Sie sind auf Seite 1von 492

EIII

11
Hans-Georg Gadamer

Gesammelte Werke

Band 9
Hans-Georg Gadamer

Ästhetik und Poetik


II

Hermeneutik im Vollzug

J. c. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1993


Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Gadamer, Hans-Georg:
Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Tübingen:
Mohr.
NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung]
Bd. 9. Asthetik und Poetik. -2. Hermeneutik im Vollzug. -1993
ISBN 3-16-146065-0

© 1993 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.


Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außcrhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver-
lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, übersetzun-
gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, auf
alterungs beständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Gebr. Buhl in Etdingen gedruckt
und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden.
Vorwort

Der vorliegende Band trägt den Titel )Hermeneutik im Vollzuge. Hier wird
also nicht Literatur als ein Gegenstand zum Thema gemacht, wie etwa der
Forscher seine Beispiele oder Belege unter einer bestimmten Fragestellung
und mit dem ganzen Aufgebot wissenschafdicher Zurüstung behandelt.
Hier ist meine Absicht allein, dem Vollzug zu dienen, durch den Dichtung
zum Partner eines nachdenklichen Gesprächs zu werden vermag. Was das
meint und warum das nottut, bedarf selbstverständlich philosophischer
Rechtfertigung. Meine theoretischen Versuche hierzu werden im 8. Band
meiner Gesammelten Werke vorgelegt. In diesem 9. Band soll die Stimme
der Wissenschaft nicht als solche sprechen.
Damit will· ich nicht sagen, daß es nicht für jeden Leser von Dichtung
des Wissens bedarf, des sprachlichen wie des sachlichen Wissens. Das gilt
vollends für einen Leser, der wie ich davon überzeugt ist, daß zwischen
der Sprache der Dichtung und der Sprachfindung des philosophischen Ge-
dankens eigentümliche Fäden hin und her laufen. An Dichtung teilhaben
bleibt aber etwas anderes als Dichtung zum Gegenstand wissenschaftlicher
Forschung machen. So ist der Titel )Hermeneutik im Vollzuge zu verste-
hen.
Erst seit ich den Versuch einer hermeneutischen Philosophie in Arbeit
genommen hatte, begann ich gelegentlich meinen eigenen Umgang mit
Dichtung schriftlich zu fixieren. Die äußeren Anlässe dazu boten die aufrei-
benden Jahre, in denen ich nach dem Kriege als Rektor der Universität
Leipzig die Erfahrung machen mußte, daß auch freie Wochenenden keine
kontinuierliche Weiterarbeit an meiner philosophischen Arbeit erlaubten.
Als Liebhaber der Dichtung kam ich in dieser Zeit darauf, die Erfahrung
eines besinnlichen Lesers von dichterischem Wort anderen zugute kommen
zu lassen, auch wenn dieser Leser eigentlich nichts anderes will als recht lesen
und sich allenfalls noch Gedanken darüber machen, warum er eigentlich
dem Wort der Dichtung so anhängt. So entstanden die ersten Sammlungen
meiner literarischen Essays, wie ich solche nie zuvor geschrieben hatte. Im
Insel-Verlag wurden sie erstmals unter dem Titel )Poeticae und später in
erweiterter Form unter dem Titel )Gedicht und Gespräch< vorgelegt. Andere
finden sich in dem zweiten Band meiner Kleinen Schriften, der den Titel
)Interpretationene trug.
VI Vorwort

All das ist jetzt in diesem Bande meiner Gesammelten Werke vereinigt.
Dazu gehört auch mein kleines Buch über Paul Celans >Atemkristall(, das in
der Bibliothek Suhrkamp den Titel )Wer bin Ich und wer bist Du?( trägt.
Dies Büchlein enthält einen Leseversuch von besonders schwer verständli-
cher Dichtung. Durch sie sieht sich der Leser vor die unausweichliche Frage
gestellt: Was muß der Leser wissen? Auf diese Frage kennt die Wissenschaft
keine Antwort. Sie folgt ihrem eig~en Gesetz. Ohne Frage wird bei einem
solchen besonders schwer verständlichen Text jeder Leser immer wieder an
Lücken seines Wissens kommen, und auch ich mußte der literaturwissen-
schaftlichen Forschung viele Aufgaben überlassen. Dennoch verteidigt hier
ein Leser seine eigene Hoheit, wenn es ihm nicht um Wissenschaft geht,
sondern um Teilhabe an Dichtung. Auch diese folgt ihrem eigenen Gesetz.

HGG
Inhalt

1. Hölderlin und die Antike (1943)

2. Hölderlin und das Zukünftige (1947) 20

3. Die Gegenwärtigkeit Hälderlins (1983) 39

4. Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken<


(1987) 42

5. Goethe und die Philosophie (1947) 56

6. Goethe und die sittliche Welt (1949) 72

7. Vom geistigen Laufdes Menschen (1949) 80

8. Goetheund Mozart-das Problem Oper (1991) 112

9. Das Türmerlied in Goethes ,Faust, (1982) 122

10. Die Natürlichkeit von Goethes Sprache (1985) 128

11. Bach und Weimar (1946) 142

12. Prometheus und dieTragödie der Kultur (1946) 150

13. Der Gott des innersten Gefühls (1961) 162

14. Vergänglichkeit (1991) 171

15. Kar! [mmermanns ,Chiliastische Sonette< (1949) 180


VIII Inhalt

16. Zu Immermanns Epigonen-Roman (1964) 193

17. GesangWeylas (1989) 207

18. Der Dichter Stefan George (1968) 211

19. Hölderlin und George (1971) 229

20. Ich und du die sei be seele (1977) 245

21. Der Vers und das Ganze (1979) 249

22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983) 258

23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (1955) 271

24. Poesie und Interpunktion (1961) 282

25. Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien (1967) 289

26. Rainer Maria Rilke nach 50 Jahren (1976) 306

27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung 11 (1966) 320

28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr (1971) 323

29. Die Höhe erreichen (1988) 329

30. Gedicht und Gespräch (1988) 335

31. Ernst Meister, Gedenken V (19n) 347

32. Denken im Gedicht (1990) 349


Inhalt IX

33. Kafka und Kramm (1991) 353

34. Verstummen die Dichter? (1970) 362

35. Im Schatten des Nihilismus (1990) 367

36. Wer bin Ich und wer bist Du? (1986) 383

37. Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan (1975) 452

38. Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? (1991) 461

Bibliographische Nachweise 470

Namenregister 477
1. Hölderlin und die Antike
(1943)

Es ist die Auszeichnung der Antike in ihrer Wirkung auf die deutsche
Kultur, daß sie mit dem Wandel unserer geistigen Geschicke auf geheimnis-
volle Weise Schritt zu halten vermag. Wandelt sich sonst mit dem wechseln-
den Geiste der Zeit unser Geschichtsbild und die innere Wertordnung, die es
setzt,so behält die Antike für unser geistiges Leben in beständiger Verwand-
lung dennoch den gleichen Rang einer uns übertreffenden Möglichkeit
unsrer selbst. Es gibt heute wohl keine schärfere Probe auf die Wahrheit
dieses Satzes, als die Frage nach dem Verhältnis Hälderlins zur Antike zu
stellen. Denn es ist ein wahrhaftes, noch nicht abgeschlossenes Ereignis
unseres geistigen Lebens, das mit der Erweckung des dichterischen Werkes
Hölderlins in unserem Jahrhundert begann. Dieser Zeitgenosse Schillers
und Goethes erweist sich immer mehr als der Zeitgenosse unserer eigenen
Zukunft, dem insbesondere unsere Jugend, soweit sie Dichterwort zu hören
weiß, mit leidenschaftlicher Vorbehaltlosigkeit folgt - ein schlechterdings
einzigartiger Vorgang in der geistigen Geschichte der Neuzeit. Es ist die
Geschichte eines um ein Jahrhundert aufgesparten Werkes. Schien schon der
Wandel des Griechenbildes von Winckelmann bis zu Nietzsche die äußerste
Spannweite des griechischen Wesens auszumessen - kein Zweifel, daß nach
dem humanistischen und dem politischen Griechenbild unser Bild der Anti-
ke durch das Eindringen in die Welt Hölderlins erneut umgestal tet wird. Die
Götter Griechenlands bekommen ein neues Gewicht.
Ihre eigentliche Zuspitzung hat aber die Frage )Hölderlin und die Antike<
darin, daß die dichterische Existenz Hälderlins mit einer Ausschließlichkeit,
die ihn auch im Zeitalter des deutschen Klassizismus auszeichnet, von sei-
nem Verhältnis zur Antike bestimmt ist. Sein dichterisches Werk so gut wie
seine kunsttheoretischen Reflexionen sind als Ganzes gleichermaßen Stellen
und schicksalvolles Austragen dieser Frage. Es ist also nicht ein beliebiger
Bezug, einer unter anderen, so wie im Falle Goethes oder Schillers oder
Kleists oder Jean Pauls, wenn man Hälderlins Bezug zur Antike untersucht.
Man fragt damit nach dem Grunde seines Wesens und dem Ganzen seines
Werks. Daher bliebe auch eine lediglich literarästhetische Untersuchung
unangemessen, die dem Einfluß der antiken Dichter und Denker auf Höl-
2 Hölderlin und die Antike

~erlin, auf sein Weltbild, seine Dichtersprache, seinen Stil, seine Stoffwelt
nachginge. Gewiß ist Pindars Hymnendichtung eine wesentliche Vorausset-
zung der späten Hymnendichtung Hölderlins, ebenso wie der dauernde
Umgang mit der antiken Tragödie wesentlich ist für sein ganzes eigenes
Werk. Dennoch aber ist Hölderlins Dichtung nicht von dem aus zu begrei-
fen, was als antike Bildungsüberlieferung auf ihn einwirkt. Eben das zeich-
net ihn vor dem klassischen Weimar aus, daß ihm die antike Welt nicht als
Bildungsstoff, sondern mit der Gewalt eines ausschließlichen Anspruchs
begegnet. Zwischen Griechischem und Vaterländischem, zwischen, den an-
tiken Göttern und Christus als dem Meister des hesperisch-germanischen
Zeitalters besteht das standhafte Herz des Dichters Hölderlin.
Es ist eine heutige Denkgewohnheit, uns übertreffende Spannweiten
geistigen Seins in Phasen geistiger Entwicklung zu verkehren, die als solche
unserm Verstehen erreichbar werden. Es muß daher als ein großes Glück
bezeichnet werden, daß der Schöpfer der ersten großen Ausgabe, Norbert
von Hellingrath, bereits der Auffassung entgegengetreten ist, die die vater-
ländischen Gesänge Hölderlins als eine Abkehr vom griechischen Vorbild
verstehen wollte, als eine »hesperische Wendung«, die der Abkehr der
deutschen Romantik vom klassizistischen Ideal ent~prächel. Hellingrath hat
damit dem dichterischen Wesen Hölderlins seine wahre Spannweite erhalten
- oder besser, er hat die Spannung zwischen Hellenischem und Vaterländi-
schem als Ausdruck von Hölderlins eigenstern Wesen erkannt und als das
Geheimnis seiner antik anmutenden Größe. Es wird daher angemessen sein,
den Blick auf den eigentlichen Höhepunkt dieser Spannung zu lenken, auf
die große Hymnendichtung der letzten Schaffensjahre des Dichters. Den
Berichten nach scheint Hölderlin noch in den erstenjahren der Umnachtung
unter der Gewalt dieser Spannung nachzuzittern. Der Hyperion-Roman
umgekehrt, der ganz in Griechenland spielt, spiegelt die vaterländische
Sehnsucht des Dichters in fremdem Gewande und in der fruchtbaren Ver-
kehrung, die in der großen Scheltrede auf die Deutschen Gestalt gewonnen
hat. Im großen Hymnenwerk der Spätzeit dagegen findet diese Spannung
ihren dichterischen Ausdruck und im ständig erneuerten Versuch der dichte-
rischen Verschmelzung aller lebendig erfahrenen Gewalten ihren Ausgleich.
Innerhalb dieses dichterischen Spätwerks ist eine Hymne geradezu die
Ausgestaltung dieses Zwiespalts, die Hymne .Der Einzige(:Z.

IIn der Vorrede des von ihm besorgten vierten Bandes seiner Ausgabe, S. XII.
2Mir lag bei Abfassung dieses Beitrages im Jahre 1943 nur die HEu.INGRATHsche
Ausgabe vor, nach deren erster Auflage im folgenden zitiert wird (inzwischen ist stets die
Große Stuttgarter Ausgabe von BElssNER zu vergleichen). Sowohl die spätere Entdeckung
der .Friedensfeier. wie die dreifache Version der Ausführung des >Einzigen< waren nur in
der Hellingrathschen Materialsammlung teilhaft enthalten. Mittlerweile sind diese Dinge
viel untersucht worden. Man kann wohl kaum sagen, daß das Interesse an dieser Gruppe
Hölderlin und die Antike 3
Was ist es, das
An die alten seligen Küsten
Mich fesselt, daß ich mehr noch
Sie liebe, als mein Vaterland?
[... )

Wenn wir diese sogenannte Christushymne hören, so stellt sie uns offenbar
ein Rätsel: Nicht die übermäßige Liebe zu den alten Göttern, die der Dichter
eingangs bekennt (und dieses Bekenntnis wiederholt er in zahlreichen ande-
ren seiner Gedichte), ist die Ursache des Fernbleibens Christi, sondern im
Gegenteil: Schuld ist die übergroße Liebe zu Christus (v. 48ff.). Nicht, daß
die Himmlischen einander eifersüchtig ausschlössen - der Hang des eigenen
Herzens des Dichters, seine Liebe zu dem Einzigen ist der Fehl, der der
Vereinigung Christi mit den alten Göttern entgegensteht. »Nie treff ich, wie
ich wünsche, das Maas« (v. 77).
In der Tat, dies ist es, was Hölderlin tiefer als irgendein anderer der großen
Hellasfahrer der deutschen Seele erkannt und gestaltet hat: Nicht die Uner-
rullbarkeit ihrer Vorliebe rur das klassische Griechenland ist das Problem der
deutschen Klassik, sondern umgekehrt, daß sich diese Vorliebe nicht ver-
von Gedichten der Spätzeit Hölderlins uns Leser - ich spreche nicht von den Literaturfor-
schern, zu denen ich auch nicht gehöre - etwa nicht beschäftigt hätte. Die ganze Literatur
nach 1914 ist in weitem Umfange von der Wirkung dieses groBen Hymnenwerks Hölder-
lins beherrscht. Das sollte man nicht vergessen. Inzwischen hat die historische Forschung,
nicht zuletzt in dem hochgelehrten Kommentar von JOCHEN SCHMIDT (Hölderlins gc-
schichtsphilosophische Hymnen .Friedensfeier. - .Der Einzige< - .Patmos<. Darmstadt
1990), die reichen theologischen Quellen namhaft gemacht, auf denen die Theologie
dieser Hymnen aufruht. - Ich wurde auf die neue Buchveröffentlichung von jochen
Schmidt aufmerksam gemacht, weil darin auch eine kritische Anmerkung zu meinem
eigenen wiederabgedruckten Aufsatz von 1943 zu finden ist. Diese Anmerkung las ich
allerdings mit Verblüffung. Zwar habe ich an der hochgelehrten Untersuchung jeden
Hinweis daraufvermißt, wie aus so viel Theologie ein großes Gedicht entstehen konnte.
Aber das war ja auch nicht der Anspruch von jochen Schmidts Untersuchung. Dagegen
war ich verwundert, daß er meine 1943 entstandene Untersuchung offenbar unter dem
Vorzeichen gelesen hat, daß hier doch irgend welche Spuren des nationalistisch überhitz-
ten ideologischen Klimas dieses Augenblicks zu fmden sein müßten. Es tut mir leid,
davon nichts, aber auch gar nichts fmden zu können. Nicht ich bin dafiir verantwortlich,
daß die Einleitung des .Einzigen. die Küsten Griechenlands und unser Vaterland in
Gegensatz setzt. Aber meine Interpretation liegt durchaus und immer wieder ausdrück-
lich in der Zurückweisung des Gegensatzes von Klassisch und Vaterländisch und zielt sehr
ähnlich wie in dem Sinne des Kommentars von jochen Schmidt auf den Gegensatz von
Weltlichem und Pneumatischem. Freilich kann ich ihm nicht zustimmen, wenn er glaubt,
daß der Hymnus einen Ausgleich zwischen diesen heiden spannungsvollen Gegensätzen
zum Ausdruck bringen will. Das Gegenteil ist richtig. Dieser Ausgleich kann nicht
gelingen. Das ist die leidvolle Erkenntnis, die der Dichter über die ihm durch sein
Handwerk des Dichtens gesetzten Grenzen sich eingesteht. Ich hoffe, in anderem Zusam-
menhang auf die vonjochen Schmidt mit großer Sorgfalt interpretierte zweite reinschrift-
liche Fassung des .Einzigen. meinerseits zurückkommen zu können.
4 Hölderlin und die Antike

einigen lassen will mit dem Hang des Herzens, das seine abendländisch-
christliche und vaterländische Art an den »seligen Küsten loniens« nicht zu
vollenden vermag. Wir wollen versuchen, am Leitfaden dieses Gedichtes
Hölderlins Erkenntnissen nachzudenken, und so Hölderlins Stellung zur
Antike wie unsere eigene Stellung besser begreifen lernen. Im Hinblick auf
den bruchstückhaften Charakter der Hymne werden wir Motive der späte-
ren Fassung (IV 231 ff.), die ganz Entwurf geblieben ist, zur Erklärung mit
verwenden.
Der Dichter beginnt mit seiner Philosophie, was ihm das griechische
Leben gegenüber dem Leben in seinem Vaterlande auszeichnet: daß dort die
Götter unter den Menschen erscheinen, mit ihnen sich vermählen, daß
Gottes Bild »lebet unter den Menschen« (v. 27). Die Klage um das Ende
dieses göttlich erfullten Tages der Griechen ist uns der vertrauteste Klang der
Hölderlinschen Dichtung, ein Klang, der den Hyperion-Roman durchtönt
und die herrlichen Sehnsuchtsbilder der großen Elegien, wie )Archipelagus<
und )Brot und Wein<, hervorgezaubert hat. Aber auch die unablässige philo-
sophische Selbstbesinnung des Dichters sagt deutlich, was er am griechi-
schen Leben und warum er es so liebt: daß dort jeder »mit Sinn und Seele der
Welt angehörte« und daß gerade daraus eine eigene Innigkeit in die Charak-
tere und Verhältnisse kam, während bei den modernen Völkern eine »Ge-
fühllosigkeit für gemeinschaftliche Ehre und gemeinschaftliches Eigen-
thum« herrscht, eine »Beschränktheit«, die sie alle - und vor allem die
Deutschen - auch innerlich lähmt (III 366). Von dieser allgemeinen Einsicht
her gewinnt Hölderlin ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Philo-
sophie seiner Zeit. Er sieht nämlich das Amt des Kantisch-Fichteschen
Idealismus und seiner Weckung der »großen Selbstthätigkeit der Menschen-
natur« in der Erziehung zur Allgemeinheit - und erblickt darin eine freilich
einseitige, aber als »Philosophie der Zeit« die richtige Einflußnahme (I1I
367). Allerdings sei von dieser Allgemeinheit, die zu Pflicht und Recht
zusammenknüpft, noch ein gewaltiger Schritt bis zur Lebensweise der Al-
ten. »Aber wie viel ist dann zur Menschenharmonie noch übrig?« (I1I 370).
Die Alten bedurften dessen nicht, was den Heutigen die Philosophie leisten
muß. Bei ihnen war der Kreis des Lebens, worin sie mitwirkend und,
mitleidend sich fühlten, weit genug, daß ein jeder daraus Zuwachs seines
Lebens empfmg. Hölderlin erläutert dies durch einen Vergleich mit dem
Krieger, der, »wenn er mit dem Heere zusammenwirkt, muthiger und
mächtiger sich fühlt, und es in der That ist« (I1I 368). Dies den Einzelnen
nicht nur in seinem Gefühl, sondern als wirkliche Seinsmacht übertreffen-
de, als Sphäre, in der alle Menschen zugleich leben, ist ihre» gemeinschaftli-
che Gottheit« (III 263f.). So sagt eine Randschrift zu einer Dichtung gerade-
zu: »Die Sphäre, die höher ist als die des Menschen, diese ist der Gott« (IV
355). Es ist ja eine allgemeine Erkenntnis, daß bei den Griechen alle Verhält- .
Hölderlin und die Antike 5

nisse religiös waren, alle jene »feinem, unendlichen Beziehungen des Le-
bens«, wie Hölderlin sagt. die wir in unserer aufgeklärten Moral oder
Etikette mit unseren »eisernen Begriffen« regeln (I1I 262f.). Was hier •• reli-
giöse« Verhältnisse heißt. nennt Hölderlin »solche. die man nicht so wohl an
und für sich als aus dem Geiste betrachten müsse. der in der Sphäre herrsche,
in der jene Verhältnisse stattfinden«. Dieses der Anwesenheit göttlicher
Mächte ausgesetzte und in ihrem Namen ausgelegte Leben, wie es die
Griechen lebten, ist nun, nach Hölderlin, gegenüber dem modernen
•• Schneckenleben« des auf Ordnung und Sicherheit Bedachten im Recht,
d. h., es ist die eigentlichere Erfahrung der Lebendigkeit des Lebens.
Nun nennt der Dichter diese Liebe zum griechischen Göttertag in der
Hymne .Der Einzige< ein Gebücktsein (oder Verkauftsein) in eine »himmli-
sche Gefangenschaft«. Gefangenschaft aber ist ein Erleiden der Fremde. Was
ist das für ein Leiden? Wieder bietet uns eine theoretische Studie Hölderlins
ihre Hilfe an, die überschrieben ist: .Der Gesichtspunct, aus dem wir das
Altertum anzusehen haben< (I1I 257-259). Dort ist von der •• Knechtschaft«
die Rede, »womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum«, eine
Knechtschaft, die so umfassend und erdrückend sei, daß alle unsere Rede
von Bildung und Frömmigkeit, von Originalität und Selbständigkeit nur
ein Träumen sei, bloße Reaktion, •• gleichsam eine milde Rache gegen die
Knechtschaft<l. Hölderlin schreibt einmal an seinen Bruder mit einem gro-
tesken Bilde: »Auch ich mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun
und Denken diesen einzigen Menschen in der Welt nur nach, und bin in dem,
was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil
ich, wie die Gänse mit platten Füssen im modernen Wasser stehe, und
unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle« (III 371). Er gibt dabei
für das Drückende dieser Knechtschaft eine tiefe Begründung aus der ideali-
stischen Philosophie. D,er menschliche Bildungstrieb nämlich, der, in der
Neuzeit meist ohnehin schon schwach, nur in den Gemütern der .Selbstden-
ker< (ein Ausdruck Fichtes) lebendig zum Vorschein komme, finde in dem
gebildeten Stoffe des Altertums allzuviel vorgebildet. Die »fast gränzenlose
Vorwelt. die wir entweder durch Unterricht [oder] durch Erfahrung inne-
werden«. sei eine drückende Last. die uns ebenso mit Untergang bedrohe.
wie die positiven Formen. der »Luxus, den ihre Väter hervorgebracht
hatten«. früheren Völkern den Untergang gebracht hätten. - Es ist mit aller
Klarheit das Gespenst des Klassizismus. des bloßen Bildungshumanismus
und des fremden Stilzwanges. was Hölderlin hier beschreibt.
Aber er sieht in dieser erhöhten. durch die historische Bewußtheit gestei-
gerten Gefahr zugleich einen günstigen Umstand, durch Erkenntnis der
wesentlichen Richtungen des Bildungstriebs überhaupt •• unsere eigene
Richtung uns vorsetzen« zu können. Denken wir dieser bei Hölderlin nur
angedeuteten Wendung nach, so erkennen wir mit einem Male in ihr das Ziel
6 Hölderlin und die Amike

und den Sinn aller kunsttheoretischen Bemühungen, die wir in seinen Prosa-
entwürfen, seinen sogenannten philosophischen Schriften, finden. Diese am
antiken Vorbild erarbeiteten Versuche betreffen fast alle den gleichen Ge-
genstand, den Unterschied der Dichtungsarten, bekanntlich ein von den
Alten mit Strenge innegehaltenes Prinzip. Eben diese Strenge der alten
Dichter aber ist es, von der sich der Dichter rur sich selbst Segen erhofft3. In
ihren praktischen Verfahrungsweisen sind ihm die alten Dichter vorbildlich.
Bezeichnend heißt es in der Vorrede seiner Sophokles-übersetzung, sie sei
ein Geschäft, das »in fremden, aber festen und historischen Gesezen gebun-
den« sei (V 91)4. Die )Anmerkungen zum Odipus( beginnen geradezu mit
der Forderung einer Poetik nach griechischem Muster (V 175). In einem
Brief an einen jungen Dichter klingt dies an, wenn er sagt: D Und darum ehr'
ich den freien, vorurtheilslosen, gründlichen Kunstverstand immer mehr,
weil ich ihn für die heilige Aegide halte, die den Genius vor der Vergänglich-
keit bewahrt« (III 466).
Diese Vorbildnahme Hölderlins am griechischen Kunstverstand ist aber
keineswegs ein Bekenntnis zum Klassizismus. Im Gegenteil, gerade im
Studium der Alten ist ihm die Erkenntnis gekommen, wie er in dem be-
rühmten Brief an Boehlendorffvom 4. Dezember 1801 (V 314ff.) schreibt,
•• dass ausser dem, was bei den Griechen und uns das höchste sein muss,
nemlich dem lebendigen Verhältniss und Geschik, wir nicht wohl etwas
gleich mit ihnen haben dürfen. Aber das Eigene muss so gut gelernt seyn wie
das Fremde. Desswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden
wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil
[... ] der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist«. Es ist wohl deutlich:
Die Kunsttheorie ist mehr, als sie scheint, sie ist die wesentliche Form der
Selbstbefreiung des Dichters aus der Knechtschaft der Alten. Dasselbe sagt
uns der letzte Brief an Schiller, wo er vom Studium der griechischen Litera-
tur sagt, er habe es fortgesetzt, »bis es mir die Freiheit, die es zu Anfang so
leicht nimmt, wiedergegeben hatte« (V 311). Das Befreien »vom Dienste
des griechischen Buchstabens «, dessen er sich am Ende rühmt, führt zu einer
grundsätzlichen Unterordnung des Griechischen unter das Vaterländische,
die in den )Anmerkungen zur Antigonä( in tiefsinniger Gegenüberstellung
behauptet wird (V 257ff.).
Vgl. etwa III 463.
3
Vgl. V 331. Diese Stelle habe ich im Erstdruck dieser Arbeit zu Unrecht als Beleg für
4
die Vorbildnahme am griechischen Kunstverstand zitiert. BEISsNERs Deutung des »ge-
gen. (Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 21%1, S. 168) hätte ich
folgen sollen. Nicht nur der Sprachgebrauch verlangt, daß mit »gegen. die Richtung
gemeint ist, auch inhaltlich bestätigt die Briefstelle, daß Hölderlin die griechische Einfalt
gerade dadurch erreicht zu haben glaubt, daß er die rechte Freiheit vom griechischen
Buchstaben gewonnen hat. Das Ziel will er mit »gegen die exzentrische Begeisterung.
angeben.
Hölderlin und die Antike 7

Dieser Weg der Kunstreflexion Hölderlins ist also in der Tat ein Weg der
Befreiung aus der Knechtschaft der Alten. Aber ist diese Knechtschaft und
. diese Befreiung die gleiche, von der unsere Hymne spricht? Ist nicht die
Brechung des Stilzwanges einer klassizistischen Asthetik etwas anderes als
die überwindung jener allzu großen Liebe zum gotterfüllten Leben der
Griechen? Nun war freilich auch von Bildung und Frömmigkeit oben die
Rede (III 257). Und wenn der Verstand als die »heilige Aegide« bezeichnet
wird, so ist damit nicht nur die poetische Reflexion gemeint. Das dichteri-
sche Wort ist das Wort überhaupt, und das Wort ist die Wirkung und
Erfahrung des Göttlichen selbst, wie es gefaßt und »ausgeteilt« wird. Bin-
dung des Geistes an die Erde ist nicht nur des Dichters Aufgabe, zu der ihm
der Kunstverstand hilft, indem er »Junonische Nüchternheit« mit der Begei-
sterung vereinigt. Stets bedarf das begeisterte Ungestüm des Herzens der
heiligen Ägide des ruhigen Verstandes, um sich vor den »Belaidigungen der
Menschen« zu bewahren (111364). So kann Hölderlin angesichts des »heißen
Reichtums« des menschlichen Herzens vom Menschen überhaupt sagen:
»Dass er bewahre den Geist, wie die Priesterin die himmlische Flamme, diss
ist sein Verstand« (IV 246). Aber jene übergroße Liebe zu Griechenland, die
der Dichter dichterisch bekennt, soll sie überhaupt überwunden werden? Sie
ist ja nicht eine Beugung unter klassizistisches Maß, sie ist vielmehr selbst
schon Ausdruck der erworbenen dichterischen Freiheit. Die Klage, die sich
nach Griechenland zurücksehnt und die entschwundenen Götter besingt,
trägt in sich einen dichterisch verwandelten Sinn. Gerade indem sie sich
verwehrt, die entschwundenen Götter zurückzurufen und Totes neu zu
beleben s, wird offenbar, worin Götter noch gegenwärtig sind:
Des Göttlichen aber empfiengen wir
Doch viel. Es ward die Flamm uns
In die Hände gegeben und Boden und Meeresfluth
(.Versöhnender< v. 63 ff.).

So wird die Sprache der heimischen Landschaft, ihre schicksalsvollen Zei-


chen, Gebirg und Strom, in denen sich Erde und Himmel begegnen, Gegen-
stand eines neuen, des deutschen Gesanges. Das sind die »Engel des heiligen
Vaterlands« (V 91), die der Dichter sich zu künden vorsetzt, die Mittler und
Boten des Göttlichen. Diese vaterländische Wendung ist mithin gar nicht
eine Abkehr vom alten Zug der Seele nach dem Orient, sie ist derselbe Zug
des Herzens:
Nicht sie, die Seeligen, die erschienen sind,
Die Götterbilder in dem alten Lande,
Sie darfichja nicht rufen mehr, wenn aber
Ihr heimatlichen Wasser!jezt mit euch
----
S Vgl. den Anfang von .Gerrnanien< IV 181.
8 Hölderlin und die Antike

Des Herzens Liebe klagt, was will es anders


Das Heiligtrauemde? [... ] (IGermanien( v. 1ff).
Das Bekenntnis der Liebe zu Griechenland und die Klage um seine ent-
schwundene Herrlichkeit gehören dieser dichterischen Erfahrung der Ilall-
lebendigen Gegenwart« - in der neuen Freiheit des deutschen Gesanges -
wesentlich zu. Ihr dankt diese Klage, daß ihr Künden von den alten Göttern
mehr ist als ein klassizistischer Prunk, daß es lebendige Bilder aufruft.
Eben hier aber, in der himmlischen Freiheit dieser Gefangenschaft in das
Gewesen-Gegenwärtige, entspringt die andere Klage, daß Chri.stus fern-
bleibt, daß er sich versagt (IDer Einzige( v. 36ff.). Wem versagt er sich? Dem
Gesang von Gottes Bild, also dem dichterischen Ruf. Ausdrücklich wehrt
der Dichter ab, als beruhe das auf einer unversöhnlichen Eifersucht der
Himmlischen gegeneinander. Es liege am Dichter, der zu sehr an Christus
hänge, um ihn mit den anderen vergleichen zu können, zu sehr, um ihn als
Gegenwärtigen, als» Welt«, singen zu können.
Es hindert aber eine Schaam
Mich dir zu vergleichen
Die weltlichen MälUler (v. 6Off.).
Wenn überhaupt, dann erscheint am ehesten der Vergleich mit Herakles und
Dionysos begründet (v. 51 ff.). Denn sie alle drei sind Bringer einer neuen,
besseren Ordnung: Herakles als der Reiniger der Welt von Ungeheuern,
Dionysos als Stifter der Rebe, Zähmer der Tiere und Vereiniger der Men-
schen im Rausch, Christus als der Versöhnende, der neue Friedensbringer
zwischen Gott und Menschen.
Der Dichter selbst hat diesen Vergleich in der späteren Fassung der
Hymne immer mehr zu stützen gesucht. Doch lehrt das Wort »Diesesmai«,
mit dem der Entwurf der erweiterten Fassung abbricht (IV 234), daß auch
jetzt noch das Zurücklenken zu den beiden Schlußstrophen beabsichtigt
war, daß also das Mißlingen des Ausgleichs zwischen den weltlichen Göt-
tern des Altertums und Christus das unveränderte Grundthema des Ge-
dichtes geblieben ist6 •
Im einzelnen bietet der neu hinzugetretene Teil manche Schwierigkeiten,
bringt aber eine so wichtige Ausgestaltung des Vergleichs, daß seine Deu-
tung versucht werden muß. Christus wird den »weltlichen Männern« darin
gleichgestellt, daß auch er seine Stunde, seinen Schicksalsauftrag von Gott
hatte, und somit genau wie jene »allein gestanden« ist. Sein »Gestirnll, d. h.
sein Auftrag war, frei zu walten »über das Eingesezte«. Das Eingesetzte ist
6 Das Gesagte scheint mir richtig, auch nachdem die Große Stuttgarter Ausgabe die
Überlieferung genauer darstellt. Lediglich die zweite Fassung der Hymne, die inhaltlich
noch gam: der Entschlüsselung bedarf, scheint einen anderen Abschluß, aber auch ab v. 54
fast ein anderes Thema zu haben. Hier ist die neuere Forschung zu befragen.
Hölderlin und die Antike 9

das Positive der Satzung, in der der eigentliche Geist nicht mehr lebt -
bekanntlich das Hauptthema von Hegels >Theologischen Jugendschriften<.
Hier wird das so ausgeführt, daß »das Beständige« des lebendigen Geistes
vom "Geschäfftigen« überwachsen wird, und damit die "Kenntnisse« un-
verständlich werden. Auch das aber ist das Amt eines jeden dieser religiösen
Helden, Feuer und Leben neu zu spenden, wenn »ausgeathmet das heilige
Feuer« (>Versöhnender< v. 78). So heißt es auch hier:
Nemlich immer jauchzet die Welt
Hinweg von dieser Erde, dass sie die
Entblösset; wo das Menschliche sie nicht hält (v. 72ff.).

So zu halten und zu binden sind sie alle gekommen, insbesondere eben die
Bringer einer neuen Ordnung wie Herakles und Dionysos. Daher heißt es:
»So sind jene sich gleich.« Der Dichter zeigt ähnlich im Vorentwurf der
späteren Fassung, daß er diese Gleichheit Christi mit den anderen gegen den
christlichen Anspruch festhält: Auch Christus »hatja auch Eines gehabt, das
ihn hinweggerissen ... «. »Jeder nemlich hat ein Schicksal, das ist« (ist's?)
(IV 388).
Nun wird in dunkler Art mit dieser Lehre von den Bringern und Bewah-
rern des Feuers die Versuchungs geschichte (Matth. 4) verbunden. Offenbar
ist es die Wüste, die des Göttlichen entblößte Erde, die die christliche
Versuchungsgeschichte hier heraufruft, und wieder nicht zur Unterschei-
dung, sondern, um ihn mit den anderen Ordnern der chaotischen Erde, mit
Herakles und Dionysos, gleichzusetzen. Es ist auch in götterloser Zeit
immer noch »eine Spur doch eines Wortes« geblieben. So weiß Christus die
Versuchung durch den Teufel zu bestehen, weil für ihn noch nicht verlo-
schen ist, was geschrieben stehe. Er ist ein Mann, der in der Wüste des
erstarrten religiösen Lebens, in der er auftritt, die Spur eines Wortes noch zu
erhaschen weiß und eben damit den Versucher abweist und das Amt des
leidenden Erlösers annimmt 8 •
Auch in der Folge bemüht sich der Dichter, Christus in seiner Vergleich-
barkeit mit den anderen zu zeigen. Indem er ihn nicht etwa mit Apoll oder
Zeus, sondern mit den Vergleichbaren, mit Herakles und Dionysos ver-
gleicht, die auch schon anders sind als »andere Helden«, folgt er einem
echten religionsgeschichtlichen Zusammenhang. Insbesondere Dionysos ist
ihm eine wahrhaft brüderliche Erscheinung zu Christus, wie er denn schon
in >Brot und Wein< (Str. 8 und 9) die dichterische Verschmelzung der beiden
syrischen Freudenbringer und Weinspender gewagt hat. In der Tat scheinen
diese drei sich gleich, »ein Kleeblatt«. Im Unterschied zu den anderen
7 Vgl. das dreimalige .. Es steht geschrieben« im Text des Evangeliums.
8 Zu .Spuren« vgl. auch die »Spuren der alten Zucht« im ersten Pindarfragment (V
271).
10 Hölderlin und die Antike

IIGroßen« sind sie einander nicht Ausschließende. Vielmehr schließt es sie


zusammen und macht es »schön und lieblich [... ] zu vergleichen«,
[... ] dass sie unter der Sonne
Wie Jäger der Jagd sind, oder
Ein Akersm2nn, der athmend von der Arbeit
Sein Haupt entblösset, oder Bettler (v. 85ff.).

Das will sagen: Sie alle drei sind, was sie sind, mit einer sich selbst nicht
zurückbehaltenden Hingabe an ihren Auftrag (»Jäger derJagdcc). Sie alle drei
leiden, bestehen also gerade nicht auf sich und sind dadurch Gott: Man denke
an Herakles' Mühen und an sein Ende; Dionysos ist der leidende und
sterbende Gott des antiken Kultus. Dies vor allem verbindet die beiden mit
Christus, der »siegend blickend« starb (,Patmos( v. 89). So sagt der Dichter
jetzt: »Wie Fürsten ist Herkules. Gemeingeist Bacchus. Christus aber ist das
Endecc; d. h. er »erfUllet, was noch an Gegenwart der Himmlischen gefehlet
an den andern«.
Dennoch aber kommt ihm beim Vergleich immer wieder das Ungleiche
zum Bewußtsein: liDer Streit ist aber, der mich versuchet ... « - das ist eben
jene» Schaam «, die ihn an wandel t, wenn er Christus den anderen angleichen
will. Sie beruht offenbar darauf, daß Christus nicht im gleichen Sinne
Gegenwart ist wiejene weltlichen Männer. Jene nämlich haben »aus Noth
als Söhne Gottes die Zeichen [... ] an sich«.
Denn es hat noch anders, räthlich,
Gesorget der Donnerer. Christus aber bescheidet sich selbst (v. 91 f.).

