute verges- Paul Seliger. Paderborn 2005.
senen Erbgesetzen gesprochen – und das ist das zweite Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor
Storm. Berlin 2010.
Zitat –, kommt es also zu einer »Überlieferung«, aber
Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das
nicht zu einer »Entwicklung« (Darwin 2005, 256; Her- Ende der Romantik. Heide 2011.
vorhebung M. B.) dieser Eigenschaften. In dem Au- Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart 1997.
genblick, in dem Heinrich nun ein Kind mit einer Fasold, Regina: Theodor Storms Verständnis von »Ver-
Frau wie Anna zeugt, die diese guten Erbeigenschaf- erbung« im Kontext des Darwinismus-Diskurses seiner
ten und zwar unbeschadet von der beschriebenen he- Zeit. In: Gerd Eversberg, Gerd/David A. Jackson/Eckart
Pastor (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laa-
reditären Belastung der Carstens besitzt (sie stammt
ge zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, 47–58.
als »entfernte[] Verwandte[]«, LL 2, 461, von einem Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dich-
Zweig der Familie ab, der sich lange vor der degeneres- tung und Wahrheit. In: Ders.: Gedenkausgabe der Werke,
zenten Entwicklung von der Erblinie Carstens abge- Briefe und Gespräche. Hg. v. Ernst Beutler, Bd. X. Zürich
koppelt hat), können diese bei Carstens Enkel wieder 1948 ff.
aus der Latenz zum Vorschein kommen und daher im Goldammer, Peter: Culpa patris? Theodor Storms Verhältnis
zu seinem Sohn Hans und seine Spiegelung in den Novel-
darwinischen Sinne entwickelt werden. len »Carsten Curator« und »Hans und Heinz Kirch«. In:
In dieser einen Novelle hat also Storm den Versuch Gerd Eversberg/David Jackson/Eckart Pastor (Hg.):
unternommen, mit einer Anleihe bei Darwins Evoluti- Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Ge-
ons- und Vererbungstheorie einen Ausweg aus dem burtstag. Würzburg 2000, 143–150.
hereditären Fatalismus, der von der degenereszenten Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psy-
chischen Krankheiten für Aerzte und Studirende. Braun-
bzw. alttestamentlichen Anlage seiner Novellen her-
schweig 41876.
rührt, zu formulieren. Auf seine Weise und auf seinem Jackson, David A.: Storms Stellung zum Christentum und
Gebiet beschreibt Storm damit in Carsten Curator mit zur christlichen Kirche. In: Brian Coghlan/Karl Ernst Laa-
höchster literarischer Genauigkeit Erbgesetze, die eine ge (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Berlin
gewisse Ähnlichkeit zu der zeitgleich entdeckten, aber 1989, 41–99.
im 19. Jahrhundert noch nicht bekannten Genetik Jackson, David A.: Theodor Storm: Dichter und demokrati-
scher Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
Gregor Mendels aufweisen (vgl. Bergengruen 2010b). Krafft-Ebing, Richard von: Über gesunde und kranke Nerven.
Tübingen 1885.
Literatur Laage, Karl Ernst: Culpa patris. Zur Frage nach der Schuld
Bergengruen, Maximilian: Fluch der dritten und vierten des Vaters in Storms Novelle »Carsten Curator«. In: STSG
Generation. Neurasthenie, Vererbung und göttlicher Zorn 46 (1997), 7–12.
in Theodor Storms »Der Schimmelreiter«. In: Ders./Caro- Laage, Karl Ernst: Theodor Storm – neue Dokumente, neue
line Pross/Klaus Müller-Wille (Hg.): Neurasthenie. Die Perspektiven. Mit 35 unveröffentlichten Briefen. Berlin
Krankheit der Moderne und die moderne Literatur. Frei- 2007.
burg i. Br. 2010a, 73–102. Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer
Bergengruen, Maximilian: Das genetische Opfer. Biologie, Ausgabe). Weimar 1883 ff.
334 IV Diskurse

Menninghaus, Wilfried: Das Versprechen der Schönheit. Strehl, Wiebke: Vererbung und Umwelt. Das Kindermotiv im
Frankfurt a. M. 2003. Erzählwerk Theodor Storms. Stuttgart 1996.
Missfeldt, Jochen: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Weiß-Dasio, Manfred: Die Unzulänglichkeit des Ganzen. Zu
Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie. Mün- Theodor Storms Novelle »Hans und Heinz Kirch«. In: Li-
chen 2013. teratur für Leser 11/3 (1988), 149–162.
Morel, Bénédict Auguste: Traité des dégénérescences physi- Weissberg, Liliane: Bild und Tod in Theodor Storms »Aquis
ques, intellectuelles et morales de l’ espèce humaine et des submersus«. In: Elisabeth Strowick/Ulrike Vedder (Hg.):
causes qui produisent ces variétés maladives. Paris 1857. Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf
Stein, Malte: Tod und Weiblichkeit in Theodor Storms No- Theodor Storm. Bern 2013, 168–187.
velle »Auf der Universität«. Eine Textanalyse aus inter-
textueller Perspektive. In: STSG 45 (1996), 27–45. Maximilian Bergengruen
92 Figurenkonstellationen II: Storms Poetik der Geschlechter 335

92 Figurenkonstellationen II: 22) oder die enge Verbindung von Liebesglück und
Storms Poetik der Geschlechter Vergänglichkeit;
4. die individual- und sozialpsychologisch vertiefte
Darstellung männlicher und weiblicher Identitäts-
Theodor Storm kann sicherlich als der poetische Rea- entwicklungen und -krisen, die sich im Span-
list der deutschen Literatur gelten, in dessen Werk Ge- nungsfeld kulturell-ethnischer, religiöser und so-
schlechterverhältnisse und -codierungen der zweiten zialer Differenzerfahrungen abspielen;
Hälfte des 19. Jahrhunderts am vielfältigsten aufgegrif- 5. familiäre, generationale Konflikte zwischen Eltern
fen und kulturgeschichtlich reflektiert werden. Die Ka- und Kindern;
tegorie Gender dominiert die thematischen Schwer- 6. Diskursverbindungen von Gender und Krankheit,
punktbildungen aller Werkphasen, vom zentralen Su- Weiblichkeit und Tod sowie von Geschlechtlich-
jet meist scheiternder Jugendlieben in der frühen Pro- keit und Schuld;
sa an, über die um soziale, kulturelle, religiöse und 7. das dezidierte Spiel mit männlichen und weibli-
generationale Differenzen erweiterten Geschlechter- chen Erzählinstanzen sowie die ›Verbannung‹ des
beziehungen der mittleren Novellistik bis hin zu den begehrten (weiblichen) Objekts ins literarische
tragischen Ehe- und Familienkonstellationen im Spät- oder bildkünstlerische Werk.
werk. An zahllosen Lebensläufen männlicher und
weiblicher Figuren führen Storms Erzählungen vor,
Gender und Erzählen
wie sich die Konstituierung von Subjektivität und
Identität auf der Grundlage der bürgerlichen Differen- In Storms Texten besteht ein unmittelbarer Zusam-
zierung von Geschlecht vollzieht, das eines der bedeut- menhang zwischen den Bedeutungsdimensionen von
samsten Ordnungskonzepte der Moderne darstellt. Geschlecht als diskursiver, rhetorisch-kulturell ver-
Das breite Spektrum künstlerischer Auseinander- fasster Größe und dem Erzählen selbst. Durch die häu-
setzungen mit sex und gender auf der Ebene der Hand- fig gewählte Erinnerungsperspektive, die ausgefeilte
lung, der Figuren, der Bildlichkeit und der erzähleri- Rahmentechnik und die dadurch erzielte Multiper-
schen Vermittlung im Kontext diverser zeitgenössi- spektivik werden Figurendarstellung und Textwirk-
scher Diskurse erstreckt sich auf zahlreiche von der lichkeit immer bereits als vermittelt kenntlich gemacht
neueren Storm-Forschung untersuchte Kernthemen. (vgl. wegweisend zu Storms »[g]edichteten Perspekti-
Es handelt sich vorrangig um ven« Preisendanz 1967). Da die mit sex und gender
1. zerstörerische Paarbindungen, bei denen spezi- verbundenen »Aussagen über die/den Charakterisier-
fische Machtasymmetrien eine wichtige Rolle te/n« so direkt auf den »Charakterisierenden« zurück-
spielen; verweisen (vgl. Gymnich 2004, 135), zeigt sich, wer ei-
2. das in diesem Zusammenhang immer wieder be- ne Stimme im bürgerlichen Geschlechterdiskurs er-
gegnende Muster der ›schwesterlichen Kindfrau‹ hält. Storms berühmte poetologische Äußerungen er-
bzw. »Phantasma der ›Kindsbraut‹« (Stein/Dete- weisen sich auch in dieser Hinsicht als aufschlussreich.
ring/Fasold 2010, 8), das seine Faszination für den Seine Überlegung zur Kunst des »lyrischen Dichters«,
männlichen Protagonisten aus der Ambivalenz »im möglichst Individuellen das möglichst Allgemeine
von asexueller Reinheit und Erotik bezieht; auszusprechen« (Storm–Brinkmann, 72), trifft in be-
3. die radikale Aufwertung personaler Liebe, die das sonderem Maße auf die literarische Gestaltung von
Individuum von existentieller Verunsicherung be- Geschlechterfragen zu, und auch seine Definition der
freien und ihm einen privaten Zufluchtsort vor Gattung Novelle als »die strengste Form der Prosa-
Anfeindungen der Gesellschaft bieten soll (vgl. dichtung«, welche »die tiefsten Probleme des Men-
Pastor 1988, 24), sowie die damit einhergehenden schenlebens« behandelt (LL 1, 1004), kann auf dieses
Rollenzuschreibungen und Erwartungen. Hierun- zwischenmenschliche Problemfeld bezogen werden.
ter fallen beispielsweise in romantischer und nach- Wenn der Autor außerdem davon spricht, einen zen-
romantischer Tradition stehende Leitgedanken tralen »Konflikt« allein auf sein Resultat beschränken
wie die Auffassung von der Frau als ursprünglicher zu wollen und nur das »in die Äußerlichkeit Tretende
Ergänzung des Mannes und als Ort regressiver darzustellen«, lässt sich eine solche »›symptomatische‹
Wünsche nach Geborgenheit, das Spannungsver- Behandlung« (1006) bei den meisten der komplexen
hältnis von »sinngebender Liebe« und (männ- und vielfach sogar rätselhaft anmutenden Beziehun-
licher) Angst vor »Selbstverlust« (Wünsch 1992, gen zwischen Männern und Frauen feststellen – un-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_92, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
336 IV Diskurse

abhängig davon, ob der jeweilige Text zu Storms frühe- Mimik oder körperlicher Konstitution ergeben, wird
ren oder späteren Werken zählt. die Wirkungsmacht sozialer Kontrolle und kultureller
Eine genderzentrierte Analyse von Storms Erzäh- Codes im Umkreis von Erotik, Sexualität und Ge-
lungen sollte deshalb das Was und das Wie, die jewei- schlecht sichtbar. Dies gilt nicht zuletzt für die zahllo-
lige Thematisierung von Geschlechterfragen und ihre sen intertextuellen Bezüge und das dichte Netz immer
erzählerische Darbietungsweise, immer gleicherma- wiederkehrender, geschlechtlich aufgeladener Sym-
ßen in den Blick nehmen. Einerseits sind die spezi- bole, denkt man allein an die Storms Gesamtwerk
fischen stofflichen und motivischen Schwerpunktset- durchziehende geschlechtliche Semantisierung von
zungen und Diskursverknüpfungen im Werk im Kon- Natur- und Kulturräumen, vor allem an seine dezidier-
text der bürgerlichen Geschlechterordnung in der te Auseinandersetzung mit der traditionsreichen Dis-
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu betrachten, an- kursverknüpfung ›Weiblichkeit und Wasser‹ (vgl. Ste-
dererseits ist die Frage nach den dazugehörigen narra- phan 1987, Stuby 1992, Fassbind-Eigenheer 1994,
tiven Strategien zu stellen, durch die die zeitgenössi- Schmitz-Emans 1997, Roebling 2012). Angesichts sol-
schen Vorstellungen von Geschlecht in den Erzähltex- cher narrativer Verfahren wird es letztlich zur Aufgabe
ten inszeniert und bestärkt oder auch kritisch unter- der Leserinnen und Leser, die Macht von Genderre-
laufen werden können. Aus kulturwissenschaftlicher präsentationen innerhalb der bürgerlichen Gesell-
Perspektive interessiert die spezifische künstlerische schaft auszuloten und ihren Einfluss auf individuelle
Ausgestaltung zeitgenössischer Sinngebungsmuster und kollektive Identitäten zu reflektieren.
von sex und gender: Sie ist ein »historisch relevanter
Indikator weiblicher (und männlicher) Wirklichkeits-
Forschungslage
erfahrung« (Nünning/Nünning 2004, 10) und be-
stimmt, wie Storms literarische Texte an Repräsenta- Die neuere Storm-Forschung hat sich dem Thema
tionen von Geschlecht mitwirken. ›Geschlecht und Geschlechterbeziehungen in den Er-
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die zentrale zähltexten Theodor Storms‹ vornehmlich unter zwei
Strategie Stormschen Erzählens, die ›symptomatische Perspektiven gewidmet. Zum einen bevorzugt sie psy-
Behandlung‹ der thematisierten Identitätskrisen und choanalytische und neuerdings auch kulturwissen-
zwischenmenschlichen Konflikte, auf ein ganzes Bün- schaftlich argumentierende Zugangsweisen, die in den
del an Ursachen für diese Probleme verweist. Im kom- Beiträgen der letzten zehn Jahre zumeist kombiniert
plexen Feld der Bedeutungen erscheinen Geschlecht werden. Als wegweisend für den psychoanalytischen
und Sexualität als durch die geschilderten soziohistori- Zugriff auf die Geschlechterthematik seit den 1980er
schen Bedingungen und Normen (mit)bestimmt und Jahren erwies sich ein Aufsatz von Irmgard Roebling,
werden als aus ihnen hervorgehende Konzepte an- in dem sie die oftmals tragisch endenden Liebesbezie-
schaulich. Im Rahmen der Vermeidung eindeutiger hungen zwischen Männern und Frauen, Eltern und
Begründungen fallen beispielsweise die vielen Leer- Kindern biographisch-autorpsychologisch erläutert
stellen auf, wenn Paar- oder Eltern-Kind-Beziehungen (Roebling 1983). Die bevorzugte Schilderung ge-
scheitern; Erzählinstanzen, die geschlechterrelevante schwisternaher Jugendlieben im Frühwerk, bei denen
Aussagen über die Figuren machen und ihr Verhalten kindhafte, zierlich-zerbrechliche, häufig todgeweihte
bewerten, stellen sich häufig als unzuverlässig heraus, Mädchen das Ziel männlichen Begehrens darstellen,
wodurch ihre Sichtweise zumindest verdächtig wird. oder das in den späteren Phasen auffallende Fehlen
Vielstimmigkeit und die intensive Verwendung von positiver Muttergestalten, während Vaterfiguren zu
Techniken der Innenweltdarstellung wie der erlebten ›mütterlicher Liebe‹ fähig sind, führt Roebling auf ei-
Rede lassen die erzählten Männlichkeits- und Weib- nen »persönliche[n] Mythos« des Autors zurück: Der
lichkeitsentwürfe äußerst fragil erscheinen. Auch wer- frühe Tod der geliebten Schwester Lucie und eine emo-
den differierende und widersprüchliche Anteile männ- tional distanzierte Beziehung zu den eigenen Eltern
licher oder weiblicher Geschlechtsidentität über Kor- hätten »im Medium der Phantasie nach Ausdruck und
respondenz- und Kontrastrelationen von Figuren aus- Verarbeitung [ge]drängt« (ebd., 106).
gehandelt oder auf bestimmte Außenseiter verschoben. Eher psychoanalytisch-textorientiert argumentie-
Indem sich bei den Figuren markante Widersprüche ren Interpretinnen wie Marianne Wünsch oder Regi-
zwischen ihren Bewusstseinsinhalten und ihren Hand- na Fasold (Wünsch 1992; Fasold 1999). Wünsch geht
lungen, ihren sprachlichen Äußerungen und ihrer beispielsweise dem Spannungsverhältnis von Bezie-
nonverbalen Kommunikation im Sinne von Gestik, hungssehnsucht der männlichen Protagonisten und
92 Figurenkonstellationen II: Storms Poetik der Geschlechter 337

unbewussten Ängsten vor Selbstverlust in zwei späten Die jüngsten genderorientierten Studien berück-
Erzählungen Storms vor dem Hintergrund der realis- sichtigen unterschiedliche zeitgenössische Wissens-
tischen Personenkonzeption nach, während Fasold ordnungen, in denen sich Storms Texte bewegen. Aus
die scheiternde Paarbeziehung in Auf dem Staatshof dieser Perspektive hat beispielsweise das Phantasma
auf den Zusammenbruch der höchst fragilen Spiegel- der Kindfrau, auf die der Mann seine narzisstischen
beziehung der Protagonistin zurückführt. Eine über- Sehnsüchte verlorener Ganzheit projiziert, noch ein-
greifende literaturpsychologische Studie, die zentrale mal verstärkte Aufmerksamkeit erfahren (Börner
Texte aus verschiedenen Werkphasen berücksichtigt, 2009; Stein/Detering/Fasold 2010). Ähnliches gilt für
legte Malte Stein 2005 vor. Er macht auf die zahlrei- die Diskursverknüpfung von Wasser und Geschlecht,
chen ›mörderischen‹ Schuldverstrickungen zwischen der zahlreiche Beiträge in ihren intertextuellen Ver-
Paaren und innerhalb der Familien aufmerksam und weisungszusammenhängen nachgehen (vgl. z. B. Stein
führt sie auf einen psychischen Grundkonflikt zurück 2005; Roebling 2012; Küng 2015). Ein weiterer For-
(Stein 2005, 9): Da die (meist männlichen) Figuren ihr schungsschwerpunkt liegt auf ›Männlichkeiten‹. An
narzisstisches Ich-Ideal unbewusst auf ihr Liebes- theoretische Konzepte der Men’s studies wie dasjenige
objekt übertragen, müssen sie es im Falle seiner Be- Raewyn Connells anschließend, arbeitet Louise Fors-
drohung – d. h. wenn die Geliebte ihm nicht mehr ent- sell (2006) an exemplarischen späten Texten heraus,
spricht – mit allen Mitteln verteidigen. Misslingt eine wie Storms Figuren von dem hegemonialen, bipolaren
solch gewaltsame Rettung (männlicher) Identität, Geschlechtermodell abweichen und marginalisierte
sind psychische Krisen oder gar Selbstfragmentierung Männlichkeiten repräsentieren. Durch divergierende
die Folge (ebd., 15). Männlichkeitsentwürfe lege Storm die Machtverhält-
Während die eine Richtung »Storms inhaltliche nisse und Selbstkonflikte bürgerlicher Identität in den
Qualitäten – zunächst – mehr im Bereich der ›Tiefen- Bereichen Familie und Medizin offen, deren zeitge-
psychologie‹ als dem der historischen Sozialwissen- nössische Diskursmuster Forssell im Zuge ihrer Ana-
schaft« verortet (ebd., 11), argumentieren andere Stu- lysen rekonstruiert. Auch Peter Küng wendet sich vor-
dien betont kontextbezogen und zeigen auf, wie mo- nehmlich der Krise bürgerlich-männlicher Identität
dern Storms Prosatexte gerade in ihrem Umgang mit in Texten Storms und anderer Realisten zu und rückt
der kulturellen Verfasstheit von Geschlecht sind. Dass erneut den Gewaltaspekt ins Zentrum, nun jedoch im
sie Konflikte und Problematiken moderner Subjekt- Hinblick auf die symbolischen Dimensionen von Ge-
konstitution in den Mittelpunkt stellen, schließt die walt im Sinne Pierre Bourdieus. Sie würden beispiels-
Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskursen weise greifbar in den diskursiven Verschränkungen
und Codes ja gerade nicht aus. Das Verdienst, der von weiblicher Krankheit, Orientalismus und der
Storm-Forschung die kulturwissenschaftliche Tür im neuen Leitwissenschaft Bakteriologie in Ein Bekennt-
Hinblick auf die Gender Studies geöffnet zu haben, nis oder in der Rede von Ökonomie und Geschlecht in
kommt wiederum Irmgard Roebling zu (Roebling Draußen im Heidedorf und Auf dem Staatshof. Es wer-
1993). Anhand der Novelle Im Schloß legt sie dar, wie de deutlich, dass die männlichen Protagonisten bzw.
das im Text erzählerisch in den Mittelpunkt gerückte die patriarchale Ordnung zur Selbstrettung regelrecht
Weibliche zur vieldeutigen, widerständigen Chiffre »über weibliche Leichen« gingen (Küng 2015, 547).
gegen die umfassende »Gewalt des väterlichen Herr- Für den literarischen Entwurf der Gewaltszenarien
schaftsdiskurses in der Mitte des 19. Jahrhunderts« er- bediene sich Storm vornehmlich einer phantastischen
hoben wird (ebd., 61). Weiblichkeit fungiere im Sinne Metaphorik, die intertextuell an traditionsreiche Dis-
poststrukturalistischer Theoriebildung als Differenz- kurse wie die der Hexe, der Vampirin oder der ›femme
markierung, die auch Teil von Männlichkeit sei und fatale‹ anschließe.
der im Zusammenspiel mit anderen Alteritätskatego- Die neuere kulturwissenschaftlich ausgerichtete
rien eine »subversiv-revolutionäre Potenz« zukomme. Storm-Forschung schlüsselt die Geschlechterbezie-
Mit der dezidierten poetischen Aufwertung von hungen somit facettenreich auf und liefert wichtige Er-
Weiblichkeit als Gegendiskurs schließe Storm an ro- kenntnisse zum Beitrag von Storms Texten zur gesell-
mantische und jungdeutsche Entwürfe an und nehme schaftlichen Normierung von Männlichkeit und Weib-
zugleich an den entsprechenden kulturkritischen lichkeit und ihren Ausschlüssen in der zweiten Hälfte
Strömungen im ausgehenden 19. Jahrhundert teil – zu des 19. Jahrhunderts. Zugleich fällt aber auch die Ten-
denken sei vor allem an Bachofens wirkmächtige, denz auf, als Kernthema Storms vorrangig die Proble-
ebenfalls 1861 erschienene Studie Das Mutterrecht. matisierung männlicher Identität, ihrer Projektions-
338 IV Diskurse

leistungen und Effekte zu profilieren. Dies geht teilwei- Elisabeth gibt Rätsel auf. Die erzählerische Darbie-
se so weit, dass vorgeschlagen wird, die weiblichen Fi- tungsweise regt jedoch dazu an, Immensee als Ge-
guren als bloßen »Teil männlicher Identitäten« zu schichte einer misslingenden männlichen Sozialisati-
verstehen, da »[h]inter all diesen Projektionen und Re- on zu lesen, auf deren Kosten sowohl das Lebensglück
duktionen [...] die weibliche Figur als eigenständige li- des betroffenen Mannes als auch das einer Frau geht,
terarische ›Person‹ fast vollständig« verschwinde die schließlich aufgrund von sozialem Druck einen un-
(Küng 2015, 175). Aus Sicht einer aktuellen Geschlech- geliebten Bewerber ehelicht (»Meine Mutter hat’s ge-
terforschung, die »nicht nur beide Geschlechter, son- wollt«; LL 1, 321). Die zunächst idyllisch anmutenden
dern ebenso selbstverständlich die Intersektionalität Kindheitsszenen gestalten Schlüsselmomente der frü-
von Rasse, Ethnizität, Klasse, sexueller und religiöser hen Internalisierung patriarchaler Muster und legen
Orientierung und Alter« (Frey Steffen 2006, 95) in die offen, wie Reinhardt sich mit seinem übersteigerten
Analyse literarischer Gender-Repräsentationen ein- Anspruch auf männliche Vorherrschaft überfordert.
bezieht, müsste diese Setzung jedoch genauer über- Anstatt sich aber mit seinem Versagen auseinander-
prüft werden. Gerade Storms literarische Texte entfal- zusetzen, weicht der junge Mann auf eine spezifische
ten die Möglichkeiten und Grenzen ›weiblicher‹ Se- Form von ›Kunst‹ aus, in deren Traumwirklichkeiten er
xualität und Identität – beide Kategorien durchaus als absolute Souveränität bewahrt. Das bevorzugte Objekt
Effekte diskursiver, performativer Praktiken verstan- einer solchen poetischen Überformung der Realität
den – auf breitem Raum, so dass das Gewicht der ist seine Kindheitsfreundin, die er in dilettantischen
›weiblichen Stimme‹ (Roebling 1993) vor dem Hinter- Versen zur bedrohten »weiße[n] Taube« und naiv-pas-
grund des aktuellen Forschungsstands neu zu verhan- siven »Waldeskönigin« (299, 304) stilisiert und noch
deln wäre. Neben der Kombination mit weiteren Zu- als verheiratete Frau auf das rein äußerlich bleibende
gangsmöglichkeiten aus den Bereichen beispielsweise (Erinnerungs-)Bild der »weiße[n], mädchenhafte[n]
der Postcolonial Studies, der Queer Studies oder der Frauengestalt« (317) festzulegen sucht. Da die von
Alteritäts- und Intertextualitätsforschung, die noch zu Reinhardt zur kindlichen Muse degradierte Elisabeth
leisten oder zu intensivieren wäre, stellt überdies eine (Belgardt 1969, 78 ff.; Börner 2009, 83) aber mehr und
gendertheoretisch orientierte Untersuchung, die das mehr eine eigenständige Persönlichkeit entwickelt und
Gesamtwerk in allen seinen Phasen abdeckt, immer die weiblichen Rollenanforderungen als Ehefrau und
noch ein Forschungsdesiderat dar. Im Folgenden sol- Mutter erfüllen muss, kann und will sie den Projektio-
len zumindest einige wesentliche Tendenzen und nen ihres Freundes letztlich nicht mehr entsprechen.
Schwerpunktbildungen der Repräsentationen von sex Immensee führt vor, dass die von Reinhardt vertre-
und gender in Storms Werk anhand besonders präg- tene Kunstauffassung und Lebensweise, von der sich
nanter Erzähltextbeispiele skizziert werden. der Text auf vielfältige Weise ironisch distanziert (vgl.
Sammern-Frankenegg 1976, 101–109; Pastor 1988,
58 f.), gerade keine Alternative zur bürgerlichen Norm
Frühe Erzählungen: Scheiternde
darstellt, sondern sie auf ästhetischer Ebene noch be-
Paarbeziehungen – scheiternde Kunst
stärkt. Reinhardts Versuch, sich durch die ›Stillstel-
Die Novelle Immensee (1849), die in der überarbeite- lung‹ der Frau im Bild aus familiären Zwängen zu be-
ten Fassung von 1851 Storms Ruhm als Dichter be- freien, leugnet die eigenständige Persönlichkeit des
gründete und von ihm noch im Alter sehr geschätzt weiblichen Gegenübers. Dass sich solche Projektionen
wurde, kann als paradigmatisch für seine frühe Aus- nicht nur zerstörerisch auf die ›Andere‹ auswirken (LL
einandersetzung mit Repräsentationen von Geschlecht 1, 327), sondern sich auch gegen das männliche ›Eige-
gelten. In ihr wird die Schwerpunktsetzung der frühen ne‹ kehren, gestaltet Storm in der Seerosenepisode,
Husumer Jahre, die Reflexion über die Bedingungen die auf berühmte Intertexte wie Novalis’ Heinrich von
und das Misslingen geschlechtlicher und künstleri- Ofterdingen verweist und sie zerschreibt. Soziokul-
scher Entwicklungen, sicherlich am kunstvollsten nar- turell vertieft wird der Konflikt zudem durch die deut-
rativ inszeniert. Darüber hinaus weisen viele Leitmoti- lichen Korrespondenzen und Kontraste auf der Figu-
ve, Muster und Bilder sowie der hohe Stellenwert, der renebene. So dient das »Zithermädchen mit feinen zi-
der Geschlechtsidentität im individuellen und kul- geunerhaften Zügen« (304 f.) als Gegen- und Komple-
turellen Zusammenhang insgesamt zugesprochen mentärfigur Elisabeths: Beide zusammen – in Eduard
wird, bereits auf sein späteres Werk voraus. Mörikes Maler Nolten heißt bezeichnenderweise die
Die scheiternde Beziehung zwischen Reinhardt und exkludierte ›Zigeunerin‹ Elisabeth! – verweisen auf
92 Figurenkonstellationen II: Storms Poetik der Geschlechter 339

die fatale Aufspaltung der Frau im bürgerlichen Ge- tischen Diskurs unterstützender Künstler das letzte
schlechterdiskurs in dichotome Muster wie die der Wort in der Erzählung erhält und nicht etwa sein ein-
femme fragile und der femme fatale. Die bürgerlichen fühlsamer, liebevoller Kamerad, der in der Literatur
Semantisierungen von Geschlecht werden somit be- des Freundes den Mangel an Lebensnähe erkennt,
reits in Immensee innovativ beleuchtet: Das neue mut- spricht für die Wirkungsmacht, die Storm dieser zeit-
terzentrierte Familienideal rückt als zentrale Instanz genössischen Kunstrichtung im Unterschied zu einer
der kulturellen Tradierung patriarchaler Ordnungs- den ›Realitäten‹ verpflichteten Poesie einräumt. Zu-
vorstellungen ebenso in den Fokus wie eine Kunstauf- gleich wird hiermit aber auch eine Grenze des eigenen
fassung, die in nachromantisch-idyllisierender Ma- frühen Schreibens berührt, nämlich der Rückgriff auf
nier die wirklichen sozialen Machtverhältnisse sys- idyllisch anmutende Stimmungsbilder. Das Dilemma,
temstabilisierend ignoriert oder verfälscht. die zeitgenössischen dichotomischen Setzungen von
Eine autoreflexive Dimension besitzt auch die »pa- Mann/Frau, Kultur/Natur, Öffentlichkeit/Privatheit,
triotische Schleswig-Holstein-Novelle« Ein grünes Heimat/Fremde immer erst suggestiv beschwören zu
Blatt von 1854 (Pastor 1988, 34). Hier steht wiederum müssen, um sie desavouieren zu können, scheint
ein junger Dichter, der in der Rahmenhandlung als Storm jedenfalls durchaus bewusst gewesen zu sein.
Soldat gezeigt wird, mit seiner dilettantischen Kunst
im Mittelpunkt (vgl. LL 1, 333). Die Binnengeschichte
Mittlere Novellistik I: Diverse Differenz-
bietet ein solches »Blatt« Gabriels, in dem sich zahllo-
erfahrungen
se Versatzstücke romantischer Märchen zu einem se-
xual- und nationalsymbolisch aufgeladenen Potpour- Während die Thematisierung von Geschlecht in den
ri zusammensetzen und die im Naturbereich angesie- frühen Texten vornehmlich im Rahmen autopoeti-
delte Frauenfigur Regine als (Ver-)Führerin (vgl. Stein scher Überlegungen stattfindet, öffnet sich Storms Pro-
2005) fungiert. Am auffälligsten ist sicherlich die Ana- sa seit seinem Weggang aus Husum und dem Eintritt in
logisierung von Frau und Schlange, die sowohl auf die den preußischen Justizdienst deutlich ihrer soziokul-
biblische Verführung als auch auf Serpentina aus turellen Umwelt. Das Verhältnis der Geschlechter wird
E. T.A Hoffmanns Der goldne Topf anspielt. Vollkom- jetzt im Zusammenspiel diverser Differenzerfahrun-
men als ›Kunstzitat‹ erkennbar wird Regine schließ- gen in der bürgerlichen Gesellschaft beleuchtet, wobei
lich durch ihre der National-Allegorie Germania äh- weiterhin scheiternde, bisweilen aber auch gelingende
nelnde »Gestalt« (»blonde Zöpfe«, »kräftigen Baues«; Paarbeziehungen sowie die daran eng geknüpften
LL 1, 335). Storms Äußerung, ihm sei »Regine unter Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe von Män-
der Hand zu einem Art Genius der Heimat gewor- nern und Frauen im Mittelpunkt stehen. Diese ›realis-
den«, so dass die »ganze Konzeption etwas Zwitterhaf- tische Wendung‹ im Hinblick auf Gender lässt sich be-
tes« bekommen habe (LL 1, 1047), ist daher als ver- reits in Storms erster in Potsdam verfasster Erzählung
deckter Hinweis auf die Ironie des Textes zu verstehen. Im Sonnenschein (1854) beobachten. Die sommerliche
Auf ihre ›zwitterhafte‹ Weise deckt die Erzählung die Liebesbegegnung zwischen Fränzchen und Constantin
Muster der heteronormativen Heimat- und Ge- trägt bereits die Vorzeichen ihres frühen Endes in sich.
schlechterideologie der Jahrhundertmitte und ihre Indem sich die kluge, rechenbegabte junge Frau wie-
kriegerischen Konsequenzen auf (347). Patriotismus, derholt darauf beruft, eine »Kaufmannstochter« bzw.
Nationalismus und die damit einhergehende Aggres- ihres »Vaters Tochter« zu sein (LL 1, 351), benennt sie
sion nach außen werden als sozialpsychologische die patriarchale Ordnungsinstanz, gegen die sie letzt-
Kompensation eines ›unreifen‹ Verhältnisses der Ge- lich keine Chance hat. Die brutale Zwangsläufigkeit der
schlechter im Sinne einer gescheiterten gesamtgesell- gesellschaftlichen Normierung, der das Lebensglück
schaftlichen Entwicklung und Emanzipation aus- der beiden sich durch ihren Stand, ihren finanziellen
gestellt. Als äußerst zwiespältig erweist sich auch die Hintergrund und ihre Nationalität unterscheidenden
bereits von Storms Künstlerkollegen intensiv dis- Liebenden zum Opfer fällt, spiegelt sich naturmeta-
kutierte Schlusssequenz. Denn die Verteidigung des phorisch in der zerstörerischen »emsige[n] tierische[n]
Eigenen im Komplex Frau–Heimat–Vaterland scheint Tätigkeit« eines Ungeziefers in einer Blüte (353), die
sich zuletzt auch gegen sich selbst zu richten, und zwar Constantin nicht zu verhindern vermag. Genauer kon-
gegen die aktiv gewordene und damit das Phantasma turiert wird die Kritik an der väterlichen Allmacht im
nationalpatriotischer Männlichkeit gefährdende Frau. familiären Rückblick auf Fränzchens traurige Lebens-
Dass mit Gabriel ein unkritischer, den nationalroman- geschichte (vgl. 359). Gerade durch die intensive Aus-
340 IV Diskurse

gestaltung der Vergänglichkeitsthematik, von der so Im Unterschied dazu erzählt Im Schloß die gelin-
viele Liebesbeziehungen in Storms Prosa überschattet gende, letztlich mit privatem Glück belohnte Entwick-
sind, werden in Im Sonnenschein die jeweils herrschen- lungsgeschichte einer adligen jungen Frau – und zwar
den gesellschaftlichen Machtstrukturen darauf taxiert, vorrangig aus ihrer Perspektive. Das von Storm mehr-
ob sie Raum für zwischenmenschlich erfüllende Bezie- fach überarbeitete Werk gilt als Schlüsseltext für die
hungen bieten. Dass Fränzchens Großneffe Martin in mittlere Werkphase (Detering 2008, 33) sowie für sein
der ›neuen Zeit‹ seine ›fremde‹ Braut heiraten kann, er- Frauenbild und sein ›weibliches Erzählen‹ (Roebling
öffnet jedenfalls die Hoffnung auf eine neue, liberale 1993), da er sich mit dem Text selbst ausdrücklich
bürgerliche Gesellschaft, in der die personale Liebe ei- identifizierte (vgl. LL 1, 1117). Annas Emanzipation
ne Chance erhält. von den religiösen und gesellschaftlichen Zwängen ih-
Das »Problem des ungleichen sozialen und kulturel- rer adligen Herkunft entwickelt sich parallel zu ihrer
len Herkommens« (Fasold 1997, 101) und seine zu- nicht standesgemäßen Zuneigung zu dem aus bäuerli-
meist beziehungsverhindernden, teilweise sogar tödli- chem Milieu stammenden Hauslehrer und späteren
chen Auswirkungen bestimmen auch die Heiligenstäd- Professor Hinrich Arnold. In einer bewusst »kalku-
ter Novellistik (1856–1864), vornehmlich die Erzäh- lierte(n) Provokation« (Detering 2008, 34) spitzt der
lungen Auf dem Staatshof (1859), Im Schloß (1862), Auf Text den Bruch mit der weiblichen Geschlechterrolle
der Universität (1863) und Von Jenseit des Meeres zu, wenn die junge Frau die Frage, ob ihr verstorbener
(1865). In ihnen werden die Zusammenhänge zwi- Sohn das Kind ihres Geliebten gewesen sei, bedau-
schen geschlechtlicher Differenz und anderen Alteri- ernd verneint. Die umfassende soziokulturelle Grenz-
tätskonzepten ungleich komplexer verhandelt. In Auf überschreitung läuft somit auf eine ›Liebesemanzipa-
dem Staatshof und Auf der Universität finden die weib- tion‹ hinaus, die schließlich durch die glückende Ver-
lichen Figuren Anne Lene und Lore beide ihren Tod im einigung von Anna und Hinrich zur zukunftsoptimis-
Wasser, wodurch die ihre Identitätsentwicklung be- tischen Alternative erhoben wird. In der kunstvollen
stimmenden soziokulturellen Faktoren durch den ro- »Annäherung an die Person Annas« (Roebling 1993,
mantischen Mythos der ›Wasserfrau‹ ergänzend über- 59) formuliert Storm von einem dezidiert weiblichen
schrieben werden. In der neueren Forschung haben ge- Standpunkt aus die ihn zu Beginn der 1860er Jahre
rade diese beiden Texte vielschichtige Ausdeutungen umtreibenden Fragen nach individueller Befreiung
erfahren, in denen der Opferstatus und das gleichzeiti- vom ›Machtapparat‹ Kirche und Adel. Wie weit die
ge Gefahrenpotential der Frauenfiguren im Span- kritische Auseinandersetzung mit patriarchalen Auto-
nungsfeld von männlich-voyeuristischer Identitäts- ritätsmustern tatsächlich geht, ist aber aus genderzen-
sicherung, Stillstellung im Erinnerungsbild, ständisch- trierter Sicht noch nicht abschließend geklärt. Unbe-
sozialer und narzisstischer Prägung und sozioöko- stritten innovativ ist die intensive Darlegung der per-
nomischen Umbrüchen sehr unterschiedlich gewichtet sönlichen Problematik und der Entwicklung der Pro-
werden (vgl. Fasold 1999; Stein 2005; Küng 2015). tagonistin aus ihrer Perspektive. Überdies werden
Übergreifend fällt zudem auf, dass alle Texte dieser gleich zwei patriarchale Welterklärungsmuster – das
Phase insbesondere den Aktionsraum von Frauen un- ständisch-kirchliche Autoritätsdenken und der natur-
terschiedlicher sozialer Herkunft im Kontext von Ur- wissenschaftliche Alleinerklärungsanspruch – in ih-
sprungsfamilie und möglicher Partnerwahl verhan- ren menschenverachtenden Tendenzen entlarvt (vgl.
deln, mithin die gesellschaftliche Normierung von LL 1, 508), so dass allein der die Standes- und zeitwei-
Weiblichkeit deutlich in den Fokus rücken. Während se auch die Geschlechterrollengrenzen überschreiten-
die zur Repräsentation erzogene Patriziertochter van den Liebe die Aufgabe zukommt, der modernen Exis-
der Roden angesichts des unaufhörlichen finanziellen tenz Sinn zu verleihen. Hierbei wird die Professoren-
und sozialen Niedergangs die einzige Rettung in der ehefrau, die als Adlige eine deutlich größere räumlich-
Ehe mit einem sadistischen Adligen sieht, scheitert die soziale Bewegungsfreiheit besaß, jedoch auch klar auf
kleinbürgerliche Näherin Lore Beauregard an ihrer ihre bürgerliche Aufgabe verwiesen, dem männlichen
sozialen Grenzüberschreitung, die sie mit einem Kulturschaffenden ergänzend beizustehen.
»Raugraf« (LL 1, 567) zusammenführt. Der Tod der Ihr Glück in der Ehe findet auch Jenni in Von Jenseit
beiden Frauen im Naturelement Wasser, der auf den des Meeres, einer Erzählung, in der die Beziehung der
Verlust des identitätsstiftenden soziokulturellen Be- Geschlechter im Kontext zeitgenössischer Kolonial-
zugsrahmens folgt, symbolisiert somit ihre Aus- und ›Rasse‹-Diskurse verhandelt wird (s. Kap. III
löschung als Kulturwesen. D.44). Die aus einer illegitimen interkulturellen Bezie-
92 Figurenkonstellationen II: Storms Poetik der Geschlechter 341

hung stammende Kaufmannstochter wird sich im löschung‹ des allmächtig gewordenen, hässlich-dür-
Laufe ihrer im norddeutsch-bürgerlichen Umfeld ver- ren männlichen Prinzips jedoch durch den ›Natur-
brachten Jugend ihres kulturell-›rassischen‹ Anders- raum Frau‹ führt, ist als regressiv-naive »Sehnsucht
seins und der damit verbundenen Abwertung immer nach dem Weiblichen« getadelt worden (Bendel 2001,
deutlicher bewusst. Gegen den Willen ihres lieblo- 77), die in sexualsymbolisch aufgeladener, an die ger-
sen Vaters kehrt sie zu ihrer Mutter in die Karibik zu- manische Mythologie anknüpfender Metaphorik zeit-
rück, von deren ›Wesen‹, das den diskriminierenden genössischen biologistischen Geschlechtervorstellun-
zeitgenössischen Zuschreibungen an die sexualisierte gen zuarbeite. Marens Gang zur ›Fruchtbarkeitsgöt-
›schwarze Frau‹ bzw. ›Kreolin‹ durchaus entspricht, sie tin‹ Regentrude und ihre naturmetaphorisch ver-
herb enttäuscht wird. Alfred, ihr Freund aus Kinder- schlüsselte homoerotische Interaktion in der Tiefe
tagen, rettet Jenni jedoch aus der ›wilden Fremde‹, in- schildern jedoch vor allem eine ganzheitliche weibli-
dem er sie nach Europa in den bürgerlichen Hafen der che Initiations- und Selbstfindungsgeschichte (Con-
Ehe ›überführt‹. In jüngeren, aus Sicht der Postcolonial rad 2013, 61–63), die sich, zur Voraussetzung für ein
Studies argumentierenden Untersuchungen sind diese funktionierendes soziales Miteinander erhoben, zum
paternalistische, »konsequente Vereinnahmung Jennis bürgerlichen Mutterdiskurs durchaus quer stellt.
für die europäische Kultur« (Becker 2009, 188) sowie Um zeitgenössische Auffassungen von Mutter-
die rassistische Darstellung der Schwarzen bereits aus- schaft und Ehe im Kontext der bürgerlichen Kernfa-
giebig diskutiert und kritisiert worden (vgl. Weedon milie kreist auch Viola tricolor (1874). Die Novelle re-
1999; Pastor 1999; Tebben 2004). Dennoch ist gerade flektiert die Schwierigkeiten einer jungen Frau, sich
diese Novelle bezüglich der in ihr entwickelten Poetik als Stiefmutter in einen bereits bestehenden Familien-
geschlechtlicher und ethnisch-kultureller Alteritäts- verbund einzufügen, ebenso eindringlich wie die
erfahrungen vielschichtiger als vermutet. So kann man Traumatisierungen des verwitweten Ehemannes und
die »Vereinnahmung Jennis« im Zuge ihrer Erziehung des trauernden Stiefkindes (zur tiefenpsychologi-
in Europa als das eigentliche Thema des Textes be- schen Ausdeutung vgl. Downing 1991; Stein 2005).
trachten, der – auf erzähltechnisch subtile Weise – ihre Die familiale Ortlosigkeit von Ines, die sowohl durch
weibliche Sozialisation im norddeutschen Umfeld als den Erinnerungskult von Rudolf und Nesi als auch
immer bereits durch den exotistisch-›weißen Blick‹ durch ihre eigene Fixierung auf ein verengtes Frauen-
des Jugendfreundes und seiner Familie gesteuert vor- ideal (vgl. LL  2, 140) befördert wird, spiegelt sich
führt. Es ginge somit nicht allein um die Projektionen raumsymbolisch in dem versperrten, von ihrer Vor-
Alfreds (Börner 2009, 133), sondern vor allem auch gängerin besetzten »Garten der Vergangenheit« (163).
um die entfremdete Selbstwahrnehmung der stigmati- Bevor sich Ines diesen weiblichen Vermittlungsort
sierten Frau, um ihre »weiße Maske« (im Sinne Frantz zwischen privatem und öffentlichem Leben gemein-
Fanons) und um deren Konsequenzen wie die rigorose sam mit ihrer Familie erschließen kann, muss sie erst
Übernahme bürgerlich-ethnozentrischer Geschlech- unter Lebensgefahr ein eigenes Kind gebären. Das
ter- und Familienklischees. Spiel des Textes mit verschiedenen ideologisch auf-
Die ›Suche nach der Mutter‹ ist (nur) ein themati- geladenen Mutterbildern geht aber in diesem, dem ak-
scher Schwerpunkt, über den die Semantisierungen tuellen Naturalisierungsdiskurs folgenden Erklä-
von Geschlecht und die mit ihnen verbundenen rungsmuster von einer ›natürlichen‹ Mutterschaft
Handlungsspielräume von Männern und Frauen seit (vgl. Jackson 2000, 161) gerade nicht auf. Stattdessen
Mitte der 1860er Jahre nun verstärkt auch im Kontext wird vorgeführt, wie überkommene Repräsentationen
der Familie und damit generationenübergreifend aus- von Familie zwischenmenschliche Beziehungen so
gelotet werden. Hierfür stehen bereits die Märchen überformen können, dass reelle persönlich-emotio-
von 1862 – Bulemanns Haus, Die Regentrude und Der nale Bindungen verkannt und verhindert werden.
Spiegel des Cyprianus – ein, in denen asoziale Männer
und böse Stiefmütter ihrer gerechten Strafe zugeführt
Mittlere Novellistik II und Spätwerk: Familien-
werden. Die Dichotomien Mann/Frau, Ratio/Mythos,
konflikte – Krankheit – Gender Trouble
Erwerbs-/Bedarfswirtschaft, alt/jung etc. werden am
Ende der Regentrude in einer die vielfältigen Entfrem- Im »breite[n] Spektrum von Wirklichkeiten« (LL 2,
dungserfahrungen des Individuums in der Moderne 769), in denen sich die Geschlechterbeziehungen in
aufhebenden Gesellschaftsutopie miteinander ver- den Erzählungen der 1870er und 1880er Jahre bewe-
söhnt (Roebling 1985, 65). Dass der Weg zur ›Aus- gen, fallen die zahlreichen Ehe- und Familiendramen
342 IV Diskurse

auf, in denen Männern eine Schlüsselposition zu- (vgl. Reulecke 2013, 100) – als die eigentliche Krank-
kommt. Die Ehemänner, Liebhaber, Söhne, Väter oder heitsursache aufscheint (Wünsch 1992, 17). Im leiden-
Brüder arrangieren sich mit patriarchal-autoritären schaftlichen ›Liebeskampf‹ zwischen der Mutter und
Strukturen, kämpfen gegen sie an, zerbrechen an ih- der Ehefrau, die den Suizid ihres Mannes verhindern
nen oder verteidigen sie mit allen Mitteln. Persönli- will, von der eifersüchtigen Schwiegermutter aber auf-
che, soziale und institutionalisierte Machtverhältnisse gehalten wird, zeigt sich die existentielle Bedrohung
sowie die aus ihnen resultierende Gewalt treten in den durch eine solche egoistische Mütterlichkeit. Doch
Texten jetzt viel expliziter zu Tage und wenden sich Anna obsiegt und Rudolph hat sich durch sein briefli-
vermehrt auch gegen die Männer selbst. Dabei begeg- ches Bekenntnis aus der Mutter-Kind-Dyade befreit,
nen als neue Schwerpunkte bereits naturalistisch an- so dass die beiden – hierauf weist auch die Blutmeta-
mutende Milieustudien und Vater-Sohn- oder Brü- phorik hin – ihre Ehe nun endlich vollziehen können
der-Konflikte. Der Bauer Hinrich Fehse in Draußen (LL 3, 192).
im Heidedorf (1872) und der Zuchthäusler John Han- Aber Schweigen erschöpft sich nicht in der Drei-
sen in Ein Doppelgänger (1886) werden unter Kuratel ecksproblematik Sohn–Mutter–Ehefrau. Die »Schuld«,
gestellt und sozial ausgegrenzt – mit alptraumhaften die Storm in seinem Text thematisiert sah (LL 3, 828),
Folgen für sie und die von ihnen geliebten Frauen und trifft letztlich sämtliche Protagonist/inn/en, da sie die
Kinder. Innerfamiliäre Männerkonkurrenzen bestim- bürgerliche Geschlechterordnung und ihr ›Wissen‹
men die Erzählungen Carsten Curator (1878), Die über Männer, Frauen und Familie mit produzieren.
Söhne des Senators (1880) und Hans und Heinz Kirch Dies findet seinen Ausdruck in der umfassenden Be-
(1882). Überdies werden die Geschlechterverhältnisse obachtung des auffällig gewordenen Mannes auch
in den Chroniknovellen Renate (1878), Aquis submer- durch die zahlreichen Vaterfiguren – den Arzt, den
sus (1876), Eekenhof (1879), Zur Chronik von Grieshu- Schwiegervater, den Grafen und dessen Vater – (151),
us (1874) und Ein Fest auf Haderslevhuus (1885) jetzt die die Männlichkeit des ›Muttersohns‹ stets in Frage
auch in ihren historischen Dimensionen und epo- stellen (143). So zweifelt Rudolf schließlich selbst mehr
chenübergreifend erhellt. und mehr an seiner ›Normalität‹ und erhebt stattdes-
Statt der eben genannten Schwerpunkte soll eine sen »jenes Andere, was er nicht zu denken wagte«
weitere auffällige Diskursverknüpfung ausführlicher (155), zu seinem Wesenskern. Schweigen legt somit of-
erörtert werden: die Zusammenführung von Ge- fen, wie gerade die Kategorie Geschlecht in der Moder-
schlecht und Krankheit. Damit beteiligen sich Storms ne »als besonders dichter Durchgangspunkt von
Alterserzählungen an den Hysterie- und Neurasthe- Machtbeziehungen« (Foucault 1983, 125) fungiert und
nie-Diskursen der Gründerzeit. Während in Ein Be- zum alles überragenden Sinnzentrum erhoben wird.
kenntnis (1887) der Arzt Franz Jebe seine an Gebär- Durch Institutionen wie Medizin, Psychiatrie, Beruf,
mutterkrebs erkrankte Frau Else vorschnell auf Verlan- Ehe und Familie werden Männlich- und Weiblichkei-
gen tötet und somit ›weibliche Krankheit‹ und ›männ- ten sowie die Beziehungen der Geschlechter panop-
liche Schuld‹ kombiniert werden (Jackson 2001; Küng tisch überwacht und so eingehend reguliert, dass ein
2015), zeigt die »psycholog<ische> Novelle« Schweigen der Abweichung Verdächtigter »es« (LL 3, 146) stets
(1883; LL 3, 826) einen von einem »schweren Nerven- umfassend beichten muss, um weiterleben zu dürfen.
übel« genesenen Protagonisten (LL 3, 144), für den es Die väterliche Sanktionierung des Eheglücks von Ru-
zunehmend zum Problem wird, seiner Ehefrau seine dolph und Anna am Ende der Novelle macht noch ein-
Krankheitsgeschichte verheimlicht zu haben. Der Text mal deutlich, welchen Preis die Inklusion in die bür-
zielt von Beginn an auf die bürgerlichen Geschlechter- gerliche Geschlechterordnung fordert: die Ausgren-
rollen ab, wird doch Rudolph von ärztlicher Seite zur zung und Pathologisierung alternativer Lebensent-
vollkommenen Heilung ein »deutsche[s] Hausfrau- würfe wie desjenigen des als »Walzerkomponisten«
chen« (133) verordnet, das ihm seine Mutter, Frau von diffamierten Vaters von Rudolph (197).
Schlitz, in Gestalt der fürsorglichen Pfarrerstochter Der Schimmelreiter stellt schließlich auch im Hin-
Anna zuführt. Das von der Mutter empfohlene Ver- blick auf die Semantisierung von Geschlecht den Hö-
schweigen der eigenen Vergangenheit (145) erzeugt hepunkt von Storms Prosa dar. Im Mittelpunkt seiner
bei Rudolph wachsende Schuldgefühle. Zugleich bleibt letzten Erzählung stehen eine außergewöhnliche
durch ihr gemeinsames Geheimnis die Mutter in sei- männliche Karriere im Übergang zur aufgeklärten,
ner Ehe immer präsent, so dass Rudolphs nicht voll- technisierten und fortschrittsorientierten bürger-
zogene Ablösung von ihr – hinter anderen Gründen lichen Gesellschaft sowie ihre komplizierte Überliefe-
92 Figurenkonstellationen II: Storms Poetik der Geschlechter 343

rungsgeschichte. Die mehrfach gestaffelten Erzähl- würdig: Während der Protagonist dem »Hauke-Hai-
ebenen verlängern das in der Sattelzeit – und somit in endeich« (LL 3, 752) alles unterordnet, durchstößt ihn
der Phase der Etablierung der bürgerlichen Ge- der Text auf vielfache Weise – gerade um dem ›ande-
schlechterdichotomie – angesiedelte Geschehen um ren Geschlecht‹ Raum verschaffen zu können.
Hauke Haien über die Restaurationsepoche hinaus bis
in die gründerzeitliche Erzählgegenwart des äußers- Literatur
ten Rahmenerzählers. Dadurch wird der Blick auf die Becker, Frank: Globalhistorische Perspektiven im fächer-
historische Formierung und Weiterentwicklung, aber übergreifenden Geschichtsunterricht: Das Problem des
interkulturellen Verstehens in Theodor Storms Novelle
zugleich auch auf die lückenhafte Tradierung des »Von Jenseit des Meeres«. In: Olga Iljassova-Morger/Elke
›Wissens‹ um männliche Größe gelenkt, das sich im Reinhardt-Becker (Hg.): Literatur – Kultur – Verstehen.
Spannungsfeld zwischen der Verehrung für den ge- Neue Perspektiven in der interkulturellen Literaturwissen-
nialen Kulturschaffenden und der ängstlichen Ver- schaft. Duisburg 2009, 177–189.
dammung des die dörflich-ständischen Traditionen Belgardt, Raimund: Dichtertum als Existenzproblem. Zur
Deutung von Storms »Immensee«. In: STSG 18 (1969),
sprengenden Machtmenschen bewegt, aber auch den
77–88.
liebevollen Ehemann und Vater einbezieht. Wie von Bendel, Sylvia: Hochzeit der Gegensätze oder Suche nach
der neueren Forschung detailliert herausgearbeitet dem Weiblichen? Wasser und Feuerimaginationen in
wurde, spielen Repräsentationen von Geschlecht auf Theodor Storms »Regentrude«. In: STSG 50 (2001), 65–79.
allen Ebenen der Novelle eine entscheidende Rolle: in Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkind. Die Kind-
der Figurenkonstellation (Hauke – Elke – Wienke, Va- frau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.
Conrad, Maren: Das realistische Märchen – ein Oxymoron?
terfiguren – Trien Jans), in den räumlichen Dimensio-
»Die Regentrude« als experimenteller Text an den Gren-
nen mit ihren Geschlechtercodierungen, in der erzäh- zen des Realismus. In: STSG 62 (2013), 53–69.
lerischen Vermittlung und Rezeption (die Erzählkon- Detering, Heinrich: »Im Schloß«. Zweideutige Wirklichkei-
kurrenz zwischen dem ›aufgeklärten‹ Schulmeister ten. In: Christoph Deupmann (Hg.): Interpretationen.
und der abergläubischen Version von Antje Vollmers, Theodor Storm. Novellen. Stuttgart 2008, 33–47.
die Rezeption in der Männergesellschaft in der Dorf- Downing, Eric: Repetition and Realism: the ›Ligeia‹ impulse
in Theodor Storm’s »Viola tricolor«. In: Deutsche Viertel-
schenke bzw. unter der behütenden Aufsicht der jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
Großmutter) sowie bei den intertextuellen Bezügen 65 (1991), 265–303.
(etwa in der Wasserfrauengeschichte). Als communis Fasold, Regina: Narzißmus und Formdrang in Theodor
opinio kann deshalb gelten, dass Hauke Haiens Le- Storms Novelle »Auf dem Staatshof« (1859). In: David A.
bensgeschichte und die Frage ihrer Tradierung von ei- Jackson/Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm – Erzählstra-
tegien und Patriarchat. Lewiston, N. Y. 1999, 23–47.
ner facettenreichen Problematisierung der Zuschrei-
Fasold, Regina/Stein, Malte: Das Rätsel der »Kindsbraut« in
bungen von Geschlechterrollen in der modernen Ge- der Novellistik Theodor Storms. Überblick über den ak-
sellschaft begleitet wird. Die patriarchatskritische tuellen Forschungsstand. In: Malte Stein/Regina Fasold/
Stoßrichtung der Novelle ist jedoch recht unterschied- Heinrich Detering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das
lich aufgefasst worden. Laut Roebling führt der Text Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus.
eine umfassende Ausgrenzung des Kreatürlich-Weib- Berlin 2010, 37–45.
Fassbind-Eigenheer, Ruth: Undine, oder Die nasse Grenze
lichen aus der männlichen Kultur als »Verarmung und zwischen mir und mir. Ursprung und literarische Bearbei-
gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklung« vor, der er tungen eines Wasserfrauenmythos. Von Paracelsus über
erinnernd entgegenzuwirken versucht (Roebling Friedrich de la Motte Fouqué zu Ingeborg Bachmann. Stutt-
2000, 214); Forssell stellt Anzeichen von »Instabilität« gart 1994, 108–123.
bei der vermeintlich »›festen‹ hegemonialen Männ- Forssell, Louise: »es ist nicht gut, so ganz allein zu sein ...«.
Männlichkeiten und Geschlechterbeziehungen in Theodor
lichkeit« der Hauptfigur fest, womit die Erzählung den
Storms später Novellistik. Stockholm 2006.
»herrischen Heldentypus« verabschiede (Forssell Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und
2006, 179, 230), und für Stein ist die Ehe des Deichgra- Wahrheit, Bd. 1, übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter.
fen durch die mit dem großen Bauprojekt voran- Frankfurt a. M. 1983.
schreitenden gewaltsamen Domestizierungsbemü- Frey Steffen, Therese: Gender. Leipzig 2006.
hungen geprägt, so dass »die Faktoren« beleuchtet Gymnich, Marion: Konzepte literarischer Figuren und Figu-
rencharakterisierung. In: Vera Nünning/Ansgar Nünning
würden, »die aufklärerisches Denken und Fortschritt
(Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart/
destruktiv werden lassen« (Stein 2005, 253). Letztlich Weimar 2004, 122–143.
erweisen sich jedenfalls beide Großerzählungen von Jackson, David A.: Von Müttern, Mamas, Marien und Ma-
männlicher Einmaligkeit als unzureichend und frag- donnen. »Viola tricolor«, eine Novelle aus patriarcha-
344 IV Diskurse

lischer Zeit. In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/Eckart turgeheimnis«. Die Thematisierung von Natur, Aberglau-
Pastor (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für K. E. Laage. ben und Weiblichkeit in Storms Novelle »Der Schimmel-
Würzburg 2000, 151–162. reiter«. In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/Eckart Pas-
Jackson, David A.: »Ein Bekenntnis« – Theodor Storms frau- tor (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für K. E. Laage. Würz-
enfreundliche Abrechnung mit einem mörderischen ro- burg 2000, 183–214.
mantischen Liebesideal. In: STSG 50 (2001), 37–63. Roebling, Irmgard: Wasserfrauen zwischen Fließen und
Kugler, Stefani: »Meine Mutter hat’s gewollt«. Weiblichkeit Festschreibung. Storms Darstellung von Geschlechterver-
und männliche Identität in Theodor Storms »Immensee«. hältnissen in Erzählprozessen am Beispiel seiner Novelle
In: Ulrich Kittstein/Stefani Kugler (Hg.): Poetische Ord- »Psyche«. In: Dies.: Theodor Storms ästhetische Heimat.
nungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würz- Studien zur Lyrik und zum Erzählwerk Storms. Würzburg
burg 2007, 201–231. 2012, 275–309.
Küng, Peter: Die Krise der liberalen Anthropologie in der Li- Sammern-Frankenegg, Fritz Rüdiger: Perspektivische Struk-
teratur des bürgerlichen Realismus. Männlichkeit, Bürger- turen einer Erinnerungsdichtung. Studien zur Deutung von
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Fontane und Paul Heyse. Würzburg 2015. Schmitz-Emans, Monika: Wasserfrauen und Elementargeis-
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93 Storms Medien 345