Christi Wesen erschöpft sich offenbar nicht darin, den "himmlischen Chore(
nur zu beschließen (,Brot und Weine Str. 8), d. h. in der Folge der als
Gegenwart wirkenden Götter eben der letzte, den andern Wesensgleiche zu
sein. Was ihn auszeichnet, ist, daß er sich selbst bescheidet. Jene anderen
sind, was sie sind, als Wender einer gegenwärtigen Not - der Donnerer hat
immer noch anders gesorgt: d. h. sie erfüllen nur ihren begrenzten Gegen-
wartsauftrag. Christus dagegen, der sich selbst bescheidet, reicht eben da-
durch über diese seine Gegenwart hinaus. Er wußte auch das noch, was er
IIverschwieg« (,Versöhnender< v. 86ff.), und eben weil er das Sterben, zu
dem er gesandt war, nicht einfach erleidet, sondern freiwillig aufsich nimmt
(und man darf wohl daran denken, daß das der unterscheidende Sinn der
Versuchungsgeschichte ist), ist er »das Ende«. D. h. aber, er waltet über die
ganze Folgezeit (für die nun nicht mehr anders zu sorgen war). Er ist der
Gott, dessen Verkündigung und Verheißung der Wiederkehr als eine stille
Wirk1ichkeit das ganze abendliche Weltalter beherrscht. So setzt sich immer
durch, daß er IInoch andre Natur« ist.
Aber bedeutet das nicht doch ein Sichausschließen der Gottheiten selbst
Hölderlin urtd die Antike 11

und nicht einen Fehl des Dichters? Anders gewendet: Schlägt der eigentlich
christliche Anspruch, der Einzige zu sein, nicht alle Versöhnungsversuche
des Dichters nieder? Wird hier nicht gerade die religiöse Mächtigkeit des
Christentums über den Dichter mächtig? Dem Versuch einer solchen christ-
lich gesinnten Interpretation9 widerspricht aber das Ganze der Hölderlin-
schen Gottesvorstellung von Grund aus. Hölderlin gibt diesem christlichen
Anspruch auf Einzigkeit niemals statt. In unserer Hymne heißt es über den
obersten Gott, daß er nicht einen, sondern zahlreiche Mittler hat:
Denn nimmer herrscht er allein.
Und weiss nicht alles. Immer stehet irgend
Eins zwischen Menschen und ihm (v. 65f.).

Und
Der hohen Gedanken
Sind nemlich viel
Entsprungen des Vaters Haupt [... ] (v. 13f.).
Die Hymne )Patmos(, dem christlichen Landgrafen von Homburg gewid-
met, muß geradezu dessen christliche Frömmigkeit vor dem göttererfullten
Gemüt des Dichters rechtfertigen: »Denn noch lebt Jesus.« Des Dichters
eigene sichere Gewißheit aber sagt, daß er gerade nicht der Einzige ist:
Es sind aber die Helden, seine Söhne
Gekommen all, und heilige Schriften
Von ihm. Und den schnellen Bliz erklären
Die Thaten der Erd, ein Wettlauf, unaufhaltsam [... ]
(.Patmos< v. 204ff.).
Was also bedeutet es, daß des Dichters Liebe zu sehr an dem Einen hängt? Er
heißt der .. Meister und He[[(, er heißt der »Lehrer« (.Der Einzige( v. 36),
d. h. des Dichters und des abendländischen Zeitalters, dem der Dichter
zugehört. Diese Gebundenheit des Dichters an sein Zeitalter also ist es, die
dem ersehnten Ausgleich im Wege steht. Für dieses christlich-abendländi-
sche Weltalter gilt, daß Christus gerade als der Unsichtbar-Abwesende sein
Gott' ist. Mit wunderbarer Eindringlichkeit hat Hölderlin in der Patmos-
Hymne (v. 113ff.) das neue Wesen der christlichen Frömmigkeit beschrie-
ben:
[... ] Es erlosch
Die Freude der Augen mit ihm.
Denn Freude war es
Von nun an,
Zu wohnen in liebender Nacht und zu halten
9 Vg!. ROMANO GUARDINI, Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit. Leipzig 1939, S.
557f.
12 Hölderlin und die Antike

Einfliltigen Sinns
Abgründe der Weisheit [." .. ].

Das niedergeschlagene Auge und die innere Erleuchtetheit sind die neuen
Formen der Andacht, wo,
[... ] Züchtig blikend
Von'schwellenden Augenbraunen nur
Still leuchtende Kraft iallt [ ... ] (,Patmos< v. 192f.)10.

Es ist also der eigenen religiösen Wirklichkeit Christi entgegen, daß es der
Dichter mit dem Reichtum seiner Schätze versucht,
Ein Bild zu bilden und ähnlich
Zu schaun, wie er gewesen, den Christ [... ] (ebd. v. 164f.).

Hier liegt die Antwort, die der Dichter sich gibt: Nicht, daß die Himmli-
schen selbst, die alle füreinander Gegenwart sind, sich eifersüchtig aus-
schlössen, aber der Dichter vermag den Ausgleich ihres göttlichen Seins
nicht zu treffen, weil Christus noch andere Natur ist als Gegenwart. Eben
diese andere Wirklichkeit Christi beherrscht aber die Weltsrunde des Dich-
ters derart, daß er ihn nicht nach Art der griechischen Götter als welthafte
Gegenwart der »Natur« zu feiern vermag. Was sich der Dichter zunächst als
Schuld eingesteht: »Ich weiss es aber, eigene Schuld ist's« (>Der Einzige< v.
48), was er als gutzumachenden »Fehl« beklagt: »Nie treff ich, wie ich
wünsche, das Maas« (ebd. v. 77), das erkennt er am Ende als des Dichters
Form, ein Schicksal zu haben.
So handelt der Schluß der Hymne (ebd. v. 78-93) von der Gefangenschaft
des Geistes in seine menschlich-geschichtliche Lage. Nur »ein Gott weiss
aber, wenn kommet, was ich wünsche das Beste«. Einjeder andere hat ein
Schicksal, in das seine Seele gefangen ist. Auch Christus war ein solcher auf
Erden Gefangener und »sehr betrübt«, bis er zu seiner unirdisch-geistigen
Bestimmung frei wurde, »bis er gen Himmel fuhr in den Lüften, dem gleich
ist gefangen die Seele der Helden«. Auch die Unbedingtheit des heldischen
Geistes leidet das Schicksal der Gefangenschaft in die »Zeitn. Auch sie sind
nicht frei, sind nicht Meister ihres Geschicks. Und nun wird diesen, die alle
IIgeistign und doch gefangen sind, in der alles beschließenden Schluß wen-
dung zugestellt:
Die Dichter müssen auch
Die geistigen weltlich seyn.

Die Dichter sind sich »geistig«, d. h., sie sind der Gegenwart des Göttlichen
insgesamt, allen Himmlischen zugleich, zugeordnet. Auch sie aber leiden
10 Vgl. MAle KOMMBRBLL, Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt 1940. S. 287.
Hölderlin und die Antike 13

eine unaufhebbare Gefangenschaft in die Zeit. Das hat der Dichter eben an
sich seIbst erfahren: auch sie können »das Beste«, was sie wünschen, nicht
nach ihrem Willen herbeizwingeIl - es bleibt »einem Gott« anheimgestellt.
Die Dichter müssen also weltlich sein, weil sie nur die Gegenwart, in die
sie gefangen sind, singen können. Hölderlins Gegenwart gehört zu, daß sich
Christus der dichterischen Gestaltung versagt. Die griechischen Götter sind
Gegenwart der Sage, die sich dem Dichter im Lichte der »allgegenwärtigen«
Natur neu deutet - Christus dagegen ist der im Glauben Lebende, dessen
Anbetung "im Geist« geschieht. "Denn noch lebt Christus«. Der Dichter
weiß, welch Vergehen es wäre, wenn er erzwingen will, was ihm versagt ist:
»Wenn aber einer spornte sich seIbst [... ]« (.Patmos< v. 166ff.) oder:
Zum Traume wirds ihm, will es Einer
Beschleichen und straft den, der
Ihm gleichen will mit Gewalt (.Die Wanderung, v. 113ff.).

Gerade die Zugehörigkeit des Dichters zur unweltlichen Innerlichkeit des


Abendlandes ist es, die ihn als Dichter in die himmlische Gefangenschaft der
weltlichen Götter, die allein seinem Gesang sich darbieten, verkauft hält und
ihm den ersehnten Ausgleich verwehrt. Die schmerzlich zu erleidende Span-
nung, zu der der Dichter sich so bekennt, findet in dieser Einsicht ihre
Lösung. Das überraschende dieser Lösung aber ist, daß gerade der Verzicht
auf den ersehnten Ausgleich, daß gerade die eingesehene Ungleichheit für
die große neue Aufgabe des vaterländischen Gesanges freigibt. Christus ist
in der Tat anders als die andern ". Denn Christi Gegenwart ist nicht die
seines kurzen ErdenwandeIs allein. Er ist Gegenwart im geschichtlichen
Schicksal des Abendlandes. So wandelt sich Verzicht in Auftrag:

11 Diesem Deutungsversuch der Ungleichheit des Einzigen und der weltlichen Götter
scheint eine Stelle der anderen Christushymne •Versöhnender< zu widersprechen, wo es
zwar auch in Anwendung auf Christus, aber doch in allgemeiner Wendung heißt: »Und
immer grösser, denn sein Feld, wie der Götter Gott I Er selbst, muss einer der anderen
auch seyn« (v. 89f.). Dies, so allgemein gesagt, scheint den Vorrang des Einzigen
aufzuheben. Es fragt sich nur, ob es nicht gerade die christliche Verheißung ist, die, im
Dank bewahrt, diesen Satz auch für die anderen Götter erst wahr macht. Vgl. die Rolle des
Trösters in .Brot und Wein< und hier im Vorentwurf: »keiner, wie du, gilt statt der
übrigen alle« (IV 355). F. BEISSNER, Friedensfeier. Stuttgart 1954, S. 36, weist daraufhin,
daß eine Variante zu dieser Stelle »übrigen alle«: »Menschen« lautete. Gerade das bestätigt
Christi Auszeichnung - wohlverstanden: innerhalb der Göttlichkeit aller.
Inzwischen hat die Hymne durch die Auffindung der .Friedensfeier< eine höchst wichti-
ge Parallele gefunden, sofern auch dort die Gestalt Christi besonders betont und bei aller
Heraushebung dennoch gerade in die allgemeine Anrufung der Götter eingegliedert wird.
(Daß nicht Christus in der .Friedensfeier< als der» Fürst des Festes« zu verstehen ist, dürfte
heute anerkannt sein.)
14 Hölderlin und die Antike

[... ] Diesen möcht'


Ich singen, gleich dem Herkules, [... ]
Das geht aber
Nicht. Anders ists ein Schicksaal. Wundervoller.
Reicher zu singen. Unabsehlich
Seit jenem die Fabel [... ]12.
Dem Dichter öffnet sich im Verzicht kraft einer wahrhaft geschichtlichen
Logik das Ganze der abendländischen Geschichte. Die »unabsehliche Fabel«
der Geschichte tritt neben die dichterische Gegenwart der griechischen Sage.
Wir müssen diesen Zusammenhängen genauer nachdenken, um zu erken-
nen, wie der Dichter aus dieser doppelten Gefangenschaft in die Griechenlie-
be und in die christlich-abendländische Weltstunde die einmalige Inständig-
keit seines Wissens um beide, um die griechischen Götter und um die »Engel
des Vaterlandes«, gewinnt. Was in dem Hymnus ,Der Einzige(, von dem
wir ausgehen, einmalig bekannt, aber mehr verborgen als offenbart ist,
bleibt dabei fur uns der Schlüssel unseres Verständnisses: .
Die Weltlichkeit der Alten und die Innerlichkeit der christlich-abendländi-
schen Seele sindja auch die unbegreifliche Bürde, an der wir selbst tragen.
Der Dichter erfährt sie in der elegischen Form des Auszugs der Götter,
ihrer Abwendung und Flucht, als den Hereinbruch des Abends und der
Nacht. Die griechische Landschaft liegt nun wie eine riesige, verlassene
Tafel da (,Brot und Wein< Str. 4), die »Ehre« der Himmlischen ist unsichtbar
geworden.
Nur als von Grabesflammen, ziehet dann
Ein goldner Rauch, die Sage drob hinüber,
Und dämmertjezt uns Zweifelnden um das Haupt [... ]
<'Germanien< v. 24ff.).
So lebt der Dichter, der berufene Künder göttlicher Gegenwart im Wort,
wie ein Verstoßener unter den Menschen. »Und wozu Dichter in dürftiger
Zeit?« ()Brot und Wein< v. 122).
Die Antwort, die der Dichter auf den leidvollen Zweifel an seiner Bestim-
mung immer wieder findet, erwächst ihm aus der Bejahung dieser Nacht.
Im prachtvollen Beginn von ,Brot und Wein< schon wird das zwiefache
Wesen der Nacht sichtbar: indem sie das Leben des Tages und seinen lauten
Lärm ersterben läßt, weckt sie zugleich ein bisher verborgenes Leben, eigene
Stimmen der Nacht (ebd. Str. 1), vor allem aber gewährt sie dem wachenden
Menschen Ermutigung zu »kühnerem Leben«, das auch das' Geheime der
Seele aussprechen läßt und das so dem im Dunkel der abendlichen Geschich-
te Stehenden aus der Bewahrung des Gedächtnisses des Tages seine Wieder-
kehr versichert (ebd. Str. 2). Hier gewinnt die christliche Kultform des
lZ ,Patmosc, Bruchstücke einer späteren Fassung, IV 229.
Höldcrlin und die Antike 15
Abendmahles eine ganz Hölderlin eigene Deutung (ebd. Str. 8). Christus,
der stille Genius, der letzte Gott, der gegenwärtig unter den Menschen lebte,
hinterließ Trost und Verheißung der Wiederkehr den in der Nacht Verlasse-
nen·, und zum Zeichen dessen das Abendmahl, Brot und Wein. Hölderlin
sieht nun darin nicht die mystische Kommunion, nicht die, Wandlung(, auch
nicht das vom scheidenden Erlöser gestiftete Gedächtnismahl des reformier-
ten Glaubens - er sieht darin die Heiligkeit der Elemente, der Erde und der
Sonne, aus denen beide, Brot und Wein, kommen. Hölderlin geht davon
aus, daß diese beiden, Brot und Wein, auch in unserer götterlosen Zeit
immer noch anders angesehen werden als alles andere. Sie werden nicht nur
zum Nutzen gebraucht, sondern noch mit Dankbarkeit geehrt, I>es lebt stille
noch einiger Dank«, d. h., bei ihnen denkt man noch der Himmlischen. So,
als die heilig gehaltenen, weltlichen Güter des Brotes und Weines, sind sie
die Bürgen göttlicher Wiederkehr und göttlicher Fülle.
Brod ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte geseegnet,
Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins (v. 137f.).

Gedächtnis ist Gegenwart des Abwesenden in seiner Abwesenheit. Brot und


Wein sind solche Gegenwart, die Abwesendes, das Ganze der göttlichen
Gaben und der göttlichen Wirklichkeit, verbürgt. Ihre Heiligkeit lebt nicht
von der Sage (etwa der Stiftung duch Christus), vielmehr lebt die Sage, lebt
Gottes Bild in diesen Symbolen, in der Gegenwart der Elemente und in dem
sie bewahrenden Dank.
Diese Umkehrung und Gründung der Sage auf die Gegenwart ist die
entscheidende Umwendung von Verlassenheit in Erwartung. die der Nacht
der abendländischen Geschichte ihren eigenen, gegenwarts- und zukunfts-
vollen Sinn gibt. Das Gedächtnis, weil es Gegenwart hat, wird zur Erwar-
tung. Gedächtnis zu bewahren ist von jeher das Amt des Dichters. Dies sein
Amt gewinnt hier den Sinn der Erweckung und des Herbeirufs des Abwe-
senden. "Zeichen des Himmels« wecken den Mut. Die Klage wird zur
Hymne. zum Anruf dessen, »was vor Augen dir ist« (,Germani~n( v. 83).
Ja. mehr noch. Gerade die Nacht, die Götterferne, das Leiden an ihr, sind
nicht nur Mangel und Entbehrung - in ihnen geschieht eine geschichtliche
Notwendigkeit. Die Nacht ist die Nacht der Schonung. I>Nur zu Zeiten
erträgt göttliche Fülle der Mensch« (.Brot und Weine v. 114). Sie ist aber
auch Nacht der Sammlung und der Vorbereitung eines neuen Tages. So
fragt und antwortet sich der Dichter:
[... ] wenn die Ehre
Des Halbgotts und der Seinen
Verweht und selber sein Angesicht
Der Höchste wendet,
Darob, dass nirgend ein
16 Hölderlin und die Antike

Unsterbliches zu sehn ist am Himmel oder


Auf grüner Erde, was ist diss?
Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er fasst
Mit der Schaufel den Waizen
Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne.
Ihm fällt die Schaale vor den Füssen, aber
Ans Ende kommet das Korn (.Patmos~ v. 145ff.).

Die erwartete Zukunft deutet sich ihm als »Frucht von Hesperien« (.Brot
und Wein~ v. 150). Das lang Verborgene und Verschwiegene gerade, das,
wofur das Wort fehlte, weil der allgemeine Sinn dafür nicht da war, wird die
Wahrheit eines neuen Tages sein. Denn »es wächst schlafend des Wortes
Gewalt« (ebd. v. 68). Der Dichter aber hat eben mit dieser Einsicht sein Amt
und sein Geschick auf sich genommen: er muß allein sein, weil er zuerst das
allen gemeinsame Göttliche in seinem Wort zu nennen und herbeizurufen
hat, wie das Vorspiel der Orgel den Gesang der Gemeinde, den Choral
einleitet (.Am Quell der Donau( Str. 1, .Der Mutter Erde( Str. 1).
Die Umwendung des Gedächtnisses in den Anruf des Kommenden, wie
sie im Liede des Dichters gelingt, ist das Nennen einer ganz eigenen Gegen-
wart: nicht der der alten, namentlich bekannten Götter, auch nicht des über
aller Abwesenheit waltenden Genius Christi - es ist Anruf und Deutung von
lauter Zeichen und Winken, der bedeutenden Figuren der heimatlichen
Berge und Ströme vor allem, die als Runen der Geschichte Antike und
Abendland zusammenschließen. Man denke an die Symbolik des Laufs der
Donau. Natur wird hier Geschichte. Der Lauf des Stromes, in dem sich
Himmel und Erde vermählen, wird zum Sinnbild der Zeit und des abendlän-
dischen Geschichtslaufes. Vor der Gegenwart solcher zukunftsvollen Chiff-
ren wird die Sage von den entschwundenen Göttern zur Kündung ihrer
neuen Wiederkehr. Die Gegenwart der Erwartung ist das Medium, in dem
sich der vermißte Ausgleich alles Göttlichen nunmehr vollziehen kann.
Erwartung ist, wie Gedächtnis, Gegenwart des Abwesenden. In ihr darf
auch der Gott des Abendlandes, der Versöhnende, versöhnt heißen (.Ver-
söhnender< v. 74). Denn keines Gottes Wirklichkeit ist so sehr wie die seinige
die Gegenwart der Verheißung und der Erwartung. Nun kann der Dichter
sagen, daß er schon immer - unwissend - der Mutter Erde und dem
Sonnenlichte gedient hat (.Patmos( Schluß). Denn was er tat, was sein Lied
über die Anrufubg klassischer Schemen in eine neue Zukunft hinaustrug,
war eben, daß sein Gesang Gegenwärtiges ersah.
C• • ·1 der Vater aber liebt
Der über allen waltet
Am meisten, dass gepfleger werde
Der veste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
HölderIin und die Antike 17

Der Buchstabe und das Bestehende sind nicht etwa Lehre und Übung des
Christentums allein, es sind Ildie Sprachen des Himmels« (I Unter den Alpen
gesungen< v. 27), die dem Dichter zur Deutung aufgegeben sind. "Manche
sind von Menschen geschrieben. Die andern schrieb die Natur« (,Am Quell
der Donau<, Prosaentw. IV 344).
Der hesperische Dichter kann nun, weil auch er eine Gegenwart singt -
wenngleich nicht die der Fülle und des allen gemeinsamen Tages -, die
antike Form der Feier der gegenwärtigen Götter, den Hymnus, in der Form,
die ihm Pindar gegeben hat, aufnehmen. Dennoch ist es eine ganz andere
Sprache, die Sprache Luthers, und ein ganz anderer Geist, was diese antiken
Formen verwandelt und erfüllt. Es ist die Gegenwart der drängenden Er-
wartung, nicht die des kunstvoll sicher verflochtenen Besitzes Pindarischer
Frömmigkeit. Es ist die Gegenwart des Offenen, in die sich die alten Götter-
bilder verwandeln und der sich auch der christliche Gott nicht vorenthält,
der mehr als alle anderen der »kommende Gott« ist (IBrot und Wein< v. 54).

[... ] einer ist immer für alle.


Sei gleich dem Sonnenlichte! (,Versöhnender< v. 102f.).

Auch hier ließe sich wieder an kunsttheoretische Gedanken Hölderlins


anknüpfen, um das Eigene der Hölderlinschen Dichtungsart vom antiken
Vorbild abzuheben. Hölderlin hat ja diese neue Freiheit, von der seine
vaterländischen Gesänge zeugen, auch in der ausdrücklichen Arbeit an anti-
kem dichterischem Gut betätigt, so vor allem in seiner Sophokles-Überset-
zung, wie uns die Untersuchungen Beißners gelehrt haben. Dort nun 13 hat er
in ausdrücklichen Reflexionen begründet, warum die abendländisch-vater-
ländische Vorstellungsart anders, der griechischen übergeordnet und gegen-
sätzlich auf sie bezogen sei. Er findet das tragische Wort bei den Griechen
lImittelbarer factisch [... ], indem es den sinnlicheren Körper ergreift«. Der
tragische Untergang vollzieht sich hier in der realen Gestalt des körperlichen
Todesgeschicks. Im Gegensatz dazu wirke das tragische Wort ,mach unserer
Zeit und Vorstellungsart, unmittelbarer, indem es den geistigeren Körper
ergreiftl< . Es tötet, indem es innerlich vernichtet. Man möchte diese Betrach-
tungen über das tragische Wort des Dramas gern auf Hölderlins neuen
Hymnenstil und sein Pindarisches Vorbild anwenden. Was wir in seinen
Studien über die 'tragische Ode< lesen, denkt allerdings noch gar nicht über
das Gegensätzliche im antiken Bezug nach. Es zeigt nur, daß Hölderlin auch
hier, wie im Falle des Dramas, dem Kunstverstand des alten Dichters ganz
unromantisch nachgedacht hat - wie ja auch seine eigenen Hymnen der
Strenge architektonischer Gesetze gehorchen. Doch wird ihm, was er aus
Anlaß der Sophokles-Obersetzung mit solcher Allgemeinheit durchdenkt,
Il ,Anmerkungen zur Antigonä( 3. V 257.
18 Hölderlin und die Antike

auch hier klar gewesen sein. Auch das lyrische Wort der vaterländischen
Hymne ist unmittelbarer als das Pindarische, dessen Bezug im Vorgegebe-
nen liegt, in Geschlecht und Verdienst des zu feiernden Siegers und in einer
festen religiösen Wirklichkeits ordnung. Zwar hält auch davon Hölderlin
gern etwas fest, indem er Anrede oder Widmung in seine Verse verflicht,
aber gerade solches Siegel der Widmung macht es bewußt, daß der in ihnen
Angeredete einer anderen dichterischen Seins ordnung zugehört. Sieht man
auf den religiösen Bezug des Wortes, so wird vollends deutlich, warum
Hölderlin die griechische Kunstform der vaterländischen unterordnet. Denn
Pindars Wort vom Göttlichen hat Bezug auf eine feste religiöse Gegenwart,
deren reine Pflege des Dichters Amt ist, Hölderlins Wort dagegen ist dem
Andrang so unversöhnter Gewalten wie der griechischen Weltlichkeit und
der abendländischen Innerlichkeit ausgesetzt. Auch bei den Alten, bei Pin-
dar, wird im Hymnus nur sparsam aus der Fülle des Sagwürdigen gewählt.
Wenn aber Hölderlin sagt: »Vieles wäre zu sagen davon« (,Patmos( v.88)
oder» Viel ist die Ansicht« (,Der Einzige<, spät. Fassung v. 78), welch ein
Reichtum, nicht des Unausgesprochenen, sondern des Unaussprechlichen,
wird darin laut!
Die Klage des ,Einzigen<: »Nie treff ich, wie ich wünsche, das Maas« hat
damit ihre Bedeutung für das Ganze der Hölderlinschen Dichterhaltung
erwiesen. Sie ist nicht das Eingeständnis einer unbewältigten Aufgabe und
eines Versagens, das der sonstigen Meisterschaft des Dichters an einer Stelle
ihre Grenze setzte - im Gegenteil ist dies an seiner äußersten Grenze Stehen
das Geheimnis von Hölderlins ans Prophetentum gemahnender dichteri-
scher Kraft. )Das Maß nicht treffen< ist der beständige Ausdruck seiner
einzigen Inständigkeit. »Singen wollt ich leichten Gesang, doch nimmer
gelingt mirs« (IV 315). Es ist die »Fülle des Glücks«, die »Last der Freude«
()Der Rhein< v. 158), was diese innige Unmittelbarkeit in Hölderlins letzten
Ton bringt, ein »thörig-göttliches« Reden (ebd. v. 145), das im Verstum-
men noch fortsingt:

Jezt aber endiget, see\igweinend,


Wie eine Sage der Liebe,
Mir der Gesang, und so auch ist er
Mir, mit Erröthen, Erblassen,
Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so
()Am Quell der Donau< v. 89ff.).

Und nun erinnere man sich der Gegenüberstellung der griechischen und
vaterländischen Vorstellungsarten, die Hölderlin in den )Anmerkungen zur
Antigonä( vornimmt. Dort (V 258) sagt er von den Griechen: »Ihre Haupt-
tendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, da hingegen
die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu
Hölderlin und die Antike 19

können, Geschik zu haben, da das Schicksaallose, das 6Vo'}lopov, unsere


Schwäche ist. « I
Hölderlin gewinnt hier aus der Gegenüberstellung zum antiken sein eige-
nes Selbstbewußtsein. Er erkennt (natürliche) Schwäche und (künstlerische)
Tendenz in ihrem Widerspiel, so die antike Schwäche, sich nicht fassen zu
können, der in ihrem Kunststreben diese unvergleichliche plastische Be-
.stimmtheit entspricht, so den Mangel an Geschick, die Schicksalslosigkeit der
Neueren, die ihrem Kunststreben das heilige Pathos der Begeisterung ver-
leiht, diese unmittelbare Hingerissenheit der Seele, der das Maß der Nüch-
ternheit so schwer wird. HölderIin hat mit Bewußtsein die antike der neueren
Vorstellungsart untergeordnet gefunden - so wie Hegel es schwerer fand, die
festgewordenen Verstandesformen zu verflüssigen und zu lbegeistenc, als,
wie es die Tat der Griechen war, sich überhaupt erst einmal zur Allgemeinheit
des Gedankens zu erheben 14 • Doch sah er in diesem Gegensatz zugleich eine
harmonische Ergänzung. An dem griechischen Kunstverstand geübt, hat er
die llFceiheit im Gebrauch des Eigenen« (V 316) stärker entwickelt als
irgendein anderer unter den Freunden oder Feinden der Griechen. Man mag
sein Schicksal ein antikes nennen, das Schicksal der überfülle des Göttlichen,
sein Werk aber ist darin von antik anmutender Größe, daß ihm - wie unter den
Griechen Homec 1S - die eigene Bildung des vaterländischen Gesanges gelang.

14 HEGEL, Phänomenologie, Vorrede S. 30 (Lasson). Vgl. dazu auch meine Studie .Hege!
und die :.ntike Dialektik., in Bd. 3 der Ges. Werke, S. 3-28.
IS Vgl. Hölderlins Wort über Homer, daß er dem Apolloreich die »Junonische Nüch-
ternheit. hinzugewonnen habe (V 315).
2. Hälderlin und das Zukünftige
(1947)

Das Jahr 1943 brachte die hundertjährige Wiederkehr des Todes von
Friedrich Hölderlin. Aus diesem Anlaß wurde er Gegenstand einer öffentli-
chen Anteilnahme, wie sie nur ganz tief im Herzen der Nation lebende
Vorbilder zu finden vermögen. Ja, diese Anteilnahme hatte etwas ganz
Eigenes, etwas, worin eifersüchtige Abwehr lag. Was dieser Gedenktag ins
allgemeine Bewußtsein herausrief, war nicht ein vergessener Ruhm, den es
zu erneuern, auch nicht ein immer gegenwärtiger Stolz, den es zu bestätigen
galt - es war ein noch ganz junger Ruhm, der einem Dichter zugesprochen
wurde, der nicht wie ein seit hundert Jahren Toter, sondern wie ein noch
heute Lebender von einer leidenschaftlichen Jugend geliebt wird. Einjeder
möchte ihn fiir sich zurückbehalten, der Schwabe nur den Schwaben, d~r
Deutsche nur den Deutschen. Und doch gehört dieser Dichter heute der
jungen Elite aller Länder als ihr neuer, unverhoffter Besitz. Noch wissen wir
nicht recht, was wir in ihm haben - auch darin ist er wie ein Dichter unserer
Gegenwart. Unser Verhältnis zu Schiller, ja auch das zu Goethe - wie fügt
sich ihm diese neue, leidenschaftliche Vorliebe ein? Das Bild, das frühere
Generationen von dem Dichter Hölderlin hatten, ist ungültig geworden.
Aber wie ist er überhaupt zu messen, er, an dem sich alle Maßstäbe derart zu
verwirren drohen, daß nichts, auch die höchste Wertung nicht, eine Ver-
messenheit scheint? Er selbst war von einem glühenden Ehrgeiz verzehrt, es
den Größten, es Schiller und Goethe gleichzutun. Heute, hundert Jahre nach
seinem Tode, scheint sich dieser vermessene Ehrgeiz erfüllt zu haben. Selbst
die deutsche Bühne wirbt um diesen bühnenfremdesten von allen wie um
eine neue Hoffnung, und unübersehbar wird das Werben der Deuter um sein
tief verrätseltes Werk.
Um diesen Vorgang zu verstehen, muß man sich die Geschichte seines
Werks und seiner Wirkung vor Augen halten. Als ihn die Schatten des
Wahnsinns verdunkelten, in dessen Nacht er noch vierzig Jahre lang leben
sollte, war sein Werk nicht zu einer in sich vollendeten Gestalt gelangt. Nur
weniges war in Buchform erschienen, das große lyrische Hauptwerk der
letzten Jahre vor der Umnachtung war teils überhaupt unbekannt, teils war
es in Almanache und Taschenbücher verstreut. So blieb er in seinem eigenen
Hölderlin und das Zukünftige 21

Wesen unkenntlich. Man nahm ihn auf und nahm ihn an, soweit er sich einer
schon vertrauten Vorstellungswelt einfügen ließ. Man sah in ihm einen
edlen Ausdruck romantischen Dichtergeistes. Seine Dichtungen ehrte man,
wie die des Novalis, als die Dokumente eines Frühvollendeten, in denen sich
ein ähnliches, christlich-germanisches Geschichtsempfinden dichterisch
aussprach. Das Neue, Einzigartige, das Hölderlin erst zu dem großen Dich-
ter macht, den wir heute in ihm verehren, die Kraft seiner Sprache und die
Fügung seiner WeIt, blieb unsichtbar und unverstanden. Was sich dem
Verständnis der Zeitgenossen versperrte, konnte überdies stets der Wahn-
sinn des Dichters verschuldet haben. So hat weniger das lyrische Hauptwerk
Hölderlins als sein Hyperion-Roman das allgemeine Bild des Dichters be-
stimmt, dieses Epos von einem in Begeisterung und Verzweiflung unbe-
dingten Willen zum Vollkommenen, der an der niedrigen Wirklichkeit
tragisch zum Scheitern kommt. Gewiß gab es eine stille Schar geheimer
Freunde des Dichters im ganzen Jahrhundert. Zu diesen gehörte etwa der
junge Friedrich Nietzsche. Aber das allgemeine Bewußtsein nahm ihn nicht
auf. Wenn sich dann auch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts unser
Besitz an Hölderlinschen Dichtungen durch den Eifer der philologischen
Forschung zu mehren begann, so war es doch die Entdeckung eines neuen
Dichters, als kurz vor dem Ersten Weltkrieg Norbert von Hellingrath das
lyrische Hauptwerk Hölderlins großenteils aus den Handschriften herstellte.
Es geschah mit einem für das Dichterische neu aufgeschlossenen Sinn. Es
war der Dichter Stefan George, aus dessen Nähe der junge Philologe kam 1 ,
dem wir die große Werkausgabe Hölderlins verdanken. Seitdem hat Höl-
derlin einen ständig wachsenden Einfluß auf die deutsche Jugend geübt; und
so ist es gekommen, daß er hundert Jahre nach seinem Tode zu den Größten
unter den Großen gerechnet wird. Eine neue große Ausgabe seiner Werke
begann im Jahre 1943 zu erscheinen.
Was hier vor sich ging, ist ein in der neueren Geistesgeschichte einzigar-
tiger Vorgang - es ist die Geschichte eines um einjahrhundert aufgesparten
Werkes. In Zeiten kärglicher überlieferung, wie wir sie aus der antiken
Literaturgeschichte kennen, wäre hieran nichts Sonderbares - dies aber
vollzog sich in einer Zeit, der das Bewahren und überliefern eine Lieblings-
betätigung ihrer historischen Neigung war. Wie um uns zu belehren: es ist
nicht die Historie, die über Schlaf und Erweckung der Geister waltet.
Wirklich war es eine echte Erweckung, die dem Werke Hölderlins wider-
fuhr. Es war und ist keine Literatenmache oder Philologenentdeckung, auch
keine bloße Sache der Mode (die nichts verschont und auch dieses nicht
verschont hat), noch auch des bloßen Selbstgefühls der Bildung. Das gerade
ist das Erstaunliche, daß die großen Dichter unserer Zeit, daß George und

1 VgJ. dazu auch ,Hölderlin und George<, in diesem Band, S. 229 ff.
22 Hälderlin und das Zukünftige

Rilke (von den geringeren Lebenden ganz zu schweigen) uns bereits histo-
risch anzumuten beginnen, während Hölderlins Dichtung - unbegreiflich
genug - absolute Gegenwart ist.
Wir stellen die Frage: Wie ist das möglich? und treten mit dieser Frage in
eine philosophische Besinnung ein. Denn wir fragen: Was ist uns unsere
Gegenwart und was ist uns Hölderlin, daß sich uns beides so in eins setzt?
Bestimmen wir Gegenwart als die weltgeschichtliche Einheit der letzten
Jahrzehnte, und bedenken wir, daß es eben diese sind, in denen sich Hölder-
lins Aufstieg vollzog, so können wir hoffen, daß sich das eine durch das
andere erhellen wird. Daß insbesondere, was uns Gegenwart ist, an dem
sichtbar wird, was Hölderlin uns ist.
Eines freilich weiß diese Gegenwart von sich: daß sie das Ende eines
Zeitalters ist, und - wie es zum Wesen des geschichtlichen Werdens gehört-
damit auch der Beginn eines neuen. Man kann dieses Zeitalter, das da
kommt, verschieden charakterisieren: als das sozialistische Zeitalter, als das
Zeitalter der sich zu sich selbst bekennenden Macht, als das Zeitalter des
Kam pfes um die Erdherrschaft oder auch das Zeitalter der Weltkriege - oder
man kann den Beginn dieses Zeitalters bestimmen durch den Zusammen-
bruch des Idealismus - das will sagen, durch das Ende des Glaubens an die
ursprüngliche und selbständige Mächtigkeit der Vernunft, oder man kann es
charakterisieren durch das Ende der Bildung als der eigentlich bürgerlichen
Gestalt des Geistes - in jedem Falle entbehrt das Selbstbewußtsein der
Gegenwart des gesicherten Gefüges, in dem sich frühere Generationen
verstanden. Eine neue Unsicherheit, eine neue Unmittelbarkeit zu dem
Schicksal, das uns trifft, ein freies Ausgesetztsein ins Ungewisse ist in der
Welt, gerade auch da, wo das Pathos eines jeden Heroismus, selbst das eines
heroischen Nihilismus, verschmäht wird.
Fragt man sich, was diesem Gegenwartsbewußtsein im dichterischen
Wesen Hölderlins entgegenkommt, so wird die historische Besinnung ver-
wandte Züge im allgemeinen Zeitbewußtsein feststellen wollen. Sie wird
sich erinnern, daß auch das Zeitalter Hölderlins eine Zeit der Wende, der
Auflösung und der Erwartung war. Die Französische Revolution brachte
eine gewaltige Erschütterung der europäischen Gesellschaftsordnung. Sie
war der Anfang eines Jahrhunderts der Revolutionen, das bis in unsere
Gegenwart hineinreicht. Mit ihr entstand zuerst, maßlos in Erwartung wie
im Schrecken, das Bewußtsein, an der Schwelle einer neuen Epoche zu
stehen. Das Bewußtsein unserer Gegenwart scheint fast so etwas wie die
Vollendung dieses Bewußtseins zu sein.
Allein, solche Bezüge im allgemeinen Zeitbewußtsein können die beson-
dere Wirkungskraft Hölderlins in unserer Zeit noch nicht erklären. Er teilt
sie ja nicht mit seinen großen Zeitgenossen. Gerade der klassischen Geltung
Schillers und Goethes gegenüber bedeutet die Wirkungs geschichte Hölder-
Hölderlin und das Zukünftige 23

lins fast so etwas wie eine Verschiebung auf unserer geistigen Ahnentafel.
Hölderlin ist zwar auch heute weniger als unsere klassischen Dichter ein
Inhalt unserer nationalen Bildung. aber eben dadurch ist er fast mehr. Er
redet uns auf eine andere. unvergleichbare Weise an. Die Vorstellung etwa.
er könnte zu dem Zitatenschatz unserer Bildung ähnlich beisteuern wie
Schiller und Goethe. hat etwas in sich Unmögliches. Es gibt keine mögliche
Lebenslage. zu der die dichterische Begleitung und Beleuchtung aus Hölder-
lins Werk genommen werden könnte. Er vermag uns in nichts zu bestätigen
oder zu sichern. er zwingt uns vielmehr ins Offene. Gegenüber der bildneri-
schen Selbstgenügsamkeit Goethes oder dem wortgewaltigen Enthusias-
mus Schillers ist sein Werk und Wesen unverwechselbar bezeichnet durch
die Unmittelbarkeit. mit der es den Gewalten ausgesetzt ist. von denen es
kündet. Daß unter diesen Gewalten die Liebe zum Vaterland dem Dichter als
eine letzte und höchste dichterische Erfahrung zuteil ward. sichert ihm einen
besonderen Widerhall im Bewußtsein einer Generation. der die alten frohge-
muten Formen patriotischen Empfindens und Bekennens über einem neuen
Schicksalsbewußtsein vergangen sind.
Hölderlins Unmittelbarkeit ist eine Unmittelbarkeit zur Zeit. Der Grund
seines Wesens ist bestimmt durch sein Geschichtsbewußtsein. Nicht als ob
er vonjenem geschichtlichen Bewußtsein ergriffen wäre. das wir das histori-
sche nennen und in dem sich das Bewußtsein. Erbe der Vergangenheit zu
sein, mit dem anderen Bewußtsein verbindet. selbst nur Glied der endlosen
Kette geschichtlicher Entwicklung. selbst nur untergehend da zu sein. Höl-
derlins Geschichtsbewußtsein ist vielmehr Bewußtsein der Gegenwart und
der sich in ihr bezeugenden Zukunft. Das Vergangene. Zeiten wie Männer.
ist ihm Zeichen für das Geschehen des uns bestimmten Schicksals. Kein
anderer unserer Dichter ist so wie er gleichsam aufgesogen von der Gegen-
wart der Zukunft. Sie ist seine Gegenwart, das. was er sieht und dichterisch
verkündet.
Es ist dafür bezeichnend, daß ihm die Nacht zum dichterischen Ausdruck
seines Geschichtsbewußtseins wird. Denn die Nacht hat eine tiefe Zweideu-
tigkeit in sich. Zwar ist ihr Kommen das Ende des geschäftigen Tages. Das
Dunkel entzieht. nimmt die gegliederte Ordnung aus den Dingen, die uns
umgeben. und verhüllt den Weg. Aber indem sie so die Gegenwart der Welt
einhüllt, öffnet sie zugleich den Sinn des Menschen für solches, was im Licht
und im Lärm des Tages verborgen blieb: fernes Saitenspiel, Geläut von
Glocken, das Rauschen der Brunnen, das Duften der Blumenbeete. und mit
all dem bewegt sie »die hoffende Seele der Menschen«. So ~childert in
unvergänglichen Versen die erste Strophe von IBrot und Wein< das offenba-
rende Aufziehen der Nacht:
24 Hölderlin und das Zukünftige

Rings um ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Gasse,


Und, mit Fackdn geschmückt, rauschen die Wagen hinweg.
Satt gehn heim von Freuden des Tages zu ruhen die Menschen,
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,
Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt.
Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß
Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann
Ferner FrCWlde gedenkt und derJugendzeit; und die Brunnen
Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.
Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken,
Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.
Jetzt auch kom met ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond,
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
Ober Gebirgshöhn traurig und prächtig herauf.

Durch ihre lyrische Stimmungs kraft haben diese Verse schon die Bewun-
derung der Zeitgenossen erregt und wurden unter der überschrift IDie
Nacht< damals (1807) in einem Musenalmanach gedruckt. In Wahrheit
gehören sie aber nicht in den Zusammenhangjener schwärmerischen Begei-
sterung für die alles in mystisches Geheimnis auflösende Nacht, wie sie
Herder und die Romantiker hegten. Diese Verse sind die erste Strophe eines
großen und tiefsinnigen Gedichtes, ein Aufklang, der die Nacht ehrt, weil
sie Symbol für die weltgeschichtliche Lage des abendländischen Menschen
ist. Die Ehrung der Nacht meint die IGeschichtsnacht<, das nächtliche
Schicksal des Abendlandes, fern von der göttlich erfüllten Welt des Alter-
tums in einer götterlosen Zeit zu leben. In ähnlicher Weise hat auch Novalis
in seinen IHymnen an die Nacht< der Nacht einen geschichtlichen Klang
gegeben. Aber setn christliches Denken sieht in der Nacht die höhere Wahr-
heit gegenüber dem heiteren Anschein des Tages. So wie er sie ehrt, weil in
ihr alles Wesenlose absinkt und die reinen Geister sich unbehindert miteinan-
der vermählen, so ist auch ihr geschichtlicher Sinn, in Christus die überwin-
dung des Todes gebracht zu haben, an dem die heitere Götterwelt der
Griechen versagte. Dagegen bezeichnet der Gegensatz zwischen Tag und
Nacht das Geschichtsbewußtsein Hölderlins im negativen Sinne, als die Not
der Götterferne, und am Gegenbild des griechischen Lebens als des vom
Göttlichen erfiillten Tages. Es sind ganz eindeutige Erfahrungen, die Höl-
derlin in diesem Bild und Gegenbild gestaltet. Die Götterlosigkeit der
Neueren meint jene »Gefühllosigkeit für gemeinschaftliche Ehre und ge.:.
meinschaftliches Eigentum«, jene Beschränktheit in eine enge Lebenssphä-
re, jene» bornierte Häuslichkeit« insbesondere. die Hölderlin im deutschen
Hölderlin und das Zukünftige 25

Volkscharakter erkennt, einen Geist der knechtischen Sorge, die stetS nur
ihren Vorteil sucht und im Mißtrauen alle von allen vereinzelt. Dagegen weiß
der Dichter: »Die Sphäre, die höher ist als die des Menschen, diese ist der
Gott. « Die Himmlischen sind die begeisternden Kräfte, die den einzelnen als
eine ihn übertreffende Gemeinsamkeit beseelen. In unseren Tagen, ))da die
knechtischejetzt alles die Sorge zwingt«, ist allein noch die Liebe ein Zeichen
der schöneren Zeit. Nur in der Seele der Liebenden ist noch die Gemeinschaft
des Lebens wahrhaftig lebendig. Ihnen ist die Welt noch göttlich. Sie nehmen
alles Begegnende als eine Gunst entgegen, die so wunderbar ist, wie sie selber
einander ein Wunder sind. So ftihlt sich der Dichter durch Diotima verwan-
deltundgeheilt: »Denn göttlich stille ehren lernt'ich/daDiotima den Sinn mir
heilte«. Wo aber die Sorge herrscht und ehernen Dienst fordert, wo Tag für
Tag »der Gebrauch«, das ist das stetige Bedachtsein auf das Brauchbar-
Nützliche, »uns die Seele ablistet«, dort ist das Leben unmenschlich gewor-
den, so daß das Göttliche sich ganz entzieht. Es ist die Nacht der Götterferne.

Aber weh! es wandelt in Nacht. es wohnt. wie im Orkus,


Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt
Höretjeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar. wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.

Von dort bestimmt sich der Sinn des Göttertages )) bei Hellas blühenden
Kindern« als ein Leben, das ganz und gar aus der Anwesenheit göttlicher
Mächte verstanden wird, das im Ehren der Götter die Ordnungen des eigenen
Lebens aufrichtet, die wir als die herrlichen Tempel und Städte, als die Feste
und Theater des klassischen Griechenland lieben und bewundern. ))Gegen-
wart der Himmlischen« in all den feineren unendlichen Beziehungen des
Lebens, die wir mit unseren »eisernen Begriffen« aufgeklärt, das heißt
moralisch, verstehen. Das durchherrschende religiöse Lebensverständnis der
Griechen ist in Wahrheit eine ))höhere Aufklärung«. Sie besteht nicht in der
abstrakten Allgemeinheit einer verständigen Moral, sondern in der konkre-
ten Allgemeinheit einer gemeinsam erlebten Wirklichkeit, eines gemeinsa-
men Geistes. Die dichterische Verklärung dieses Göttertages in Tragödie und
Hymnik der Griechen ist kein zufalIiger Vorzug eines poetisch begabten
Volkes, sondern bezeichnet die Vollendung der Erfahrung des Göttlichen
selbst. ,)Nun, nun müssen daflir Worte. wie Blumen, entstehen. «
Die Nacht istaber nicht nur diese Zeit der Götterferne, der Not, in der alles
Haltbare aus dem Leben entwichen ist. Sie ist zugleich die Nacht des bewah-
renden Gedächtnisses an den Tag und die Erwartung seiner Wiederkehr.
»Denn wenn es aus ist und der Tag erloschen«, ist zwar das Göttliche und sein
Bild unsichtbar geworden:
26 Hölderlin und das Zukünftige

Nur als von Grabesflammen ziehet dann


Ein goldner Rauch, die Sage, drob hinüber
Und dämmert jetzt uns Zweifelnden um das Haupt.

Aber diese Zeit der Trennung von Göttern und Menschen bewahrt den-
noch ein Gedächtnis ihrer Vereinigung. Auch in unserer götterlosen Welt
fehlt es nicht ganz an Wissen um Göttlichkeit. Brot und Wein, die Unter-
pfänder der christlichen Verheißung, deuten sich dem Dichter als Gaben der
Götter, für die ))stille noch einiger Dank lebt(c. Ihr Gesegnetsein vom Ein-
klang der Erde und Sonne, ihr sichtbares Abhängen von uns übertreffenden
Mächten, den Elementen, die im Wetter sind, läßt sie als Unterpfand einer
Form der Welterfahrung erscheinen, die den Heutigen sonst unverständlich
geworden ist. Es ist die Erfahrung der Welt in der Freude. ))Denn zur
Freude, mit Geist, wurde das Größre zu groß / unter den Menschen. ce Es ist
das Wesen der Freude, daß sie »Geist« ist. Das bedeutet zunächst, daß sie
gemeinsam ist und Gemeinsamkeit schafft. Sie ist nicht erst Freude und will
sich dann auch mitteilen, sondern sie wird gerade im Sichmitteilen erst
Freude:
[... Jes ertrug keiner das Leben allein;
Ausgeteilet erfreuet solch Gut und getauschet mit Fremden
Wird's einjubel [... ]

Sie ist aber zweitens nicht ein blindes Zumutesein, sondern steht in der
Offenheit des Empfangens. Sich im gemeinsamen Besitz sehend und wis-
send ist sie »Freude mit Geistcc. Diese Welterfahrung des antiken Daseins, die
im Gut die Gabe erkennt und ehrt, ist nicht mehr unter den Menschen. Nur
Brot und Wein, meint der Dichter, bewahren etwas von ihr. Sonst aber sind
die Menschen gewohnt, alles stets nur auf ihren Nutzen zu beziehen. Der
Geist des Nutzens aber vereinzelt. Die ängstliche Sorge um den eigenen
Vorteil macht unfrei und einsam. Es ist der »Nachtgeist« des abendlichen
Zeitalters. Eben aus dieser Lage entspringt das Amt des hesperischen Dich-
ters, die Kunde vom Göttlichen zu bewahren und weiterzugeben. Gewiß ist
es schwer, Dichter in dürftiger Zeit zu sein, und Hölderlin klagt: »zu ahnen
ist süß, aber ein Leiden auch<c Ihm blühen nicht die Worte entgegen, in
denen ein Volk sich und seine Welt weiß. »Schweigen müssen wir oft; es
fehlen heilige Namen, / Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?«
Eben deshalb aber ist sein einsames Werk kein müßiges Tun.
Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,
Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.

Das ist des Dichters Mission: Er ist der Vorsänger der Zeit. Er singt, was sein
wird. Das Gedächtnis wandelt sich in Erwartung, die Bewahrung in Verhei-
ßung.
Hölderlin und "das ZukQnftige 27

Damit gewinnt die Nacht einen weiteren neuen Sinn. Sie ist nicht nur die
Dämmerung, in der sich noch einiges vom gewesenen Tage bewahrt, sie ist
auch die Dämmerung, in deren Schatten sich der Geist erholt, die Verhül-
lung, in der sich eine neue Zukunft vorbereitet. Die hesperische Nacht ist
eine Nacht der Schonung und der Sammlung. Die Götter leben jetzt fern
von uns, »droben in anderer Welt«.
[" " .) So sehr schonen die Himmlischen uns.
Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,
Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.
Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsal
Hilft, wie Schlummer, und stark machet die Noth und die Nacht.

Das ist die Einsicht, zu der sich der nächtlich-kühne Geist des Dichters
erhebt: Dieses abendländische Weltalter ist eine heilige Nacht, die auf die
sichere Wiederkehr der Götter deutet.
Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt,
Siehe! wir sind es, wir: Frucht von Hesperien ist's!

In einer frühen Reinschrift heißt es dafür:


Siehe! wir sind es, wir; Orkus, Elysium ist's!

Die beiden Fassungen erläutern einander wechselseitig. Die eine sagt:


auch Hesperien, das Schattenland, von dem man es nicht glaubte, wird
Frucht tragen; die andere: was der Orkus der Götterferne schien, ist in
Wahrheit Elysium, das Land der Verheißung. Ein später Entwurf zur Fort-
setzung, der hier anschließt2, lautet:
[... ) Nemlich zu Hauß ist der Geist
Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat;
Kolonie liebt und tapfer vergessen der Geist.
Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder
Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeier verbrannt.

Diese Verse gehören doch wohl in den gleichen Zusammenhang der


Schlußstrophe von IBrot und Weine. Dann sind sie aber auch aus diesem
Zusammenhang zu deuten. Sie sprechen also ebenfalls von der wunderbaren
Erfüllung einstiger Verheißung, die der Dichter darin erkennt, daß aus der
abendländischen Nacht die neuen Kinder Gottes erstehen sollen. Dann muß
ihr Sinn sein: Der Geist ist im Anfang, das heißt in seiner südlichen Heimat,
nicht zu Hause. Zu Hause ist man dort, wo man seine Bleibe hat. Der Geist
aber darfin seiner heißen, verzehrenden Heimat nicht bleiben. Deshalb zieht
2 Von FRIEDRICH BEiSSNER in seiner Dissertation (Hölderlins Übersetzungen aus dem
Griechischen. Stuttgart 1933, 11961) zuerst veröffentlicht, aber, wie ich im folgenden
zeigen werde, nicht richtig gedeutet.
28 Hölderlin und das Zukünftige

er aus. Er »liebt« Kolonie, das heißt, er sucht sich mit tapferem Vergessen
des alten Glückes eine neu zu gründende Heimat, die Stätte neuen Zuhause-
seins und Bleibens3 • Und wunderbarerweise sind es unsere Blumen und die
Schatten unserer Wälder, die den schier Verschmachteten erfreuen. Der
Dämmer des Nordens und der von ihm beherrschten Zeiten ist der neue,
bisher nur verborgene Wohnsitz des Geistes.
Es ist eine Sinngebung der abendländischen Geschichte, die sich in dieser
Umdeutung der Nacht vollzieht, und der Dichter, der dies weiß und ver-
kündet, ist ein in den Sinn der Geschichte Eingeweihter, sei es, daß ihn eine
Entrückung geheimnisvoll an den Anfang der abendländischen Geschichte
versetzt und über ihren Gang nachdenken läßt (>Patmos<), sei es, daß er als
ein Wissender, den »der Wandlungen viele bewegen«, dem Weg des Wortes
aus Osten, dem Flug des Adlers folgt,
[... ] der vom Indus kömmt
Und über des Pamassos
Beschneite Gipfel fliegt, hoch über den Opferhügeln Italias [... ],

der zuletzt die Alpen überschwingt und Germanien in seine weltgeschichtli-


che Bestimmung beruft. In dieser vaterländischen Verheißung gipfelt des
Dichters Neudeutung der Nacht. Gerade die Not, die unschuldig-wehrlose
Stellung Germaniens »unter den Königen und den Völkern«, begründet die
Verheißung seiner Erwähltheit:
o heilig Herz der Völker, 0 Vaterland!
Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erde
Und allverkannt [... ]

beginnt der >Gesang der Deutschen<. Und in der anderen Ode >An die
Deutschen< siegt ebenfalls über den Unmut dessen, der die Seinen »tatenarm
und gedankenvoll« schilt, die Zuversicht in den »Genius unseres Volks«.
So wird endlich das Auge des in der Nacht der dürftigen Zeit vereinsam-
ten Dichters rur eine neue Gegenwart geöffnet, die Gegenwart des Zukünfti-
gen. Er. der litt, weil er von sich sagen mußte:
Nur was blühet, erkenn ich.

3 F. BEiSSNER weist die obige Deutung wiederholt zurück: St.A. 112. S. 621 und S. 825,
sowie Friedensfeier (Stuttgart 1954), S. 41. Aber mit was fiir Gründen! Welche hermeneu-
tische Naivität, sich auf den Boehlendorflbcief zu berufen, statt den Zusammenhang des
Gedichts als erste Instanz anzuerkennen! .Orkus, Elysium ist's« muß als genaue Parallele
zu .Frucht von Hespecien ist's« verstanden werden. Das steht fest. So ergibt sich, in
welcher Blickrichtung hier gesehen wird: vom Anfang. von der Quelle. von Griechen-
land aus. Und welches unpoetische Mißverständnis von .Kolonie., offenbar unter den
Assoziationen von Hitze. Durst und Tropenhelm. Friedensfeier, S.4O und St.A. 112,
S. 825 scheint BEiSSNER sogar »im Anfang« als .anfangs« mißzuverstehen!
Hölderlin Wld das Zukünftige 29
und deshalb in den Ton der Klage um die entschwundene Herrlichkeit
gebannt war, wird zum hymnischen Sänger, der die Zeichen entziffert, in
denen das Zukünftige sich ankündigt.
[... ] Der Vater aberliebt,
Der über allen waltet,
Am meisten, daß gepfleget werde
Der veste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.

In diesem Schluß von >Patmos< ist die neue Aufgabe genau bezeichnet. Auf
Deutung des Bestehenden kommt es an, so daß es zum Zeichen des Zukünf-
tigen, zur bedeutungsvollen Schrift wird. Diese Aufgabe meint der Dichter,
wenn er sich vorsetzt, vonjetzt an die »Engel des Vaterlandes« zu singen. Sie
sind die Zeugen und Boten des Göttlichen, die der Dichter erkennt - vor
allem in der großen Urschrift des elementaren Naturlebens:
[... ] Des Göttlichen aber empfiengen wir
Doch viel. Es ward die Flamm uns
In die Hände gegeben und Boden und Meeresfluth.
Denn menschlicher Weise nimmermehr
Sind jene mit uns, die fremden Kräfte, vertraut.

Das Hinausgehen über die menschliche Weise der Vertrautheit - bei allem
nahen Umgang des Nutzens und Brauchens -, das die Elemente auszeichnet,
ist ihre Göttlichkeit, und insofern sind sie uns, gerade weil sie »vor Augen
dir« sind, zur Lehre. Sie lassen in der Gegenwart des Täglichen an das
Göttliche denken und mahnen zum rechten Dank.
[... ] Es rauschen die Wasser am Fels
Und Wetter im Wald und bei dem Namen derselben
Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder.

Noch bedeutender aber sind uns die bestimmten Gestalten der heimatli-
chen Landschaft, insbesondere ihre Ströme und ihre Gebirge. Denn der Lauf
der Ströme und der Zug der Gebirge sind wie über uns ergangene Entschei-
dungen des Schicksals. Sie formen den geschichtlichen Raum unseres Da-
seins, und bedeutungsvoller noch weisen sie über ihn hinaus in andere
Sinnsphären der Herkunft und der Bestimmung. So, wenn die Donau
gleichsam den Weg unseres geschichtlichen Erinnerns voraneilend nach
Osten strebt, so, wenn der Rhein im gleichen Drang nach dem Ursprungs-
lande gehemmt »still wandelnd sich im deutschen Lande begnügt« und sich
und uns »ein wohlbeschiedenes Schicksal« findet. »Sie sollen nämlich zur
Sprache sein.« Offenbar meint Hölderlin nicht eine bloße vage Symbolik.
Gebirgszüge und Flußläufe lassen uns fdhlen, wie wenig unser menschliches
Tun und Lassen angesichts dieser Runen der Erdgeschichte bedeuten. Das
30 Hölderlin und das Zukünfrige

sagen sie uns. Die Fugen und Furchen von Himmel und Erde sind uns
Schicksalszeichen. Die menschliche Geschichte, die des einzelnen wie die der
Völker, ist nicht nur jenen in die Natur eingestalteten Schicksalszügen
zugeordnet, sie ist selbst ein solches Schicksal, wie eine Begegnung von
Menschen und Göttern, ein Stück Geschichte der Götter. Ebenso fand
Hölderlin auch in den großen Männern der abendländischen Geschichte
solche Bedeutung. Er sah in ihnen Schicksalsmänner, die, sich selbst erfül-
lend, den einen Sinn der Geschichte bilden, eine )) Himmelsleiter«.
[... ] Wo nämlich
Die Himmlischen eines Zaunes oder Merkmals,
Das ihren Weg
Anzeige, oder eine Bades
Bedürfen, reget es wie Feuer
. In der Brust der Männer sich.

Doch damit ist eine letzte, alles vollendende Stufe in der Neudeutung der
Nacht erreicht. Sie ist nicht bloße Zeit der Not, nicht bloße Zeit der
Bewahrung und Bereitung, die auf das Zukünftige deutet. Sie ist zugleich
auch der bleibende Grund und das beständige Mitdasein mit dem gestalteten
Tage und dem gegenwärtigen Göttlichen.
Es ist der Mythos von den Titanen, in dessen Lichte sich dem Dichter die
Deutung der Geschichte aus dem Zukünftigen vollendet. Ihm sind mehrere
fragmentarisch gebliebene Hymnenentwürfe gewidmet. Er steht aber auch
im Hintergrunde mancher anderer seiner großen Dichtungen der Spätzeit.
Die Titanen sind die Götterfeinde der griechischen Mythologie, die Gegner
der Olympier, die in der gewaltigen Götterschlacht in Thessalien, die uns
Hesiod erzählt, besiegt und in den Tartaros, den lichtlosen Abgrund, ver-
bannt wurden. Zu den Titanen gehört aber auch im besonderen4 Prometheus,
der Menschenfreund, der den Sterblichen das Feuer verschaffte und so ihre
Herrschaft über die Natur begründete. Aufstand der überwundenen Titanen
ist von da aus jede neue Bedrohung der göttlich regierten Weltordnung, auch
die durch den maßlosen und widergöttlichen Herrschaftswillen der Men-
schen. Das etwa sind die gängigen Züge der antiken mythologischen Überlie-
ferung, die Hölderlin vom Ursprung seiner Erfahrung aus belebt.
Wie sieht der Dichter das Titanische? Offenbar im Vergessen des Ur-
sprungs und dem daraus entspringenden Trachten, »den Göttern gleich zu
werden«. Der Rhein ist anders. Er ist ein Göttersohn, der seines Ursprungs
nicht vergiBt, als er das stille Schicksal seines langsamen und segenspenden-
den Ganges durch die deutschen Lande annimmt. Damit weckt er das
Gegenbild des Titanischen, dessen, das sich vermißt.
4 Nach K. RI!INHARDT (Tradition und Geist. Gättingen 1%0, S. 207f.) eine Erfindung
erst des Aischylos.
Hölderlin und das Zukünftige 31
Wenn einer, wie sie, sein will und nicht
Ungleiches dulden, der Schwärmer,
so trifft ihn das göttliche Gericht,
[... J daß sein eigenes Haus
Zerbreche der und das Liebste
Wie den Feind schelt und sich Vater und Kind
Begrabe unter den Trümmern [... )
Hier mag Mythologisches, die vom Wahnsinn gestraften Heroen Bellero-
phon, Herkules, dem Dichter vorschweben. Die belebende Erfahrung aber
ist wiederum eine gegenwärtige: die Selbstzerstörung des maßlos auf sich
selbst Bestehenden.
Wer war es, der zuerst
Die Liebesbande verderbt
Und Stricke von ihnen gemacht hat?
fragt der Dichter und will doch keine Antwort aus der mythischen Vorzeit
hören,' sondern sagen, was diese mythische Auflehnung gegen die Götter
immer und als eine immer bleibende Versuchung im Grunde ist: Vergessen-
heit, eine wahre Gottvergessenheit, Verkehrung des wahren Verhältnisses
von Göttern und Menschen. Sie wirkt sich in der Verkehrung unseres Seins
zu den Dingen aus. Liebesbande und Stricke sind die Art unmerklicher
Führung und Leitung, die in liebender Verbundenheit geübt wird (»in
leichtem Umfangen(!) gegenüber dem Gezwungen- und Gezogensein durch
ausgeübte Gewalt. Dies soll den Wandel im Sein zur Natur beschreiben, der
sich durch die Entfesselung des menschlichen Herrschaftswillens vollzogen
hat. Die Gaben der Natur werden nicht mehr so, wie sie sich bieten,
hingenommen und genutzt, sondern gewaltsam zu Leistungen gezwungen.
Das ist selbst noch mythologisch geredet. Gemeint ist die Verwandlung alles
Seinsverhaltens in Berechnung, die das Schicksal der Neuzeit bezeichnet.
So, wenn die Menschen in der segenspendenden Fülle der Natur, etwa im
Laufe des großen Stromes, nicht mehr erkennen, was sie lieben, die unvor-
denkliche Vertrautheit der Heimat. sondern nur noch einen Rechnungsfak-
tor in' ihrem wirtschaftlichen Fieber, eine Wasserstraße von so und so
)auszulastender. verkehrs technischer Potenz. Das kennzeichnet die Gegen-
wart, daß in ihr »der Geist zu Diensten« gebraucht wird:
Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon.
Und alle Himmelskräfte verscherzt. verbraucht.
Die Gütigen, zur Lust danklos ein
Schlaues Geschlecht [... )
32 Hölderlin und das Zukünftige

Es ist der Geist des »Wilden«, des Ungebundenen, des Unteilnehmen...;


den, den der Dichter in dem herrschenden Geiste seiner Zeit erkennt: »Sich
in der tosenden Werkstatt/ höretjeglicher nur.« In diesem Geiste sieht er
eine mythische Macht. Es sind Titanenflirsten, die »wie Raub« die Gaben
der Mutter greifen. Sie haben gewaltsam »den Fluch in die Brust empfan-
gen« - einen Fluch, denn dieser Aufstand des Titanenturns ist am Ende doch
ohnmächtig, und ihr Schicksal bleibt unselig. Zwar scheint ihnen keine
M:jcht mehr be.grenzend und bindend entgegenzustehen, da das Götdiche
sich v e r b i r g t . ..
D.~.v.:at~ab~qi~_'*c.t mitheili~Na.ch.t; "., _._
Damit wir bleiben mögen. die Augen zu,
Nicht liebt er Wildes [... ]
Dennoch aber ist gerade das äußerste Aufbegehren des Abgrundes, die
äußerste Vermessenheit des Widergöttlichen niemals eine wirkliche Bedro-
hung der väterlichen Gottesrnacht.
Nicht möcht ich aber sagen,
Es werden die Himmlischen schwach,
Wenn schon es aufgährt [... ]
Denn in der höchsten Bedrohung, »wenn es gehet an die Scheitel dem
Vater«, ist es erst Zeit. 11 Wunderbar / im Zorne kommet er drauf. ce
Das ist gewissermaßen die äußerste Kunde, die der zeichendeutende Dich-
ter zu .leseli~ers:teht,::Getad6in)def Nacht und-im Ansteigen.-der »uralten'
Verwirrung« liegt das stärkste Vorzeichen des Künftigen. Die Zeichen des
Himmels, die der Dichter erkennt und die ihm die Wiederkehr der Götter
deuten, sind nicht irgend welche »Taten der Erde«, die einem jeden Auge
offen daliegen. Nur der Dichter kennt sie, das heißt aber, sie bekunden sich
nur im Wort des Gesanges, der dem Dichter gelingt.
Die allgemeine Geltung des Titanenmythos reicht so weit, daß auch des
Dichters Deuteramt in der Versuchung und Bedrohung durch den Fluch des
Titanischen steht. Er ist von der Versuchung bedroht zu übereilen, »mit
eigenem Sinn zornig zu deuten«, sich »selbst zu spornen« und »aus Unruh
und Mangel« dem Oberfluß des Göttertisches zu nahen. Dieser Versuchung
war Tantalos erlegen. Dem begegnet die Einsicht, daß das Gesetz der
ordnen<i~!l: göttH<:h-t!~ Her:plfk1}nf,t!. die den J\u.f$tand der Titanen bezwingt,
unerfoI'S'Chlich-i~f:-'»'Deffin:s hisset/'der "Slnrrel'tde Gott / ufizettiges Wachs-'
turn. (( So ruft sich der Dichter selbst zu, daß er nicht »zu sein etwas, sondern
zu lernen« berufen sei. Gerade das Gelingen des Gesanges steht nicht in
seiner Macht. Er kann es nicht erzwingen, und eben damit wird es zum
Zeichen.
Hölderlin und das Zukünftige 33
Dann ist, wie jetzt, ~e Zeit des Gesanges.
Und hier ist der Stal;! ::.
Des Gesanges, nieder\tiinkend [... J

Der Stab des Gesanges, 'das alte Rhapsodenzeichen, soll die Toten aufwek-
ken, »die noch gefangen nicht vom Rohen sind«. Darin liegt ein Doppeltes,
Der Gesang ist nur Wink, das heiß t, er weckt und erliest nicht jeden - 11 denn
nichts ist gemein«. Aber er hat diese weckende Kraft, weil er löst und bindet.
Er löst aus der Fessel des Rohen, aus den barbarischen Sorgen, und er bindet,
weil er in die Gemeins:amkeit des Wortes herausruft und in ihr für alle
bewaht,t·und--wirklich macht, was: die »verschwiegene Brust« weniger ein-
zelner erfüllte. Schon für die Göttlichkeit des Weines war es dem Dichter ein
Unterpfand, daß die ihm geltenden Gesänge I)im Ernst« gesungen waren, -
das heißt: nicht aus einer gelehrten Mythologie, sondern als eine lebendige,
lösende und begeisternde.Macht den Wein priesen.
Warum aber - wird man sich fragen - ist das Gelingen des Gesanges
Unterpfand des Seins und der kommenden Rückkehr der Götter? Gewiß,
das Gelingen ist nicht das Resultat einer berechnenden Bemühung des
Dichters, sondern erscheint als die Verfiigung eines Höheren über ihn. Aber
wieso hat dies die Bedeutung eines Unterpfandes für die Wandlung aller?
Offenbar ist die Sprache, der gemeinsame Besitz von Welt, in ihrer eigentli-
chen Möglichkeit, wenn sie nicht Ausdruck der Meinungen einzelner ist,
sondern in ihrem dichterischen Gefügtsein in sich selbst besteht und von sich
a\'fs·,·ctas"Aufgetaßtwerden bestinihi't·, Als solChes Gefüge von Dichtung, in
der Abgelöstheit von den Meinungen, ist die dichterische Sprache eine den
einzelnen, auch ihren Schöpfer übertreffende Seinswirklichkeit, kein bloßer
Zauber, sondern die Erscheinung einer verwandelten Welt. Diese Verwand-
lung der Welt in eine das einzelne menschliche Bewußtsein übersteigende
Seinsordnung ist aber ebenjene Rückkehr der verlorenen Verbindung und
Bindung von Göttern und Menschen, von der die Dichtung Hölderlins
spricht. So ist der Gesang nicht in dem Sinne ein Zeichen, daß er hinzeigt auf
ein Anderes, Kommendes, Gemeintes - in ihm selbst geschieht das Kom-
mende. .
Ein spätes Bruchstück kann diese Zusammenhänge verdeutlichen. Es
lautet:
...... L: ,J eifen die Fenster des Himfu'e1s~"
Und freigelassen der Nachtgeist
Der himmelstürmende, der hat unser Land
Beschwätzet, mit'Sprachen viel, undichtrischen, und
Den Schutt gewälzet
Bis diese Stunde.
Doch kommt das, was'ich will,
Wenn! ... }
34 Hölderlin und das Zukünftige

Offenbar hat der Dichter hier zwei mythische Motive verschmolzen: den
griechischen Mythos von den Titanen und die Geschichte vom babyloni-
schen Turmbau und der ihm folgenden Sprachverwirrung. Das Be-
schwätztsein von undichterischen Sprachen, diese Entstellung des sprachli-
chen Kosmos, erscheint zugleich als eine Verwirrung der göttlichen Ord-
nungen. Undichterisch heißt, nichts vom Göttlichen wissen zu wollen. Und
so bedeutet ein Undichterischsein der von den Menschen gesprochenen
Sprachen in der Tat den titanischen Aufstand. .
Umgekehrt besteht offenbar eine klare Entsprechung zwischen der allen
gemeinsamen Sprache, die der Dichter führt, und dem allen gemeinsamen
Tage. Das Wort des Dichters gibt der Erfahrung des Göttlichen Halt und
Bindung. Haltbarkeit, Bindung an feste Wege des Wandels kennzeichnet.
auch den Tag, im Unterschied zum Rohen, zur Wildnis, zum Dämmer, zur
Verwirrung der Nacht. Tag und Nacht werden aber nicht nur als ein.
Gegensatz erfahren, sondern gerade in ihrem inneren Bezug. Die· Worte
müssen •• wie Blumen« entstehen, ebenso mühelos, aber ebenso wohlvorbe-
reitet im Wurzelboden der Erde (»tragen muß er, zuvor«); ebenso ist das
Sein des Tages auf das Nächtliche bezogen, wenn .>es fieberhaft und ange-
kettet das/ Lebendige scheint«; wenn •• rein das Licht und trunken/ die
Himmlischen sind/ vom Wahren, daß ein jedes/ ist wie es ist?« Diese
Eindeutigkeit der gestalthaften Welt und ihrer göttlichen Ordnungen be-
wahrt den Bezug auf das Ungestaltete:
Ihr ruhlet aber
Auch andere Art. Denn unter dem Maße
Des Rohen brauchet es auch,
Damit das Reine sich kenne.
Im Mythos ist dies die Gebundenheit der Titanen durch die Macht des Zeus,
der die gewaltigen Berge über sie getürmt hat. Es sieht der Dichter das
ungestalte Wesen der titanischen Kräfte ständig am Werk, auch innerhalb der
göttlichen Ordnungen, aber als das Angekettete. Die göttliche Ordnurig ist
eine Bindung des Chaos. Die eigentliche Botschaft des Dichters aber ist die
Unzerstörbarkeit dieser Herrschaft der ordnenden Geister. Titanenaufstand,
Lossagung vom Göttlichen, ist das wesenhaft Ohnmächtige. Daß die Macht
der Himmlischenjemals schwach würde, ist nur ein Schein. Auch noch über
der Entgötterung der Welt waltet das Gesetz und behält sie ein. Man denke an
den Schluß der Rheinhymne, wo Gott erkannt wird:
Bei Tage, wenn
Es fieberhaft und angekettet das
Lebendige scheinet oder auch
Bei Nacht, wenn alles gemischt
Ist ordnungslos und wiederkehrt
Uralte Verwirrung.
Hölderlin und 'das Zukünftige 35
Bei der großen und übertllschenden festigkeit, die Hölderlins mythische
Welt aufweist, darf man mit diesem Titanenmotiv wohl das andere ver-
knüpfen, das der Dichter (in etwas früherer Zeit) in dem Gedicht INatur und
Kunst oder Saturn undJupiter( gestaltet hat:
Du waltest hoch am Tag und es blühet dein
Gesetz, du hältst die Waage, Satumus' Sohn!
Und theilst die Los' und ruhest froh im
Ruhm der unsterblichen HerrscherkÜIlSte.
Doch in den Abgrund, sagen die Sänger sich,
Habst du den alten Vater, den eignen, einst
Verwiesen und es jammre drunten,
Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind,
Schuldlos der Gott der goldenen Zeit schon längst;
Einst mühelos und größer, wie du, wenn schon
Er kein Gebot aussprach und ihn der
Sterblichen keiner mit Namen nannte.
Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht!
Und willst du bleiben, diene dem Alteren
Und gönn' es ihm, daß ihn vor allen,
Göttern und Menschen, der Sänger nenne!
Denn, wie aus dem Gewölke dein Blitz, so kömmt
Von ihm, was dein ist, siehe! so zeugt von ihm,
Was du gebeutst, und aus den alten
Freuden ist jegliche Macht erwachsen.
Und hab' ich erst am Herzen Lebendiges
GefUhit und dämmert, was du gestaltetest,
Und war in ihrer Wiege mir, in
Wonne die wandelnde Zeit entschlafen,
Dann hör' ich dich, Kronion! und kenne dich,
Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn
Der Zeit, Gesetze gibt und, was die
Heilige Dämmerung birgt, verkündet.
Der mythologische Befund, auf dem Hölderlin hier aufbaut, schließt an den
Titanenmythos an. Er betrifft das Verhältnis des neuen Herrschers des
Olymp, Jupiter, zu Saturn, dem von ihm gestürzten und verbannten Vater.
»Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind« - dort im Abgrund, der die
Titanen birgt, sei der Gott der goldenen Zeit »schuldlos«. Ihn von dort zu
befreien und ihm die ihm gebührende Ehre zu erweisen, wird Jupiter ge-
mahnt. Man wird an Aischylos' Prometheus erinnert, der auch dem jungen
Herrscher des Olymp Maß und Versöhnlichkeit zu lernen aufgibts. Hier ist
5 Vgl. meine Studie ,Prometheus und die Tragödie der Kultur., in diesem Band,
S.lS0ff.
36 Hölderlin und das Zukünftige

es nicht Prometheus, an dem Zeus zum gerechten Herrscher zu werden


hat. Aber auch hier muß sich die dämmernde Zeit - Saturn - mit dem
klaren Gesetz des Jupiter vereinigen, wenn dieses Bleiben gewinnen soll.
Saturnusherrschaft, .die saturnischen Tage, war die fiir die Menschen selige
Zeit des mühelosen Genusses der Freuden des Daseins. Saturn herrschte,
ohne ein Gebot auszusprechen, mühelos waltend wie die Natur. Jupiter ist
demgegenüber die Kunst des Herrschens, das bewußte Ordnen nach Recht
und Gesetz. Eben diese neue Ordnung soll sich mit der wandelnden Zeit
versöhnen. Dann erst werde Kronion Oupiter) der weise Meister sein,
wenn er
[... ] wie wir, ein Sohn
Der Zeit, Gesetze gibt und, was die
Heilige Dämmerung birgt, verkündet.