93 Storms Medien »Aquis submersus« oder: Malerei als Wiederkehr


Ein Beitrag zu »Storms Medien« sieht sich vor eine Oft, wenn ich die Palette hingelegt, stand ich noch lan-
methodologische Ausgangsfrage gestellt: Will man die ge vor den schönen Bildern. Katharinens Antlitz fand
»mediengeschichtlichen Prägungen der Stormschen ich in dem der beiden Eltern wieder [...]; wo aber war
Werke« (Segeberg 1999, 10) im Kontext der Medien- hier der harte Mundwinkel, das kleine Auge des Junker
techniken des 19. Jahrhunderts betrachten oder lässt Wolf? – Das mußte tiefer aus der Vergangenheit he-
sich aus den vielfältigen Bezugnahmen von Storms li- raufgekommen sein! Langsam ging ich die Reih’ der äl-
terarischen Darstellungsverfahren auf Malerei, Photo- teren Bildnisse entlang, bis über hundert Jahre weit hi-
graphie, Chroniken, Zeitschriften etc. ein spezifischer nab. Und siehe, da hing im schwarzen, von den Wür-
Medienbegriff – bzw. Aspekte eines solchen – gewin- mern schon zerfressenen Holzrahmen ein Bild [...]. Es
nen? Während der Band Theodor Storm und die Medi- stellete eine Edelfrau von etwa vierzig Jahren vor; die
en. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realisten kleinen grauen Augen sahen kalt und stechend aus
(Eversberg/Segeberg 1999) den ersten Weg beschreitet dem harten Antlitz [...]. »Hier, diese ist’s! [...] Ein saecu-
und Storms Werke zum einen in die Mediengeschichte lum und drüber rinnt es heimlich wie unter einer De-
der bürgerlich-realistischen Literatur des 19. Jahrhun- cke im Blute der Geschlechter fort; dann, längst ver-
derts ›einfügt‹ (ebd., 10), zum anderen ihre Wirkungs- gessen, taucht es plötzlich wieder auf, den Lebenden
geschichte in den Medien des 20. Jahrhunderts – etwa zum Unheil.« (LL 2, 402)
in filmischen Adaptationen – nachzeichnet (s. Kap.
V.97), verfolgt der vorliegende Beitrag den anderen In einer Rhetorik des aquis submersus – dem Versin-
Weg und fragt nach dem spezifischen Einsatz der Me- ken, ›Fortrinnen‹ und plötzlichen ›Heraufkommen‹
dien in Storms Poetologie und dessen Konsequenzen aus tiefer Vergangenheit – formuliert diese Passage die
für die Epistemologie von Storms Realismus. Welche strukturelle Dynamik der Novelle: Aquis submersus ist
Inszenierung und Transformation erfahren etwa vi- im selben Zuge eine Erzählung über das Versinken im
suelle Medien in der Stormschen Darstellung? Welche Wasser wie über das Wiederauftauchen einer anderen
medialen Bruchstellen und Dynamiken treten dabei Zeit. Wie die Geschichte zeigt, gibt es keinen Schutz
hervor – bzw. werden allererst kreiert – und welche vor dieser Heimsuchung der »Lebenden« durch das
spezifische – unheimliche – Notation von Medium be- Wiederaufsteigen eines unvordenklich Vergangenen
fördert »Storms Welt« (Lukács 1971, 95) damit, ja, ist (»die alte Zeit stieg auf«, 452). Die Ahnengalerie er-
es, welche sie auszeichnet? weist sich als prekärer Ort dieser Heimsuchung.
Ob im Geschichtenerzählen am Kamin oder in an- Verschiedene Aspekte an Storms Einsatz des Medi-
derer Runde, in den Chroniken oder zahllosen Ge- ums Malerei fallen ins Auge. Zum Ersten: Malerei wird
mälden – die vielfältigen Bezüge von Storms Texten zum Träger einer spezifischen Zeitlichkeit: von Latenz
auf Formen mündlicher und schriftlicher Überliefe- und Wiederkehr. Der wurmstichige Rahmen erscheint
rung, Zeitschriftenformate, Malerei sowie Photogra- als Emblem dieser heterochronen Zeitlichkeit und
phie sind augenfällig. Dass sich Storms Medien in die- man könnte in dieser Hinsicht sagen, dass alle Rahmen
ser Aufzählung nicht erschöpfen, sondern einer ande- bei Storm – bildnerische wie erzählerische – ›wurmsti-
ren Medialität des Realismus stattgeben, soll im Fol- chig‹ sind. Zum Zweiten: Der Text inszeniert Malerei
genden anhand von vier exemplarischen Analysen nicht in Bezug auf eine wie auch immer geartete Ab-
gezeigt werden. Das Augenmerk liegt dabei jeweils auf bildfunktion, sondern stattet sie mit einer spezifischen
der spezifischen Inszenierung/Transformation me- Handlungskraft (agency) aus: Die Performanz des Bil-
dialer Anordnungen: der Malerei in Aquis submersus, des macht sich als Blick geltend. Es ist der stechende
dem Medium Schrift und der Rahmentechnik in Blick der Edelfrau, der einem Fluch gleich die Leben-
Storms Chroniknovellen, auf der Inszenierung von den heimsucht und sich über die ganze Novelle ver-
Wahrnehmung als Medium im Schimmelreiter sowie streut wiederfindet – im Auge des Junkers Wulf ebenso
den unheimlichen medialen Ereignissen im Neuen wie in den Augen des toten Knaben. Storms Novelle
Gespensterbuch. Hiervon ausgehend soll abschließend stellt das gesamte Erzählgeschehen in die Funktion des
nach der Epistemologie von Storms spektralen Medi- Blicks ein. Der Akt des Malens wie der des Lesens voll-
en gefragt werden. ziehen sich unter der Präsenz von Blicken: Während
der Rahmenerzähler ausdrücklich darum bittet, das
Manuskript in Anwesenheit des Ölgemäldes, welches

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_93, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
346 IV Diskurse

den toten Knaben mit Wasserlilie zeigt, zu lesen, Pinsel führt. Von einem intentionalen Subjekt kann bei
kommt es Johannes erst spät zu Bewusstsein, dass die Storms Inszenierung des Malens nicht die Rede sein.
Blicke der Urahnin während der gesamten Dauer des Der Maler erscheint »gleich einer Maschine, wodurch
Malens auf ihm und Katharina liegen: ein Bild sich auf die Leinwand malete« (406). Unter
den Pinselbewegungen der knöchernen Hand er-
Da, unter dem Malen, fiel mein Auge auch auf jenes al- scheint ein Anderes im Bild: In das Bild des Lazarus
te Frauenbildniß, das mir zur Seite hing und aus den schleichen sich die Züge des toten Gerhardus ein:
weißen Schleiertüchern die stechend grauen Augen »Und also rückwärts sinnend, setzete ich meinen
auf mich gerichtet hielt. [...] »Diese Augen haben hier Pinsel wieder an; als aber selbiger eine gute Weile hin
all die Tage auf uns hingesehen.« (407) und wider gegangen, mußte ich zu eigener Verwun-
derung gewahren, daß ich die Züge des edlen Herrn
Dabei ist auch für den Blick die zeitliche Dimension Gerhardus in des Lazari Antlitz hineingetragen hatte.
wesentlich. Es sind Blicke aus tiefster Vergangenheit, Aus seinem Lailach blickte des Todten Antlitz gleich-
ja, der Blick ist der einer »längst vergangenen Zeit« wie in stummer Klage gegen mich« (433).
selbst. So heißt es gleich zu Beginn von Aquis submer- Im unheimlichen Akt des Malens transformiert
sus über die »wunderbaren Dinge[]« (380) »oder wohl sich die Auferstehung des Lazarus in die Wiederkehr
gar unheimlichen Dinge[]« (381) in der Dorfkirche – des toten Gerhardus; Malerei ist Medium nicht des Le-
unter ihnen das Bildnis des toten Knaben mit der benden, sondern des Untoten. Wäre es – weiter gefragt
Wasserlilie in der Hand, daneben dasjenige eines – das Untote, welches bei Storm als Medium fungiert?
»finsteren schwarzbärtigen Mannes in Priesterkragen So flüchtig wie Geste und Sujet des Malens ist auch
und Sammar« (381) –, dass aus ihnen »eine längst ver- das Produkt. Mit dem Tod als Maler ist das Gemälde
gangene Zeit [...] zu uns Lebenden aufblickte« (380 f.). dem Verschwinden anheimgegeben: »Des großen La-
Malerei wird zum Statthalter einer unvordenklichen, zarusbildes tut zwar noch die Chronik unserer Stadt
einer anderen Zeit. Mit dem Blick der anderen Zeit löst Erwähnung, das Bild selbst aber ist zu Anfang dieses
Storm den Blick von jeglichem Subjekt ab, spektrali- Jahrhunderts nach dem Abbruch unserer alten Kirche
siert ihn zu einem nicht-menschlichen, seriellen, wie- gleich den anderen Kunstschätzen derselben ver-
dergängernden Blick/Zug, der einzelnen Subjekten le- schleudert und verschwunden. Aquis submersus«
diglich anhängt, um wieder zu verschwinden und (455). Storms Medium ist eines des Verschwindens –
nach einer Latenz erneut aufzutauchen. Über diese aquis submersus –; wenn es auftaucht, so einzig als
spezifische Inszenierung von Malerei und Blick ver- Wiedergänger.
schiebt sich die Konnotation von Medium hin zur
Kraft von Transmission – eine serielle Dynamik, Dy-
Heterochrone Chroniken: Schrift des Ver-
namik der Wiederkehr/des Wiedergängerns, welche
schwindens, Rahmen als Zeit-Sprung
die Novelle vorantreibt.
Impliziert bereits die Dynamik der Wiederkehr ei- Aquis submersus (1876) ist die erste von fünf Chronik-
nen Bezug zwischen Medium und Tod bzw. Untotem, novellen – ein nicht nur bei Storm, sondern allgemein
so ist dieser – dies die dritte Auffälligkeit von Storms im Realismus beliebtes Genre –, welche Storm gemein-
Inszenierung von Malerei/Zeichnung – in der Novelle sam mit Renate (1878), Eekenhof (1879), Zur Chronik
zudem dezidiert gestaltet. Malen/Zeichnen erfolgt im von Grieshuus (1884) und Ein Fest auf Haderslevhuus
Angesicht des Todes: sei es anlässlich des aufgebahrten (1885) 1886 in dem Band Vor Zeiten (Berlin: Paetel)
Herrn Gerhardus (395) oder des toten Knaben (»dann herausgibt. In einem Brief an Gottfried Keller vom
malte ich, – rasch, wie man die Todten malen muß, die 12.1.1887 spricht Storm diesbezüglich von seinen
nicht zum zweiten Mal dasselbig’ Antlitz zeigen«, 451). »vorzeitlichen Novellen« (Storm–Keller, 131). Neben
Mit dem Tod wählt Storms Malerei ein unmögliches einer komplexen Zeitlichkeit sind es Medien der Über-
Sujet; eines das – infolge der durch den Tod erwirkten lieferung, welche Storms Chroniknovellen inszenie-
permanenten Veränderung – nicht auf die Leinwand ren. Wie schon Therese Rockenbach gezeigt hat, lassen
zu bannen ist. Angesichts der Vergänglichkeit des To- sich bei Storm insbesondere zwei Formen von Chro-
ten wird Malen zur »raschen«, flüchtigen Geste. Nicht niknovellen finden: diejenigen, welche »angeblich alte,
aber nur erscheint der Tod als unmögliches Setting vergilbte, in der verschnörkelten Schrift vergangener
und Sujet des Malens; es scheint sogar, als wäre es die Zeiten geschriebene Manuskripte« (Rockenbach 1916,
»knöcherne Hand des Todes« (450) selbst, welche den 8) enthalten (z. B. Aquis submersus und Renate) sowie
93 Storms Medien 347

andere, in denen der Erzähler »im Ton und Stil eines Die Worte mochten für jugendliche Worte wohl nicht
Chronisten die Ereignisse« (ebd.) erzählt, etwa in Ee- sichtbar sein; denn ich hatte sie nie bemerkt, so oft ich
kenhof und Ein Fest auf Haderslevhuus. Die Novelle auch in meiner Schulzeit mir einen Heißewecken bei
Zur Chronik von Grieshuus, in welcher der Erzähler dem dort wohnenden Bäcker geholt hatte. Fast unwill-
selbst als Chronist auftritt, kombiniert beide Tech- kürlich trat ich in das Haus. (LL 2, 384)
niken. Weder allerdings – so soll im Folgenden gezeigt
werden – garantieren die in Storms Chroniknovellen Die Schrift, welche den Erzähler ins Haus führt, findet
inszenierten Medien (allen voran die Schrift) Überlie- sich im Haus wieder, genauer: als Titel bzw. Anfang
ferung, noch die Chroniken oder der als Erzähler auf- des zweiten Manuskriptheftes, der – in leicht unsiche-
tretende Chronist eine lineare Zeitlichkeit. ren Schriftzügen – den Leser/die Leserin in die Bin-
Von den zufällig gefundenen Blättern (»stark ver- nenerzählung zurückführt:
gilbte Papierblätter mit sehr alten Schriftzügen«; LL 2,
385) verspricht sich der Erzähler von Aquis submersus Sinnend nahm ich das zweite und zugleich letzte Heft,
Aufschluß über das Bild mit der so rätselhaften In- dessen Schriftzüge um ein Weniges unsicherer er-
schrift (C. P. A. S.), welches ihn seit seiner Kindheit schienen. Es lautete wie folgt:
heimsucht. In leidenschaftlicher Suche nach dem Ar-
chiv, so ließe sich wohl sagen, versenkt er sich in die Geliek as Rook un Stoof verswindt,
Lektüre des Manuskripts (»Ich aber las und hatte im Also sind ock de Minschenkind. (LL 2, 431)
Lesen bald Alles um mich her vergessen«, 386). Ob-
gleich es scheint, als liefere das Manuskript die Auf- Rahmenübergreifend begegnet die Inschrift gleich
lösung der Inschrift des Bildes, nämlich, dass der Kna- zweifach in der Novelle und dabei stets an einem
be durch die Schuld des Vaters zu Tode gekommen sei Schwellenort: über der Tür des Hauses wie als Titel des
(»culpa patris aquis submersus«), steht diese Deutung Manuskripts. Keine einfache Ursprungsgeschichte ist
doch quer zu der von der Novelle entfalteten Dynamik es denn auch, welche Johannes’ Manuskript über die
des aquis submersus, welche jedwede ursächliche Bün- Inschrift des Hauses erzählt: Aus Trümmern gebor-
delung des Geschehens in einem Subjekt – hier der gen, wurde sie wieder eingemauert.
Schuld des Vaters – zugunsten eines seriellen Wieder-
gängers suspendiert. Und in der Tat wartet der Text Der Stein, darauf diese Worte eingehauen stehen, saß
mit einer Inszenierung von Schrift auf, die diese als ein ob dem Thürsims eines alten Hauses. Wenn ich daran
Medium ganz im Sinne des aquis submersus ausweist. vorbeiging, mußte ich allezeit meine Augen dahin
So ist schon die Inschrift des Bildes keineswegs eine wenden [...]. Da sie im letzten Herbste das alte Haus
stabile Angelegenheit und ihre Anwesenheit alles an- abbrachen, habe ich aus den Trümmern diesen Stein
dere als garantiert. Sie tritt einzig nachträglich in den erstanden, und ist er heute gleicherweise ob der Thüre
Blick: »Veranlassung zu solcher Nachdenklichkeit meines Hauses eingemauert worden (LL 2, 431).
mochte geben, daß ich am Nachmittage, wo wir auf
meinen Antrieb wieder einmal die Kirche besucht hat- Die (In)Schrift handelt nicht allein vom Verschwin-
ten, unten in einer dunklen Ecke des Bildes vier mit den (»Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt, /
roter Farbe geschriebene Buchstaben entdeckt hatte, Also sind auch die Menschenkind’«), sie hat auch ihre
die mir bis jetzt entgangen waren« (382). Und auch die Herkunft im Verschwinden: im Abbruch des Hauses,
Inschrift des Hauses, in welchem sich das Manuskript in den Trümmern. Den Entzug des Ursprungs und
findet, fällt dem Erzähler erst Jahre später auf und mithin »verwaisten« Status der Schrift (vgl. Derrida
schürt derart Zweifel an ihrer medialen Präsenz: 1988, 299), von welchem das Manuskript erzählt, stellt
Storms Novelle über die rahmenübergreifende Ver-
Der eigenen Jugendzeit gedenkend, schlenderte ich im doppelung der Inschrift aus. Zudem ist der Schrift als
Nachmittagssonnenscheine durch die Straßen, als mir Medium – dies zeigt die Inszenierung von Lesbarkeit/
an der Ecke des Marktes über der Tür eines alten, hoch- Unlesbarkeit bzw. Wahrnehmung/Nicht-Wahrneh-
gegiebelten Hauses eine plattdeutsche Inschrift in die mung – die Dynamik von Erscheinen/Verschwinden
Augen fiel, die verhochdeutscht etwa lauten würde: inhärent.
Storms Chroniknovellen sind vom Verschwinden,
Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt, Vergessen, von Verschollen- und Verlorenheit regel-
Also sind auch die Menschenkind’. recht besessen: »verschleudert und verschwunden« ist
348 IV Diskurse

– wie bereits zitiert – das Lazarusbild in Aquis submer- Instrument, wird bei Storm zum gefährlichen Supple-
sus. Eekenhof weiß von dem »verbundene[n] Geschick ment, Inszenierung eines Zeit-Sprungs, der das Zer-
[...] [eines, E. S.] Paares« zu berichten, welches »für springen der Zeit selbst impliziert und derart jegliche
das des ganzen Geschlechtes vorbestimmend gewesen Chronik desavouiert. Die diesbezüglich eindrück-
sein [soll, E. S.], aber die Sage über sie ist verschollen« lichste Passage findet sich wohl in Zur Chronik von
(LL 2, 679), auch heißt es: »Jetzt ist Alles längst ver- Grieshuus: Die Tätigkeit des Chronisten ist durch das
schwunden« (678). Zur Chronik von Grieshuus endet zufällige Finden einer »Stelle« (LL 3, 198) in der Land-
mit den Worten: schaft motiviert, welches sich an einem »stürmische[n]
Oktobernachmittag mit seiner nordischen Sagenstim-
»So ist es wie, der Dichter singt: mung« (199) ereignet. Kein einfacher Fund aber ist
Auf Erden stehet nichts, es muß vorüberfliegen; hier beschrieben; vielmehr inszeniert der Rahmen den
Es kommt der Tod daher, du kannst ihn nicht besiegen; Akt des Findens als schwindelerregendes Ereignis, das
Ein Weilchen weiß vielleicht noch wer, was du gewe- jegliche raum-zeitliche Bestimmung suspendiert und
sen; sich derart als poetologischer Kommentar auf das
Dann wird das weggekehrt, und weiter fegt der Be- Genre Chronik lesen lässt:
sen.« (LL 3, 293)
Als meine Blicke länger an dem fernen Punkt gehaftet
In Bezug auf Im Sonnenschein spricht Storm in einem hatten, meinte ich den Rest eines turmartigen Mauer-
Brief vom 6. Juli 1862 an seine Frau Constanze von ei- werkes zu gewahren; aber die Dämmerung brach jetzt
ner »Poesie der Verschollenheit« (EB, 213), welche sich rasch herein, [...] und die Nacht begann das Heidetal zu
durchaus für Storms gesamtes Œuvre behaupten lässt. füllen [...] meine Augen sahen bald [...] nur ein unter-
Verschollenheit und Verschwinden sind aber nicht schiedloses graues Wogen. Nur meine Phantasie hatte
nur das Sujet der Chroniknovellen. Wo Storm die sich dort den Turm erbaut: »Nicht jetzt, einst«, sagte
Chronik an die schriftliche Überlieferung bindet, ver- ich mir, »hatte ein derartiges Gemäuer dort gestan-
traut er sie einem Medium an, das unzuverlässiger den«; denn ich glaubte plötzlich zu wissen, wohin der
nicht sein kann, dem – wie gezeigt – die Dynamik des Zufall mich geführt hatte. Nicht, daß ich jemals selber
Erscheinens/Verschwindens inhärent, ja, das der Zer- hier gewesen wäre; aber mit aufhorchenden Knabe-
störung preisgegeben ist: »Die Handschrift ist hier lü- nohren hatte ich, und mehr als einmal, von diesem Or-
ckenhaft; zunächst fehlen einige Blätter gänzlich, das te reden hören. [...] »Grieshuus!« rief ich fast laut. »Hier
dann Folgende ist durch Wasserflecke zerstört«, heißt hat Grieshuus gestanden!« (LL 3, 200 f.)
es in Renate (LL 2, 553). Medien der Überlieferung
werden bei Storm zu Medien des Entzugs. An derarti- Nicht aber Bestätigung bringt die nächste Szene, son-
ge Medien gebunden, zielen Storms Chroniknovellen dern den Einbruch einer anderen Zeit:
nicht auf die Restitution von Geschichte und Erinne-
rung (vgl. auch Kaiser 1991), sondern auf die Wieder- Noch einmal war ich gegen den Rand der Fläche vor-
holung eines irreduzibel Vergangenen, das niemals getreten und blickte in die jetzt so große Einsamkeit hi-
präsent war und sich einzig als Verschwinden artiku- naus. Es reizte mich, da vor meinen Füßen den nur noch
liert. Was sich in Storms Chroniknovellen zeigt, ist – für die nächsten Schritte erkennbaren Heidestieg hi-
mit Derrida gesprochen – ein »Verlangen nach dem nabzugehen; aber ein Wort war plötzlich in mir laut ge-
Archiv« (mal d’archive), das Verlangen, »unaufhör- worden: »die schlimmen Tage!« Wenn eben jetzt die
lich, unendlich nach dem Archiv suchen müssen da, schlimmen Tage wären! – Unwillkürlich hielt es mich
wo es sich entzieht. Es heißt, ihm nachlaufen, da, wo, zurück: ein Aberglaube schwebte über dieser Heide [...]
selbst wenn es davon zu viel gibt, etwas darin sich an- Es sollte eine Zeit im Jahre geben oder einst gegeben ha-
archiviert« (Derrida 1997, 161). ben, wo dem, welcher nach Sonnenuntergang dies Tal
Die Wiederholung des Verschwindens, wiederholte durchschritt, etwas Furchtbares widerfuhr. (LL 3, 201)
Geste der »anarchivierende[n] Destruktion« (ebd.,
166), wie sie Storms Chroniknovellen vollziehen, fügt Die »schlimmen Tage« sind von keiner kalendarischen
sich nicht in eine lineare Zeitlichkeit. Eine entspre- Ordnung: Datiert die Chronik den Brudermord, in
chend andere Zeitlichkeit ist es denn auch, welche welchem die »schlimmen Tage« ihren sagenhaften Ur-
Storms Rahmentechnik in Szene setzt. Der Rahmen, sprung haben, präzise auf den 24. Januar 1662, unter-
ein für die Chroniknovelle gängiges erzähltechnisches laufen diese selbst jede Datierung, insofern sie sich
93 Storms Medien 349

gleichermaßen an einem »Oktobernachmittag«, auf Medien gewinnen. Keine andere Passage stellt das Os-
welchen der Heidebesuch des Rahmenerzählers fällt, zillieren von Figuration/Defiguration im Akt der
ereignen könnten: »Wenn eben jetzt die schlimmen Wahrnehmung so deutlich aus wie die Erscheinung
Tage wären!« (201). Weder auf Januar noch Oktober zu des Pferdes auf Jevershallig. Die Frage, die der Text
datieren, ereignen sich die »schlimmen Tage« im aufwirft, ist nicht die nach Existenz oder Nicht-Exis-
»jetzt« (»Wenn eben jetzt die schlimmen Tage wä- tenz von Pferd oder Gerippe, sondern die nach dem
ren!«), genauer: zeitigen sie das »jetzt« aus einer ande- prekären Status von Wahrnehmung. Und so ist denn
ren Zeit, zugleich Suspendierung von Präsenz wie auch die Erkundungstour auf die Hallig, welche Cars-
Wirklichkeitseffekt. Das »jetzt« selbst ›ist‹ Wiedergän- ten, der Dienstjunge des Deichgrafen, bei Mondlicht
ger einer anderen Zeit, gleich den heulenden grauen unternimmt, während der Knecht Iven Johns auf dem
Wölfen (»der Wolf, ›de griese Hund‹«, 244), die beson- Deich bleibt und das Geschehen aus der Ferne be-
ders zu den »schlimmen Tagen« vermehrt in der Heide obachtet, weniger eine Untersuchung der irdischen
erscheinen und bisweilen »gar in die Küche« kommen oder überirdischen Pferdenatur, als vielmehr eine Ex-
(245) – Medien auf ihre Art. Storm ist der ›Chronist‹ pedition ins Unheimliche der Wahrnehmung. Wäh-
»schlimmer Tage«, des ›Jetzt-als-anderer-Zeit‹. Der rend Iven das lebendige Pferd auf der Hallig und Cars-
Rahmen schachtelt Zeitlichkeit nicht chronologisch, ten auf selbiges zugehen sieht, sieht Carsten einzig das
sondern installiert einen Zeit-Sprung. Mit ihm eröff- Gerippe. Von Jevershallig zurückgekehrt und von
net sich die multiple Zeitlichkeit einer heterochronen Iven nach der Erscheinung befragt, antwortet Carsten:
Szene, auf der sich Wirkliches als Abyss, strukturelle
Heimsuchung generiert. Darstellungsmodus dieser »Nichts war es!« sagte er. »Noch kurz vom Boot aus
Heterochronie aber ist nicht Erinnerung (womit die hatt ich es gesehen; dann aber, als ich auf der Hallig
Forschung Storm gemeinhin assoziiert), sondern war – weiß der Henker, wo sich das Tier verkrochen
Wahrnehmung. Das ›Jetzt-als-andere-Zeit‹ setzt einen hatte; der Mond schien doch hell genug; aber als ich an
Wirbel, ja, Paroxysmus von Wahrnehmung frei. »›[...] die Stelle kam, war nichts da als die bleichen Knochen
immer wieder‹«, so der Rahmenerzähler, von einem halben Dutzend Schafen, und etwas weiter
lag auch das Pferdsgerippe mit seinem weißen, langen
»stiegen die alten Mauern vor mir aus dem Boden: ich Schädel und ließ den Mond in seine leeren Augenhöh-
stand in dem umschlossenen Hofe und sah durch den len scheinen!« (LL 3, 699)
gewölbten Torweg auf das Heidetal hinaus [...] Schon
wollte ich [...] in das Innere des Hauses treten; aber das Erstaunt bemerkt Carsten das Wiederauftauchen des
Brausen des Sturmes wurde stärker, und ich sah plötz- Pferdes:
lich nichts, als nur den Sand in Wirbeln über einem lee-
ren Absturz treiben.« (LL 3, 201 f.) – »Wahrhaftig, da geht’s ja wieder!« »Wieder?« sagte
der Knecht; »ich hab die ganze Zeit hinübergeschaut;
Eine Aisthesis des Erscheinens/Verschwindens bildet aber es ist gar nicht fortgewesen; du gingst ja gerade
den Rahmen für Storms Welt. Unzuverlässiger könn- auf das Unwesen los!« Der Junge starrte ihn an; ein
ten die Sinne, oszillierender ein solcher Rahmen nicht Entsetzen lag plötzlich auf seinem sonst so kecken An-
sein. Ein defiguratives Moment – sei es im »grauen gesicht. (700)
Wogen« (200) oder »leeren Absturz« (202) – ist für
Storms wahrgenommene Wirklichkeit grundlegend Was Storm in dieser doppelten Blickszene auslotet,
und entzieht dieser zugleich jeglichen Grund. In die- ist die aporetische Struktur des Wahrnehmungs-
sem Oszillieren von Figuration und Defiguration, von aktes: Die »leeren Augenhöhlen« des Pferdegerippes
Figur und Grund inszeniert Storm Wahrnehmung als auf Jevershallig markieren eine Blicklosigkeit, die
Medium und lotet damit Medialität auf ihre Exzentri- nicht stabil zu verorten ist, sondern jegliche Perspek-
tät, Heterochronie, Unheimlichkeit hin aus. tive affiziert: Iven sieht das lebendige Pferd, nicht je-
doch das Gerippe; Carsten das Gerippe, nicht jedoch
das lebendige Pferd. Lebendiges Pferd und Pferde-
Wahrnehmung als Medium
gerippe aber sind nicht zwei gleichzeitig mögliche
Das Unheimliche von Wahrnehmung inszeniert Perspektiven, sondern schließen einander aus.
Storms Schimmelreiter in dezidierter Weise, und es Sprich: Die unterschiedlichen Blickpositionen pro-
lassen sich hieraus weitere Überlegungen zu Storms duzieren nicht verschiedene Ansichten eines Ge-
350 IV Diskurse

schehens, sondern verschalten – paradox – Wahr- sondern das Unheimliche der Stelle, nicht das Bett des
genommenes mit dem im Akt der Wahrnehmung Prieles, sondern das Gespenstische dieses Bettes, wel-
konstitutiv Ausgeschlossenen. Über die Gleichzeitig- ches Hauke Haien »plötzlich« und in aller Schärfe vor
keit von Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung in- Augen steht und nicht mehr weichen will. Im Un-
szeniert Storm einen unmöglichen, strukturell ›ent- heimlichen/Gespenstischen artikuliert sich die Ver-
setzten‹, ja, unheimlichen Blick. kehrung des Wahrnehmungsaktes – mit Lacan ge-
In seinem Essay über Theodor Storm spricht Lu- sprochen: die Spaltung von Auge und Blick. Nicht
kács von den »einheimischen Augen« (Lukács 1971, Hauke sieht, sondern die Stelle blickt ihn an. Nicht
95; Hervorhebung E. S.), welche allein in der »grauen »Reziprozität von Blick und Angeblicktem« (Lacan
Monotonie« von »Storms Welt« (ebd.) Schönheit zu 1996, 84), nicht »Beziehung von Subjekt zu Subjekt«
finden, Farben zu sehen vermögen. Erkennt er damit (ebd., 91), sondern gerade der Bruch mit jeglicher In-
die Bedeutung der Sphäre des Heimischen für Storms tersubjektivität, die Desorganisation des Wahrneh-
Welt, so verkennt er doch gleichzeitig den Einsatz der mungsfeldes ist es, welche/r sich mit der »unheimli-
heimischen Augen für das Unheimliche der Wahrneh- chen Stelle« vollzieht.
mung. Weniger produziert Storm sensorische Er- Wie die beiden Passagen zeigen, ist es nichts »Un-
kenntnis, als dass er die toten »leeren Augenhöhlen« oder Uebernatürliches«, welches Storm mit dem Un-
in den einheimischen Blick einträgt, diesen zum »un- heimlichen/Gespenstischen im Sinn hat, sondern, wie
canny eye« verfremdet. (In Immensee blickt Elisabeth Storm dies in seinem Brief vom 4. August 1882 an
aus »toten Augen«; LL 1, 327.) Der Bezug zwischen Gottfried Keller formuliert: »das Natürliche, was nicht
Unheimlichem und Visualität in Storms Schimmelrei- unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt« (Storm–
ter wurde etwa von Andrew Webber herausgearbeitet. Keller, 92) – ein Gespenstisches/Unheimliches der
Dieser weist auf Hauke Haiens eigentümlich starren- Wahrnehmung, auf welchem die wahrgenommene
den Blick und die unheimlichen Illusionen hin, wel- Wirklichkeit von Storms Realismus beruht. Wenn
che Haukes »›canny eye‹« umlagern: »Haien’s acute vi- Walter Benjamin im Kunstwerkaufsatz vom »Medium
sion is shrouded by a ›net of steam and fog‹, and his der Wahrnehmung« (Benjamin 1974, 479) spricht, so
sharp eyes accordingly undergo a metamorphosis to lässt sich diese Formulierung als präzise Bezeichnung
›starr‹« (Webber 1996, 311). Wo der ›canny‹ Blick ins der konstitutiven Rolle der Wahrnehmung für die
Starren kippt, trägt sich ein Wahrnehmungsausfall in Konstruktion von Wirklichkeit bei Storm lesen. Zu-
visuelle Wahrnehmung ein; Webber spricht von »the gleich lassen sich aus Storms Gespenstischem, das sich
blind stare of the uncanny« (ebd., 314). wesentlich als »Unform« (LL 3, 646), »Unwesen«
Ein solches »blind stare of the uncanny« begegnet (700), sprich: defiguratives Moment im Akt von
mit der »unheimlichen Stelle«, jene von Erosion zer- Wahrnehmung geltend macht, weitere medientheo-
störte Grasnarbe, die schließlich zum Deichbruch retische Schlüsse ziehen. An Deleuze anknüpfend be-
führen wird. Die Stelle – welche ganz wie das Pferd auf schreibt Ethel Matala de Mazza die »gespenstische Er-
Jeverhallig wesentlich als Wahrnehmungsproblema- fahrung« in der im Neuen Gespensterbuch enthaltenen
tik, Erscheinen/Verschwinden, inszeniert ist, tritt Geschichte Der Gespensterbesen »als Wahrnehmung
Hauke Haien, welcher sie abwechselnd gesehen und [...], die an der Indifferenz von Figur und Grund labo-
nicht gesehen hatte, plötzlich unabweislich vor Augen: riert« (Matala de Mazza 2013, 120): »Besser«, so De-
leuze in Differenz und Wiederholung, »läßt man den
[...] es durchfuhr ihn, als er seine Augen über die Wat- Untergrund aufsteigen und die Form schwinden. [...]
ten schweifen ließ; dort, von Nordwest herauf, sah er Im Verzicht auf die Modellierung, d. h. auf das plas-
plötzlich wieder, und schärfer und tiefer ausgewühlt, tische Symbol der Form, gewinnt die abstrakte Linie
das gespenstische neue Bett des Prieles; so sehr er sei- ihre ganze Kraft und partizipiert um so gewaltsamer
ne Augen anstrengte, es wollte nicht mehr weichen. am Untergrund, als sie sich von ihm unterscheidet,
(LL 3, 740) ohne daß dieser sich von ihr unterscheidet« (Deleuze
1997, 50). Es ist eben dieser Schnittpunkt von Aisthe-
Die Stelle verfolgt Hauke, schlägt ihn in Bann, lässt sis und Kraft, den Storms Inszenierungen des Ge-
ihn die Augen abwenden, reißt sie an sich. Es ist in die- spenstischen ausloten und aus dem sie eine spezifische
sem Augenblick, dass die Stelle als »unheimlich«, das Medialität generieren: Medium zeigt sich als Kraft, Er-
neue Bett des Priels als »gespenstisch« beschrieben eignis (zum Zusammenhang von Performativität, Me-
wird. In einer strikten Lektüre ist es nicht die Stelle, dialität und Aisthesis vgl. Krämer 2004).
93 Storms Medien 351

Auch bei einer anderen nächtlichen Unruhe ist »Nie-


Storms Gespenster: Niemandes Wahrnehmung –
mand zu sehen« (NB, 99 f.). Die deutlichste Ver-
Medium als Ereignis
abschiedung von einem Trägersubjekt erfährt akus-
»Storms Medien« heißt also nicht zuletzt: »Storms Ge- tische Wahrnehmung in der Geschichte Sopha, in wel-
spenster«. Keiner der Realisten ist so gespensterbeses- cher es heißt: »Ich hörte leise Tritte die Treppe herauf-
sen wie Theodor Storm. Das Spektrum des Gespens- kommen und sich der Stubentür nähern, welche offen
tischen reicht vom frühen Sammeln, Verfassen und stand. [...] wie die Schritte in die Tür auf uns zukamen,
Erzählen von Spukgeschichten bis zur dezidierten ohne eine Person mit sich zu führen, da fühlte ich, wie
Poetik des Unheimlichen im Schimmelreiter. Dabei es mir rieselnd über die Haut kroch« (NB, 104).
findet das Gespenstische – so haben die vorangegan- Die wiederkehrenden Geräusche aus Storms Neuen
genen Ausführungen gezeigt – seinen Einsatz dezi- Gespensterbuch intervenieren in die metaleptische In-
diert im Medium von Wahrnehmung. Entsprechend terpretation von Wahrnehmung, sprich: in die Aus-
lässt sich auch Storms Neues Gespensterbuch (im Fol- legung des Wahrnehmungsereignisses hin auf eine Ur-
genden mit der Sigle NB zitiert, s. Kap. II C.25) als sache bzw. ein Subjekt, welche/s nachträglich als zeit-
Wahrnehmungsexperiment lesen, als serielle Ver- lich vorgängig, ursächlich gesetzt wird. Storms Wahr-
suchsanordnung, welche Wahrnehmung/Medialität nehmungsexperimente formulieren eine dezidierte
zugleich als Ereignis ausweist, ja, generiert. Kritik an einer solchen »Causal-Auslegung«, wie sie
Ganz im Sinne von Storms Auffassung des Ge- auch Nietzsches Genealogie der Moral unternimmt.
spenstischen als desjenigen, welches »nicht unter die »[...] unsre ganze Wissenschaft«, so Nietzsche, »ist die
alltäglichen Wahrnehmungen fällt« (Storm–Keller, untergeschobenen Wechselbälge, die ›Subjekte‹ nicht
92), ist das experimentelle Setting des Neuen Gespens- losgeworden« (Nietzsche 1999b, 279 f.). Die unheimli-
terbuchs konsequent auf das Häusliche beschränkt – che Heimsuchung führt auf keine Ursache, keinen Tä-
ein Häusliches, welches sich darüber gleichwohl in ein ter hinter der Tat. Die gespenstischen Phänomene
unheimliches Milieu transformiert. Es sind Kam- übersteigen den Sinn jedes wahrnehmenden Subjekts,
mern, Zimmer, Wände, Türen, »unsere[] Wohnung« das – wenn überhaupt – nurmehr noch als paralysier-
(NB, 99 f.; Hervorhebung E. S.), in/an denen unheim- tes erscheint. Storms Realismus betreibt die dezidierte
liche Phänomene auftreten (wiederholtes Anpochen, Entsubjektivierung von Wahrnehmung. Wenn man
plötzliches Klopfen, ununterbrochenes Kehren, Trop- von einem Sujet der Wahrnehmung sprechen will, so
fenfall, langsames Tappen), die zu Medien von Wahr- ist es das unpersönliche »es« des Ereignisses: »da fühlte
nehmung werden, ja, Wahrnehmung als Ereignis her- ich, wie es mir rieselnd über die Haut kroch« [Hervor-
vorbringen. hebung E. S.]. Die Gespenstergeschichten wimmeln
Was die gespenstischen Wahrnehmungen/media- von jenen – mit Deleuze gesprochen – »unpersönli-
len Ereignisse in Storms Gespenstergeschichten aus- chen und präindividuellen Singularitäten, das man des
zeichnet, ist zum ersten, dass der Akt der Wahrneh- reinen Ereignisses, in dem es stirbt wie es regnet« (De-
mung jegliche Ursache ausstreicht und damit seine ei- leuze 1993, 190).
gene referentielle Verortung suspendiert: »Er habe al- Storms gespenstische Wahrnehmungen gehen aber
les auf das Genaueste untersucht [...], ohne auch im noch einen Schritt weiter: Das unpersönliche Subjekt
Mindesten der Ursache jenes grauenhaften Klangs auf des Wahrnehmungsereignisses – »es«, »man«, »je-
die Spur kommen zu können« (NB, 61), heißt es über mand« – findet im »Niemand« sein irreduzibles Pen-
einen Tropfenfall, der insbesondere über die Abwesen- dant. Niemand kommt, Niemand klopft, Niemand ist
heit der »Ursache« zum »grauenhaften Klang« zu wer- zu sehen, Niemand erscheint. Niemand ist allgegen-
den scheint. Eine andere Geschichte (Herein!) wartet wärtig, wenn man dies – paradoxerweise – über die
mit einem wiederholten Klopfen an die Tür auf, wobei radikale Ausstreichung von Präsenz im Wahrneh-
auf den Ruf »Herein!« niemals jemand erscheint: mungsakt sagen kann. Als absoluter Niemand ist es
der Tod, der Storms gespenstische Wirklichkeit be-
[...] als plötzlich an meine Tür geklopft wird [...] ›He- gleitet. Niemandes Klopfen an die Tür zeigt den Tod
rein!‹ rief ich; aber es kam Niemand; [...] als plötzlich des Bruders an (NB, 34), das »es« des Violinenklangs
wieder an meine Tür gepocht wurde. Auf mein »He- den Tod des Musikanten (NB, 144 f.). Wahrnehmung
rein« wurde es ruhig; aber es erschien Niemand [...]. als Ereignis ist vom Tod, vom Aus-Setzen der Zeit, her
Draußen aber war auch niemals Jemand zu finden. gegeben. Bis an die unmenschlich-zeitliche Grenze lo-
(NB, 77 f.) tet Storm das Medium der Wahrnehmung aus. In letz-
352 IV Diskurse

endlich so stark, daß meine Frau in der Meinung, es sei


ter Konsequenz ist Niemand das ›Subjekt‹ der Wahr-
an der Haustür unserer Wohnung, aufstand, und aus
nehmung: Das Wirkliche von Storms Realismus ist
dem Fenster sah. [...] Gleich darauf entstand ein andres
Niemandes Wahrnehmung.
und weit stärkeres Geräusch; es war, als ob Jemand
Qua Suspension von Ursache und Subjekt wird
wohl verwahrte Türen und Fensterladen mit eisernen
Wahrnehmung, werden die medialen Ereignisse, die
Stangen erbrechen wollte. Der Lärm ward endlich so
das Gespensterbuch versammelt, zum Ereignis: Wenn
stark, daß, wenn er von Dieben verursacht wäre, diese
Deleuze das »Ereignis« als Vibration beschreibt, als
höchst unvorsichtig gewesen wären [...]. Die Verzweif-
»Schwingung mit unendlich vielen Obertönen oder
lung über die Unmöglichkeit, die Tür oder die Laden zu
enthaltenen Vielfachen, wie eine Klang- oder Lichtwel-
erbrechen, schien in eine förmliche Wut überzugehn,
le« (Deleuze 2000, 128), so lassen sich im Gegenzuge
welche alle Rücksichten [...] bei Seite setzte. [...] Wäh-
Storms gespenstische Wahrnehmungen als Ereignis le-
rend ich lauschte, war es plötzlich, als ob sich der Lärm
sen. Es ist die wechselseitige Durchdringung von Per-
in dem unter unserm Schlafzimmer befindlichen La-
zeptionen, »Perzeptionen, die sich durcheinander aus-
den vernehmen ließ. Ein gewaltiges Reißen und Bre-
drücken« (ebd., 133), die das Ereignis als Vibration
chen, als ob eiserne Kasten mit aller Anstrengung ge-
kennzeichnen und bei Storm mit größter sprachlicher
sprengt oder in der Diele befestigte Behälter losgeris-
Präzision in Szene gesetzt sind: So heißt es über den
sen würden. Auch klang es einmal, als ob ein Stein aus
unheimlichen Tropfenfall, der klingt »wie wenn ein
der Mauer gebrochen und auf das Steinpflaster ge-
Regentropfen hinabfiele in ein metallnes Becken«, dass
schmissen würde. (NB, 99 f.)
der Tropfen »wie durch mein Inneres nieder[fällt, E. S.]
in das Metall, das in gellendem Laut erdröhnte. [...] Ich
fühlte, wie Eisströme mich durchglitten, wie kalte Was hier geschieht, ist die gewaltsame Öffnung, das
Schweißtropfen von meiner Stirn herabtröpfelten« Wahrnehmung-Werden des Milieus, bei dem kein
(NB, 60; Hervorhebungen E. S.). Auch das Geräusch in Stein auf dem anderen bleibt. Im seriellen Beben, der
der Wand des Turmgemachs erweist sich als Resonanz- zentrifugalen Dynamik des Zerberstens, Sprengens,
raum anderer Klänge: »[...] und sie vernahmen nun Reißens, Brechens, artikulieren Storms Gespenster
deutlich, als wenn in der Mauer Jemand langsam eine das Medium als Ereignis, ›force‹, Vibration.
Treppe hinaufsteige; dazwischen klirrte es, als wenn es
eine schwere Kette trüge, die mitunter auf steinernen
Wirklichkeitseffekt als Spektraleffekt
Treppenstufen hintennach schleppte [...] daneben klang
es mitunter wie von einer eisernen Kette« (NB, 119 f.). Der epistemologische Einsatz von Storms Medien für
Akustische Wahrnehmung ist haptisch (»da fühlte ich, den Realismus – so die These dieses Beitrags – er-
wie es mir rieselnd über die Haut kroch«; NB, 104, »wie schließt sich nicht primär über eine Reflexion des
Eisströme mich durchglitten«; NB, 60), ist Ereignis, in Stormschen Œuvres im Kontext von Medientechniken
welchem Perzeption Perzeption durchdringt: Hören ist des 19. Jahrhunderts und damit einhergehender etab-
Hindurch-Hören, Tönen Dazwischen-Tönen – einer lierter Medienbegriffe. Vielmehr entwickelt Storm eine
akustischen Sensation durch die andere. Im dazwi- spezifische Poetologie des Medialen, die grundlegend
schen klirren, daneben klingen, hintennach schleppen für die Darstellung des Wirklichen ist. Strukturell be-
zeigt sich Medial-Gespenstisches als Vibration – als in sehen sind es Bruchstellen, prekäre Grenzen, (De-)Fi-
sich räumlich und zeitlich versetzt. gurationen des Zwischen, welche Storm mobilisiert,
Mit der Ereignishaftigkeit von Wahrnehmung ver- über welche er Übertragungsprozesse in Gang setzt, ja,
wandelt sich auch das Häusliche in einen dyna- die seine Texte motivieren und dynamisieren. Als pre-
mischen Schwellenraum: Mauern, Wände, Türen, käre Grenzen zwischen Innen und Außen, Leben und
Fenster werden selbst zum Schauplatz von Vibration, Tod, einem unvordenklich Vergangenen und je noch
wie dies die Erzählung Die nächtliche Unruhe mit aller ausstehenden Zukünftigen gewinnen Rahmen, Stellen,
Deutlichkeit in Szene setzt. Fenster, Wände damit ebenso mediale Funktionen wie
eine Malerei, welche sich wesentlich als Wiedergänger,
[...] als sich etwa um 12 Uhr ein seltsames Geräusch eine Schrift, die sich als Verschwinden geltend macht.
vernehmen ließ. Es war, als ob Jemand eine Haustür – Storms Medien situieren sich auf dem Terrain des
wie es schien mit einem nicht passenden Schlüssel – Unheimlichen – eines Unheimlichen der Wahrneh-
öffnen wollte und nicht wohl konnte, und in Verzweif- mung, von welchem aus Storm Wirklichkeit als ›wahr-
lung darüber zur Gewalt schritt. Das Geräusch wurde genommene Wirklichkeit‹ konzipiert. Storms un-
93 Storms Medien 353

heimliche Medien/Wahrnehmungsgespenster lösen melte Schriften I/2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann
Wahrnehmung von Referenz und Subjekt ab, was rea- Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974, 431–508.
lismustheoretisch weitreichende Konsequenzen hat: Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, übers. v.
Ulrich Johannes Schneider. Frankfurt a. M. 2000 (frz.
Bestimmt Barthes den Realismus als »Diskurs, der nur 1988).
vom Referenten beglaubigte Äußerungen akzeptiert« Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph
(Barthes 2006, 171), so steht Storms gespenstisch-me- Vogl. München 1997 (frz. 1968).
diale Wirklichkeit hierzu entschieden quer: Der Reali- Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, übers. v. Bernhard Dieck-
tätseffekt (l’ effet de réel), die »referentielle Illusion« mann. Frankfurt a. M. 1993 (frz. 1969).
Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche
(ebd.), welche Barthes zufolge aus dem »direkten Zu-
Impression, übers. v. Hans-Dieter Gondek und Hans Nau-
sammentreffen zwischen einem Referenten und ei- mann. Berlin 1997 (frz. 1995).
nem Signifikanten« (ebd.) resultiert, stellt sich bei Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die
Storm bezeichnenderweise gerade über die Ver- Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne
abschiedung, genauer: spektrale Simulation des Refe- Lüdemann. Frankfurt a. M. 1996 (frz. 1993).
renten ein. Eine diesbezüglich aufschlussreiche Szene Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Rand-
gänge der Philosophie. Wien 1988 (frz. 1972), 291–314.
findet sich in Im Sonnenschein, wo es heißt: Eversberg, Gerd/Segeberg, Harro (Hg.): Theodor Storm und
die Medien. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realis-
Die Großmutter [...] sagte: »Mach das Fenster zu, An- ten. Berlin 1999.
ne! Es duftet mir so stark; die Sonne scheint draußen Kaiser, Herbert: Tod, Erinnerung, Geschichte. Zur Kritik des
auf die Buchsbaumrabatten.« »Die Frau hat wieder ih- historischen Bewußtseins in Meyers »Huttens letzte Tage«
und Storms »Zur Chronik von Grieshuus«. In: Der
re Gedanken!« murmelte die alte Dienerin; denn der
Deutschunterricht: Beiträge zu seiner Praxis und wissen-
Buchsbaum war vor über zwanzig Jahren fortgenom- schaftlichen Grundlegung 43/4 (1991), 20–31.
men [...]. Aber sie sagte nichts dergleichen, sondern Krämer, Sybille: Was haben ›Performativität‹ und ›Media-
schloß, wie ihr geheißen war, das Fenster. (LL 1, 361) lität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthe-
tisierung‹ gründende Konzeption des Performativen. In:
Wo die Großmutter den Duft von Buchsbaumrabatten Dies. (Hg.): Performativität und Medialität. München
2004, 13–32.
wahrnimmt, welche längst entfernt wurden, artikuliert Lacan, Jacques: Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psy-
sich Wahrnehmung jenseits von Referenz: Es ist das ir- choanalyse, übers. v. Norbert Haas. Weinheim/Berlin 1996
reduzible ›vorbei‹, das den Duft der Buchsbaumrabat- (frz. 1964).
ten allererst zeitigt, worüber Wahrnehmungsereignisse Lukács, Georg: Bürgerlichkeit und L ’art pour l’ art: Theodor
strukturell zu Wiedergängern werden und sich Wirk- Storm. In: Ders.: Die Seele und die Formen. Neuwied/Ber-
lin 1971, 82–116.
liches als Simulakrum generiert. Der Wirklichkeits-
Matala de Mazza, Ethel: Spuk als Gerücht: Theodor Storms
effekt, den Storms unheimlicher Realismus produziert, Volkskunde. In: Elisabeth Strowick/Ulrike Vedder (Hg.):
ist ein »Spektral-Effekt« (Derrida 1996, 70). Storms Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf
Medien tragen gespenstische Züge: Als Double, Wie- Theodor Storm. Berlin et al. 2013, 107–129.
dergänger, sind sie ausgestattet mit einer seriellen Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeit-
›agency‹, die sich als disruptive Kraft geltend macht. alter der Griechen (Fragment 1873). In: Kritische Studien-
ausgabe, Bd. 1. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari.
Mit Nietzsches Einsicht, »daß das ganze Wesen der
München/Berlin/New York 1999a, 799–872.
Wirklichkeit eben nur Wirken ist« (Nietzsche 1999a, Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. in: Kritische
824), zeigt sich diese disruptive Kraft von Storms un- Studienausgabe, Bd. 5. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino
heimlichen Medien als das Wirkliche ›selbst‹. ›Storms Montinari. München/Berlin/New York 1999b, 245–412.
Medien‹, das heißt nicht zuletzt: Wirkliches als Wir- Rockenbach, Therese: Theodor Storms Chroniknovellen. Eine
ken. Mit Storms gespenstischen Medien eröffnet sich Untersuchung über Quellen und Technik. Braunschweig
1916.
eine serielle Dynamik, ein heterochroner Schauplatz, Segeberg, Harro: Vorwort. In: Gerd Eversberg/Harro Sege-
in der/auf dem sich Wirkliches als Spuk ereignet. berg (Hg.): Theodor Storm und die Medien. Zur Medien-
geschichte eines poetischen Realisten. Berlin 1999, 9–12.
Literatur Storm, Theodor: Neues Gespensterbuch. Beiträge zur Ge-
Barthes, Roland: Der Wirklichkeitseffekt. In: Ders.: Das schichte des Spuks. Hg. v. Karl Ernst Laage. Frankfurt
Rauschen der Sprache. Essays IV, übers. v. Dieter Hornig. a. M./Leipzig 1991.
Frankfurt a. M. 2006 (frz. 1968), 164–172. Webber, Andrew J.: The Doppelgänger: Double Visions in
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech- German Literature. Oxford 1996.
nischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung. In: Gesam-
Elisabeth Strowick
354 IV Diskurse