Die Versöhnung Von Saturn und Jupiter, von Natur und Kunst, drückt in
älterer Sprache.9,ie gleiche Überwindung des Gegensatzes von Nacht und
Tag aus, die wir ·in HÖlderlinsEntWicklung des Titanenmotivs fanden. Die
Ordnung des Tages kann nicht dem bloßen Übermut des siegreichen Got-
tes entspringen. Dann hätte sie keinen wahren Bestand. Der »Verstand«
muß vielmehr hinzukommen, das heißt aber, das Wissen um die Natur,
um die Abhängigkeit und Herkunft aus dem Dämmer der Zeit. Die Tita-
nen sind mit Recht in den Abgrund verbannt, denn sie sind »Wilde«, die
der Tag nicht duldet. Saturn aber ist kein Widergott. er ist die Natur und
damit die wahrhaft göttliche Ordnung aller Dinge. Die Kunst, bei all ihrer
Herrlichkeit, zeugt nur von ihr. Und das Gedicht will sagen, daß nur der
zu dieser Weisheit gelangte Herrscher durch jedes Aufbegehren des Ab-
grundes unangefochten bleibt. - Vielleicht muß man geradezu so weiter-
denken: Weil er die Titanen ruhig aufbegehren läßt und erst auf dem Höhe-
punkte dt!1: A.\l.{l~~~g.. 0rcin~!i.h,!\lI:a~(~~ht,. i~t .er der unaJlgr.eifbare Herr-
scher. Er hält nicht abstrakt eine durch ihn begründete Ordnung der Dinge
(und der Menschen) fest. sondern sein »Verstand« ist eben, einverstanden
zu sein mit dem Willen der »reifenden Zeit« und den ungeschriebenen
Gesetzen, nach denen die »Natur« waltet und ihren Ausgleich trifft. Des-
halb läßt er der Gegenwart ihren heillos scheinenden Lauf.
Es braucht nun kaum noch ausgesprochen zu werden, wie sich diese
mythologische Deutung der Dinge durch den Dichter in das Bewußtsein
der von ihm Angesprochenen umsetzt. Auch ist es ja nicht so, daß die
versteckten Züge dieser Symbolik in einem ausdrücklichen Begreifen des
Verstandes vereJugt und angeeignet werden müßten, um ihre Sinn wir-
kung zu tun. Sie stellen nur die mythische Gestaltung dessen dar, was an
Hölderlins letzter dichterischer Eigenart Von jedem erfahren wird und was
seine geheiinilisvoUeGegeriwäriigkeit ·begrünaet. Hölderlin ist so sehr auf
Hölderlin und das Zukünftige 37

das Zukünftige gerichtet, von dem er sieht und zeugt, daß er dem Dichter
etwas von der antiken Würde des Sehers zurückgegeben hat.
Der antike Seher - und der Dichter, der sich im Amt des lvates< weiß - ist
nicht ein·Wundermaim, dem durch eine Art Zauber die Erkundung der
Zukunft gelingt, sondern er ist ein Wissender. Er versucht die Zeichen des
Kommenden zu lesen, weil er weiß, was gewesen ist - und wie es immer ist.
Aber während sich der antike Seher und Dichter mit seiner Rede, ob sie nun
warnt oder mahnt, flucht oder weiht, als Sprecher des Gottes weiß, der alles
Sein und alles Tun sichtbar durchwaltet, ist die Lage des abendländischen
Dichters eine andere, und noch das Ähnlichste stellt sich anders zusammen.
Auch Hölderlins Wort ist das Wort eines Wissenden, eines Eingeweihten.
Aus der bewahrenden Innigkeit des »Dankes«, in dem das Vergangen-
Göttliche fortlebt, deutet sich ihm die kommende Stunde. ))Doch Vergange-
nes ist wie Künftiges heilig den Sängern.« Auch er also weiß, weil er weiß,
was gewesen ist und was sein kann. Gleich dem antiken Seher steht auch er
unter dem Andrang_~iner göttlichen. Fülle, derer kein anderer gewahr wird,
es sei denn ein Erblindeter. Gleich ihm trägt er die gefährliche Einsamkeit
dessen, der unter einer Berufung steht.
Gleichwohl ist alles ganz anders, und gerade dies Anderssein fUgt den
Dichter Hölderlin in die einmalige Figur seines Schicksals. Er weiß nicht,
wie der antike Seher, um Zukunft und Vergangenheit, weil das außeror-
dentliche Wissen des Sehers alles Seiende umschließt. Es ist die Kraft seines
Herzens, die das Vergangene in das Künftige wendet. Das Symbol der
Nacht, des Dämmers zwischen gewesenem und kommendem Tage, meint
diese geschichtliche Lage des Dichters, die für ihn Mangel und Fülle zugleich
ist. Er liest nicht, als der vom Gott her Wissende, die Zeichen irgendeiner
Zukunft, die den anderen verhüllt ist und doch zu wissen not. Das Zukünfti-
ge, das er sieht, ist nicht das noch verborgene Geschehen einer ausstehenden
Zeit. Es wäre ein Mißverständnis, wollte man seine dichterische Botschaft
als' )Erkundung der Zukunft< verstehen und beherzigen. Das Zukünftige,
das er kündet, ist überhaupt nicht ein von den Göttern Gesandtes, Gutes
oder Schlimmes, sondern es ist die Wiederkehr der Götter selbst, die in
nichts anderem als in diesem Ruf des Dichters (und seinem Widerklang im
Herzen des Volkes) geschieht.
Damit ist der Seher mitsamt seinem Wissen in die äußerste Ungewißheit
ausgesetzt ..~ein Lied singt nicht nur von Zukünftigem, sondern ist selbst das
wesentliche Geschehen, in dem sich das Zukünftige zeitigen muß. Was der
subjektiven Reflexion als ein Vorgang der dichterischen Eingebung und
Empfängnis sich darstellt, ist Erscheinung des göttlichen Seins und hat an
aller Gewißheit und Ungewißheit des Kommenden teil.
38 Hölderlin und das Zukünftige

Und cüe Zeiten des Schaffenden sind


Wie Gebirg, das hochaufwogend
Von Meer zu Meer
Hinziehet über cüe Erde [... ]

So steht das Seherwort des hesperischen Dichters ganz auf sich selber und
bleibt seiner selbst gewärtig. Sich selbst zukünftig ist es das ins Ungewisse
der Zeit ausgesetzte Unterpfand eines bleibenden Seins.
Deshalb zielen alle schnellen Anwendungen seiner dichterischen Rede auf
die Gegenwart und ihre Erwartungen zu kurz. Auch wenn der Dichter in
einem Gedicht von so erschütternder Kraft und Eindringlichkeit, wie es das
Bruchstück )Der Frieden< ist, geradezu die Erfahrungen des eigenen kampf-
und leiderfahrenen Geschlechts auszusprechen scheint, meint sein dichteri-
sches Wort vom Frieden doch nicht ein zu erwartendes Ereignis der Zu-
kunft. Er spricht als ein in alle Zukunft Eingeweihter und in allem menschli-
chen Geschick Erfahrener sein bleibendes Wort:

Der Frieden

Wie wenn cüe alten Wasser in andern Zorn


In schröcklichem verwandelt wieder
Kämen, zu reinigen, da es not war.
So gährt' und wuchs und wogte von Jahr zuJahr
Rastlos lind überschwemmte das bange Land
Die unerhörte Schlacht, daß weit hüllt
Dunkel und Blässe das Haupt der Menschen.

Wer hub es an? wer brachte den Fluch? von heut


Ist's nicht und nicht von gestern, und die zuerst
Das Maß verloren, unsre Väter
Wußten es nicht, und es trieb ihr Geist sie.
Zu lang, zu lang schon treten die Sterblichen
Sich gern aufs Haupt, und zanken um Herrschaft sich,
Den Nachbar fürchtend, und es hat auf
Eigenem Boden der Mann nicht Segen.
Und unstät wehn und irren, dem Chaos gleich,
Dem gährenden Geschlechte die Wünsche noch
Umher und wild ist und verzagt und kalt von
Sorgen das Leben der Armen immer.
3. Die Gegenwärtigkeit Hölderlins
(1983)

Als ich die ersten Verse Hölderlins las, war das noch eine Ausgabe von Marie
Joachimi-Dege, in der nur wenige der späten Gedichte in vollem Wortlaut
auftraten - ich bin nicht einmal sicher, ob IBrot und Weine schon in der
vollen Fassung dort aufgenommen war. Bekanntlich ist ja von den Roman-
tikern nur die erste Strophe dieses großen Gedichtes in die Öffentlichkeit
gegeben worden.
Das große Ereignis, das mich und andere in einen neuen Hölderlin einge-
wiesen hat, war die Hellingrathsche Ausgabe der späten Gedichte, die 1916
im Druck erschien und 1914 vor Ausbruch des Krieges im Manuskript von
Hellingrath abgeschlossen war.
Man weiß, daß der Dichter Stefan George in einem mit Recht berühmten,
wahrhaft epochalen kurzen Wort die Entdeckung dieses uns bisher verbor-
genen Dichters verkündet hat und daß es eben die Hellingrathsche Entziffe-
rung und Erweckung des Hymnenwerks war, aufgrund deren der Dichter
dieses Neue ankündigen konnte.
Aber es war ja mehr als ein Kreis von eingeweihten Freunden eines
Dichters vom Range Stefan Georges, was diese plötzliche Gegenwart eines
neuen großen Dichters ermöglichte. Man fragt sich doch auch, und wir alle
fragen uns, wir Älteren, die wir eine lange Zeit die Wellenschläge des Echos
dieser Dichtung erlebt haben, und die Jüngeren fragen sich gewiß auch, wie
dieses gedankenvolle Brandungsgeräusch in unserem industriellen und tech-
nischen Getöse weiterschallen wird oder ob es verstummt. So sind wir
sicherlich alle gemeinsam vor die Frage gestellt: Was hat neben dem glühen-
den Atem Schillerschen Freiheitspathos und seiner dichterischen Rhetorik,
und 'neben der für uns alle und immer wieder unfaßlichen Gelassenheit des
dichterischen Genius von Goethe - was hat diesen dritten großen Dichter
deutscher Sprache fast auf dieselbe Stufe von Gegenwärtigkeit gehoben?
Was ist das so anders, daß einer sagen kann, er ist ein' von Hölderlin Getroffe-
ner gewesen? Was begegnete uns in diesem Dichter aus der schwäbischen
Enge -, was ist es, das ihn fUr Zugereiste meines Schlages und für die ganze
deutsche und europäische, die ganze französische, englische, amerikanische
und darüber hinaus die italienische und spanische Sprachwelt auszeichnet -
40 Die Gegenwärtigkeit Hölderlins

und ich weiß nicht, wie weit das Jenseits der Sprachen reicht, die ich selber zu
lesen vermag. Was ist es, daß überall Hölderlin als ein Dichter unseres
Jahrhunderts erscheinen kann?
Wenn ich diese Frage stelle, so glaube ich sagen zu dürfen, daß hier ein
Geheimnis des'Wortes, das, was wir das Leiden am Suchen des Ausdrucks
nennen könnten, im Spiele ist. Keiner unserer großen Dichter sonst hat so
das Wort immer wieder fast stammelnd gesucht und die Suche immer
wieder verzweifelt abgebrochen. Keiner von allen unseren Dichtem sonst
war so wie er durchdrungen von der Unfähigkeit, der Unmöglichkeit, das
zu sagen, was zu sagen ihm vorschwebte. Vielleicht ist es das, was am Wort
dieses Dichters auch den Zeitgeist in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg,
injener Epoche, die dann für die deutsche Geschichte so unselig enden sollte,
uns alle zutiefst anrührte. Es war ja die Zeit, in der auch in anderen Sphären
die Kunst der Erbmasse eingeübter Formen und Gestaltungsweisen eigent-
lich nicht mehr folgen konnte, sondern suchend, gepreßt, gesteigert, defor-
mierend und doch immer wieder ganz besessen von dem eigenen Aus-
drucksverlangen, neue Gestaltungen unennüdlich versuchte. So mag es
wohl damit zusammengehangen haben, daß wir, lange bevor durch eine
politische Instrumentierung dieser Hölderlinpflege die Dinge ins Zwielicht
kamen, alle Hölderlin lasen, über Hölderlin nachdachten wie über einen, der
über die Zeitenfeme unserer klassischen Dichter weit hinaus zu uns selber
gehörte. Für Rillte, Trakl, fiirGottfried Benn, für alle Kommenden - ich
wage gar nicht, die jüngeren Namen überhaupt zu nennen - war es eine
Selbstverständlichkeit, dieser Dichtweise zuzuhören, dieser Weise eines
Dichters, die keine vertraute Weise, die keinen sozusagen ererbten und
weiterentwickelten Ton aussingt, sondern ihr eigenes gepreßtes Unvermö-
gen zu immer neuen Visionen ins Wort zu bannen versucht - und das
vermag.
Er war für uns auch der Vorläufer von Nietzsches Entdeckung des diony-
sischen Untergrundes der apollinischen Heiterkeit in der griechischen Kul-
tur. Er war rur uns insofern eine beständige, fordernde Aufgabe, die mit uns
gegangen ist. Trotzdem war er nicht eine Bezugsfigur konstanter Art. Ich
sprach von dem Rhythmus der Wellenschläge, in denen uns alle die Hölder-
linsche Dichtung erreicht. Sehr verschiedenartig wirkte etwa die Hyperion-
Phase auf uns; -öder wie eigentümlich war unser Schwanken zwischen der
Bevorzugung der prophetisch klingenden Hymnen oder der gelassenen und
doch auch wieder aufs kühnste gebrochenen Form, in der die strengen
antiken Maße zum Ausdruck von HölderIins gedrängtem und bedrängtem
Sehnen wurden. In den letzten Jahrzehnten konnten sogar die Gedichte der
spätesten Zeit, der Zeit der Umnachtung, wie man sie nannte und nennen
darf. eine neue - ich weiß nicht, was filr eine - Gegenwärtigkeit erreichen,
als das Ausklingen einer ermatteten und gepreßten Seele in unvergleichli-
Die Gegenwärtigkeit Hölderlins 41

chen Einklängen von Natur und Seele, im Rhythmus der Jahreszeiten, im


Rhythmus der Lebensjahre - Ineinanderspiegelungen im Nachklang, in
denen der Einklang von Natur und Mensch selbst in einer durch die Emsig-
keit unserer technischen Zivilisation entstellten Umwelt uns nochmals er-
kennbar wird. Gerade auch die Vielfalt dieser Brechungen, in denen das
Werk Hölderlins zu uns sprach, macht für den, der ein Ohr für Dichtung
hat, noch immer seine Gegenwärtigkeit aus.
Als Pl1ü9soph hätte ich natürlich noch allerhand über die neue Bedeutung
zu sagen, die Hölderlin für unser Verständnis der Epoche zwischen Klassik
und Romantik gewonnen hat. Was inzwischen so vielfach in aller Munde ist,
hat uns schQJ1 in den zwanziger Jahren sehr bewegt: Hölderlin. der Jakobi-
ner. Ich arbdt'ete um 1933 an einer größeren Arbeit über die Französische
Revolution und ihre Wirkungen auf die deutsche Kultur. Da ich mich
entschloß, in Deutschland zu bleiben. habe ich das Arbeitsthema wieder
fallengelassen. Aber es gab Vorarbeiten, und man wußte allerhand über
diese Dinge, die dann inzwischen durch andere. vor allem durch Bertaux,
ins allgemeine Gespräch gekommen sind.
Nun, etwas von dieser Präsenz Hölderlins, des aus ganz engen Verhältnis-
sen Kommenden und trotzdem »von der Sprache Geküßtenlt, gilt wohl für
uns alle. Was für ihn Sprechen war, ist vielleicht die Urform von Sprechen
überhaupt. Sprechen ist Suchen des Wortes. Finden des Wortes ist wohl
immer schon eine Beschränkung. Wer wirklich zu jemandem sprechen will,
tut es im Suchen der Worte. weil er an die Unendlichkeit dessen denkt. was
einem zu sagen nicht gelingt - und was gerade dadurch, daß es einem nicht
gelingt, im Anderen anzuklingen beginnt. Etwas von dieser Weisheit des
Stammelns und Verstummens wird vielleicht das Zukunftserbe unserer
geistigen Kultur für kommende Generationen sein müssen. Man sieht es ja,
wie hermetisch die Form heutiger Dichtung geworden ist. Da braucht man
sich weder zu wundern, daß es keine breite Resonanz von Dichtung in der
Öffentlichkeit gibt, noch muß man sich wundern, daß diejenigen, die das
Wort der Dichtung fiir ein unentbehrliches Lebenselement halten, nicht
mehr freudig und gelassen über den Besitz eines dichterischen Erbes froh-
locken, sondern selber wie Beengte und wie Stammelnde in diese unsere
Welt hinein- und in diese unsere Zukunft hinausblicken. Die Weisheit des
Stammelns und Verstummens trägt die Gegenwärtigkeit des neu entdeckten
Hölderlin.
4. Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins >Andenken<
(1987)

Das Thema )Dichten und Denken< ist jedermann dank der schicksalhaften
Nähe Hölderlins und HegeIs, des unglücklichen großen Dichters und des
imperialen Denkers der gleichen Epoche, nahe. Selbst die Wahl des Ge-
dichtes )Andenken< zur Diskussion eines so grundsätzlichen Themas kann
nicht gerade überraschen. Schließlich hat Heidegger im Jahre 1943 eine
umfangreiche Auslegung des Gedichts vorgelegt l . Er war offenkundig von
der inneren Gewißheit erfüllt, daß die Grundhaltung des späten Hölderlin
mit seinem eigenen Denkschicksal, das i~ in seine philosophische Arbeit
genötigt hatte, nahe übereinstimmt und eine überwältigende Aktualität
aufweist.
Nun verfolgen alle Hölderlin-Beiträge Heideggers das gleiche Ziel. Er
möchte Hölderlin aus der Nachbarschaft mit dem deutschen Idealismus, mit
dem er zeitgenössisch war, ganz herausrücken und in seiner Einzigkeit
sichtbar machen. Wie Stefan George in den späten Hymnen Höderlins den
Seher der eigenen Zukunft unseres Volkes gesehen hat und das schon vor
dem Ersten Weltkrieg aussprach, als er die durch Hellingrath geleistete
Entzifferung des Hölderlinschen Spätwerkes kennengelernt hatte. Martin
Heidegger hat in vergleichbarer Weise Hölderlin und seine einzigartige
symbolische Vorläuferschaft für sein denkerisches Anliegen in Anspruch
genommen, und das war, die Frage nach dem Sein neu fragen zu lernen.
Hölderlins dichterische Werke sollten ihm für sein Bemühen hilfreich wer-
den, die Metaphysik zu »überwinden«.
Heidegger hat in seinem Umgang mit dem Hölderlintext vieles neu zum
Klingen gebracht. Er folgte sachlichen Zusammenhängen, wenn er das
Gedicht )Andenken< mit. Entschlossenheit in die Reihe der großen späten
1 Veröffentlicht zusammen mit meiner Interpretation von Hölderlins Hymne IDer
Einzige. Getzt in diesem Band. Nr. 1) in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todes-'
tag. Herausgegeben von PAUL KLUCKHOHN. Tübingen 1943. S.267-324 Getzt in der
HElDEGGERschen Gesamtausgabe Bd.4, S.79-151). Inzwischen ist außer dem Aufsatz
Heideggers auch die weitausgreifende Vorlesung aus den Jahren 1941/42 als Band 52 der
Gesamtausgabe zugänglich, die das Gedicht interpretiert hat. In den Bänden 4, 39 und 53
sind weitere seiner Arbeiten über Hölderlin enthalten.
Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken< 43
Hymnen einordnete und aus'diesem Zusammenhang interpretierte. Er hat
sich mit dieser Anordnung gegen die Einreihung Hellillgraths entschieden.
Hellingrath hatte - nicht ohne das zu begründen - )Andenken( der Reihe der
»lyrischen« Gedichte eingefügt2. Dagegen war es Heideggers Art, daß er
Hölderlins denkerisches Werk als eine einheitliche geschichtsphilosophische
und geschichtspoetische Vision verstand. Man kann daher viel über die
innere Folgerichtigkeit lernen, die zu der sogenannten vaterländischen Wen-
dung Hölderlins und der Wendung zur Heimat geführt hat. In dem Gedicht
)Andenken( gibt es aber nur eine ausdrückliche Anspielung auf das, was
Hölderlin sonst oft in die Mitte seiner hymnischen Schöpfungen gestellt hat.
Nur im letzten Vers seines )Andenkens( spielt er an den Beruf des Dichters
an. Von dieser Schlußwendung »Was bleibet aber, stiften die Dichtecc< läßt
sich Heidegger leiten, indem er überall in dem Gedicht die Dichter gemeint
finden will, sowohl in den Schiffern, welchen der Nordost günstige Fahrt
verheißt, als auch in den entschwundenen Freunden, nach denen sich der
Dichter sehnt. Heidegger nimmt damit gleichsam voraus, was erst am Ende
ausdrücklich wird. Immerhin wird der Schluß vers wie ein wahrer Schluß
aus dem Ganzen gezogen.
Beim Lesen des Gedichts kann ich Heidegger aber nicht ganz folgen. Das
Gedicht hat nicht sogleich das Thema, das wir aus den Hymnen kennen.
Hier ist von Heimat oder von Rückkehr ins Eigene überhaupt nicht die
Rede, so oft auch sonst bei Hölderlin Wanderung, Heimkunft, Heimat im
Blick stehen. Im Gedicht )Andenkenl ist es offenkundig ein Heimgekehrter
aus Bordeaux, den das Andenken an den fernen Süden überkommt und der
sich jetzt allein weiß. Diese Evidenz war es wohl, die Hellingrath veranlaßt
hat, .Andenkenl den »im engeren Sinne lyrischen Gedichten« einzuordnen.
Darin stimme ich der Grundthese des Beitrages von Dieter Henrich durch-
aus zu, die sich schon im Titel seines Buches ausspricht: •• Der Gang des
Andenkens«3.
Henrich nimmt allerdings einen eigenartigen Weg für seine Untersu-
chung dieses Ganges. Mit größter Sorgfalt und Mühe hat er für die Kultur-
geschichte allerhand Interessantes zutage gebracht. Aufgrund seiner Nach-
forschung hat er das Bordeaux der Tage Hölderlins, wie es damals wirklich
war, rekonstruiert, und sucht von da aus, soweit möglich, das in dem
Gedicht Ausgesagte und seinen Gang des Andenkens aus den Lokalitäten zu
verdeutlichen. Das macht mir methodische Schwierigkeiten. Ob eine noch

2 Hölderlin. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, unter Mitarbeit von


FRIEDRICH SEEBASS besorgt durch NORBERT VON HELUNGRATH. Band IV. München und
Leipzig 1916. S.303. Dazu F. BEISSNER in der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe
(St.A.) Bd. II 2. S. 802.
3 DIETER HENRICH. Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu
Hölderlins Gedicht. Stuttgart 1986.
44 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken,

so zutreffende Rekonstruktion des damaligen Bordeaux für das Verständnis


des Gedichtes hilfreich sein kann? Mag sein, daß man die dichterische
Umsetzung tatsächlicher Wirklichkeiten im einen oder anderen Falle so
,erklären< kann. Aber wer ein Gedicht liest, will die dichterische Einbildungs-
kraft und ihre Freiheit nicht in die Fesseln einer genauen Beschreibung von
Lokalitäten geschlagen sehen. Welcher Leser will denn erklärt bekommen,
wie er sich dieStege am Ufer der Garonne vorstellen müsse? Er weiß es besser.
Man kann, wenn man das will, etwa als Kunsthistoriker, wie das Oskar
Schürer ehedem getan hat'. das Gemälde von Caspar David Friedrich ,Böh-
mische Landschaft< an Ort und Stelle überprüfen - um daran zu zeigen, wie
der Maler sogar Berge zu versetzen imstande war. Wir können das doch wohl
kaum mit überraschung hören. Ein Maler komponiert eben die Wirklichkeit
fast so, wie er etwa mit der Wirklichkeit umgeht, wenn er ein Stilleben
aufbaut. Auch dann ist das Gemälde vollends eine neue Komposition und
nicht ein getreues Abbild des Aufbaus. Wenn es sich gar um ein ,Andenken<
handelt, in dem immer verklärende Arbeit der erinnernden Phantasie steckt,
und wenn es sich nun gar um eine dichterische Gestaltung handelt, dann ist in
diesem Falle die wirkliche Lokalität von Bordeaux, um in eirler Umkehrung
Platos zu reden. »dreifach von der Wahrheit entfernt«. Daher würde ich sogar
zögern, auch nur von einer Vedute zu sprechen. obwohl das selber eine
Kunstgattung ist, aber eine mit dem besonderen Anspruch. eine fast porttät-
hafte Widergabe des ,Blickes< zu sein. Man wird auch das Porträt eines
Künstlers gerade nicht wirklich bewundern können, wenn man für die
Ähnlichkeit den Porträtierten zum Vergleich heranzieht. Im Falle der Dich-
tung ist das aber noch abwegiger. Denn was durch die Dichtung zur Darstel-
lung kommt. findet in jedem Leser eine eigene Ausfüllung. Da kann man
überhaupt nicht mehr von Ähnlichkeit reden. ohne die Kunst zu verfehlen.
Ich kann nicht einsehen, warum man sich für das Verstehen eines Gedichtes
und der verklärenden Kraft eines Andenkens überhaupt für das damalige
Aussehen von Bordeaux interessieren soll. Henrich wird wohl antworten, die
Gewaltsamkeit von Heideggers Interpretation, zu der Heidegger sich verfüh-
ren ließ, die Schiffer als die Dichter zu verstehen. verdeiXe den wahren Gang
des Gedichtes. Man müsse doch sehen, daß die Landschaft des Anfangs und
die Landschaft der Schlußstrophe verschieden sind. Das kann gewiß niemand
bestreiten, der sein dichterisches Ohr befragt. Es ist eine fast selbstverständli-
che Bestätigung, die Henrich durch seine minutiöse Ortsinspektion erbracht
hat. daß die Schlußstrophe die Landschaft des Abschieds der in See stechenden
Kauffahrer meint.

4 OSKAR SCHOau, Zu Caspar David Friedrichs Gemälde ,Böhmische Landschaft,. In:


KURT OBBRDORl'F&R U.2. (Hrsg.), Festschrift fllr Erich Gierach. Reichenberg 1941,
5.433-446.
Dichten und Denken im Spiegd von Höldetlins ,Andenken< 45

Wieder habe ich nicht das leiseste Interesse daran, welche genaue Stelle
dort gemeint sein soll, wo an der »luftigen Spitz'« die Dordogne herab-
braust. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist nicht ein Punkt in der
LandschaJt, sondern der Punkt des Abschieds, welcher immer es gewesen
sein mag, und das ist der betonte Punkt des Andenkens. Wenn auch ich den
Gang des Gedichtes zwischen zwei verschiedenen Punkten der Garonne
mitgehe und damit die Rede von den Schiffern und dann die von den
Dichtern wörtlich nehme, dann kann man gewiß nicht, wie Heidegger (und
sogar Binder) taten, die Schiffer als die Dichter. verstehen. Ich möchte es
jedoch ganz offen lassen, ob die neuen Erkenntnisse über die Örtlichkeiten,
die Henrich mit stupender Gelehrsamkeit vorgelegt hat, die Grundfrage, die
Henrich an Heidegger stellt, wirklich zur Entscheidung bringen kann. Hen-
rich will. wie in manchen anderen Studien, Hölderlin aus seinen Beziehun-
gen zum deutschen Idealismus, zu Fichte und zu Heget verstehen. Mir
scheint das Gedicht ,Andenken< nicht geeignet. zu dieser kontroversen Frage
einen Beitrag zu leisten.
Cyrus Hamlin hatte als Veranstalter des Kolloquiums 1987 in Yale selber
eine größere Arbeit über das Gedicht ,Andenken< vorgelegts . Sie stellt in
meinen Augen ein anderes methodisches Extrem der Deutung dieses Textes
dar. Zwar stimme ich mit ihm - gegen Henrich - überein, daß der Wirklich-
keitsbezug, den Henrich geprüft hat, für die Interpretation des Gedichtes
nichts austrägt. Hamlin geht seinerseits den ganz anderen methodischen
Weg. daß er IIpoetisch-intertextuelle« Bezüge aufsucht. Da wird es mir
manchmal auch schwer. zu folgen. Gewiß bestreite ich nicht. daß es solche
Bezüge bei Hölderlin wie in aller Dichtung gibt. für die man sich als
Literaturforscher interessieren kann. Sie mögen sogar mitunter beitragen,
das dichterische Volumen solcher Verse, wie esjeder spürt, in seinen verbor-
genen Dimensionen ein paar Schritte weit aufzuklären - wenn man das
wissen will. Das scheint mir aber nicht das Verständnis des gegebenen
Gedichtes zu fördern. wie es der Leser, wenn er versteht, mehr oder minder
bewußt sucht und erreicht. Da gibt es gewiß Untertöne und Anklänge, die
vielleicht irgendwo mitschwingen. So kann man etwa bei dem Trunk, den
hier der Sprechende sich erbittet, an andere Hölderlinsche Gedichte erin-
nern, also etwa an ,Brot und Wein< und dessen vielschichtige Anklänge an
das Herrenmahl und an die Heiligkeit von Erde und Licht. Aber der Becher
in ,Andenken< hat nichts davon. Es ist in meinen Augen überhaupt unhalt-
bar, worin Henrich und Hamlin beinahe einig scheinen, die dritte Strophe,
mit der Bitte nach dem Trunk. in die Szenerie des Frühlingsfestes zu verset-
zen, die in der zweiten Strophe evoziert wird.

, CYRUS HAMLIN, Die Poetik des Gedächtnisses. Aus einem Gespräch über Hölderlins
,Andenken<. In: Hölderlin-Jahrbuch Bd. 24 (1984/85), S. 119-138.
46 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken<

In Wahrheit gebietet der Einsatz der dritten Strophe dieser Erinnerung


gerade Einhalt. Es ist ein bewußter Unterbruch, der in die dritte Strophe
einleitet. Was Hamlin sucht, scheint mir auch sonst ohne Rückhalt im Text.
Dieser Trunk wird nicht weitergereicht. Er soll auch nicht Gesprllche bele-
ben, sondern es soll im Gegenteil dem an seiner Einsamkeit Leidenden
leichter werden und ihn in Schlummer wiegen. - Ein anderes Beispiel. das
ich ror eine Fehldeutung halten muß, ist, wenn Hamlin in der letzten Strophe
11 Ausgehet der Strom«. diesen Ausgang ins Meer, als eine Anspielung an den

Tod verstehen will. Es gibt sich.!!rlich gute Gründe, bei Hölderlin den
Symbolgehalt von »Ausgang« zu beachten. Aber mit dem vorliegenden
Gedicht hat das wiederum nichts zu tun. Selbst die Gefahr. das Risiko, das
die ausfahrenden Seefahrer in Kauf nehmen und das natürlich als die Sorge
um ihre Rückkehr und im Gedanken an den Tod die Zurückbleibenden
erfüllt, ist in dieser Abschieds-Szene von >Andenken< nicht der entscheiden-
de Punkt. Die Strophe meint nicht so sehr die Gefährdung der Seefahrer, als
die Gefahrdung des Gedächtnisses, wie es die See nimmt und gibt und das
über aller Trennung, und für beide Teile, waltet.
Die beiden Beispiele mögen genügen, welche grundsätzliche Frage hier
zur Diskussion steht. Es gilt beim Verstehen von Dichtung zwar die Viel-
stelligkeit des dichterischen Wortes wahrzuhaben. Aber Intertextualität
muß vom Texte geboten werden, und nicht von einem allzu gelehrten Leser.
Hier trifft mein Einwand die extremen Formen des heute modernen Dekon-
struktivismus. Ich bestreite nicht, daß es Tiefendimensionen gibt und auch
daß sie wie eine mögliche Psychoanalyse an Literatur freigelegt werden
können. Aber ich bestreite, daß dies die Weise ist. wie ein Leser die Gedichte
versteht, die er liebt. Hier spielt eine noch viel weiterreichende Frage hinein.
Ob es wirklich so ist, daß die tiefenpsychologische Dimension zur Aufhe-
bung aller Kommunikation führt und zu den extremen Ausfolgerungen von
Nietzsches Theorie des Willens zur Macht nötigt? Wäre man konsequent.
würde damit eine wahre Anti-Hermeneutik etabliert. In Wahrheit aber wird
doch wohl auch seitens derer, die diese theoretische Interessennahme vertre-
ten. Verständigung von Menschen mit Menschen gesucht. Das gilt für
jeden, der zu einem andem spricht, und auch für jeden Vertreter einer
Theorie.
Man möge mir erlauben, hier das Recht des Lesers zu verteidigen. der ein
Gedicht liest und sich zu eigen macht. In einem solchen Falle ist Verstehen
genauso strukturiert wie im täglichen Gespräch zwischen Menschen. Ob
einem etwas ins Gesicht gesagt wird oder in einem Gedicht gesagt wird - als
der Andere versucht man, die Sinn-Einheit dieses Gesagten zu vollziehen.
Man ist der Partner. der mitgeht und antwortet, oder ist der Leser eines
Gedichtes. der mit dem Gedicht mitgeht und der am Ende mitsingt. Es
bleibt die erste Aufgabe einer Interpretation, dieses Mitgehen zu fördern.
Dichten und Denken im Spiegel von Hölder1ins .Andenken( 47
Die Sinnfragmente, die eine dekonstruktivistische Hinterfragung jeder
Sinnintention aufsuchen mag, mögen allerhand Interesse verdienen, aber sie
vermögen nicht das Verständnis eines Gedichtes als einer Sinn-Einheit zu
ersetzen. Wer etwas Gesagtes verstehen will, will das Ganze verstehen, was
einem gesagt wird. Darüber sollte doch Einverständnis erreichbar sein. So
stelle ich mir im vorliegenden Falle im Mitgehen mit dem Gedicht .Anden-
ken( die Aufgabe, das Recht des Lesers zu verteidigen. Es geht um die
Einheit der ,Aussage(. Andernfalls bliebe Dekonstruktivismus aller Na-
mensversichetung zum Trotz destruktiv.
Vielleichdst es nützlich, es an einem Beispiel vorzuruhren. wieweit die
intertextuene Interpretationstendenz reicht und wie sie ihre Grenze an der
Einheit der Aussage findet. Man möge sich dafiir an die besonderen Fälle
erinnern. in denen es Dichtern wie T. S. EHot und Ezra Pound auf zwingen-
de Weise gelungen ist. Zitate geradezu in das wunderbare Melos ihrer
Dichtungen einzufügen. in welchem alles Fragmentarische zum Ganzen
wird. Gewiß ist der Dichter nicht ein Interpret. Aber der Interpret sollte
doch dem Leser nahe bleiben und dem Leser erlauben, Interpretation in sein
Lesen einzufügen. Man hat mir nun berichtet. daß in Yale seineizeit zu dem
Vers» Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum 11 der Feigenbaum wie ein Zitat
behandelt worden ist. Die Kenner der Barock-Poesie haben da gewiß viel
gefunden, und vielleicht würden sie auch ihre .Anatomie( zum Beispiel auf
die Silberpappeln ausdehnen können. Wenn man hier den Feigenbaum
thematisiert. wird man gewiß vieles finden. Nicht gerade Rilke (aus Grün-
den der Chronologie nicht): »Feigenbaum, 0 wie lange schon ists mir
bedeutsam '" « Aber woran jeder denken muß, ist doch im johannes-
Evangelium (Joh. 2) jene dramatische Szene, in der Jesus den Nathanael mit
den Worten empfängt: »Siehe da. ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist
... als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. ce Mit dieser Antwort ist
in N athanael alles Zweifeln zu Ende. - Daß Hölderlin, derTübinger Stiftler.
die Szene mit dem Feigenbaum im Sinn haben konnte, wird niemand
bezweifeln. Aber - gehört das in die Aussage des Gedichts? Wer dem Gang
des Andenkens im Gedicht wirklich folgt, wird doch sofort verstehen
müssen. was dieses »aber« meint. Das vom Gedicht beschworene Land-
schaftsbild. mit dem Ufer der Garonne und dem Ulmen wald und der
Mühle. - das könnte irgendwo nördlich der Alpen auch sein. Der Feigen-
baum aber steht rur den Süden. In Schwaben kannte man gewiß Feigen. aber
nur getrocknete. »Ein Feigenbaum«, der da ))wächsetl<. ist wie ein Wahrzei-
chen des Südens. In dem Gedicht leitet er den Gang des Andenkens weiter zu
den braunen Frauen und dem seidnen Boden und zu der Märzenzeit ...
Das ist mein Punkt. So ist es eine Aussage. In der Klage. mit der der sich
einsam Fühlende an die Hyperionwelt denkt, an diese auch südliche. wenn
auch nur geträumte Welt. kommt ihm auch die Erinnerung an die südliche
48 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken'

Hafenstadt an der schicksalskundigen See, mit all den "wagenden Männern.