94 Krankheit Im Gegenzug griffen in Storms letzten Jahren neue


Gebrechen im kollektiven Bewusstsein Platz. Da war
Storm als Zeitzeuge des medizinischen Fort-
einerseits eine psychische Krankheit, die damals so
schritts
genannte Neurasthenie. Andererseits aber hatten die
Als Theodor Storm zur Welt kam, stand die Schulmedi- neu gewonnenen Einsichten der Seuchenmedizin zur
zin den großen Killern der Zeit so hilflos gegenüber wie Folge, dass ein ganz anderer Typus körperlichen Lei-
eh und je, der Tuberkulose, dem Kindbettfieber und dens ins Repertoire der Krankheits- und Todesängste
anderen Infektionskrankheiten. Ihre Ohnmacht wird einzudringen begann, dem gegenüber die Medizin die
noch in Storms letzter vollendeter Novelle unbeschö- längste Zeit so machtlos blieb wie ehedem gegenüber
nigt vorgeführt. Im Schimmelreiter, als Hauke Haiens den Infektionskrankheiten. Krebs, weil infolge der
Frau im Wochenbett erkrankt, weiß »der alte«, also bakteriologischen Revolution immer stärkere Alters-
höchsterfahrene »Arzt aus der Stadt«, also aus dem kohorten die von ihm am meisten gefährdeten Le-
Zentrum des medizinischen Wissens und Könnens, bensalter erreichten, besetzte von nun an zusehends
auch nichts anderes, als am Bett der Patientin zu sitzen, größere Teile der kollektiven Ängste. Dabei lassen sich
den Puls zu fühlen, irgendetwas zu verschreiben und die Anfänge dieses Ablösungsvorgangs im deutschen
ansonsten »ratlos um sich her« zu sehen (LL 3, 715). Literaturkanon zuallererst an Storms gerade auch hie-
Die Ratlosigkeit der medizinischen Autorität ist rin pionierhaftem Œuvre ablesen.
hier indessen eine Sache der tiefen Vergangenheit,
durch Einschachtelung des Erzählten von der Gegen-
Biographische Hintergründe
wart des damals hochbetagten Storm mehrfach abge-
schottet. In dessen Lebenszeit waren mehrere epochale Zu der rein lebensgeschichtlich schon gegebenen
Durchbrüche in der medizinischen Praxis und Klinik Zeitzeugenschaft, in deren Rahmen Storm zuvor nie
gefallen, Erfolge in der biopolitischen Prävention und dagewesene Fortschritte der Medizin noch miterleben
entscheidende Fortschritte in der Theoriebildung der durfte, kamen persönlich-familiäre Beziehungen zu
life sciences. Dazu gehörte die pathologische Anatomie, fachzünftigen Medizinern. Storms jüngerer Bruder
d. h. die Leichenobduktion als Mittel zur Krankheits- Aemil promovierte 1856 mit einer Dissertation über
diagnostik und nicht mehr bloß der Lehre vom gesund die Malaria (vgl. Storm 1857). Der Verlobte und späte-
funktionierenden Körper. Dazu zählten ferner auf re Mann seiner Nichte, Ludwig Glaevecke, ein Schüler
dem Feld der Chirurgie Anästhesie, Asepsis und Anti- des Gynäkologen Wilhelm Alexander Freund, war
sepsis; auf dem Gebiet der Infektionsmedizin die während Storms letzter Lebensjahre Assistenzarzt am
Überwindung der Miasmenlehre und die Widerle- Kieler Klinikum. Auch einer seiner eigenen Söhne,
gung der Theorie von der Spontangenese ansteckender Hans Storm, studierte (nicht weniger als zwanzig Se-
Krankheiten durch Louis Pasteur, die in der Folge ge- mester) Medizin.
zielten Impfkampagnen und die systematische Iden- Gerade was diesen ältesten seiner Söhne anging, ei-
tifikation von Krankheitserregern: des Milzbrands, des nen Syphilitiker und schweren Trinker, war Storm
Malariaparasiten, der salmonella typhi, des mycobacte- auch von seinem Familienleben her von ernsten
rium tuberculosis, des vibrio cholerae. Solche Ent- Krankheiten diverser Natur betroffen. Teilweise wur-
deckungen bildeten die sog. bakteriologische Revoluti- den diese Krankheiten von der Familie so gründlich
on, einen der großen paradigm shifts, deren Struktur und erfolgreich verheimlicht, dass man dem Ausmaß,
Thomas S. Kuhn beschrieben hat (vgl.  Kuhn  1962). in dem deren eine Storm belastete, erst vor Kurzem
Nicht zuletzt auch wegen der maßgeblichen Anteile, auf die Spur kam (vgl. Jackson 1992, 33–40; Ders. 2001,
die die deutsche Medizin im Zeitalter des Nationalis- 103 f., 208 f., 286–293). Gemeint ist die zu Recht so ge-
mus daran für sich reklamieren durfte, gelangte das nannte »verschwiegene Krankheit« (Bäumler  1976,
Wissen um diesen Paradigmenwechsel tief ins Be- 136), die Syphilis, bzw. auch eine ihrerseits krankhafte
wusstsein der reichsdeutschen Bevölkerung. Angst vor ihr, die Syphilomanie oder Syphilidopho-
Als Storm starb, war mit anderen Worten ein neues bie. Syphilitiker waren neben dem missratenen Ältes-
medizinisches Zeitalter angebrochen. Die moderne, ten auch Storms Bruder Otto, sein Cousin Ernst Es-
vernaturwissenschaftlichte Medizin durchlief einen march und ein weiterer seiner Söhne, Karl Storm.
Zenit ihres Prestiges. Sie war getragen von einem noch Hinzu kamen die Kinderlähmung seiner Tochter
unbedingten Fortschrittsoptimismus, der erst nach Gertrud und der Kindbetttod sowohl einer Schwester
Storms Tod wieder gedämpft werden sollte. als vor allem auch seiner ersten Frau, nach seiner ei-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_94, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
94 Krankheit 355

genen, selbstquälerischen Auffassung ein »Opfer« der vorgesehene Anstalt verlassen. Für einen nachhalti-
»Heimkehr« nach Husum; »denn« das »Kindbettfie- gen Heilungserfolg empfiehlt ihm ein Spezialist die
ber« schien ihm »hier epidemisch zu werden« (Storm– Heirat – eine durchaus belegte ›Therapie‹ (vgl.  ebd.,
Pietsch, 160). Zuletzt fiel Storm selber jener Art 13) –, und zwar ausdrücklich mit einer bürgerlichen,
Krankheit zum Opfer, die mit der bakteriologischen ihm sozial unterlegenen Frau. Nichtsdestoweniger
Revolution langsam, aber sicher das kollektive Be- kann der Fachmann die mütterlichen Ängste vor ei-
wusstsein obsedierte; wobei der in seiner Patienten- nem Wiederausbruch der Krankheit nicht besänfti-
karriere besonders gelagerte Fall von coping zum Ge- gen, die sich zu guter Letzt aber zerschlagen.
genstand einer Anekdote wurde, die Gertrud Storm Auch etliche andere unter den späteren Novellen
überliefern und Thomas Mann in seinem Storm-Essay zeugen von Storms Interesse an dem neuen Krank-
von 1930 berühmt machen sollte. Storm nämlich be- heitstyp. Die Rolle, die die Modekrankheit Neurasthe-
stand darauf, dass ihm sein Hausarzt den wahren Be- nie im Spätwerk spielt, wurde freilich lange übersehen
fund mitteilte, Magenkrebs, um hernach sogleich in oder unterschätzt. So ist nicht nur Rudolph von Schlitz,
eine schwere Reaktionsdepression zu fallen. Davon sondern sind etwa auch Archimedes Sternow, der Sohn
erlösten ihn sein Bruder und besagter Dr. Glaevecke, des Herrn Etatsrats, oder Adolf Marx in »Es waren zwei
indem sie eine »Scheinuntersuchung« (Storm  1991, Königskinder« (vgl. Stutz 2015, 45) und vor allem auch
228) veranstalteten. Ihre ›Diagnose‹ lautete auf eine Hauke Haien (vgl. Bergengruen 2010a, 74–79) Neura-
Herz-Kreislauf-Erkrankung, Erweiterung der Aorta; stheniker purs et durs. Rudolph, Adolf, Archimedes
eine pia fraus, an die der Patient ganz offensichtlich und Hauke sind alle mehr oder weniger ehrgeizig und
glaubte, glauben wollte, und ohne die er kaum mehr für ihren Ehrgeiz bereit, sich zu überarbeiten, beson-
die Kraft zu jenem letzten vollendeten, überhaupt be- ders an ihrem Schlaf Raubbau zu begehen. Sie sind von
rühmtesten oder einzig wirklich berühmt gebliebenen physisch nicht besonders robuster Konstitution. Und
Werk aufgebracht hätte, Der Schimmelreiter. alle sind sie suizidal gefährdet oder tatsächliche Suizi-
Dass dessen Vollendung sich einem Schwindel ver- danten. Während Rudolph durch seine liebende Frau
dankt, der Willigkeit des Autors, sich belügen zu las- in letzter Minute vom Freitod abgehalten werden kann
sen und sich selber etwas vorzumachen, entbehrt da- (mit einer signifikanten Differenz zwischen hand-
bei nicht der Pikanterie; wird im Krebs-Diskurs doch schriftlicher und Publikationsfassung) und während
gerne Storms Gedicht »Beginn des Endes« zitiert sich Archimedes ›nur‹ durch seinen autoaggressiv-rui-
(vgl.  Bäumler  1967, 11;  Bauer  1963, 27;  Kümmer- nösen Lebenswandel zugrunde richtet, sind Adolf und
le 1974, 36). Es dient jeweils als Beispiel für die Fähig- Hauke eindeutig Selbstmörder. Überdies weisen sie
keit eines Krebspatienten zur richtigen Früh- und weitere, zum Teil sehr detaillierte Symptome auf, wie
Selbstdiagnose – unbeschadet der doppelten Tatsache, sie im zeitgenössischen Neurastheniediskurs als ty-
dass das Gedicht zwei Jahrzehnte älter ist als Storms pisch galten: Neigung zu substance abuse (Alkohol,
darin angeblich diagnostizierter Magenkrebs, dem er starker Kaffee und Tabak; vgl. LL 3, 311; Handelman
nachgerade im Gegenteil mit einer hohen Bereitschaft 2014); die Marotte, einzelne Vokabeln zu wiederholen
zur Realitätsverleugnung begegnen sollte: »Ein Punkt (so Archimedes; vgl. Graf 2016, 13); emotionale Un-
nur ist es, kaum ein Schmerz, / [...] Bis du es endlich, ausgeglichenheit (Adolfs Labilität; vgl. LL 3, 310 f.; Stu-
endlich weißt, / Daß dich des Todes Pfeil getroffen« ckert 1955, 380; oder Haukes Jähzorn; vgl. Bergen-
(LL 1, 86). gruen 2010a, 85–87; Fasold 1997, 156) oder aber das
Phänomen der besonderen Begabung und Genialität,
wie es Cesare Lombroso und andere an ›Entarteten‹ be-
Neurasthenie
obachten zu können glaubten (vgl.  Lombroso 1887,
Was die Medikalisierung seelischen Leidens betrifft, 62–68; Ders. 1890, 5–47; Magnan 1892, 3–7; Möbius
wie es Storm also auch aus eigener Erfahrung bekannt 1892, VII; Radkau 1998, 263–271).
war, hat man sich zweifelsohne an die Novelle Schwei- Storms enge Fühlung mit der zeitgenössischen
gen als den dafür aufschlussreichsten Text des Autors Wissenschaft und Pseudowissenschaft zeigt sich ins-
zu halten. Der Protagonist, Rudolph von Schlitz, ein besondere dort, wo seine Neurastheniker durch die
Muttersohn, wie ihn die zeitgenössische Psychiatrie Vererbung zu ihrem Leiden disponiert und ihre Fami-
für dergleichen besonders anfällig hielt (vgl.  Hans- lien in Verfall begriffen sind; gemäß dem als Morel-
sen 1912, 14 f.), hat an einem nicht weiter spezifizier- sches Gesetz bekannten Postulat, in dem die seinerzeit
ten Nervenleiden laboriert, nunmehr aber die dafür modernste Wissenschaftlichkeit mit alttestamentlich-
356 IV Diskurse

religiösen Topoi zusammenfand: dass der Familien- aber von je her, sicherlich auch aufgrund seiner beruf-
verfall nämlich über drei, vier Generationen verläuft lichen Erfahrungen mit dem Strafrecht und seinen
(vgl.  Krafft-Ebing  1885, 24 f.;  Lombroso  1887, Opfern, ein waches Gespür für die äußeren Faktoren,
78 f.;  Maudsley  1870, 214;  Max  2008, 39–47;  Möbi- unter denen tatsächliche oder vermeintliche Erbanla-
us 1882, 33 f.; Morel 1857, 127; Ribot 1876, 106). gen sozusagen ausbrechen (vgl.  Bergengruen  2010b,
Vermutlich hatte Storms Empfänglichkeit für den 215;  Fasold  1997, 57–59;  Dies. 2000, 47–58;  Laa-
Vererbungs- und Verfallsdiskurs nicht zuletzt auch ih- ge 1995, 8; Tönnies 2012, 63 f., 67 f.). Paradebeispiele
re ganz persönlichen Gründe in den Schuldgefühlen, für diese Sensibilität, für eine im Grunde schon milieu-
die er seinem missratenen Ältesten gegenüber hegte. theoretische Sicht der Dinge, sind die Novellen Ein
Für seine Person davon verschont geblieben, glaubte er Doppelgänger oder Hans und Heinz Kirch. Der ver-
die Alkoholkrankheit oder die Disposition dafür dem kommene Sohn Heinz ist ganz offensichtlich das Opfer
Sorgenkind vererbt zu haben (von der Familie seines der Abrichtungsmethoden seines Vaters, seiner frühen
Vaters her). Nicht umsonst erscheint das ausbuchsta- Demütigungen durch diesen; überhaupt der väterli-
bierte Theorem der erblichen Belastung, in seiner über chen idée fixe, dass der Sohn dasselbe Leben zu führen
die Tagespresse popularisierten Gestalt, ausgerechnet und zu bewältigen habe wie der Vater, kurzum der vä-
in John Riew’, einer Erzählung vom Alkoholismus eines terlichen Hybris, sich im eigenen Kind selber zu klo-
entsprechend gefährdeten Mädchens, den der Binnen- nen. Und aus dem Proletarier John Glückstadt alias
erzähler aus Unwissenheit maßgeblich förderte. John Hansen, dessen zur Hälfte grundguten Seiten sei-
Weitere Sedimente der Vererbungs- und Degenera- ner Tochter in so irritierend tiefer Erinnerung geblie-
tionstheorie finden sich beispielsweise in Carsten Cu- ben sind – daher ja der Titel, Ein Doppelgänger –, aus
rator, Der Herr Etatsrat, Aquis submersus, Der Schim- John Hansen also, diesem seinem ursprünglichen Na-
melreiter (vgl. hierzu ausführlich Bergengruen 2010a). men gemäß, hätte ebenso gut ein ganz gewöhnlicher
Carsten Carstens, der die Treue zum Namen des Va- ›Hans‹ werden können. Zum Kriminellen wird er erst
ters und zur im Namen des Vaters gewahrten Ord- unter dem Zwang sozialer Umstände. Einmal straffäl-
nung schon ex nomine zur Schau stellt, lässt sich dazu lig gewesen und obwohl er seine Haft in der Korrekti-
hinreißen, mit der Tochter eines Bankrotteurs und onsanstalt Glückstadt längst abgebüßt hat, kann er die-
Selbstmörders einen Sohn zu zeugen. Dieser ist denn sen Makel dann nie wieder loswerden; ein Stigma ganz
über seine Mutter ganz offenkundig erblich belastet. im Sinne Erving Goffmans (vgl. Goffman 1963), das er
Er trinkt; veruntreut das Geld seines Arbeitgebers; buchstäblich im Namen führen muss.
verjubelt beinahe das Erbe und Eigen seines Vaters; Aber auch jene genialischen Neurastheniker, unbe-
verschwendet restlos das Hab und Gut seiner Frau – schadet ihrer hereditären Belastung, sind Opfer sozia-
einer Verwandten, die wie so viele unter Storms Mut- ler und familialer Verhältnisse. Rudolph ist durch ein
terfiguren im Kindbett stirbt –; begeht endlich mehr ihm von Standes wegen zugehaltenes Amt zunächst
oder weniger offensichtlich Selbstmord (indem er, es überfordert; Archimedes dagegen kompensiert eine
Hauke Haien von fern gleichtuend, bei Sturmflut in jahrelange Unterforderung und Ausbeutung durch
See sticht). Archimedes Sternow scheint vom Etatsrat seinen Vater; Adolf scheint durch eine allzu frühe Ab-
eine bei ihm verschärfte Form von Neurasthenie ge- richtung zum Wunderkind Schaden genommen zu
erbt zu haben, samt einer bei ihm ebenfalls arg ver- haben; und Hauke, obwohl seine Karriere sich mitten
schlimmerten Neigung zum Alkohol. In Aquis sub- im 18. Jahrhundert abspielt, ist ein typischer Aufstei-
mersus, einer historisierenden Novelle, worin Storm ger, wie er im Lauf des 19. Jahrhunderts mit seiner zu-
via historiae seinem Hass auf das preußische Junker- nehmenden sozialen Mobilität zu einer relevanten Er-
tum seiner eigenen Tage Luft machte, hat der Gönner scheinung werden sollte und wie ihn Richard von
und gütige Herr Gerhardus ein degeneriertes Scheusal Krafft-Ebing im Anschluss an George M. Beard kurz
von Sohn. Hauke Haien zeugt ein schwachsinniges vor der Niederschrift des Schimmelreiters psychia-
Kind; wobei dessen Großvater mütterlicherseits, trisch analysiert hatte (vgl. Bergengruen 2010a, 75).
Deichgraf in dritter Generation, eigens mit der aus-
drücklich und als Verismus formulierten These kon-
Infektionskrankheiten
frontiert wird, dass sich »im dritten Gliede [...] der Fa-
milienverstand ja verschleißen« soll (LL 3, 655). Ungleich häufiger als die neumodischen Nervenlei-
Bei aller dem Zeitgeist geschuldeten Faszination für den und überhaupt am weitaus häufigsten unter allen
Vererbungs- und Degenerationsfatalismus hatte Storm Krankheiten sind in Storms Erzählwerk die Infektio-
94 Krankheit 357

nen vertreten. Das versteht sich angesichts der histori- Kontakt mit ihrem Geliebten wird sie bettlägerig,
schen Sterbestatistiken eigentlich von selbst. Dabei je- und »zwei Monate später« ist sie tot (332).
doch kommt die für das Privat- und Familienleben Als häufigste Infektionsart erscheint bei Storm in-
des Autors und der Seinen vielleicht wichtigste Infek- dessen das Puerperalfieber, ohne dass sich je Zeugnis-
tion in seinen Erzählungen kaum je vor, Syphilis. Hie- se dafür fänden, dass der Autor mit Ignaz Semmel-
rin kann man einen Reflex des Tabus sehen, das die weis’ zutreffender Erklärung vertraut gewesen wäre,
»verschwiegene Krankheit« auch in Storms Familie die, schon 1847 gefunden, sich erst in den 1860er Jah-
umgab. Die Angst vor ihrem – oder ihrem scheinba- ren durchzusetzen begann. Fast immer endet das
ren – Rezidivieren (bei Karl Storm) wird in Schweigen Kindbettfieber tödlich. Im Schimmelreiter jedoch
so befremdlicher- wie bezeichnenderweise auf die übersteht die Frau des Protagonisten ausnahmsweise
lange Inkubation der Tollwut verschoben (vgl.  Jack- eine Puerperalsepsis. Ihre Genesung ist aber, wie
son 2013, 273), eine sonst nur in historisierenden No- schon gesehen, nicht der Medizin zu verdanken; eben-
vellen vorkommende und also ins Spätmittelalter oder so wie der Protagonist selber von der seinerzeit vor
in die frühe Neuzeit verlagerte Infektionskrankheit Ort noch endemischen Malaria spontan genest, nach-
(Aquis submersus, Ein Fest auf Haderslevhuus). Einen dem von einem Arzt schon gar nicht erst die Rede war.
expliziten, dezenten, aber unmissverständlichen Hin- Dabei tappte noch Storms Bruder bei der Ätiologie
weis auf die Syphilis gibt es indessen in John Riew’. Ei- des ›Marschfiebers‹ oder der ›Marschkrankheit‹ so
ner der adligen Verführer, die das von John wider Wil- vollkommen im Dunkeln, dass er das alte Konzept
len zur Alkoholikerin abgerichtete Mädchen in des Miasmas bemühte – Verpestung der Luft durch
Schimpf und Schande bringen, leidet »um Mund und Ausdünstungen faulender Erde und stehender Ge-
Augen« an unkontrollierbaren Zuckungen; ein cha- wässer –, um daneben auch noch auf Umwelt- und
rakteristisches Symptom der Lues, von dem der Er- diätetisch-hygienische Faktoren zurückzugreifen: Er-
zähler eigens sagt, dass er »es wohl« kennt, dass es »die nährung, Alkoholkonsum, sexuelle Ausschweifun-
Weiber fürchten« und dass »nichts als böse Lust da- gen, ja sogar die Auswirkung einer Art Sommerzeit
hinter steckt« (LL 3, 364; vgl. LL 2, 477). auf den Biorhythmus der Erntearbeiter. Den an sich
Die seinerzeit gerade auch nach Ausweis von John richtig erkannten Zusammenhang zwischen Malaria-
Riew’ im kollektiven Bewusstsein präsenteste Infekti- epidemien und klimatischen bzw. meteorologischen
onskrankheit – die vielen Fälle von »Lungenfieber« Bedingungen (Überschwemmungen, heiße Sommer)
(LL 3, 376) halten einen Arzt von der Lektüre eines vermochte Aemil Storm deshalb noch nicht korrekt
Zeitungsartikels über Vererbung ab, der Johns Ver- herzustellen, weil das Konzept des mosquito-borne
sündigung an jenem extrem gefährdeten, weil erblich disease seinerzeit noch nicht verfügbar war, sondern
disponierten Mädchen schlagartig erhellt –, die Tu- erst seit den 1880er Jahren durch Carlos Juan Finlays
berkulose also oder, wie sie in der Regel heißt, die Untersuchungen zum Gelbfieber aufkommen sollte
Schwindsucht kommt bei Storm meistens nur neben- (das in Storms Novellen nur nebenher erwähnt wird,
her vor, so in Pole Poppenspäler, Carsten Curator oder in John Riew’, vgl. LL 3, 387; und Der Herr Etatsrat,
Bötjer Basch. Nur in Posthuma, wo sie aber nicht vgl. LL 3, 26).
beim Namen genannt wird, steht die Schwindsucht Die Entdeckung der Übertragungsbahn via Vektor,
im Zentrum des Merkmalssatzes einer Figur. Die in also noch in Storms letzten Jahren gemacht, scheint in
der Tat leicht gynotrope Krankheit findet hier mit dessen Spätwerk durchaus mitreflektiert zu sein; und
dem Gemeinplatz von der jungen und besonders zwar so, dass die Unerhörtheit dieses spektakulären
schönen Schwindsüchtigen zusammen, andeutungs- Erklärungsmodells in der Art der Reflexion mit auf-
weise vielleicht auch mit der sich lange haltenden gehoben ist. In Schweigen erscheint die Möglichkeit,
Vorstellung von der gesteigerten Libido zumal dass Krankheiten über stechende Insekten übertragen
schwindsüchtiger Patientinnen (vgl.  Ramadge  1835, werden, als Vision eines neurasthenischen Hypo-
11;  Stern  1954, 107;  Weygandt  1912, 91). »Sie trug chonders – und unheilbar Geisteskranken, wie dem
den Tod schon in sich; noch aber war sie jung und Leser die längste Zeit suggeriert wird, um ihn endlich
schön; noch reizte sie und wurde noch begehrt« doch eines Besseren zu belehren. Insekten als Krank-
(LL  1, 330 f.). Ihr »elfenhafte[r] Körper[]«, »keine heitsvektoren tauchen hier zunächst also in der Vor-
dreißig Lot« schwer (das hieße, beim Wort genom- stellung eines, aber wie gesagt zu Unrecht als solcher
men, ein paar hundert Gramm), ist »heiß [...], bren- verdächtigten Irren auf, der an einer bloß scheinbar re-
nend heiß!« (331 f.) »Acht Tage« nach dem letzten zidivierenden Psychose laboriert.
358 IV Diskurse

Auch die anderweitigen Erfolge im Kampf gegen »nach allerlei mitspielenden Nerven« (617) benannt –
die Infektionen oder wenigstens die Fortschritte im ein unlösbares oder jedenfalls ungelöstes Rätsel. Es
Verständnis ihrer Wirkungsweise lassen sich an macht ganz den Anschein, als gäbe es hinfort keine In-
Storms späteren und spätesten Novellen ablesen; und fektionskrankheit mehr, deren Name noch furchtbar
zwar auch an solchen, deren Handlung mehr oder we- genug klänge, um einen Spitzenmediziner sich daran
niger weit vor die bakteriologische Revolution fällt. In bewähren zu lassen.
Renate – d. h. nach Maßgabe der erzählten Zeit An-
fang des 18. Jahrhunderts – betreibt die deshalb scheel
Krebs
angesehene Protagonistin Infektionsprävention. Sie
vermeidet es, sowohl mit einer weltlichen Gesellschaft Gerade weil die Infektionen darin durchweg als be-
aus demselben Gefäß als auch beim kirchlichen Ritual siegbar paradiert werden, bietet sich Ein Bekenntnis
der Kommunion aus demselben Kelch zu trinken. auch für die Frage an, ob und gegebenenfalls wodurch
Auch im Schimmelreiter geht die Überwindung einer die seinerzeit virtuell überwindbare Angst vor den In-
Infektion wieder mit einem zumindest leicht antireli- fektionskrankheiten ersetzt wurde. In der Tat kann
giösen Impuls einher. Denn der Protagonist betet man einem entsprechenden Ersetzungsvorgang hier
zwar für seine infizierte Frau; aber in eins damit gibt er in actu zusehen. Denn in just dem Moment, da er an
auch zu verstehen, dass er an der Wirksamkeit seines »der Impfliste« (LL  3, 607) sitzt, also biopolitisch
Gebets zweifelt und an die Allmächtigkeit des angeru- durchorganisierte Infektionsprävention betreibt,
fenen Gottes gar nicht mehr glaubt. wird Jebe mit den Symptomen einer Krebserkran-
Die hierfür wie in Sachen Krankheit und Medizin kung konfrontiert, bei der seine Kunst vorläufig an
überhaupt einschlägigste Novelle jedoch ist diejenige, ihre Grenzen stößt. Sie bringt ihn dazu, den Hippo-
die Storm unmittelbar vor dem Schimmelreiter voll- kratischen Eid zu brechen (in dessen traditioneller,
endete, Ein Bekenntnis. Deren Held ist Mediziner. aber vermutlich falscher Auslegung; vgl.  Rütten
Schon dadurch unterscheidet sie sich von Storms an- 1997). In einer unseligen Verquickung von privater
deren Novellen sowie von Paul Heyses ansonsten pla- und beruflicher Rolle leistet er der Patientin, seiner ei-
giatsverdächtig ähnlicher Erzählung Auf Tod und Le- genen Frau, Sterbehilfe. Auf ihre flehentliche Bitte hin
ben (1885), in der die Position des Helden noch in der und von der Unheilbarkeit ihrer Krankheit überzeugt,
allertraditionellsten Weise, nämlich mit einem Mi- will er ihr die Schmerzen ersparen, die sie zuvor bei
litär, und sei es auch mit einem Hauptmann a. D. be- einer Gemüsehändlerin beobachten musste. Dabei
setzt war. versäumt er es, sich über den rezentesten Forschungs-
Storms Held, Franz Jebe, leistet zur Buße oder stand zu informieren, in einer Zeitschrift, die ihm
Selbstbestrafung für einen einst begangenen Fehler buchstäblich vor der Nase liegt, die er aber eben in sei-
seine letzten drei Lebensjahrzehnte medizinische Ent- ner Verzweiflung ungelesen in die »große Schublade«
wicklungshilfe in Ostafrika, »wo mehr die Unwissen- (LL  3, 608) seines Schreibtischs geschmissen hat.
heit als Krankheit und Seuche den Tod der Menschen Nach dieser Publikation, die es tatsächlich gab – ver-
herbeiführt« (LL 3, 631). Er stirbt 1884 im Kampf ge- fasst von jenem Lehrer Glaeveckes (vgl. Freund
gen eine »Seuche«, aber ausdrücklich nicht an dieser, 1878) –, waren bei dem beschriebenen Fall von Ge-
sondern an Erschöpfung und aus Altersschwäche; wo- bärmutterkrebs tatsächlich reelle Heilungschancen
bei auch hier die Fortschrittlichkeit des abendlän- gegeben; nur dass der erzählte medizinische Fort-
dischen know how mit einer Distanz zum Christentum schritt mit einem Anachronismus erkauft ist. Denn
einhergeht. Denn Jebe, so der die Nachricht von sei- wie Storm nachweislich wusste (vgl. Storm–Heyse III,
nem Heldentod überbringende Missionar, habe bis zu- 155 f.; Storm–Petersen, 176), erschien Freunds Arti-
letzt »den rechten Weg des Heils verschmäht[]« (632). kel erst ein Vierteljahrhundert später als in der Chro-
Bereits vor seinem selbstgewählten Exil erweist nologie der erzählten Zeit vorausgesetzt. Aufgrund
sich Jebe den Infektionskrankheiten gewachsen: bei dieses Anachronismus soll es dem Helden endlich
einem schwierigen Fall von Diphtherie, einer seiner- doch noch gelingen, eine an Gebärmutterkrebs Er-
zeit gefürchteten Kinderkrankheit, deren Erreger erst krankte erfolgreich zu operieren, eine Etatsrätin, so
kurz vor Entstehung der Novelle identifiziert wurde; dass die Heilungschancen in so sinniger wie makabrer
sowie bei einer gefährlichen »Seuche«, die ganz neu Weise proportional zum Sozialstatus der Patientinnen
auftritt, vor allem die Jugend befallen soll und deren steigen: Die Proletarierin muss ohne Wenn und Aber
Namen er seltsamerweise nur dunkel andeutet. Sie sei sterben; die Gattin des Bildungsbürgers könnte zu-
94 Krankheit 359

mindest gerettet werden; und die Witwe eines hohen her spezifiziert wird, ist er auf exklusiv weibliche Or-
Beamten darf tatsächlich genesen. gane festgelegt.
Zu diesem Zweck führt der Autor ausgerechnet ei- Die mutmaßlich erste Krebspatientin in Storms
ne Krebsart vor, die ganz ausnahmsweise zur Entste- Gesamtwerk ist Lena Wies im eponymen Gedenkblatt
hungszeit der Novelle schon heilbar war, wenn auch (1870/73), also einem faktualen oder sich als faktual
nicht zur erzählten Zeit der Binnenerzählung. Inso- ausgebenden Text. Lena Wies, von der Storm das Er-
fern konsolidiert Ein Bekenntnis das Vertrauen in die zählen gelernt haben will und die ihm zumal die Ge-
Unaufhaltsamkeit des medizinischen Fortschritts. schichte vom Schimmelreiter schon in der Kindheit er-
Dieser kann virtuell alle Krankheiten einholen. Damit zählt haben soll – entgegen der in der Novelle selbst
aber werden Unheilbarkeitsprognosen obsolet, wie sie gemachten Quellenangabe –, Lena Wies also gehört
seinerzeit in der neu vereinheitlichten Gesetzgebung lebensgeschichtlich einerseits in eine Zeit lange vor
des Deutschen Reichs bei der Beurteilung von Sterbe- der bakteriologischen Revolution, da noch nicht ein-
hilfe eine besondere Rolle spielten (vgl.  Käser  1998, mal die erste Impfung vor Ort bekannt war, diejenige
165–170;  Elsaghe  2011, 27), namentlich bei der Be- gegen die Pocken (auf die vermutlich auch in Ein Be-
wertung strafmildernder Umstände (neben der Ein- kenntnis angespielt wird, vgl. LL 3, 597 f.). Einerseits
willigung der oder des Verstorbenen und einem be- also ein letztes Exemplar eines pockennarbigen Men-
sonders nahen Verhältnis, in dem er oder sie zum schen, stirbt sie anderseits mutmaßlich an Krebs –
Sterbehelfer stand – was beides in Ein Bekenntnis mutmaßlich deshalb, weil Storm sich hier mit quasi
ebenfalls gegeben ist). magisch-abwehrendem Gestus auf Umschreibungen
Der Krebs füllt gewissermaßen das Vakuum, das beschränkt, deren eine indessen den metaphorischen
die nach und nach beschwichtigten Infektionsängste Namen der Krankheit nahezu wiederverwörtlicht, in-
zu hinterlassen im Begriff waren. Dabei sieht man die- dem sie diese mit einem entsprechenden Tier ver-
ser neuen Krankheitsangst das Erbe noch an, das sie gleicht: »Qual« und »Entsetzen jener furchtbaren
sozusagen angetreten hat (vgl. Elsaghe 2010, 510). Im Krankheit«; »[e]ine jener Krankheiten [...], die sich an
Schimmelreiter z. B. erscheint der Krebs, an dem die den Menschen anhaften wie ein fressendes Tier, das er
Nebenfigur Antje Wohlers stirbt, als »Krankheit unse- nicht abschütteln, noch ausreißen kann, sondern Jah-
rer Marschen« (LL 3, 676), also unter einem beinahe re lang mit sich umhertragen muß, bis er ihm endlich
gleichen Namen wie eine vor Ort endemische und erlegen ist« (LL 4, 183).
Storm über seinen Bruder Aemil vertraute Infekti- In Ein Bekenntnis sind es – wie gesehen – wiederum
ons-, die »Marschkrankheit« (Grimm/Grimm et drei Frauen, die jeweils an Krebs erkranken. Dabei
al. 1878, 1676; Storm 1857, 4). bleibt auch hier der Binnenerzähler, ein erfahrener
Der so insinuierte Kausalzusammenhang zwischen Fachmann, die längste Zeit und über weiteste Stre-
Bodenfeuchtigkeit und Karzinogenese war durchaus cken bei laienhaft-schwammigen Benennungen (vgl.
nicht aus der Luft gegriffen. Als medizinische Lehr- Storm–Heyse  III, 154 f.): »Krankheit« (LL  3, 608),
meinung hielt er sich tief ins 20. Jahrhundert hinein »Übel« (617), »Leiden« (608). Den schonungslos exak-
(vgl. Hunziker 1934, 17 f.). Noch Thomas Mann muss ten Begriff »Carcinoma« (608) wagte Storm erst sehr
er so plausibel vorgekommen sein, dass er ihn in je- spät in die Handschrift zu setzen, nachdem er nämlich
nem Essay talis qualis abrufen konnte: »das Marschen- durch jenes »Humbug-Konsilium« (Mann 1974, 266)
übel, [...] der Magenkrebs« (Mann 1974, 266). von seiner eigenen Krebsdiagnose erlöst worden war.
Bei allem Glauben an die Macht der sich zusehends Aber nicht nur, dass der Krebs bei Storm immer
ausdifferenzierenden Spezialistenmedizin, den Ein nur Frauen befällt und, wenn genauer festgelegt, an
Bekenntnis selbst hinsichtlich der ›neuen‹ Krankheit Organen, an denen weder der Autor noch seine Leser
zu kommunizieren scheint, spricht daraus indessen je erkranken können, weil sie sie schlechterdings nicht
doch auch ein Grauen vor dieser. Ein Bekenntnis, wie haben: Die von finalem Krebs befallenen Frauen wer-
Storms Spätwerk überhaupt, zeugt von der Notwen- den auch sozial oder national auf Distanz gehalten
digkeit, solches Grauen zu sedieren und die Krankheit und von Storms Milieu oder Heimatregion dissoziiert.
selbst zu exorzieren. Denn obwohl oder gerade weil Lena Wies, die Krebspatientin des Schimmelreiters
der Autor seinerzeit selber an Magenkrebs erkrankt und jene krebskranke Gemüsehändlerin des Bekennt-
und anfangs auch mit der wahren Diagnose konfron- nisses befinden sich am unteren Ende der Gesellschaft.
tiert war, erscheint der Krebs hier wie anderwärts im- Jebes Frau, Elsi Jebe, geborene Füßli, ist eine Fremde.
mer nur beim anderen Geschlecht; und wenn er je nä- Wie schon ihr Name verrät, kommt sie aus dem zwar
360 IV Diskurse

angrenzenden, deutschsprachigen, aber doch auch ei- Heimkehr erst in seinen Kompendien nachzulesen«
nem Ausland, das Storms engerer Heimat landschafts- (591); hat er doch »an Leichnamen« »den innern
typologisch diametral gegenübersteht; ein Binnen- Menschen kennen gelernt« (591). Wenn das auf die
land, berühmt für sein Hochgebirge. Wie wichtig das pathologische Anatomie anspielt, dann liegt hier wie-
Moment ihrer Landesfremdheit gewesen sein muss, derum ein leichter Anachronismus vor. Denn die neue
zeigt sich an Storms angestrengten Versuchen, es dop- Methode, von Paris aus über Wien in den deutschen
pelt und dreifach zu authentifizieren: genealogisch, Kulturraum gelangend, setzte sich in diesem erst wäh-
historisch, idiomatisch. rend der 1840er Jahre durch, als Jebe, mutmaßlich in
Der einzige bekannte Träger ihres Geschlechts- den 1810er Jahren geboren, seine Ausbildung schon
namens sei ihr »Großoheim« (LL 3, 592) gewesen, ob- beendet haben müsste.
wohl eine Else in Johann Heinrich Füsslis Genealogie In der Reihe der medizingeschichtlichen Übergänge
nirgends vorzukommen scheint – ganz zu schweigen von der Bibliothek zum Krankenbett und vom Kran-
von der Seltsamkeit, dass ein Großoheim, d. h. in kenbett zum Sezierschragen markiert Jebes Karriere al-
Storms Vokabular sehr wahrscheinlich der Bruder ei- so das vorderhand allerneuste Stadium (vor dem Über-
ner Vorfahrin, denselben Familiennamen tragen soll gang zum Labor). Dabei aber bleibt der Bruch mit dem
wie deren Enkelin. Aber auch patrilinear wird Elsis Herkommen kritisch reflektiert. Denn nicht nur, dass
Herkunft aus der Schweiz beglaubigt. Der Vater habe die potenzielle Heilung der geliebten Frau und die tat-
sich während den »Sonderkriegen auf eidgenössischer sächliche Rettung einer anderen einen Rückgriff auf
Seite [...] hervorgetan« (593); eine wiederum nicht ve- die moderne Form der Bibliothek zur Voraussetzung
rifizierbare Aussage. Ein Füßli scheint in der Geschich- gehabt hätte bzw. tatsächlich hat: Auf die betreffende
te des Sonderbundskriegs nicht aktenkundig zu sein. Publikation stößt Jebe während seines Kampfs gegen
Darüber hinaus werden der Schweizerin Helvetismen jene namenlose Seuche; und auch hier kommt die Ret-
bzw. Pseudohelvetismen in den Mund gelegt, die aber tung gewissermaßen aus der Bibliothek, und zwar aus
in ihrer Fadenscheinigkeit weniger ihre Fremdheit deren althergebrachter Form, der hier eigens Tribut ge-
plastifizieren als vielmehr den verbissenen Willen zu zollt wird. Weil die Seuche selten geworden ist und weil
erkennen geben, die Krankheit auf Distanz zu bringen. er sie also nur dem gleichwohl vorenthaltenen Namen
»Freud« (600) für ›Freude‹ ist keine typisch schweizeri- nach kennt, liest Jebe »in den älteren Praktikern, die
sche, sondern eine allgemein oberdeutsche Form; und aus ihrer Zeit das Übel durch Erfahrung kannten und
die Koseform »Franzele« (602) ist allenfalls süd-, aber deren feine Beobachtung bei geringen Hülfsmitteln«
auf gar keinen Fall schweizerdeutsch. ihm »immer Achtung eingeflößt hatte« (LL 3, 617 f.).
Das Bedürfnis nach solchen Abgrenzungen ließ of- Seine Achtung vor der Tradition geht hier mit einer
fenbar von dem Moment an nach, da Storm glauben sehr bemerkenswerten Skepsis gegenüber der moder-
durfte, glauben wollte, dass er selber von der Krebs- nen Medizin einher und gegenüber den epistemologi-
krankheit doch verschont war. Denn im Schimmelrei- schen Voraussetzungen ihrer Fortschritte, namentlich
ter, einem Text, der wie gesagt unter der Täuschung gegenüber der pathologischen Anatomie. Nachdem er
jener falschen second opinion entstand, wird der auch trotz seiner hochmodernen Qualifikation endlich
nicht mehr weiter spezifizierte, geschweige denn auf doch dem Tod zugearbeitet hat, statt dem Leben und
ein weibliches Organ festgelegte Krebs ja ausdrücklich seiner Erhaltung zu dienen, formuliert Storms tragi-
als »Krankheit unserer Marschen« tituliert. scher Held bereits das Dilemma oder Paradoxon, das
Michel Foucault in seiner ›Archäologie des medizi-
nischen Blicks‹ beschrieben hat (vgl.  Foucault  1963,
Skepsis gegenüber der modernen Medizin
125–149), mögen die Formulierungen auch noch ten-
Jebe, zur seinerzeit avanciertesten Kohorte seiner tativ und viel vager ausfallen als bei Foucault: Dass er
Zunft gehörend, ist ein sehr frühes Exemplar des Spe- an Leichen sein Expertenwissen über den »innern
zialisten und Karrieremediziners, allerdings von Menschen« erworben hatte, obwohl es ihm beruflich
manch einem Kollegen und »tüchtige[n] Mediziner« »zu Ehren« gereichte, erscheint Jebe rückblickend als
(LL 3, 582) als arrogant gemieden. Mit ausnahmslos eine Art faustische Versündigung gegen das Leben;
allen Seuchen wird er ebenso fertig wie mit Herz- und damit scheint er zugleich auch den Vorwurf und
Kreislauf-Erkrankungen – einem Schlaganfall (vgl. »Ruf des Hochmuts« zu ratifizieren, den ihm seine
602 f.) –, zuletzt eben sogar mit dem Krebs. Er braucht wissenschaftliche Exzellenz, sein Vertrauen auf das ei-
»am Krankenbett nicht erst zu suchen und bei seiner gene, durch eigene Anschauung erworbene Wissen
94 Krankheit 361

und der Verzicht auf das Speichermedium der Kom- Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm et al.: Deutsches Wörter-
pendien an »der Universität [...] bei Vielen« eingetra- buch, Bd. 6, 2. Lieferung. Leipzig 1878.
gen hatten (LL 3, 591). Denn »recht besehen«, so der Handelman, Matthew: Unvermeidliches Schicksal? Alcoho-
lism, Mathematics, and Heredity in Theodor Storm’s »Der
reumütig Gewordene, sei es »ein Frevel«, ein an Toten Herr Etatsrath« (1881). In: Scientia Poetica 18/1 (2014),
gewonnenes Wissen in die Behandlung der »Lebendi- 81–102.
gen« zu übernehmen (591). Hanssen, Peter: Medicinisches bei Theodor Storm. Eine medi-
Wie dunkel diese Andeutungen auch bleiben, so ar- zinisch-literarische Studie. Kiel 1912.
tikulieren sie doch ein, und sei es ein noch so diffuses Hunziker, H[ans]: Wissen, Glaube und Aberglaube in der
Krebsfrage. In: Bulletin der Schweiz[erischen] Vereinigung
Unbehagen an den neuen Methoden der Medizin.
für Krebsbekämpfung 1/1 (1934), 5–24.
Den Wissenschaftsoptimismus seiner Zeitgenossen Jackson, Alan C.: Human Disease. In: Ders. (Hg.): Rabies.
teilte der späte Storm also nicht einfach nur oder je- Scientific Basis of the Disease and its Management. Amster-
denfalls nicht ohne ein seismographisches Sensorium dam 32013, 269–291.
für die Fragwürdigkeiten des medizinischen Fort- Jackson, David: The Sound of Silence. Theodor Storm’s Son
schritts und des diesem zugrundeliegenden Men- Karl and the Novelle »Schweigen«. In: German Life and
Letters 45/1 (1992), 33–49.
schenbilds. Jackson, David: Theodor Storm. Dichter und demokratischer
Humanist. Eine Biographie. Berlin 2001.
Literatur Käser, Rudolf: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im
Bäumler, Ernst: Das maßlose Molekül. Bilanz der internatio- Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998.
nalen Krebsforschung. Düsseldorf/Wien 1967. Krafft-Ebing, Richard von: Über gesunde und kranke Nerven.
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95 Storms Dinge 363

95 Storms Dinge damit einer gewissen »Rhetorik des Dokumentari-


schen« (Vedder 2013, 76) im Poetischen Realismus
Theodor Storms Prosa ist, neben ihren Figuren und entspricht.
Handlungsmustern, insbesondere von ihren Dingmo- Doch darin erschöpft sich Storms Dingmotivik
tiven geprägt. In einer solchen charakteristischen ›Äs- nicht. Vielmehr äußern sich dort zumeist tabuisierte,
thetik der Dinge‹ zeigt sich eine Nähe zu anderen Au- sozial geächtete Bereiche, die nicht ausgesprochen
toren des Poetischen Realismus, dessen Kunstpro- werden können. Das betrifft insbesondere ein ›un-
gramm sich maßgeblich auf eine sinnvolle Anord- erlaubtes‹ erotisches Begehren oder auch Gewalt-
nung von Materiellem stützt; Storms Werk hat hierin aspekte, die dem gezeigten Bürgertum und seinen Fa-
aber auch zum Teil einen Sonderstatus. Diese literari- milienbanden subkutan unterlegt sind. So sind meh-
sche Dominanz der Materialität ist des Weiteren im rere Dingmotive der Novellen erotisch aufgeladen
Kontext einer wachsenden kulturgeschichtlichen Be- und stehen (fast fetischartig) als Stellvertreter für den
deutung der Dinge in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- weiblichen Körper, der aufgrund sozialer Normen den
hunderts zu sehen. Selbst wenn sich die sogenannten männlichen Figuren sexuell nicht zur Verfügung
Material Studies (vgl. Samida/Eggert/Hahn 2014) die- steht. Die begehrte Frauenfigur der Texte ist dann bei-
ser Frage seit einigen Jahren verstärkt widmen, klaffen spielsweise mit einem anderen verheiratet oder aber
noch immer große Forschungslücken in Bezug auf noch zu jung, mitunter der männlichen Figur gar
Dingmotive im Werk Theodor Storms. schwesterlich verbunden. Auch schildern Storms No-
vellen Situationen, bei denen eine erotische Spannung
zwischen den Figuren nur indirekt mitgeteilt werden
Zur Funktion von Dingen in Storms Prosa
kann, weil sie vor der Eheschließung stattfindet oder
In jeder Novelle Storms treten einzelne Dingmotive zu leidenschaftlich angelegt ist und damit eine bürger-
auf, die die Handlung und das Agieren der Figuren be- liche Ethik des Maßes übersteigt. Insbesondere der
gleiten. Ihre Funktionen in den Texten sind vielfältig; Grenzbereich zwischen einer kindlich-geschwister-
folgende Funktionsbestimmungen sind daher frag- artigen Nähe eines Knaben und eines Mädchens und
mentarisch und ließen sich weiter ergänzen (vgl. Bartl das Erwachsen-Werden vor allem des Knaben auch in
2016). Dingmotive dienen zunächst natürlich der er- Bezug auf ein erstes, erwachendes erotisches Interesse
zählerischen Textorganisation: Sie charakterisieren an dem (zumeist noch immer eher kindlichen, präpu-
die Figuren. So wird etwa der Herr Etatsrat in der bertären) Mädchen wird oft Thema in Storms Novel-
gleichnamigen Novelle von den ihn umgebenden Ob- len – und dies ist ein sozial tabuisierter Grenzbereich,
jekten (»ein sehr hoher Schrank in Gestalt eines Al- der die Pädophilie oder den Geschwisterinzest be-
tars«, darin »die Symbole des Todes: Schädel und rührt und dessen erotische Implikationen vom Erzäh-
Beinknochen«, dazu »eine Glasharmonika« und »eine ler daher nicht genauer verbalisiert werden können.
Punschbowle«; LL 3, 11) symbolisch als Verderben Sie drücken sich aber über die Dingmotive aus, die
bringender, dabei kunstaffiner Alkoholiker beschrie- dem jungen Figurenpaar beigegeben werden. Bei-
ben. Hauke Haien hingegen ließe sich wohl kaum tref- spielsweise äußert sich die erotische Spannung des
fender fassen als in dem Satz: »der sitzt lieber vor der (fast geschwisterlichen) Kinderpaares in Auf dem
Rechentafel, als vor einem Glas mit Branntwein« (LL Staatshof über Dingmotive (die üppig-sinnliche Pflan-
3, 655). Die Dinge verknüpfen zudem leitmotivisch zenwelt, die anakreontisch-erotischen Fresken des Pa-
die Handlungsschritte der Novellen. Das bei Storm öf- villons) – ähnlich wie es über das kindliche Freundes-
ter auftretende Motiv der Uhr (vgl. etwa die englische und spätere Liebespaar Heinz und Wieb in Hans und
Hausuhr in Beim Vetter Christian) organisiert ins- Heinz Kirch heißt: »und er schwenkte sich mit ihr im
besondere die Zeitstruktur der Texte und verschränkt Kreise, bis die roten Äpfel aus den Taschen flogen« (LL
deren Zeitebenen des Vergangenen, Gegenwärtigen 3, 67). Auch in Immensee berührt Reinhardt statt des
und Zukünftigen. Durch Betrachtung der Dinge kann begehrten Körpers von Elisabeth, die ja mit Erich ver-
der Leser ferner spekulativ rekonstruieren, was gerade heiratet und damit für Reinhardt sexuell unerreichbar
emotional im Inneren der Figuren vorgeht, das in ist, sehnsuchtsvoll ihr Halsband.
Storms Texten nicht expliziter beschrieben wird Ein weiteres soziales Tabu, das sich in Storms Novel-
(Schneider 2008a, 13). Im Ganzen wirken die Dinge in len nur indirekt über Ding-Motive ausspricht, ist die in
Storms Texten als ein Realitätsanker, der das Gesche- den geschilderten Familien latent vorhandene Gewalt,
hen an eine bürgerliche Alltagswelt rückbindet und insbesondere auch deren Verbindung zu Sexualität.

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_95, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
364 IV Diskurse

Zwar wäre die Liebe zwischen Hanna und John in Ein sie scheinen eine eigene Macht zu haben, die die Figu-
Doppelgänger als eheliche Vereinigung eigentlich sozial ren nicht kontrollieren können, oder sich gar auf
sanktioniert, aber sie überschreitet in ihrer Leiden- phantastische Weise zu verlebendigen, während die
schaft das ideale bürgerliche Maß und kombiniert zu- Figuren die Anmutung entmenschlichter Objekte ha-
dem provokant Sexualität und Gewalt. Das drückt sich ben. In Pole Poppenspäler wirken die Marionetten (et-
wiederum über einen – hier stark phallisch konnotier- wa das Kasperl als »Brüderl« der Kinder; LL 1, 176)
ten – Gegenstand, ein Messer, aus: » [A]us den roten mitunter lebendiger als die mechanisch agierenden
Lippen des Weibes stieg ein Seufzer; sie warf ihre trun- Figuren wie Liseis Mutter. Im Kontext des Früh-Kapi-
kenen Augen auf den erregten Mann und zog das Mie- talismus erscheinen zudem manche Figuren und de-
der, das er vorhin über ihrer weißen Brust zerrissen ren Beziehung, etwa die Vater-Sohn-Bindung von
hatte, noch weiter von der Schulter. ›Ja, John‹, rief sie, Hans und Heinz Kirch (LL 3, 116), zur Ware bzw. zum
›nimm nur dein Messer und stoß es da hinein!‹« (LL 3, Kaufgeschäft verdinglicht. In dieser irritierenden Auf-
549) Diese Vision wird später erneut aufgrund eines lösung von Mensch-Ding-Dichotomien und der
Dingmotivs tragische Realität: Bei einem Streit mit Agency der Dinge zeigen sich in Storms Werk einer-
John verletzt sich Hanna tödlich an »einem hervorste- seits Spuren der Romantik und ihres phantastischen
henden Schraubenstift des Ofens, von dem das Kind Erzählens, andererseits der Beginn der Moderne mit
den Messingknopf zum Spielen abgenommen hatte ihren Entfremdungserfahrungen, Technisierungs-
[...]: da, da quoll es [= das Blut] hervor, da war der Stift schüben und Subjektkrisen.
[in Hannas Körper] hineingedrungen« (553). Dazu gehört auch, wie schwer sich Storms Figuren
Dieser Metallstift spiegelt eine weitere Funktion mit der Interpretation solcher Gegenstände tun. Die
der Ding-Motive in Storms Novellen: Dinge fungieren sie umgebenden Dinge erscheinen ihnen (und dem
als Erinnerungszeichen und speichern eine trauma- Leser) vielmehr oft rätselhaft, auf verstörende Weise
tisch erlebte Schuld, die aus der Vergangenheit in die uneindeutig. Sie machen eine Interpretation nötig, die
Gegenwart der Figuren hineinreicht und von den Be- aber so leicht nicht gelingen kann. Im Gegenteil:
troffenen nicht ausgesprochen, vielleicht nicht einmal Storms Texte erzählen indirekt oft davon, wie schwer
rational begriffen werden kann. So bleibt im Haushalt die Objektwelt zu deuten ist und dass sich in diesen
der gewaltsam verstümmelten Familie (die Mutter materiellen Zeichen kein so klarer Sinnzusammen-
starb durch die Hand des Vaters vor den Augen des hang und keine verbindliche Ordnung mehr ergibt,
Kindes) in Ein Doppelgänger der Metallstift perma- wie die Figuren das erhoffen. Häufig wird stattdessen
nent präsent – als Zeichen vergangener ›Schuld‹ oder mit den Ding-Motiven bei Storm die Frage nach deren
eines untherapierten Traumas (571), das Vater und (immer nur perspektivisch geprägter, damit ein-
Tochter von nun an begleitet. Storms Novellen erzäh- geschränkter) Wahrnehmung verbunden. Storms oft
len immer wieder von einer solchen culpa patris, einer ›unzuverlässige Erzähler‹ schildern uns die materielle
Schuld der Väter, die sich wie ein Netz um ihre Söhne Welt der Texte in perspektivischer Prägung und mit-
und Töchter legt und ihr Leben einengt, tragisch zer- unter widersprüchlicher Interpretation (vgl. Strowick
stört. Das zeigt sich erneut symbolisch in Dingmoti- 2012, 172 f.). Ein Beispiel dafür ist der Beginn von Auf
ven – etwa den Portrait-Bildern in Aquis submersus, dem Staatshof: »Ich kann nur Einzelnes sagen; nur was
Auf dem Staatshof, Im Schloß, Viola tricolor. Sie sind in geschehen, nicht wie es geschehen ist; ich weiß nicht,
mehrfachem Sinne Erbgut: materieller Besitz der Vor- wie es zu Ende ging und ob es eine Tat war oder nur
fahren und auch Ausdruck von deren nachhaltiger ein Ereignis, wodurch das Ende herbeigeführt wurde.
Verfügungsgewalt über die jungen Generationen, zu- Aber wie es die Erinnerung mir tropfenweise hergibt,
dem Speicher der Vergangenheit und Erinnerungen, so will ich es erzählen« (LL 1, 392). Eine Textpassage
ja gar flaschenpostartige, unentzifferbare ›Botschaf- aus Immensee offenbart nochmals, wie selbst der Er-
ten‹ aus einer fernen Epoche, eine Art von »Zeitkap- zähler nur spekulativ das interpretieren kann, was er
seln« (Vedder 2013, 83). Solche Dinge stiften eine an Materiellem wahrnimmt: »An einem Spätherbst-
zweischneidige Art der Genealogie, die einerseits der nachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann
jungen Generation Identität und Halt gibt, anderer- langsam die Straße hinab. Er schien von einem Spa-
seits den anhaltenden, destruktiven Einfluss der Vor- ziergange nach Hause zurückzukehren; denn seine
fahren auf die Nachfahren symbolisiert. Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen Mode
Die Dinge werden in diesem Sinne in Storms Tex- angehörten, waren bestäubt« (LL 1, 295; Hervor-
ten oft für die Menschen indisponibel, widerspenstig; hebung A. B.). Solche Erzähler und auch die anderen
95 Storms Dinge 365

Figuren (und mit ihnen der Leser) erreichen nur indi- Wichtigkeit kommen in Storms Texten Dinge eher et-
viduelle Wahrnehmungen, keine objektiven Wahrhei- was seltener und weniger facettenreich vor als bei-
ten. Zwar streben Storms Novellen (wie Erzähltexte spielsweise bei Stifter, das heißt: Storms Novellen füh-
des Poetischen Realismus generell) an, die ungeord- ren nur wenige, dafür immer wieder ähnliche Ding-
nete Welt der Zeichen im poetischen Schreiben – im motive an, vor allem Gemälde, Bücher, einzelne
Sinne eines ethisch wie ästhetisch konstruktiven Ge- Schmuckstücke, Möbelstücke und Uhren (vgl. die Ge-
samtkonzeptes – zu ordnen, aber Storms Texten, ins- mälde- und Büchersammlung in Im Schloß, die Bü-
besondere deren Ding-Motiven, ist auch das Scheitern cher im Schimmelreiter, die Möbelstücke in Immensee,
dieser Bemühung eingeschrieben: Sie zeigen in der Anne Lenes Diamantkreuz in Auf dem Staatshof etc.).
Unverfügbarkeit und Interpretationsbedürftigkeit der Fallen bei Stifter etwa ganze Sammelsurien von unter-
Dinge die Fragilität, Eigendynamik und Kontingenz schiedlichsten Gegenständen auf (vgl. dort etwa das
der modernen Welt an. dominante Trödelmotiv), so sind Storms Texte eher
von ›bedeutungsschweren‹, gleichsam erratischen
Einzel-Dingen bestimmt (Vedder 2013, 78), die auf
Literatur- und kulturgeschichtliche Kontexte
seltsame Weise isoliert wirken und sich nicht zu En-
In den Texten des Poetischen Realismus (und auch sembles verbinden. Darin spiegelt sich unter anderem
vorab in Ausläufern des literarischen Biedermeiers) die Einsamkeit der Figuren, von denen Storms Texte
spielen Dingmotive eine überdurchschnittlich große so häufig erzählen. Auch werden bei Storm solche ein-
Rolle, wie sich beispielsweise in den häufig vorkom- zelne Dinge wiederholt und variiert. In dieser – für
menden Sammler- und Trödler-Figuren oder den spe- Storms Novellen typischen – seriellen Wiederholung
zifischen Settings zeigt: den Ding-Arsenalen wie den und Variation gleichbleibender Ding-Motive manifes-
mit großen Mengen Trödel vollgestopften Dachböden tieren sich, neben der Nähe zum Poetischen Realis-
(Schneider 2008a, 13; Hunfeld 2008, 124–128), per- mus, zugleich Relikte der Romantik, weisen doch bei-
sönlichen Exponat-Sammlungen oder üppigen grün- spielsweise Eichendorffs Gedichte eine ähnliche Se-
derzeitlichen Interieurs, in denen realistische Texte oft rialität der variierenden Wiederholung von Motiven
spielen. Narrativ umgesetzt werden solche Ding-An- auf. Den Blick auf diesen Aspekt zu richten, öffnet ein-
sammlungen durch Enumerationen, inköhärente Auf- mal mehr die Perspektive dafür, welch artifizielle Text-
zählungen von kurz benannten Objekten; in ihnen ver- Konstrukte Storms Novellen sind und in welchen
sammelt der Text die Dinge ähnlich, wie das seine Punkten sie eine realismus-typische Simulation von
(Sammler-)Figuren auf ihren Dachböden oder in ih- Realität übersteigen.
ren Schau-Vitrinen tun (Hunfeld 2008, 126; Schneider Konkrete Armutsdarstellungen oder die Schil-
2008b, 157). Die Epoche des Poetischen Realismus derung der ökonomisch-kapitalistischen Warenwirt-
bringt damit eine ›Literatur der Dinge‹ hervor und schaft findet sich zudem – auch das im Unterschied zu
auch eine ihrer bevorzugten Gattungen ist per se stark manchen realistischen, besonders naturalistischen
von Ding-Motiven geprägt: die Novelle. In diesen nar- Texten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – in
rativen Dinganhäufungen wird auch das charakteristi- Storms Dingmotivik ebenfalls eher selten, wenngleich
sche Janusgesicht realistischen Erzählens im 19. Jahr- diese doch vorkommen: Pfandbetrug in Bulemanns
hundert sichtbar: Durch eine poetische Anordnung Haus (vgl. Freund 1987, 65), die Armutsdarstellung in
der Dinge kann – in der Logik des Kunstprogramms Ein Doppelgänger, Ansätze der Frühindustrialisierung
im Poetischen Realismus – eine verlorene, unsichtbare in Pole Poppenspäler, die Ökonomie-Motivik in Hans
Ordnung restituiert werden (Schneider 2008b, 160; und Heinz Kirch.
Vedder 2013, 74). Zugleich unterlaufen die sich als wi- Hier schließt sich der kulturgeschichtliche Kontext
derspenstig erweisenden Dinge solche Ordnungsver- einer lebensweltlich gesteigerten Dominanz von Mate-
suche (Schneider 2008a, 13; Vedder 2013, 90) und rialität an. Hartmut Böhme bezeichnet das 19. Jahr-
spiegeln den Ordnungsverlust einer modernen Welt. hundert zu Recht als das »Saeculum der Dinge« (Böh-
Theodor Storms ding-affines Schreiben zeigt viele me 2006, 17), kommt es darin doch in vielen kulturel-
Parallelen zu einer solchen Ding-Ästhetik des Realis- len Bereichen zu einem sprunghaften Zuwachs von
mus, insbesondere von Autoren wie Adalbert Stifter, Dingen und einer gesteigerten Fokussierung des Mate-
Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Gottfried Keller, riellen. Diese Tendenz lässt sich schlagwortartig so
Conrad Ferdinand Meyer, Jeremias Gotthelf. Es gibt umreißen: Die europäische Hochindustrialisierung,
jedoch auch Unterschiede: Trotz ihrer prinzipiellen die zunehmende Kapitalisierung und Kommerzialisie-
366 IV Diskurse

rung, das Wirtschaftswachstum der Gründerzeit, die Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere
dingorientierte Inneneinrichtung der bürgerlichen Theorie der Moderne. Reinbek b. H. 22006.
Wohnräume im Biedermeier bzw. frühen Kaiserreich, Hunfeld, Barbara: Zeichen als Dinge bei Stifter, Keller und
Raabe. Ironisierung von Repräsentation als Selbstkritik
die (auch an Goethe orientierte) Sammelkultur des im Realismus. In: Sabine Schneider/Dies. (Hg.): Die Dinge
Groß- und Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert, und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Er-
die Entstehung bzw. Ausdifferenzierung von ding- und zählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer.
sammelaffinen Wissenschaften wie z. B. der Ethnolo- Würzburg 2008, 123–141.
gie und Kunstgeschichte, die statistisch nachweisbare Freund, Winfried: Theodor Storm. Stuttgart 1987.
König, Gudrun M.: Der Auftritt der Waren. Verkehrsformen
Fülle von Ausstellungen, etwa das neue Konzept der
der Dinge zwischen Warenhaus und Museum. In: Hart-
Weltausstellung (ab erstmals 1851), die Entstehung mut Böhme/Johannes Endres (Hg.): Der Code der Leiden-
von Warenhäusern – all das sind kulturgeschichtlich schaften. Fetischismus in den Künsten. München 2010,
nachweisbare Belege für eine verstärkte Tendenz zur 146–157.
Akkumulation und Präsentation von Dingen, die die Samida, Stefanie/Eggert, Manfred K. H./Hahn, Hans Peter
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägt (König 2010, (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzep-
te, Disziplinen. Stuttgart 2014.
147; Böhme 2006, 18). Eine lebensweltliche wie litera- Schneider, Sabine: Einleitung. In: Dies./Barbara Hunfeld
rische Faszination für die Dingkultur muss darüber hi- (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realis-
naus auch als Reaktion auf die beginnenden Erfahrun- tischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Hel-
gen der Moderne wie Beschleunigung, Urbanisierung, mut Pfotenhauer. Würzburg 2008a, 11–24.
Ich-Verlust, Steigerung der Warenproduktion, Kapita- Schneider, Sabine: Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in
der Erzählliteratur des Realismus. In: Dies./Barbara Hun-
lisierung, Technisierung, im Ganzen: eine ›Materiali-
feld (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des
sierung‹ vieler gesellschaftlicher Diskurse gesehen Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts.
werden. Storms Texte geben dem in ihrer funktions- Für Helmut Pfotenhauer. Würzburg 2008b, 157–174.
reichen Einbeziehung von Dingmotiven Ausdruck – Strowick, Elisabeth: Exzentrik von Wahrnehmung. Thomas
und unterlaufen zeitgenössische Diskurse der Ver- Manns wehmütige Mimesis an Theodor Storm. In: Stefan
äußerlichung darin zugleich kritisch. Börnchen/Georg Mein/Gary Schmidt (Hg.): Thomas
Mann. Neue kulturwissenschaftliche Lektüren. München
2012, 167–189.
Literatur Vedder, Ulrike: Dinge als Zeitkapseln. Realismus und Un-
Bartl, Andrea: Von der Eigendynamik der Dinge. Eine ver- verfügbarkeit der Dinge in Theodor Storms Novellen. In:
gleichende Lektüre von Theodor Storms und Thomas Dies./Elisabeth Strowick (Hg.): Wirklichkeit und Wahr-
Manns Novellen. In: Heinrich Detering/Maren Ermisch/ nehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm. Bern
Hans Wißkirchen (Hg.): Verirrte Bürger. Thomas Mann 2013, 73–90.
und Theodor Storm. Tagung in Husum und Lübeck 2015. Vedder, Ulrike: Das Rätsel der Objekte: Zur literarischen
Frankfurt a. M. 2016, 159–175. Epistemologie von Dingen. Eine Einführung. In: Zeit-
Bischoff, Doerte: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge schrift für Germanistik N. F. 22/1 (2012), 7–16.
im 19. Jahrhundert. München 2013.
Andrea Bartl
96 Storms Rechtspoetik 367

96 Storms Rechtspoetik richtsassessor in Potsdam, als Kreisrichter in Heiligen-


stadt und schließlich erneut als Landvogt in Husum
Neben den Stimmungsnovellen, die die erste Werk- und schleswig-holsteinischer Amtsrichter zum Trotz
phase dominieren, und den Erinnerungsnovellen, die (s. Kap. II.9), weder auf eine Rechtsbelehrung der Le-
stärker lyrisch geprägt sind (vgl. Stockinger 2008; ser/innen noch auf eine in engerem Sinne juristische
Korten 2009, 183–227), bilden jene Novellen, in denen Bearbeitung der in die Erzählung eingearbeiteten De-
rechtliche Tatbestände zentrale Handlungselemente likte, geschweige denn auf deren rechtliche Einschät-
darstellen, ein nicht zu unterschätzendes Korpus in- zung oder gerichtliche Verhandlung. Den Mittelpunkt
nerhalb des umfangreichen novellistischen Werks von der Erzählungen bildet vielmehr die Figur des über-
Theodor Storm. Die deliktspezifische Bandbreite der wiegend männlichen Täters, der emphatisch als ›gan-
in den zu Recht als »Kriminalnovellen« (vgl. Freund zer Mensch‹ sichtbar werden soll. Storms rechtsnovel-
1975) zu bezeichnenden Werke reicht von Suizid (Auf listisches Werk steht damit – und auch das macht die
der Universität und Draußen im Heidedorf) und suizi- Erzählungen zu Kriminalnovellen − in der Tradition
dalem Kindsmord (Der Herr Etatsrat) über Betrug, des von Friedrich Schiller und Friedrich Immanuel
Veruntreuung und Bestechung (Bulemanns Haus), Tö- Niethammer mit ihrer Bearbeitung von Gayots Causes
tung, versuchte Tötung und Grenzverletzung (Wald- célèbres (Merkwürdige Rechtsfälle als Beitrag zur Ge-
winkel), Standesmissbrauch und uneheliche Mutter- schichte der Menschheit, 1792–1794) sowie mit Schil-
schaft (Aquis submersus), versuchtem Lynchmord lers Kriminalnovelle Verbrecher aus verlorenen Ehre
(Renate), Glückspiel, Spekulation, Veruntreuung und (1786) begründeten kriminalpsychologischen Erzäh-
Betrug (Carsten Curator), Beleidigung und Ver- lens. Zwar ordnet sich die Handlung auch bei Storm
unglimpfung (Es waren zwei Königskinder) bis hin zu durchweg um strafrechtliche Tatbestände, oftmals so-
Totschlag (Ein Doppelgänger) und Tötung auf Verlan- gar, wie oben benannt wurde, um veritable Kapitalver-
gen (Ein Bekenntnis). Obgleich der Rechtsbruch, brechen wie Totschlag oder versuchte Tötung, es ste-
wenn auch gelegentlich wie in Draußen im Heidedorf hen jedoch weder das kriminologisch Spektakuläre
oder in Ein Doppelgänger um Elemente der Schauer- der Tat noch das Außergewöhnliche der Delinquenz
novelle angereichert, in den genannten Erzählungen im Mittelpunkt. Die Aufmerksamkeit richtet sich statt-
zweifelsohne zum zentralen Gestaltungselement der dessen auf die Ursachen, die zu dem bei Storm durch-
Handlung avanciert, folgen Storms Erzählungen den- weg als singuläres Ereignis konzipierten Rechtsbruch
noch nur bedingt dem im 19. Jahrhundert prominen- geführt haben, sowie auf die sozialen Konsequenzen,
ten Muster der sogenannten Pitavalerzählung. Diese die sich durch diesen für das Leben des Delinquenten
verdanken ihren Namen dem Verfasser der ersten ergeben. Im Vergleich zur Pitavalerzählung treten die
neuzeitlichen Kriminalfallsammlung, dem französi- historische Verbürgtheit des ›Falls‹ und seine juristi-
schen Advokaten François Gayot de Pitaval, Autor der sche Würdigung demgegenüber in den Hintergrund
1734 bis 1743 in 20 Bänden erschienenen Causes célè- und geben hierdurch einem Erzählen Raum, das das
bres et intéressantes. Gayot de Pitaval hatte reale ›Vorher‹ und ›Nachher‹ einer Tat erfasst.
Rechtsfälle aus seiner anwaltlichen Tätigkeit als exem- Dem literarischen Blick auf das biografische Ganze
pla für Studierende des Rechts erzählerisch aufbereitet der delinquenten Identität verdankt sich auch die ge-
und damit unter der Hand das Genre der Kriminalfall- nerische Entscheidung zugunsten der Novelle an Stelle
erzählung bzw. des Kriminalberichts geschaffen, das der Pitavalerzählung, für die Storm durch seine eigene
unter eben dem generischen Terminus ›Pitavalerzäh- juristische Praxis genügend Material gehabt hätte.
lung‹ im 19. Jahrhundert von Autoren wie Paul Jo- Doch nur die Form der Novelle erlaubt es, den Rechts-
hann Anselm von Feuerbach (Merkwürdige Kriminal- bruch als außergewöhnliches Ereignis innerhalb des
rechtsfälle, 1808–1811) oder Julius Eduard Hitzig und Ganzen eines bis dahin gewöhnlichen Lebens zu er-
Wilhelm Häring (Der neue Pitaval, 1842–1890) zu ei- zählen (vgl. Rath 2000), da sie gemäß Storms berühm-
nem Genre der populären Unterhaltungsliteratur aus- tem Diktum dem Modus des Dramatischen näher
gebaut wurde, dessen meist in mehreren Bänden pu- steht als dem Narrativen (Brief vom 9.10.1879 an Erich
blizierte ›Fallgeschichten‹ einen rechtsbelehrenden Schmidt, Storm–Schmidt II, 62). Im Gegensatz zur Pi-
Gestus besaßen (vgl. Linder 1991). tavalerzählung, die streng an den Rechtsbruch und die
Demgegenüber zielen Storms Novellen, seiner Aus- chronologische Entfaltung des Verbrechens gebunden
bildung zum Juristen und seiner langjährigen Berufs- bleibt, gibt die Novelle ausreichend Raum, um den Fo-
tätigkeit zuerst als Rechtsanwalt in Husum, als Ge- kus von der Tat auf den Täter, von dem einzelnen Er-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_96, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
368 IV Diskurse

eignis auf dessen mannigfaltige Umstände, von dem 2009), bislang aber keine Studie vorliegt, die der Ver-
Bruch der rechtlichen auf den der sozialen Ordnung bindung von Recht und Literatur systematisch nach-
und von der gelingenden oder scheiternden Restituti- geht. Zwar ist die bei Wohlhaupter praktizierte Exklu-
on des Rechts auf die des Lebens zu lenken. Dies hat – sion Storms aus dem Kreis der als »Dichter-Juristen«
zumal bei Storm – weitreichende Folgen für die krimi- bekannt gewordenen ›Kriminalautoren‹ (vgl. Wohl-
nalliterarische Narration selbst: Denn Storm dehnt, haupter 1957) seit der umfangreichen Monografie von
erstens, in allen Kriminalnovellen die Ursachen der Mückenberger (vgl. Mückenberger 2001), der eine
Delinquenz über die Figur des Rechtsbrechers und die Handvoll thematisch verwandter Aufsätze voraus- und
Umstände im zeitlichen Umfeld der Tat auf den gesell- nachgingen (u. a. Stuckert 1959, Segeberg 1992, Erd-
schaftlichen Kontext aus, mithin auch auf den Mikro- mann 2004), behoben; nichtsdestotrotz steht aber eine
kosmos der sozialen Gemeinschaft, aus dem heraus die eingehende Beschäftigung mit Storms kriminallitera-
Tat verübt wird, und verwandelt seine Novelle hier- rischem Schaffen noch aus. Es scheint, als würde die
durch in regelrechte kriminalliterarische Milieustu- systematische Erschließung seiner Kriminalnovellen
dien. Dabei beschränkt er, zweitens, die Verkörperung überschattet von den gattungspoetisch verschwisterten
juridischer Sachverhalte nicht auf die üblichen Reprä- Erzählungen von Schiller, Hoffmann, Kleist, Droste-
sentanten des institutionalisierten Rechtsdiskurses wie Hülshoff, Meyer, Fontane, Hauptmann bis hin zu Falla-
Anwälte, Staatsanwalt oder Richter, sondern erhebt da, denen sie gerne vergleichend beigeordnet werden
besonders Figuren des staatlich geregelten, öffent- (u. a. Korten 2009, Röllecke 1992, Burns 2002). Dies ist
lichen Lebens wie Amtsmänner, Bürgermeister, Stadt- vermutlich auch der Grund, warum die existierende
vorstehern u. a. m. zu juridischen Sprechinstanzen. Forschung zur Rechtspoetik bei Storm vor allem Auf-
Weil damit, drittens, die erzählte Tat einschließlich ih- sätze umfasst, die in der Regel einzelne Kriminalnovel-
rer strafrechtlichen Folgen und den sie verkörpernden len in den Vordergrund stellen wie Der Herr Etatsrat
Rechtsinstanzen aus dem Mittelpunkt der erzählten (vgl. Tschron 1982), Draußen im Heidedorf (vgl. Sege-
Geschichte an deren Peripherie verschoben ist, wird berg 1992), Ein Bekenntnis (vgl. Wünsch 1992) und na-
›das‹ Recht in all seinen Erscheinungsformen bei türlich Ein Doppelgänger (s. Kap. III D.70).
Storm zu einem Sachverhalt, dessen Einrichtung, Auf- Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass es eine
rechterhaltung, Zerstörung und Wiederherstellung zu- Reihe von Merkmalen gibt, die Storms in Form und
tiefst von sozialen Handlungen abhängig ist. Entspre- Inhalt durchaus divergenten Kriminalnovellen zu-
chend sind in Storms Kriminalnovellen ausnahmslos sammenhalten und die es erlauben würden, sie mit
alle Figuren in die Diskursivierung von Recht einge- Blick auf den Konnex von Recht und Literatur einer
bunden, denn sie alle sind als Teile eines sozialen Gefü- geschlossenen Analyse zu unterziehen. An erster Stel-
ges erzählt, das rechtsförmig strukturiert ist, in dem je- le ist hier der Umstand zu nennen, dass das Anliegen,
des Ereignis eine juridische Bedeutung besitzt und jede Delinquenz erzählend verstehbar zu machen, bei
Handlung, auch die entlegene, arbiträre oder unterlas- Storm bedeutet, sie aus der Rechtsförmigkeit des so-
sene, rechtliche Konsequenzen für das weitere Ge- zialen Mikrokosmos heraus zu entwickeln, unabhän-
schehen hat. Genealogische, ökonomische, soziale, ge- gig davon, wie dieser jeweilige literarische Mikrokos-
schlechtsspezifische und politische Faktoren verbin- mos beschaffen ist. Als zweites und damit zusammen-
den sich in den Erzählungen zu einer Textur, in die das hängendes Moment werden aus diesem Anspruch he-
Juridische in einer Weise eingelassen ist, die rechtliche raus in seinen Kriminalnovellen weder die Tat noch
Fragen nach Schuld, nach Verantwortung und nach der Täter auf singuläre Momente eines singulären
Täterschaft untrennbar mit den Formen des sozialen Bruchs der rechtlichen Ordnung reduziert, sondern
Miteinanders, gemeinschaftlichen Werten und Moral- ihnen gehen ebenso zahlreiche Brüche der sozialen
vorstellungen sowie v. a. in den späten Kriminalnovel- Ordnung voraus wie ihnen folgen. Weil potentiell jede
len wie z. B. in Der Herr Etatsrat oder in Ein Doppelgän- unterlassene Hilfestellung, jede diffamierende sprach-
ger mit ökonomischen Bedingungen verbindet. liche Adressierung, jeder ungerechtfertigte Verdacht,
Angesichts der zweifelsohne prominenten Stellung, jede verleumderische Nachrede und jede existentielle
die rechtliche Sachverhalte im novellistischen Werk soziale oder ökonomische Bedrängnis eine bereits
Storms einnehmen, ist es daher verwunderlich, dass ausweglose Situation soweit zuzuspitzen, dass aus ihr
zwar zahlreiche Studien Storms novellistisches Werk der Verstoß gegen die rechtliche Ordnung erwächst,
im Gesamt in den Blick nehmen (u. a. McCormick erscheint der Rechtsbruch in Storms Kriminalnovel-
1964, Pastor 1988, Klepper 2008, Korten 2009, Onken len meistens als eine ungewollte und unbeabsichtigte
96 Storms Rechtspoetik 369

ultima ratio. Storms Rechtsbrüche werden in der Re- Das Doppelgängertum einer erinnerten Erinne-
gel weder kalkuliert noch berechnend, noch kühl aus- rung auf der Ebene des discours, das die dreigliedrige
geübt, sondern geschehen in Momenten entweder Struktur aus Erinnern, Imaginieren und Verschriftli-
großer Gedankenlosigkeit oder hoher Ausweglosig- chen/Erzählen sichtbar macht, ist bei Weitem nicht die
keit. Seine ›Verbrecherfiguren‹ sind – und dies wäre einzige Allusion an den Novellentitel. Vor allem auf
ein drittes verbindendes Merkmal − aus eben diesem der Ebene der histoire bildet die Doppelung das auffäl-
Grund weder ›notorische‹ Verbrecher noch Wieder- ligste und wichtigste Kompositionsprinzip der Novel-
holungstäter und sie haben wenig bis gar nichts ge- le, angefangen beim zweiten Protagonist der Hand-
mein mit der ab Mitte des 19. Jahrhundert virulent lung, John Glückstadt alias John Hansen, der der titel-
werdenden Theorie kriminalanthropologischer und gebende Doppelgänger ist. Daneben wiederholt sich
kriminalbiologischer Heredität, die ab den 1860er das Kompositionsprinzip der Doppelung resp. Spiege-
Jahren u. a. von Cesare Lombroso propagiert wurde. lung in weiteren Figurenkonstellationen wie der ge-
Weil die meisten von ihnen ihre Tat im Affekt einer doppelten ehelichen Konstellation des Oberförsters
verschärften ökonomischen oder psychischen Not- mit seiner Frau Christine und John Hansens mit seiner
lage heraus verüben, liegt das eigentliche gesellschaft- Frau Hanna. Auch die Verbindung zwischen Ich-Er-
liche Skandalon, von dem Storms Novellen berichten, zähler und Bürgermeister ist eine doppelgängerische,
deswegen – und dies wäre ein viertes Charakteristi- da beide eine hervorgehobene juridische Sprecher-
kum – auch nicht primär im Rechtsbruch als solchem, position einnehmen – der Bürgermeister als oberste
sondern in den Gründen, die dazu geführt haben, und dörfliche Rechtsinstanz, der Ich-Erzähler als Advo-
in den Folgen, die aus ihm für die einzelnen Figuren kat –, und innerhalb ihrer Diegese als einzige Figuren
wie für die soziale Gemeinschaft erwachsen. Position zugunsten des Doppelgängers John Hansen
Diesen Bedeutungszusammenhang zu erfassen, beziehen: Der Bürgermeister, indem er ihn vehement
ihn in seiner Gänze zu durchmessen und sprachlich vor der Dorfgemeinschaft in Schutz nimmt, der er die
auszuloten, liegt jedoch nicht im Vermögen des juri- Schuld am vermeintlichen Verschwinden Hansens
dischen Diskurses, sondern wird von Storm nicht zu- gibt (LL 3, 574), und der Ich-Erzähler, indem er die
letzt aufgrund der Tatsache, dass er als Jurist selber wahre, eben die doppelgängerische Identität von John
Teil des Rechtsdiskurses ist, expressis verbis an die Li- Hansen alias Glückstadt imaginierend ›erinnert‹, so
teratur delegiert. Es ist die Dichtung oder in der Em- dass er der Ehefrau viele Jahre später das Geheimnis
phase der Novellen gesprochen: die Poesie, die sicht- der ›Doppel-Natur‹ ihres Vaters und dessen plötzliches
bar macht, in welcher Weise das Recht im Positiven enigmatisches Verschwinden enträtseln kann.
wie im Negativen im Ganzen eines Lebens verankert Eben diese vom Ich-Erzähler träumend imaginierte
ist. Die Einlassung von Recht in Literatur bringt sol- ›Erinnerung‹ an das Schicksal von Hansen/Glückstadt
cherart eine Rechtspoetik hervor, in der das Recht bis verwandelt die Kriminalnovelle in ein besonderes
in die Sprache hinein aus dem juridischen Diskurs he- Exempel der Rechtspoetik Theodor Storms. Das, was
rausgelöst und der Literatur überantwortet ist. In kei- den literarischen mit dem rechtlichen Diskurs in Ein
nem anderen Textbeispiel aus dem kriminalnovellisti- Doppelgänger verbindet, ist nicht so sehr die Literari-
schen Werk Storms wird dies so anschaulich wie in der sierung von Rechtsbrüchen, von denen der erste, der
späten Erzählung Ein Doppelgänger aus dem Jahr Einbruch, banal und der zweite, der tödliche Unfall
1886. Die Novelle verknüpft auf gekonnte Weise Er- Hannas, rechtlich gesehen allenfalls fahrlässige Kör-
innerung, Imagination und Schrift zu einer Poetisie- perverletzung mit Todesfolgen war, sondern die Auf-
rung des Rechts, als die unerwartete Begegnung mit wertung sowohl der Imagination zur Quelle der
Christine, der Ehefrau des Oberförsters, beim namen- Rechtserkenntnis wie der poetischen Sprache zu ihrem
losen Ich-Erzähler, einem Advokaten, die Erinnerung einzig wahren Medium. Die Einlassung des Rechts in
an ein gemeinsames Kindheitsereignis auslöst. Im die Literatur zeigt sich hierbei ganz konkret als narrati-
mittäglichen Halbschlaf wird aus der Erinnerung die ve Einpassung der rechtspoetisch relevanten zweiten
traumhafte Imagination des tragischen Schicksals von Ebene der Imagination in die erste Ebene der Begeg-
Christines Vater John Glückstadt, alias John Hansen. nung, deren hauptsächliche Funktion es ist, einen
Erst am Schluss der Novelle zeigt sich das bisher Er- plausiblen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich
zählte dann seinerseits als Erinnerung, die der Icher- die Rechts- und Lebensgeschichte des ganzen Men-
zähler niederschreibt, bevor er zu seinem zweiten Be- schen John Hansen entfalten kann. Epistemologisch
such beim Oberförster aufbricht. vollzieht sich diese Entfaltung de facto gerade nicht als
370 IV Diskurse

die vom Ich-Erzähler angekündigte Erinnerung an ei- Literatur


ne Vergangenheit, die ihn nicht schlafen lässt (LL 3, Bürner-Kotzam, Renate: Vertraute Gäste – befremdende Be-
531), sondern die Geschichte Hansens entfaltet sich gegnungen in Texten des bürgerlichen Realismus. Heidel-
berg 2001.
halbbewusst vor seinem inneren Auge, während er Burns, Barbara: ›Vorbestraft.‹ Differing Perspectives on
halb schlafend, halb träumend am geöffneten nächt- Reintegration and Recidivism in Narratives by Storm and
lichen Fenster steht (LL 3, 574). Die rechtliche Wahr- Fallada. In: Neophilologus 86 (2002), 437–453.
heit über das gesamte Leben des Doppelgängers er- Erdmann Degenhardt, Antje: Juristen und Dichter – Theo-
schließt sich dem Ich-Erzähler als ein historisch richti- dor Storm und Timm Kröger. In: Hermann Weber (Hg.):
Dichter als Juristen. Berlin 2004, 117–136.
ges und damit emphatisch wahres Wissen in einem
Freund, Winfried: Die deutsche Kriminalnovelle von Schiller
Modus, der sich wie eine Vorwegnahme der Fusion bis Hauptmann. Paderborn 1975.
von Tagtraum und Dichtung als verschwisterte Medi- Klepper, Nathalie: Theodor Storms späte Novellen. Bürger-
en einer verdrängten, unbewussten Wahrheit liest, wie liche Krisenerfahrungen im Umbruch zur Moderne. Mar-
sie Sigmund Freud 1907 in Der Dichter und das Phan- burg 2008.
tasieren formuliert (vgl. Bürner-Kotzam 2001, 80–95). Korten, Lars: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre
1848–1888. Stifter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen 2009.
Nicht in der bewussten Erinnerung an die rechtlichen
Linder, Joachim: Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte
Fakten des ›Falls‹ Hansen/Glückstadt, die dem Ich-Er- des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wis-
zähler durchaus geläufig sind, sondern in der Imagina- sensvermittlung und der Verbrechensdeutung. In: Jörg
tion eines halbbewussten Traums erschließt sich ihm Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und
die gesamte juridische Wahrheit dieses Lebens: »[D]as Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege,
ist aber Poesie«, lautet die wohlwollende Replik des Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Berlin
1991, 313–348.
Oberförsters auf die Erzählung des Ich-Erzählers, »Sie McCormick, E. Allen: Theodor Storm’s Novellen. Essays on
sind am Ende nicht bloß ein Advokat!« (LL 3, 577). literary technique. Chapel Hill 1964.
Storm bestätigt in Ein Doppelgänger die Dichtung Mückenberger, Heiner: Theodor Storm – Dichter und Richter.
als die entscheidende Kulturtechnik und die poetische Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung. Baden-Ba-
Sprache als ihr herausragendes Werkzeug, um den den 2001.
Onken, Aiko: Erinnerung, Erzählung, Identität. Theodor
durch einen Rechtsbruch zerrissenen semiotischen
Storms mittlere Schaffensperiode (1867–1872). Heidelberg
Zusammenhang eines ganzen Lebens zu schließen 2009.
und zwar in wörtlicher wie in übertragener Hinsicht: Pastor, Eckart: Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen
indem die Erzählung als récit den Bruch der Sinnhaf- von Theodor Storm. Frankfurt a. M. 1988.
tigkeit mithilfe ihrer konkreten sprachlichen Zeichen Röllecke, Heinz: Theodor Storms »Ein Doppelgänger« und
wortwörtlich schließt, verbindet sie als discours Annette von Droste-Hülshoffs »Die Judenbuche«. Pro-
duktive Rezeption in der Novellistik des Poetischen Rea-
gleichzeitig die unzusammenhängenden und unvoll- lismus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 111 (1992),
ständigen Wissensfragmente über die Figur von Han- 247–255.
sen/Glückstadt zu einer vollständigen, geschlossenen Segeberg, Harro: Theodor Storm als ›Dichter-Jurist‹. Zum
und somit sinnhaften Lebensbeschreibung. Damit Verhältnis von juristischer, moralischer und poetischer
wird ersichtlich, dass Storm in Ein Doppelgänger nicht Gerechtigkeit in den Erzählungen »Draußen im Heide-
dorf« und »Ein Doppelgänger«. In: STSG 41 (1992), 69–
einfach die misslichen Folgen eines Rechtsbruchs auf
82.
ein Lebensschicksal in einer auf Ausgrenzung von De- Stockinger, Claudia: Theodor Storm. Das novellistische
vianz und Delinquenz bedachten Gesellschaft verhan- Werk. In: Die schönsten Novellen, Von Boccaccio bis Storm.
delt. Vielmehr wird die Dichtung bzw. Poesie als das Frankfurt a. M. 2008, 322–330.
einzige Instrumentarium erfahrbar, das Sinnbrüche Stuckert, Franz: Theodor Storm als Jurist. In: STSG 8 (1959),
zu beheben und die ganze rechtliche Wahrheit zu er- 9–47.
Tschorn, Wolfgang: Der Verfall der Familie. »Der Herr
kennen und zu benennen vermag. Ohne den juristisch Etatsrat« und »Ein Doppelgänger« als Beispiele zu einem
geschulten Dichter und seine ›Träumereien‹ – so lau- zentralen Darstellungsobjekt Storms. In: STSG 29 (1980),
tet das rechtspoetische Fazit dieser Novelle, das pars 44–52.
pro toto für alle Kriminalnovellen Storms gilt – kein Wohlhaupter, Eugen: Dichterjuristen. Hebbel, Reuter, Storm,
Wissen über das ›Vorher‹ und ›Nachher‹ einer Tat, Keller, Scheffel, Dahn, Timm Kröger, Juristen als Künstler,
Bd. 3. Tübingen 1957.
kein Wissen über ihr Eingelassensein in ein Leben,
kein Wissen über Schuld und Unschuld und somit Hania Siebenpfeiffer
letztlich kein Wissen über die Wahrheit eines recht-
lichen ›Falls‹.
V Rezeption
97 Zur posthumen Auseinanderset- schränkt (wie jenes, das ihm 1884 in Berlin ausgerich-
zung mit Storms Leben und Werk tet wird), sondern konkretisiert sich auch ein letztes
Mal anlässlich seines siebzigsten Geburtstags, zu dem
Paul Schütze, ein Kieler Privatdozent, die erste Werk-
Die Geschichte der Storm-Rezeption wird in der Re- biographie als »Festgabe« beisteuert. Schütze erklärt
gel als die Geschichte eines Jahrzehnte andauernden Storm dort zum »neben Heyse [...] bedeutend-
Missbrauchs erzählt. Geprägt wird sie vor allem durch ste[n]  Vertreter der modernen Novellendichtung«
die nationalistisch-reaktionäre Vereinnahmung des (Schütze 1887, 255); er arbeitet bereits den – bis heute
Autors und seines Werks, die erst nach dem Zweiten topisch in Anspruch genommenen – ›lyrischen Kern‹
Weltkrieg allmählich zum Erliegen kommt. Es wäre der Stormschen Novellistik heraus und schärft das Au-
demnach durchaus möglich, diese Geschichte mit torenprofil durch eine Anbindung von Storms ›Stim-
dem kurzen Verweis abzuhandeln, dass man Irrtümer mungspoetik‹ an die Romantik, an Novalis und Ei-
Irrtümer bleiben lassen solle und man mit den um- chendorff (ebd.). Schützes Monographie, die 1907 und
fangreichen Arbeiten Karl Ernst Laages (unter ihnen 1911 in durch den Greifswalder Bibliothekar Edmund
herausragend 1979, 1989, 2007), Bollenbecks (1988), Lange erweiterten Auflagen erschien, bleibt durchaus
Fasolds (1997), Jacksons (2001), Deterings (2011) und prägend für die erste Phase der posthumen Auseinan-
Missfeldts (2013) mittlerweile zahlreiche sehr solide, dersetzung mit Storms Werk. Der zentralen Bedeu-
faktengesättigte, die Beziehung von Leben und Werk tung der Lyrik, unter deren Vernachlässigung Storm
gleichwohl nicht überfrachtende Storm-Biographien stets gelitten hatte, wird sowohl in Alfred Bieses Lyri-
vorliegen habe. sche Dichtung und neuere lyrische Dichter (Biese 1896,
Indessen will auch der Irrtum als solcher verstan- 94–118) als auch in zahlreichen kleineren Beiträgen
den sein und zu einem halbwegs vollständigen Ver- (vgl. Knodt 1897/98, Bethge 1901/02, Bab 1906) Rech-
ständnis Storms gehört zweifellos seine zeithistorische nung getragen; der literaturhistorischen Einordnung
Funktionalisierung, so verzerrend und verfälschend Storms als Bindeglied zur Romantik folgt wiederum
sie bisweilen auch sein mag. Im Folgenden sollen des- Willrath Dreesens 1905 erschienene Bonner Disserta-
wegen die interpretatorischen Paradigmen, an denen tion Romantische Elemente bei Theodor Storm.
entlang sich das Storm-Bild seit dem späten 19. Jahr- Mit dieser Zuordnung verknüpft sich allerdings zu-
hundert entwickelt hat, so grob wie nötig und so aus- gleich ein ideologisches Entwicklungskonzept, das bei
führlich wie möglich skizziert und nachvollzogen Dreesen bereits in Konturen zu erkennen ist und sich
werden. Die folgenden Betrachtungen sind somit we- im Laufe der folgenden Jahrzehnte über Storms Werk
niger als ein Forschungsbericht oder als eine biblio- legen wird. Als Grundlage dient dabei ein eher diffu-
graphische Aufarbeitung, sondern als eine Auseinan- ses (wie Dreesen auch einräumt), letztlich rein moti-
dersetzung mit dem historischen Narrativ »Storm« zu visch orientiertes Romantikverständnis, dem es in
verstehen. erster Linie um die »Vorliebe für das Geheimnisvolle,
die Sehnsucht nach dem Wunderbaren« (Dreesen
1905, 3) zu tun ist und beides natürlich in Storms Af-
Der Überwinder der Romantik
finität zu den Sagen und in seinen Märchen wieder-
Zum Zeitpunkt seines Todes war Theodor Storm längst findet. Als zweite Komponente tritt eine psychistische
ein etablierter Autor. Spätestens mit Immensee (1849), Naturvorstellung hinzu, ein »kaum näher zu deuten-
das noch zu seinen Lebzeiten 28 Auflagen erlebte, war des Gefühl« (ebd., 64), in dem sich die Einheit von
Storm in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen, Subjekt und Landschaft auf einer unteren Bewusst-
hatte sich im Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts ent- seinsebene ausspricht, das sehr eng mit dem Begriff
sprechend vernetzt und stand in Kontakt mit den be- der »Heimat« verknüpft ist und in dessen ›künstleri-
deutendsten deutschsprachigen Literaten seiner Zeit. scher Verwertung‹ Storm »seiner ganzen Veranlagung
Die Wertschätzung, die seine Zeitgenossen Storm ent- nach« »Romantiker« bleibt (ebd.). Die eigentliche
gegenbringen, bleibt dabei nicht auf Ehrenfeste be- Problematik dieser Verortung Storms ergibt sich aus