Auf dem Gange dieses Andenkens steht der Feigenbaum, und nirgendwo
sonst.
Im Falle des Gedichtes )Andenken< ist die Bewährung des Verstehens erst
erreicht, wenn man den Schlußsatz des Gedichtes» Was bleibet aber, stiften
die Dichter« nicht nur in sich versteht, sondern aus dem Gedicht, im
Mitgehen mit dem Gang des Andenkens, zu gewinnen vermag. Sucht man
nun den Zugang zu der Einheit der dichterischen )Aussage<, so drängt sich
zwar wirklich die dritte Strophe auf, aber gerade als Unterbrechung des
Beschwörens schöner Erinnerungen an Bordeaux. Daher die Bitte um den
Trunk. Hier kann keine Rede davon sein, daß Erinnerungen an die Feiertage
in der Märzenzeit als die Teilnahme an einem Festmahl beschworen werden.
Dazu gibt es in der zweiten Strophe keinen Anhalt. Die dritte Strophe
markiert vielmehr den Zusammenhang mit der zweiten durch das »aber«
(»Es reiche aber«). Das meint doch offenbar den, der sich hier seinen
Erinnerungen hingibt. Heidegger hat mit Recht, in diesem Falle, die Par-
allele aus dem Gedicht )Der Wanderer< zitiert: »Darum reiche mir nun, bis
obenan von des Rheinesl Warmen Bergen mit Wein reiche den Becher
gefilllt!« Der Topos solcher unterbrechender Anrede ist auch sonst nicht
gerade ungewöhnlich. Der Bau des Gedichtes ist eigentlich leicht zu durch-
schauen. Im Gang des )Andenkens< liegt die Wendung in der dritten Stro-
phe, die die zweite Hälfte des Gedichtes und seinen Schluß heraufruft. Am
Schluß ist es in der Tat eine andere erinnerte Landschaft. Es ist die Landschaft
des Abschieds, auf die das Andenken hinzielt. Was bedeutet der übergang
von der Anrufung der dichterischen Freunde der Hyperionwelt zu der Rede
von den Männern, welche als Seefahrer von Bordeaux aus in die Weite
ziehen?
Diesen übergang gilt es zu verstehen. Er ist vorbereitend für den Schluß
des Gedichtes. In meinen Augen ist er der wahre Prüfstein für das Verständ-
nis der dichterischen )Aussage<. Es ist der übergang von den erinnerten
Freunden zu den erinnerten Männern. Wenn man mit Heidegger in beiden
von vornherein nur Decknamen fiir die Dichterfreunde des sprechenden
Dichters sieht, fällt der übergang flach. Man kann dann zwar den Sinn der
Schlußzeile in sich verstehen, aber man unterschlägt den eigentlichen Gang
des Andenkens. Es ist doch handgreiflich. Die Erinnerung an die Hyperion-
welt geht in die Erinnerung an eine Erfahrung über, die dem Dichter in
Bordeaux wurde. Da hat er den Pulsschlag einer großen Handelsstadt erfah-
ren, wo alle mit dem Wagnis der Seefahrer mitleben und wo das Denken an
sie bis zu der erwarteten Rückkehr bewahrt wird und zu spüren ist. Das ist
die Landschaft des Andenkens.
In Heideggers Behandlung der Sache ist insoweit etwas Wesentliches
gesehen, als die Freunde der Hyperionwelt und die Seefahrer von Bordeaux
Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken< 49
hier in einer wesenhaften Beziehung zu der Lage und dem Schicksal des
Dichters stehen. Das muß auch in dem schwierigsten Satz stecken: »Man-
cher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn«. Das kann für die Hyperionfreun-
de verstanden werden, die nach dem Scheitern ihres Kam pfes um die Befrei-
ung des Griechenlandes in die Ferne entschwinden. Es kann auch als das
Schicksal der Seefahrer verstanden werden, die den Reichtum des Meeres
mit kühnem Wagemut heimzubringen suchen. Und es muß von beiden
verstanden werden. Gehen in die Ferne und Gehen von Umwegen ist nicht
nur das Schicksal geträumter Helden oder kühner Kauffahrer. Es ist das
Schicksal des Menschen. Das lebt im IAndenken< des Gedichts. Beide sind in
die Ferne gefahren. Erinnerungen an die dahingegangenen Hyperionhelden.
nach denen der Einsame sich sehnt, haben sich mit einer neuen Erfahrung
verbunden und damit vertieft. Die Hafenstadt Bordeaux mit den Kauffah-
rern, die den Reichtum heimbringen, werden wie ein Abbild des Heldischen
im Leben selber gefeiert. Die Kauffahrer erscheinen darin mit der ge-
dichteten Hyperionwelt vergleichbar.
Nun geht der Gang des Andenkens so, daß bei der Schilderung dieser
kühnen Männer nochmals Andenken zum Thema wird. Es ist die Erinne-
rung an den Abschied, an die Trennung und an das Gedenken, das zwischen
Ausfahrenden und Zurückbleibenden spielt. Der Satz, der anhebt »Mancher
trägt Scheue ... «, klingt durchaus nicht so, als ob jemand Besonderem etwas
nachgesagt wird. Es ist Menschenschicksal, nicht direkt zur Quelle zu
gehen. In der »Scheue«, die die Menschen dann hindert, findet der Sprecher
die eigene Aufgabe des Dichters wieder. Er ist in die Heimat zurückgekehrt
und, einsam zurückgeblieben, leidet er, allein, ohne Freunde. Heidegger hat
in seiner Interpretation in diesem Punkte richtig gehört. Die Scheue ist vor
dem Heiligen, und die Scheue ist auch in dem Auftrag des Dichters, der sich
nicht übereilen darf und das Alleinstehen aushalten muß. Das sind die Züge.
die dem Dichterberuf seine Auszeichnung verleihen und ihm wie einem
Opfer sein Schicksal zuteilen. Man kann den Satz »Mancher trägt Scheue«
geradezu so umschreiben: Mancher? Wer denn nicht? Gewiß. es gibt ausge-
zeichnete Menschen, ob im Heldengedicht Geträumte oder Helden der Tat.
Bewunderte. für ihr Wagnis und ihren Verzicht. Aber hat nicht jeder sein
Schicksal und seinen lebenslangen Umweg? Man darf sich hier. weil es vom
Text geboten wird, an intertextuelle Hilfen erinnern. an die zahlreichen
Stellen im Hölderlinschen Werk, in denen der Quell das Geheimnisvolle ist.
aus dem alles entspringt und wo ein jeder sein Schicksal findet. Ist es nicht so
auch für den Dichter selbst? Der Dichter ist einer, der auch die Scheue kennt.
Aber er ist der, der in dürftiger Zeit in immer neuen Versuchen das U nnenn-
bare und Unsagbare dennoch ins Werk zu rufen versucht. Er ist Dichter.
weil er es für alle Menschen tut.
Daß sich hier bereits. in diesem .. Mancher trägt Scheue ... «. die erste
50 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins >Andenken<

Anspielung auf die Unterscheidung und Auszeichnung des Dichters ankün-


digt, die der Schlußvers von )Andenken< besiegelt, läßt sich, wie ich inzwi-
schen sehe, durch das unter der überschrift )Palingenesie< überlieferte Frag-
ment stützen6 :
»Aber es wohnet auch ein Gott in dem Menschen, daß er Vergangenes
und Zukünftiges sieht und wie vom Strom ins Gebirg hinauf an die Quelle
lustwandelt er durch Zeiten«, und er ist mit »ihrer Thaten stillem Buch«
bekannt. )Palingenesie< ist Wiederkehr - im Andenken.
Man sollte den Titel des Gedichtes )Andenken< ernst nehmen. Andenken
ist weder Erinnerung noch Gedächtnis, obwohl beides ins Spiel kommt, wo
von Andenken die Rede ist. Aber sowenig der Inbegriff von allem Behalte-
nen das Gedächtnis ist und sowenig Gedächtnis das ist, dessen man sich
gerade erinnert, liegt im Andenken etwas von ganz anderer Art, nämlich,
daß man ein Andenken sich bewahrt. Es kann ein gutes oder schlechtes
Andenken sein, aber jedenfalls ist es etwas, das weder vergessen ist noch
einem gerade einfällt. Es ist ein Bleibendes, freilich nicht als eine ständige
Gegenwart, aber immer etwas, das unser eigenster Besitz ist, etwas, an das
man denkt und das einem in reicher Vielfalt wieder gegenwärtig wird.
So liegt etwas Betontes darin, wenn Hölderlin ein Gedicht so benennt.
Wenn er ein Gedicht dem Andenken widmet, so ist es in diesem Falle klar,
daß es sich um eine Reiseerinnerung handelt, und doch ist diese ein Anden-
ken. Das heißt, sie ist von ausgezeichneter Bedeutung. Warum eigentlich?
Das ist nicht mit einem Satze zu sagen. Es ist der Gang des Gedichtes selbst,
das etwas heraufruft, woran man mit Freude und Wehmut denkt. Gewiß ist
es der nördliche Wind der Heimat, den man kennt, der die Erinnerungen
heraufruft, und er heißt hier lIder liebste unter den Winden«. Warum er das
ist, wird einem vom Anfang bis zum Ende des ganzen Ganges der Erinne-
rung und des Gedichtes gesagt. Der Wind erinnert an die Schiffer von
Bordeaux und ihre Ausfahrt, weil es ein guter Fahrwind ist. Es ist seltsam,
daß die Interpreten, allen voran Heidegger, diesen Realitätsbezug zurück-
drängen, obwohl es doch von der ersten bis zur letzten Strophe um die
Schiffer geht - und nicht um den Dichter, der fast wie eine Überraschung,
freilich eine alles erhellende, das letzte Wort ist.
Was ist denn an den Schiffern so wichtig, und sogar so wichtig, daß sie die
Helden der geträumten Hyperionwelt in den Hintergrund drängen? Gewiß,
es mag für den schwäbischen Dichter, der als Student, Magister und Haus-
lehrer nur bescheidene Lebenserfahrung besaß, eine große und neue Erfah-
rung gewesen sein, als er die See sah und ihren großen Atem verspürte und
sie nicht nur wie in seiner Dichtung zu träumen brauchte. Es muß für ihn
etwas bedeutet haben, als er kühnen Männern begegnete, die immer wieder

6 HÖLDERLiN, St.A. 11 1, S. 317 (Nr. 12).


Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken' 51
auf die gefahrvolle und gewagte Fahrt gehen und alles in Kauf nehmen, statt
sich dem Zauber des südlichen Lebens hinzugeben. Das muß wohl für den
Gedenkenden, dessen dichterische Träume ganz in die südliche Landschaft
Griechenlands zu wandern liebten. eine ungeheure Begegnung mit Wirk-
lichkeit gewesen sein. So übermannt den Dichter oder den Gedenkenden die
Erinnerung an beides. an die Helden der Hyperionwelt und an diese in
Bordeaux erfahrene Wirklichkeit.
Es ist eine echt pindarische Unterbrechung, die durch die Bitte nach dem
Vergessenstrank betont wird und die Mitte des Gedichtes darstellt. Dabei
darf man wohl auch daran denken, daß in diesem Erinnerungstraum, den
das Gedicht beschwört, nichts von dem vorkommt, was sonst in der späte-
ren Dichtung Hölderlins oft zum Thema wird: die stechende Sonne des
Südens und die sengende Sommerhitze. die nach der Kühle der Wälder
Verlangen weckt. »Fast wär der Beseeler verbrannt ... « Nichts davon ist an
den Feiertagen, die ihm in der Erinnerung aufsteigen, und nichts davon ist
offenbar auch in der Erinnerung der kühnen Seefahrer, die unter Entbehrun-
gen den »geflügelten Krieg« am »entlaubten Mast« durchkämpfen. Was in
ihrem Andenken auftaucht. ist nichts als die südlichen Feiertage, ist das
Saitenspiel und der eingeborene Tanz.
Am Beginn des Gedichtes wird der Nordostwind der Heimat genannt,
dem gleichsam aufgetragen wird, Bordeaux zu grüßen. Dort, an der Mün-
dung der Garonne, ist dieser Wind ein Fahrwind, über den die Schiffer
glücklich sind. Der sprechende Dichter empfindet das mit - und damit sein
eigenes Fernsein. So drängt sich die Rückerinnerung an all das Vergangene
ihm auf. Er empfindet die Seellosigkeit der Gespräche, die er hier nach seiner
Heimkehr hat, er nennt sie sterbliche Gedanken. Wie anders, wenn er sich
der Gespräche mit seinen Freunden erinnert, an die schicksal vollen Erwar-
tungen und Hofmungen auf die Befreiung Griechenlands, die im Hyperion-
Roman zwischen Hyperion und Bellarmin beschworen werden. Wo aber
sind die Freunde?
Plötzlich und unvermittelt ist von den Schiffern die Rede. die von der
Gironde aus nach Indien gehen und von dem Reichtum der Welt Schönes
unter unendlichen Mühen und Gefahren zurückbringen. Hier schließt sich
an den aus seinen dichterischen Träumen sich zurückrufenden Dichter die
Erinnerung an die kühnen Seefahrer an, denen er in Bordeaux in leibhafter
Erfahrung begegnet war. Es sind zwei hohe Formen des menschlichen
Lebens, der kriegerische Held und der seefahrende Kauffahrer, der vor dem
träumenden Auge des Andenkens Gegenstand einer Besinnung wird. Wel-
che Besinnung es ist, sagt der letzte Vers, Er klingt wie ein Schluß: »Was
bleibet aber, stiften die Dichter«. In einer Lesart des ersten Verses der letzten
Strophe fand sich ursprünglich: »Nun aber sind zu Indiern die Freunde
gegangen«, Die zweite Fassung sagt: »... sind ... die Männer gegangen«.
52 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken.

Das deutet auf den wahren Gedankengang des Andenkens: von den dichte-
risch beschworenen Freunden zu der gelebten Wirklichkeit bewunderter
Männer. So folgt die Wendung auf den eigensten Auftrag des Dichters llnd
bildet den Schluß.
Das ist die Pointe des Ganzen, daß diese Erinnerungen an die Hyperion-
Welt und an die Wirklichkeitswelt von Bordeaux miteinander verknüpft
sind. Immer geht es um überwindung von Feme und Festhalten von Nähe.
Sehen wir uns die Schlußstrophe daraufhin an. Sie schildert die Stelle an
der Mündung der Garonne in die See. Von da an wird sie Gironde genannt.
Es ist die Stelle, bis zu der bei der Ausfahrt die Angehörigen und Freunde der
ausfahrenden Schiffer dieselben begleiteten. Das ist die luftige Spitze, an der
die Dordogne herabbraust und in die Garonne einmündet und den Ausgang
in die See nimmt. Welcher genaue Ort es auch immer war - es war der Ort
des Abschieds, an dem die Zurückbleibenden mit fleißigen Augen der Liebe
dem verschwindenden Schiffe nachschauen und die Ausfahrenden ebenso zu
den Zurückbleibenden hinüberblicken. Es ist eine Kraft des Menschen, die
hier beschworen wird. Es ist die Kraft, Ferne zu überwinden, Andenken zu
bewahren und Nähe festzuhalten. Deswegen heißt das Gedicht .Andenken•.
Und man findet es am Ende natürlich, daß diese Kraft des Menschen sich im
Gedicht - worin denn sonst? -, in Bleibendem, vollendet. Das berühmte
»aber(C am Schluß: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.c, will also nicht
sagen, daß der Dichter etwa eine höhere Einweihung in das Wahre hat als die
anderen, wohl aber, daß er die in allen lebende Kraft des Festhaltens des
Abwesenden, im Geben und Nehmen des Gedächtnisses, das das .Dac
gewährt, zu Bleibendem zu erheben vermag. Das ist der Auftrag des Dich-
ters. Er ist wahrlich nicht der, dem die »Worte wie Blumen entstehen(C. Er
ist der Vorsänger in dürftiger Zeit, auch wenn er die Rückkehr der Götter
singt .
•Andenken. ist die nie zu vollendende überwindung von Ferne - und
doch zugleich die Gewähr, die in dem ständigen Wagen von Abschied und
Andenken und fleißigem Heften der Augen der Liebe liegt.
Das Gedicht hat in seinem Gange das Andenken beschworen, das rur das
dichterische Selbstbewußtsein die bleibende Erfahrung seines Aufenthaltes
in Bordeaux war. Fragen wir noch einmal: Was bedeutet sie rur den Dichter?
Was hat er gelernt, so daß er am Schluß des Ganzen wie ein Belehrter
schließt: »Was bleibet aber, stiften die Dichter«? Wie es seine Hyperionhel-
den am Ende in die Ferne verschlagen hat, lernt er nun an den ganz anderen,
an den Seefahrern, daß die Wege und Umwege des Geschicks nicht nur ein
Leben in hohen dichterischen Träumen sind. Der sich vereinsamt fühlende
Dichter erkennt daran sein eigenes Geschick und seinen Beruf.
So erklärt sich die überraschende gnomische Wendung des Schlusses, an
der das Verständnis des ganzen Gedichtes hängt. Der im Andenken Versin-
Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken< 53
kende faßt sich. Er hat sich gefragt: wo ist Bleiben, wo ist seliger Genuß der
Feiertage, ist seelenvolles Gespräch? Und er erfährt, wie Trennung und
Aufbruch in ungewisse Femen ist, die der Verlockung des Meeres folgt und
Andenken bewahrt. Das dichtende Ich erfährt sich selbst darin. »Mancher
trägt Scheue, an die Quelle zu gehn(d Hier ist es wie ein Vorbild von
Trennung und Treue, Aufbruch in die Feme und Heimkehr. die im Anden-
ken verbunden sind. Sie wagen alles und halten zugleich fest, auch wenn
keine Rückkehr und Wiedervereinigung den Liebenden gegönnt sein sollte-
das Andenken bleibt. Das ist der große Atem der See, dessen Botschaft der
Dichter vernimmt. »Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See.« Im
Andenken an Bordeaux erfährt der Dichter, was Andenken ist und daß
Dichter. Andenken ist.
Wenn also auch dieses Gedicht nicht (wie )Der Einzige( und manche
andere der Hymnen Hölderlins) über das Versagen der Worte klagt, weil er
nie das rechte Wort findet, so tritt der Dichter am Ende doch ganz an die
Seite der Helden und der Wagenden, die in die Ferne gehen und Schönes
zurückbringen: »Nemlich zu Hauß ist der Geist ... nicht an der Quell.«
Damit fUhrt uns das Verständnis des Gedichtes auf den entscheidenden
Vers zurück: »Mancher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn.« Hier hat, wie
mir scheint, Heidegger die treffende Auslegung gegeben und den gnomi-
schen Sinn dieses »Mancher« richtig herausgehört. Manche, und zwar gera-
de die geträumten Helden oder die wagenden Seefahrer oder die Dichter
gehören zu denen, die hier »Mancher« heißen. Es ist eine Auszeichnung,
diese Scheue zu tragen, die gewag~en Wege und Umwege zu gehen, und des
Dichters besondere Auszeichnung ist, daß er Bleibendes stiftet. Er ist Dich-
ter, weil ihn Scheue hindert. Das ist es, was jenseits seiner eigenen nennen-
den Kraft zu liegen scheint. Gerade das Unnennbare. das die dichterische
Kunst so gut wie die Begriffe des Denkens übersteigt, ist das, was es
beständig zu wagen und festzuhalten gilt. Heidegger hat nicht ohne Recht
später und gerade in der Kritik am .kalkulierenden< Denken. das alles in den
Griff nehmen und sich aneignen will, vom )Andenken( gesprochen.
Fragen wir erneut, wie sich die Schluß zeile an das Vorangegangene an-
schließt. Man pflegt hier von eirier Trias gnomischer Sätze zu sprechen, die
den Schluß bilden soll. Das scheint mir nicht ganz angemessen. In den
beiden Vordersätzen »Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See« und in
dem anderen Satz »Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen« haben wir
zwar gnomisch klingende Sätze vor uns, aber sie sind genaue Beschreibung
der Erfahrung, der das Gedicht Ausdruck gibt. Sie beschreiben das Auf und
Ab des Gedenkens und des Gedächtnisses, und zwar in beiden, den Ausfah-
renden wie den Zurückbleibenden. Dem Dichter war aus der Erinnerung an
das leichte, beseelte südliche Leben, das eingangs geschildert ist, diese andere
Erinnerung gekommen, eben die an die heldenhaften Männer, die alle
54 Dichten und Denken im Spiegel von Hälderlins ,Andenken<

Gefahren in Kauf nehmen, und an die nicht minder heldenhaften Frauen, die
sich beide einander im »Gedenken<c zu bewahren suchen. Hierist dem Dichter
in der Wirklichkeit begegnet, was ihm auch in seinen dichterischen Träumen
als Dichter der Hyperionwelt begegnet war. Diesen Männern der Hyperion-
welt, die schließlich in die Ferne gingen, folgt wie den Seefahrern Sehnsucht
und Gedenken, und bei den Zurückbleibenden Liebe, die fleißig den am
Horizont Verschwindenden nach blickt und nachsinnt und die vermißte
Gegenwart festhält. Deswegen heftet die Liebe hier das Auge - es harrt einer
ungewissen Rückkehr entgegen. Aber ungewiß und gefahrvoll ist die Fahrt
und die Trennung nicht nur im äußeren Sinne: »Es nehmet aber und giebt
Gedächtniß die See.« Was die kühnen Seefahrer von der Heimat und den
festlichen Freuden der Liebe weg nach Indien treibt, ist die gleiche »Scheue«.
die jeden Menschen und den Dichter im steten Versuch immer wieder befällt
und beirrt. »an die Quelle zu gehn (C und das Göttliche zu erfassen. Der Kenner
Hölderlinscher Dichtung kennt das Klagen über das Mißlingen des Gesanges.
und ebenso die standhafte Festigkeit. mit der der Dichter sich in dürftiger Zeit
bewährt. So muß der Schlußsatz bei des zwammenfassen. wie es die Schluß-
strophe als Ganzes tut.
Die Lesarten, die zu der letzten Strophe inzwischen bekannt sind, ergeben
rur das poetische Verfahren des Dichters und, was wichtiger ist, für den Sinn
des Gedichtes eigentlich nichts Neues. Die Ferne, die sich in diesen Entwürfen
vordrängt (fernsten/fern), meint in jedem Falle nicht die Entfernung vom
Hafen von Bordeaux bis zu der »luftigen Spitz'«. Das ist nicht die Ferne. die
sich im Andenken des Dichters ins Wort drängt. Es ist vielmehr die Ferne, die
sich in der Weite des Weltmeers auftut. Wir wissen. daß es Hölderlins
dichterisches Verfahren war. in seinen Leitworten immer weit vorzugreifen
und sich selbst vorweg zu sein. So wird er gezwungen zu streichen. Was er
will. ist, die volle Konkretion dieser Szene von Trennung, Abschied und
Gedächtnis zu leibhafter dichterischer Anschauung zu erheben. Dieser über-
gang vom Denken an das traumhaft genossene Leben zu der Erinnerung an die
große Erfahrung, die Bordeaux für ihn bedeutete, läßt den Gedenkenden sich
selbst wieder begegnen und macht die Bedeutung des Gedichtes aus.
Das »Nun aber«, mit dem die letzte Strophe einsetzt, faßt die Freunde und
die Männer, denen der Dichter huldigt, zusammen - im Abschied und im
Gedenken, im Nehmen wie im Geben. Der große Atem des Ozeans, der wie
der Atem der Seele ist, vereinigt in sich Gedenken des Entbehrens, des
Fehlenden, und das Festhalten. Es is t wie der Wechsel von Ebbe und Flut. Der
Wellenschlag der Seele leistet beides, »tapfer Vergessene< und das Festhalten
der Liebe. Der einsame Dichter, dem die guten Gespräche fehlen. die ihn einst
erfUUten, beschwört die Macht des Gedenkens. Sie gewinnt in der fünften.
Strophe anschauliche Gegenwart, indem sie an die Stelle des Abschieds
versetzt, wo die Ausreisenden in der Ferne verschwinden.
Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken. 55
Man versteht das Gedicht in seinem Melos nur, und man versteht den
Gang des Andenkens im Gedicht auch nur, wenn man im Abschied die tiefe
Gemeinsamkeit von Trennung und Gedenken im Auge behält. Vermissen
und Festhalten, das ist der Bereich des Gedächtnisses. Es ging dem Dichter,
als er von Bordeaux zurückgekehrt war, auf. An der Entbehrung und dem
Vermissen der Freunde leidet er, und so gewinnt die Erinnerung über ihn
Macht. Nun zieht er den Schluß auf das eigene Tun, das Tun des Dichters.
Abschied und Gedenken durchwalten wie das Auf und Ab des Atems der See
das Leben der Menschen. Darin erkennt er sein eigenes Schicksal als seinen
Auftrag, im Wort festzuhalten, was bleibt. So gewinnt das Gedicht etwas
von dem Stiften einer Wahrheit und etwas vonjener Sakralität, die von jeher
den Dichter und den Seher auszeichnen.
Das Gedicht sagt kaum etwas, was nun das Bleibende ist. Es ist das
Andenken selber, das der neuen Wende von Hölderlins letzten Dichterjah-
rm, den großen Hymnen, ihr eschatologisches Pathos verleiht. »Des Götdi-
chen aber empfiengen wir doch viel. CI 7 So konnte Heidegger seinerseits in
diesem Gedicht sein eigenes Schicksal, sein Andenken und seine Erwar-
tungstheologie wiedererkennen. In der Inständigkeit des Harrens und des
Beharrens auf seiner eigenen Frage war sein Auftrag, die Frage nach dem
Sein und der Überwindung der Metaphysik festzuhalten, an der Nietzsehe
zerbrochen war.

7 S[.A. II 1, S.136 (,Versöhnender<, Dritte Fassung, v. 19f.) und St.A. 111, S.535
(,Friedensfeier<, v. 64f.).
5. Goethe und die Philosophie
(1947)

Goethe ist eine der beziehungsreichsten Gestalten der gesamten Weltlitera-


tur. Die Beziehung. unter der er hier betrachtet werden soll. ist nur eine
unter vielen, deren Untersuchung die Erkenntnis seiner Gestalt und seiner
bleibenden Bedeutung fördern kann!. Die AufgabensteIlung >Goethe und
die Philosophie( meint nicht, daß seine gesamte Welt- und Lebensansicht
Gegenstand unserer Betrachtung werden soll. Diese Aufgabe bliebe bei
Goethe am Ende doch vor allem dem Interpreten seiner Dichtungen gestellt.
Wir dagegen fragen nach seinem Verhältnis zur Philosophie. Danach zu
fragen muß uns in der Tat naheliegen, wenn wir bedenken, daß das Zeitalter
Goethes zugleich das Zeitalter der großen deutschen philosophischen Bewe-
gung gewesen ist und daß die großen Denker des deutschen Idealismus.
Kant. Fichte. Schelling und Hegel, Zeitgenossen. ja die jüngeren von diesen
sogar alle durch ihre Tätigkeit in Jena vertraute Nachbarn des großen
Dichters gewesen sind. Dennoch enthält diese Aufgabe etwas Fragwürdi-
ges. ja Mißliches. Goethe, dieser allseitige und durchdringende Geist, der die
ganze Daseinsmasse seiner Zeit wie kein anderer in sich verarbeitet und
verwandelt hat, hat zeit seines Lebens der Philosophie und Metaphysik
gegenüber eine eigentümliche Zurückhaltung gewahrt. Ja, er hat diese seine
Zurückhaltung gegenüber der Philosophie nicht nur selber geübt - sie ist
durch ihn fast zu einer Losung geworden, die den Menschen. die sich in
seinem Zeichen zu bilden trachten, Verwerfung aller philosophischen Spe-
kulation und unbefangene Hingabe an die Fülle der Erfahrung anbefiehlt.
Insbesondere das aus dem Selbstbewußtsein der Naturwissenschaften leben-
de Bürgertum des 19.Jahrhunderts hat Goethe so verstanden: »Grau, edler
Freund, ist alle Theorie! II
Indessen, es gehört zu der eigentümlichen und fast bestürzenden Grenzen-
losigkeit des Goetheschen Geistes. daß diese Negation der Philosophie noch
nicht einmal als die Hälfte der Wahrheit gelten kann. In allen Epochen seines
Lebens hat ihn - wie jeder andere Weltinhalt - auch dieser geistige Stoff der
1 Zum Thema vgl. seit dem Vortrag im Jahre 1942 die Literaturhinweise bei H.
K.1NDIiRMANN. Das Goethebild des 20. Jahrhunderts (Wien und Stuttgart 1952). und
inzwischen gewiß manches Neuere.
Goethe und die Philosophie 57
Welt, die Philosophie, zur Aneignung und antwortenden Gestaltung ge-
reizt. Freilich, philosophische Abhandlungen im engeren Schulsinne finden
sich nicht in seinem Werk, sondern stets nur gelegentliche Arbeiten und
Stellungnahmen, nur ,biographische< Dokumente. Aber ist das nicht das
Eigentümliche des Goetheschen Werkes überhaupt, daß es, wie das keines
anderen klassischen Schriftstellers irgendeines Volkes, Gelegenheitswerk
ist, in seiner ganzen Weite Ausdruck und Darstellung dieses einen einzigen
Menschen Goethe, seines Lebensganges, seiner Erfahrungen und Wirkun-
gen, seiner Wertungen und Wünsche? Mit besonderer Deutlichkeit gilt dies
ja für einen großen Teil des lyrischen Werkes. Und hat er nicht selbst seine
Dichtungen insgesamt Bruchstücke einer großen Konfession genannt? Aber
selbst Goethes Versuche auf dem Gebiet der Naturforschung, mit denen er
sich in die namenlose Reihe der Arbeiter am Gesamtbau der Wissenschaft
einzugliedern suchte, behalten etwas unnachahmlich Persönliches. Die Dar-
stellung auch solcher Gegenstände hat oft etwas nur Beiläufiges, das mit
naiver Selbstverständlichkeit den zufallig-eigenen Weg der Erfahrung und
Einsicht in der Darstellung ausspricht, und es ist nur angemessen, daß seine
autobiographischen Aufzeichnungen ,Aus meinem Leben - Wahrheit und
Dichtung< nicht ein Zusatz oder Anhang zu seinen Werken sind, sondern in
ihrer Mitte ihren echtbürtigen Rang besitzen. Es mag mit Goethes Ort im
Ganzen der abendländischen Bildungsgeschichte zusammenhängen, mit der
großen Verspätung, mit der sich das deutsche Volk nicht nur seine staatli-
che, sondern auch seine kulturelle Stellung im Kranz der Nationen der
Neuzeit erworben hat, daß dieser erste klassische Schriftsteller seines Volkes
am Ende eines Zeitalters steht und deshalb in die Einheit seiner Person
zusammengezogen enthält, was als ausgebreitete Substanz des geistigen
Lebens im Schwinden begriffen war: die Einheit des Abendlandes.
Jedenfalls hat im weiten Kreise dieses Lebens die Philosophie eine eigene,
nicht nur beiläufige und nicht nur negative Rolle. Den eigenen Standort
gegenüber Goethe zu bestimmen, ist daher schon immer ein echtes Anliegen
des philosophischen Bewußtseins. Von Anfang an, denn im Grunde beginnt
es mit dem unablässigen Bemühen des durch und durch philosophischen
und spekulativen Schiller, Goethes Wesen zu begreifen und sich, den reflek-
tierten Dichter, vor ihm, dem naiven Dichter, zu rechtfertigen und zu
behaupten. Ja, diese Schillersche Deutung beherrscht noch heute die Auffas-
sung der Nation von Goethe, so tief und ursprünglich ist der Anteil des
philosophischen Denkens, das in Schiller spricht, an der Wirkungsgeschich-
te Goethes. Doch dies greift vor. Schillers Verhältnis zu Goethe ist ja nicht
nur Wirkungsgeschichte Goethes, es gehört ganz Goethes eigener Lebensge-
schichte an, als eine ihrer entscheidenden Phasen. Aber, weil es sich hier um
mehr handelt als um historische Feststellungen einer getreuen Goethephilo-
logie, weil die Wirkung Goethes und die Deutung, die ihm Schiller gab,
58 Goethe und die Philosophie

nicht aufhört, Geschichte zu sein und Geschichte zu machen, bleibt auch die
philosophische Besinnung auf Goethes Verhältnis zur Philosophie eine stets
sich erneuernde Aufgabe.
Nun ist es bei der Lage der Dinge. klar, daß jede Neubestimmung dieses
Verhältnisses dem Gang der Goetheschen Entwicklung folgen muß. Ande-
rerseits kann ein bloßes Abtasten und Aufnehmen der in dieser Entwicklung
Goethes anzutreffenden Spuren philosophischer Lektüre und Auseinander-
setzung nicht viel erbringen. Denn nicht nur die Außerungen, die Goethe
jeweils zur Sache tut, sind gelegentlich und schwankend, so daß sich in
dieser Sache fast alles, was sich beweisen läßt, auch widerlegen läßt, auch
seine Beschäftigung mit den Werken der großen Philosophen, mit Spinoza
oder Kant, mit Fichte oder Hege!, ist fragmentarisch und unmethodisch.
Aber was bei anderen ein Zuwenig wäre, das ist bei Goethe Ausdruck seines
eigenen reichen Wesens. Er sagt einmal, daß er stets »wie spielend« gelernt
habe. Damit ist nicht gemeint, daß ihm alles so leicht fiel und er sich alles so
leicht werden ließ, sondern daß sich ihm das Lernen als ein spontanes,
eigenes Tätigsein und Bilden vollzog. Spiel ist ja eine äußerste Form solchen
Tätigseins, selbstvergessen und im Umgang mit einem widerstandslosen
Stoff. Deshalb gerade bedeutet es solchen Auftrieb des Lebensgefühls. Goe-
thes Lernen war ein spielendes Lernen, weil es stets alle Kräfte seines Wesens
spielen ließ. Anläßlich der Lektüre von Kants >Anthropologie< schreibt
Goethe an Schiller am 19. Dezember 1798: »übrigens ist mir alles verhaßt,
was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittel-
bar zu beleben. « Die beiläufige Art, in der Goethe philosophische Studien
trieb, besagt also nichts gegen ihren sachlichen Ernst. In den Begegnungen
mit Philosophischem sucht er, was er im Grunde in allen Erfahrungen der
Welt überhaupt sucht - Vermehrung seiner Tätigkeit, Seinszuwachs in der
Erfahrung der eigenen bildenden und gestaltenden Lebendigkeit.
Man könnte zweifeln, ob ihm solcher Seinsgewinn von der Philosophie
überhaupt zuteil werden konnte. Antwortet er doch aufdie erste Berührung
mit philosophischen Lehren mit der Behauptung, eine abgesonderte Philo-
sophie sei nicht nötig, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkom-
men enthalten sei. Als ihm sein Lehrer zu beweisen sucht, daß diese ja erst
durch jene begründet werden müßten, versagt er sich solcher Reflexion
offenbar ganz. Die dichterische und religiöse Unmittelbarkeit ist ihm das
fraglos Grundlegende gegenüber der Vermittlung des Begriffs. Und die
Wirkung seiner ersten philosophischen Erfahrungen (an der »tristen atheisti-
schen Halbnachtee der französischen Aufklärungsphilosophie) war eine Ver-
grämung gegen alle Philosophie, besonders aber gegen die Metaphysik. Wir
werden also fragen müssen, wie dieser Abwehr zum Trotz der Zug zur
Philosophie in Goethe seinen Weg findet.
Dabei sehen wir ganz davon ab, wie Goethe zum Nachdenken über seine
Goerhe und die Philosophie 59
Kunst geruhrt wurde. Die philosophische Reflexion auf die Bedingungen
poetischer und bildnerischer Technik fmdet sichja auch sonst bei Künstlern,
die zu den zentralen Problemen der Philosophie, insbesondere zur Metaphy-
sik, kein Verhältnis besitzen. In Goethe aber lebt ein echter Zug zur Meta-
physik. Offenbar ist es der Gegensatz zur Metaphysik der Aufklärung, der
sein eigenes Denken anspannt. Die Lehre von den Endursachen, jene vom
Zweck her denkende, alles auf die menschliche Nützlichjceit beziehende
Naturbehandlung ist es, die ihn beleidigt. Er setzt hier die eigene große
Anschauung von der gestaltenden und zerstörenden, um menschliche
Zwecke stets unbekümmerten Naturkraft entgegen. »Natur. Wir sind von
ihr umgeben und umschlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und
unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen.« Das also ist das Entscheiden-
de in seiner Anschauung: Der Mensch steht nicht als der salbstherrliche
Endzweck der Natur, die er auf sich bezieht, gegenüber - er ist von ihr
umschlungen, er ist selbst Natur. Auch das ihm innewohnende dichterische
Talent betrachtet Goethe ganz als Natur, so wie ihm die Natur in diesem
(wahrscheinlich nicht von seiner Hand, aber aus seinem Geiste stammenden)
Prosafragment ))die einzige Künstlerin« heißt. In spätester Zeit, im Jahre
1828, als Goethe das Fragment zu Gesicht bekommt und für das seinige hält,
charakterisiert er es so: »Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheis-
mus, in dem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes,
humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht
ist.« In der Tat ist es - gegenüber dem Verstandesoptimismus der Schulphi-
losophie - die Uncrforschlichkeit der Natur für das selber beschränkte,
teilhafte Menschenwesen, was Goethe hier als Pantheisten erscheinen läßt.
Die Natur und Gott sind ihm das Unerforschliche, und an der Zusammen-
gehörigkeit von Natur und Gott hat er stets festgehalten, im besonderen
auch gegen die christliche Glaubensphilosophie seines Freundes Jacobi. Ei-
nen Gott, lider nur von außen stieße«, kann er mit seiner Anschauung des
inneren Lebens der Natur nicht vereinigen. Dennoch wehrt er sich mit der
für ihn charakteristischen Liberalität gegen jede dogmatische Festlegung,
auch gegen die auf einen Pantheismus.
Goethe findet nun vor allem in Spinoza, den er mit Herders Augen sehen
lernt. Bestätigung seines Naturgedankens und im besonderen seiner Abnei-
gung gegen die Endursachen. Aber im Grunde sind die überzeugungen
vom Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen der Natur, die er sich am Spinoza
entwickelt, der notwendige Gegenhalt, nach dem seine unbändige Lebens-
kraft und titanische Bildnerlust rufen. Ihm, dessen Kräfte in allen Richtun-
gen des Daseins lebhaft spielend ansetzen und auf jeden Reiz mit intensiver
schöpferischer Gegenwirkung antworten, so daß seinem Können schier
keine Grenze gesetzt scheint, ist der Ruf zur Entsagung im ganzen, die in der
Anerkennung ~es Notwendigen liegt, offenbar urvertraut. Er fühlt sich
60 Goethe und die Philosophie

durch Spinoza über das Spiel der Leidenschaften erhoben, in denen sonst der
Mensch rür sein Geschick mühsam gebändigt wird. In diesem Sinne deutet
der weise gewordene Goethe, der sich selbst zur Erinnerung gewordene,
tiefsinnig das Bedürfnis, das ihn damals im Philosophieren leitete. Nun
können wir, wenn auch erst aus einem Aufsatz der achtziger Jahre, die
Richtigkeit dieser Selbstauslegung bestätigen und dieselbe ergänzen. Es
handelt sich um den Aufsatz, den Wilhelm Dilthey zuerst in der Abhandlung
lAus der Zeit der Spinozastudien Goethes< interpretiert hat. Bestätigung ist
uns, wie dort der Begriff von Dasein und Vollkommenheit, in dem wir das
Unendliche denken, das Sein der beschränkten Existenzen mitbestimmt, so
daß sie, die Dinge in Gott, doch gerade ihr Dasein in sich selbst haben, als
lebendige Wesen durch nichts gemessen werden können, was außer ihnen
ist, ein eigenes unzertrennliches Verhältnis von Teilen und Ganzem darstel-
len, kurz, an der Unendlichkeit des Ungeheuren, Ganzen teilhaben. So
denkt hier Goethe, wenn auch mit den Denkmitteln Spinozas, eine ganz
eigene Anschauung vom Wesen des Lebendigen und seiner Bildungskraft.
die uns an die Entelechie des Aristoteles und an Leibnizens Monadenlehre
zurückdenken läßt. Die ganze Idee einer morphologischen Naturforschung
ist hier angelegt. Die Bedingtheit alles Lebendigen tut der Urkraft der Natur
keinen Abbruch, im Gegenteil: Wie würdig ist es der Natur. ruft Goethe aus,
daß sie sich immer derselben Mittel bedienen muß, um ein Geschöpfhervor-
zubringen und zu ernähren.
Nun ergänzt Goethe diesen Aspekt dadurch, daß er das erkennende Wesen
in die gleiche Betrachtung einbezieht. Die Seele breitet sich erkennend aus,
indem sie beschränkt: »Wir müssen alle Existenz und Vollkommenheit in
unserer Seele dergestalt beschränken, daß sie unserer Natur und unserer Art
zu denken und zu empfinden angemessen werden, dann sagen wir erst, daß
wir eine Sache begreifen oder sie genießen.« Wie Bedingtheit durch spezifi-
sche Verhältnisse rur alles Lebendige seine eigentliche Lebensvoraussetzung
ist, der Fisch nur im Wasser, der Vogel nur in der Luft lebt, so erkennt
Goethe auch fiir das menschliche Leben und seine Natur die Notwendigkeit,
die es beschränkt und eben damit erhält. In den ,Sprüchen in Prosa< (261)
steht: »Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz
aufgeben, um zu existieren.« - »Unser physisches sowohl als geselliges
Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so
manches zufallige Ereignis, alles ruft uns zu, daß wir entsagen sollen. « Diese
Sätze des alt und weise gewordenen Goethe sind nur die Entfaltung dessen,
was dem jungen Titanen im philosophischen Gedanken der Natur aufging.
Es begreift sich nun die Allseitigkeit, mit der Goethe forschend, beobach-
tend und gestaltend in die Welt ausgreift. Nicht mystisches Aufgehen im
Unendlichen, sondern »im Endlichen nach allen Seiten gehen« ist die sehr
unspinozistische Lehre, die Goethe aus seinen Spinozastudien zieht. Er fiihlt
Goethe und die Philosophie 61