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_97, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
97 Zur posthumen Auseinandersetzung mit Storms Leben und Werk 373

der literarhistorischen Dynamik, die mit ihr einher- man nicht wacht, alles ertrotzte Gebiet wieder an sich
geht. Während das vorgeblich romantische Erbe reißen kann« (ebd., 113).
Storms die Dichtung zum Medium eines ontologi- In diesem Deutungshorizont wird Storm in der Tat
schen Zusammenhangs werden lässt, der rational nun auch zum Kronzeugen einer stets (auf allen Ebe-
nicht erfasst werden kann, erkennt die Literatur- nen) ›bedrohten Heimat‹ stilisiert, der die Literatur als
geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts kulturelle Ordnungsinstanz zu Hilfe kommt. Ideo-
Storms besondere Leistung in der Transformation des logisch ist dieses Konzept so sinister wie anschluss-
Ererbten. Worin diese Transformationsleistung ge- fähig: Man muss seine politischen und gesellschaftli-
sucht werden soll, ist offensichtlich: chen Konnotationen gar nicht im Einzelnen benen-
nen, um sie doch gleichwohl mitzuführen. Die ›Pro-
Es wird nun der andere Zug im Wesen des Friesen frei vinzialisierung‹ Storms nach der Jahrhundertwende,
und immer mehr verstärkt, die norddeutsche Herb- die – wie Jackson richtig bemerkt hat (Jackson 2001,
heit, die mit romantischer Weichheit und Traumselig- 23) – nicht zuletzt durch die Publikationstätigkeit von
keit nichts zu tun hat. [...] Ein Volk, das seit Jahrhunder- Storms Tochter Gertrud immer weiter vorangetrieben
ten mit dem Meere um seine Existenz hat ringen müs- wurde, vollzieht sich keineswegs so arglos, wie man
sen, duldet unter sich keine reinen Träumer. [...] In ei- meinen möchte. Konstitutiv sind ihr sehr präzise Vor-
nem zuletzt siegreichen Kampfe mit dem Meere und stellungen des Eigenen und des Fremden, des Gesun-
unter steter fruchtbelohnter Arbeit ist es dann freilich den und des Kranken – und die Erzählung von Storms
ein Herrenvolk geworden, aber ein Volk von Herren, die Rückbesinnung auf sein ›Friesentum‹ Anfang der
nun nicht mehr den leichten Lebensgenuß schätzen 1870er Jahre, die ostentative Affirmation der von Fon-
und suchen, sondern schwer tragen an ihrer Siegerbür- tane bekrittelten ›Husumerei‹ stützt diese Kategoriali-
de und klaren Auges und mit schwerer Faust nach Ar- sierung biologistisch, ästhetisch und auch topisch. Be-
beit suchen (Dreesen 1905, 103). reits bei Dreesen ist etwa bezeichnend, dass als wesen-
hafter Gegenpart des in »Einfachheit und Harmonie«
Die Erzählung vom ›romantischen‹ Storm ist immer sich ergehenden Storm der »nervöse, stets wechseln-
auch eine Erzählung von Storms Überwindung der den Stimmungen unterworfene« (nämlich vaterlands-
Romantik. Gebunden wird sie biographisch an die lose) Heine fungieren muss (Dreesen 1905, 108).
Rückkehr nach Husum 1864 und den Tod Constanzes
1865, historisch an die Befreiung der schleswig-hol-
Lukács: Storm jenseits der Tragik
steinischen Herzogtümer »vom dänischen Joch« 1866
(ebd., 104). In ihrem Kern handelt es sich immer um Das Narrativ des zum Heimatdichter gewendeten Ro-
eine antimoderne, alle Widersprüche harmonisieren- mantikers Storm entzieht sein Werk im frühen
de Erzählung: Der Romantiker, der immer auch schon 20. Jahrhundert nahezu völlig der breiteren literari-
dem Dekadenzverdacht unterstellt ist, wird aufgeho- schen wie philologischen Auseinandersetzung. Eine
ben im Realisten, der die Naturverbundenheit der Ro- nennenswerte Ausnahme bildet einzig und allein
mantik ökonomisch und nationalpolitisch in An- Georg Lukács’ 1909 entstandener und in die 1911 er-
schlag bringt. Das Wissen um die Eingelassenheit des schienene Sammlung Die Seele und die Formen auf-
Ichs in seine Landschaft, die »philosophische Welt- genommener Essay Bürgerlichkeit und l’ art pour l’ art.
anschauung [...] des echt dichterischen Pantheismus«, Die Stärke von Lukács’ Beitrag liegt gerade in seinem
schlägt um in die Furcht vor der Entselbstung – und Vermögen, die Paradoxien, die Storms Erzählen zu-
die daraus folgende Konsequenz der notwendigen grunde liegen, nicht nur zu erkennen, sondern auch
Verteidigung des Raumes resp. der territorialen Iden- auszuhalten. Indem er versucht, Storms Novellistik
tität. Am Ende steht dann ein Werk, in dem sich die aus ihrer äußeren Organisation, also aus dem Verhält-
»Stammeseigentümlichkeit« der Friesen (ebd., 3) ab- nis von Leben und Arbeit zu erklären, gelingt es Lu-
spiegelt und als dessen Krönung der Schimmelreiter kács, zum einen die den zeitgenössischen Diskurs um
dann das Meer »als den fast persönlich aufgefaßten Storm bestimmenden Stichworte »Heimat, Stamm,
Feind des Landes, das ihm von den Menschen abge- Klasse« (Lukács 2011, 98) aufzunehmen, zum anderen
trotzt wurde«, vorführt, »als den Feind, der ein Jahr- aber diesen Stichworten nüchtern jene systematische
hundert lang geruht, nur zeitweilig den alten Grimm Stelle zuzuweisen, die sie in Storms Poetik überhaupt
gezeigt hat, von dem man aber weiß, daß er, unver- noch einnehmen können. Ihre strukturelle Bedeutung
söhnt, sich einmal furchtbar groß erheben und, wenn finden sie im Untergang: Es sind die Markierungen
374 V Rezeption

des ›alten Bürgertums‹, »das der stärkste Gegensatz machen« (Düsel 1916, 7). Der im gleichen Gedenk-
des heutigen ist« (ebd.), das aber von den Realisten – buch enthaltene Beitrag »Theodor Storm und der
und allen voran von Storm – bereits als eine vergehen- Krieg« treibt dann die Stilisierung Storms zum Mar-
de, nur noch in vereinzelten Repräsentationen existie- tialpoeten auf die Spitze. Die politische Lyrik avanciert
rende Lebensform gewusst wird. dabei zur Keimzelle einer literarischen Kriegsfüh-
Das Bewusstsein dieses Verbleichens, »die Kraft rung. Storm, »der selber in den Krieg gezogen wäre,
des Entsagens, die Kraft der Resignation«, sei dem- um die Heimat zu verteidigen, wenn eine Möglichkeit
nach dasjenige, was Storms Dichtung auszeichnet und dazu für ihn bestanden hätte« (Plotke 1916, 84), ver-
in der diese – und Lukács ist der erste, der das so zu schiebt dieses Potenzial auf das Feld der Dichtung, auf
formulieren wagt – wirklich ›modern‹ wird: als ein dem der Verfasser, Georg J. Plotke, nun »eine gehar-
Fortbestehen in Arbeit und Alltag nach dem Abschied nischte Kampfnatur«, den »furor teutonicus« er-
von der Welt, in der die Geschichten noch zu Größe- wachen sieht (ebd., 86), der allerdings statt mit der
rem, zu Romanen führten. »Etwas entschwindet und Waffe mit Versen »in diesen heiligen Krieg« zieht
jemand blickt nach, und er lebt weiter und geht nicht (ebd., 99). Die Rigorosität der geistigen Mobilma-
daran zugrunde« (ebd., 100). In der Konsequenz ist es chung ist durchaus beachtlich: Die Beweisführung,
nicht die Goethe’sche ›unerhörte Begebenheit‹, son- dass in Storms Werk allerorten »die Notwendigkeit
dern vielmehr »der Zwiespalt von Innen und Außen, des Krieges« »außer Zweifel« steht (ebd., 98), dass »die
von Tat und Seele« (ebd., 114), welcher Storms Novel- umgebende Kampfstimmung sich bei ihm übersetzte
len strukturiert. An die Stelle des Ereignisses tritt die in einen höchst allgemeinen poetischen Stimmungs-
Poesie »des heiligen Alltags« (ebd., 103), an die Stelle ausfluß von großer innerer Kraft« (ebd., 97), überdau-
der »Taten« (denen in dieser Welt nur eine »kleine ert jede noch so gravierende interpretatorische Härte.
und wenig bedeutungsvolle Rolle« zukommt; ebd., Ihren finalen Zweck findet sie erwartungsgemäß in
102) der Regress. »Das Schicksal kommt von außen, der Feststellung: »Lebte er in unsern Tagen, er würde
und machtlos ist die innere Kraft ihm gegenüber, aber ebenso handeln, wie seine begeisterten Enkelsöhne,
eben deshalb muß das Schicksal stehen bleiben auf der [...] die im Geiste ihres Großvaters als Freiwillige in
Schwelle des Hauses, in dem die Seele wohnt und diesen Krieg hinauszogen, um mit ihrem treuen Hols-
kann niemals dort eintreten« (ebd., 102). Die Gespal- tenblut für ihre weitere deutsche Heimat das Schlacht-
tenheit dieser Dichtung sei dabei, hierin erkennt Lu- feld zu tränken« (ebd., 100).
kács ihre Größe, unpathetisch; es entwickelt sich aus Natürlich handelt es sich hier um eine banalisieren-
ihr »keine Tragödie« (ebd., 104), sondern Sentimenta- de Lektüre, deren einzige Denkform die historische Al-
lität. Ihre Kunst sei die der Rahmung, des erzählenden legorese – der poetische Krieg als Übersetzung des
Einfassens der verschwundenen Welt, die nicht mehr deutsch-dänischen Kriegs einerseits, als Präformation
restauriert werden kann und soll. des Ersten Weltkriegs andererseits – bleibt. Bedeutung
gewinnen solche Verzerrungen nur im Hinblick auf die
dann offen völkisch resp. faschistisch argumentierende
Storm als Krieger
Literaturgeschichtsschreibung der 1930er und 40er
Wo Lukács gerade die Resignation, das Verharren in Jahre, die nicht nur den ›Krieger‹ Storm benötigt, son-
der Unzeitigkeit zum zentralen Qualitätskriterium dern vor allem das Moment der Rückbesinnung auf ei-
der Stormschen Epik und Lyrik erklärt und festgehal- ne unter den Zeitläuften geborgene Identitätsschicht,
ten haben will, dass es »[i]n der Welt Storms [...] keine die dann rassisch-weltanschaulich kodiert wird.
inneren Kämpfe zwischen widerspruchsvollen Gewal-
ten in eines Menschen Seele« gibt (Lukács 2011, 103),
Thomas Mann: Storm und die Mutationen der
dort sucht das zu Storms hundertstem Geburtstag von
Bürgerlichkeit
Friedrich Düsel 1916 herausgegebene »Gedenkbuch«
– inmitten des Ersten Weltkriegs – Storms »Gegen- Nirgends werden die prekären Transformationen, die
wartsbedeutung« im Gegenzug »in der Heimatliebe das Storm-Bild in der bürgerlichen Kultur dieser Zeit
und Heimattreue, in der seine Persönlichkeit wurzelt; durchläuft, so augenfällig wie bei Storms bedeutend-
sie liegt in der deutsch-nationalen Gesinnung, von der stem Verehrer Thomas Mann. Schon dessen Tonio Krö-
seine Dichtung erfüllt ist; sie liegt in den Kräften tapfe- ger (1903) gründet seine Existenz als »verirrter Bür-
rer, aufrechter Mannhaftigkeit, die zumal in den spä- ger« auf Storm-Lektüren, dem beim Anblick der vor
teren Schöpfungen den Pulsschlag seines Wesens aus- ihm sich drehenden Tanzpartnerin zunächst einmal
97 Zur posthumen Auseinandersetzung mit Storms Leben und Werk 375

der Kehrreim aus Storms Hyazinthen (1851) »Ich men, abtrünnig zu werden, ›nicht mitzutanzen‹, wird
möchte schlafen, aber du mußt tanzen« in den Sinn zur Unmöglichkeit. Die artistische Negation der bür-
kommt (Mann 1990, VIII, 285). In Storms Gedicht gerlichen Existenz ist immer auch schon ihre Bestäti-
trägt diese Zeile noch die ganze Ambivalenz der Bezie- gung; die Widerstände und Spannungen, denen sich
hung von Subjekt und bürgerlicher Gesellschaft. Das Storms Werk noch aussetzt, sind Anfang des 20. Jahr-
(erotische) Verlangen nach Teilhabe kann nur in der hunderts zur Pose geworden.
narkotischen Distanzierung ausgesprochen werden; Die Hellsichtigkeit, die jene frühen Reminiszenzen
Bürgerlichkeit wird hierüber zu einer Grenzerfahrung, Manns an Storm mit sich führen, schwindet im Hori-
zu einer Kulturformation zwischen Schlafen und Wa- zont des Ersten Weltkrieges. Die nationalkonservati-
chen, zwischen Restriktion und Exzess. In Manns Er- ven Umprägungen des Storm-Bildes finden ihre un-
zählung wird die Zeile nun genau umgekehrt funktio- gebrochene Fortsetzung in Manns Betrachtungen eines
nalisiert: Das Ich des Gedichtes Hyazinthen lebt und Unpolitischen (1918). Im Rückgriff auf Lukács’ Essay
leidet an der Aufspaltung von Begehren und Sagbar- und in bewusster Verkennung der dort vorgenom-
keit, an der Notwendigkeit des Ausgeschlossen-Seins, menen Differenzierungen identifiziert Mann Storm
ohne die es nicht ist, nicht zu sprechen vermag. Tonio dort bruchlos »als die germanische Gestalt des bür-
Kröger indessen ist gerade kein Ausgeschlossener, son- gerlichen Künstlertyps, [...] die eigentlich deutsche
dern Teil der Tanzgesellschaft; seine Sehnsucht gilt Abwandlung des europäischen Ästhetentums, das
dem Ort, von dem aus sich überhaupt wieder das Ge- deutsche l’ art pour l’ art« (Mann 1990, VIII, 103 f.).
fühl der Zerrissenheit des bürgerlichen Daseins ein- Diese Sonderform eines ›deutschen Ästhetentums‹,
stellen könnte. Und dieser Ort verknüpft sich nun eben die Mann mit Lukács klar vom »Mönchsästhetizismus
ganz programmatisch mit Storm: Flauberts« abgegrenzt sehen und in Storm verkörpert
sehen will, zeichnet sich durch »das Übergewicht des
Warum saß er nicht in seiner Stube am Fenster und las Ethischen über das Ästhetische« aus (ebd., 104). Aus-
in Storms Immensee und blickte hie und da in den gedrückt ist hierin, dass jene Momente des Verfalls
abendlichen Garten hinaus, wo der alte Walnußbaum und der Auflösung, das Kollabieren der bürgerlichen-
schwerfällig knarrte? Das wäre sein Platz gewesen. Säulen, die den gesellschaftlichen Hintergrund des To-
Mochten die anderen tanzen und frisch und geschickt nio Kröger wie auch die Gesamtanlage der Budden-
bei der Sache sein! (Mann 1990, VIII, 286) brooks (1901) bestimmen, nicht ästhetisch gelesen
werden dürfen. Zur »künstlerischen Deutsch-Bürger-
Hinter dem Intertext verbirgt sich eine kulturhis- lichkeit« gehöre es, dass man keine Lust am Untergang
torisch durchaus komplexe These. Just die Novelle entwickelt, nicht in die Tiefen schaut und sich von ih-
Storms, in der die Dichtung am offensichtlichsten nen verführen lässt (wie Storms Texte es ja nicht selten
zum Medium der Offenlegung wie Distanzierung bür- tun), sondern dass man das langsame Zerbrechen der
gerlicher Triebstrukturen wird (Immensee), die Novel- sozialen Ordnung als kathartisches, ja: tragisches Sze-
le, in der das aufgezwungene Leiden des Literaten an nario, als eine Schule der Ethik begreift, die sich litera-
der bürgerlichen Liebe die gesamte Handlung verant- risch durchlaufen lässt. Impliziert ist damit ein Akti-
wortet – diese Novelle wird nun selbst wiederum zum vismus, eine radikale Handlungsbezogenheit und eine
Medium einer selbstgewählten und damit stilisierten unverhandelbare, metaphysische Substanz der Litera-
Haltung. Storms Dichtung leidet am und lebt vom tur – und das hat natürlich zunächst einmal wenig mit
Tanz der anderen; Manns Tonio Kröger aber liest Lukács und noch weniger mit Storm zu tun, sondern
Storm, um nicht tanzen zu müssen. Er hat ein sekun- vor allem mit dem Selbstbild Thomas Manns, der sich
däres Verhältnis zur Bürgerlichkeit, und das heißt vor die Aufgabe gestellt sieht, die Décadence in ein
auch: Dieses Verhältnis ist bereits reflektiert und damit bürgerliches Kriegertum umzuwandeln. Die Argu-
gebrochen. Storm und seine Texte sind hier präsent als mentation folgt dabei immer dem gleichen Muster:
Allegorien des bereits in seinem Unglück erkannten Das, was der Décadent aufdeckt, was seine Beschrei-
Projekts des bürgerlichen Künstlers, dessen Zitation bung der Wirklichkeit zutage fördert, ist angeblich die
aber selbst schon wieder bürgerlicher Habitus gewor- Konsequenz einer missgestalteten, fehlgeleiteten bür-
den ist. In anderen Worten: Das Storm lesende und re- gerlichen Gesellschaft, eine Darstellung, aus deren
zitierende Bürgertum erhält über die Dichtung Kennt- Lektüre der Bürger als Nationalist dann die richtigen
nis von seiner eigenen Abgründigkeit – und integriert Konsequenzen zieht und eine neue Welt setzt, in der
diese zugleich. Ihm auch nur momenthaft zu entkom- die metaphysischen Werte dann wieder einen sozialen
376 V Rezeption

Halt zu finden vermögen. Und genau an diesem Punkt ders auch das Selbstbild, das sich mit der Imago
wird Storm nun zum Bürgen einer antimodernen, re- »Storm« verbindet.
aktionären, letztlich demokratiefeindlichen Kultur: Im Zentrum des Essays steht dabei vor allem die Ly-
rik Storms, insbesondere die Liebeslyrik, in der Mann
Was hat Storms Heimatsgefühl, sein bedingungsloser immer wieder »das Gepräge des Sündhaften, Verfem-
trotzig-tätiger Widerstand gegen das okkupierende Dä- ten« (ebd., 260) ausmacht – und in der Hinwendung
nentum, das Opfer seiner Husumer Advokatur, sein bit- zum mit Lust begehrten Körper auch und gerade die
terer Gang ins Potsdamer Exil, — was hatte die politi- Diesseitsverehrung, »den ästhetischen Stolz, der das
sche Leidenschaft dieses Innerlichen und Tiefgetreuen, Gute nicht um jenseitiger Hoffnungen, um des Lohnes
dessen Freiheitspathos beschlossen ist in den Versen: und der Vergeltung willen, sondern aus Menschen-
Hör mich! — denn alles andere ist Lüge — Kein Mann anstand ehrt und liebt« (ebd., 263 f.). Das klingt nun
gedeihet ohne Vaterland! — was hätte Storms »Poli- schon entschieden anders als noch in den Betrachtun-
tik«, die nichts war als ein inniges Hegen metaphysi- gen. Zwar ist es Mann immer noch um das Aufspüren
scher Lebenswerte, mit dem Demokratismus unseres einer verborgenen Moralität zu tun, in der er das echt
Zivilisationsliteratentums zu schaffen? Mit Internatio- »Humanistische« der Stormschen Dichtung zu erken-
nalismus, Menschenrechten, radikaler Aufklärung, nen vermeint; von den »metaphysischen Lebenswer-
Wohlstandsideologie, Apotheosierung des Gesell- ten« ist dies aber bereits weit entfernt. Nicht der »Be-
schaftlichen, rhetorisch sentimentalem Revolutions- griff des Nationalen«, sondern dasjenige, was nicht
spektakel? Und stand es im wesentlichen anders um mehr auf einen Begriff zu bringen ist, nämlich die in
das Politikertum der andern großen Bürger von da- den Betrachtungen noch vernachlässigten Anteile des
mals? Sie waren Demokraten, sie waren Politiker, weil Spuks und des Aberglaubens an Storms Werk, treten
zu ihrer Zeit der Begriff des Nationalen, der Vaterlands- nun auf einmal in den Vordergrund (vgl. Theisohn
liebe, mit dem des Demokratischen, mit dem der Politik 2016). Das, was Mann dabei in Storms Dichtung als
selbst sich untrennbar vermischte. Sie waren national, ›metaphysischen Rest‹ erkennt, die Welt des Aberglau-
bevor sie Demokraten waren, sie waren es, indem sie bens, die Wiederkehr der Toten – all das begreift er als
Demokraten waren, — während der heutige Krieg, der eine innerweltliche, auf den untersten Stufen des orga-
Kampf Deutschlands gegen den westlichen Demokra- nischen Seins angesiedelte Produktion geistiger Phä-
tismus, es dem national Empfindenden aufs äußerste nomene, die in Wahrheit die Boten einer unerlösten
erschwert, Demokrat zu sein, und ›Demokratie‹ in und nicht zu erlösenden Welt sind. Diese Welt aber ist
Deutschland ein anderes Wort für »kosmopolitischer es, die jetzt den Bürger als Lebensform für Mann legiti-
Radikalismus« ist. Nein, Zivilisationsliteraten waren das miert, eine Lebensform der Selbstdisziplin, die aus der
wohl eigentlich nicht, die deutschen Bürger von 1820– Einsicht der Unerfülltheit hervorgeht, ja: eine Lebens-
60 (Mann 1990, VIII, 117). form, die gerade in der Art und Weise, wie sie selbst in
einer nachmetaphysischen Welt ihre Ordnung über
Dass diese Illusion der politischen Metaphysik (die Kultur zu begründen versucht, sich selbst metaphy-
sich aus Storms Novellen selbst mit größter Anstren- sisch wird. Korrektheit und Genauigkeit mögen dabei
gung kaum herausdestillieren lässt) die in ihrem Na- den Eindruck einer Letztbegründung der Moral im
men beschworene Bürgerlichkeit gerade zerstören Jenseits evozieren. Aber es ist eben das Wissen darum,
wird, wird Mann erst später erkennen. Sichtbar wird dass diese Moralität nur eine diesseitige sein kann, wel-
diese Kehrtwende in Manns 1930 erschienenen ches den Bürger ausmacht.
Storm-Essay. Dieser beginnt mit einer Rückbesin- Hieraus ergibt sich aber im Storm-Essay nun noch
nung, mit einem Sprung über die Betrachtungen hin- eine letzte, aber entscheidende Konsequenz: Artistik
weg wieder zu Tonio Kröger, als dessen Vater er einen und Bürgerlichkeit sind eben keineswegs einfach nur
»langen, zur Wehmut geneigten« Herrn mit sinnen- »Mischformen« (und schon gar keine Mischformen
den blauen Augen beschrieben hatte, der »immer eine ›deutscher Lebensart‹). Vielmehr, das versucht Mann
Feldblume im Knopfloch trug« (Mann 1990, IX, 247). an Carsten Curator zu verdeutlichen (Mann 1990, IX,
Dieser Vater, so räumt Mann an dieser Stelle ein, sei 258), komme dem Künstler die Aufgabe zu, das, was
eine Kreuzung der eigenen geistigen Vaterschaft, eine nun eben nicht mehr in die ›korrekte Welt‹ integriert
Kreuzung von Turgenew und Storm. Dem Letzteren werden kann, über die Kunst, die Literatur an das bür-
gilt nun die volle Aufmerksamkeit – und wie anders ist gerliche Bewusstsein zurückzubinden. Mit Thomas
das Bild, das Mann hier von Storm zeichnet, wie an- Mann formuliert: Das »Dichtertum« ist »die lebens-
97 Zur posthumen Auseinandersetzung mit Storms Leben und Werk 377

mögliche Form der Inkorrektheit« (ebd.). ›Lebens- erde und Familie« begrenzten Nationalismus, das feh-
möglich‹, weil sie nicht aus der bürgerlichenWelt hi- lende »Verständnis eines höheren und weitumfassen-
nausführt, ›inkorrekt‹ gleichwohl, weil sie den Exzess, den Staatsinhaltes«, »die sture Abweisung alles Preu-
die Lust, die Verschwendung, das Irrationale dennoch ßischen« (Boll 1940, 126). Sein Verhaftetsein »in der
zu denken und ihnen einen Platz in dieser Welt zu ge- liberalen Ideenwelt jener idealistischen Biedermänner
ben vermag. der ersten Jahrhunderthälfte« (ebd., 130), seine Par-
teinahme für das städtische Bürgertum sieht man mit
derselben Skepsis wie die Begeisterung des jungen
Der verdächtige Nordgermane
Storm für den »französierte[n] Jude[n]« Heine (ebd.,
So empathisch sich Manns Essay auch dem poetischen 76, 135). Entlarvend nimmt sich etwa Wilhelm Stef-
Kern Storms zuwendet, so schwer fällt es ihm zugleich, fens Resümee aus, der in seinem 1941 in Dichtung und
die etablierten und mit Storm im öffentlichen Raum Volkstum erschienenen Beitrag auf die Suche nach ei-
verbundenen Schlagwörter und Diskursmarker hinter nem »dunkle[n] Rassegefühl« Storms geht, dabei des-
sich zu lassen. Selbst dort, wo er sich vom rassischen sen »Stellung zum Judentum« zum »Prüfstein« erhebt
Biologismus distanziert, verfällt er mit Rücksicht auf und nach einer einseitigen Kompilation biographi-
»die seelischen Zusammenhänge« doch gleich wieder scher Zeugnisse zum Befund kommt: »Soll man diese
auf diesen, wenn er in Bezug auf Storm von »Stammes- Haltung Storms so erklären, daß ihm der Rassestolz
heimatliebe« (Mann 1990, IX, 260) und vom »nord- des nordischen Menschen fehlte? Oder soll man von
stämmigen Heidentum« spricht, »das ihn natürlich Gutmütigkeit des Niedersachsen sprechen? Oder ist
auch ein bißchen zum Antisemiten macht – nicht be- auf Zeitbewegungen zu verweisen, auf die Romantik,
wußt und grundsätzlich« (ebd., 261). der jedes Volkstum, auch das fremde reizvoll war, oder
Es gehört zur Ironie der Rezeptionsgeschichte den Liberalismus, der mit der Nathanweisheit Ernst
Storms, dass der ihm von Mann attestierte und allein machen wollte?« (Steffen 1941, 483 f.). Der Versuch,
durch die berüchtigte Auslassung über Georg Ebers Storms Werk auf die »Herkunft von Wesenszügen« zu
(Storm–Keller, 73) referenzierbare Antisemitismus untersuchen, endet so zur Enttäuschung der NS-Ger-
von der nationalsozialistischen Germanistik wiede- manistik »in Möglichkeiten und führt nicht zu Ge-
rum angezweifelt wurde. Obgleich diese den ›Heimat- wißheiten« (ebd., 485).
dichter‹ Storm umgehend für sich entdeckt, so räumt Freilich ändern diese offen ausgesprochenen Zwei-
sie missmutig ein, dass »zur Vollständigkeit des Bildes fel an der Vereinnahmbarkeit Storms nichts an der Be-
von Storms poetischer Anschauungswelt [...] seine anspruchung und Umdeutung seines Werks durch die
ausgesprochene Judensympathie« gehöre (Boll 1940, Philologie des Dritten Reichs. Im Zentrum der ideo-
134), die sich nicht zuletzt in Storms Freundschaft logischen Eingemeindung steht dabei Franz Stuckert,
zum »Halbjuden« Heyse zeige. (Gegenüber welchem der zwischen 1937 und 1941 vier große Beiträge zu
Storm in einer Briefpassage betont, »weit vom Anti- Storm sowie die Monographie Theodor Storm. Der
semiten entfernt« zu sein, was der antisemitischen Dichter in seinem Werk (1940) veröffentlichte. Stu-
Literaturgeschichtsschreibung nicht unverborgen ckerts Überzeugung, dass sich erst »in unserer Zeit [...]
bleibt; vgl. Storm–Heyse III, 91. Dass Storm dem An- aus dem Erlebnis von Volkstum und Rasse ein neues
tisemitismus seiner Zeit tatsächlich verständnislos ge- Storm-Bild zu formen« beginnt (wie er sie in einer kri-
genüberstehen musste, zeigt Lohmeier [1994]; s. auch tisch-positiven Rezension der nicht minder linien-
Kap. II.10.) Wenn man sich wirklich etwas eingehen- treuen Dissertation Wolfgang Kaysers, Bürgerlichkeit
der mit Storms Aufbereitung durch das faschistische und Stammestum in Theodor Storms Novellendichtung
Deutschland beschäftigen will, dann gehört diese Be- [1938], zum Ausdruck bringt; vgl. Stuckert 1941, 115),
obachtung dazu, denn sie ist sprechend. Gerade dieje- prägt seine Stormlektüre nicht nur im rassistischen
nigen, für die die Kriegerlegende vom schollenver- Detail, sondern auch narrativ-strukturell: Storms
bundenen Volksdichter schon bestens zugerichtet dichterische Entwicklung sei die einer Selbstfindung –
war, bemerken, dass bei näherer Betrachtung der Re- und diese Selbstfindung verbinde sich eben mit der
klamation Storms für den Nationalsozialismus allzu Zurückweisung der ›artfremden‹, zersetzenden Kräfte
viel im Weg steht. Sein explizit formuliertes Abstehen und der Hinwendung zum »Lebensgefühl des germa-
vom Antisemitismus ist das eine; ›entschuldigen‹ nisch-nordischen Menschen« (Stuckert 1937, 543).
muss man auch seine »Einsichtslosigkeit in die Bis- Über diesem Muster verwandeln sich bei Stuckert
marckschen Reichsgedanken«, seinen auf »Heimat- Storms Novellen seit der apostrophierten ›Wende‹ um
378 V Rezeption

1870 in Dokumente eines faschistischen Weltbildes: ohne den Nachsatz der Urfassung, in Heine habe für
An die Stelle des griechischen Tragikbegriffs, der ja Storm eine »schwere Gefahr« bestanden (Stuckert
immer auch die hamartía, den Fehler des tragischen 1940, 45), zu löschen.
Helden miteinschließt, setzt er einen ›germanischen‹, Jene Erzählung, die aus Storm einen völkisch-fa-
der den Menschen angeblich »schuldlos im Kampfe schistischen Autor werden ließ, ist indessen nicht al-
mit den unergründlichen Schicksalsmächten« unter- lein an Biologismen und Ressentiments gebunden,
gehen sieht (ebd., 540). Das sind zum einen die Mächte sondern vor allem an Tiefenstrukturen, die sich durch
der ›Vererbung‹, die »in unheilvoller Blutmischung akzidentielle Korrekturen nicht löschen lassen. Zu be-
[einen] seelisch zerrissenen Menschen« hervorbrin- sagten Tiefenstrukturen gehört zuvorderst die »enge
gen, »der an diesem Gegensatz zugrunde gehen muss« organische Einheit von Natur- und Geschichtsemp-
(wie Stuckert an Von Jenseit des Meeres, »Es waren zwei finden«, die Stuckert im Zentrum von Storms Lyrik
Königskinder« oder Carsten Curator zu zeigen ver- wie Novellistik sieht (Stuckert 1952, 73) und deren Be-
sucht; ebd., 530). Zum anderen sieht Stuckert dort, wo hauptung vor allem eines impliziert: die Dichtung als
das »Verhängnis« nicht »aus einer unheilvollen Ras- Speicher eines bedrohten Erbes, »der deutschen Cha-
senmischung« hervorgeht, zwangsläufig keinerlei Ver- rakterwerte«, »in einer Zeit zunehmender Zersetzung
flechtungen und Gemeinsamkeiten zwischen dem aller Werte und Ordnungen« (ebd., 137). Erhalten
Helden und den Mächten, die ihm den Untergang be- bleibt hierin völlig unbeschädigt die Auffassung vom
reiten. Stattdessen gibt es »die anonyme Masse mit ih- Kampf des Einzelnen gegen »die drohenden Kräfte
rem Gesinnungszwang« (ebd., 537), die dunkle Ge- des Draußen« (ebd.) als wesenhafte Bestimmung die-
meinschaft des Gerüchtes (etwa in Im Brauer-Hause ser Dichtung, ferner auch die Vorstellung einer Rein-
oder Ein Doppelgänger), deren Gesetz man – wie die tegration des Ichs in prärationale Zusammenhänge als
»nordisch gestaltete Führerpersönlichkeit« Hauke geschlossener ideologischer Rahmen. In diesem Hori-
Haien – »schon durch seine Größe« verletzen muss, zont gibt es keine prekären Subjekte, keine Moderni-
obwohl man »sein Werk nur vollendet, um ihm zu tätskrisen, sondern jeder Zweifel endet in der Auf-
dienen« (ebd., 539). Solche Menschen begehen keine hebung, im Weg »aus der Bildung in die Natur, aus der
sittlichen Fehler; sie handeln nicht tragisch, sondern bürgerlichen Gesellschaft in die Tiefe des Volkes, aus
ihre Existenz ist tragisch. Das ist das Raster, auf dem der Selbstverlorenheit des Ich in die übergreifenden
Stuckert sein Storm-Bild aufbaut und das ihm auch Ordnungen« (ebd., 49).
bei seiner Storm-Monographie durchweg verbind- Das Postulat der gelingenden Regression, die selbst
lich bleibt. im Scheitern noch die Bestätigung der naturverbun-
Das Problem dieser leicht durchschaubaren und denen Identität der Literatur findet, wird auch in Stu-
entsprechend einzuordnenden Werkdeutung liegt in ckerts 1955 – posthum – erschienener umfangreicher
ihrer Kontinuität (vgl. dazu Peitsch 1999). Stuckerts zweiter Storm-Monographie, die zumindest für die
Storm-Monographie wurde 1952 in einer umgearbei- westdeutsche Storm-Forschung lange eine maßgebli-
teten Auflage wiederveröffentlicht. Gestrichen bzw. che Größe blieb, weitertradiert. Die Interpretation
ersetzt wurden dabei die meisten der einschlägig bio- von Hauke Haiens Tod als »Verwandlung in eine hö-
logistisch-rassistischen Passagen, etwa die im Vor- here mythische Wirklichkeit« (Stuckert 1955, 403) er-
wort sich findende Stilisierung von »Storms Heimat« weist sich dabei als paradigmatisch. Nahezu durch-
zum »Ursprungsgebiet des germanischen Urvolkes gängig zielen Stuckerts Lektüren auf die Rückkehr aus
und der nordischen Rasse«, dessen dort sesshaft ge- der konflikthaften Welt in eine höhere Ordnung, auf
bliebene »Stämme [...] der Vermischung mit anderen die »metaphysische Würde« der Novellen (ebd., 367),
Völkern und Rassen und der Berührung mit fremden das Schuldig-Werden »im metaphysischen Sinne«
Kulturelementen am wenigsten ausgesetzt gewesen (ebd., 395). Zentral bleibt dabei das bereits oben er-
und [...] daher die ursprüngliche Art am reinsten be- wähnte Konzept der ›absoluten Tragik‹ (ebd., 403),
wahrt« haben (Stuckert 1940, 2). Dessen ungeachtet das keineswegs nur dem Schimmelreiter abgewonnen
kehrt auch die Zweitauflage zum »protestantisch-ger- wird, sondern das Stuckert insbesondere für Storms
manische[n] Grundzug« Storms immer wieder zu- Spätwerk als konstitutiv erachtet: Tragisch handelt
rück (Stuckert 1952, 38), betont die »Stammesgemein- man nicht, tragisch ist allein die Existenz des einzel-
schaft«, der Storm sich »durch Herkunft, Erlebnis und nen Freien in einer determinierenden, tendenziell
Arbeit verbunden fühlte« (ebd., 47), und markiert feindlichen und sich progressiv von der Natur entfer-
»Heines Natur« als »wesensfremd« (ebd., 53) – nicht, nenden Gesellschaftsformation (ebd., 392).
97 Zur posthumen Auseinandersetzung mit Storms Leben und Werk 379

rese. Anne Lene aus der Staatshof-Novelle wird zur


Kritik: Storm, »vom richtigen Klassenstand-
Personifikation der »verfallende[n] Welt des vorkapi-
punkt« aus gelesen
talistischen, nicht mehr wandlungsfähigen Groß-
Natürlich kann man diese zweite einflussreiche Mono- grundbesitzes« (ebd., 202); Meta und Christian aus Ab-
graphie Stuckerts heute nicht mehr rezipieren, ohne seits (1863) werden zu »zwei Spielarten deutschen
für bestimmte Reizworte sensibilisiert zu sein, und wer Kleinbürgertums« um 1848 (ebd., 217) und Botilla Jan-
etwa die Ausführungen zu Von Jenseit des Meeres (Stu- sen aus Im Nachbarhause links (1875) kommt unver-
ckert 1955, 289 ff.) oder die Apologie der Stammeska- sehens eine Schlüsselposition im Werk als »der durch
tegorie (ebd., 162) gelesen hat, der wird sich über den das Geld entartete Mensch« (ebd., 281) zu, an dem sich
Resonanzraum der Begrifflichkeiten keine Illusionen das ganze »Elend bourgeoiser Geldgier« zeige (Vinçon
machen. Die Kritik an dem sich hier abzeichnenden 1973, 58). Erzählt wird über die Dichtung dabei immer
Storm-Bild bleibt indessen lange alleine denjenigen auch die Geschichte des Bürgers Storm, der die Zeit der
vorbehalten, die nicht nur die Verbrämung Storms im Überwindung seiner Klasse gekommen sieht, gerade
Licht einer Blut-und-Boden-Ideologie sowie die damit während seines Potsdamer Exils seinen diagnostischen
einhergehenden ›Mystifikationen‹ aufzudecken und Blick für die Mechanismen des »Patriarchalismus«
ihn »gegen seine reaktionären Apologeten zu verteidi- (Böttger 1959, 162 f.) schärft und sich vom Preußen-
gen« versuchen, sondern denen es darüber hinaus vor tum distanziert, letztlich aber dann doch in seiner
allem darum zu tun ist, Storm »vom richtigen Klassen- Klasse verhaftet bleibt. So werden der Sozialdiagnostik
standpunkt« aus zu verstehen und »die Beschränktheit in Im Sonnenschein (1854) oder Angelika (1855) die
seiner immanenten Klassenkritik offenzulegen« (Vin- Märchen als bürgerliche, ›rückwärtsgewandte‹ Flucht
çon 1973, VI). Nicht nur die DDR-Philologie (die in gegenübergestellt (Vinçon 1973, 49). Storm mag ah-
dieser Frage keinesfalls geschlossen argumentiert) ent- nen, was vor sich geht; historisch zuordnen könne er
deckt Storm als einen Gesellschaftskritiker, dessen die politisch-sozialen Veränderungen jedoch noch
»Übereinstimmung und Sympathie mit den radikalli- nicht. »Vom Kampf der Klassen als einem die Ge-
beralen und demokratischen Bewegungen« jahrzehn- schichte bestimmenden Gesetz wußte er nichts«, bi-
telang verfälscht, totgeschwiegen bzw. durch »spieß- lanziert 1968 Peter Goldammer, »der Kampf des Prole-
bürgerliche, provinzialistische oder formalistische tariats um die revolutionäre Veränderung der Welt lag
Storm-Bilder« verstellt worden sei (Böttger 1959, 11). gänzlich außerhalb seines Erfahrungsbereichs« (Gold-
Der »Storm-Legende« begegnet die ›ideologiekriti- ammer 1986, 252). Dementsprechend wird Storms
sche‹ Lektüre – in beiden Teilen Deutschlands – dabei Rückzug auf die »Humanität« zwar respektiert, aber
insbesondere durch eine Perspektivverschiebung: zugleich auch als Symptom eines ›Lebens im Falschen‹
Während erstere die »bürgerliche Lebenslüge, [...] das gedeutet: In der Avisierung der sittlichen Norm äußert
bewußte falsche gesellschaftliche Bewusstsein« auf sich letztlich nur der Glaube »an die Möglichkeit einer
Storm »projiziert« (Vinçon 1973, VI), sein Werk also wenigstens teilweisen Humanisierung des Menschen
zu einer Festung der natur- und heimatverbundenen in der bürgerlichen Ordnung« (Böttger 1959, 297).
Innerlichkeit werden lasse, liest letztere Storms Texte
als eine kritische Inszenierung des ›falschen Bewusst-
Storm-Forschung heute
seins‹, also als eine Entlarvung der Bourgeoisie und ih-
rer Geschichte. So zeige sich an Immensee der »Wider- Wird zu diesen Symptomen nicht von ungefähr auch
spruch zwischen dem bürgerlich-humanistischen Ide- der »Zwang zur Psychologisierung« (Vinçon 1973, 64)
al und der reaktionären Praxis«, die Novelle avanciert gezählt, so erkennt die Storm-Forschung spätestens ab
»zum Spiegelbild der nachrevolutionären Reaktions- den 1990ern in der Psychologisierung gerade jenen
zeit« (Böttger 1959, 125). Auf dem Staatshof (1859) Aspekt spätrealistischer und frühmoderner Literatur,
wiederum dokumentiere den »Prozeß des Übergangs an dem sich die »tentative Transformation des Moral-
der Landwirtschaft zum Kapitalismus und die große systems« am deutlichsten ablesen lässt (Wünsch 1991,
Agrarkrisis« des 19. Jahrhunderts (ebd., 203). 94). War die psychoanalytisch ausgerichtete Literatur-
Abseits der allzu sozialdialektischen Schematik er- wissenschaft zunächst noch auf den Autor Storm fi-
geben sich in diesem Horizont durchaus fruchtbare xiert (vgl. hierzu ausführlicher Stein 2006, 12 f.), so
Analysen, welche die Brüchigkeit von Storms Welten etabliert sich nach und nach eine Analyse der Texte
nicht nur als solche erkennen, sondern sie auch für sich Storms »als Analogiephänomen zu psychologischen
bestehen lassen. Gleichwohl tendieren sie zur Allego- Modellbildungen« (Detering 2011, 154). Im Zentrum
380 V Rezeption

stehen dabei insbesondere Konzeptionen des Narziss- on Storms wird schon längst nicht mehr allein auf
mus, die die Beziehungen zwischen den (männlichen) Deutsch geführt. Waren schon 1906/07 zwei – in ihrer
Protagonisten und ihren (weiblichen) Bezugsobjekten Zeit durchaus innovative – französische Beiträge zu
steuern (vgl. beispielhaft Fasold 1999). Gefährdet ist Storms Poetik in der Revue Germanique erschienen
die Stabilisierung des Ichs im Spiegelobjekt stets durch (Besson 1906, Bulliod 1907), so hat man es mittlerwei-
dessen Autonomisierungsbestrebungen resp. durch le mit einer globalen Forschungsgemeinschaft zu tun,
die Entfaltung des ungerichteten Sexualtriebs. Es sind die sich mit Storm beschäftigt. In der anglo-amerika-
dabei gerade die devianten, offensichtlich traumati- nischen Germanistik blieb Storm in den vergangenen
sierten Charaktere wie Rudolf von Schlitz aus Schwei- Jahrzehnten insbesondere durch das Wirken Clifford
gen (Wünsch 1992) oder Ines aus Viola tricolor (Stein A. Bernds, David A. Jacksons sowie durch die Über-
2006, 149–172), denen vor diesem Hintergrund eine setzungsleistung von Denis Jackson stets präsent und
Schlüsselfunktion zukommt und von denen her sich stößt auch in der zeitgenössischen Realismusfor-
weitere Theoreme – insbesondere die sich mit einer in- schung auf verstärkte Resonanz. Im asiatischen Raum
zestuösen Dynamik verknüpfenden – erhellen lassen. ist hingegen insbesondere Japan hervorzuheben, wo
Grundsätzlich besitzt die psychoanalytische Para- seit 1983 eine Theodor-Storm-Gesellschaft existiert,
digmatik bis heute noch eine nicht unwesentliche Be- die auch halbjährlich ein eigenes Bulletin veröffent-
deutung für die Storm-Forschung. Indessen haben licht (vgl. Tanaka 1989) und in engem Austausch mit
sich, nicht zuletzt aufruhend auf der seit 1987/88 vor- ihrer deutschen Schwestergesellschaft in Husum steht.
liegenden ersten historisch-kritischen Gesamtaus- Diese wiederum verantwortet sowohl die seit 1952
gabe Storms – verantwortet von Karl Ernst Laage und jährlich erscheinenden Schriften der Theodor-Storm-
Dieter Lohmeier –, die methodischen Zugänge zum Gesellschaft (STSG) als Leitorgan der Storm-For-
Werk in relativ kurzer Zeit vervielfacht, so dass die schung, die seit 1999 existierende Monographienreihe
zeitgenössische Auseinandersetzung mit Storm mitt- Husumer Beiträge zur Storm-Forschung wie auch die
lerweile auch geprägt wird durch seit 1969 erscheinenden Storm-Briefwechsel.
• medienwissenschaftliche Reflexionen, die sowohl
mediale Konstruktionen in Storms Texten (Sege- Literatur
berg/Eversberg 1999) als auch mediale Praktiken Bab, Julius: Storm und die Lyrik. In: Westermann’s Illustrirte
wie das ›Erinnern‹ (Pastor 1988, Begemann 2013) Deutsche Monatshefte 99 (1906), 833–843.
Bakalow, Anatoli S.: Storm-Forschung in der UdSSR. In:
und die ›Wahrnehmung‹ (vgl. Strowick/Vedder Brian Coghlan/Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm und
2013) extensiv verhandeln (s. Kap. IV.92); das 19. Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internatio-
• gendertheoretische Studien (Börner 2009, mit li- nalen Storm-Symposions aus Anlaß des 100. Todestages
teraturpsychologischer Grundierung auch Roeb- Theodor Storms. Berlin 1989, 176–181.
ling 1993; 2012), in denen nicht zuletzt die inter- Begemann, Christian: Figuren der Wiederkehr. Erinnerung,
Tradition, Vererbung und andere Gespenster der Vergan-
textuelle Konstruktion von Geschlechteridentitä-
genheit bei Theodor Storm. In: Elisabeth Strowick/Ulrike
ten und deren narrative Funktionalisierung he- Vedder (Hg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Per-
rausgearbeitet werden (s. Kap. IV.91); spektiven auf Theodor Storm. Bern 2013, 13–38.
• Untersuchungen zu Storms Wissenspoetik, die Bernd, Clifford A.: Storm in der amerikanischen Schul- und
Storms Texte im Lichte der epistemologischen Universitätsgermanistik. In: Brian Coghlan/Karl Ernst
Umbrüche auf dem Feld der politischen Theorie Laage (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Vor-
träge und Berichte des Internationalen Storm-Symposions
(Borgards 2007), des ökonomischen Denkens
aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms. Berlin
(Bergengruen 2013, Theisohn 2016), der Medizin 1989, 160–168.
(Elsaghe 2010, s. Kap. IV.93), der Theologie (De- Bergengruen, Maximilian: Das genetische Opfer. Biologie,
mandt 2010) oder der Biologie (Fasold 2000, Ber- Theologie und Ästhetik in Storms »Carsten Curator«. In:
gengruen 2010, Handelman 2014, s. Kap. IV.90) Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), 201–224.
neu zu kontextualisieren versuchen. Bergengruen, Maximilian: Ökonomisches Wagnis/Literari-
sches Risiko. Zu den Paradoxien des Kapitalerwerbs im Poe-
Die Auseinandersetzung mit Storm erfolgt dabei – wie tischen Realismus. In: Monika Schmitz-Emans (Hg.): Lite-
schon immer – auf internationaler Ebene. Nicht nur, ratur als Wagnis/Literature as Risk. Berlin/Boston 2013,
dass sein Werk Übersetzungen in über 20 Sprachen 208–238.
erfahren hat (allen voran Immensee, das 1871 bereits Besson, Paul: Un poète de la vie intime. Les romans et nou-
ins Dänische und 1907 sogar in Esperanto übersetzt velles de Théodore Storm. In: Revue Germanique 2 (1906),
291–315.
wurde): Auch die literaturwissenschaftliche Diskussi-
97 Zur posthumen Auseinandersetzung mit Storms Leben und Werk 381

Bethge, Hans: Theodor Storms Jugendlyrik. In: Der Lotse 2 Laage, Karl Ernst: Theodor Storm – neue Dokumente, neue
(1901/02), 168–173. Perspektiven. Berlin 2007.
Biese, Alfred: Theodor Storm. In: Ders.: Lyrische Dichtung Laage, Karl Ernst: Der kritische Storm. Heide 1989.
und neuere deutsche Lyriker. Berlin 1896, 94–118. Lohmeier, Dieter: Juden in Leben und Werk Theodor
Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die Storms. In: STSG 43 (1994), 7–22.
Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009. Lukács, Georg: Bürgerlichkeit und l’ art pour l’ art. Theodor
Böttger, Fritz: Theodor Storm in seiner Zeit. Berlin 1959. Storm. In: Die Seele und die Formen. Essays. Mit einer Ein-
Boll, Karl: Die Weltanschauung Theodor Storms. Berlin 1940. leitung von Judith Butler. Bielefeld 2011 (Werke I), 89–
Bollenbeck, Georg: Theodor Storm. Eine Biographie. Frank- 118.
furt a. M. 1988. Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden.
Borgards, Roland: Wolfs-Notstand. Zum Bann der Bestie in Frankfurt a. M. 1990.
Storms »Zur Chronik von Grieshuus«. In: Zeitschrift für Missfeldt, Jochen: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter
deutsche Philologie 126 (2007), 167–194. Theodor Storm in seinem Jahrhundert. München 32013.
Bulliod, A.: Les sources de l’ emotion dans l’ oeuvre de Theo- Pastor, Eckart: Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen
dor Storm. In: Revue Germanique 3 (1907), 66–85, 181– von Theodor Storm. Frankfurt a. M. 1988.
217. Peitsch, Helmut: Ein Storm aus Blut und Boden? Zur literar-
Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor historischen Biographik aus der Zeit des Faschismus am
Storm. Berlin 2010. Beispiel Franz Stuckerts. In: David A. Jackson/Mark G.
Detering, Heinrich: »Nicht ganz korrekt«. Thomas Mann Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative Strategies And Pa-
und Theodor Storm als entlaufene Bürger. In: Heinrich triarchy/Theodor Storm – Erzählstrategien und Patriarchat.
Detering/Maren Ermisch/Hans Wißkirchen (Hg.): Verirr- Lewiston, N. Y. 1999, 239–264.
te Bürger: Thomas Mann und Theodor Storm. Frankfurt Plotke, Georg J.: Theodor Storm und der Krieg. In: Friedrich
a. M. 2016, 51–68. Düsel (Hg.): Theodor Storm. Gedenkbuch zu Storms hun-
Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das dertstem Geburtstage. 14. September 1917. Braunschweig
Ende der Romantik. Heide 2011. 1916, 75–100.
Dreesen, Willrath: Romantische Elemente bei Theodor Storm. Roebling, Irmgard: Storm und die weibliche Stimme. In:
Dortmund 1905. STSG 42 (1993), 54–62.
Düsel, Friedrich: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Theodor Storm. Roebling, Irmgard: Wasserfrauen zwischen Fließen und
Gedenkbuch zu Storms hundertstem Geburtstage. 14. Sep- Festschreibung. Storms Darstellung von Geschlechterver-
tember 1917. Braunschweig 1916, 7–8. hältnissen in Erzählprozessen am Beispiel seiner Novelle
Elsaghe, Yahya: »Krankheit unserer Marschen«. Zur Ver- »Psyche«. In: Dies.: Theodor Storms ästhetische Heimat.
drängung der Krebsangst in Theodor Storms Novelle »Ein Studien zur Lyrik und zum Erzählwerk Storms. Würzburg
Bekenntnis«. In: Zeitschrift für Germanistik 20 (2010), 2012, 275–309.
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Jackson/Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm – Narrative tung. Hg. v. Edmund Lange. Berlin 31911.
Strategies And Patriarchy/Theodor Storm – Erzählstrate- Steffen, Wilhelm: Mächte der Vererbung und Umwelt in
gien und Patriarchat. Lewiston et al. 1999, 23–47. Storms Leben und Dichtung. In: Dichtung und Volkstum
Fasold, Regina: Theodor Storms Verständnis von »Ver- (NF Euphorion) 41 (1941), 460–485.
erbung« im Kontext des Darwinismus-Diskurses seiner Stein, Malte: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologi-
Zeit. In: Gerd Eversberg/David A. Jackson/Eckart Pastor sche Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt
(Hg.): Stormlektüren. Festschrift für K. E. Laage. Würzburg im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.
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Fasold, Regina: Theodor Storm. Stuttgart/Weimar 1997. Overview. Rochester, N. Y. 2000.
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382 V Rezeption

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Coghlan/Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm und das Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahr-
19. Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen hundert. Vorträge und Berichte des Internationalen Storm-
Storm-Symposions aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Symposions aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms.
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Theisohn, Philipp: Der Sohn der Danaë. Manns »Budden- Wünsch, Marianne: Vom späten »Realismus« zur »Frühen
brooks«, Storms »Carsten Curator« und der Mythos der Moderne«: Versuch eines Modells des literarischen Struk-
Spekulation. In: Heinrich Detering/Maren Ermisch/Hans turwandels. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des lite-
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Theodor Storm. Frankfurt a. M. 2016, 137–158.
Philipp Theisohn
98 Storm-Adaptionen im Film 383

98 Storm-Adaptionen im Film wählen, was ihm hinsichtlich seiner Informations-


kanäle prinzipiell zur Verfügung steht. Jeder Text be-
Die Popularität Storms dokumentiert sich nicht zu- wegt sich damit bei der Konstituierung seiner Bedeu-
letzt in den zahlreichen Verfilmungen, die seine Wer- tung innerhalb der Möglichkeiten und Grenzen des
ke im Laufe des 20. Jahrhunderts erfahren haben. zugrundeliegenden Mediums. Diese medialen Spezi-
Eversberg/Wulff (2013) listen 36 Projekte auf, von de- fika sind nicht nur als Begrenzung und Restriktion
nen vier im Projektstatus bzw. unvollendet blieben (zu aufzufassen, sondern sie erlauben es auch, eigene me-
John Riew’, D 1944, Renate, DDR 1989/90, Pole Pop- diale Entwürfe zu kreieren. Ein Text ist zudem in Ab-
penspäler, BRD 1991 und eine unvollendete/ver- hängigkeit von seiner Kulturalität zu sehen: Jeder Text
brannte Variante D 1944/45), eines, die allererste Ver- ist in einen historischen, kulturellen Kontext ein-
filmung von 1917, John Riew’, in keiner Kopie mehr gebunden und konstituiert sich im Rahmen der Fak-
überliefert ist und zwei keine Adaptionen im engeren toren seiner Kommunikationssituation. Dergestalt ist
Sinn sind (s. unten). Die restlichen 29 referieren auf 16 er Dokument der Entstehungszeit, der er entstammt.
Erzähltexte. Fünf beziehen sich auf die drei Märchen Das jeweilige kulturelle Wissen ist für einen Text und
Der kleine Häwelmann (DDR 1955, BRD 1987), Die dessen Bedeutung konstitutiv wie auch die Situierung
Regentrude (DDR 1976, Tschechien 2010) und Hinzel- eines Textes in seinen historischen Kontexten für sei-
meier (BRD 1975). Von den übrigen ist Pole Poppen- ne rezeptive Aneignung eine Rolle spielen kann, da
späler mit vier realisierten Verfilmungen vertreten (D seine semantisch-ideologischen Bedeutungen ihre
1935, DDR 1954, BRD 1968 und 1989), mit je drei Der Relevanz vor der Folie der Diskurse und des Denkens
Schimmelreiter (D 1933/34, BRD 1977/78, DDR/Polen einer Zeit haben.
1984), Immensee (D 1943, BRD 1956, DDR 1989) und
Viola tricolor (D 1937, BRD 1958, Spanien 1972), mit
Die Frage nach der Adäquatheit
zwei Hans und Heinz Kirch (BRD 1975, DDR 1979/80)
und Aquis submersus (BRD 1950 und 1978/79). Bisher Zum Verhältnis von Text und Film und zu allgemeinen
einmal sind Ein Fest auf Haderslevhuus (D 1921/22), Problemen einer Literaturverfilmung gilt, was Kanzog
Zur Chronik von Grieshuus (D 1924/25), Ein Doppel- bereits 1981 formuliert hat: »Die Frage, ob der auf ei-
gänger (BRD 1975), Waldwinkel (BRD 1979), Draußen ner literarischen Vorlage beruhende Film als eine ad-
im Heidedorf (DDR 1980), Sylter Novelle (BRD 1982) äquate Umsetzung dieser Vorlage angesehen werden
und Schweigen (DDR 1984/85) verfilmt. Außer einer kann, drängt sich nach jeder Literaturverfilmung auf.
spanischen und einer tschechischen handelt es sich Es ist jedoch zu bedenken, ob die Frage richtig gestellt
um deutsche Produktionen. Die Produktionen vertei- ist, d. h. ob sie nicht von Anfang an die Verschieden-
len sich zwar insgesamt über eine Phase von 1917 bis artigkeit der Ausdrucksmittel, die zwangsläufig unter-
2010, deutsche Beiträge sind seit den letzten 25 Jahren schiedlichen Diskurse und Kodierungen außer acht
aber nicht mehr realisiert. Bevor im Folgenden näher läßt und damit am zentralen Problem der Transforma-
auf die Verfilmungen eingegangen wird, seien einige tion von Texten vorbeiführt« (7).
grundsätzliche Anmerkungen zum Verständnis von Eine Verfilmung von Literatur kann nicht mit der
Adaptionen vorausgeschickt. Vorlage identisch sein. Film ist eine zeitlich organi-
sierte Kombination von visuellen und auditiven Zei-
chen und verfügt über die Informationskanäle Bild
Zum Status von Adaptionen
und Schrift sowie Geräusch, Musik und Sprache. Aus
Jede Adaption stellt als medialer Text ein autonomes, dem Zusammenspiel dieser Komponenten bilden sich
von der literarischen Vorlage unabhängiges künstleri- die filmischen Bedeutungseinheiten aus und konstitu-
sches Zeichensystem dar und unterliegt eigenen Ge- iert sich die filmische Semantik. Bereits die Kombina-
setzmäßigkeiten. Jede Adaption modelliert eine eige- tion übernommener Elemente schafft einen neuen
ne Vorstellungswelt und bildet ihre eigene Ideologie Systemzusammenhang und damit eine neue Bedeu-
im Sinne einer eigenen Ordnung und eigenen Werte- tung. Wird etwa ein Erzähleingang identisch über-
und Normenvermittlung aus. Als Text nimmt sie auf- nommen, indem er als Schrift eingeblendet ist, dann
grund ihrer je individuellen Textualität einen eigenen ist dennoch ein Unterschied gegeben, da dieser Kode
Stellenwert ein. Diese Eigenständigkeit ist im Rahmen nicht das Universum der filmischen Rede ausmacht
der spezifischen Medialität möglich: Denn jedes Me- und er vor dem Hintergrund und der Einbeziehung
dium filtert Information und kann nur aus dem aus- der übrigen Informationskanäle zu sehen ist: Die In-

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0_98, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
384 V Rezeption

teraktion dieses Kanals mit den anderen generiert re Kommunikate, die vieles über die Diskursformatio-
weitere Bedeutungen. nen und das Denken ihrer Produktionskultur ver-
Eine Literaturverfilmung konstituiert einen neuen raten. Solche semantisch zentralen Elemente sind et-
Text: Sie kann jede ursprüngliche textuelle Semantik wa: das Narrativ vom Tod des alten Deichgrafen, die
und ›Botschaft‹ verändern, gegen den Strich ›lesen‹ Ausgestaltung bzw. der Verzicht auf eine Psychologi-
oder sogar konterkarieren. Dieses performative Po- sierung des Protagonisten Hauke Haien und seiner
tential gilt es zu erfassen und zu beschreiben (vgl. Motivationen, die Relation der Ehepartner zueinan-
hierzu Schaudig 1992; Renner 1983). Gerade Storm- der und zur Dorfgemeinschaft, die Selbstlegitimation
verfilmungen können hierfür als Beispiele dienen. des neuen Deichgrafen (in der NS- und DDR-Verfil-
Insbesondere ist die Beurteilung einer Literaturverfil- mung jeweils mittels einer Rede vor den Bauern), die
mung nicht von der Situation zu trennen, in der sie Kindsgeburt, der ›Realitätsstatus‹ von Spuk-Elemen-
entsteht. Vom literarhistorischen Kontext, vom Rea- ten und nicht zuletzt auf der Discours-Ebene die
lismus, sind die filmischen Strukturen dagegen gelöst; (Nicht-)Realisation der komplexen narrativen Rah-
sie sind diesbezüglich weder progressiv noch restaura- mungen des Ausgangstextes.
tiv, sondern repräsentieren in ihrer jeweiligen ›Pro- In der ersten Verfilmung durch Curt Oertel und
gressivität‹ oder ›Konservativität‹ die Ideologie ihrer Hans Deppe 1933/34 wird der Referenztext funktio-
Entstehungszeit, deren Werte und Normen ihnen ein- nalisiert, um die eigene Kommunikationsabsicht im
geschrieben werden. Sie beziehen sich auf das Denk- Gewand eines Klassikers autorisiert erscheinen zu las-
system und die Diskurse ihrer Produktionszeit. Dazu sen (vgl. Nies 2008). Der im Abspann von der Film-
kann dann auch gehören, dass ein spezifischer Um- wertungskammer als »besonders wertvoll« und »Spit-
gang bei der Verfilmung von Literatur selbst zum zenleistung der deutschen Filmproduktion« prädika-
Denken der Zeit dazugehört und etwa ein Prinzip Ad- tierte Film dient in der Konstituierungsphase des Na-
äquatheit als Norm ideologisch gefordert ist. tionalsozialismus der Vermittlung zentraler Normen,
Werte und Ideologeme. Bereits der Filmbeginn stellt
Diegese und Handlung mit der Inszenierung eines
Die Reihe der Schimmelreiter-Verfilmungen
Pfluges auf ›vaterländischer Scholle‹ und einer schrift-
Von dem schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts lich fixierten Schilderung des harten Überlebens-
kanonisierten und wohl prominentesten Text Theo- kampfes des ›Friesenvolkes‹ semantisch in den Kon-
dor Storms liegen mehrere Transponierungen in an- text des Blut-und-Boden-Ideologems. Demgegenüber
dere Medien vor: bisher drei Verfilmungen (D 1934 umso unangemessener muss die Dekadenz des alten
Curt Oertel/Hans Deppe; BRD 1978 Alfred Weiden- Deichgrafen scheinen, der zudem seine Amtspflicht
mann; DDR 1984 Klaus Gendries), eine Graphic No- der Deichpflege vernachlässigt. So wird im Unter-
vel (2014 Jens Natter), diverse Hörbuchfassungen ent- schied zum Ausgangstext, in dem es heißt, dass dem
weder als Lesung des Gesamttextes (z. B. 1984 gelesen Deichgrafen das Leibgericht schon Monate vor dem
von Gert Westphal; 2008 gelesen von Sven Görtz) Tod nicht mehr hatte schmecken wollen, sein Sterben
oder als ›Buchzusammenfassung‹ in sechzehn Minu- kausallogisch als Folge der Genusssucht, die ihn als
ten (2016 gelesen von Yannick Esters) sowie zwei Hör- ›gefräßigen Parasiten am Volkskörper‹ ausweist, und
spiele (1986 MDR-Kultur; 2015 Titania Medien, Gru- damit als eine narrative Sanktion für ideologisch nicht
selkabinett Nr. 98), womit lediglich die narrativen In- wünschenswertes Verhalten dargestellt. In Überein-
szenierungen ohne Bühnenfassungen und auch nicht stimmung mit nationalsozialistischen Geschlechter-
die zahlreichen bildlichen Darstellungen des Sujets in rollenbildern zeigt sich Elke als Helferfigur des rech-
Malerei und Grafik oder die Referenznahmen anderer ten Mannes – ihr Bewusstwerden der Notwendigkeit
nichtliterarischer künstlerischer Texte erfasst sind. dieser Helferrolle inszeniert der Film modellbildend
Schon ein partieller Vergleich der Schimmelreiter- für spätere NS-Filme als das Erwachen von Sendungs-
Filme unter dem Aspekt der spezifischen Umsetzung bewusstsein (vgl. Kanzog 1994, 31 ff.). Während der
einiger ›Schlüsselszenen‹ des Storm-Textes (und ihrer Rede vor den Bauern, in der der neue Deichgraf Hau-
mehr oder weniger explizierten intermedialen Refe- ke Haien in einem Akt der Selbstlegitimation die
renznahmen auf jenen) erweist diese nicht nur als ei- Dorfgemeinschaft zum Bau eines neuen Deiches auf-
genständige Bedeutungskonstrukte der semiotischen ruft, ist die Figurenkonzeption Haiens als ein Führer-
Differenzen von literarischem und filmischem ›Text‹, äquivalent aufgrund der Ähnlichkeit in Aussehen, Mi-
sondern als ideologisch teilweise fundamental konträ- mik, Gestik, Körperhaltung und Sprechweise mit Hit-
98 Storm-Adaptionen im Film 385

ler evident. Ihrer psychischen Ambivalenz und im sprüchen, die seit Alters tradiertes Wissen aufrufen),
Ausgangstext problematisierten Motivation entledigt, zeigt sich, wie sich der NS-Film den Eigenstatus der
zeigt der Film die Figur häufig in Untersicht als ein ex- ›Literaturverfilmung‹ durch den Verweis auf den ka-
zeptionelles Individuum von visionärer Größe, dessen nonisierten Volksautor Storm und die Literarizität des
Amtsinhaberschaft in der Rede des Oberdeichgrafen Stoffes semantisch zur Autorisierung der filmisch ver-
gelöst von der Inthronisation durch Elke nachträglich mittelten Normen, Werte und Ideologien als ›über-
als dem Wohl aller dienend legitimiert ist. Die meta- zeitliche Wahrheiten‹ zu Nutze macht.
phorische Semantik des Deiches als Manifestation ei- Gegenüber diesem filmischen NS-Erbe betreibt
ner eigentlichen Reichsgrenze, die das Land gegen die bundesrepublikanische Neuverfilmung von 1978
feindliche Übergriffe von Außen verteidigt und im durch Alfred Weidenmann eine signifikante Entideo-
Sinne des Ideologems vom ›Volk ohne Raum‹ zur An- logisierung und weitere Komplexitätsreduktion.
eignung neuer Lebensräume weiter nach außen ver- Auch die Rahmung der Diegese wird gegenüber der
lagert werden soll, tritt in dieser Rede ganz offen zuta- Fassung von 1934 insofern weiter zurückgenommen,
ge (vgl. Oertel/Deppe 1934, ab 1:07). als die genuine Literarizität der Geschichte nun nicht
Um dieses Konzept von vorbildlicher ›Führer- mehr filmisch inszeniert ist, sondern lediglich durch
schaft‹ nicht filmisch-argumentativ zu unterminieren, ein schriftliches Storm-Zitat angezeigt wird, das vor
ist die Umdeutung bzw. Nicht-Ausgestaltung einiger allem die Funktion hat, nun den Spukgehalt explizit
Elemente des Referenztextes im NS-Schimmelreiter- zu stützen: Das Phantastische wird autorisiert. So ist
Film zwingend: Das ›degenerierte‹ Kind Hauke Hai- der Gespenster-Schimmel auf Jevershallig mimetisch
ens ist in dieser Charakteristik nicht weiter themati- und klar konturiert inszeniert und mit Hauke Haiens
siert, da es dem Menschenideal des Nationalsozialis- Kauf des Schimmels von dort verschwunden. Wenn
mus widerspräche, dem idealisierten Führer ›krankes auch Wegner argumentiert, der Film ziele insgesamt
Erbgut‹ zuzuschreiben. Der Tod Hauke Haiens ist eher auf die Unterhaltung des Zuschauers ab, was
nicht mehr zugleich als eine narrative Selbstsanktion eben mit einer Stärkung der Plot-Elemente ›Liebe‹,
für eigennütziges Verhalten doppelmotiviert, sondern ›Spuk‹ und ›persönliche Tragik‹ einhergehe und den
bleibt auf den Opferstatus für die Gemeinschaft redu- Produktionsbedingungen unter der Filmförderung in
ziert. Die komplexe Relation der Erzählebenen im Re- den 1970er Jahren geschuldet sei (vgl. Wegner 1999,
ferenztext auf den Film zu übertragen, wäre im Sinne 223 f.), zeigt sich darin nicht nur ein gänzlich anderes
der NS-Ideologie dysfunktional, denn damit würde Erzählinteresse als im früheren Schimmelreiter-Film,
der ›Realitätsstatus‹ der Diegese und ihre Vorbild- sondern auch eine andere narrative Problemkonstel-
funktion relativiert durch eine Distanzierung vom Er- lation: Tatsächlich wird die Bedeutung des Eros durch
zählten und Veruneindeutigung des Ausgesagten. die Verfilmung deutlich aufgewertet, was erstens in
Desgleichen gilt für die Existenz phantastischer Ele- der ausführlich erzählten Entscheidung Haiens zwi-
mente, somit den ›Spukgehalt‹ des Storm-Textes, der schen den Liebesrivalinnen Vollina und Elke ersicht-
hier in den Bereich des Volksglaubens und der subjek- lich wird, zweitens in der semantischen Korrelation
tiven Wahrnehmung einer zudem als ›dumm‹ und des Todes des alten Deichgrafen (der nun nicht mehr
›furchtsam‹ charakterisierten Knechtfigur verbannt mit Völlerei, sondern mit libidinöser Verausgabung –
ist. Wo sich im Volksglauben dennoch die Vorstellung dem Tanzen mit zu vielen Mädchen – enggeführt
vom spukenden Schimmelreiter manifestiert, wie eine wird) und drittens in der Ausgestaltung des Themas
eingangs gezeigte Buchseite erklärt, kann sie zugleich ›Vernachlässigung der Ehefrau‹ durch den überarbei-
als ein ideologisch funktionaler Beitrag zur mythi- teten Mann (Elke: »Ich leb’ neben Dir, als hätt’ ich kei-
schen Überhöhung eines exzeptionellen Führers nen Mann«, 1:00, und »Du hast jetzt alles, was Du er-
durch das Volk gelesen werden. Indem der Film sich reichen wolltest, Hauke. Was Dir fehlt, ist ein Kind«,
darüber hinaus intermedial als eine Literaturverfil- 1:18). So besteht eine der Transformationen gegen-
mung exponiert, wenn zu Filmbeginn der Buchdeckel über dem Referenztext darin, dass das von Elke er-
von Theodor Storms Schimmelreiter aufgeschlagen sehnte Kind kurz nach der Geburt stirbt, weil es »zu
und sodann die Diegese zunächst schriftsprachlich-li- schwach« war (1:12), was bedeuten mag, dass die ehe-
terarisch etabliert wird, und auch im weiteren Film- liche Beziehung sich als sexuell unfruchtbar gestaltet
verlauf Schrift stets als Kommunikat von ›Autorität‹ und der zentrale Konflikt sich nunmehr unter weit-
erscheint (z. B. in Form von Befehlen, Anordnungen, gehender Reduktion der politisch-ideologischen
Ankündigungen des Oberdeichgrafen und in Sinn- Komponente gegenüber dem NS-Film signifikant ins
386 V Rezeption

Private auf die Problematik ehelichen Zusammen- als die vorherigen Adaptionen (vgl. Wegner 1999,
halts verlagert hat. 231–239) und konterkarieren andererseits die aus-
Die DDR-Produktion des Schimmelreiter von Klaus schließlich ideologische Lesart, die solche Ambivalen-
Gendries von 1984 fällt im Sinne der ›Politisierung der zen nicht zulassen dürfte. Analog zum Storm-Text,
Kunst‹ (Walter Benjamin) wieder zurück in das ideo- der das Phantastische als Gegenstand einer Erzählung
logische Paradigma: Die kulturelle Praxis der Beset- in die Diegese hineindelegiert und somit insgesamt
zung des Deichgrafenamtes mit dem reichsten Bauern völlig im ›realistischen‹ Diskurs verbleibt (als Erinne-
und nicht mit dem für das Amt Geeignetsten wird so- rung eines gealterten Subjekts an nichts weiter als eine
wohl zur Kritik am Feudalsystem als auch am Kapita- weit zurückliegende Lektüre einer Zeitschrift), ver-
lismus genutzt, analog dem NS-Film ist der Tod des weist Gendries’ Film den ideologischen Aspekt in die
alten Deichgrafen Folge seines Lebenswandels und Diegese als Gegenstand einer Erzählung in der Erzäh-
seiner Trunksucht. Indem der Film ihn schlafend in lung und entzieht sich dadurch der Kritik einer erneu-
die Handlung einführt und im Schlaf sterben lässt, ist ten ausschließlich propagandistischen Funktionalisie-
gegenüber der Völlerei hier der Aspekt seiner Untätig- rung der Vorlage unter anderen Vorzeichen. »Ich hab’
keit semantisch deutlicher konturiert. In der Ordnung was gesehen und auch wiederum nicht« (0:04), mag
der dargestellten Welt erscheinen die weiblichen Figu- mit dem fremden Reiter der Zuschauer feststellen.
ren emanzipierter als in früheren Versionen der Ge-
schichte (Elke steckt Hauke bei der Verlobung den
Storm-Verfilmungen als kulturelle Aneignungen
Ring an) und Hauke Haien zeigt sich weniger als
›Deichgraf‹, denn als mit der Gemeinschaft solidari- Für die einzelnen Adaptionen ist zu konstatieren,
scher Vorarbeiter, der zwischen allen anderen am dass es bezüglich des Verhältnisses zur jeweiligen
Deichbau mitwirkt. Der Dorfgeistliche ist selbst säku- Vorlage zunächst deutliche Unterschiede gibt. Bei Se-
larisiert, während die Figurenrede von Arbeitern und renade (1937) ist der Bezug zu Viola tricolor nur mehr
Bauern häufig in Glaubensdiskursen kontextualisiert schwer zu erkennen, bereits die Figurenkonstellation
ist, was diese aber nur auf eine Ebene mit dem ›Aber- unterliegt markanten Veränderungen. Unsterbliche
glauben‹ stellt, der auch die Mythisierung des Schim- Geliebte (1950) oder John Glückstadt (1975) folgen
melreiters ermöglicht. Wo der NS-Film sich in der Fi- zwar dem Handlungsverlauf von Aquis submersus
gur des Schimmelreiters ein Führer-Äquivalent mo- bzw. Ein Doppelgänger, verändern aber zentrale Mo-
dellierte, macht ihn der DDR-Film zum »tüchtigen mente der Narration, insbesondere das Ende. Hans
Kerl«, der »das Lichtlein ein Stück vorantragen« hilft und Heinz Kirch (1975) oder Pole Poppenspäler (1989)
(0:53), zum Idealtypus des Arbeiters und aufrichtigen dagegen scheinen bemüht zu sein, den literarischen
Menschen, dem übrigens ein gesundes Kind geboren Text eins zu eins umzusetzen und nähern sich dem
wird. Wiederum ist die Rede Haiens vor den Bauern Prinzip der Bedeutungsmodulation an, welches, wie
einer der ideologischen Kondensationspunkte, in des- bei der Transponierung eines schriftlichen Textes in
sen Zentrum diesmal eine von Ole Peters geführte Ka- einen mündlichen, als Ausgangspunkt die ›ursprüng-
pitalismuskritik steht, da er Haien, wie der Zuschauer liche‹ Semantik nimmt, die in der Adaption einem In-
weiß, fälschlicherweise unterstellt, sich an dem neuen terpretationsprozess unterzogen wird (der sich im ei-
Land, das der Deichbau erschließt, lediglich persön- nen Extremfall einer Kopie annähern, im anderen bis
lich bereichern zu wollen. Unter diesen DDR-ideo- zu einer Dekonstruktion reichen kann).
logischen Aspekten ist der Film aber nicht hinrei- Zu erkennen ist bei allen genannten Filmen jedoch
chend zu erfassen. Nicht nur die Distanznahme von ein gemeinsames Grundprinzip: Für die Adaptionen
der Vita des Schimmelreiters durch den übergeord- ist nicht der Film an sich, sondern dessen kulturelle
neten Erzählrahmen, in dem der Schulmeister einem Aneignung zentral. Der ›fremde‹ Text, also das Werk
nur durch sein Äußeres charakterisierten Fremden Storms, wird über die mediale Transposition in das
diese erzählt, relativiert die filmische Gesamtaussage, neue System integriert. Diese spezifische Übertragbar-
auch Ambivalenzen hinsichtlich der Bewertung des keit auf die je ›eigene‹ Kultur ist es, was Stormverfil-
Phantastischen (das Gespenst ist als ebendies insze- mungen insgesamt auszeichnet. In diesem Sinne kann
niert: nicht ›realistisch‹, sondern als schemenhaft-ne- bei den Storm-Verfilmungen von einer Ideologisie-
bulöse Erscheinung verunklart und doch deutlich rung im Sinne Lowrys (1991) gesprochen werden. Die
sichtbar) rücken ihn einerseits in Bezug auf seine Transformationen von Text zu Film, die diese Ideo-
Komplexität näher an den literarischen Referenztext logisierung steuern, vollziehen sich dabei zumeist auf
98 Storm-Adaptionen im Film 387

indirekte und implizite Weise; sie beziehen sich auf gesellschaftliche Dimension. Angeprangert wird der
Detailänderungen oder Übertragungen von Details in Dünkel der bürgerlichen Gesellschaft, die durch ihre
andere Kommunikations- oder Handlungskontexte, Vorurteile eine soziale Integration erschwert. Propa-
die dann die Adaption im Ganzen dominieren. giert wird dagegen ein harmonisches Miteinander.
Die Verfilmung von 1968 akzentuiert das Eltern-
Kind-Verhältnis und Erziehungsprinzipien, dies kor-
Variation trotz Konstanz – »Pole Poppenspäler«
reliert mit der Dauer der Kindheitsepisode, die über
Neue Titel indizieren solche Veränderungen, dies zwei Drittel des Filmes ausmacht. Zentral ist hierbei
heißt aber nicht, dass bei Übernahme des Titels auch die Beziehung zur bürgerlichen Ordnung, die als
die ursprünglichen Semantiken der Texte dominieren Maßstab allgemein anerkannt und Vorbild ist, wie ge-
würden, wie an den Pole Poppenspäler-Adaptionen zu rade anhand Frau Tendler vorgeführt wird, und die in
zeigen ist. Der Film von 1935 ist wie ein Jahr zuvor der ihren Spielregeln akzeptiert wird. Diese Ordnung
Schimmelreiter-Film in Richtung NS-Ideologie ver- konstituiert sich wesentlich durch ein bestimmtes Ge-
ändert. Puppenspieler Tendler steht hier repräsentativ schlechterverhältnis, durch eine spezifische Rolle der
für das Alte, das problemlos zurückgelassen werden Frau und die Autorität des Vaters, der Vorurteile bzw.
kann bzw. von dem man sich für eine eigene Zukunft Ansichten hat, diese aber in einer Art aufgeklärtem
lossagen muss. Dies ist als allgemeingültiges Prinzip Absolutismus nicht autoritär durchzusetzen versucht.
zu verstehen, was dadurch verdeutlicht wird, dass es In dieser Welt ist jeder gefordert, selbst etwas bei-
die Gewalt der Natur in Form eines Unwetters selbst zutragen, wenn etwas erreicht werden soll, wie die
ist, die für die missglückte Aufführung (im Freien) veränderten Modalitäten bei der Aufdeckung des
sorgt und die Puppen wegschwemmt. Das Mühlrad, Diebstahls zeigen. Tendler avanciert zu einer tragi-
das beim Tode Tendlers kurz still steht, sich dann aber schen Figur, anhand derer das Scheitern einer be-
weiterdreht, symbolisiert die Analogisierung des So- stimmten Lebenseinstellung vorgeführt wird.
zialen mit der Natur, die als ideologisches Regulativ Die Verfilmung von 1989 zeichnet das Bemühen
instrumentalisiert wird. Sympathie wird dem alten um eine dem literarischen Original streng verpflichte-
Tendler dementsprechend wenig entgegengebracht, te Adaption aus, der Film geriert sich als reiner Träger
auf den Aufbau einer individuellen Nähe zu ihm wird und Mittler des Stormschen Werkes. Indem der Text
verzichtet. Seine Proben gehen heimlich vonstatten bis auf einige Kürzungen wörtlich übernommen und
und werden als Normverstoß und Alterstorheit ge- zu einem großen Teil als Voice Over gesprochen wird,
wertet. Der erwachsene Paul distanziert sich von der erscheint der Film als Bedeutungsmodulation mit Be-
als unangebracht semantisierten Leidenschaft des bilderung. Damit scheint auch die Semantik des
Schwiegervaters und hat, anders als im Text, kein Ver- Stormschen Textes übernommen zu sein. Allerdings
ständnis. Stattdessen betont der Film die ehrliche, auf- verschieben sich durch die konkrete Umsetzung die
rechte Gesinnung von Paul, so bei der hinzugefügten Gewichtungen der einzelnen Elemente und damit die
Szene der Meisterprüfung, bei der er sich vor der Ge- semantische Gesamtaussage. Visuelle Dominanz hat
meinschaft als anständiger, geradliniger Deutscher nicht die Handlung, die wenig dramaturgisch aus-
präsentiert (während sein Kontrahent bereits durch gestaltet wird, sondern der Erzählvorgang. Was der
seine physiognomische Zeichnung disqualifiziert Film überwiegend und immer wieder zeigt, ist der er-
wird). Bereits zuvor wird expliziert, dass Tendler ein zählende alte Paul, der am Tisch vor dem Haus sitzt,
Handwerk gelernt hat (und damit wird impliziert, Kaffee trinkt und sich die Pfeife anzündet. Nur die Tei-
dass er nur sozial abgerutscht und eben nicht eigent- le der Erzählung, die direkte Rede aufweisen, werden
lich ein ›Zigeuner‹ ist), so dass Pauls Verbindung mit daneben visuell in Szene gesetzt. So, wie dabei die vi-
Lisei denn auch der letzte Verdacht einer ›Rassen- sualisierten Marionettenaufführungen aus der Per-
schande‹ genommen wird. spektive frontal von vorne in einer Totalen gezeigt
Die DDR-Verfilmung von 1954 legt ebenfalls den werden und damit Distanz geschaffen wird, so ergibt
Fokus auf die junge, erwachsene Generation, wobei sich eine Distanz zum berichteten Geschehen auch
dies bereits dadurch deutlich wird, dass der Film mit durch diese Erzählsituation. Die direkte Ansprache in
dem erwachsenen Paul einsetzt und die Kindheitsepi- die Kamera simuliert zwar eine Gesprächssituation,
sode als Rückblende realisiert. Dabei fokussiert der die den namenlosen, aber nicht merkmalslosen Ich-
Film, neben der zelebrierten Zurschaustellung der Erzähler des Text-Rahmens durch ein anonymes Ad-
medial-technischen Errungenschaft des Farbfilms, die ressatenkollektiv substituiert – die Geschichte wird al-
388 V Rezeption

len erzählt. Indem aber visuell dominant der erzäh- sich Männer verstehen. Dazu gehört schließlich auch
lende Paul gezeigt wird, schiebt sich damit auch eine die Rolle der Musik als gemeinschaftsstiftend und die
Zwischenebene ein. Zugang hat man nur zu dieser Er- Inszenierung des Künstlergenies, über das deutsche
zählerfigur, die sich durch ihre Gestik einbringt und Kunst und symbolisch deutsche Überlegenheit trans-
die durch die Besetzung mit Uwe Friedrichsen weni- portiert werden.
ger tatsächlich als Paul Paulsen identifiziert wird, son- Auch Ich werde dich auf Händen tragen propagiert
dern als bekannter Schauspieler (und Hörbuchspre- und inszeniert eine dezidiert andere Position zur Ver-
cher), der Friedrichsen ist. Der Zuschauer wohnt eher gangenheit als der Text; eine Position, die deutlich als
einer Lesung bei, als dass er in eine bewegende Ge- eine Kommentierung der Nachkriegssituation und
schichte involviert wird. dementsprechender Vergangenheitsbewältigung aus
Sicht der späten 1950er Jahre zu verstehen ist. So wech-
selt die Verfilmung von einer individuellen Perspekti-
Ideologische Verschiebungen am Beispiel
ve, die in der Novelle den Fokus ganz auf Rudolf und
An den Mehrfachverfilmungen lassen sich, wie an den dessen familiären Kontext begrenzt und vor allem die
Schimmelreiter- und Pole Poppenspäler-Adaptionen ›Psyche‹ der Personen ausleuchtet, zu einer kollektiv-
gezeigt, ideologische Änderungen wie ihre Bindung institutionalisierten Perspektive. Dabei erhält die Ver-
an den jeweiligen Produktionskontext gut nachvoll- gangenheit den Status eines notwendig als Faktum Ge-
ziehen. So bilden sowohl Storms Viola tricolor als auch gebenen, mit dem man sich ›auseinanderzusetzen‹ hat.
die beiden deutschen Verfilmungen Serenade (1937) Diese Auseinandersetzung lässt sich als Ausgrenzung,
und Ich werde dich auf Händen tragen (1958) in ihren Kanalisierung, Auslöschung/Verdrängung bezeichnen
Welten eine spezifische Relevanz bzw. Problematik und wird anhand der dargestellten Räume illustriert.
der Vergangenheit für die jeweilige Textgegenwart ab. Die Funktion des Gartens als Erinnerung an die tote
In Storms Viola tricolor werden eine Zukunft und ein Maria wird im Film auf den (im Text nicht gegebenen)
neues Leben nur über die Einbeziehung der Vergan- Friedhof verlagert und somit durch diese Raumbin-
genheit als möglich gesetzt. Vergangenheit ist etwas, dung kanalisiert: Hier ist die Trauer legitim, hier ist der
was zur Person gehört bzw. etwas, was eine ›komplet- symbolische Ort, der der Vergangenheit zugewiesen
te‹ Person erst auszeichnet. Die Vergangenheit ist so- wird, während sie zu Hause problematisch ist. Denn
mit für die Problemlösung notwendig und der Text der Garten und somit eine traumatische Vergangen-
führt demgemäß ein Modell vor, wie die Vergangen- heit sind für das psychische Wohl des Individuums
heit in die Gegenwart zu integrieren ist. verantwortlich; seine Mystifizierung macht krank. Die
Vergangenheit und Gegenwart (und Leben und ideologische Notwendigkeit der restlosen Zerstörung
Tod) sind nun auch die zentralen Paradigmen, die die des Gartens ergibt sich in dieser Logik aus ›euge-
filmischen Umsetzungen organisieren, aber deren nischen‹ Gründen. Zugelassen wird Vergangenheit
spezifische Ausgestaltung und deren Rolle bei einer nur in einer spezifischen Selektion, im Film durch Flo-
Problemlösung sehen völlig anders aus. In Serenade renz als musealen Raum der Kunstgeschichte in Szene
wird die Konstellation benutzt (und dahingehend ver- gesetzt. Diese Vergangenheit als ästhetisch Schönes,
ändert), um sich von der Vergangenheit, die film- dezidiert Altes und damit Wertvolles, Sehenswürdiges
intern implizit mit der Weimarer Republik zu identifi- kann ›gefahrlos‹ in die Gegenwart eingebunden wer-
zieren ist, definitiv loszusagen, diese abzulösen und ei- den und ist für die Gegenwart von Gewinn, wie am
ne emphatische, auf die Zukunft ausgerichtete Le- Beispiel Rudolfs demonstriert wird, der vom Alter-
benseinstellung zu propagieren. Diese ist deutlich tumsforscher im Text zum Antiquitätenhändler im
eine, die sich wiederum an zentralen Paradigmen und Film wird und damit paradigmatisch für diesen ›neu-
Ideologemen der (frühen) NS-Zeit ausrichtet. Dazu en, gewollten‹ Umgang mit Vergangenheit steht.
gehört das propagierte Frauenbild der Frau als Kame- Wenn es also um den Umgang mit Vergangenheit
radin, positiv denkend ohne zu grübeln, die nur für geht, dann implizieren diese Daten verstärkt, dass da-
den Mann lebt, ihn unbedingt bewundert und für ihn mit zeichenhaft auch eine Auseinandersetzung mit
zum Selbstopfer bereit ist, semantisiert über einen der eigenen Vergangenheit abgebildet werden soll.
jungen, frischen, gesunden und sportlichen Körper. Entsprechend sind sämtliche BRD-Verfilmungen der
Dazu gehört die Konstruktion einer Männerwelt, in- 1950er Jahre als Kommentierungen bzw. Bilanzierun-
nerhalb derer Konfliktlösungen wie selbstverständlich gen der eigenen Mentalität zu lesen. Diese kulturelle
harmonisch und weltbestätigend ablaufen können, da Vereinnahmung zeigt sich bereits in Unsterbliche Ge-
98 Storm-Adaptionen im Film 389

liebte (1950). Vordergründig wird dem Handlungs- ziellen Ideologie des Wesensmäßigen (›Recht des Stär-
muster von Aquis submersus gefolgt und Veränderun- keren‹) wäre. So wird die in der 1943er Verfilmung
gen erscheinen als adäquate Umsetzung von Text- eingeführte Tieranalogie weitergeführt, aber insofern
strukturen. Das Ende demonstriert dann aber eine verändert, als nun mit der neu und titelgebend hin-
eindeutige Verselbständigung des filmischen Diskur- zugefügten Schwalbe ein Zeichen für Hoffnung und
ses gegenüber der Vorlage. Das Ende des Textes wird Zukunft etabliert wird.
zwar strukturell übernommen, erhält aber eine neue
Funktion. Diente der Tod des Knaben Johannes in
Semantiken und ›Zeitgeist‹
Aquis submersus der Sanktionierung eines Normver-
stoßes, des Ehebruchs seiner Eltern, und war darin de- Wo Textsemantiken mit Diskursen der Zeit koinzidie-
finitives Zeichen für eine von Untergang und Verlust ren, kann der Text weitgehend übernommen werden,
gekennzeichnete Welt, so wird er in Unsterbliche Ge- allein die Auswahl, welche Texte verfilmt werden,
liebte sinnstiftend funktionalisiert: als Opfer, das nicht kann hierfür schon bezeichnend sein. So sind die bei-
umsonst gewesen sein darf. Der Ehemann Katharinas, den Verfilmungen zur Zeit der Weimarer Republik,
der Pastor, gibt diese frei und vermählt sie selbst mit Haderslevhuus (vgl. Schaudig 1999) und Grieshuus
Johannes, dem die ›natürlicheren Rechte‹ zugespro- (vgl. von Keitz 1999), nicht nur hinsichtlich der Erpro-
chen werden. Aus »Aquis submersus – aquis submer- bung filmspezifischer Transformationstechniken und
sus«, die letzten Worte der Binnen- wie der Rahmen- hinsichtlich der Medienkonkurrenz von literarischem
erzählung, wird ein Happy End, das als neuer Anfang Text und neuem Medium Film, das sich aufzuwerten
erscheint, als Neubeginn unter Zurücklassung und versucht, zu sehen, sondern gerade auch durch die die
Ausblendung des Vergangenen. Der dezidiert andere Frühe Moderne kennzeichnenden Versuche von indi-
Umgang mit dem Tod, explizit verbalisiert in den Po- vidueller Selbstverwirklichung durch Normabwei-
sitionen des Pastors, und die Notwendigkeit einer chung, wobei sich hierfür insbesondere der Inszenie-
Neuregelung von Beziehungen sind als Teil eines Dis- rung und Gegenüberstellung prototypischer Frauen-
kurses zu verstehen, der seine Relevanz aus der spezi- rollen, wie der Femme fatale, bedient wird.
fischen Situation der deutschen Nachkriegszeit erhält. Letztlich zeichnen sich alle Adaptionen durch Ver-
Die dritte BRD-Verfilmung aus den 1950er Jahren, änderungen zentraler Textbedeutungen aus, und sei
Was die Schwalbe sang (1956), ist weniger als direkte es, dass diese Veränderung im Sinne einer Bedeu-
Verfilmung der Novelle Immensee, als vielmehr als tungsprojektion und der Interpretation vor der Folie
Remake der Verfilmung Veit Harlans von 1943 zu eines neuen Denkens zu Stande kommt. So kann Hans
werten, insofern sie sich auf die dort in Abweichung und Heinz Kirch (1975) dem Stormschen Text in wei-
zur literarischen Vorlage etablierten Muster bezieht ten Teilen folgen, da die für die 1970er Jahre zentralen
(zu Immensee. Ein deutsches Volkslied vgl. Decker/ Themen des Generationenkonflikts und des Gefühls
Schwarz/Wünsch 1999) und diese transformiert wei- der persönlichen Beschränkung durch Gesellschaft,
terführt. Bereits darin ist eine Auseinandersetzung Institutionen und Familie die textuelle Semantik mit-
mit der NS-Vergangenheit zu sehen, die sich auch in prägen (auch wenn sie hier hinsichtlich des Status von
der Besetzung einzelner Schauspieler spiegelt. Vom Eigentum und Familie für den Sinn der eigenen Exis-
NS-ideologisch ausgerichteten Melodram, das den tenz zu werten und zu verorten sind). Ähnliches ist für
Text für das Einüben in Disziplinierung und Verzicht die ebenfalls in den 1970er Jahren produzierte DDR-
auf individuelles Glück zugunsten der Aufgabe für die Fassung Am grauen Strand, am grauen Meer zu kon-
Gemeinschaft instrumentalisiert, ›mutiert‹ der Film statieren, in der die angelegten gesellschaftspoliti-
zum Heimatfilm, richtet sich also an dem spezifischen schen Konfliktlinien noch verschärft werden und ins-
Genre der Zeit aus, wobei das Paradigma der Ver- besondere nahe gelegt wird, dass die familiäre Kälte,
pflichtung in veränderter Form weiter geführt wird. die Hans Kirch auszeichnet, durch eine kapitalistische
Operiert wird mit den genretypischen Oppositionen Einstellung hervorgerufen und befördert wird. Ein
von Stadt und Land sowie Tradition und Moderne, die Doppelgänger eignet sich durch die Verhandlung des
aus der Perspektive bzw. dem Denkschema einer ideo- sozialen Konflikts um die (Un-)Möglichkeit der Wie-
logisierten Natur synthetisiert und harmonisiert wer- dereingliederung eines ehemaligen Sträflings für eine
den sollen. ›Natur‹ dient nun – im Vergleich zu ihrer Verfilmung in dieser Zeit, aus diesem Grund sind
Instrumentalisierung im NS-Film – eher als ein ver- dann gerade die zentralen Strukturen transformiert,
äußerlichtes Argument, als dass sie Teil einer substan- die im Text dafür sorgen, dass das Geschehen nicht als
390 V Rezeption

sozial bedingter Konflikt zu lesen ist: Der Überbau rial zur Verfügung, das dann von seinem Bezug ent-
durch die Rahmenebene und die genealogische Ein- koppelt und wie ein Baustein für neue Kontexte über-
bindung in diese und die Symbolisierung des Brun- nommen werden kann. Eine Ideologievermittlung
nens fehlen. Stattdessen werden in John Glückstadt in- kann damit ›unauffällig‹, den Text infiltrierend, von
dividuellen Wünschen und dem Bedürfnis nach per- statten gehen. Dies umso mehr, als es durch die me-
sönlichem Glück Verständnis entgegengebracht und dialen Unterschiede notwendigerweise zu Transfor-
wird durch das veränderte Ende deutlich gemacht, mationen kommen muss und so die Verfilmung ihre
dass der Einzelne nicht ganz und notgedrungen dem aufgrund ihrer Textualität bedingten Semantiken als
›Schicksal‹ ausgeliefert ist. durch ihre Medialität bedingt kaschieren kann.

Literatur
Zur Rolle von Storm in den Stormverfilmungen Decker, Jan-Oliver/Schwarz, Olaf/Wünsch, Marianne: Von
Der Sachverhalt, dass auf Literatur Bezug genommen der Novelle zum Film: Theodor Storms »Immensee«
(1860) und Veit Harlans Film »Immensee. Ein deutsches
wird, kann in Adaptionen verschieden realisiert und Volkslied« (1943). In: Hans Krah (Hg.): Geschichte(n). NS-
funktionalisiert sein. Wie explizit ein Film signalisiert, Film – NS-Spuren heute. Kiel 1999, 31–49.
dass er auf einer Vorlage beruht, etwa indem in der fil- Eversberg, Gerd/Wulff, Hans J.: Theodor Storm in Film und
mischen Exposition visuell gezeigt wird, wie das ent- Fernsehen: Filmographie. In: Medienwissenschaft. Berichte
sprechende Werk Storms in Buchform aufgeschlagen und Papiere 148 (2013), 1–14.
Kanzog, Klaus (Hg.): Erzählstrukturen – Filmstrukturen. Er-
wird (etwa bei Pole Poppenspäler von 1954, bei dem
zählungen Heinrich von Kleists und ihre filmische Realisati-
allerdings die ersten Seiten von Eekenhof zu sehen on. Berlin 1981.
sind, oder bei Immensee von 1943) und welcher Status Kanzog, Klaus: Staatspolitisch besonders wertvoll: Ein Hand-
diesen Daten in der filmischen Argumentation zu- buch zu 30 deutschen Spielfilmen der Jahre 1934 bis 1945.
kommt, ist selbst Parameter und Variable des konkre- München 1994.
ten Films und seiner Strukturen. Operiert werden Keitz, Ursula von: »Grieshuus bedeutet einen Mauerkreis
von Steinen ...« Arthur von Gerlachs »Zur Chronik von
kann damit mit Erwartungshaltungen, Rezeptions-
Grieshuus« (1924/25) im Kontext des expressionistischen
vorgaben, Deutungsangeboten. Kennzeichen der Kunstfilms. In: Harro Segeberg/Gerd Eversberg (Hg.):
meisten Storm-Adaptionen ist, dass die Referenz auf Theodor Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines
Storm erhalten bleibt bzw. sogar als diese Referenz in poetischen Realisten. Berlin 1999, 175–207.
den filmischen Text eingeht. Für den Kontext der Krah, Hans: Textuelle Dekonstruktion als systemische Inte-
Ideologisierung ist dies funktional: Über diese Refe- gration. Storm-Verfilmungen als ›Ideologisierung‹ am
Beispiel von »Viola Tricolor«/«Ich werde dich auf Händen
renz auf eine Autorität kann die kulturelle Aneignung tragen« (BRD 1958, Veit Harlan). In: Harro Segeberg/
als nicht hinterfragbar, da bereits als textuelle Vorgabe Gerd Eversberg (Hg.): Theodor Storm und die Medien. Zur
gesetzt werden. Da Storms Texte inhaltlich zumindest Mediengeschichte eines poetischen Realisten. Berlin 1999,
auf der Oberflächenebene wenig eine spezifisch-iden- 269–297.
tifizierbare Ideologie aufweisen, kann Storm als solche Krah, Hans: Performativität und Literaturverfilmung. As-
pekte des Medienwechsels am Beispiel von Franz Kafkas
Norminstanz dienen, ohne dass es dabei zu einer Kol-
»Der Prozeß« (1925), Orson Welles’ »Der Prozeß« (1962)
lision kommen würde und ohne dabei spezifische und Steven Soderberghs »Kafka« (1991). In: Erika Ham-
Normen transportieren zu müssen. Die eigenen ideo- mer/Edina Sándorfi (Hg.): Der Rest ist – Staunen. Literatur
logischen Konzepte erlangen den Status von ›Univer- und Performativität. Wien 2006, 144–187.
salien‹. Storms Texte sind zudem durch ein Erzähl- Lowry, Stephen: Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen
prinzip der Überdeterminiertheit geprägt. Auch wenn des Nationalsozialismus. Tübingen 1991.
Nies, Martin: Intermedialität und Film. In: Hans Krah/
etwa die Texte auf der Oberflächenebene Psyche aus- Michael Titzmann (Hg.): Medien und Kommunikation.
blenden und ein Interesse daran leugnen, wird diese Eine interdisziplinäre Einführung. Passau 32013, 359–
durch Raumsemantik und Zeichenhaftigkeit substitu- 379.
iert und in die Tiefenstruktur des Textes verschoben. Nies, Martin: Zur NS-ideologischen Funktionalisierung von
So bedeuten die Räume und die Raumorganisation ›Literaturverfilmungen‹: »Der Schimmelreiter«, Curt Oer-
tel/Hans Deppe (D 1934). Mit einer Analyse zentraler As-
meist mehr als reine Topographie (dies kann im Film,
pekte der Novelle von Theodor Storm. In: Eugenio Spedi-
wie etwa in Waldwinkel, dann wieder zur reinen Kulis- cato/Sven Hanuschek (Hg.): Literaturverfilmung: Perspek-
se werden). Die Texte sind damit prädestiniert für eine tiven und Analysen. Würzburg 2008, 39–70.
›Dekonstruktion und erneute Rekonstruktion‹, stellen Renner, Karl Nikolaus: Der Findling. Eine Erzählung von
sie doch selbst bereits in ihrer Zeichenstruktur Mate- Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. Prin-
98 Storm-Adaptionen im Film 391

zipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. en. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realisten. Berlin
München 1983. 1999, 139–174.
Schaudig, Michael: Literatur im Medienwechsel. Gerhart Wegner, Bernd: Intertextualität und Intermedialität. Oder:
Hauptmanns Tragikomödie »Die Ratten« und ihre Adap- Vom kinomorphen zum Film-Text – am Beispiel der kine-
tionen für Kino, Hörfunk, Fernsehen. Prolegomena zu einer matographischen Schimmelreiter-Transformationen
Medienkomparatistik. München 1992. (1934/1978/1984). In: Harro Segeberg/Gerd Eversberg
Schaudig, Michael: Stumme Minne 1921. »Ein Fest auf Ha- (Hg.): Theodor Storm und die Medien. Zur Mediengeschich-
derslevhuus«: Zur Wiederentdeckung der Verfilmung der te eines poetischen Realisten. Berlin 1999, 209–245.
gleichnamigen Novelle Theodor Storms. In: Harro Sege-
berg/Gerd Eversberg (Hg.): Theodor Storm und die Medi- Hans Krah / Martin Nies
VI Anhang

C. Demandt, P. Theisohn (Hrsg.), Storm-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05447-0, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Zeittafel

1817 Hans Theodor Woldsen Storm wird am 14. 1847 Liebesverhältnis zu Dorothea Jensen, leiden-
September in Husum, Markt 9, als Sohn des schaftliche Liebesgedichte, z. B. Rote Rosen.
Rechtsanwalts Johann Casimir Storm (1790–1874) 1848 Marthe und ihre Uhr; Im Saal.
und seiner Frau Lucie, geb. Woldsen (1797–1879). 1849 Immensee (erste Fassung); Der kleine Häwel-
1821 Umzug in das Haus der Großeltern Woldsen, mann. Storm engagiert sich für die nationale Un-
Hohle Gasse 3. abhängigkeit Schleswig-Holsteins.
1833 Erstes Gedicht An Emma. 1850 Stein und Rose. Niederlage der Schleswig-
1834 Erste Gedichtveröffentlichung Sängers Abend- Holsteiner bei Idstedt; Beschießung von Friedrich-
lied im »Husumer Wochenblatt« vom 27. Juli 1834. stadt.
1835 Im Herbst Umschulung in die Prima des Ka- 1851 Posthuma
tharineums in Lübeck; dort Freundschaft mit Fer- 1852 Storms Bestallung als Rechtsanwalt wird kas-
dinand Röse, der ihn mit Goethes Faust und der siert, da er nicht bereit ist, eine Loyalitätserklärung
Lyrik Heines und Eichendorffs bekannt macht. gegenüber der Dänischen Krone abzugeben. Stel-
1837 Beginn des Jura-Studiums in Kiel; Storm lungssuche, erste Reise nach Berlin. Mit der Ver-
schreibt ein Märchen und Gedichte für Bertha von öffentlichung der zweiten Fassung von Immensee
Buchan; Verlobung mit der 17-jährigen Emma wird Storm im deutschsprachigen Kulturraum als
Kühl von Föhr. Dichter bekannt. Die erste Sammlung seiner Ge-
1838 Entlobung; Studium in Berlin, Bildungsreise dichte erscheint.
nach Dresden. Veröffentlichung von Gedichten in 1853 Storm bemüht sich in Berlin um eine Stelle im
den »Neuen Pariser Modeblättern«. preußischen Justizdienst; schließlich wird er zum
1839 Rückkehr zur Universität Kiel; Freundschaft preußischen Gerichtsassessor (zunächst ohne Ge-
mit Theodor und Tycho Mommsen. halt) ernannt; Wohnung in Potsdam. Storm
1842 Bertha von Buchan weist Theodors Heirats- schließt sich dem »Tunnel über der Spree« an. Be-
antrag zurück. Juristisches Staatsexamen in Kiel. kanntschaft mit Fontane, Paul Heyse, Franz Kug-
Beginn der Sammlung von Sagen und Reimen aus ler, Friedrich Eggers u. a.
Schleswig-Holstein. Seit Herbst lebt Theodor wie- 1854 Im Sonnenschein; Ein grünes Blatt.
der in Husum. 1855 Angelica; Hinzelmeier. Besuch bei Eduard Mö-
1843 Zunächst arbeitet Storm in der väterlichen rike in Stuttgart.
Kanzlei; Anfang des Jahres eröffnet er eine eigene 1856 Wenn die Äpfel reif sind. Freundschaft mit dem
Rechtsanwaltskanzlei; Gründung eines gemischten Immensee-Illustrator Ludwig Pietsch; Ernennung
Gesangvereins. Veröffentlichungen im Volksbuch zum Kreisrichter in Heiligenstadt; Übersiedlung
auf das Jahr 1844 und im Liederbuch dreier Freunde. ins Eichsfeld.
1844 Verlobung mit seiner Cousine Constanze Es- 1859 Auf dem Staatshof.
march, Tochter des Bürgermeisters von Segeberg; 1860 Späte Rosen.
Beginn eines ausführlichen Briefwechsels. Teilnah- 1861 Drüben am Markt; Veronica.
me am Nordfriesenfest in Bredstedt. 1862 Knecht Ruprecht; Im Schloss; Am Kamin.
1845 Geschichten aus der Tonne. Einzug in das Haus 1863 Auf der Universität; Abseits
Neustadt 56. Karl Müllenhoff gibt die Sagensamm- 1864 Bulemanns Haus; Die Regentrude; Der Spiegel
lung mit vielen Beiträgen von Storm zum Druck. des Cyprianus. In Folge des Deutsch-Dänischen
1846 Eheschließung mit Constanze. Weitere Arbei- Krieges besiegen preußisch-österreichische Trup-
ten für die Volksbücher. pen die Dänen. Storm wird zum Landvogt des
Zeittafel 395

Kreises Husum gewählt; er scheidet aus dem preu- 1877 Beginn der Freundschaft und des Briefwech-
ßischen Staatsdienst aus und kehrt nach Husum sels mit Gottfried Keller und mit dem Literatur-
zurück. Im März tritt Storm sein Landvogt-Amt in professor Erich Schmidt.
Husum an. 1878 Carsten Curator; Renate.
1865 Unter dem Tannenbaum; Von Jenseit des Mee- 1879 Im Brauer-Hause; Eekenhof; Zur »Wald- und
res; Gedichtzyklus Tiefe Schatten. Tod Constanzes. Wasserfreude«.
Reise nach Baden-Baden zu Iwan Turgenew. 1880 Die Söhne des Senators. Storm wird auf eigenen
1866 Vermählung mit Dorothea Jensen; Umzug in Wunsch pensioniert und beschließt, mit seiner Fa-
das Haus Wasserreihe 31. milie Husum zu verlassen. Umzug nach Hademar-
1867 Eine Malerarbeit. schen, um »als Poet noch eine neue Periode zu be-
1868 In St. Jürgen. Nach Aufhebung des Amtes des ginnen«; Neubau einer großzügigen Villa.
Landvogts wird Storm preußischer Amtsrichter; 1881 Der Herr Etatsrat.
die erste Auflage der Sämmtlichen Schriften er- 1882 Hans und Heinz Kirch.
scheint. 1883 Schweigen.
1870 Zerstreute Kapitel. Storm stellt das Hausbuch 1884 Zur Chronik von Grieshuus; »Es waren zwei Kö-
aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische nigskinder«. Festbankett in Berlin zu Ehren
Anthologie zusammen. Freundschaft mit dem Il- Storms.
lustrator Hans Speckter. 1885 John Riew‹; Ein Fest auf Haderslevhuus.
1872 Draußen im Heidedorf. Reise nach Leopold- 1886 Bötjer Basch; Ein Doppelgänger. Reise nach
skron bei Salzburg zum österreichischen Politiker Weimar zur Jahresversammlung der Goethe-Ge-
und Schriftsteller Julius Schindler, der unter dem sellschaft; Beginn der Arbeit am Schimmelreiter.
Namen »Julius von der Traun« Erzählungen ver- Schwere Krankheit.
öffentlichte. 1887 Ein Bekenntnis; Sylter Novelle (Fragment). Rei-
1874 Pole Poppenspäler; Waldwinkel; Beim Vetter se nach Sylt. Zur Feier seines 70. Geburtstags wird
Christian; Viola tricolor. Ernennung zum Ober- der Dichter in ganz Deutschland geehrt.
amtsrichter. 1888 Der Schimmelreiter. Tod Storms am 4. Juli; Bei-
1875 Ein stiller Musikant; Psyche; Im Nachbarhause setzung am 7. Juli in der Familiengruft auf dem
links. Husumer St. Jürgen-Friedhof.
1876 Aquis submersus; Meine Erinnerungen an Edu-
ard Mörike.
Siglen

Werk Storm–Kuh Theodor Storm – Emil Kuh: Briefwechsel. Hg. v.