sich - um sein eigenes Wort zu gebrauchen - mit der Physik gesegnet. Sie ist
ihm das unendlich-endliche Feld echter Anschauungen, in denen sich, als
Wirkung und Gegenwirkung, die Seele des Erkennenden entfaltet. Der
vergleichende Naturforscher und der gestaltende Dichter sind also Manife-
stationen desselben p,oetischen Bildungstriebes, der - wie es in der erwähn-
ten Selbstcharakteristik von 1797 heißt - den Mittelpunkt und die Basis
seiner Existenz ausmacht.
Zweierlei mußte sonach seinem weiteren philosophischen Schicksal vor-
gezeichnet sein, zweierlei mußte ihm in seiner Stellung zwischen Dichter
und Forscher zum Problem werden: einmal die allgemeine Frage des Ver-
hältnisses von Selbst und Welt, insbesondere des Anteils des subjektiven,
gestaltenden Tuns an der Erfahrung der Welt, und dann die besondere Frage
des Verhältnisses von Natur und Kunst. Beide Probleme sollten ihm in der
damals durchdringenden Kantischen Philosophie begegnen, ohne doch an-
ders in seinem Leben Epoche zu machen als in der leidenschaftlichen Anre-
gung zum Fortschreiten auf seinen eigensten Wegen. Wie er selbst uns
schildert, fand, was er sich von der Kantischen Philosophie aus Lektüre und
Gespräch zugeeignet hatte, bei den Kantianern wenig Anklang. »Mehr als
einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Verwun-
derung zugestand, es sei freilich ein Analogon Kantischer Vorstellungsart,
aber ein seltsames.«
Da war zunächst das Analogon zwischen Goethes »naturgemäßer Metho-
de« allseitiger Beobachtung der Gegenstände und Kants Nachweis, wieviel
unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitra-
ge. Goethe war hier bereit, obwohl er selbst beides niemals gesondert habe,
»sich auf die Kantische Seite zu stellen, als auf diejenige, welche dem
Menschen am meisten Ehre macht«, und glaubte sich in seinem eigenen,
bald dichtend-synthetischen, bald beobachtend-analytischen Verfahren
auch sonst mit Kants Erkenntnislehre einig.
Vollends aber fohlte er sich durch die >Kritik der Urteilskraft( gefördert,
weil sie eine Entsprechung und tiefe Verwandtschaft zwischen Natur und
Kunst lehrte: innere Zweckmäßigkeit sehen wir in der Natur, innere
Zweckmäßigkeit erfahren wir im Geschmackserlebnis des Schönen und in
der Produktion des Genies. In einem Brief an Zelter, vom 29.Januar 1830,
schreibt Goethe ähnlich: »Es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten
Kant um die Welt, und ich darf sagen, auch um mic/l, daß er in seiner Kritik
der Urteilskraft Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht
zugesteht, aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln ... Natur und Kunst
sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und haben es auch nicht nötig,
denn Bezüge gibt's überall, und Bezüge sind das Leben.« Was er in der
>Kritik der Urteilskraft< ausgesprochen sah, war mithin das innere Leben der
Kunst sowie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus. Für
62 Goeme und die Philosophie

diese Entsprechung war Goethe bereit, seit er in Italien Kunst und das
gesetzliche Vorgehen der Natur und das aus beiden gewebte Leben der
menschlichen Gesellschaft studiert hatte. Doch muß es auffallen, wie wenig
sich Goethe von dem eigentlich kritischen Gedanken Kants, von der Ein-
schränkung des teleologischen Gedankens auf ein bloßes Verfahren der
Urteilskraft, also vom Verzicht auf gegenständliche Geltung des Zweckge-
dankens beunruhigt zeigt. Es bleibt das ganze Studium der Kantischen
Philosophie »auf den Hausgebrauch« beschränkt.
Nun tritt aber mit Schiller die Kantische Philosophie in ihrem echten
sittlichen Freiheitspathos in Goethes Leben ein und übt damit eine Gewalt,
die in ihrer Wirkung wie in der Gegenwirkung Goethes weit in das philo-
sophische Gebiet hineinführt. Goethe hatte anfangs in Schiller das zerstöre-
risch Wilde und Revolutionäre seines Genies, wie es die Räubertragödie
zeigte, gehaßt und sich deshalb von Schiller ferngehalten, als dieser nachjena
übergesiedelt war. Dann aber kam die Verständigung, das denkwürdige
Gespräch über die Urpflanze, das Goethe selbst erzählt hat; und indem
Goethe die Freundschaft und ständige Nähe Schillers annimmt, übergibt er
sich. rur ein im übrigen höchst fruchtbares Jahrzehnt seines Lebens, der
Deutung. die Schiller für ihn bereitet. Wir stehen damit an der ror unsere
Fragestellung entscheidenden Stelle im philosophischen Schicksalswege
Goethes: Lernt er sich ganz mit den Augen Schillers und der Philosophie
sehen. so muß ihm die Philosophie als die endliche und lang verzögerte
Selbstaufklärung seines naiven Weltglaubens erscheinen, und dann enthält
der Idealismus der deutschen Philosophie einen legitimen Zugang zu dem
Lebensrätsel, das Goethe sich und uns war.
Doch bevor wir diese weittragenden Fragen zur Entscheidung stellen,
müssen wir uns erst mit der Begegnung Goethes und Schillers Wld mit
Schillers Goethedeutung vertraut machen. Schiller war in der Zeit ihrer
nachbarlichen Beziehung zueinander in die Kantische Philosophie vertieft
und hatte sich ganz mit dem höchsten Gefühl der Freiheit und Selbstbestim-
mung erfüllt. das in Kants praktischer Philosophie lebt. Das war ein äußer-
ster Gegensatz zu Goethes Streben. die Natur in ihrer gesetzlichen Bildung
zu betrachten Und auch noch in sich selber das Naturbedingte zu bejahen. So
warf ihm Goethe Undankbarkeit »gegen die große Mutter, die ihn gewiß
nicht stiefmütterlich behandelte«. vor, und in seinem Freiheitspathos sah er
die ihm widrige Unnatur und Unwirklichkeit eines ethischen Selbstzwan-
ges.
Nun aber führte sie der Heimweg nach einer Sitzung der Naturforschen-
den Gesellschaft in Jena im Jahre 1794 zusammen. Schiller tadelte die Art des
Vortrages. den sie soeben gehört hatten. und nannte dies eine zerstückelte
Art, die Natur zu behandeln. Da öffnete sich ihm Goethe, der, selbst von
einer anderen, einheitlichen Gesamtanschauung der Natur errollt, genau so
Goethe und die Philosophie 63
empfunden hatte. Vor Schillers Wohnung reden sie sich fest, schließlich
folgt ihm Goethe hinein. mitten in der Nacht, und trägt ihm seine Metamor-
phose der Pflanze vor, durch die das Pflanzenreich zu einer großen. in seiner
Bildung verständlichen Einheit zusammengeschlossen wurde. Schiller - so
erzählt Goethe - »vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit
entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und
sagte: IDas ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.( Ich stutzte, verdrießlich
einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste
bezeichnet; .. Der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusam-
men und versetzte: Das kann mir sehr lieh sein, daß ich Ideen habe ohne es zu
wissen, und sie sogar mit Augen sehe. CI - Für den Kenner der Kantischen
Philosophie (der Goethe aber nicht war) ist diese Mißhelligkeit leicht als
Mißverständnis aufzulösen. Der Kantische Gegensatz von Idee und Erfah-
rung (bzw. Erscheinung) ist an dem engen Sinne von raum-zeitlich indivi-
duieIter Erfahrung gewonnen, den die mathematische Naturwissenschaft-
vor allem in Gestalt der klassischen Mechanik - darstellt. Idee ist umgekehrt
nicht bloß eine subjektive Eingebung, sondern die regelnde Einheit der
Erfahrung se1bst, die eben deshalb mit der Erfahrung gar nicht kongruieren
kann, weil sie aller Erfahrung die Regel gibt. So ungefähr wird Schiller. der
»gebildete Kantianer«, sich geäußert haben. Goethe hält - nach seinem
eigenen Bericht - an seinem »hartnäckigen Realismus« fest, aber es hat sich
doch 'in diesem Gegensatz ein Gemeinsames gebildet, und so begründet sich
der Bund dieser beiden großen Männer. wie Goethe selbst dargestellt hat.
auf den »größten. vielleicht nie ganz zu schlichtenden Wettkampf zwischen
Objekt und Subjekt«, In ihrem Briefwechsel liegt das gemeinsam gelebte
Stück dieses Wettkampfes uns vor Augen.
Di~ser Briefwechsel beginnt mit einem großartigen Versuch Schillers,
sein und der Philosophie Verhältnis zu Goethes Geist zu bestimmen2 : »In
Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger. was die Analysis
mühsam sucht. und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr
eigener Reichtum verborgen. denn leider wissen wir nur das. was wir
scheiden. Geister Ihrer Art wissen daher selten, wie weit sie gedrungen sind,
und wie wenig Ursache sie haben. von der Philosophie zu borgen, die nur
von ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern. was ihr gegeben wird,
aber das Geben selbst ist nicht Sache des Analytikers, sondern des Genies.
welches unter dem dunklen aber sicheren Einfluß reiner Vernunft nach
objektiven Gesetzen verbindet.« Meinung und Absicht dieser Deutung sind
klar: Goethe wisse nur nicht, was er tue. Die Kantische Philosophie sei nichts
als die Selbstaufklärung des seinem Wesen nach bewußtlos schaffenden
Genies. In der Tat kommt Schiller folgerecht zum Schluß, Goethe die

2 Brief Schillers an Goethe vom 23. August 1794-.


64 Goethe und die Philosophie

Kantische Philosophie zu widerraten, »denn die logische Richtung, welche


der Geist bei der Reflexion zu nehmen genötigt ist, verträgt sich nicht wohl
mit der ästhetischen, durch welche er allein bildet«. Freilich könne Goethe-
das ist der Sinn seiner Ausführungen - dennoch für seine ästhetische Produk-
tivität nicht die Naivität der Alten in Anspruch nehmen. Denn denen seien
eine »auserlesene« Natur und eine »idealisierende« Kunst, die sie umgaben,
hilfreich, schon in der ersten Anschauung der Dinge die Form des Notwen-
digen aufzunehmen und so den großen Stil zu entwickeln. Goethe dagegen,
in eine wilde, nordische Schöpfung geworfen, bedürfe doch der leitenden
Begriffe, um sich von innen heraus und »auf einem rationalen Wege ein
Griechenland zu gebären«. Diese Begriffe dann rückwärts in Intuitionen,
Gedanken in Geruhle zu v~rwandeln, sei also eine Arbeit mehr, die ihm, wie
überhaupt dem modernen Dichter, obliege. Schiller deutet sich mit diesem
Bilde vom Gange des Goetheschen Geistes ihr gegenseitiges Verhältnis und
die Begegnungsmöglichkeit zwischen Goethes intuitivem und dem spekula-
tiven Geist, der aus ihm selber spricht. Das entscheidende Resultat aber sieht
er in der »schönen übereinstimmung Ihres philosophischen Instinktes mit
den reinsten Resultaten der spekulierenden Vernunft«. Er meint nämlich,
Goethes natlrlrforschende Allseitigkeit sei so genialisch. daß sein Geist, wie
der des antiken Künsders, stets Individuen, aber mit dem Charakter der
Gattung erzeuge, und damit komme er mit dem genialen spekulativen Geist
überein, der seinerseits nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens
erzeuge. Schiller läßt offenbar das Recht des Goetheschen Geistes gelten,
aber, von ihm aus gesehen, bedeutet dies gerade keine Beschränkung der
Wahrheit der philosophischen Spekulation, das ist der Kantischen Philo-
sophie. Seine Deutung Goethes durch die praktische Entsprechung spekula-
tiven und intuitiven Geistes ist vielmehr die völlige Rechtfertigung des von
der Spekulation Erkannten. Das bewußtlos schaffende Genie bestätigt gera-
dezu die philosophische Wahrheit des Selbstbewußtseins. Kant sagt also -
auch noch über Goethe - die Wahrheit. '
Die entscheidende Frage ist die: Hat Schiller damit recht? Ist Goethes
philosophische Haltung die des Instinktes? Ist seine Philosophie wirklich
nichts als bewußtloser Idealismus? Goethe selbst scheint diese Frage zu
bejahen. Wenn er auch anfangs noch -in seiner Antwort auf Schillers großen
ersten Brief- lIeine Art Dunkelheit und Zaudern« bei sich entdeckt, die der
angebotenen denkenden Selbstklärung widerstehen, so ist doch kein Zwei-
fel, daß er sich nach und nach selber mit den Augen Schillers aufKantisch zu
sehen bereit findet. Goethe bestätigt dies noch kurz vor seinem Tode, wenn
er in einem Brief an den Staatsrat Schultz vom 18. September 1831 schreibt:
»Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf
mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn.« - Die
neue Epoche. die Schiller rur ihn einleitet, wird durch übergang in einen
Goethe und die Philosophie 65

geläuterten, freieren, selbstbewußten Zustand charakterisiert. Der durch


Schiller vertretene Standpunkt ist ihm ein »höherer« Standpunkt. Offen-
bar deshalb, weil es der Standpunkt einer höheren Bewußtheit ist. In der
Tat sehen wir Goethe sich mehr und mehr an den Kantisch-Schillerschen
Sprachgebrauch gewöhnen und den »steifen Realismus« von sich abtun.
Es wird ihm allmählich natürlich, von der Idee als dem Höheren zu spre-
chen, ja sein »Urphänomen« als Idee zu bezeichnen. Er ist damit ganz auf
die Seite Schillers übergetreten, gegen dessen Behauptung: »Das ist eine
Idee!« er sich anfangs so gesperrt hatte, und zwei Jahrzehnte später, im
Jahre 1817, der einzigen Zeit seines späteren Lebens, für die nochmals eine
anhaltendere Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie bezeugt ist,
spricht er selbst von dem Hiatus, der Kluft zwischen Idee und Erfahrung,
die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht, und gibt
dem Philosophen ausdrücklich recht, welcher behauptet, daß keine Idee
mit der Erfahrung völlig kongruiere - und er ist zufrieden, wenn dieser
»wohl zugibt, daß Idee und Erfahrung analog sein können, ja müssen«.
Auf der anderen Seite bleibt freilich seine Abneigung gegen das tren-
nende Verhalten der Philosophie das beherrschende Motiv in all seinen
Äußerungen zur Sache, und man hat deshalb die Metaphysik Goethes als
eine dynamisch-ganzheitliche, an der Morphologie orientierte Weltansicht
geradezu im Gegensatz gegen die Kantische, von den atomistischen Vor-
aussetzungen der klassischen Mechanik ausgehende Philosophie darstellen
können3 • überdies bemerken wir, nachdem der Tod den zehnjährigen
Bund Schillers mit Goethe gelöst hat, ein Zurücktreten seines philo-
sophischen Bemühens, ja eine immer stärkere Wendung zu der alten Zu-
rückhaltung. Auch die oben zitierten Äußerungen aus späterer Zeit sind
nicht so rückhaltlos, wie sie aus ihrem Zusammenhang gelöst klingen. So
lautet die Fortsetzung des Briefes, der die Leistung der Kantischen Philo-
sophie als einen ungeheuren Gewinn bezeichnet hatte: »Sie kommt aber
nie zum Objekt, dieses müssen wir so gut wie der gemeine Menschenver-
stand zugeben, um am unwandelbaren Verhältnis zu ihm die Freude des
Lebens zu genießen.« Das klingt gar nicht mehr Kantisch, aber wieder
sehr Goethisch. Die Frage ist nun, wenn man diese und ähnliche Äuße-
rungen Goethes aus der späteren Zeit betrachtet (und gerade aus der
späteren Zeit stammt manches unwirsche Wort über die Philosophie):
Was bedeutet diese Abwendung? Wirklich eine Abkehr von der Philo-
sophie? Eine immer bewußtere Heraushebung der ihm eigentümlichen
Betrachtungsart der Dinge, die überall Ganzheiten, Gestalten anschaut?
Also die Rückkehr des Künstlers Goethe zu sich selbst? Oder bedeutet sie
nur eine selber philosophische Wendung? Denn diese Abkehr von der kri-

3 Vgl. FERDINAND WEINHANDL, Die Metaphysik Goethes. Berlin 1932.


66 Goethe und die Philosophie

tischen Philosophie, ist sie nicht die gleiche, die das deutsche idealistische
Denken im Zeitalter Goethes seinerseits vollzogen hat?
So kann es in der Tat scheinen. Da ist zunächst die Abhandlung über
,Anschauende Urteilskraft<. Sie knüpft an eine Stelle von Kants ,Kritik der
Urteilskraft< an, an der Kant die Idee eines anschauenden Verstandes ent-
wirft, der von der Anschauung eines Ganzen als eines solchen zum Besonde-
ren gehe. Kant will an diesem Gegenbild eines göttlichen. urbildlichen
Verstandes die Diskursivität, die Bilderbedürftigkeit des menschlichen Ver-
standes erläutern. Goethe aber meint sein eigenes urbildlich gerichtetes
Verfahren darin zu erkennen. Das ist sicher wieder bezeichnend für seine
Kantstudien für den Hausgebrauch. Goethe will damit keineswegs für den
späteren Idealismus der intellektualen Anschauung eintreten. Immerhin
zeigt seine Beziehung und Verwertung Kants eine natürliche Verwandt-
schaft mit der Lehre Schellings. Auch Goethe gehörte zu denen, die mehr an
Natur als an Freiheit glauben. Der Fichteschen Entwicklung der gesamten
Wissenschaftslehre aus dem Freiheitsbewußtsein der absoluten Tathandlung
vermochte Goethe also gewiß nichts abzugewinnen. Mit einem Denker.
dem die Natur nur "Material der Pflichtcc war, konnte er sich nicht vereini-
gen. er, der auch die Freiheit und uns selbst möglichst als Natur zu traktieren
suchte. Für diesen Gegensatz ist bezeichnend, wie Goethe zu Fichtes Wen-
dung: "Die von uns unabhängige Natur (das Nicht-Ich)cc am Rand notiert:
"Aber doch mit uns verbunden, deren lebendige Teile wir sind«. Was
Goethe so von Fichte trennt, eben das verbindet ihn aber mit den späteren
idealistischen Denkern, denn eben dies ist der Einsatzpunkt der von Schel-
ling und Hegel entwickelten Philosophie und der Punkt ihrer härtesten
Differenz mit Fichte: das Wesen der Natur als mit dem des Geistes und des
freien Selbstbewußtseins einig zu begreifen.
Diese Tendenz kommt schon im Namen der Identitätsphilosophie zum
Ausdruck. Identität meint nicht tautologische Selbigkeit. sondern untrenn-
bare Zusammengehörigkeit des Realen und des Idealen, wie sie im Prinzip
der intellektualen Anschauung gedacht ist. Ihre höchste Weise der Objekti-
vierung aber liegt im Kunstwerk vor. das ebenso reell wie ideell, ebenso
objektiv wie subjektiv ist. Und so geht nach Schelling das Philosophieren
mit Notwendigkeit in die Genialität der Kunst über. Schon das ist Goethe
nahe, der ja auch nie Subjekt und Objekt voneinander trennen wollte und
mit Natur stets die Subjektives und Objektives übergreifende Lebenseinheit
meinte. Ja, selbst der große Lebensplan der allseitigen Goetheschen Natur-
forschung, den Schiller beschreibt: "Von der einfachen Organisation steigen
Sie. Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die
verwickeltste von allen, den Menschen genetisch aus den Materialien des
ganzen Naturgebäudes zu erbauencc. selbst dieser Goethesche Leitgedanke
hat seine Entsprechung in der Schelling wie Hegelleitenden Aufgabe, aus
Goethe und die Philosophie 67
dem Realen der Natur das Ideale des Geistes und der Freiheit hervorgehen zu
lassen. Schelling nannte das seinen I)physikalischen Beweis des Idealismus«,
wie die bildende Natur sich von Potenz zu Potenz steigert. bis schließlich in
ihrer höchsten Potenz der Blitzschlag der Freiheit einschlägt und damit diese
höchste Ersteigerung der Natur aus ihr heraustritt, so daß im Lichte dieser
Freiheit das Selbstbewußtsein alles Seiende sich gegenüber hat. Damit ver-
söhnt sich der Standpunkt der Freiheit mit dem Standpunkt der Natur, der
objektive mit dem subjektiven Standpunkt, Goethe mit der kritischen Philo-
sophie.
Während der unruhige Schelling über dieses Ergebnis hinaus in die theo~
sophischen Hintergrunde des Freiheitsproblems sich verliert (wohin ihm
Goethe nicht mehr folgt), vermag Goethe in Hegels Philosophie die gedie-
gene Ausarbeitung der ihm so verwandten Identität von Realem und Idea-
lem zu finden. »Wo Objekt und Subjekt sich beruhren, da ist Leben; wenn
Hegel seine Identitätsphilosophie mitten zwischen Objekt und Subjekt hin-
einstellt und diesen Platz behauptet. so wollen wir ihn loben.« Hegel selbst
hat es als seine Aufgabe formuliert, diese Vermittlung zu vollziehen. die
Substanz zum Subjekt zu erheben und so das Subjekt substantiell zu machen.
Insbesondere hat er es unternommen, die ganze substantieKe Breite des
geschichtlichen Lebens in das Subjekt aufzunehmen. Es ist bezeichnend. daß
ihm auf dem Wege zu diesem Ziel, in der Erhebung des WeItbewußtseins
zum Selbstbewußtsein, Goethes Art der Naturforschung als höchste Weise
dieses Weltbewußtseins erschien. Sie überragt die mathematische Gesetzes-
wissenschaft der Physik an innerer Konkretion, denn sie erfaßt »die Gestalt,
die lebend sich entwickelt«. Ober das Reich des Unwandelbaren, die Geset-
ze der mechanischen Natur hinaus geht hier die echte Unendlichkeit des
Lebens auf. Indem sich diese zum Selbstbewußtsein erhebt, »schreitet der
Geist in das einheimische Reich der Wahrheit ein«.
So hat Hegel in der Tat Goethe philosophisch in sich aufgehoben, und es
besagt nichts dagegen. wenn Goethe sich seinerseits im ganzen auf Hegels
Philosophie nicht einläßt: »Ich mag nichts Näheres von der Hegeischen
Philosophie wissen ... «, auch wohl gelegentlich ungeduldige Mißverständ-
nisse begeht, wie seine Empörung über die Hegeische Formulierung in der
,Phänomenologie des Geistes(, daß die Blüte die Knospe und die Frucht die
Blüte "widerlege«. Die radikale Beweisenergie der Hegeischen Dialektik
mußte ihm verdächtig sein. Aber das kann lediglich die Zurückhaltung
seines philosophischen Instinktes sein, in dem Sinne, in dem Schiller ihn sich
selbst gedeutet hat. In der Tat hat Hegel es so gesehen. d. h. aber, er hat
Schillers Goethedeutung wiederholt, wenn er an Goethe schreibt (am
24. April 1825): "Denn wenn ich den Gang meiner geistigen Entwicklung
übersehe, sehe ich Sie überall darein verflochten und mag mich einen Ihrer
Söhne nennen; mein Inneres hat gegen die Abstraktion Nahrung zu wider-
68 Goerhe und die Philosophie

haltender Stärke von Ihnen erhalten und an Ihren Gebilden wie an Fanalen
seinen Lauf zurechtgerichtet.« Goethes dynamisch-ganzheitliche Betrach-
tungsweise ist genauso über das trennende Verstandesdenken hinaus wie
Hegels spekulatives Denken und sein konkreter Begriff. So kann Hegel in
dem bildnerischen Gestalten Goethes die echte Konkretion des Geistes er-
blicken, die philosophisch, d. h. in Begriffen auszulegen, die Aufgabe seines
Lebens war. Auch er behauptet damit seine eigene Wahrheit des spekulativ
Vernünftigen und stellt über die Unmittelbarkeit des lebendigen Anschau-
ens die unendliche Vermittlung des Begriffes, über Dichtung und Religion,
als die höchste Welse des Geistes, die sich selbst begreifende Philosophie.
Das also scheint das Ergebnis unseres biographischen Mitgehens rp,it
Goethes geistigem Gange. Goethes oft und oft betonte und betätigte Zu-
rückhaltung gegen die Philosophie erwies sich noch nicht einmal als die
halbe Wahrheit. Im Gegenteil erscheint seine philosophische Geschichte wie
das dichterische Vorbild dessen, was die Denker seines Zeitalters, was erst
Schiller, später Schelling und Hegel dachten. Haben wir also - so müssen
wir fragen - in dieser Philosophie des deutschen Idealismus, insbesondere in
der Erhebung vom subjektiven zum objektiven und absoluten Idealismus,
die wahre Philosophie Goethes?
Mit dieser entscheidenden Frage gewinnt unsere Betrachtung nochmals
eine ganz neue Richtung, die wir abschließend anzuzeigen haben. Wir
trennen uns nicht nur von dem Bestreben, das unseren Vätern so wichtig
war, Goethe und Kant in übereinstimmung zu setzen; wir halten es auch
nicht rur genug, Goethes Philosophie in ihrer tatsächlichen Verwandtschaft
mit dem objektiven Idealismus Schellings und Hegels zu erkennen; wir
fragen jetzt vielmehr, ob es wirklich ein zufälliges und äußerliches Faktum
ist, daß Goethe, der doch aller übereinstimmung so gerne froh war, den-
noch mit der philosophischen Spekulation seiner Zeitgenossen nicht recht
mitg~ng. Ist das wirklich nichts als der Ausdruck seiner eigenen dichterisch
bestimmten Art, die aus Liebe zur sinnlichen Anschauung den Gang der
Begriffe scheute - oder liegt vielleicht in dieser seiner eigenen Art eine
philosophische Wahrheit, die über den Kreis des idealistischen Denkens,
nicht nur über das Kantische, sondern auch über das Hegeische Denken,
hinausragt? Ist Goethe vielleicht nicht nur der Zeitgenosse und das dichteri-
sche Vorbild des Idealismus - ist er vielleicht ihr erster Kritiker?
Für diese Frage sind wir durch ein ganzes Jahrhundert der Kritik am
Idealismus vorbereitet, und insbesondere, seit Nietzsches Angriff auf den
Platonismus, d. h. aber auf das Ganze des griechisch-christlichen Ideenden-
kens und der Metaphysik, in das das allgemeine philosophische Bewußtsein
eingedrungen ist. Wir sind dadurch in den Stand gesetzt, Goethes Abkehr
von der Metaphysik, ja seine ganze Zurückhaltung gegen die spekulative·
Philosophie mit anderen Augen anzusehen. Wir sehen darin nicht mehr den
Goerhe und die Philosophie 69
um die Unschuld seiner bildnerischeri Kräfte besorgten Künstler, der sich
die Reflexion vom Leibe hält. Wir sehen in dem, was ihn zurückhält,
vielmehr geradezu die volle andere Hälfte der Wahrheit. Wir erkennen in
ihm -lange vor Nietzsehe - einen Kritiker des Begriffs der philosophischen
bzw. metaphysischen Wahrheit.
Die erste Einsicht, die uns dahin leitet, ist die, daß Goethe selbst in seinem
bildnerischen Grundverhalten zur Welt nicht die Besonderheit seiner dichte-
rischen Individualität sah, sondern das Allgemeine des menschlichen Da-
seins überhaupt. Der Künstler ist nur die gesteigerte Erscheinung des Men-
schen. Der Mensch ist. was er ist, in beständiger Wirkung auf die ,Welt und
im beständigen Erfahren der Gegenwirkung der Welt auf ihn. Nicht in der
abgelösten Freiheit des Gegenüberseins, sondern im täglichen Bezug auf die
Welt, im Sicheinlassen in ihre Bedingnisse gewinnt der Mensch sich selbst.
~r gewinnt damit auch erst die rechte Stellung des Erkennens. Es ist der
Schüler Herders. der unser Erkennen der Welt nicht als ein Haben und
Wissen, sondern als ein Erfahren und Genießen sieht, d. h. aber als eine
produktive Antwort des Menschen auf die Welt aus der Totalität der
menschlichen Natur.
Damit hängt ein Zweites zusammen. Wenn sich Goethe vor den Gewagt-
heiten der philosophischen Spekulation bewahre, so folgt er damit nicht nur
einem Instinkt für das seiner eigenen Art Angemessene - er sieht darin das
menschlich Richtige und dem Menschen Gebotene schlechthin. Darin aber
liegt, daß er einen eigenen Anspruch auf Wahrheit dem Ganzen der philo-
sophischen Tradition und ihrem Begriff der Wahrheit entgegenstellt. In
einer seltsam gelassenen Vorläuferschaft weist Goethe hier wiederum in die
Richtung, in der Nietzsehe die Kritik des Platonismus gesteigert hat, und
gerät in die gleiche Nähe zu den Anfängen der Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen, die Nietzsche empfand. Auch er sah, was Nietzsehe
sah, daß die plastische Natur der alten Denker. ihre geschlossene überein-
stimmung von Leben und Lehre, im modernen Zeitalter unbekannt ist, und
er begründet darauf seine eigene bewußte Stellung zur Philosophie. In einem
von Falk berichteten Gespräche sagt er: »Die Philosophen können uns
ihrerseits nichts als Lebensformen darbieten. Wie diese nun für uns passen,
ob wir, unserer Natur und unseren Anlagen nach, ihnen den erforderlichen
Gehalt zu geben imstande sind, das ist unsere Sache. Wir müssen uns prüfen
und alles, was wir von außen in uns hereinnehmen, wie Nahrungsmittel, auf
das sorgsamste untersuchen; sonst gehen entweder wir an der Philosophie
oder die Philosophie geht an uns zugrunde. "
Diese Außerung ist sehr aufschlußreich. Sie zeigt, nlit welcher Bewußt-
heit Goethe sich gegenüber der einseitigen Verstandesbildung der neueren
Jahrhunderte verhält. Es sind ja eben die protestantischen Jahrhunderte der
Sorge um den rechten Glauben und die rechte Lehre, die auch der philo-
70 Goethc und die Philosophie

sophischen Spekulation der Neuzeit ihre abstrakte Zuspitzung gegeben


haben. Vor solchem war Goethe von Jugend an auf seiner Hut. Er wehrte
sich stets gegen jede dogmatische Festlegung. Ob man ihn Pantheist, Christ
oder Atheist nennen wolle, gelte ihm gleichviel, »weil niemand recht wisse,
was das alles eigentlich heißen solle«. Mit dieser Haltung gerät er aber, ohne
es zu wissen, in die Nähe des Ursprungs der Philosophie bei den Griechen.
Jedenfalls ist es kein bloßer Zufall, sondern eine Verwandtschaft im Grunde.
die bei der oben wiedergegebenen Außerung an den platonischen Sokrates
zurückdenken läßt.
Wie nämlich Goethe der neuzeitlichen Philosophie, so stand Plato der von
den Sophisten gepflegten ,Paideia( gegenüber. Plato sah das wahre Erzieher-
amt des Sokrates darin, von der unverbindlichen Allseitigkeit des sophisti-
schen Bildungswissens zur rechten Sorge um die Seele zu fUhren. In dem
wunderbaren Gespräch, das Sokrates (im platonischen >Protagoras() mit
dem bildungssüchtigen Jüngling führt, der zu Protagoras geruhrt werden
möchte, weckt Sokrates in dem jungen Manne das Bewußtsein der Gefahr,
die in der ungeprüften Hineinnahme der sophistischen Lehre in die Seele
liege. Hier nun gebraucht er dafür das gleiche Bild, das Goethe oben ver-
wendet: die Nahrung des Körpers werde nicht ohne gehörige Prüfung
ausgewählt, wieviel mehr bedürfe die der Seele einer gleichen Vorsicht und
Prüfung. Die Aufgabe der Philosophie, die diese Prüfung zu leisten hat,
gleicht der des Arztes, der gegenüber den Verführungen der Kochkunst das
dem Körper Zuträgliche zu bestimmen hat. In diesem Sinne ist Sokrates der
wahre Arzt der Seele und der einzige philosophische Erzieher, indem er
durch seine Kunst der GesprächsfUhrung die Vormeinungen der Bildung
dialektisch zu zersetzen versteht. Plato hat auf diese Anschauung des Dialek-
tikers Sokrates die dialektische Verfahrensweise der Philosophie überhaupt
begründet: nur in solcher Abwehr des sophistischen Bildungsgeredes kom-
me Philosophie zu sich selbst.
Goethe nun übt die gleiche Abwehr gegen die abstrakte Spekulation seines
Zeitalters, und eben diese freie Sicherheit vor dem Dogmatismus der Mo-
derne gibt ih~ etwas Antikes. Im Sinne der Antike ist auch er Philosoph und
ist den Ursprüngen näher als seine großen philosophischen Zeitgenossen.
Denn er teilt nicht den Glauben seines Zeitalters an die Autonomie der
Vernunft - er sieht ihre menschliche Bedingtheit.
Entscheidend aber ist, daß er diese Bedingtheit nicht als eine Schranke der
Wahrheit, sondern als den menschlichen Weg zur Weisheit begreift. Damit
liegt in seiner Abwehr der Philosophie eine eigene philosophische Erkennt-
nis verhüllt, die sich am deutlichsten in dem verrät, was er unter Wahrheit
verstand. Hier steht er in einer grundsätzlichen Abkehr von dem traditionel-
len Begriff der gegenständlichen Wahrheit und ordnet sich damit in eine
Bewegung ein, die von Herder über Nietzsche bis in die Gegenwart hinein-
Goethe und die Philosophie 71
reicht und deren antikes Vorbild die konkrete Dialektik des Sokrates ist. Es
ist nämlich nicht jene von der Feindseligkeit gegen den Dogmatismus der
Schul philosophie seit alters genährte Gegenbewegung der Skepsis, die aus
Goethe spricht, sondern der Wille zur Bewahrung eines eigenen Bodens der
Wahrheit. Das stets und ständig Produktive, dessen sich Goethe als der
Mitgift seiner genialen Natur bewußt war, ist auch für das allgemeine
Weltverhältnis des Menschen charakteristisch. Nur rur den Wirkenden und
Gegenwirkung Erleidenden ist die Welt da. Wahrheit beruht auf einem
Lebensverhältnis. Daher ist sie in einer innerlich notwendigen Weise mit
dem Irrtum verknüpft, in dem sich das gleiche Verhältnis des Lebens aus-
wirkt. Belebung der eigenen Tätigkeit, Auslösung und Steigerung der
Lebenskraft, Produktivsein im Beleben wie im Vernichten, das ist der
Maßstab. an dem sich die Wahrheit bemißt. »Was fruchtbar ist allein ist
wahr« - dieses bekannte Wort Goethes löst indes nicht die Wahrheit in die
Nützlichkeit auf, wie es der moderne Pragmatismus tut; denn die Fruchtbar-
keit ist eben die Steigerung der Lebendigkeit selbst, in der sich das menschli-
che Weltverhältnis gestaltet. Sie ist nur die andere Seite der von Goethe als
sein eigener Wesenszug anerkannten Gegenständlichkeit. Denn
Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?
6. Goethe und die sittliche Welt
(1949)