Goldammer 1–4 Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Erwin Streitfeld. Habilitationsschrift. Graz 1985.
Bänden. Hg. v. Peter Goldammer. Berlin 61986. Storm–Keller Theodor Storm – Gottfried Keller: Briefwech-
Köster 1–8 Theodor Storms Sämtliche Werke in acht Bän- sel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Karl Ernst Laage. Berlin
den. Hg. v. Albert Köster. Leipzig 1919 f. 1992.
Liederbuch Theodor Storm/Theodor Mommsen/Tycho Storm–Mörike Theodor Storm – Eduard Mörike/Theodor
Mommsen: Liederbuch dreier Freunde. Kiel 1843. Storm – Margarethe Mörike: Briefwechsel. Mit Storms
LL 1–4 Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike«. Kritische Aus-
Hg. v. Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. 4 Bde. gabe. Hg. v. Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin
Frankfurt/Main 1987 f. 1978.
Storm–Mommsen Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor
Briefwechsel Mommsen. Mit einem Anhang: Theodor Storms Korrespon-
BB 1–2 Theodor Storm – Constanze Esmarch: Briefwechsel denz für die Schleswig-Holsteinische Zeitung 1848. Hg. v.
(1844–1846). Kritische Ausgabe. 2 Bde. Hg. v. Regina Fa- Hans Erich Teitge. Weimar 1966.
sold. Berlin 2002. (Brautbriefwechsel) Storm–Paetel Theodor Storm – Gebrüder Paetel: Briefwech-
EB Theodor Storm – Constanze Storm: Briefwechsel. Kriti- sel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Roland Berbig. Berlin 2007.
sche Ausgabe. Hg. v. Regina Fasold. Berlin 2009. (Ehe- Storm–Petersen Theodor Storm – Wilhelm Petersen: Brief-
briefwechsel) wechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Brian Coghlan. Berlin
GB 1–2 Theodor Storm: Briefe. 2 Bde. Hg. v. Peter Gold- 1984.
ammer. Berlin 21984. Storm–Pietsch Blätter der Freundschaft. Aus dem Briefwech-
Storm–A. Christen Storm als Erzieher. Seine Briefe an Ada sel zwischen Theodor Storm und Ludwig Pietsch. Mitgeteilt
Christen. Hg. v. Oskar Katann. Wien 1948. v. Volquart Pauls. Heide 21943.
Storm–Brinkmann Theodor Storm – Harthmut und Laura Storm–Schleiden Theodor Storm – Heinrich Schleiden:
Brinkmann: Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Au- Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Peter Goldammer.
gust Stahl. Berlin 1986. Berlin 1995.
Storm–E. Esmarch Theodor Storm – Ernst Esmarch: Brief- Storm–Schmidt I–II Theodor Storm – Erich Schmidt: Brief-
wechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Arthur Tilo Alt. Berlin wechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Karl Ernst Laage. 2 Bde.
1979. Berlin 1972–1976.
Storm–Eggers Theodor Storms Briefe an Friedrich Eg- Storm–Speckter Theodor Storm – Otto Speckter/Theodor
gers. Hg. v. Wolfgang Seidel. Berlin: Curtius 1911. Storm – Hans Speckter: Briefwechsel. Kritische Aus-
Storm–E. Storm Theodor Storm – Ernst Storm: Briefwech- gabe. Hg. v. Walter Hettche. Berlin 1991.
sel. Kritische Ausgabe. Hg. v. David Jackson. Berlin 2007.
Storm–Fontane Theodor Storm – Theodor Fontane: Brief- Weitere Siglen
wechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Gabriele Radecke. Ber- SHLB Kiel Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel
lin 2011. StA Storm-Archiv Husum
Storm–Groth Theodor Storm – Klaus Groth: Briefwechsel. STSG Band (Jahr) Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft
Kritische Ausgabe. Hg. v. Boy Hinrichs. Berlin 1990. [z. B. STSG 64 (2015)]
Storm–Heyse I-III Theodor Storm – Paul Heyse: Briefwech-
sel. Kritische Ausgabe. 3 Bde. Hg. v. Clifford Albrecht
Bernd. Berlin 1969–1974.
Autorinnen und Autoren

Christiane Arndt, Prof. Dr., Queen’s University Kings- Gerd Eversberg, Prof. Dr., Georg-August-Universität
ton (Kanada) (IV.85 Storms poetologisches Selbst- Göttingen (II.9 Storms Publikationspraxis,
verständnis und der Realismus zus. mit Holmes) III. E.74 Aus dem Volksbuch 1844–51; III. H.82d
Walter Arnold, Heikendorf (I.1.2 Schulzeit in Lü- Briefwechsel Storm-Mörike)
beck) Regina Fasold, Dr., Literaturmuseum »Theodor
Andrea Bartl, Prof. Dr., Universität Bamberg (IV.90 Storm« Heilbad Heiligenstadt (I.1.4 Im Exil in
Storm und die Dinge) Potsdam, III. D.29 Immensee, III. H.81 Briefwech-
Christian Begemann, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians- sel mit Constanze)
Universität München (III. D.71 Ein Bekenntnis) Christoph Gardian, Dr., Universität Konstanz
Maximilian Bergengruen, Prof. Dr., Karlsruher Insti- (III. D.33 Angelica, III. D.34 Wenn die Äpfel reif
tut für Technologie (IV.86 Figurenkonstellationen sind)
I: Genealogisches Schreiben – Familie und Ver- Louis Gerrekens, Prof. Dr., Universität Lüttich,
erbung) (III. D.62 Der Herr Etatsrat)
Andreas Blödorn, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms- Mareike Giesen, Dr., Georg-August-Universität Göt-
Universität Münster (III. D.74 Der Schimmelreiter tingen (III. D.43 Von Jenseits des Meeres, III. D.62
zus. mit Wünsch) Zur Wald- und Wasserfreude, III. D.65 Es waren
Philipp Böttcher, Dr., Georg-August-Universität Göt- zwei Königskinder)
tingen (III. D.36 Späte Rosen) Katharina Grätz, Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Univer-
Maren Conrad, Jun.-Prof. Dr., Friedrich-Alexander sität Freiburg (III. D.55 Aquis Submersus,
Universität Erlangen-Nürnberg (III. B.22 Die Re- III. H.82b Briefwechsel Storm – Keller)
gentrude) Christoph Grube, Dr., TU Chemnitz (III. H.82c Brief-
Christian Demandt, Dr., Theodor-Storm-Zentrum wechsel Storm-Heyse)
Husum (I.1.5 Wieder in Husum: Tod Constanzes, Gideon Haut, Freiburg (III. D.69 Ein Doppelgänger)
zweite Ehe und Hauptschaffenszeit; III. D.35 Auf Debora Helmer, Dr., Georg-August-Universität Göt-
dem Staatshof) tingen (II. 5 Der »Tunnel«-Kreis)
Malte Denkert, Dr., Husum (III. D.31 Im Sonnen- Tove Holmes, Prof. Dr., McGill University Montreal
schein, III. D.45 Eine Malerarbeit, III. D.54 Im (IV.85 Storms poetologisches Selbstverständnis
Nachbarhause links) und der Realismus zus. mit Arndt)
Heinrich Detering, Prof. Dr., Georg-August-Univer- Philipp Hubmann, Universität Zürich (III. D.50 Beim
sität Göttingen (II.7 Storms Politik, III. A.12 Vetter Christian, III. D.53 Psyche)
Knecht Ruprecht, III. B.18 Hans Bär III. B.18 Der Julia Hunger, Gesees (III. D.51 Viola Tricolor)
kleine Häwelmann, III. D.38 Veronika, III. D.39 Im Elke Jacobsen, Theodor-Storm-Zentrum Husum
Schloß) (II. 3 Storms Bibliothek)
Christoph Deupmann, PD Dr., Beijing Institute of Tatjana Jesch, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule
Technology (III. D.47 Draußen im Heidedorf, Freiburg (III. B.21 Bulemanns Haus)
III. D.63 Hans und Heinz Kirch, III. D.64 Schwei- Ulrich Kittstein, Prof. Dr., Universität Mannheim
gen) (III. A.14 Liebeslyrik)
Marie Drath, M. A., Universität Zürich (III. B.20 Stein Alexander Kling, M. A., Rheinische Friedrich-Wil-
und Rose/Hinzelmeier) helms-Universität Bonn (III. D.66 Zur Chronik
Yahya Elsaghe, Prof. Dr., Universität Bern (IV.89 von Grieshuus)
Storms Krankheit) Hans Krah, Prof. Dr., Universität Passau (V.93 Storm-
398 VI Anhang

Adaptionen in anderen [nicht-literarischen] Medi- Jörg Pottbeckers, PD Dr., TU Chemnitz (III. F.77 Zur
en Storm-Adaptionen in anderen [nicht-literari- Konsistenz der autobiographischen Schriften,
schen] Medien) III. F.78 Autobiographisches)
Stefani Kugler, Dr., Universität Trier (IV.87 Figuren- Boris Previšić, Prof. Dr., Universität Luzern (II.8
konstellationen II: Storms Poetik der Geschlech- Storm und die Musik)
ter) Gabriele Radecke, Dr., Georg-August-Universität
Thomas Küpper, Dr., Universität Duisburg-Essen Göttingen (III. H.82a Briefwechsel Storm-Fontane)
(III. D.28 Im Saal) Irmgard Roebling, Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Univer-
Karl Ernst Laage, Prof. Dr., Husum (III. C.24 Storm sität Freiburg (III. A.13 Storms Heimatgedichte)
als Anthologe – Das »neue Gespensterbuch« Hartmut Schalke, Hademarschen (I.1.6 Lebensaus-
(1843–48)) klang in Hademarschen)
Robert Langhanke, M. A., Europa-Universität Flens- Jens Ole Schneider, M. A., Westfälische Wilhelms-
burg (III. H.82e Briefwechsel Storm – Klaus Universität Münster (III. D.61 Die Söhne des Sena-
Groth) tors)
Jean Lefebvre, Dr., Büsum (III. D.58 Renate) Jörg Schuster, PD Dr., Philipps Universität Marburg
Valérie Leyh, Dr., Universität Lüttich (III. D.49 Wald- (III. H.80 Theodor Storm als Briefschreiber)
winkel, III. D.58 Im Brauer-Hause, III. D.59 Eeken- Hania Siebenpfeiffer, Prof. Dr., Ludwig-Maximili-
hof) ans-Universität München (IV.91 Storms Recht)
Dieter Lohmeier, Prof. Dr., Kiel (III. F.82 Tagebuch- Christoph Steier, Dr., Universität Zürich (III. D.37
aufzeichnungen, II.13 Storm als Journalist, Drüben am Markt, III. D.41 Abseits, III. D.42 Un-
III. A.18 Politische Lyrik) ter dem Tannenbaum)
Jochen Missfeldt, Oeversee (I.1.3 Anwalt in Husum, Malte Stein, PD. Dr., Universität Köln (III. D.32 Ein
junge Ehe und erste Erfolge als Dichter) grünes Blatt, III. D.40 Auf der Universität)
Heiner Mückenberger, Dr., Neu-Isenburg (II.6 Storm Claudia Stockinger, Prof. Dr., Humboldt-Universität
als Jurist) zu Berlin (III. D.26 Storms Novellenverständnis)
Klaus Müller-Wille, Prof. Dr., Universität Zürich Elisabeth Strowick, Prof. Dr., New York University
(III. B.17 Storms Konzeption des Märchens im lite- (IV. 93 Storms Medien)
raturgeschichtlichen Kontext) Philipp Theisohn, Prof. Dr., Universität Zürich
Christian Neumann, Dr., Berlin (III. D.44 In St. Jür- (III. D.57 Carsten Curator, III. C.27 Am Kamin,
gen, III. E.73 Celeste) III. E.77 Zerstreute Kapitel, III. E.78 Geschichten
Martin Nies, Prof. Dr., Europa-Universität Flensburg aus der Tonne, V.92 Zur posthumen Auseinander-
(V.93 Storm-Adaptionen in anderen [nicht-litera- setzung mit Storms Leben und Werk)
rischen] Medien zus. mit Hans Krah) Mareike Timm, M. A., Friedrich-Schiller-Universität
Claudia Nitschke, Prof. Dr., University of Durham Jena (III. D. 30 Posthuma, III. D.52Ein stiller Musi-
(III. D.48 Pole Poppenspäler) kant)
Eckart Pastor, Prof. Dr., Universität Lüttich (III. D.67 Ariane Totzke, M. A., ETH Zürich (III. D.70 Bötjer
John Riew) Basch)
Dagmar Paulus, Dr., University of London (III. B.23 Dagmar Wahl, M. A., Friedrich-Alexander Univer-
Der Spiegel des Cyprianus, III. D.27 Marthe und sität Erlangen-Nürnberg (III. D.68 Ein Fest auf Ha-
ihre Uhr, III. D.46 Eine Halligfahrt) dersleevhus)
Anne Petersen, Dr., Georg-August-Universität Göt- Marianne Wünsch, Prof. Dr., Christian-Albrechts-
tingen (III. A.8 Zum lyrischen Grundverständnis Universität zu Kiel (III. D.74 Der Schimmelreiter
Storms, III. A.16 Weltanschauliche Lyrik) zus. mit Blödorn)
Ole Petras, Dr., Christian-Albrechts-Universität zu
Kiel (III. E.76 Die Fragmente)
Werkregister

A Der kleine Häwelmann 46–47, 89, 91–92, 94–95, 104, 146,


Abseits 46–47, 165–166, 379 148, 264, 310, 383
Am Kamin 47, 114–117, 317, 321 Der offenherzige Polizeimeister 263
Angelica 8, 26, 47, 77, 144–145, 379 Der Prozeß 264
Aquis submersus 11, 35, 48–49, 60, 124, 132, 150, 159–160, Der Schimmelreiter 13, 38, 44, 48–49, 109, 112, 119, 134,
197, 201–202, 204, 215–216, 226, 261, 308–309, 316, 318– 149–150, 204, 206, 216–217, 242, 250–258, 267, 300, 304,
320, 330–331, 342, 345–348, 356–357, 364, 367, 383, 386, 309, 316–321, 327–329, 331, 342, 345, 349–351, 354–360,
389 365, 373, 378, 383–388
Auf dem Staatshof 11, 24, 26, 41, 46–47, 132, 146, 148–150, Der Spiegel des Cyprianus 9–10, 46–47, 89–92, 104, 108–
152, 197, 223, 236, 295, 325–327, 330, 337, 340, 363–365, 111, 270, 341
379 Der Sturm von 1799 264
Auf der Universität 4, 34, 41, 46–47, 49, 122, 132, 162, 164, Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian Günther 46,
236, 261, 272, 295–296, 298–299, 312, 325, 340, 367 51, 54–55
Aus der Familie Mummy 282–283 Die Dorfcomödie 264
Aus der Jugendzeit 2, 38, 282 Die Glocke 263
Die nächtliche Gesellschaft auf dem Flensburger Land-
B tage 263
Aus engen Wänden. Eine Geschichte (später Bötjer Die Pfarre 112
Basch) 48, 244 Die Regentrude 9, 40, 46–47, 89, 91–92, 104–108, 198, 270,
Bei kleinen Leuten 37–38, 49, 244 341, 383
Beim Vetter Christian 47–48, 124, 185–186, 221, 267, Die Roßtrappe 263
363 Die Söhne des Senators 13, 48–49, 124, 220–223, 304,
Beroliniana 5, 272, 279 342
Bötjer Basch 13, 37, 48–49, 240, 244–245, 357 Draußen im Heidedorf 11, 38, 47–48, 122, 149, 177, 265,
Braunes Taschenbuch 237, 286 317, 337, 342, 367–368, 383
Bulemanns Haus 9, 46–47, 89–92, 101, 103–104, 108, 270, »Dree to Bedd« 270
341, 365, 367 Drei Märchen 89–90
Drei Novellen 46, 48, 152, 155, 157, 215
C Drei Sommergeschichten 46, 48–49, 127, 129
Carsten Curator 11, 37, 47–48, 120, 124–125, 149–150, 186, Drüben am Markt 47, 155, 157
199, 206, 209–212, 214, 244, 331–333, 342, 356–357, 367,
376, 378 E
Celeste 260–262 Eekenhof 48, 112, 132, 201, 215–217, 220, 305, 317, 342,
346–348, 390
D Ein Bekenntnis 13, 47–49, 246, 250, 308, 337, 342, 358–359,
Das Märchen von den drei Spinnfrauen 132, 134, 270 367–368
Das Nummerträumen 46–47, 115 Ein Doppelgänger 11, 13, 38, 48–49, 123, 213, 240–242,
Das theure Zeugniß 263 244, 250, 261, 304, 342, 356, 364–365, 367–370, 378, 383,
Das Wunderhorn 263 386, 389
Das Wunderkind 263 Ein Fest auf Haderslevhuus 13, 37, 48–49, 201, 235, 237–
Der Amtschirurgus – Heimkehr 36, 48, 265, 267, 279 238, 261, 316, 342, 346–347, 357, 383, 389
Der bekehrte Hardesvogt 263 Ein grünes Blatt 22–23, 26, 35, 37, 46–48, 140–142, 144,
Der Doctor Jacob 263 297, 300, 339
Der Finger (später Im Brauer-Hause) 47, 213, 305 Ein Märchen (später Hinzelmeier) 91
Der Geisterseher 263 Ein Mittsommermärchen (später Die Regentrude) 104
Der Griper und sein Herr 263 Ein stiller Musikant 12, 39, 43, 47–48, 120, 193–194, 196,
Der Herr Etatsrat 4, 13, 37, 47–49, 119, 223, 236, 261, 304, 281, 311, 316
328–329, 355–357, 367–368 Eine Episode aus dem Berliner Studienjahr 1839 5, 279
400 VI Anhang

Eine Halligfahrt 37, 39, 41, 48, 61, 122, 175–176, 265, 267, – Geh nicht hinein 83–84, 86–88, 322
281 – Geschwisterblut 22, 216
Eine Malerarbeit 9, 46–47, 119, 171–173, 193–194, 265, – Gesegnete Mahlzeit 35, 113, 264
308 – Gleich jenem Luftgespenst der Wüste 86
Eine stille Geschichte (später John Riew) 48, 235 – Gode Nacht 23, 59, 313
Eine zurückgezogene Vorrede 123 – Gräber an der Küste 35, 82
En Döntje 263 – Gräber in Schleswig 35, 42, 82
Entwürfe einer Tischrede 283–284 – Größer werden die Menschen nicht 86–87
»Es waren zwei Königskinder« 13, 44, 48–49, 233–234, 308, – Halbe Arbeit 35, 113
355, 378 – Hat erst der Sieg über fremde Gewalt 83
Etwas über die Süderstapler Marktnacht vom 22. April – Herbstgedicht 62
d.J. 260 – Hyazinthen 42, 73, 76–77, 294, 375
– Ich bin mir meiner Seele 76, 291–292
F – Im Frühling 263
Ferdinand Röse 272, 283–284 – Im Garten 24
Florentiner Novelle 272–273 – Im Herbste 78
Gedichte 48, 59, 70, 81 – Im Herbste 1850 23, 35, 82, 297
– 24 December 1852 297 – Im Winde wehn die Lindenzweige 264
– 1864 36, 82 – In der Gruft bei den alten Särgen 86
– Abends 78 – Junges Leid 76
– Abschied 23, 82, 297 – Käuzlein 42
– Abseits 42, 64, 66, 70, 264, 322–323 – Knecht Ruprecht 59–60
– Als ich dich kaum gesehn 39–40 – Kranzwinden 263
– An deines Kreuzes Stamm 9, 84, 86–87, 158 – Kritik 74
– An der Westküste 264 – Laß mich zu deinen Füßen liegen 76
– An die Entfernte M… 74 – Lehrsatz 78
– An diesen Blättern meiner Liebe hangen 78, 292 – Lied des Harfenmädchens 55, 78–79, 120, 131, 148
– An Emma 74 – Lockenköpfchen 75
– An Klaus Groth 313 – Lose Mädchen 74
– An Liseli 74 – Mai 23
– Antwort 83 – Meeresstrand 8, 66, 68, 176, 322
– Auf dem Segeberg 42 – Mein schönes Wunderland 260
– Auf der Marsch 23 – Meine Mutter hat’s gewollt 120–121, 131
– Aus Großkrähwinkel 263 – Morgengruß 264
– Begrabe nur dein Liebstes! 78 – Mysterium 79
– Crucifixus 36, 158 – Nach Constanzes Tod 86–87
– Da schlang sich leis dein Arm um mich herum 76 – Nach Reisegesprächen 264
– Das Kind im Bette 263 – Nachts 23
– Der Bau der Marienkirche zu Lübeck 263 – Noch einmal! 78–79
– Der Geier Schmerz flog nun davon 86 – O wär’ im Februar doch auch 263
– Die alten Möbeln 264 – Oktoberlied 7, 55, 59, 62–63, 73, 264, 300
– Die Herrgottskinder 263 – Ostern 34, 50, 81
– Die Jungen 34 – Rote Rosen 78–79, 99
– Die Kinder schreien Vivat hoch 263 – Schließe mir die Augen beide 39, 43, 76
– Die Kränze, die du dir als Kind gebunden 264 – Schlimmes Lieben 22
– Die Nachtigall 39, 79 – Schon in’s Land der Pyramiden 264
– Die neuen Fiedel-Lieder 48, 265 – Sie saßen sich gegenüber lang 22
– Die Sense rauscht, die Ähre fällt 264 – Sprich, bist du stark? 78, 292
– Die Stadt 66–68, 71, 322 – Ständchen 42, 78
– Die Stunde schlug 78 – Tannkönig 42
– Die verehrlichen Jungens, welche für dieses Jahr 264 – Tiefe Schatten 10, 78, 83–87
– Du willst es nicht in Worten sagen 78–79 – Träumerei 260
– Ein Buch der roten Rose 6, 78, 153 – Trost 23, 70, 78, 85
– Ein Epilog 42 – Über die Heide 70
– Ein Sterbender 9 – Und am Ende der Qual alles Strebens 86–87
– Einer Toten 55, 264 – Und aus der Erde scheuet nur 263
– En Stückschen ut de Muuskist 263 – Und sind die Blumen abgeblüht 264
– Frauen-Ritornelle 71–72 – Und wieder hat das Leben mich verwundet 76
– Frühlingsankunft 264 – Verloren 78
– Für meine Söhne 33 – Volksreime 263
Werkregister 401

– Waldweg 264 Mattathias, der Befreier der Juden 36


– Weihnachten 263 Meine Erinnerungen an Eduard Mörike 8, 47–48, 283, 311
– Weihnachtslied 59, 263
– Weil ich ein Sänger bin, so frag’ ich nicht 86 N
– Welt-Lauf 83 Nachgelassene Blätter 48
– Wer je gelebt in Liebesarmen 292 Neue Lieder 47
– Wer rechtzeitig erndten will 264 Neue Novellen 48, 206
– Wie ist die Nacht so trübe 292 Neues Gespensterbuch 112–113, 115, 319, 345, 350–351
– Wie munter die Ähren sich regen 263 Neues Liederbuch 86
– Wohl fühl’ ich, wie das Leben rinnt 78 Nixenchor 89
– Wünsche 74 Noch ein Lembeck (später Ein Fest auf Haderslevhuus) 47,
237
G Novellen und Gedenkblätter 48, 185
Gesammelte Schriften 47, 115
Geschichten aus der Tonne 47–48, 89–90, 92, 104, 263, P
270–271 Plattdeutsche Reime 263
Pole Poppenspäler 47–48, 179–180, 182, 308, 316, 357, 364–
H 365, 383, 386–388, 390
Hans Bär 4, 89, 92–95 Posthuma 46–47, 137, 146, 148, 310, 357
Hans und Heinz Kirch 13, 37, 47–49, 118, 124–125, 132, Psyche 48, 103, 193, 196–198, 311, 388
182, 217, 226, 228, 244, 286, 304, 312, 316, 326–327, 329,
342, 356, 363–365, 383, 386, 389 R
Hartnäckige Vertheidigung 263 Renate 11, 48, 201, 206, 267, 317, 342, 346, 348, 358, 367,
Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius 5, 11, 48, 383
51, 54, 56–57, 74, 84, 307
Hinzelmeier 46–47, 79, 89–91, 97–100, 263, 299, 383 S
Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig,
I Holstein und Lauenburg 5, 113
Im Brauer-Hause 47–48, 213, 215, 223, 305, 378 Sämmtliche Schriften 47–48, 94, 97, 118, 120, 122, 129, 146,
Im Korn 272, 296 152
Im Nachbarhause links 38, 47–48, 193, 196, 199, 311, 379 Schleswig-Holsteinsche Sagen 263
Im Saal 34, 46–47, 113, 129–130, 140, 263, 310 Schneewittchen 46, 59, 89, 110, 263
Im Schloß 9, 39–40, 43, 46–47, 59, 119–120, 122, 152, 157– Schweigen 13, 48–49, 119, 124, 228, 253, 260, 308, 342, 355,
159, 183, 217, 272, 337, 340, 364–365 357, 380, 383
Im Sonnenschein 8, 26, 46–49, 127, 129, 140–141, 339–340, Se dohn sick wat to gude 270
348, 353, 379 Sommergeschichten und Lieder 21, 46, 62, 64, 94, 127, 129,
Immensee 4, 7, 9, 21, 40, 42, 46–49, 55, 78, 99, 113, 120–122, 131, 137, 284, 310
128–129, 131–135, 140, 145, 148, 152, 156, 176, 204, 262– Späte Rosen 24, 46–47, 152–153, 156–157
264, 270, 274, 295, 299, 302, 310, 318–319, 325, 329–330, Stein und Rose 46, 89, 91, 97, 99–100, 263–264
338–339, 350, 363–365, 372, 375, 379–380, 383, 389–390 Sylter Novelle 274, 276, 383
In der Sommer-Mondnacht. Novellen 49
In St. Jürgen 46–48, 119, 173, 265, 329–330 T
Theodor Fontane 299
J Tote
John Riew’ 13, 48–49, 223, 235–236, 286, 329, 356–357, – Leichen 248
383
U
K Unter dem Tannenbaum 46–47, 59, 128, 165, 167–168, 309
Knecht Ruprecht 59, 167
V
L Vaterländische Anekdoten, Sagen und Geschichten 263
Lena Wies. Ein Gedenkblatt 38, 47–48, 185, 265, 267 Vaterländische Sagen und Geschichten 263
Liederbuch dreier Freunde 5, 46, 50, 71, 81 Veronica 9, 35, 46–47, 152, 157–159
Viola tricolor 11, 47–48, 185, 188, 193–194, 247, 341, 364,
M 380, 383, 386, 388
Märchen 42 Von heut’ und ehedem 48, 185, 265–268, 279
Marie von Lützow 272 Von Jenseit des Meeres 10, 46–48, 108, 169, 198, 340, 378–
Marthe und ihre Uhr 46–47, 127–129, 140, 263–264, 291, 379
310, 322 Von Katzen 264
Marx (später »Es waren zwei Königskinder«) 47, 233
402 VI Anhang

Von Kindern und Katzen, und wie sie Nine begruben 47– Z
48, 265–267 Zerstreute Kapitel 10, 38, 47–48, 175, 265, 267–269, 279
Züge aus unserem vaterländischen Volksleben 264
W Zur Chronik von Grieshuus 4, 13, 47–49, 112, 201, 215, 217,
Waldwinkel 48, 182–183, 308, 329–330, 367, 383, 390 230, 232, 236, 241, 286, 300, 304–305, 316, 327, 329–331,
Was der Tag gibt 37, 286, 331 342, 346–348, 383, 389
Wenn die Äpfel reif sind 8, 24, 26, 46–47, 146, 148, 300 Zur »Wald- und Wasserfreude« 40, 48, 184, 218
Weshalb sie den Nachtwächter nicht begraben wollten 264 Zwei Kuchenesser der alten Zeit 38, 48, 265–266, 268
Wie den alten Husumern der Teufel und der Henker zu Zwei Weihnachtsidyllen 46, 48, 165, 167
schaffen gemacht 265–266, 269
Wie wird man Schriftsteller von Beruf? 279
Personenregister

A Brinkmann, Hartmuth 6–7, 10, 21, 36, Droste-Hülshoff, Annette von 19, 66,
Alberti, Eduard 123 62, 66, 75, 78, 83, 119, 132, 199, 287, 241, 368
Andersen, Hans Christian 5, 19, 33– 291, 297–298 Drummond, Arthur 95
34, 37, 89–90, 96, 98, 197, 219 Brinkmann, Laura 287 Duncker, Alexander 8–9, 21, 46, 140,
Apuleius 196–197 Brinkmann, Rudolf 20 159, 307
Armovitz, Johann Hinrich 275 Brockdorff, Cai Lorenz von 250 Düsel, Friedrich 374
Arndt, Ernst Moritz 19 Brunn, Emil Carl 46, 159, 296
Arnim, Achim von 18, 74, 108–109 Buchan, Bertha von 4, 6, 60, 74–76, 89, E
Arnim, Bettina von 288, 291 92, 94–95, 130, 137, 197, 262, 286 Ebers, Georg 36, 305, 377
Auerbach, Berthold 19, 36, 272, 292 Büchner, Georg 77, 95, 294 Eckermann, Christian 250
Bulwer-Lytton, Edward 19 Eggers, Friedrich 8, 18–19, 21–26, 36,
B Burchardi, Georg Christian 28, 34 49, 51, 64, 98, 146
Bach, Carl Philipp Emanuel 40 Bürger, Gottfried August 18, 54, 57, Eggers, Friedrich Ludwig von 250
Bachofen, Johann Jakob 271, 337 155, 163, 193, 260, 262, 273 Eichendorff, Joseph von 3–4, 8, 13, 18,
Baer, Wilhelm 20 Bürkner, Hugo 19 39, 41, 74, 89, 98, 132, 169, 284, 288,
Barthes, Roland 231, 322, 353 Burns, Robert 19 292, 365, 372
Baumgärtner, Friedrich Gotthelf 113 Busch, Dietrich Wilhelm Heinrich 238 Esmarch, Constanze, verh. Storm 5–6,
Beard, George M. 356 Byron, George Gordon (Lord By- 9–11, 22, 29, 31, 50, 70, 74, 76–78, 81,
Beccau, Christian Ulrich 20, 251 ron) 19 83, 85, 113, 119–120, 152, 173, 266,
Beethoven, Ludwig van 39–40, 175 272, 286–287, 289–290, 299, 310,
Bekker, Balthasar 18, 207 C 313, 348, 354, 373
Benjamin, Walter 350 Calderón de la Barca, Pedro 19 Esmarch, Elsabe 293
Béranger, Pierre Jean 19 Calwer, Carl Gustav 20 Esmarch, Ernst 2, 6, 26, 70, 240, 287,
Berg, Alban 39, 43 Cazotte, Jacques 19 291, 293, 354
Bergk, Johann Adam 113 Cervantes, Miguel de 19 Esmarch, Heinrich Carl 50
Bergsøe, Vilhelm 37 Chamisso, Adalbert von 4, 18 Esmarch, Hermann 11
Bernardin de St. Pierre, Jacques- Chodowiecki, Daniel 19 Esters, Yannick 384
Henri 19 Christen, Ada 18–19, 54, 57 Euklid 328
Bernhard, Thomas 39 Christian VIII. von Dänemark 89, 290
Beseler, Wilhelm 34 Cicero 113 F
Beumer, Philipp Jakob 20 Clark, Helen 299 Falck, Nikolaus 6, 28–29, 34, 250
Biernatzki, Hermann 291 Claudius, Matthias 18–19, 51, 54, 57, Fallada, Hans 368
Biernatzki, Karl Leonhard 34, 94, 97, 74 Fanon, Frantz 341
127, 129, 131, 251, 263–264, 270, 291 Clement, Knut Jungbohn 250 Feddersen, Elsabe 282
Biese, Alfred 312, 372 Connell, Raewyn 337 Feddersen, Friedrich 297
Bismarck, Otto von 82 Cooper, James Fenimore 19 Feddersen, Joachim Christian 266
Blicher, Steen Steensen 19 Curtius, Ernst Robert 48 Feddersen, Magdalena 266, 268
Boccaccio, Giovanni 19, 115, 305 Feßler, Ignaz Aurelius 288, 292
Böhme, Fritz 115 D Feuerbach, Ludwig 160
Boll, Karl 377 Danckwerth, Caspar 251 Feuerbach, Paul Johann Anselm
Bölsche, Wilhelm 321 Dante Alighieri 19, 135 von 367
Bonnix, Andreas 201 Darwin, Charles 332–333 Fielding, Henry 19
Bormann, Karl 22, 297 Daudet, Alphonse 19 Finlay, Carlos Juan 357
Böttger, Fritz 379 Deleuze, Gilles 350–351 Flaubert, Gustave 19, 375
Bourdieu, Pierre 337 Deppe, Hans 384 Fontane, Emilie 298, 300
Brahms, Johannes 43 Derrida, Jacques 347–348 Fontane, Theodor 8, 10, 13, 19, 21–26,
Brandes, Wilhelm 255 Dickens, Charles 19, 128, 292 36–37, 46, 48–49, 74, 112, 142, 146,
Brentano, Clemens 4, 18, 74, 201 Dreesen, Willrath 372–373 152, 159, 171, 182, 198, 213, 230–
404 VI Anhang

231, 278, 287–288, 297–301, 316, H J


365, 368 Haase, Constanze 18 Jackson, Denis 380
Foucault, Michel 198, 360 Haase, Gustav 226 Jean Paul (Friedrich Richter) 18, 272
Fouqué, Friedrich de la Motte 292 Haase, Lisbeth 13 Jensen, Dorothea, verh. Storm 6–7,
Franzos, Karl Emil 36, 240 Hackländer, Friedrich Wilhelm 108 10–11, 13, 32, 74, 78, 145, 188, 282,
Freiligrath, Ferdinand 19 Haeckel, Ernst 160, 332 295
Freud, Sigmund 92, 95, 173, 179, 247, Hansen, Christian Peter 250, 274 Jensen, Wilhelm 19–20, 198, 284
261, 370 Harbou, Andreas von 273 Jeß, Hartwig 255
Freund, Wilhelm Alexander 354, 358 Häring, Wilhelm 367 Johansen, Christian 250
Freytag, Gustav 19, 124, 299, 316 Harlan, Veit 135, 389 Jung, Carl Gustav 247
Friedlieb, Ernst 20 Hart, Julius und Heinrich 305 Jung-Stilling, Johann Heinrich 113
Friedrich VII. von Dänemark 34, 42, Hauff, Johann Christian 20
50, 82 Hauptmann, Gerhart 229, 368 K
Friedrich VIII. von Augustenburg 36, Haydn, Joseph 39, 43 Kaeseberg, Hugo 57
313 Hebbel, Friedrich 19, 313 Katz, Edmund 22
Fuchs-Robettin, Hanna 43 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 118 Katz, Moritz 22, 24
Füssli, Johann Heinrich 246, 360 Heiberg, Hermann 46, 49 Kayser, Wolfgang 377
Heidegger, Martin 71 Keil, Ernst 122–123, 159
G Heimreich, Anton 250 Keller, Gottfried 13, 18–19, 36, 48, 62,
Gaedertz, Karl 313 Heine, Heinrich 3–4, 18–19, 36–37, 88, 105, 112, 180, 185, 201, 221, 274,
Geibel, Emanuel 4, 41, 57, 61–63, 118, 41–42, 54–55, 74, 175, 283–285, 288, 276, 287–288, 302, 304–305, 316,
272, 283–285, 312 292, 310, 373, 377–378 321, 346, 350, 365
Gellert, Christian Fürchtegott 18, 65, Heinse, Wilhelm 291 Kerner, Justinus 310
287 Hentrich, Franz Christian Wilhelm Kette, Hermann 8, 49
Gendries, Klaus 135, 384, 386 Christoph 30 Kielland, Alexander 19
Gervinus, Georg Gottfried 120 Herbst, Wilhelm 19 Kipling, Rudyard 93
Geßner, Salomon 19, 65, 302 Hertz, Wilhelm 19 Klander, Albrecht 272
Giese, Augustus 266–267, 269 Herwegh, Georg 19, 81 Kleist, Heinrich von 18, 180, 214, 218,
Glaevecke, Ludwig 354–355, 358 Heuer, Wilhelm 19 368
Glaser, Adolf 47 Heumann, Hermann Gottlieb 20 Kohl, Johann Georg 250
Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 63, Heyse, Paul 13, 19, 21–24, 26, 46, 48, Kompert, Leopold 36
65, 291 57, 60, 112, 124–125, 137, 141, 145– Konewka, Paul 19
Gluck, Christoph Willibald 39, 272 146, 150, 152, 177, 182, 193, 198, 201, Köster, Albert 303
Goethe, Johann Wolfgang von 3–4, 204, 209, 220–221, 228–229, 231, Krafft, Johann Melchior 20, 266
18, 26, 42, 54–55, 57, 65, 74, 86, 115, 237, 246–247, 255, 273, 278, 284, Krafft-Ebing, Richard von 329, 356
123–124, 134, 143, 179, 197, 201, 287–288, 302, 305, 307–309, 318, Krebs, Carl Friedrich 272
218, 255, 281, 283–285, 287, 291, 366 329, 358, 372, 377 Kretzer, Max 245
Goffman, Irving 356 Hiller, Ferdinand 9, 36 Krogh, Charlotte von 113
Gogol, Nikolai 19 Hitzig, Julius Eduard 367 Kugler, Franz 8, 20–26, 132–133, 145–
Goldammer, Leo 23 Hoffmann, Ernst Theodor Ama- 146, 297, 307
Goldammer, Peter 379 deus 4, 18, 39, 89, 94, 98, 115, 179, Kuh, Emil 4, 11, 28, 90, 98, 152, 182,
Goldschmidt, Petrus 206–207, 266 199, 224, 241, 266, 268, 272, 292, 201, 204, 302
Görtz, Sven 384 317, 339, 368 Kühl, Emma 5
Goßler, Karl Gustav von 8, 23, 30 Hoffmeister, Karl 19 Kuhlmann, Lorenz 291
Gottfried von Straßburg 18, 237 Holberg, Ludwig 19 Kuhn, Thomas S. 354
Gotthelf, Jeremias 365 Hölderlin, Friedrich 57 Kurz, Hermann 124, 307, 318
Gottschall, Rudolf 55 Holmer, Martin 266
Griesinger, Wilhelm 329 Holtei, Karl von 180 L
Grillparzer, Franz 194 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 43, La Fontaine, Jean de 19
Grimm, Jacob und Wilhelm 5, 89–90, 245 Lacan, Jacques 174
92, 110, 112 Homer 18 Landesmann, Heinrich 57
Grimm, Wilhelm 92, 94 Horaz 18, 65, 125, 155 Lange, Edmund 372
Grimmelshausen, Hans Jakob Chri- Horstmann, Theodor 313 Laß, Johannes 20, 201, 250, 275
stoffel von 18 Hosemann, Theodor 19, 24, 146 Lenau, Nikolaus 74
Groth, Doris 313 Hunnius, Carl 20 Lepel, Bernhard von 22–23
Groth, Klaus 8, 19, 23–24, 37, 49, 54, Lessing, Gotthold Ephraim 18, 167,
57, 251, 287, 298, 310, 312–313 I 211
Günther, Johann Christian 51, 74 Ibsen, Hendrik 229 Lie, Jonas 37
Gutzkow, Karl 24, 292, 299 Immermann, Karl 19, 132, 288, 292 Liliencron, Detlev von 5, 18–19
Irving, Washington 19 Liszt, Friedrich 43–44
Personenregister 405

Litzmann, Carl Conrad Theodor 272 Müllner, Adolf 109 Reventlow, Ludwig Graf zu 13
Loewe, Ludwig 36 Mummy, Arfast 282 Richardson, Samuel 287
Lohmeyer, Julius 179 Richter, Ludwig 19
Lombroso, Cesare 355, 369 N Rodenberg, Julius 8, 24, 48–49, 74, 265
Lorenzen, Ernst 291 Natter, Jens 384 Röse, Ferdinand 4–5, 272, 281, 283,
Lorm, Hieronymus 57 Nicolai, Philipp 160 298
Ludwig, Otto 316 Niendorf, Marc Anton 8, 49, 54, 74 Rousseau, Jean-Jacques 287
Lukács, Georg 316, 322, 350, 373–375 Nieß, Albert 229 Rowohl, Therese 75, 92
Luther, Martin 294 Niethammer, Friedrich Immanuel 367 Rückert, Friedrich 19, 71–72, 74, 173
Lützow, Gotthard von 272 Nietzsche, Friedrich 71, 95, 351, 353 Runge, Philipp Otto 59, 92
Lützow, Marie von 273 Nissen, Gustav 199
Novalis (Friedrich von Harden- S
M berg) 18, 59, 89, 92, 98, 338, 372 Saint-Pierre, Jacques Henri Bernardin
Magnussen, Johannes 37 Nürnberger, Woldemar 57 de 155
Mahner, Ernst 268 Saphir, Moritz Gottlieb 21
Mann, Thomas 4, 33, 36, 77, 172, 199, O Schambach, Georg 251
211, 254–255, 322, 333, 355, 359, Oertel, Curt 256, 384 Scheffel, Joseph Victor von 19
374–376 Ohlhues, Johann Peter 3 Scherff, Friederike 266
Mannhardt, Julius 47, 230, 274 Opitz, Martin 18 Scherff, Jonas 266
Marx, Karl 102–103 Otte, Hans 275 Schiller, Friedrich 3, 18–19, 55, 57,
Matthisson, Friedrich von 64–65 Ovens, Jürgen 202 276, 287, 367–368
Mauke, Wilhelm 46, 56 Ovid 196 Schindler, Heinrich 8, 24, 46, 144, 146,
Maximilian II. 307 157, 159
Mayer, Karl 310 P Schleiden, Heinrich 287
Mejer, Johannes 251 Paetel, Elwin 48, 104, 159, 201, 220, Schmidt, Erich 13, 19, 41, 54–55, 112,
Mendel, Gregor 333 250, 255, 265 121, 193–194, 201, 204, 220, 255,
Mendelssohn Bartholdy, Felix 20, 39 Paetel, Hermann 48, 104, 159, 201, 275, 287, 302, 305, 316, 367
Menzel, Adolph 22–23, 146, 171 220, 265 Schmidt, Friedrich Wilhelm Au-
Merckel, Wilhelm von 8, 22–23, 25– Panofsky, Erwin 66 gust 57
26 Pasteur, Louis 354 Schmidt, Julian 316
Meyer, Conrad Ferdinand 48, 305, Paulsen, Christian 28, 34 Schnee, Rudolf Hermann 8, 148
365, 368 Petersen, Wilhelm 220, 237, 287, 302, Schnitzler, Arthur 254
Meyerheim, Paul 19 305 Schopenhauer, Arthur 157
Molière, Jean Baptiste 19 Petersen, Wolfgang 221 Schrader, Carl 251
Möller, Adolph 49 Petrarca, Francesco 135 Schröder, Johannes von 20
Møller, Paul Martin 19 Piening, Theodor 19 Schubert, Franz 39–40, 43, 193
Mommsen, Friedrich 20 Pietsch, Ludwig 9–10, 19, 30, 37, 137, Schumann, Robert 40, 43
Mommsen, Theodor 5–7, 10, 13, 29, 161, 167, 175 Schütze, Paul 131, 255, 372
33–35, 46, 49–50, 71–72, 81–82, 93, Pitaval, François Gayot de 367 Schwarz, Johann Ludwig Georg 113
112–113, 263, 270, 287, 298, 310 Platen, August Graf von 56, 61 Scott, Walter 19, 292
Mommsen, Tycho 5, 10, 46, 50, 62, 81, Platon 18, 85 Sealsfield, Charles 19
93, 121, 131, 270 Plotke, Georg J. 307, 374 Seidel, Heinrich 19, 99
Momsen, Hans 251 Poe, Edgar Allan 19, 188 Semmelweis, Ignaz 357
Moreau, Gustave 87 Polko, Elise 18–19 Setzer, Laura 95
Morel, Bénédict Augustin 328, 355 Pollacsek, Julius 274 Shakespeare, William 19
Mörike, Clara 284, 310 Preller, Carl Heinrich 8, 24, 49 Simons, Ludwig 23
Mörike, Eduard 3, 5, 8, 19, 21, 26, 39, Puschkin, Alexander 19 Smith, Adam 211
41, 51, 69, 74, 89, 91, 98–99, 127, 132, Pyl, Karl Theodor 37, 265 Sokrates 255
161, 265, 279, 281, 283–284, 287– Sonderland, Johann Baptist 19
288, 291, 298, 310–311, 338 R Souchay, Theodor 313
Mörike, Margarethe 220–221, 284, Raabe, Wilhelm 19, 35, 198, 316, 365 Speckter, Hans 19, 56, 287
310–311 Rameau, Jean-Philippe 40 Speckter, Otto 19, 287
Moritz, Karl Philipp 113 Reich, Eduard 237 Spee, Friedrich von 207
Motte Fouqué, Friedrich de la 18, 218 Reinbeck, Georg von 120 Spohr, Ludwig 39
Mozart, Wolfgang Amadeus 39–40, Reinecke, Carl 39 Stamp, Doris 113
43, 245 Rembrandt 202 Steffen, Wilhelm 377
Mügge, Theodor 251 Remer, Paul 255 Steinheim, Salomon 36
Müllenhoff, Karl Viktor 5, 89, 93, 112– Reuter, Christian 18 Sterne, Laurence 19
113, 251, 263, 270, 274 Reuter, Fritz 19 Stifter, Adalbert 18–19, 182–183, 316,
Müller, Wilhelm 71, 251 Reventlow, Franziska Gräfin zu 33 365
406 VI Anhang

Stoll, Heinrich Wilhelm 196 Tennyson, Alfred 19 W


Storm, Aemil 10, 13, 250, 354–355, 357 Tetens, Johann Nicolai 251 Wagner, Richard 20, 22, 43–44
Storm, Charlotte 10, 240 Tettau, Wilhelm Johann Albert Waldemar II. von Dänemark 29
Storm, Elsabe 9, 13 von 251 Weber, Carl Maria von 39
Storm, Ernst 31, 37, 265, 278, 287 Thackeray, William Makepeace 19 Weber, Johann Jacob 108, 167
Storm, Friederike 11, 13, 18, 244 Theokrit 65 Weber, Max 33
Storm, Friederike, geb. Jensen 295 Thomasius, Christian 207 Wehl, Feodor 255
Storm, Gertrud 3, 10, 13, 18, 60, 62–63, Tieck, Ludwig 18, 89, 98, 109, 124, Weidenmann, Alfred 384–385
112, 193, 275, 290, 313, 354–355, 373 132, 292 Werfel, Franz 43
Storm, Hans 11, 13, 38, 95, 112, 209, Tiedemann, Christoph von 274 Werner, Zacharias 109
309, 354, 356 Todorov, Tzvetan 252 Westermann, George 11, 47, 57, 193,
Storm, Helene 6, 291, 354 Todsen, Johannes 34 265, 290, 300, 317
Storm, Johann Casimir 2, 4, 6–9, 12, Tolstoi, Leo 160 Westphal, Gert 384
26, 28–29, 34, 66, 98, 148, 291, 356 Tönnies, Ferdinand 13, 38, 112, 193, Wieland, Christoph Martin 18
Storm, Johannes 13 275 Wies, Lena (Sophia Magdalena Jür-
Storm, Karl 2, 12, 193, 354, 357 Tschudi, Friedrich von 20 gens) 2, 112, 266–267, 319, 359
Storm, Lisbeth 8 Turgenew, Iwan Sergejewitsch 10, 19, Willkomm, Ernst 292
Storm, Lucie, geb. Woldsen 2, 6, 8–9, 33, 37, 124, 376 Witte, Friedrich 298
12–13, 281, 291 Tyrtaios 83 Woldsen, Christian Albrecht 29
Storm, Lucie (Schwester Theodor Woldsen, Elsabe 2
Storms) 336 I Woldsen, Friedrich 2, 266
Storm, Otto 8, 21, 354 Uhland, Ludwig 3–4, 74, 143, 310 Woldsen, Magdalena, geb. Fedder-
Straßburg, Gottfried von 152 sen 2, 282
Stuckert, Franz 377–378 V Woldsen, Magdalene 2
Stuhr, Fritz 3 Van der Helst, Bartholomeus 202 Woldsen, Simon 2, 266
Stuhr, Nicolaus 2 Vergil 65, 133 Woldsen, Simon (der Jüngere) 268
Sudermann, Hermann 254 Viardot-Garcia, Pauline 10 Wolf, Christa 143
Sunde, Nicolai 9, 171 Vinçon, Hartmut 379 Wussow, Alexander von 9, 38
Vischer, Friedrich Theodor 61, 120,
T 304, 316 Z
Tegnér, Esaias 19 Vogt, Karl 332 Zelter, Carl Friedrich 287
Temme, Jodocus Deodatus Huber- Voß, Johann Heinrich 18, 57, 65 Zola, Emile 19, 236
tus 251
Sachregister

A Bankrott 165, 209, 330, 332


Aberglaube 46, 104–105, 112, 160, 165, 173, 177, 206, 208, Becher, Kelch 101, 207
213–214, 232, 251–255, 257, 328–329, 343, 348, 376, 385– Behinderung 171, 252, 328
386 Berlin 4–5, 7–8, 13, 21–25, 27–29, 31, 46, 113–114, 131,
Adel 34–38, 40, 57, 83, 108–110, 123, 129, 148, 182–183, 138, 140, 157, 161, 206, 246, 250, 272, 283, 288, 295, 297–
202, 215–216, 231–232, 235–237, 272–273, 297, 325, 331, 299, 303, 372, 381, 390
340, 357 Betrug 228, 327, 367
Adoleszenz 92–94, 219, 273 Bibel 59, 84–85, 132, 146, 157, 160, 179, 211, 227, 251, 326,
Afrika 244, 246, 248, 358 328, 339
Ahnen 109, 141, 160, 168, 203, 281, 331 – Isaak 211
Ahnengalerie 160, 202–203, 281, 331, 345 – Judas 227
Ahnung 26, 74, 115, 150, 293 – Lazarus 203, 346
Alchemie 97–99 Bibliophilie 18
– Stein der Weisen 97, 99 Biedermeier 81, 194, 262, 365–366
Alkohol 155–156, 163, 199, 209, 223, 233, 235–236, 332, Bilderbogen 268
355–357 Bildlichkeit 64, 69, 77, 137–138, 149, 331, 335
Alkoholismus 11, 209, 223, 235–236, 244, 309, 329, 354, Biologie 159–160, 210, 254, 329–330, 380
356–357, 363 Blasphemie 87
Allegorie 94, 98, 137, 160, 169, 175, 203–204, 210, 267, 269, Blick 40, 61, 65, 81–82, 94, 99, 115, 122, 148–149, 153, 162–
339 164, 180, 190, 200, 210, 257, 276, 286, 303, 316, 318, 331,
Alter 37, 101–102, 117, 127–128, 130, 153, 173, 179–180, 341, 345–348, 350, 360, 368
186, 199, 206, 211, 226, 266, 278, 283, 303, 312, 364 Blut 79, 171, 211, 214, 230–231, 276, 296, 327, 330–331,
Amerika 177, 244 342, 345, 364, 374, 378
Anakreontik 62–64, 74, 363 Botanik 182–183
Angst 71, 76, 104, 140, 157, 159, 164, 171, 174, 193, 197, 228, BRD
256, 258, 262, 267, 269, 275, 293, 309, 335, 354, 357–358 – Rezeption Storms 388
Anonymität 47 Brief 287–288
Anschauung 61, 64, 69–70, 84, 87, 90, 197, 268, 273 – briefliche Unterweisung der Braut 287, 293
Antike 3, 18, 64–65, 83, 85, 113, 196–197, 234 Brudermord 112, 230–231, 327, 348
Antisemitismus 35–36, 305, 377 Buch, Bücher 4, 18, 118, 131, 152, 155, 175, 209, 224, 286,
Armut 42, 104–105, 107, 109–111, 128, 137–138, 148, 226, 365
240, 283, 365 – Storms Bibliothek 18
Asien 244, 380 bürgerliche Gesellschaft 33, 37, 77–79, 169, 179, 182–183,
Askese 103, 256 185–186, 199, 221, 224, 231–232, 235, 316, 327, 341, 363,
Auferstehung 81–82, 157–158, 211, 346 374–375, 377, 379
Aufklärung 18, 38, 40–41, 90, 214, 258, 321, 376 – ›altes‹ Bürgertum 374
Augen 2, 39, 59, 65, 76, 78, 87, 122, 130–131, 140, 161, 164, – bürgerliche Ethik 363
167, 177–179, 183, 185, 189–190, 203, 206, 210–211, 216, – bürgerliche Musikkultur 39
218, 227–228, 236, 241, 252, 260, 270, 274–275, 281–282, – bürgerlicher Künstler 194, 375–376
318, 325, 327–328, 331–332, 345–348, 350, 357, 364 – Emanzipation des Bürgertums 33, 37–38, 57
Außenseiter 37, 78, 186, 190, 336 – Lesegewohnheiten 155
Autobiographisches 11, 18, 36–38, 49, 161, 167, 194, 236, – Selbstkritik 37
265, 278–279, 281
C
B Christus 59, 84–85, 87–88, 157–158, 189, 207, 211, 227,
Babel 245 326–328
Baden-Baden 10 Chronik 13, 18, 20, 47–49, 201, 206, 215, 217, 232, 250, 263,
Bakteriologie 337, 355 286, 331, 345–348
408 VI Anhang

D Empfindsamkeit 74, 76, 287, 290


Dachboden 97, 99, 110, 185, 270, 332, 365 Engel 60, 110, 123, 132–133, 156, 207, 276, 294
Dämon, Dämonisierung 59, 103, 164, 206, 268, 270, 321 England 24
– dämonisierter Eros 238 – Literatur 19
Dänemark 2, 6–7, 9–10, 21, 29, 31, 34–35, 37, 42, 50, 62, Entsagung 85, 103, 144, 165, 176, 374
81–82, 94, 99, 273 Entwicklungsroman 179–180
– Antidanismus 34–35 Epigonalität 4, 56, 74, 289
– Dänisch (Sprache) 3, 6, 29, 33–34, 380 Epiphanie 59
– Literatur 37 Erbe 101, 108, 173, 199, 209–211, 215, 220, 226, 230–231,
Dänemark und Holstein 165 252, 254, 326–327, 356, 359, 385
Darwinismus 160, 211, 256, 331–332 Erinnerung 41, 70, 74, 110, 122, 127–128, 132, 137–138,
DDR 141, 144, 148–150, 155, 167–168, 175–176, 180, 188, 191,
– Rezeption Storms 379, 386–387, 389 193–194, 200, 203–204, 241–242, 251–252, 255, 266–268,
Décadence 375 272, 274, 281–284, 321, 348, 364, 369–370, 388
Degenereszenz 119, 242, 254, 328–329, 331–333, 356, – als mediale Praxis 380
385 – als Pharmakon 168
Deich 34, 82, 109, 250–252, 254, 256–257, 264, 349 – als Verkehrung 268
Dekadenz, Niedergang, Verfall 148–149, 178, 221, 231, 238, – an Gelesenes 177
325–327, 330–331, 355, 375 – der Todesangst entgegengesetzt 319
Demokratie 33–35, 37–38, 62, 83, 376 – kollektive Erinnerung 215
Deutscher Bund 6, 81–82 – künftige Erinnerung 78
Deutsches Reich 176 – ›memento mori‹ 128
Diätetik 268, 289, 357 – ›mémoire involontaire‹ 167
Dinge 54, 99, 103, 110, 112, 116, 127, 129, 132, 141, 149, – verdoppelte Erinnerung 41, 246, 369
176–177, 185, 207, 248, 293–294, 317, 322, 346, 356, 363– Erleben, Erlebnis 61, 70, 74–75, 148, 167–168, 189, 193,
366 196, 255, 319
– ›unehrenhafte‹ Dinge 209 – Erlebnis als Fundament der Lyrik 74
Dithmarschen 20 – inneres Erlebnis 74
Doppelgänger, Wiedergänger 163, 190, 241, 346, 349, 352– – Liebe als Erlebnis 79
353, 369–370 – Mortifizierung der Erlebnisse 133
Drama, Dramatik 44, 109, 118–119, 123–125, 149, 231, 308, Erlösung 85
318 Eros, Lust 77–79, 99, 106, 133, 157, 162, 170–172, 183, 200,
– Bürgerliches Trauerspiel 129, 162 210–211, 238
– Drama als vornehmste Gattung 118 – Ambivalenz des Eros 75, 78, 103, 335
– Schicksalsdrama 89, 108–109 – ›böse Lust‹ 210, 357
– Tragödie 44, 119, 124–125, 149 – erotische Symbolik 99
Drelsdorf 201 – erotisches Erwachen 133
Dünen 275 – gesellschaftlich unproduktiver Eros 199
– Storm als Erotiker 74
E – Symbolik 99
Ehe 76, 108, 110, 140, 159–160, 170, 174–175, 177, 182, 185, – und bürgerliche Konvention 76
189–191, 211, 230, 237, 296, 327, 331, 340–342 – und Geld 199, 209
– aufgeklärte Ehe 157 – und Musik 42
– desexualisierte Ehe 174 – und Thanatos 138, 149–150
– Eheideale 153 – Vergänglichkeit des Eros 149
– Ehemetaphysik 158 – weibliche Lust 106
– erste Ehe 188 Erziehung 25, 111, 141, 159, 170, 235, 273, 295, 341, 387
– im Tod 238 – ästhetische Erziehung 288
– Konvenienz-Ehe 291 – der Ehefrau 291
– Neigungsehe 292 – Musikerziehung 193
– Storms erste Ehe 6, 76 – weibliche Erziehung 185
– Storms zweite Ehe 10 Esperanto 380
– zweite Ehe 190 Ewigkeit 86
Ehebruch 6, 78, 157, 159, 189, 275, 363, 389 Exil 8, 35, 49, 82, 119, 165, 167–168, 176, 295, 358, 376
Ehescheidung 159 Exotik, Exotismus 155, 169–170, 260, 275, 341
Eifersucht 6, 76–77, 190, 329
Einfühlung 61 F
Einfühlungsästhetik 61 Faktizität 280–281
Einkünfte Storms 9, 11, 30, 286 Familienkonstellationen 93, 325–333, 341
Eisenbahn 8, 25, 173, 266, 283 – biologische Familie 329–330
Sachregister 409

– Eltern 99 – Literatur 19
– familiäre Dynamik 91 – Sagen 20
– Geschwisterliebe, Inzest 22, 105, 132, 134, 165, 202, 216, Frauenfiguren 106, 294, 340
260–262, 325, 330, 363 – alte Jungfer 185–186
– Großvater 200 – Elfen 42, 133, 357
– heilige Familie 216 – ›femme enfant morbide‹ 138
– Innerfamiliäre Männerkonkurrenzen 342 – ›femme fatale‹ 237–238, 337, 339
– Inzestverbot 132 – ›femme fragile‹ 197, 238, 339
– Mutter-Kind-Dyade 93, 95, 186, 342 – Germania 339
– Mutter-Sohn-Beziehung, Inzest 380 – ›Große Mutter‹ 134
– Objektbeziehung zum Vater 95 – Heilige 294
– ödipale Beziehung 194, 228–229 – Hexen 101, 138, 163, 206–207, 218, 276, 337
– patriarchale Nachfolge 244 – Jungfrau 4, 42, 79, 97–98, 142, 153, 164, 209, 238, 261
– Schuldverstrickungen innerhalb der Familie 337 – Kindfrau, Kindsbraut 5, 76, 94, 135, 138, 142–143, 146,
– Stiefkind 110 153, 155, 164, 167, 169, 197, 218, 237–238, 260–262, 335,
– Stiefmutter 108–110, 189–190, 341 337–338
– Stiefsohn 108 – Loreley 163, 325
– Stieftochter 101 – Madonna, Maria 138, 189, 203, 227, 294
– Suche nach der Mutter 341 – Prinzessin 183
– symbolische Familie 329–330 – Regentrude 105–106
– totgeglaubter Sohn 244 – ›schwarze Frau‹ 169, 273, 341
– tyrannische Väter 141 – Seherin 230, 234
– uneheliches Kind 188–189, 202, 215, 272, 275, 330 – Spinnfrauen 89, 132, 270
– Urerlebnisse der Söhne 95 – Totenbräute 294
– Urszene 99, 173 – ›Urmütter‹ 271
– Vater-Sohn-Beziehung 209 – Walküre 196–197
– Vater-Sohn-Konflikt 226 – Wasserfrau 75, 106, 162, 197–198, 218–219, 253, 336,
– Vater-Tochter-Beziehung, Inzest 174, 190, 216, 224 340, 343
– Vatermord 93 – Zithermädchen 78, 131, 133, 325, 338
– verlorener Sohn 124, 227, 327 Fremde 82, 106, 157, 166, 177, 180, 226, 340, 386
– Wiederherstellung der Kernfamilie 134 – als Krankheitsträger 359
Fenster 77, 97, 116, 146, 173, 178, 185, 234, 244, 352–353, – Xenophobie 143, 169, 177
370, 375 Fremdes 71, 142, 180, 247–248, 276, 373
Fetisch, Fetischismus 164, 167, 199, 207, 363 – fremde Stoffe 211
Feudalismus 244 – kulturelle Fremdheit als Bedrohung 244
Feuer 105, 137, 216 Freundschaft 36, 153, 234, 284, 302, 309, 312
Film, Verfilmung 383–390 Friedhof 137–138, 158, 160, 163, 221, 266–267, 276, 388
Finger 156, 210, 213–214 – Friedhofspflanzen 72
Flensburg 199 Friedrichstadt 2–3, 50, 82, 148, 263
Florenz 115, 273–274, 308, 388 Friesland 20
Fluch 101, 108–111, 326–328, 331, 345 – friesische Kultur 34
Fluss 193, 198, 218 – friesische Sagen 20
Föhr 5 Frühling 62–64, 70–71, 81–82, 158, 263, 276
Form 68, 87 – Frühling 1848 34–35
– Ambiguität der Form 322
– ästhetische Formbildung im bürgerlichen Handlungs- G
raum 316 Garten 2, 10, 13, 32, 72, 77, 81, 97, 122, 140, 144, 148–149,
– Auflösung der Form 87 188–191, 220–221, 282, 341, 375, 388
– innere Form 69 – ›hortus conclusus‹ 99
– innere und äußere Form 61 Geburt 93, 108, 110, 131, 152, 159, 168, 185, 188, 190, 210,
– literarische Form vor Sprache 322 215, 218, 220, 235, 244, 269, 275, 331, 384–385
– Lyrik 55, 61 – als Wendepunkt 191
– schöne Form 61 – Frühgeburt 230
Fortschritt 219–220, 342–343 – Kopfgeburt 170
– (druck-)technischer Fortschritt 320 Gedächtnis 176, 203, 252–253, 266, 268, 282, 321
– Fortschrittsglaube 87 – Familiengedächtnis 129
– Fortschrittsoptimismus 176, 354 – genealogisches Gedächtnis 110
– medizinischer Fortschritt 246, 354, 359, 361 – kollektives Gedächtnis 223
Fortuna 199 – kulturelles Gedächtnis 203, 254
Frankreich 30, 37, 266, 300 Gefängnis 179, 183, 233
410 VI Anhang

Gefühl 54–55, 61, 64, 79, 144, 150, 152, 275, 285, 292, 321, H
372 Haar, Haare 75, 110, 140, 162, 169–170, 210, 274
Geister, Gespenster 109, 112–113, 115–117, 160, 167, 175, Hademarschen 13, 32, 43–44, 112–113, 119, 220, 289, 303,
203, 215–216, 247, 252–254, 257, 319, 321–322, 351–352, 307, 309, 312–313
385–386 Hadersleben 37
– Erzählung als Gespenst 257 Hafen 50, 235
– Niß Puk 112, 271 Hallig 41, 122, 175–176, 252, 255, 349
– Sprache der Geister 117 Hamburg 4, 20, 22, 56, 88, 124–125, 210, 226, 235, 240, 250,
Geiz 101–103, 200, 326 266, 332
Geld 101–103, 125, 132, 146, 199–200, 209, 211, 214, 226, Hattstedt 3, 11, 251
233, 356, 379 Heide 64–65, 70–71, 138, 142, 165, 177, 230–231, 264, 348–
– gegen Libido 210 349
– Geldsucht 214 Heiligenhafen 11, 13
Gemälde 95, 112, 158, 160, 171, 175, 201–204, 320, 345– Heiligenstadt 8–10, 13, 24, 26, 30–31, 35–36, 40, 59, 104,
346, 365 113–114, 119, 148, 152, 155, 157, 159, 164–165, 167, 226,
– Totenbild 202 265–266, 290, 295, 340, 367
Genealogie 232, 258 Heimat 35, 37, 62, 66, 70, 104, 106, 142–143, 167, 169–
Gerücht 148–149, 182–183, 206–208, 213–214, 217, 226, 170, 173, 178, 203, 255, 261, 263, 273, 290, 360, 372–374,
232, 240, 253, 270, 378 378
Geschichte, Geschichtsphilosophie 231 – Frau-Heimat-Komplex 339
– Historiographie 20 – psychische Heimat 169
– Historismus 215 – Storm als ›Heimatdichter‹ 61, 255, 373, 377
Geschlechter 135, 140, 173, 196, 237, 380, 384, 387 Herbst 5, 62–64, 67, 70–71, 82, 109, 148, 250, 260, 265,
– Androgynie 105, 169 303
– bürgerliche Geschlechterordnung 197, 335–336, 342– Herkunft 273
343 – fremde Herkunft 72, 169, 360
– Effeminierung 38 – Herkunftsnarrativ 232
– Geschlechterkampf 183, 258 – religiöse Herkunft 157
– Geschlechterpoetik 271, 335 – soziale Herkunft 41, 182, 202, 340
– Gleichgewicht der Geschlechter 105 Herz 62–64, 67–68, 75–76, 79, 117, 127, 156, 158, 173, 189,
Geschwisterliebe, Inzest 105 233, 261, 292–294, 302
Gespenstisches 112 Himmel 95
Gestaltung 61, 66 – leerer Himmel 70–71, 95
Gewalt 10, 36–37, 42, 74, 77, 83, 93, 142, 157, 163–165, 214, Hinrichtung 30, 213, 276
216–217, 226, 230, 241, 254, 262, 270, 275, 337, 342, 352, Historie (Genre) 90
363 Hitler, Adolf 385
– der Mutter 95 Holland 202
– elterliche Gewalt 94 Holstein (Herzogtum) 2, 5, 29, 31, 35, 50, 62, 81, 265
– in familialen Strukturen 93 Husum 2–7, 9–14, 20–22, 25, 28–29, 31, 34–36, 38–39, 50,
– und Sexualität 171, 364 64–68, 82, 90, 97, 99, 108, 113, 120, 129, 131, 137, 146,
Gewehr 142, 228 148, 173, 177, 206–207, 213, 220, 240, 251, 266, 270, 278–
Gier 103, 214, 266, 379 279, 281–282, 284, 290–291, 293, 295, 298–300, 304, 310,
Glocken 42, 56, 81, 275–276 330, 339, 355, 367, 373, 380
Gold 63, 199–200, 210, 244 – Geschichte 20
– als Symbol des Eros 199 – politische Situation um 1848 50, 81
– Goldregen 200 ›Husumerei‹ 25, 300, 373
– Goldsucht 199
Gott 84, 160, 189, 245, 254, 256–257, 276, 293, 313, 326– I
328, 331 Ideologiekritik 379
– ›Gott der Kinder‹ 59, 160 Idstedt
– Gotteszorn 326–327 – Schlacht bei Idstedt 7, 82
– Hybris gegenüber Gott 328 Idylle 10, 37, 64–65, 121, 134, 143, 146, 155, 165–166, 182–
Göttingen 148 183, 219, 261, 282–283, 323
Grab 35, 42, 82, 86, 137, 149, 158, 163, 173, 176, 245, 265, – als Genre 57, 65–66, 70
267–268 – Familienidyll 60, 99
Grabmal, Grabstein 64, 98, 137, 163, 165–166, 298 – Vergangenheit als Idylle 129
Grauen 321 Illustrationen 9, 19–20, 24, 46–47, 56–57, 135, 165, 167
Griechenland 196 Imaginäres 91, 94, 127, 271
Gruft 37, 56, 86, 140, 221, 266–267 Indien 132, 169, 274
Gründerzeit 198, 342–343, 366 Industrialisierung 127, 244, 365
Sachregister 411

Inseln 37, 68–69, 81, 127, 175–176, 226, 250, 260, 274–275 – Ablehnung des kirchl. Segens 6
Intersektionalität 338 – Bruch mit der Kirche 157
Intertextualität 39, 63, 77, 84–87, 89, 93, 108–109, 113, 115, – Herrschaft der Kirche 83
132, 134, 143, 152, 155, 163, 171, 175, 179, 182–183, 211, – Kirchenkritik 9
214, 217–218, 224, 227, 234, 237, 251, 255, 268, 272, 326, – Trennung von Kirche und Staat 35
328, 336–337, 343, 380 – unbesuchte Kirchen 320
Irrationales 178, 252–253, 255–256, 377 Klassik 57, 180, 197
– Irrationale Natur 178 – Musikkonzept 40
Italien 196, 274 Klassizismus 197
– Literatur 19 Kolonialismus 248, 340
– Volksmusik 71 Komik 146, 185
Kommunikation 76, 84, 95, 117, 144, 287, 289, 336
J – briefliche Kommunikation 303
Jagd 108 – Telepathie 247
Japan 380 – zwischen Innen- und Außenwelt 87
Jenseits 88, 190, 321, 376 Kontinentalsperre 210
Journalismus 124 Kopenhagen 34, 273, 295
Judentum 3, 36, 265, 305, 377 Krankheit 30, 32, 79, 108–109, 155, 182, 190, 228, 248, 341–
– Judeneid 36 342, 354–355, 357–360
Jugend 11, 67, 98, 112, 131–132, 152–153, 157, 162, 169, – angeborene Krankheit 329
174–175, 177, 179, 213, 223, 230, 244, 266, 278, 281–282, – Diphtherie 358
318, 330, 341, 347, 358 – Epilepsie 207
– ewige Jugend 98 – Fieber 104, 109
– verlorene Jugend 153 – Gebärmutterkrebs 342, 358
Jungfräulichkeit 162, 203 – ›Geisteskrankheit‹ 213, 328
– Defloration 163 – Herzkrankheit 238
Jurastudium 4, 28 – Hysterie 189, 342
juristische Tätigkeit Storms 6–11, 20–21, 23–24, 28–31, 59, – Kindbettfieber 10, 328, 354–355, 357
108, 118–119, 157, 159, 177, 240, 295, 367 – Kinderlähmung 354
– Krebs 354–355, 358–360
K – Magenkrebs 13, 70, 250, 275, 305, 355, 359
Kaffee 233, 355, 387 – Malaria 354, 357
Kalifornien 244 – Marschfieber/Marschkrankheit 357
Kannibalismus 270 – Marschkrankheit 359
Kanon 57, 74, 84, 125, 179 – Neurasthenie 30, 32, 329, 342, 354–356
Karikatur 25 – Pest 115, 238
Katholizismus 8–9, 35, 46, 157, 159 – Pocken 359
Kerzen 77, 123, 168, 234 – psychische Krankheit 228–229, 328
Kiel 2, 4–5, 28, 32, 34–35, 46, 50, 113, 159, 263, 307, 310 – Psychose 234, 357
Kind 18, 25, 93–94, 131, 203, 216, 276, 331, 364 – Reizbarkeit 233
– allmächtiges Kind 94 – Scharlach 246
– Erotisierung des Kindes 262 – Schlaganfall 174, 360
– erzählend gerettetes Kind 96 – Syphilis 354, 357
– ewiges Kind 329 – Tollwut 228
– Idealisierung des Kindes 130 – Tuberkulose (Schwindsucht) 137, 273, 354, 357
– Kinderliebe 5, 105, 110, 130 – und Geschlechtlichkeit 335
– Kinderwunsch 108, 111, 123 – Unterleibskrebs 246
– Kindlosigkeit 166 – Wahnsinn 228
– Kindsmord 367 – ›weibliche‹ Krankheit 337
– Pädophilie 4, 174, 197, 363 Kreuz 84–88, 137, 150, 157–158, 207, 267, 365
– uneheliches Kind 31 Kreuzigung 36
Kindheit 2, 10, 41, 59–60, 72, 79, 91–92, 94, 132, 135, 155, Krieg 63, 99, 142–143, 160, 183, 374, 376
167, 169, 174, 189, 200–203, 261, 347 – Befreiungskriege 1870/71 37
– romantische Kindheit 59, 92 – deutsch-dänischer Krieg 9–10, 36, 82, 100, 165, 373–
– symbolischer Ort der Kindheit 143 374
– verlorene Kindheit 72, 127 – deutscher Krieg 11
– wiedergewonnene Kindheit 59 – Dreißigjähriger Krieg 108
Kindsmord 101, 108, 196, 272, 276 – Erster Weltkrieg 375
Kindstod 101, 110, 123, 159, 201–203, 247, 268, 319, 346 – poetischer Krieg 374
Kirche 35, 123, 157, 201, 206–208, 292, 340, 346–347 Kriminalisierung 241
412 VI Anhang

Kritikfähigkeit 283 – und Entfremdung 144


Kuba 221 – unerfüllte Liebe 132, 144
Kuchen 3, 133, 167–168, 266, 268 – verabsolutierte Liebe 144
Kultur Lied 55, 60, 63, 74–75, 78, 120–121, 131, 148, 233–234, 276,
– antimoderne Kultur 376 294
– Aulöschung als Kulturwesen 340 – als Idealform des Gedichts 55
– Briefkultur 287 Lippen 137, 171, 207–208, 270, 364
– bürgerliche Kultur 374 Literaturbetrieb 118, 307, 372
– Dichtung als Kulturtechnik 370 – Honorare 11, 28, 46, 50, 118, 125, 296, 303, 308
– Dingkultur 366 – Kalkül 179
– europäische Kultur 341 – Kritik 306
– kulturelle Repression 276 – Massenmarkt 125
– Kulturkritik 197 – Texteingriffe 123, 159, 223
– Kultur/Natur 169, 253, 339 – Verleger 48
– Kulturraum 106, 253–254, 336 – Zeitschriften 265
– Kulturschock 170 Literaturkritik 255
– Männlichkeit der Kultur 169, 258, 340, 343 – Kritik an Storms Texten 138
– Sammelkultur 366 – Storm als Literaturkritiker 8, 51
Kunstgeschichte 20 locus amoenus 146
Künstler 9, 33, 61, 65, 69–70, 73, 77, 94, 133–134, 194, 319, Lübeck 3–5, 29, 65, 263, 283, 310
339, 376, 388 Lyrik 41–43, 46, 54–57, 61, 63, 66–67, 69, 73–75, 87, 118–
Kuss 106, 142 120, 123, 132, 137, 148, 197, 322
– als Ausgangspunkt der Novellistik 54
L – als Erlebnis 54–55
Landschaft 9, 13, 61, 64, 66, 69, 82, 176, 232, 251, 348, 372– – als Trägerin der Novelle 120
373 – Bildlichkeit 54
– Sexualisierung von Landschaft 262 – Chiaroscura-Technik 42
Lauenburg (Herzogtum) 62, 173, 263 – Dominanz der Form 56
Lebiges 254 – Einschreiben in Novellistik 322
Leipzig 46 – Emanzipation von Rhetorik 55
Lesen 142, 257, 287–288, 291, 293, 320, 345, 347 – Entlyrisierung 87
Liberalismus 33, 51, 81, 377 – Erlebnis 70, 75
Liebe 42–43, 70, 74–76, 79, 85, 99, 108, 140, 144–145, 153, – Erlebnislyrik 41, 54–57, 61, 71, 77
155, 157, 159–160, 165, 171, 196, 261, 273, 288, 330 – expressionistische Lyrik 71
– als Gesinnung 294 – Gasel 57
– als Krankheit 238 – Gattungspoetik 305
– als sinnkonstituierender Faktor 41 – Gedankenlyrik 55
– als Stimmung 294 – Geringschätzung als Lyriker 283
– ›amor‹ 160 – klassizistische Formlyrik 41
– ›amour fou‹ 6, 177 – Krise lyrischen Sprechens 54
– Aufwertung personaler Liebe 335 – Liebeslyrik 74, 376
– ›caritas‹ 160, 172, 227 – Lyriktheorie 51, 54
– durch Schrift hergestellt 288 – moderne Lyrik 56, 75
– Frauenliebe 73 – Naturlyrik 61, 71
– gescheiterte Liebe 141 – Panegyrik 312
– Geschlechterliebe 85 – Phrase 61, 74
– in abstracto 74 – politische Lyrik 33, 74, 81–83, 374
– jenseits- und diesseitsorientiert 158 – realistische Lyrik 56
– kindliche Liebe 233 – Ritornell 71–72
– Liebe über den Tod 292 – romantische Lyrik 55–56, 61
– Liebesideal 78 – Stimmung 55–57
– Liebesreligion 76, 85, 160, 183, 217, 292 – Stimmungslyrik 61, 119–120
– mütterliche Liebe 336 – Trinklied 62–64
– ›natürliche‹ Liebe 160 – und Musik 41, 55
– personale Liebe 340 – und Naturlautlichkeit 41
– posthume Liebe 138 – Volkslied 57, 64, 121
– ›Profanation‹ der Liebe 292 – Vormärzlyrik 81–82
– romantische Liebe 159 – Vorrang des Dekorativen 322
– sakralisierte Liebe 153 – weltanschauliche Lyrik 84
– und bürgerliche Ehe 76 – zeitgenössische Lyrik 56, 62
Sachregister 413

M – Mündlichkeit, Oralität 252, 267, 273, 319, 345


Magie 99, 110–111, 175, 207, 218, 266 – Photographie 121, 316–317, 345
Malerei 171, 201–203, 345–346, 352 – Puppenspiel 179
Malmö – realistische Medialität 345
– Waffenstillstand von Malmö 35 – Schrift 203–204, 252, 267, 345, 347–348
Männerfiguren – Speichermedien 190, 203
– Arzt 155, 171, 228, 246–248, 329, 342, 354, 357–358, 360 – spektralen Medien 345
– Bestie 223 – Transmedialität 384
– Feuermann 104–105 – Transmission 346
– Juristen 177, 244–246, 274–275, 368 – Traum 116
– Kuchenesser 268 – und das Unheimliche 320
– Künstler 9, 61, 77, 133–134, 194, 339 – und Tod 346
– Richter 167–168, 368 – weibliche Medien 111
– Scharfrichter 269 – Zeitschrift vs. Buch 121
– Soldat 142, 230, 233, 242, 339 – Zeitschriften 122, 265, 307, 321, 332, 345, 386
– Tyrann 141, 224, 241 Medizin 117, 155, 207, 247, 316, 329, 337, 342, 354, 357–
Männlichkeit 186, 337, 343, 363 358, 360–361, 380
– ›male bonding‹ 94 – Anatomie 247
– Mann als Eroberer 79 Meer 34, 67–69, 81–82, 95, 155, 162–163, 175, 196, 198,
– Männerfreundschaft 233 244, 252–255, 261, 265, 300, 373, 389
– männliche Allmacht 94 – als semantisches Feld des Weiblichen 162, 256
– männliche Einheitssehnsucht 198 Melancholie 4, 78, 158, 176, 246, 261–262, 303, 333
– männliche Identität als Problem 337 Messer 140, 364
– männliche Kultur 170 Metaphysik 84, 87–88, 95, 109, 157, 247, 322, 376
– männliche Sozialisation 256 – Liebesmetaphysik 158
– männliches Erzählen 252, 335 – metaphysische Schuld 378
– Männlichkeitsrituale 133 – metaphysische Substanz der Literatur 375
– marginalisierte Männlichkeit 186 – politische Metaphysik 376
– ökonomischer Verfall 178 Militarismus 33, 35
– ›pater familias‹ 133 Misogynie 169
– Selbstverlust 79, 95, 134, 247, 335–336 Mittelalter 18, 99, 237, 292
– und Ehe 76 Möbel 127, 365
– unvollständige Männlichkeit 169 – Lehnstuhl 123
– Verschriftung als männlicher Akt 258 – Schrank 320
Märchen 5, 9–10, 20, 34, 40, 42, 46, 59, 79, 89–99, 101–106, – Stuhl 87
108–111, 127, 132, 160–161, 171–172, 197, 251, 263–264, – Teetisch 213
270–271, 317, 325, 339, 341, 372, 379, 383 Moderne, Modernität 77, 90, 107, 109, 115, 171–172, 219,
– als Experimentierfeld 90 224, 229, 254, 310, 317, 322, 335, 341–342, 364, 366, 389
– Kunstmärchen 89, 96, 98 – Lyrik 56
– nicht allegorisch 90 – modernes Ich 69
– nicht symbolisch 90 Monarchie 34, 37, 50
– realistisches Märchen 107 Mond 42, 56, 86, 131, 134, 146, 148–149, 157, 173, 318, 349
– romantisches Märchen 94, 109 Monismus 160
– zeitgenössische Märchen 89 Monstrosität 116, 171, 207, 223, 266, 349
Mathematik 251, 328–329 – als Störung konturierter Wirklichkeit 116
Matriarchat 169 – ›Bestia‹ 207
Maximilianorden für Kunst und Wissenschaft 309 – Ungestalt 116
Medialität 123, 179, 345–346, 348–349, 351–353 – Unwesen 350
– Bilder 188 – ›weißer Alp‹ 177
– das Medium als Ereignis 350 Moor 177, 206, 208
– Ekphrasis 319 Moral, Moralität 33, 59, 107–109, 115, 180, 184, 186, 197,
– Erinnerungsmedium 190 199–200, 213, 242, 246, 248, 271–273, 275, 327, 332, 368,
– Gesang 75 376
– Intermedialität 118, 202, 204, 318, 383, 385 – unmoralische Tendenzen 159
– Literatur 76 Mord 108, 183, 214–217, 237, 244, 246, 367
– Malerei 121, 319, 345 – Katermord 254
– Medialität der Geister 116 – Raubmord 30
– Medialität der Toten 268 Mörder 30, 108–109, 213–214
– Medienkonkurrenz 121 München 288, 307, 309
– Medium als Ereignis 352 Mund 42, 79, 116, 170, 177, 228, 261, 274, 294, 328, 357, 360
414 VI Anhang

Mündlichkeit, Oralität 42, 98, 130 – narrative Ambiguität 274


Musik 7, 10, 12–13, 20, 39–44, 55, 66, 77–78, 100, 112, 159, – Perspektive 11
175, 193, 218, 287, 296, 383, 388 – Perspektivwechsel 132
– als Chiffre einer neuen Ordnung 42 – Rahmenstruktur 104
– als Medium der Erinnerung 41 – Rahmung 318
– als Modell nicht entfremdeter Beziehung 41 – unzuverlässiger Erzähler 245, 364
– ambivalente Funktion der Musik 41 Narzissmus 76, 92–96, 169, 171, 256, 261, 294, 337, 380
– Geige 41, 77, 176, 351 Nationalismus 33, 35, 339, 354, 374–375, 377
– Gesang 3, 6, 9–10, 30, 39–40, 57, 291 Nationalliberalismus 35, 50, 81
– Hausmusik 39, 44 Nationalsozialismus 61, 377
– Klavier 6, 39, 42–44, 149, 193, 218, 274 – nationalsozialistische Rezeption Storms 377, 384–385,
– Konzert 6, 39, 41, 44, 193 387
– Musiktheorie 20 Natur 10, 55, 61–63, 69–73, 79, 137, 145, 158, 160, 170, 183,
– Naturlaut 42 198, 253, 255
– Oper 3, 22, 272 – als Bedrohung der Kultur 253–254
– Oratorium 36 – Bildlichkeit der Natur 79, 81
– Storms Vorbehalte gegen zeitgenössische Musik 43 – Entfremdung von der Natur 40
– und Erotik 42 – Geschichtlichkeit der Natur 231
– und Gewalt 42 – ideologisierte Natur 389
– und Lyrik 55, 61 – mütterlich konnotierte Natur 143
– Virtuosität 40 – natura naturans 40, 61
– Volkslied 39–42 – Naturbegriff 61
– Zither 40, 42 – Naturbilder 66
Mystik 76 – Naturgeist 59
Mythologie 196, 341 – Naturgewalt 387
– Akrisios 210 – Naturlaut 40–42, 55, 61, 74–75, 323
– Amor 196 – Psychologisierung 140
– Athene 170 – romantische Natur 79, 159
– Danaë 199, 210 – schöne Natur 61
– Demeter 134 – Sprache der Natur 69, 73
– germanische Mythologie 90 – unbeherrschbare Natur 254
– Herkules 93 – und Geist 98
– Ino (Leukothea) 196 – und Weiblichkeit 73
– Leda 200 – urbar gemachte Natur 218
– Nornen 270 Naturalismus 223, 236, 240, 245, 289, 305
– Ödipus 234 Naturwissenschaft 20, 40, 47, 61, 115, 160, 321, 340
– Pan 65–66 – Vererbung 328
– Perseus 210 Nebel 62, 67–71, 97, 177, 203, 215, 252
– Prometheus 87, 196 Nekromantie 267
– Psyche 196–197 Nichts 86, 88
– Pygmalion 169, 196 Niederdeutsch 2, 19, 23, 221, 263, 266, 298, 313, 319, 347
– Venus 197 – als Literatursprache 314
– Zeus 200 – plattdeutsche Lyrik 312–313
Mythos 44, 93, 177–178, 197, 341 – Storms Verhältnis zum Niederdeutschen 312
– Mythenbildung 255 Nordsee 66, 196, 250–251, 272
Norwegen
N – Literatur 37
Nacht 56, 59, 76–77, 79, 93–94, 117, 137–138, 148, 163–164, Novelle 339
177, 197, 202, 228, 231, 233, 240, 252, 260, 348 – als Schwester des Dramas 317, 367
– ewige Nacht (Tod) 86 – als strengste Form der Prosa-Dichtung 124, 305, 318, 321,
– Heilige Nacht 59 335
Narratologie 211, 269, 320 – aus der Lyrik erwachsen 41, 54, 120, 123, 137, 317, 322
– Auktorialität 40, 121, 221, 232, 245 – Chroniknovelle 35, 37, 206, 215, 231, 235, 237–238, 342,
– autodiegetischer Erzähler 179 345–348
– der Erzähler als Geist 117 – ›Falke‹ 305, 308
– eingeschränkte Erzählperspektive 177 – Form 316
– Elliptischer Erzählstil 137 – Formeffekt 318
– homodiegetischer Erzähler 245 – Kriminalnovelle 367
– metadiegetischer Erzähler 328 – ›Neuigkeit‹ 124
– Metalepse 91 – Novellenpoetik als Medienpoetik 119–120
Sachregister 415

– psychologische Novelle 231 – Immortellen 276


– Rahmennovelle 246, 316, 318–319, 321–322, 345, 348 – Lilien 134, 201, 203, 260, 276
– Resignationsnovelle 119 – Maiblumen 133
– romantische Novelle 231 – Muskathyazinthen 72
– Schicksalsnovelle 145 – Myrte 72
– Situationsnovelle 129 – Nelken 201
– und Spukerzählung 117 – Pappel 237–238
– ›unerhörte Begebenheit‹ 123–124, 145, 155, 180, 188, 374 – Rosen 13, 54, 78–79, 97–99, 152–153, 162, 176, 189
– Stiefmütterchen 188, 190
O – Tannen 59, 167
Objektivität 26, 177, 215 – Teichrosen 169, 207
Okkultismus 115, 247–248, 252 – Wasserlilie 131–132, 134, 346
– okkulte Wirksamkeit der Dinge 207 – Zypressen 71–72
Ökonomie 11, 101–103, 125, 166, 184, 211, 270, 289, 337, Phantasie 28, 60–61, 68, 74–75, 77, 84, 90, 127, 132, 230,
365, 380 247, 260, 265–266, 271, 294, 336, 348
– Aufmerksamkeitsökonomie 125 Phantasmen, Phantasmatik 76, 91, 135, 138, 153, 156, 169,
– bürgerliche Ökonomie als Sublimierung des Krieges 183 173, 197, 201, 229, 232, 260–261, 337, 339, 380
– Finanzökonomie 210 Phantastik 42, 89–90, 98, 105–107, 109–110, 138, 160, 199,
– Gebrauchswert 102 202, 204, 216, 224, 246–248, 254–255, 257, 291, 364, 385–
– ›homo oeconomicus‹ 209 386
– Kapital 177, 210, 226 Photographie 257, 303, 311
– Kapitalismus 365, 379, 389 Physik 186, 251
– monetäre Ökonomie 102 Pietismus 76, 328
– Tauschwert 101 Poetologie 44, 55–57, 63, 65, 74, 87–88, 91, 98, 100, 115,
– und Eros 209 119–123, 125, 132, 134, 141, 150, 156, 167–168, 178, 215,
– und Erzählen 91 231, 242, 255, 257, 267, 312, 316–317, 321–322, 335, 345,
– Waren 102, 210, 364 348, 352
Opfer 85, 170 – der Novelle 123
– Christusopfer 255 – Streitfragen im ›Rütli‹ 26
– Selbstopfer 211, 254, 257, 328, 385 Politik 6, 33, 62–63, 81, 99, 129, 273, 282, 300, 376
– Sohnesopfer 211 – Staatswesen 83
– weibliches Opfer 236 Portrait 9, 131, 152–153, 160, 188–190, 201–203, 215–216,
Orientalismus 57, 72, 79, 337 242, 281, 310, 318
Osnabrück 20 – als Zeitkapsel 364
Ostern 9, 34, 81–82, 131, 133, 157–158, 210–211 Potsdam 7–8, 10, 23–26, 30, 35, 51, 66, 82, 97, 113, 119, 140,
Österreich 10, 82 144, 146, 148, 295, 297–299, 339, 367, 376, 379
Ostsee 13, 153, 162 Prager Frieden 37
Preußen 7–8, 10–11, 21–24, 28–31, 33, 35, 37, 63, 82, 159,
P 183, 265, 295, 297, 356, 377
Paradies 99, 167, 260 – Kritik 36
– der Kindheit 169 – Obrigkeitsstaat 36
– Sündenfall 146, 180 – preußische Herrschaft in Schleswig-Holstein 10–11, 36,
Paris 360 269, 300
Parusie 227 – Sieg über Dänemark 300
Patriarchat 37, 132, 135, 141, 169–170, 174, 186, 188, 270– Protestantismus 157
271, 338–340, 342 Provinzialisierung 373
›Patriotischer Hülfsverein‹ 7, 35 Psychoanalyse 91–92, 101, 161, 164–165, 173, 178, 188, 194,
Patriotismus 33, 37, 339 216, 336, 379–380
Pflanzen 73, 87, 182, 260 Puppen 179–180, 316
– Äpfel 8, 59, 146, 363 – als ambige Objekte 180
– Bäume 40
– Blumen 73, 82, 86, 97, 137, 276 R
– Blüten 56, 72, 86, 134, 339 Rantrum 177
– Buche 142 Rasse 169–170, 340, 387
– Buchsbaumrabatten 353 Rationalität 105, 144, 160, 178, 206, 226, 247, 252–256, 258,
– Eichen 231–232 341, 364
– Erdbeeren 121, 131, 133 Räume
– Frucht 56, 72, 133, 159, 176 – Exklave 176
– Geißblatt 261 – Heterotopie 41, 198
– Hyazinthen 42, 76–77 – ›hortus conclusus‹ 99
416 VI Anhang

– ›locus amoenus‹ 65, 146, 193, 260 – Motivik 75


– ›locus terribilis‹ 260 – Naturphilosophie 117
– Möglichkeitsraum 138 – Naturvorstellung 79
– musealer Raum 388 – romantische Kindheit 59, 92
– mütterlicher Bezirk 134 – romantische Musik 39
– Naturraum 105–106, 121, 341 – Spätromantik 64
– Peripherie 175 – Spukgeschichte 115
– Raum des Erinnerns 130 – Überwindung der Romantik 373
– Räume des Spuks 117 Ruin 244
– Raumwechsel 162 Russland
– religiöse Bildräume 123 – Literatur 19
– Salon 155 ›Rütli‹ 8–9, 21–22, 24–26, 146, 297–299, 307
– Schreibraum 289
– Utopie 40–41, 161, 175–176, 183 S
Raumsemantik 155, 165, 221, 226, 275, 336, 390 Sage 5, 20, 90, 93, 251, 263, 319, 372
Realismus 10–11, 46, 87, 89–90, 92, 96, 98, 104–107, 118– Säkularisierung 59–60, 144, 157, 166–167, 386
119, 123, 125, 130, 132, 150, 159, 171–172, 176, 179–180, Salzburg 307
194, 197, 203, 223, 228–229, 242, 248, 253–255, 257, 260, Sarg 56, 86, 117, 129, 138, 140–141, 267–268
268, 287, 289, 292, 316–318, 320–322, 345–346, 350–353, – der Geigenkasten als Sarg 41
363, 365, 384 Satire 25
– gattungstheoretische Ansprüche 150 Schatten 78, 85, 116, 129, 140, 207, 241, 268, 317, 322
– Lyrik 56 Schatz 101
– Märchen 89 Schauder 282
Recht 247, 367–368 Schauer 116, 148, 150, 321
– bürgerliches Recht 212 Schicksal 41, 109, 124, 211, 214, 233–235, 270, 326, 329,
– dänisches Recht 28–29 369, 374
– Diskursivierung von Recht 368 – Schicksalsfaden 133
– Jütsches Lov 29, 270 Schiff 200, 226, 235, 244, 275
– Lübsches Recht 29 Schlaf 76, 95, 190, 242, 294, 355
– Naturrecht 28 – und Tod 76
– preußisches Rechtssystem 8 Schleswig (Herzogtum) 2, 6, 29, 31, 35, 37, 50, 62, 81, 165,
– Rechtsgeschichte 28 265, 273, 290
– Römisches Recht 28–29 Schleswig (Stadt) 6, 11, 31
– Ungültigkeit des Rechts 109 – Osterschlacht bei Schleswig 81
Regression 76, 134, 143, 258, 270, 341, 374, 378 Schleswig-Holstein 32, 295
Relief 244 – Geschichte 20
Religion, Religionskritik 9, 84, 160, 207, 258, 292 – Provisorische Regierung 34–35, 50, 62
– Erlösungsvorstellung 59 – Sagen 20, 263
– lebensfeindliche Religion 157, 201 – Schleswig-Holstein-Lied 81
– sinnenfeindliche Religion 204 – Schleswig-Holsteinische Erhebung 21, 23, 34, 50, 99, 142,
– Zweifel an Allmacht Gottes 358 145, 290
Rendsburg 2, 6–7, 49–50, 273, 310 – schleswig-holsteinischer Patriotismus 5, 36
– Eroberung Rendsburgs 272 Schönes 70, 98, 150, 153, 169, 388
Republikanismus 50 – Idee des Schönen 61
Resignation 36, 86, 144–145, 155, 166–167, 194, 374 – kein Ding 61
Revolution Schönheit 10, 66, 69, 72, 87, 98, 110, 122, 152–153, 174–
– Französische Revolution 297 175, 177, 211, 238, 274, 332, 350
– von 1848 33, 38, 50–51, 113, 129, 145, 297, 316 – exotische Schönheit 275
Rezeption Storms 25, 77, 143, 172, 300, 371–372, 374, 377– – sinnliche Schönheit 66
379 – und Zuchtwahl 332
Rhetorik 74, 345, 363 Schreiben 257, 281–282, 293, 319
Ring 85, 169, 210–211, 226, 386 Schreibfeder 140
Rokoko 74, 220, 262 Schrift 369
Roman 305 Schuld 108–109, 119, 122, 125, 163, 202–204, 219, 223–224,
Romantik 5, 13, 18–19, 37, 55, 67, 76, 90–91, 95, 98–99, 228, 236, 241, 254, 256, 272, 293, 325, 329–331, 335, 342,
105–106, 109, 115, 121, 132, 134–135, 138, 157, 160, 175– 347, 364, 368–370
176, 180, 194, 197, 219, 233, 241, 247–248, 255, 319, 335, – ›culpa patris‹ 347, 364
337, 340, 364–365, 372–373, 377 – juristische Schuld 30
– Lyrik 56, 61, 66 Schulden 5, 12, 28, 125, 173, 177, 209, 213
– Märchen 89–92, 94, 98, 106 Schwäbisch 308
Sachregister 417

Schweden – Runenstein 228


– Literatur 19 – Stein der Weisen 97–98
Schweigen, Verstummen 5, 41, 44, 54–55, 68–69, 71, 105, Stelle 215, 229, 348–350, 352
120–121, 132, 134, 138, 168, 193–194, 213, 216, 220, 228– – der Blick der Stelle 350
229, 310, 342, 346 – leere Stelle 71, 228
– als zentrales Merkmal von Storms Prosa 120 – schlimme Stelle 116
– Schweigegeld 102 Sterbehilfe 246–247, 358–359
– Verstummen des Dichters 87 Stimme, Stimmen 44, 67–70, 162, 171, 242, 276, 293
Schweiz 20, 360 – Stimmverlust 219
Seefahrt 226 – tote Stimmen 267
Seele – Verständlichkeit 69
– des Gedichts 61 – weibliche Stimme 338
– die Seele zwischen den Worten 66 Stimmung 11, 55–56, 61, 67, 71, 75, 122, 165, 167–168, 177,
Segeberg 6, 257, 290–294, 368 182, 255
Selbstmord 44, 162, 172, 177, 193, 228, 233–235, 237, 245, – als ästhetische Kategorie 56
274, 283, 326, 331–332, 342, 355–356, 367 Strand 67, 162–164, 275
Selbstmörder 158, 196, 355–356 Strumpfbänder 293
Sentimentalität 63, 71, 156, 194, 374 Sturm 177–178, 275, 349
– ›sentimentales Revolutionsspektakel‹ 376 – Sturmflut 125, 209, 211, 250–252, 254–255, 328, 356
– sentimentalischer Reiz 76 Sturm und Drang
Sexualität 76, 162, 173, 178, 238, 262, 332 – Musikkonzept 40
– Ambivalenz des Sexus 79 Stuttgart 8, 44, 172, 233, 283–284, 310
– genitale Sexualität 164 Subjektivität 26, 61, 68, 72, 84, 106, 150, 202, 287, 335
– Keuschheit 238, 261 Süderoog 175
– Kontrolle weiblicher Sexualität 210 Sünde 146, 235, 326
– Mutterschaft ohne Sexualität 189 – Sünden der Vorväter 328
– Sexualangst 140–141 Sylt 13, 274–276
– sexuelle Ausschweifung 357
– sexuelle Hemmung 164 T
– sexuelle Normierung 363 Tabak 156, 355
– sexuelle Störungen 172 Tabu, Tabuisierung 228, 290, 363
– sexuelles Begehren 233 Tanz 31, 77, 149, 162–163, 210, 294, 375, 385
– und Gefahr 75 Taufe 95, 129, 216
– und Gewalt 363–364 Technik 38, 61
– und Tötungswunsch 140 Teufel 37, 97–98, 100, 141, 207–208, 210, 255, 265–266, 269,
– und Wasser 162 328
– Unfruchtbarkeit 385 Theater 4–5, 8, 19, 22, 307
Skandinavien 37 Theologie 206, 328–329, 380
– Literatur 19 – Anti-Theologie 258
Skulptur 169, 196 Tiefe 10, 68–69, 77, 84–85, 106, 134, 157, 173, 203, 213, 216,
Somnambulismus 189 221, 228, 234, 267, 271, 319, 341, 378
Sonne 56, 64, 95, 97, 110, 141, 161, 252, 283, 347, 353 – innere Tiefe 69
– Sonnenuntergang 348 – poetologisch 69
Sozialdemokratie 38, 227 Tiere 37, 65, 95, 102, 170, 207–208, 260–261, 266
Sozialismus 37–38 – Bären 93
Sozialkritik 138, 160, 180, 213, 236, 275, 379 – Bienen 64–65, 134
Soziologie 38 – Bullen 178
Spanische Literatur 19 – Dompfaff 244–245
Spekulation 209–211, 332, 367 – Drossel 42, 276
Spiegel, Spiegelung 47, 60, 68–69, 75, 89–91, 106, 108–111, – Eidechsen 161
133, 171, 190, 197, 207, 261, 270, 288, 291, 294, 319, 337, – Elstern 207–208
341 – Falken 40, 183
Spiritismus 247, 321 – Gans 31
Spuk 92, 112–113, 115–117, 127, 169, 178, 255, 268, 299, – Geflügel 68–69
319–320, 353, 376, 384–385 – Geier 86–87
– Erinnern als Spuk 257 – Grillen 267
– Erzählen als Spuk 268 – Hänfling 133
– Spukgeschichten 115–116, 232, 251, 351 – Hasen 266–267
Stein 93, 97 – Hühner 230
– ›böser‹ Stein 94 – Hunde 178, 182–183, 206, 252, 327, 349
418 VI Anhang

– Hyänen 261 – Verdrängung des Todes 221


– Insekten 140–141, 228, 276, 357 Ton 40, 68–69, 89, 118, 319, 347
– Käfer 20, 64–65 Tote 86, 116, 138, 162, 188–191, 202–203, 267–268
– Kanarienvogel 131, 133 – als Medien 268
– Kater 327 – Gemeinschaft der Toten 266
– Katzen 48, 101–102, 178, 185, 264–265, 267 – Kriegstote 82
– Kauz 42 – lebende Tote 189, 254, 320
– Kuckuck 217 – Leichen 87, 117, 163, 173, 177, 201–202, 237–238, 248
– Lerchen 64–65, 81 – Liebe zu Toten 137
– Libellen 218 – Verhandlung mit den Toten 269
– Marder 146 – Welt der Toten 70
– Mäuse 101, 207 – Wiederkehr der Toten 376
– Möwen 68–69, 81, 175 Totenschädel 201, 267, 363
– Nachtigall 39, 42, 79 Totschlag 240, 367
– Neuntöter 276 Tragik 44, 203, 209, 218, 223, 234, 238, 241, 256, 272–273,
– Papagei 221 276, 283, 335, 369, 373, 378, 385, 387
– Pferd 163–164, 206, 208, 231, 252, 255, 349–350 – ›absolute Tragik‹ 378
– Raben 97–99 – ›germanische‹ Tragik 378
– Ratten 207, 265 – Storms Novellistik als untragisches Erzählen 374
– Raubtiere 199, 261 Tragödie 234
– Raupe 146 Transzendenz 71, 85, 247, 255
– Schimmel 112, 252, 385 – leere Transzendenz 71
– Schlange 146, 178, 339 – Verzicht auf Transzendenz 66
– Schmetterlinge 86, 156, 161 Traum, Träume 60, 68–69, 101, 113, 116–117, 158, 160, 163,
– Schwalben 174 188, 199, 242, 246–247, 251, 260, 268, 369
– Schwan 200 – koinzidierende Träume 116
– Sperling 122, 175 Triebverzicht 209
– Stier 217 Tübingen 283
– Tauben 338 ›Tunnel über der Spree‹ 21–22, 46, 216
– Vögel 64–65, 67, 69, 208, 221, 244–245, 261
– Wandergans 67 U
– Wanzen 272 Uhren 30, 56, 64–65, 101, 127–128, 304, 323, 352, 363, 365
– Werwölfe 116 Unbewusstes 77, 248
– Wölfe 108, 110, 116, 178, 230–232, 349 Ungarische Sagen 20
– Würmer 345 Unheimliches 70–71, 119, 165, 167, 173, 180, 216, 226, 240,
Tod 10, 31, 42, 56, 71, 73, 78, 84, 86–88, 98–99, 108, 110, 247, 254–255, 257–258, 266, 316, 318–321, 345–346, 349–
114, 124, 128, 130, 134, 137–138, 144, 149, 157–160, 162– 353
164, 168, 174, 180, 183, 188, 190–191, 193, 201–204, 207, Unschuld 75, 99, 134, 163, 180, 197, 260–261, 370
214, 226, 238, 244, 247–248, 250, 253, 266–267, 276, 284, Unsterblichkeit 86, 88, 247, 319
286, 293, 320, 322, 326, 335, 346, 351–352, 357, 363 – der Kunst 320
– als absoluter Niemand 351 – in der Kunst 320
– als ausgesetzte Zeit 351 Untotes 346
– als Ewigkeit 86
– als Fixativ 138 V
– als Grenze des Realismus 87 Vanitas 110
– als Selbstverlust 95 Varel 12
– als unmögliches Sujet 346 Venedig 131
– Ansteckung mit dem Tod 269 Verbrechen 182, 240, 367
– ästhetische Überwindung 320 Verdrängtes 143, 248, 268
– auferstehungsloser Tod 211 Vererbung 119, 125, 204, 211, 230, 236, 325, 328–333, 355,
– Erzählen vom Tode her 269 357, 378
– im Kindbett 223, 230, 274, 327, 354, 356 Vergänglichkeit 149
– medizinische Ausrichtung auf den Tod 248 Vergewaltigung 216, 235
– poetische Bewältigung des Todes 87 Vertonungen 39
– Sein zum Tode 71 Vision 110, 117, 231, 247
– Spuk als Schwelle zum Tod 117 Volkslied 74, 131, 153, 233, 245, 319
– Tod durch Ertrinken 148, 202, 209, 235, 252, 330, 340 Vorhersage 110, 149, 326
– Tod im Kindbett 244 Vormärz 81–82
– und Schlaf 76 Vormund, Kurator 326, 330–331
– Unsprachlichkeit 322 – Mündel 125, 148, 325
Sachregister 419

W – des Meeres 254


Wahrnehmung 61, 68, 70, 84, 116, 141, 206–207, 252, 257, – Wilde 169
321–322, 345, 347, 349–353, 364, 380 – wilde Kraft 241
– als Ereignis 351 Wirklichkeitseffekt 119, 122–123, 168, 231, 322, 353
– anstelle der Erinnerung 349 Wissen, Epistemologie 115–116, 246–247, 257, 345, 360,
– diabolisch verfremdete Wahrnehmung 207 370
– einer anderen Zeit 319 – an Toten gewonnenes Wissen 361
Wald 59, 67, 93, 95, 108, 131, 133, 142, 161, 167, 218, 228, – ›anderes‹ Wissen 116
232–233 – Geisterwissen als Schwellenwissen 116
Wasser 68–69, 105–106, 133–134, 148–149, 157, 162–163, – Geschlechterwissen 342
169, 197–198, 207, 216, 234–235, 340, 345, 357 – verborgenes Wissen 270
– und Geschlecht 337 Wohnzimmer 59, 122, 155, 211
Watt 68–69, 250, 350 Wunderbares 216
Weiblichkeit 162–163, 169–170, 337
– als Differenzmarkierung 337 Z
– als Gegendiskurs 337 Zähne 168, 178
– als widerständige Chiffre gegen männlichen Herrschafts- Zeichen 81, 99, 117, 133, 140, 150, 168, 202, 204, 211, 228,
diskurs 337 231, 245, 268, 364–365, 370, 383, 388–390
– bürgerliche Weiblichkeit 78 – ›böse‹ Zeichen 121
– faschistisches Frauenbild 388 – Erinnerungszeichen 364
– ›gute Mutter‹ 261 – teuflische Zeichen 207
– Kreatürlich-Weibliches 343 – Vorzeichen 208, 226, 238, 339
– latente Weiblichkeit 162 Zeitlichkeit 8, 10, 49, 127, 157, 159, 176, 233, 260, 263, 276,
– Mutterschaft 188 304, 346, 349, 363
– Mutterschaft (kathartisch) 190 – Achronie 201
– Normierung 340 – ›alte‹ Zeit 230, 268, 345
– phantastische Weiblichkeit 106 – ›andere‹ Zeit 346, 349
– Selbstverwirklichung 199 – Archaik 276
– Stereotype 110 – ›aufgeregte‹ Zeit 64, 66, 323
– tierhafte Weiblichkeit 178 – außerzeitliche Phänomene 117
– und Natur 73, 79 – Heterochronie 345, 348–349
– und Tod 335 – Hierarchisierung von Zeitebenen 318
– und Wasser 106 – individuelle Lebenszeit 127
– Verderbtheit der weibl. Natur 184 – Latenz und Wiederkehr 345
– verlorene Weiblichkeit 105 – lineare Zeitlichkeit 347–348
– ›versagende Mutter‹ 261 – mechanische Zeit 127
– weibliche Caritas 110 – Mode 129
– weibliche Erotik 178 – selige Zeit 70
– weibliche Krankheit 337 – Zeit des Leserkontakts 121
– weibliche Räume 106 – Zeit des Spuks 116–117
– weibliche Rede 270 – Zeitliche Macht 78
– weibliche Selbstfindung 106 – Zeitlosigkeit 65, 76
– weibliche Sexualität 91, 164, 237–238, 338 – Zeitsprung 319, 346, 348–349
– weibliche Stimmen 40 Zeitschriften, Zeitungen
– weiblicher Machtwille 110 – ›Argo‹ 18, 22–24, 46, 82, 140, 142, 146, 148, 152, 297–299,
– weibliches Erzählen 98, 258, 270, 335, 340 310
Weihnachten 5, 13, 59–60, 75, 94, 127–128, 131, 133, 165, – ›Blätter für literarische Unterhaltung‹ 55
167, 263, 293 – ›Daheim‹ 300
Weimar 13 – ›Danziger Dampfboot‹ 250
Weimarer Republik – ›Der Bazar‹ 47, 89, 108, 114
– Storm-Rezeption 389 – ›Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft‹ 47, 177,
Wein 62–63 185, 265
Westermühlen 2 – ›Deutsche Dichtung‹ 240
Wetter 55 – ›Deutsche Jugend‹ 47, 179
– Dürre 104 – ›Deutsche Rundschau‹ 11, 18, 46, 48, 50, 182, 194, 201,
– Regen 104 206, 215, 220, 228, 235, 244, 250, 303–304, 308, 311, 332
Wien 173, 360 – ›Deutscher Novellenschatz‹ 124, 307–308
Wildheit 79, 95, 99 – ›Deutsches Kunstblatt‹ 24
– der Frau 238 – ›Deutsches Künstler-Album‹ 47, 173
– der Natur 254 – ›Deutsches Museum‹ 24
420 VI Anhang

– ›Die Gartenlaube‹ 46–47, 82, 122–123, 159, 296 – ›Norddeutsche Presse‹ 35


– ›Die Grenzboten‹ 316 – ›Plattdütscher Husfründ‹ 313
– ›Ditmarser und Eiderstedter Bote‹ 49 – ›Revue Germanique‹ 380
– ›Europa‹ 78 – ›Schlesische Zeitung‹ 97
– ›Hamburger Nachrichten‹ 201 – ›Schleswig-Holsteinische Zeitung‹ 7, 35, 49–50, 82
– ›Husumer fliegende Blätter‹ 35 – ›Über Land und Meer‹ 47, 155
– ›Husumer Wochenblatt‹ 29, 49 – ›Victoria‹ 47, 114–115
– ›Itzehoer Nachrichten‹ 49 – ›Volksbuch für die Herzogthümer Schleswig, Holstein
– ›Kieler Nachrichten‹ 201 und Lauenburg‹ 34, 46, 89, 94, 97, 120, 127, 129, 131, 173,
– ›Kieler Zeitung‹ 49 263–264, 270, 291
– ›Kladderadatsch‹ 25, 297 – ›Vom Fels zum Meer‹ 47, 233
– ›Königlich Privilegiertes Wochenblatt‹ 2–3, 6 – ›Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte‹ 11, 18,
– ›Leipziger Illustrirte Zeitung‹ 47, 89, 101, 104, 108, 165, 46–47, 50, 118, 122, 124, 169, 171, 175, 188, 193, 199, 213,
167 223, 226, 230, 237, 246, 265, 274, 284, 300, 311, 332
– ›Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Zensur 108, 159, 182
Auslandes‹ 250 Ziganismus 273, 325, 338, 387
– ›Literatur-Blatt des Deutschen Kunstblattes‹ 8, 24, 49, 51, Zorn 215, 226, 230, 326–328, 331–332, 355
298 Zukunft 12, 42, 78, 85, 110, 168, 173, 191, 216
– ›Neue Monatshefte für Dichtkunst und Kritik‹ 70 – der Geschlechter 125
– ›Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung‹ 300 – politische Zukunft 283
– ›Neue Rundschau‹ 196 Zürich 303

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