Wer Goethe liebt, der liebt auch die deutsche Sprache. Und wem ist Goethe
nicht gleichwohl der Inbegriff einer Menschheitskultur, die inmitten einer
Welt heillosrr Entzweiungen ihren geheimen Gang geht!
Indessen, wer ist es, der Goethe liebt und in Goethe etwas alle Einendes?
Wir können uns nicht verbergen, daß die selbstverständliche Anteilnahme
an Goethe, alles Echte und Wahrhafte, was in ihr laut wird, von der älteren
Generation der heute Lebenden getragen wird. Die Jugend, sowie sie über
die bildungs mäßige Beflissenheit ihres noch unselbständigen Daseins hin-
auswachsend ihre Sterne wählt, wendet sich anderen Vorbildern zu und geht
an Goethe mit zunehmender Gleichgültigkeit vorbei.
~ugend ohne Goethe<, so hieß der Titel einer bedeutenden Rede, die der so
früh dahingegangene Max Kommerell1930 veröffentlichte. Diese Formel
ist heute genauso gültig wie vor Jahrzehnten, wenn auch ihr positiver Inhalt
sich gewandelt hat. Nicht mehr eine ausschließliche Hingabe an die Dich-
tung Stefan Georges, wie sie Kommerell damals - und schon damals kaum
noch mit vollem Recht - zu erkennen meinte, ja nicht einmal die Hingabe an
die Dichtung Hölderlins und Rilkes scheint inzwischen das Herz der dichte-
risch empfänglichen Jugend zu erfüllen. Selbst diese äußerste Inständigkeit
des dichterischen Menschentums ist wie unter Fluchtverdacht geraten. Alles
.Poetische< erscheint vor der Wucht der Realitäten, die uns in unserer vom
Geiste des technischen Könnens inspirierten Gesellschaft umringen, nur
noch als eine edle Ohnmacht. Goethe vollends kommt der suchenden Ju-
gend von heute wie der Urheber und Kronzeuge einer kunstvollen Ver-
schleierung der Entscheidungen vor, um die es wahrhaft geht. .
Es ist nicht das erste Mal, daß Goethe so mit Leidenschaft bestritten wird.
Schon die Zeitgenossen und dann das Junge Deutschland, jene literarische
Bewegung, die nach der französischen Juli-Revolution von 1830 den sozia-
len und ästhetischen Tendenzen des beginnenden Liberalismus ihre Stimme
lieh, haben mit dem Angriff auf den .Olympier< Goethe das Stichwort
gegeben, das seither mehrfach wiederholt wurde. Es war viel unproduktiv~s
Ressentiment in dieser feindseligen Haltung zu Goethe. Die Kritiker Wolf-
gang Mentzel und Ludwig Börne, die Wortfdhrer des Streites, sahen in der
Goethe und die sittliche Welt 73
anscheinenden Unberührtheit, mit der der alternde Geheimrat Goethe auf
den stürmischen Radikalismus der Jugend herabsah, Blindheit gegen die
echten und zukunftsvollen Kräfte der Zeit. Der Kult, den die höhere Gesell-
schaft mit ihrem Abgott trieb, reizte sie zu maßloser Ungerechtigkeit. Und
am Ende war es nicht nur ein revolutionärer Elan, der gegen die selbstzufrie-
dene Sicherheit der bestehenden Ordnung, mit der Goethe sich eingelassen
hatte, gerichtet war, sondern ein echter Haß gegen die mühelose Gelassen-
heit dieser genialen Produktivität, d. h. aber unerfullte Liebe, die etwa das
zwiespältige Verhältnis Heinrich Heines zu Weimar und zu Goethe be-
stimmte. Was Goethe ehedem schon gegen den revolutionären Radikalis-
mus des jungen Schiller eingenommen hatte. was ihn gegen den Anspruch
so genialer Naturen wie Kleist und Hölderlin taub machte, erschien nun als
eine wirkliche Grenze in dem Riesenmaß seiner Persönlichkeit. Sein ausge-
wogenes Gleichmaß war den radikalen Forderungen einer jungen Genera-
tion ein zu billiger Friede mit den Mächten des Bestehenden und zuletzt ein
Mangel an Radikalität und Entscheidungskraft.
Seither hat eine drängende jugend diesen Angriff mehrfach wiederholt.
Mit der Saturierung des Besitzbürgertums im industriellen Anstieg Preu-
ßens und des deutschen Reichs war das erste Kampfgeschrei verstummt und
einem neuen Bildungskult gewichen. Der Anprall des sozialen Pathos der
naturalistischen Bewegung der 80er jahre gab ihm neue Nahrung, und
vollends der Zusammenbruch des Bildungsidealismus in den Schützengrä-
ben des Ersten Weltkrieges rief die revolutionären Kräfte der Literatur und
der Politik erneut in die gleiche Front.
Inzwischen aber nimmt ,die innere Auseinandersetzung mit Goethe eine
immer schweigendere und dadurch immer ernstere Form an. Sie hat nicht
mehr die militante Gestalt einer literarischen und politischen Fehde, nicht
mehr den heißen Atem einer anderswolIenden Ungerechtigkeit, die angreift
und verwirft, um dem eigenen Stil des künstlerischen oder politischen
HandeIns den Weg zu bahnen. Sie läßt es nicht einmal mehr an gerechter
Anerkennung fehlen - und eben dami t bekundet sie ihren gesteigerten Ernst.
Sie fragt jetzt nach Goethes Legitimation, weil sie an der Legitimität des
Poetischen in unserer Welt überhaupt zweifelt. Und sie fragt grundsätzlich.
mit der Gewissenhaftigkeit, die sich von Goethes Persönlichkeit und Werk
halb versucht und bewogen fiihlt, nach Goethes Stellung zur sittlichen Welt.
Sie spielt nicht mehr den jungen Goethe oder sonst eine Phase seines Schaf-
fens gegen den älteren aus, sondern sucht ihn als Ganzen und richtet ihre
Gewissensfrage an das Ganze seiner Existenz und seiner geistigen Wirklich-
keit.
Kar! jaspers hat in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Goethe-
Preises der Stadt Frankfurt 1947 die beunruhigende Frage gestellt, was es
bedeute, daß Goethe uns nahe ist und unserem Leben unentbehrlich und
74 Goethe und die sittliche Welt

doch kein Vorbild mehr für unsere eigene Existenz. Er hat insbesondere die
Kritik ins Licht gestellt, die Kierkegaard an Goethe geübt hat, daß ihm die
Existenz selber zur Dichtung geworden sei. Goethes Mangel sei, daß er kein
Pathos habe. Aus allen Situationen, in denen ein unbedingter Anspruch an
ihn ergehe, so oft ihm ein Lebensverhältnis übermächtig werde - bekannt ist
das ja vor allem von seinen Liebesedebnissen -, dichte er sich davon frei.
)Dichtung und Wahrheit<, diese großartigste Selbstbiographie der deutschen
Sprache, verschleiere mit ihrer Poetisierung seines Lebens gerade die Ver-
bindlichkeit der Existenz. Man ist versucht, zu fragen: Muß etwa von
Goethe selbst gelten, was er einst gegen eine falsche Werthemachfolge
gesagt hat: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach!«?
Es genügt nicht, die Berechtigung dieser Kritik zu prüfen, sie anzuneh-
men oder zu verwerfen, und daneben das dichterische Werk Goethes unbe-
schädigt festhalten zu wollen. Denn die Poetisierung seines Lebens, die ihm
diese Kritik vorwirft, ist ja selbst das Lebensgesetz seiner Poesie. Sein
dichterisches Werk ist der reinste Ausdruck dessen, was man )Erlebnisdich-
tung( nennt. Nicht als ob sein )wertes Ich< der Schlüssel aller seiner Dichtun-
gen sei und nur von seiner Lebensgeschichte her seine Dichtungen Leben
und Bedeutung hätten. Was sich in seinen Werken, diesen »Bruchstücken
einer großen Konfession«, wie er selbst sie genannt hat, ausspricht, ist nicht
das einmalig historische Ich ihres Schöpfers. Vielmehr macht es gerade das
sittliche Problem so brennend, daß er sein Leben )gedichtet< hat, d. h. aber
sein faktisch gelebtes Leben wie einen Stoff behandelt, der wie aller Stoff der
Kunst für sich nichts ist, sondern ganz in das Gebilde eingegangen ist, das
uns allgemein und bedeutend anspricht. Ist selbst das größte Ich, ein Ich von
reichster Welthaltigkeit, überhaupt stoffbedeutend genug für den Auftrag
der Poesie? Das ist die andere Frage. die sich mit der ethischen zugleich
ergibt, die Frage an Goethes Kunst und Dichtertum. Calderon oder Dante
oder die griechischen Tragiker, die wie namenlose Mittler einer allumfas-
senden Weltschau schier ohne Persönlichkeit scheinen, geben dieser Frage
kein geringes Gewicht. Sie steht neben der anderen, die die Unbedingtheit
der sittlichen Existenz an Goethe vermißt. Ja. sie hat vor jener den Vorrang.
Denn nicht Goethes Existenz ist uns gegeben und zugänglich, wohl aber der
vielfache Zauber seines dichterischen Werkes. »Wie es in Goethes Existenz
war, wird niemals jemand ergründen«. sagt Jaspers angesichts der Kierke-
gaardschen Kritik mit Recht. Aber was seine Dichtung in unserer Existenz
ist, können und müssen wir ergründen.
Es ist etwas Gewaltiges geschehen, als Goethe den Mund auftat und die
deutsche Dichtung zum Range der Weltliteratur erhob. Die gewaltige
Sprachgebärde Schillers, die blockhafte Inständigkeit Hölderlins. auch
Klopstocks stammelnde Kraft und Herders grenzenlos entfesselte Sprach-
fülle, und wen immer man nennen will unter den Künstlern der deutschen
Goethe und die si ttliche Welt 75

Sprache, die in die Weltliteratur eingegangen sind - sie alle übertrifft Goethe
um ein ganz Eigenes: die vollkommene Natürlichkeit seiner Sprache'. Sie
wirkt auf uns fast nur deshalb als ein eigener Stil, weil uns dieser freie
Gebrauch des Eigenen in den Formen der dichterischen Aussage vor Goethe
nicht gegeben war und nachher nicht ohne ihn. Es ist nicht nur die unbefange-
ne Frische seiner frühen dramatischen und epischen Prosaschöpfungen,
denen ein Erdhauch von Mundart anhaftet, es ist gerade auch seine Verskunst,
die von den schlichten Anfängen seiner Liedpoesie bis in die allegorisch
beladenen Strophen seiner spätesten Dichtungen, von der )Pandora( über den
)West-östlichen Divan( bis zum zweiten Teil der Faustdichtung ihr rhythmi-
sches Gefüge wie von der Natur selbst empfängt. Aufleichten Füßen eilt noch
der ausdrucksschwerste, metrisch kunstvollste Vers daher. Der alte Bann, der
auf der durch die antike Metrik gebundenen deutschen (und nicht nur der
deutschen) Verskunst zu
liegen schien, ist wie gelöst und entmachtet. Und
selbst die spätere Prosa Goethes, die gewiß etwas von einem zeremoniösen
Kanzleistil an sich hat, erscheint nicht als geformt und gewollt, sondern als der
selbstverständliche Ausdruck einer dem Dichter und seinem Weltverhältnis
notwendig gewordenen Umständlichkeit. Goethe selbst hat aus seiner pro-
duktiven Frühzeit berichtet. daß ihm seine Verse wie von selbst kamen, oft
des Nachts, bei halber Dunkelheit auf Zettel geschrieben wurden, mehr einer
Eingebung gehorchend als aus einem künstlerischen Wollen entspringend.
Man spürt es seiner Verskunst an und wird nicht verkennen, daß diese
vollkommene Natürlichkeit seiner Sprache nichts Äußerliches und Zufälliges
ist, sondern aufs genaueste der Art entspricht. wie er überhaupt der Welt
begegnet und auf sie antwortet. Es ist wie ein Spiel, und gerado das Spieleri-
sche seiner Poesie ist es, was manchem an der bis zum Prophetenhaften
angespannten Sprachgebärde Hölderlins oder Rilkes Erzogenen wie der
Mißbrauch eines heiligen Gefäßes erscheinen kann.
Man wird den künstlerischen Reiz dieser Sprachbehandlung - die nichts so
wenig ist als eine Behandlung der Sprache - nicht leugnen. man wird sogar
erkennen, daß Goethe in seinem Verhältnis zur Sprache-und vielleicht auch
zur Welt -, in dieser freien Natürlichkeit seines Sichdarlebens. wahrhaft ein
Grieche ist, wie seit den Tagen der Griechen keiner. - und man wird sich doch
fragen. woher Goethe das Recht zu der selbstverständlichen Poetisierung
seines ganzen Lebensstoffes nimmt und ob dies produktive Vermögen.
bildend und gestaltend auf jeden Reiz zu antworten, nicht gerade jene
Unverbindlichkeit bewirkt, die das Reich der dichterischen Einbildungskraft
aus dem Zusammenhang des durch sittliche Normen gebundenen Lebens löst
und die Dichtung in eine Welt der ästhetischen Bildung verweist, die sich in
sich selbst genießt.

I Siehe dazu in diesem Band >Die Natürlichkeit von Goethes Sprache •• S. \28ff.
76 Goethe und die sittliche Welt

Goethes eigene Lebensführung kann diese Frage nur verschärfen. Zwar ist
er keineswegs ein Mann gewesen, der sich der Einordnung in die gesellschaft-
liche Wirklichkeit entzog und ein isoliertes Bildungsdasein pflegte. Als der
junge Goethe vonKarl August von Weimar an seinen Hofberufen wurde, trat
er aktiv in das politische Leben des Weimarer Staates ein. Er war nicht nur
Minister, sondern über seine amtliche Stellung hinaus die maßgebliche und
entscheidende Persönlichkeit, weil er der Mentor des genialisch-ungebärdi-
gen Herzogs war. Mit größter Gewissenhaftigkeit hat er sich in seine Verwal-
tungsaufgaben eingearbeitet und dem kleinen Staatsgebilde unschätzbare
Dienste geleistet. Darüber hinaus nahm er sich viele mit Mühe und Ärger
überhäufte Jahre lang des Weimarer Theaters an. Und doch konnte diese
Situation des Frankfurter Patriziersohnes am Weimarer Hof manchem wie
ein Verrat an der Aufgabe scheinen, die dem revolutionären bürgerlichen
Elemente injener Zeit des niedergehenden Absolutismus gestellt war. Dann,
in demjahrzehnt der napoleonischen Fremdherrschaft über Europa, hielt sich
Goethe, ein persönlicher Bewunderer des großen Korsen, abseits von dem
nationalen Widerstand, der in den Freiheitskriegen triumphierte. Und voll-
ends in denjahren der Restauration stand er ganz auf der Seite der herrschen-
den Gesellschaftsschicht, die ihn aufgenommen hatte. Ein anderer Zug in
Goethes Leben, der viel Kritik und Ablehnung hervorrief, war seine Ehe mit
Christiane Vulpius. Zwar hat er sich mit der Eheschließung äußerlich in die
gesellschaftliche Welt eingefligt, aber wer konnte in der unbedeutenden Frau
die Lebenskameradin erblicken, die der großen Persönlichkeit des Dichters
die rechte Ergänzung bot und den sittlichen Bindungen von Ehe und Familie
die hohe Würde verlieh, die man gerade diesem Liebling hochstehender
Frauen und bedeutender Männer wünschen mußte? Die wahrhaft königliche
Stellung, die sich der alternde Goethe in der gesamten Kulturwelt erworben
und die er mit Behagen gepflegt hat, war doch auch eine Abseitsstellung, die
durch die steigende Autorität seiner Person von Jahr zu Jahr noch verstärkt
wurde. So ist denn auch Goethe selbst sich nicht darüber im unklaren
gewesen, daß das zeitgenössische Publikum seinem Werk und vor allem
seiner sittlichen Persönlichkeit fremd gegenüberstand. Gegen Eckermann
äußert er im März 1830 zu dem Vorwurf, daß er in jener großen Zeit der
Befreiungskriege abseits gestanden sei: »Es versteckt sich hinter jenem
Gerede mehr böser Willen gegen mich, als Sie wissen. Ich flihle darin eine neue
Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir im
stillen beizukommen sucht. Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im
Auge, sie wären mich alle sehr gerne los; und da man nun an meinem Talent
nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz sein,
bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinnenlust
versunken, bald ohne Christentum, und nun endlich gar ohne Liebe zu
meinem Vateflande und meinen lieben Deutschen.«
Goethe und die sittliche Welt 77
Die Zeit hat inzwischen ihr Urteil gesprochen, und Goethe steht heute
über der Parteien Haß und Gunst, die sein Charakterbild in der Geschichte so
lange schwanken ließen. Und vollends ist die Kritik verstummt, die an sein
Werk zu rühren wagt, ihm das echte poetische Genie (wie mancher mär-
chenselige Romantiker meinte) oder auch nur das wahre dramatische Talent
absprach. Sein Werk gehört der Wdtliteratur an, mit einer sdtenen, umfas-
senden Vollständigkeit. Aber freilich ist diese Schätzung Goethes von Maß-
.stäben literarischer Bildung bestimmt, die rur den Zweifel an seiner sittli-
chen Wertbeständigkeit und menschlichen Bedeutung immer wieder Raum
lassen. Was die ,Iphigenie< ist, diese so gar nicht ,griechische< und um so
unmittelbarer menschlich anrührende Umsetzung eines hohen Sagenstoffes
der Antike in das sittliche Empfinden der neueren Zeiten, ist niemandem
mehr zweifelhaft. Aber die problematischen Gestalten Clavigos oder Tas-
sos, Wilhelm Meisters oder Fausts (wie manche andere seiner weiblich-
gefährdeten Heldengestalten) entsprechen dem Idealbedürfnis der Men-
schen wenig. Immer wieder wird der sittliche Enthusiasmus Schillers stär-
kere Resonanz finden als Goethes zwiespältige und von den Abgründen
menschlicher Schwäche und Verwirrbarkeit umwitterte Figuren. Vor allem
aber bleibt ein Zweifel, der nicht zur Ruhe kommen will: Was ist es mit
dieser dichterischen Selbsterlösung, die er in seinem Leben und in seinem
Verhältnis zu seinem Dichten in Anspruch nimmt? Ist sie nicht eine Blasphe-
mie, die religiöse Formeln wahnhaft usurpiert? Ist sie nicht eine gefährliche
Verführung für den auf sittliche Bewährung gewiesenen Willen? Es sind
wundervolle Verse, in denen die tiefe Leidensfähigkeit des Dichters sich
ergreifend ausspricht: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.« Aber ist das nicht der Egozentris-
mus eines isolierten Künstlertums, der sich den lexistentiellen Ernst< des
menschlichen Lebens verbirgt? Im wiegenden Takt des IWest-östlichen
Divan< formuliert Goethe sein Lebensgefühl einmal in den Versen:
Worauf kommt es überall an,
Daß der Mensch gesundet?
Jeder höret gern den Schall an,
Der zum Ton sich rundet.

Alles weg, was deinen Lauf stört!


Nur kein düster Streben!
Eh' er singt und eh' er aufhört,
Muß der Dichter leben.

Und so mag des Lebens Erzklang


Durch die Seele dröhnen!
Fühlt der Dichter sich das Herz bang,
Wird sich selbst versöhnen.
78 Goethe und die sittliche Welt

Was ist das für ein Verhältnis zur sittlichen Welt, das sich hier aussprich"?
Rührt es nicht an die Grundlage unserer durch die christliche Religion
gelehrten und weit über die lebendige Wirklichkeit des Christentums fort-
geltenden menschlichen Sei bsteinschätzung ? Sich-selbst-Versöhnen - ist das
nicht die entschlossenste Zurückweisung des Heiles, das uns durch die
christliche Kirche und ihre Verkündigung geboten ist? Der Titanismus des
jungen Goethe, dessen Bezwingung in den Augen seiner Verteidiger und
Verehrer die große sittliche Leistung seines Lebens ist, scheint insofern noch
immer sein letztes Wort. Denn Titanismus ist das trotzige Auf-sich-selbst-
Bestehen des Menschen gegenüber dem Göttlichen, wie es in Goethes
Vorliebe fur die Gestalt des Prometheus in seiner Jugend revolutionären
Ausdruck fand. Titanismus scheint aber nicht minder die dichterische·
Selbsthilfe, der Goethe sich beständig und bis zuletzt anvertraut. Sind es
nicht die Grenzen der ästhetischen Lebenshaltung überhaupt, an denen
dieser große Künstler zum Scheitern kommt?
Man darf diese Frage nicht leicht nehmen. Man darf ihr auch nicht ihre
Grundlage zu entziehen suchen, etwa, indem man einem Schriftbeweis
einen anderen Schriftbeweis entgegenstellt. Gewiß kann man aus Goethe
alles beweisen und deshalb schließen, daß ein Künstler mit keiner der Gestal-
ten, in denen er lebt, identisch ist, und daß kein wahres Kunstwerk eine
eindeutige Moral abzuleiten gestattet. So argumentieren hieße aber Goethe
verkleinern. Sein Dichtertum geht allerorten in eine Form von Weisheit
über, die unmittelbar anspricht und unmittelbar ihm zuzurechnen ist. Selbst
die >Divan<-Verse, die wir eben zitierten, sind zwar nicht einfache Lehrpoe-
sie, sondern echte poetische Figur, aber die Figur, die sie sind, ist die des
Poeten - und das Poetische war, daran ist kein Zweifel erlaubt, die Basis von
Goethes Existenz.
Jene Verse zeigen indes, daß Goethe einen Gegensatz zwischen der ästheti-
schen Existenz des Dichters und der allgemeinen Existenzform des Men-
schen nicht gelten lassen will. Was für den Dichter gilt, ist nichts anderes, als
was für den Menschen gilt. Die Gesundung des Menschen ist die Gestaltung.
»Jeder höret gern den Schall an, der zum Ton sich rundet.« Das ist keine
ästhetische Lebensanschauung, die sich zu einer ethischen Lebensanschau-
ung in Gegensatz rucken ließe. Der Dichter stellt dar, was des Menschen ist.
Produktiv antworten auf den Anspruch der Dinge ist nicht sein Sondervor-
recht und seine Sondermöglichkeit, die ihn abhebt und in eine geschonte
Unverbindlichkeit freistellt. Es ist eines jeden Seele, durch die der »Erz-
klang« des Lebens dröhnt. »Düster Streben« ist nicht ein Zustand, der nur
dem Dichter widerraten werden soll, sondern der Dichter meint, daß sol-
cher Zustand menschlich unrichtig ist. Er ist darin mit dem strengsten
Moralisten, mit dem >Rigoristen< Kant, in Wahrheit einig. Denn auch. Kant
sagt: »Fragt man nun: welcherlei ist die ästhetische Beschaffenheit, gleichsam
Goethe und die sittliche Welt 79

das Temperament der Tugend: Mutig, mithin fröhlich oder ängstlich gebeugt
und niedergeschlagen? so ist kaum eine Antwort nötig. Die letztere sklavi-
sche Gemütsstimmung kann nie ohne einen verborgenen HqJJ des Gesetzes
stattfinden und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht ... ist ein
Zeichen der Echtheit tugendhafter Gesinnung.« Goethes Parole der dichteri-
schen Selbstversöhnung ist nicht der Ausdruck einer ästhetischen Lebensan-
schauung, der der sittliche Ernst fehlt, sie ist eine sittliche Wahrheit, die
vielleicht nicht einmal über das religiöse Problem der Angewiesenheit des
Menschen auf göttliche Gnade etwas präjudiziert, geschweige denn dem
politischen Eskapismus das Wort redet. Es ist eine Wahrheit, der insbeson-
dere Hegels Kiitik an der Unmoral des Sollens und der Unwahrheit des
abstrakten Räsonnierens Anerkennung verschafft hat. Hegel selbst hatte ein
Bewußtsein davon. daß die spekulative Lehre vom Begriffals dem wahrhaft
Konkreten (Enz. § 164) in Goethes Künstlertum und Persönlichkeit ihre
anschauliche Erfüllung hatte2. Das mit der Wirklichkeit entzweite Bewußt-
sein ist das unglückliche Bewußtsein schlechthin. Der Jugend, deren ab-
strakter Enthusiasmus alle Bedingtheiten überfliegt, mag diese sittliche
Wahrheit nicht leicht eingehen. Aber es gibt nicht die Jugend schlechthin.
Sie ist ein Durchgang. wie alles Menschliche. Der Weg der deutschenjugend
zu Goethe ist nicht der mühsame und zweifelhafte Weg zu etwas Fremdem -
es ist der Weg ihrer eigenen Lebensbewegung und einer jeden Jugend
Zukunft.

2 Vgl. den BriefHegels an Goethe vom 24. April 1825. Dazu auch im Vorhergehenden
.Goethe und die Philosophie<, S. 67 f.
7. Vom geistigen Lauf des Menschen
Studien zu unvollendeten Dichtungen Goethes
(1949)

Einleitung
Die folgenden Studien haben zu ihrem Gegenstand unvollendete dramati-
sche Dichtungen Goethes, die dennoch von Goethe selbst in die Ausgabe
seiner Gesammelten Werke aufgenommen worden sind und dadurch ein
besonderes Gewicht erhalten. Alles Unvollendete weist hinaus auf das Aus-
stehende, das erst den Sinn des Ganzen zu enthüllen vermöchte. Und doch
haben diese dramatischen Fragmente eine innere Abrundung. die ihnen das
Ganze eines Sinnes verleiht. Goethes Abrundung des 1773 entstandenen
Prometheusfragments durch die späte Anfiigung der Prometheus-Ode mag
einigermaßen künstlich und fragwürdig sein. Aber wer vermöchte der
,Pandora( oder der Goetheschen ,Zauberflöte( zu bestreiten. daß sie auf ihre
Weise ein Ganzes sind? Die Entwürfe der Fortsetzungen sind für d1e Leser
dieser Dichtungen durchaus entbehrlich, wenn sie auch fiir den Forscher den
hohen Reiz des Vermutlichen haben und auf der andern Seite fast als Kom-
mentar zu dem Ausgefiihrten dienen.
Was ist das Geheimnis dieser Fragmente? - Ich meine nicht, daß sie
unvollendet blieben, sondern daß sie vollendet sind. Welcher dichterische
Antrieb hat sich in ihnen dergestalt erfiillt, daß sie ihrer eigenen Fortfiihrung
zuvorkamen?
Es sind zufällige Studien, die sich in dieser Frage zusammenfassen. Das
Prometheusproblem, dem Verfasser seit langem Gegenstand eingehender
Forschung, nimmt in Goethes Dichtung allerdings eine bevorzugte Stellung
ein, und die beiden Dichtungen, die wir ihm - aus den 80er Jahren des 18.
Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts - verdanken,
deuten aufeinander hin. ,Der Zauberflöte anderer Teil( dagegen lockte zur
Deutung im Blick auf die Mozartsche Oper. Und doch ist es überraschend,
wie einheitlich sich diese Werke so verschiedener Entstehungszeit und so
verschiedenen Gewichts zueinanderfügen. Sie handeln alle drei von dem
Weg der menschlichen Gesittung, die mythologischen Dramen von der
titanischen Vorwelt und ihrer überwindung, die märchenhafte Oper vom
Vom geistigen buf des Menschen 81

Streit elementarer und geistiger Gewalten um den werdenden Menschen.


Element und Geist, ihr Gegeneinander und ihr Zueinander, beherrschen den
,geistigen Lauf< der Menschheit im ganzen, den Weg zur Kultur wie den
Weg der Erziehung des einzelnen. Darum ging es Goethe: den ständigen
Untergrund des TItanischen, die ständige Bedrohung des Geistigen durch
das nächtlich-Elementare als die menschliche Schicksalslage schlechthin zu
gestalten. Es ist kein gerader Weg der Aufklärung, der die Menschen zu ihrer
höheren Bestimmung heraufführt. Wovon sie sich los ringen, sind noch sie
selbst. Die mannigfachen dichterischen Versuche Goethes, die das darstellen
wollen, sind so sehr sein Eigenes, daß er sie jederzeit zurückholen kann - wie
diese dramatischen Fragmente. So verschieden die Gestaltung im einzelnen
ist, die Kulturschöpfungen der Menschheit sind so wenig eine menschliche
,Leistung< wie das jeweilige ,Gelingen< der Erziehung. In ihnen sind Leiden
und Wagen, Sorge und Gnade ineinander verwebt. Die Selbstrnacht der
Vernunft ist eine der Illusionen des modernen Denkens. Es kann an Goethe
ermessen, wo seine Grenze gesetzt ist.

Die Grenze des Titanischen

Prometheus . Pandora
Die mythische Figur· des Titanen Prometheus, des großen Menschenfreun-
des, der durch den Diebstahl des Feuers zum Ahnherrn der menschlichen
Kulturarbeit wird und um seiner Liebe zu den Menschen willen von der
Rache des Zeus getroffen in heroischem Duldertum, täglich aufs neue vom
Adler des Zeus zerfleischt, unbequem auf sich selbst besteht, ist von der
griechischen Dichtung, von Hesiod und Aischylos, zur dauernden und
gültigen Gestalt geprägt worden. Sie hat in stetigem Sinnwandel das antike
Denken bis über die Schwelle des Christentums hinaus begleitet'. Denn
selbst das hellenistische Christentum noch konnte in der Tat und den Leiden
des Prometheus eine Präformation der eigenen religiösen Botschaft von der
Erlösung der Menschheit durch stellvertretendes Leiden erkennen, indem es
nach antiker Art den überlieferten Mythos auf sich bezog. Der eigentliche
religiöse Gehalt des von Hesiod und Aischylos gestalteten Mythos freilich
war mit den christlichen Anschauungen von der Ewigkeit und Allmacht
Gottes unvereinbar. Daher ist das besondere Interesse, das seit dem Beginn
der Neuzeit dem antiken Mythos zugewendet wird, ein Zeichen dafür, daß
die Verbindlichkeit des Christentums nachläßt. Der Prometheus-Mythos
wird nun in einer Variante aufgegriffen, die bereits in der späteren Antike
1 Vgl. meinen Aufsatz ,Prometheus und die Tragödie der Kultur •. in diesem Band,
S. 150ff.
82 Vom geistigen Lauf des Menschen

zur Herrschaft gekommen war. Im Anschluß an ältere Kulturtradition wird


Prometheus als der Menschenschöpfer gesehen, als der geistreiche Töpfer-
dämon, dessen kunstfertiges Genie aus Ton die Menschenwesen formt und
mit Minervas Hilfe zum Leben erweckt. Diese Geschichte war im späteren
Altertum ein religiös im Grunde indifferentes Motiv allegorisch-literari-
scher Prägung - jetzt, in der Renaissancephilosophie, bei Boccaccio und
Bovillusz, steigt es zum Rang eines echten Symbols auf, das ein neues
Lebensgefuhl und Menschenbild, das des schöpferischen Menschen, gegen-
über der christlichen überlieferung anmeldet. Aber erst im 18. Jahrhundert
findet das neue Symbol seine militante Prägung in Goethes berühmter Ode.
Man weiß, daß die Veröffentlichung dieses 1774 entstandenen Goe-
theschen Gedichts, dieJacobi gegen den Willen des Dichters im Jahre 1785
vornahm, in der Geschichte der modernen Aufklärung und der Kritik des
Christentums Epoche gemacht hat. Jacobi berichtete von dem Eindruck,
den dasselbe auf Lessing gemacht habe, und daß dieser darin eine Bestäti-
gung seiner eigenen pantheistischen Gottesvorstellung erblickte. Wie Pro-
metheus hier in trotziger Selbstherrlichkeit die Herrschaft der Götter anficht
und deren Abhängigkeit VOn der »allmächtigen Zeit« und dem »ewigen
Schicksal« gegen ihren Herrschaftsanspruch wendet, wirkte in dem Jahr-
hundert der Aufklärung und der Religionskritik wie ein )Fanal(. Goethe
selbst spielt in der Darstellung, die er aus späterer Rückschau von der
Geschichte dieses Gedichtes gibt, auf den )Pantheismusstreitc an, der sich an
die Veröffentlichung knüpfte: »Es diente zum Zündkraut einer Explosion,
welche die geheimsten Verhältnisse würdiger Männer entdeckte und zur
Sprache brachte: Verhältnisse, die ihnen seibst unbewußt, in einer sonst
höchst aufgeklärten Gesellschaft schlummerten«,· und er verweist auf den
Tod Mendelssohns, der sich im Verfolg dieses Streites ereignete. Ohne
Zweifel meint Goethe hier nicht die Aufdeckung des geheimen Pantheismus
Lessings als solche, die in dem Gespräch mit Jacobi nach der Lektüre der
Prometheus-Ode erfolgte - von Lessing, der von sich selbst sagte, er habe
dies alles aus erster Hand, würde gewiß nicht gesagt werden können, daß
seine religiöse Stellung ihm selbst vordem unbewußt gewesen sei. Was
Goethe meint, ist vielmehr die Entfesselungjenes leidenschaftlichen Streites
über Lessings Pantheismus bzw. Atheismus, die Männer wie Jacobi und
Mendelssohn in eine erbitterte Gegnerschaft drängte. Die Wirkung der
Prometheus-Ode ist also keineswegs nur die, daß ein revolutionär-an ti-
christliches Pathos zum machtvollen Ausdruck kam und die Gemüter hin-
riß; sie hat im Gegenteil religiösen Widerspruch geweckt und damit inner-
halb der modernen Aufklärung die Gegenkräfte gestärkt. Ähnlich doppel-

Z Vgl. E. CASSIRER, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance.


Berlin 1927, S.98ff.
Vom geistigen Lauf des Menschen 83

sinnig war ja auch die Wirkung des ,Werther< - und auch hier gebraucht
Goethe in der Rückschau von ,Dichtung und Wahrheit< das gleiche Bild von
dem Zündkraut und der Explosion, die das Buch bewirkte. In beiden Fällen
setzt sich Goethe selbst von diesen Wirkungen ab, indem er den poetischen
Sinn der )Darstellung< dieser Stoffe von ihrer stofflichen Wertung und
dogmatischen Benutzung unterscheidet. So hat das Prometheus-Gedicht.
wenn man aufseine Wirkungen sieht. zweifellos seinen Ort in der Religions-
geschichte. Was es aber für Goethe und in seinem dichterischen Werk
bedeutet. kann nur vom Dichterischen her gefragt werden.
Fr~ilich. die Prometheusfigur hat Goethe nicht nur dies eine Mal beschäf-
tigt. sondern es war ihm. wie er selbst bekennt, »der mythologische Punkt,
wo Prometheus auftritt. immer gegenwärtig und zur belebten Fixidee ge-
worden«. Darin liegt. daß die Prometheusfigur rur Goethe nicht ein dichte-
risches Motiv unter anderen darstellt, sondern eine besondere Identifikation,
deren Tragweite zu bestimmen ist. Wie wir durch Jacobi wissen, hieß der
junge Goethe im Kreise seiner Freunde geradezu Prometheus. Was dieser
Namengebung zugrunde lag, geht aus Goethes Bericht hervor, daß sein
produktives Dichtertalent damals die »sicherste Base« seines Lebensgeruhis
darstellte und sich in der produktiven Selbständigkeit. die Prometheus als
der Bildner der Menschen betätigt. erkannte. Goethe folgt damit jener seit
der Renaissance ins Selbstbewußtsein der Menschheit eindringenden Vor-
stellung, im Künstler einen )zweiten Gott< (alter deus. Scaliger), einen zwei-
ten Schöpfer zu erkennen, eine Vorstellung, die Shaftesbury unter dem
Symbol des Prometheus dem 18. Jahrhundert vermittelt hatte'. Diese Ge-
dankenlinie ist in den modernen Begriff des Schöpferischen eingegangen
und lebt seit dem )Sturm und Drang< in der Form des Kults der Persönlich-
keit und des Genies im allgemeinen Bewußtsein.
Indessen wäre es voreilig. das Prometheusmotiv im Blick auf diese Dinge
lediglich in seiner ästhetischen und kunsttheoretischen Bedeutung für Goe-
the in Anspruch zu nehmen. wie das für die humanistischen Theoretiker des
Geniebegriffs gilt. Vielmehr ist Goethes dichterische und gedankliche Aus-
einandersetzung mit der Prometheusfigur deshalb von einer viel weiter
reichenden Bedeutung, weil ihm das Bewußtsein seines dichterischen Ta-
lents - nach seiner eigenen Darstellung in >Dichtung und Wahrheitl - aus der
Erfahrung des »gemeinen<1 (d. h. allgemeinen) Menschenschicksals er-
wuchs. »an weIchem wir alle zu tragen haben«. Die Einsamkeit des Dich-
ters. der nur in der Isolierung produktiv zu sein vermag. macht nur in
ausgezeichneter Weise sichtbar. was fur alle Menschen gilt: »daß der Mensch
auf sich zurückgewiesen wird« und an der Gottheit keine Stütze in der Not
habe. Wenn es also auch die bildnerische Selbstgenügsamkeit des Titanen

3 Vgl. O. WA1ZEL, Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. Leipzig 1910.


84 Vom geistigen Lauf des Menschen

ist, die Goethe an der alten mythologischen Figur des Prometheus auffiel. als
er sein eigenes Dasein in Gedanken auf sein Dichtertum zu gründen suchte.
so verschlingt sich dieses Selbstbewußtsein des Künstlers Goethe doch tief
mit einem religiösen Grundgefuhl, das die Stellung des Menschlichen zum
Göttlichen betrifft. Goethe sonderte sich nach prometheischer Weise nicht
nur von den Menschen, sondern auch von den Göttern ab, aber nicht in der
Weise einer n~iven Selbstvergottung, wie sie in dem modemen Kult des
Schöpferischen ahnungslos geschieht. sondern im vollen Bewußtsein unse-
rer unaufhebbaren Menschlichkeit gegenüber dem Göttlichen. -
Daher vermochte die ganze Fabel von Prometheus in ihm lebendig zu
werden, »das Mißverhältnis, in welches Prometheus zu dem Zeus und den
neuen Göttern gerät, indem er auf eigene Hand Menschen bildet, sie durch
Gunst der Minerva belebt, und eine dritte Dynastie stiftet«. Die näheren
Ausfuhrungen, die Goethe in IDichtung und Wahrheit( zur Erläuterung der
Entstehungsgeschichte der Ode macht, betonen zwar den poetischen Cha-
rakter des Mythos und wollen sich auf philosophische und religiöse Betrach-
tungen nicht einlassen. Aber es wird doch deutlich, daß gerade die mittlere
Stellung des Titanen, Abkömmling der ältesten Dynastie und doch nicht
Mitinhaber des Weltenregiments zu sein, ihn für seine Rolle als Menschen-
schöpfer bedeutsam geeignet macht - bedeutsam, sofern das Menschenge-
schlecht auf diese Weise einen dem obersten Weltherrscher gegenüber selb-
ständigen Ursprung erhält, ein sprechendes Symbol CUr seine tatsächliche
Schicksalslage, »aufsichzurückgewiesen« und doch gänzlich untergeordnet
zu sein. Und so betont denn Goethe ausdrücklich, daß I>der titanisch-
gigantische, himmelstürmende Sinn« seiner Dichtungsart keinen Stoff ver-
liehen habe. »Eher ziem te sich mir, darzustellen jenes friedliche, plastische,
allenfalls duldende Widerstreben, das die Obergewalt anerkannt, aber sich
ihr gleichsetzen möchte. «
All das sind freilich späte Selbstdeutungen Goethes, die nicht allein die
Ode im Auge haben, sondern ebensosehr das im Jahre 1820 wiederaufgefun-
dene zweiaktige Dramenfragment. Und wie fern Goethe damals seinen
11Jünglingsgrillen« stand, geht schon daraus hervor, daß er die Ode fälschlich

fUt die Einleitung zum dritten Akt des Dramas hielt und in den Ausgaben an
dieser Stelle drucken ließ. Es erhebt sich die Frage, ob Goethes Selbstdeu-
tung ebenso unzutreffend ist.
Die Antwor,t ist insofern schwierig. als das Drama ein unabgeschlossenes
Bruchstück ist. überdies dürfte Goethe recht haben. wenn er erzählt, daß er
damals ohne fertigen Plan des Ganzen einfach los gedichtet habe. Es ist also
müßig, sich eine genaue Vorstellung von dem Fortgang der Handlung
machen zu wollen. Nur eines dürfte feststehen: daß Goethe damals wirklich
(wie er es später in der Druckredaktion angibt) eine Vermittlung zwischen
Prometheus und Zeus geplant hatte - und damit eine Sanktionierung des
Vom geistigen Lauf des Menschen 85
Menschengeschlechts durch die Götter. Dafür spricht nicht nur die literari-
sche Tradition des Stoffes (die antike wie die neuere), auch die von Goethe
ausgeführten Szenen lassen das erwarten, die überlegene Sicherheit, mit der
Zeus die Schöpfung der Menschen hinnimmt (224f):
Das Wurm geschlecht vermehrt
Die Anzahl meiner Knechte,
und sich geduldet, die Anerkennung seiner Herrschaft später herbeigeführt
zu sehen. Hier wird der Rahmen der dramatischen Handlung deutlich genug
abgesteckt. Mit der Anerkennung der Götterherrschaft seitens der Men-
schen und des Prometheus wird die Handlung schließen, und nicht ohne
Bedeutung für die dann statthabende Weltverfassung dürfte das Angebot
sein, mit dem Zeus am Anfang des Dramas an Prometheus herantritt,
Prometheus solle auf dem Olympos wohnen und "der Erde herrschen«.
Denn diese Weltverfassung ist ja eben die von Goethe erkannte: Selbsthilfe
durch Arbeit und Tätigkeit ist es, die das menschliche Los auf Erden be-
stimmt. Diese prometheische Wahrheit wird am Ende gelten, auch wenn die
Oberherrschaft der Götter bei den Menschen zur Anerkennung gelangt sein
wird. Selbständigkeit, aber eine begrenzte, abhängige Selbständigkeit ist des
Menschen Teil. Das ist der Rahmen, der um das Ganze sichtbar gespannt ist.
Aber wie sollte er ausgefullt werden? Welche Erfahrung des Lebens wird die
Menschen zur Anerkennung der Gottesherrschaft bringen? Wann werden
sie der Götter bedürfen?
Wenn man sich des antiken Mythos erinnert und insbesondere an das, was
Plato im ,Protagoras( vortragen läßt, so wäre es die gesellschaftliche Exi-
stenz des Menschen, seine Fähigkeit zum staatlichen Leben, die ihm allein
durch Zeus und seine Austeilung von Recht (Ö(,<'T\) und Ehrfurcht (CLLÖWt;)
zuteil wird. [n der Tat ist Zeus bei den Griechen, auch bei Aischylos, der
Genius des Gesetzes, und Goethe war diese Vorstellung, daß erst das Gesetz
den Menschen zum Menschen macht. gewiß nicht fremd. (Tagebuchnotiz
von 1797: »Das Gesetz macht den Menschen, nicht der Mensch das Gesetz«.)
Allein. wenn wir das AusgefUhrte danach befragen, ob Zeus wohl als
Friedensstifter der sich zerfleischenden Menschheit die Versöhnung bringen
sollte. so findet sich dafür keinerlei Stütze. [m Gegenteil. Goethe schildert
die Erfahrungen, die Prometheus mit seinen Geschöpfen macht, durchaus
nicht so, als wären Zwietracht und Selbstzerstörung die ihnen drohende
Gefahr. Der Naturzustand der Menschheit ist vielmehr mit freundlichen
Farben gemalt. Der Einfluß Rousseaus und von Wielands ,Beiträgen zur
geheimen Geschichte der Menschlichen Vernunft( (1770) sind darin spürbar.
Der Begriff des Eigentums wird als ein Naturrecht aus dem tätigen Erwerb
hergeleitet und seine Verletzung als etwas nicht minder Natürliches, das
durch die im menschlichen Zusammenleben wirksame Vernunft niederge-
86 Vom geistigen Lauf des Menschen

halten wird. Als dem einen seine Ziege geraubt wird, tröstet ihn Prome-
theus:
Laß ihn!
Ist seine Hand wider jedermann,
Wird jedermanns Hand sein wider ihn. (308ff.)

Und im ganzen stellt er fest:


Thr seid nicht ausgeartet, meine Kinder,
Seid arbeitsam und faul,
Und grausam mild,
Freigebig geizig,
Gleichet a11 euren Schicksalsbrudern,
Gleichet den Tieren und den Göttern. (311 ff.)

Etwas anderes also muß es sein, das nach Goethes Absicht - und daß er auch
ohne einen genauen Plan von der Vorstellung von einem Ganzen geleitet
war, darf man voraussetzen - die Menschen und Prometheus zur Anerken-
nung der Götter fUhren sollte. Ein Eingreifen des Zeus, etwa durch die Gabe
der Pandora, wie bei Wieland in seinem )Traumgespräch mit Prometheus(
oder in seiner >Pandora(, würde schlecht zu Zeus' sicher abwartenden Wor-
ten am Anfang des zweiten Aktes passen, ganz davon abgesehen, daß
Pandora nach Goethe j a ein Geschöpf des Prometheus ist.
So bleibt die Frage, ob es eine andere, im Wesen dieser menschlichen
Geschöpfe und ihres Schöpfers gelegene Schranke ist, die sie zur Anerken-
nung der Götter bekehren sollte. Einen ersten Hinweis mag man in Zeus'
Worten erkennen:
In neugeborner Jugendwonne
Wähnt ihre Seele sich göttergleich. (236f.)

Daß sie keine Götter sind, muß ihnen also am Mysterium des Todes aufge-
hen. Auch mag beachtet werden, daß es in dem Gespräch zwischen Zeus und
Merkur heißt: »Sie werden dich nicht hören, bis sie dein bedürfen.« Also
nicht des Zeus, sondern des Merkur, des Sendboten und Dolmetschen,
werden sie eines Tages bedürfen. In der Tat sind es nach Goethe (v. 201)
nicht die Götter, die den Tod (und das Leben) zuteilen, sondern das Schick-
sal. Das aber ist es: die neugeschaffenen Menschen wissen nicht vom Tode.
Pandora fragt, als Prometheus das Wort Tod ausspricht, »Was ist das?« -
und ob Prometheus wahrhaft weiß, was für die Menschen der Tod ist? Es
könnte sein, daß sie eines höheren, göttlichen Zuspruchs, den Merkur
bringt, bedürfen, um sich mit ihrer Sterblichkeit zu versöhnen.
Doch sehen wir selbst zu, ob nicht schon in dieser Jugenddichtung eine
Grenze sichtbar wird, die der prornetheischen Welt und damit auch seinen
Geschöpfen, den Menschen, gesetzt ist. Man hat schon öfters bemerkt (z. B.
Vom geistigen Lmf des Menschen 87

O. Pniower im Nachwort der Jubiläumsausgabe), daß Epimetheus diese


Grenze bezeichnet, wenn er dem Prometheus entgegenhält:
Du stehst allein!
Dein Eigensinn verkennt die Wonne,
Wenn die Götter, du,
Die Deinigen und Welt und Himmel, all
Sich a11 ein innig Ganzes fühlten. (82ff.)

In der Tat schilden der erste Akt - in formaler Anlehnung an den Prome-
theus des Aischylos - den "Eigensinn« des Titanen, das ihm aus seinem
Schöpfertum erwachsende Selbstgefühl, das Bewußtsein einer völligen
Selbständigkeit gegenüber den Göttern:
Vermögt ihr zu scheiden
Mich von mir selbst? (41 f.)

Es ist ein unbedingter Selbstbesitz, auf den er pocht:


Das, was ich habe, können sie nicht rauben. (72) I

Denn es ist ganz seine eigene Welt, ein »All«, der »Kreis, den meine Wirk-
samkeit erfüllt«, in bewußter Absonderung von den Göttern. Es ist offen-
kundig, wie richtig sich Goethe in IDichtung und Wahrheit( selbst deutet,
wenn er das Selbstgefühl seines poetischen Talents darin erkennt. Hier ist
freilich keine Grenze der prometheischen Welt sichtbar. Das Selbstgefühl
dieser eigenen produktiven Kraft und Souveränität ist so beherrschend, daß
selbst der Einwand, daß die Schöpfungen, mit denen er seine Welt füllt, von
Leblosigkeit gebunden seien, nicht trägt. Das Geruhl ihres Schöpfers ist so
sehr die einzige und ganze Welt, daß sie in ihm ihre Freiheit haben. So
werden sie denn auch von ihm selbst zum vollen Leben erweckt, indem die
Welt des Geistigen, von Minerva repräsentiert, hier anders als in früheren
Formungen des Stoffes keine fremde Macht ist:
Und du bist meinem Geist,
Was er sich selbst ist. (100f.)

Es ist also keine Grenze seines Schöpfertums, die ihn begrenzt, kein Wider-
spruch zwischen Innenwelt und Welt.
Dagegen ist die Schlußszene zwischen Prometheus und Pandora, seiner
Tochter, die an einer Gespielin zum Zeugen der unheimlichen Macht des
Eros wird und sich von ihrem Vater dies ungekannte Geheimnis erklären
läßt, von einer dichterischen Intensität, die es verbietet, in dieser Szene nur
wie in den zwei vorhergehenden ein weiteres Beispiel von Prometheus '
Erziehertum zu erblicken. Und wenn das Prometheusfragment auch mehr
als manche andere unvollendete Dichtung Goethes ein echtes Bruchstück
ohne volle Rundung ist, so ist es doch ein wirklicher Höhepunkt, an dem die
88 Vom geistigen Lauf des Menschen

Dichtung abbricht. Wir werden annehmen dürfen, daß hier, wenn irgend-
wo, der lebendige Nerv des Dramas berührt wird. Wie Prometheus hier das
Mysterium der Liebe und des Todes miteinander verschlingt, kann nicht
ohne entscheidende Bedeutung fiir das Ganze sein. Die Erfahrung des Todes
ist die eigentliche Grenze der menschlichen Selbständigkeit und damit, wir
vennuteten es schon, die Grenze der prometheischen Welt. Wie sie hier
anklingt, kaum als sie selbst, verwoben in die Erfahrung der äußersten
Liebesleidenschaft, ist dennoch bedeutsam und nicht einfach eine pädago-
gische Verhüllungjener dem Mädchen unheimlichen Macht, eines Unheim-
lichen durch ein anderes. Was sie verschmilzt, ist die Erfahrung der Grenze.
In ungeheuren Versen beschreibt sie Prometheus: .

Wenn aus dem innerst tiefsten Grunde


Du ganz erschauert alles fiihlst,
Was Freud und Schmerzen jemals dir ergossen,
Im Stmm dein Herz erschwillt,
In Tränen sich erleichtern will
Und seine Glut vermehrt,
Und alles klingt an dir und bebt und zittert,
Und all die Sinne dir vergehn
Und du dir zu vergehen scheinst
Und sinkst,
Und alles um dich her versinkt in Nacht,
Und du, in inner eigenem Gefiihle,
Umfassest eine Welt:
Dann stirbt der Mensch. (395 Er.)

Die Liebe ist hier als ganze Selbstaufgabe des Menschen und zugleich als die
äußerste Steigerung seines Selbstgefiihls beschrieben. In 11 inner eigenem
GefUhle« umfaßt er eine Welt. So wie Prometheus sich zur Welt erweitert,
die er mit seinen Geschöpfen bevölkert, so ist auch die Liebeserfiillung "im
stürmenden Genuß« ein höchster Augenblick des Selbstbesitzes. Man wird
sich fragen dürfen, ob so, wie hier die Todeserfahrung mit der Liebeserfah-
rung verschmolzen ist, beide Erfahrungen am Ende in einer charakteristi-
schen Begrenzung erscheinen. Als »inner eigenes« Gefiihl. wiederkehrend
im natürlichen Rhythmus von Schlaf und Selbstverjüngung. wie sie hier
begegnen, fehlt ihnen beiden ein Wesentliches. Dem Tod das Unwiderrufli-
che und damit das dunkle Geheimnis des Danach. der Liebe das Du, der
Tausch mit ihm. die Geburt des Wir. Sollte das Drama an diesen Grenzsitua-
tionen des menschlichen Selbstbesitzes die Schranken der prometheischen
Welt bezeichnen und die Überwindung seines »Eigensinns«. die Einord-
nung dieser Welt in eine größere, von götdichen Ordnungsgedanken be-
herrschte vollziehen?
Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, daß Goethes ,Fixierung< an die
Vom geistigen Lauf des Menschen 89

mythische Gestalt des Prometheus, von der auch der Plan einer Befreiung
des Prometheus vom Jahre 1795 zeugt, später tatsächlich in dieser Richtung
zu weiterer Entwicklung geführt hat. ImJahre 1807 entwarf er ein Drama,
)Pandorens Wiederkunft< sollte es heißen, von dem dann zwei Akte ausge-
führt wurden und unter dem Titel IPandora( an bevorzugter Stelle den
Abschluß der Gesammelten Werke bilden. Goethe selbst hat diese Dichtung
»absichtlich« genannt und ihre Bedeutungsschwere durch das Wort »inein-
andergekeilt« bezeichnet. In der Tat gibt das AusgefUhrte zusammen mit
dem Schema der Fortsetzung vollkommenen Aufschluß über die »Idee« der
Dichtung, der hier, ganz anders als in dem Jugenddrama, ein fester Plan
zugrunde lag.
Epimetheus ist ein alter Mann geworden. Pandora, die einst die Seine war,
hat ihm, als sie ihn verließ, eine Tochter zurückgelassen, Epimeleia. Er
selbst kann die entschwundene Pandora nicht vergessen. Seine Tochter
Epimeleia ist die Geliebte des Sohnes des Prometheus, Phileros, der sie
eifersüchtig verfolgt, und als er gegen die vermeintlich Treulose andringt,
von seinem Vater im letzten Augenblicke gehindert und weggewiesen wird.
Er stürzt sich ins Meer, aber auf wunderbare Weise gerettet steigt er wie der
jugendliche Gott Dionysos bejubelt ans Land. Da erscheint (abermals) ein
wunderbarer Kasten, eine K ypsele, und die Fortsetzung sollte schildern, wie
sich abermals zwischen Prometheus und Epimetheus der Streit entspinnt, ob
sie aufzunehmen oder zu zerstören sei. Erst durch Pandoras Erscheinen wird
der Streit schließlich entschieden. Die K ypsele schlägt sich auf, und in ihrem
Innern erblickt man einen Tempel, in dem Dämonen sitzen: Wissenschaft
und Kunst. Ihre feierliche Aufnahme unter den Menschen sollte den Schluß
des Dramas einleiten, an dem Epimetheus in verjüngter Gestalt mit Pandora
emporsteigt.
Die Fabel knüpft also an die ältere Tradition der bei Hesiod überlieferten
Prometheusgeschichte an und nicht, wie das ]ugetlddrama, an die spätere
von dem Menschenschöpfer. Sie dichtet, wie öfters bei Goethe, die Fabel in
die nächste Generation weiter. Die Idee ist offenkundig die, daß die höhere
Kultur auf die überwindung des Gegensatzes zwischen Prometheus und
Epimetheus gegründet sei. Kein Zweifel, der Held dieses Dramas sollte
nicht Prometheus, sondern Epimetheus sein, und es mag nicht ohne Bedeu-
tung sein, daß dem alternden Dichter nur den in die Erinnerung an die
entschwundene Pandora gewandten Epimetheus auszufuhren gegeben war
und nicht seine Verjüngung durch ihre Wiederkehr. Gleichwohl wäre es
töricht, hier biographisch deuten zu wollen. Nicht nur, daß Goethe auch
damals nach seinem eigenen Wort ebenso Prometheus wie Epimetheus war
- er war auch ehedem nicht nur Prometheus, sondern ebenso das ihn
Begrenzende gewesen. Wenn es auch eine ganz andere Fabel ist, in der
Prometheus jetzt auftritt, so bleibt die Frage doch sinnvoll, wie sich die neue
90 Vom geistigen Lauf des Menschen

Gestaltung an die ältere anschließt. Goethe sagte 1830 im Blick auf seine
jugendlichen Fragmente - und das gilt gewiß besonders für das Prometheus-
fragment und dessen Bedeutung für seine eigene Selbstklärung -, sie enthiel-
ten »das Wahre, aber unentwickelt, so daß man es als Irrtum ansprechen
könnte«. So dürfen wir die >Entwicklung( der Prometheusfigur im ausge-
fuhrten Stück des Pandora-Dramas auch rur den Sinn des Jugendentwurfs
mitgelten lassen, dessen ausgeführter Teil freilich nur verborgene Sinnbezü-
ge zu dem geplanten Ganzen erraten ließ.
Deutlich genug ist der eingetretene Wandel. Der Hintergrund neuplatoni-
scher Theologie, den Flitner4 herausgearbeitet hat, ist verschwunden. Pro-
metheus ist nicht mehr der universale Schöpfer, dessen bildnerische Selbst-
genügsamkeit eine innere Welt besitzt und bevölkert, sondern der rastlos
Tätige, der aller rüstig Arbeitenden Vorstand ist. Aber gerade als der Vertre-
ter eines von vornherein begrenzten Prinzips bleibt er im Entscheidenden
der, der er war, der Genius der Selbsthilfe, der entschlossenen Abkehr von
allem göttlichen und dämonischen Wesen. Der veränderten Fabel entspre-
chend ist er es, der sich gegen die Wiederkehr der göttlichen Gabe abermals
sperrt, so wie er ehedem Pandora von sich gewiesen hatte. Er ist der Patron
der Schmiede, die er zu morgendlichem Fleiße ruft. Sie sind sein Anhang,
die Tätigen, die er einst vor der Verführung durch Pandora bewahrt hat
(223). In dramatischen Szenen tritt sein Bereich ins vollste Licht. Dem
unbändig leidenschaftlichen Sohne tritt er als Anwalt und Wahrer des Geset-
zes entgegen, er, der Vollbewußte« (237), verbannt die Macht der leiden-
l)

schaft, das »Element« (445), aus seinem Kreise. Dem Bruder gegenüber
vertritt er ein sich überlegen dünkendes Prinzip: Glück und Schönheit
verführen ihn nicht, denn »Auf Gipfeln weilt so eines wie das andre nicht«
(680). »Dämonen, gottgesendete«, wie sie seinen Bruder in Schmerzen
stürzten (731), nimmt er nicht au( Zufall ist ihm verhaßt (828), aber ebenso
der Rausch des Festes (1043). So ist seine ehemalige wie seine jetzige Abwei-
sung der Gaben der Pandora der eigentliche Kern seines Wesens. Er will
nicht beschenkt sein:

Neues freut mich nicht, und ausgestattet


Ist genugsam das Geschlecht zur Erde, (1061 f.)

sondern in bewußter Tätigkeit selbst für sich sorgen. Goethe hat mit der
unendlichen Kunst, die er gerade auf die >Pandora( gewendet hat - es ist in
seinem Formenreichtum wie in seiner Gedankenfülle wohl das dichteste
aller seiner Werke -, verstanden, dies nüchterne Ideal poetisch so zu steigern
und zu verklären, daß seine bleibende Wahrheit und echte Größe stets
sichtbar bleibt. Aber sichtbarer noch ist die Begrenztheit dieses Wesens.
4 W. FUTNER, Goethe im Spätwerk. Hamburg 1947, S. 46f.
Vom geistigen Lauf des Menschen 91
Die ganze Handlung ist offenbar darauf angelegt, die alte Fabel der grie-
chischen Mythologie im Entscheidenden umzuwerten. Nicht die überlege-
ne Vorschau und beherrschte Vorsicht des Prometheus. wie bei Hesiod, ist
das wahre Ideal des menschlichen Lebens, - die Schmerzen, die ihm die
Leidenschaft bringt, gehören zu seinem wahren Wesen. In Epimetheus und
seinem leidvollen Geschick hat die Menschheit trotz allem den Weg zu sich
selbst begonnen.
Goethe überbietet die alte griechische Mythenweisheit, indem er die
Geschichte in die nächste Generation weiterdichtet. Der eigene Sohn des
Prometheus offenbart die Schranke der prometheischen Welt. Er erfährt die
Dämonie der Leidenschaft, Liebe und Eifersucht, mit tödlicher Gewalt und
weist dem Vater ihre überlegene Macht:
So glaubest du, Vater, nun sei es getan?
Mit starrer Gesetzlichkeit stürmst du mich an,
Und achtest für nichts die unendliche Macht,
Die mich, den C1ücksel'gen, ins Elend gebracht. (449ff.)
An ihn richtet er die Frage, auf die Prometheus keine Antwort hat:
Nun sage mir, Vater, wer gab der Gestalt
Die einzige furchtbar entschied'ne Gewalt?

So wird an dem Sohn des Vaters Grenze sichtbar. Und wenn der Jüngling,
der sich vom Vater verflucht ins Meer stürzt, wie durch ein Wunder gerettet,
ein' anderer Dionysos, unter dem Jubel der ganzen Natur ans Land zurück-
steigt. so war es nicht des Vaters tätige Energie. die ihn rettete, sondern ein
Höheres, der Götter Wille, eine unser menschliches Wollen und Wähnen
übersteigende Macht, die in ihm wie in allen Wesen siegreiche »Lust zu
leben«:
Deine Klugheit, dein Bestreben
Bringt ihn diesmal nicht zurück:
Diesmal bringt der Götter Wille,
Bringt des Lebens eignes, reines,
Unverwüstliches Bestteben
Neugeboren ihn zurück. (99Off.)
Es ist die Stunde eines neuen festlichen Einklangs aller Dinge. Der Prome-
theus des Jugenddramas hatte solche
Wonne.
Wenn die Götter. du.
r· .. J
Sich a1\ ein innig Ganzes fühlten,

über dem stolzen Selbstbesitz seiner eigenen Schöpferwelt mißachtet. Der


Prometheus der )Pandora< verschließt sich unwillig. als die alles daransetzen-
92 Vom geistigen Lauf des Menschen

de Leidenschaft, die in Phileros Gestalt gewann, die hohe Stunde herbeiführt


und was dem unaufhebbaren Gegensatz des Prometheus und Epimetheus
versagt blieb, in der Vermählung mit Epimeleia erreicht: die volle Wirklich-
keit des Humanen. Phileros selbst hatte, als er die dämonische Macht der
Schönheit erfuhr, geklagt:
Sie zog mir mein Leben ins ihre hinein:
Ich habe nichts mehr, um lebendig zu sein. (487f.)

Jetzt aber tauscht sich dieser Selbstverlust in Erfüllung:


Sie begegnen sich, und eins im andem
Fühlt sich ganz und fiihlet ganz das andre.
So, vereint in Liebe, doppelt herrlich,
Nehmen sie die Welt auf. (1055 ff.)

Über Vorsifht und Sehnsucht, Selbstbesitz und Selbstverlust der Alteren


(Prometheus zu Epimetheus: »und leider so auf ewig dir entriß sie dich«)
erhebt sich die neue Generation, in der sich der Leidenschaftliche und ,die
Sinnende( vermählen, zur höheren Gesittung. Symbol dessen ist, daß in
dieser »gottgewählten« Stunde die Wundergabe der Kypsele unter den
Menschen erscheint, deren Inneres die Geister der menschlichen Kultur,
Wissenschaft und Kunst, birgt.
Die Fortsetzung sollte den Kampf um die Aufnahme dieser göttlichen
Gabe bringen. Es ist nur wenig davon zu erraten, auf welche Weise der
Widerstand des Prometheus und der Seinen überwunden werden sollte. Die
göttliche Fülle, die Pandorens Wiederkehr bringt, überzeugt durch ihre
überlegene Wirklichkeit. »Jeder eignet sich's zu.« Das ist das Wesen der
neuen geistigen Kultur, die Wissenschaft und Kunst verbreiten. Eos hatte es
schon enthüllt:
Nieder senkt sich Würdiges und Schönes,
Erst verborgen, offenbar zu werden,
Offenbar um wieder sich zu bergen. (1050ff.)

Wissenschaft und Kunst sind es, deren Erwerb und Offenbarung die Men-
schen aus dem Rohen ihrer titanischen Vorzeit erheben. Aber nicht dadurch,
daß sie ein Geheimnis offenbar machen - sie selbst sind das Geheime, worin
sich alle Wahrheit birgt.
Sollte auch Prometheus die überlegene Wirklichkeit anerkennen lernen?
Mußte sie nicht geradezu weit über sein Begreifen die Erfüllung dessen sein,
was er dem Menschengeschlechte gewünscht hatte:
Möchten sie Vergangenes mehr beherz'gen,
Gegenwllrt'ges, formend, mehr sich eignen,
WIlr' es gut fiir alle; solches wünscht' ich. (1074ff.)
Vom geistigen Lauf des Menschen 93

Solchen »höh'ren Nutzen« bringen Wissenschaft und Kunst dem menschli-


chen Geschlechte, freilich nicht durch die Unrast des prometheischen Flei-
ßes, sondern in der Erhebung zu Feier und Fest. »Vergangenes in ein Bild
verwandeln. Poetische Reue, Gerechtigkeit« heißen die Stichworte, die sich
Goethe rur die Auslegung der Kypsele notiert hat. Sollte der Dichter nicht in
dieser Auslegung des Dichtertums Prometheus und Epimetheus in sich und
für alle Menschen versöhnt gefunden haben? Die schönen Schlußverse des
ausgeführten Teiles, die das unvollendete Festspiel der menschlichen Kultur
krönen. enthalten die Antwort des Ganzen:
Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es;
Was zu geben sei. die wissen's droben.
Groß beginnet ihr Titanen; aber leiten
Zu dem ewig Guten, ewig Schönen,
Ist der Götter Werk; die laßt gewähren. (1082ff.)

Die Bildung zum Menschen

Der Zauberflöte anderer Teil


Mozarts Zauberflöte hat auf Goethe einen so tiefen und nachhaltigen Ein-
druck gemacht, als er sie im Jahre 1795 kennenlernte, daß er eine Fortsetzung
derselben entwarf, ein Textbuch, für das Goethe freilich vergeblich einen
Komponisten suchte und das deshalb unvollendet blieb. aber in seiner
fragmentarischen Gestalt. eine geschlossene, bis auf wenige Szenen ausge-
fiihrte Handlung umfassend, erstmalig 1802 erschien und dann endgültig
1807/08 in seine Gesammelten Werke aufgenommen wurde. Es gehört die
kleine Dichtung also in die Reihe der Versuche, die Goethe während seiner
Weimarer Theatertätigkeit zur Hebung des deutschen Theaters unternom-
men hat. Offenkundig lehnte sich Goethe mit vollem Bewußtsein an das
Szenarium, die Charaktere und die wirksamen Motive der Mozartschen
Oper an. aus cheatertedmischen Gründen, indem er den Bühnen eine erneu-
te Benützung der rur die Mozartsche Oper geschaffenen Requisiten und die
Wiederverwendung der gleichen Sänger ermöglichen und auf der anderen
Seite das durch den großen Erfolg der Mozartschen Oper enthusiasmierte
Publikum durch eine erneute Begegnung mit der Motivwelt der Mozart-
sehen Oper erfreuen wollte - ein Versuch, wie er in der Welt des Theaters
ebenso häufig wie in seinem künstlerischen Erfolge fragwürdig zu sein
pflegt. Auch Goethes Versuch ist gescheitert - es fand sich kein Komponist,
der den Wettbewerb mit dem überragenden und ausschließenden Genius
Mozarts gewagt hätte, und so blieb Goethes Dichtung ein Fragment - eines
der Dokumente, die den Zusammenbruch von Goethes Hoffnungen auf das
94 Vom geistigen Lauf des Menschen

deutsche Theater und seine in der späteren Zeit seines Lebens, nach Schillers
Tode, erfolgende Abwendung vom Theater bezeugen.
Gleichwohl hat Goethe seine Dichtung für würdig befunden, einen Platz
in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke einzunehmen, und in der Tat
kann man angesichts der Anmut und des Tiefsinns des Goetheschen Frag-
mentes nicht anders urteilen, als daß es eine des großen Dichters würdige
produktive Antwort auf das Erlebnis der Mozartschen Oper ist. Diese
Dichtung ist so dichterisch, sie erfüllt den ganzen Sinnraum, den sie ent-
wirft, so völlig mit der sinnlichen Dichtigkeit ihrer sprachlichen Gestaltung.
daß sie von sich aus der musikalischen Weitergestaltung gar keinen Raum
gibt. Goethes ständiger Blick auf den Komponisten, die genialen szenischen
und musikalischen Winke, die er einstreut, können nichts daran ändern, daß
die geschlossene Sinnwelt seiner dichterischen Gestaltung sich ihrer musika-
lischen Umschmelzung widersetzt. Um so mehr aber ist der dichterische
Sinn des Fragmentes und seines Bezugs auf die Mozartsche Oper einer -
bisher noch nicht versuchten - Deutung bedürftigS.
Mozarts herrlicher Oper liegt ein Textbuch zugrunde, das von einem
mittelmäßigen Theaterdichter namens Schikaneder stammt. Dieses Text-
buch ist in neuerer Zeit vielfach der schärfsten Kritik begegnet, und wenn es
nicht durch den Genius der Mozartschen Musik verklärt wäre, würde es
niemandes Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Denn in der Tat ist es
ein ganz in der herkömmlichen Tradition der Zauberoper auf wirksame
Effekte hin zusammengestücktes, aus mancherlei Quellen gespeistes Mach-
werk, nach dessen selbständigem Sinn auch nur zu fragen abwegig scheinen
könnte. Mozart allerdings hat einen Sinn darin erkannt und den ganzen
Reichtum seiner musikalischen Erfindung darüber ausgegossen, die
menschlichen Situationen von Haß und Liebe, Angst und Mut, Trieb und
Geist, Adel und Komik zum Hohen Lied der Humanität entfaltend. Doch
das war Mozarts eigene - eine neue - Schöpfung. Allein auch Goethe
vermochte offenbar dem Textbuch einen eigenen tieferen Sinn abzugewin-
nen. Er spricht es einmal so aus, daß man darauf vertrauen könne, daß den
Eingeweihten der höhere Sinn der Dichtung aufgehen werde.
Man hat diesen Hinweis Goethes zu deuten versucht, indem man von der
S Unabhängig von meiner eigenen Studie sind ungefähr zur gleichen Zeit zwei weitere
Arbeiten der Goetheschen ,Zauberflöte. gewidmet worden: OSKAR SEJDLlN. in: Monats-
hefte 35 (1943), S. 49-61, inzwischen zugänglich in den ,Essays in German and Compara-
tive Literature. (Chapel Hili 1%1), S. 45ff., und in ,Von GoethezuThornas Mann. Zwölf
Versuche. (Göttingen 21%9), S. 38-55, sowie ARTHUR HENKEL. in: Zeitschrift für Deut-
sche Philologie 71 (1951/52), S.64-69. Die Arbeit von Seidlin ordnet Goeches Werkchen
in sein Gesamtwerk ein und verfolgt besonders die Beziehung zu ,Faust 11<. Henkels'
kleiner Beitrag (erweitert jetzt in 'Goethe-Erfahrungen: Studien und Vorträge .. Stuttgart. .
1982, S. 147-161) unterstreicht den antimagischen, sittlich-humanen Zug, den auch ich in,'
Goethes Aufnahme und Fortführung der Schikanederschen Fabel herausgehoben habe.
Vom geistigen I:.auf des Meruchen 95
Bedeutung ausging. die unzweifelhaft die Freimaurerei in Mozarts Oper
und Schikaneders Textbuch besitzt. Wenn Goethe hier von den )Eingeweih-
ten( spreche, so rede er selbst als Maurer und erkenne in der Oper eine
geheime politische Spitze, eine Kritik der dunkelmännerischen Atmosphäre
des Habsburgischen Kulturlebens jener Zeit oder auch eine Rechtfertigung
des idealen Sinnes der Freimaurerei. Ja, man ist so weit gegangen, in der
,Königin der Nacht( die Kaiserin Maria Theresia, in Tamino den jungen
König zu erkennen, auf den sich die Hoffuungen der freiheitlich gesinnten
Menschen in Österreich richteten. Nun ist es richtig: Zeiten einer despotisch
untetdrückten Redefreiheit, wie sie auch für das HabsburgjenerTage gege-
ben waren, lassen das Theater oft in der unerwartetsten Weise zum politi-
schen forum werden, wie überhaupt der Stauungsdruck, den eine strenge
Zensur erzeugt, einen eigenen Scharfsinn und eine unberechenbare Reso-
nanzfreudigkeit des Publikums herausbildet. Man wird daher nicht völlig in
Abrede stellen. daß ein Lobgesang der in politischer Verfolgung befmdli-
chen Freimaurerei politische Untertöne zum Klingen brachte und daß etwa
Sarastros Schlußworten:
Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht
Zernichten der Heuchler erschlichene Macht

eine politische Spitze beigelegt werden konnte. Aber daß Schikaneder es auf
solche Wirkungen angelegt habe, ist angesichts des gesamten Tenors seiner
Dichtung nicht glaublich. Wie hätte er sonst der finsteren Gegenwelt der
Königin der Nacht die solchen politischen Bezug verunklärende Wendung
in den Mund legen können:
Die Frömmler tilgen von der Erd'
Mit Feuersglut und mächtgem Schwert.

Die freimaurerischen Interpreten der ,Zauberflöte( legen nicht aus, sondern


ein. Der höhere Sinn der Erscheinungen, den Goethe in der ,Zauberflöte(
erkannt hat, ist gewiß nicht in diesem engen Sinne eines politischen Pam-
phlets oder einer politischen Apologie der Freimaurerei zu deuten.
Vielmehr ist es ein allgemeineres Motiv, wie es auch den Ideen der
Freimaurerei zugrunde liegt, das das eigentliche Thema des Textbuches
bildet: die rechte Aufklärung, d. h. die siegreiche Erhebung des Lichtes über
die Nacht. Daß Goethe darüber hinaus die theatergerechte Ausführung des
Schikanederschen Librettos geschätzt hat, den Reichtum an dramatischen
Effekten, an Kontrastsituationen, an sinnenfreudiger Ausschmückung der
Handlung. wird nicht nur durch seine ausdrückliche Anerkennung dersel-
ben erwiesen, sondern mehr noch durch die Art. wie er in seiner eigenen
Fortsetzung der ,Zauberflöte< den dramatischen Grundriß derselben über-
nimmt und weiterbildet. Daß seine eigene Dichtung gleichwohl mehr ist als
96 Vom geistigen Lauf des Menschen

eine äußerliche Dublette oder Variation der originalen IZauberflöte(, daß sie
ein echtes Werk seiner eigenen dichterischen Welt ist, bedeutsam in sich und
bedeutsam rur das Ganze seines dichterischen Werkes, insbesondere der
späteren Vollendung der Faustdichtung, ist längst bemerkt worden6 . Wel-
che Beziehung aber zwischen der Goetheschen Fortsetzung und jenem »hö-
heren Sinn der Erscheinungen«, den Goethe in Schikaneders Textbuch
gewahrte, besteht, bedarf der Untersuchung'.
Was ist die besondere Gestaltung, die der Kampf von Bösem und Gutem,
Nacht und Licht, in Schikaneders Dichtung erfahren hat? Ist es wirklich
erlaubt, von einem einheitlichen Gesamtsinn dieses in äußeren Effekten
schwelgenden Librettos zu sprechen? Die Handlung der Oper darf wohl als
bekannt vorausgesetzt werden: jener märchenhafte Anfang, an dem der
flüchtendeJÜDgling Tamino durch die Befreiung von der ihn verfolgenden
Schlange in den Kreis der Königin der Nacht gezogen wird, das Bild ihrer
wunderbar schönen Tochter zu sehen bekommt und nun von der Königin
der Nacht als Befreier ihrer Tochter zu Sarastro, dem Räuber derselben,
entsandt wird, und wie dann in unerwarteter und verwirrender Weise das
Bild sich völlig ändert. Als Tamino in das Reich des bösen Räubers Sarastro
eindringt, sind plötzlich alle Werte umgekehrt. Sarascco ist nicht ein boshaf-
ter und gewalttätiger Räuber, sondern ein edler Mann, der in einer tiefe
Vorsehung spiegelnden Weisheit die Tochter der Mutter geraubt hat und der
nun den jungen Königssohn Tamino in seine Weisheit, wie sie in einem
priesterlichen Bunde gepflegt wird, durch eine Reihe von Unterweisungen
und Prüfungen einführt. Die märchenhafte Handlung der Oper läßt das
Liebespaar - auf komische Weise kontrastiert durch die Figuren Papagenos
und Papagenas - durch allerlei Prüfungen hindurchgehen und ruhrt nach
dem Bestehen derselben die gewaltsam Getrennten einer glücklichen Ver-
einigung zu.
Die textkritische und genetische Analyse hat uns seit langem gelehrt, wie
der seltsame Umbruch der Werte zwischen dem Anfang und Fortgang der
Handlung zustande kam: daß hier aus ganz äußerlichen Theatergründen der
Textdichter Schikaneder den ursprünglichen Entwurf, in dem er einer ande-
ren Quelle gefolgt war, vom zweiten Akt an gänzlich umwandelt und
plötzlich in der feindlichen Gegenmacht Sarastros die tiefe Bedeutung eines
6 Vgl. MAX MORRIS, Goethe-Studien 21. Berlin 1902, S. 310ff.
7 Das Textbuch Schikaneders ist inzwischen auch seitens der Mozart-Forschung in
einem positiveren Lichte gesehen worden. Die Theorie, daß Schikaneder während der
Arbeit an dem Libretto aus reiner Dubletten-Scheu seinen Plan geändert hätte und daß
darauf der Bruch in den Charakteren der Königin.der Nacht und Sarastros zurückgeht, ist
jetzt preisgegeben. Vgl. E. v. KOMORZYNSKI, Die Zauberflöte. Entstehung und Bedeu-
tung des Kunstwerkes (in: Neues Mozart-Jahrbuch I, 1941, S. 147ff.) und Fa. SCHNAPP,
Die Fabel von der Zauberflöte (Musica I, 1947, S. 171 Er.); so kommen die Resultate der
neueren Quellenkritik der obigen Deutung entgegen.
Vom geistigen lauf des Menschen 97

symbolischen Bundes erkennt, so daß das anfängliche Gefüge der Handlung


und der Charaktere vollkommen ins Wanken kommt: aus der beraubten,
Gerechtigkeit heischenden Mutter wird das Prinzip der nächtlichen Gegen-
macht, die den Kreis des Sarastro, den Vertreter des guten Prinzips und des
Lichtes, mit erbitterter Wut verfolgt.
Wir wissen, daß diese Wandlung auf äußerliche Weise in das Textbuch
eingedrungen ist, durch Hereinziehung eines alten, längst verschollenen
Romans ,Sethos( des Abbe Terrasson. Neue Forschung hat uns gelehrt, daß
vor allem aus diesem von hellenistischen Quellen gespeisten Roman das
ägyptische Kolorit der Oper und das religionsgeschichdiche Ritual der
Einweihung in die Mysterien von Isis und Osiris stammt8 • Im Lichte dieser
religionsgeschichtlichen Hintergrunde der Oper stellt sich nun die Frage, ob
wirklich der >Bruch( in der Handlung der )Zauberflöte( ein äußerlicher, eine
bloße Nahtspur der Verarbeitung verschiedener Vorlagen ist. Denn daß die
Einweihung in einen Geheimkult die Form haben kann, daß das Fremde und
Böse sich dem Eingeweihten mit plötzlicher Deutlichkeit als das Prinzip
einer neuen und höheren Wahrheit enthüllt, ist seit alters in der Topik der
)Bekehrung( (schon im Dionysoskult) gegeben. Nun wird man gewiß Schi-
kaneder nicht mit der bewußten Einsicht in dieses religiöse Motiv belasten
dürfen. Aber es scheint mir überhaupt nicht richtig, eine künstlerische
Schöpfung, die als Einheit zur wirksamen Erfahrung kommt - und das
geschieht hier durch die Formkraft der Mozartschen Musik, die über jedes
mögliche Räsonnement hinaushebt -, auf die bewußte Absicht des Schöp-
fers derselben zu beziehen. Daß der verständnisvolle Hörer der IZauberflötec
den Umbruch, den der zweite Akt bringt, nicht als albern und sinnlos
empfmdet, sondern wirklich annimmt, das allein berechtigt den Ausleger,
nach dem Sinne dieses ,Umbruchs( zu fragen, statt sich von der philologi-
schen Analyse einen reinen Unsinn vordemonstrieren zu lassen.
Obendrein könnte man fragen, ob dieser Umbruch nicht genauso zu
verstehen ist, wie in jedem Märchen Verwandlung geschieht. Verwandlung
ist zwar Zauberei und überraschende Veränderung der Dinge. Aber in ihr ist
dennoch keine reine Beliebigkeit. Sie zeigt Verwandtschaft des Gegensätzli-
chen an. So mag es richtig sein, daß der verwandelte Räuber, der zum
rettenden Weisen wird, hier so etwas wie eine Bekehrung voraussetzt. Aber

8 Vgl. SIEGFRIED MORENZ, Die .Zauberflötec im Lichte der Altertumswissenschaft (in:


Forschungen und Fortschritte 21-23, 1947, S. 232-34). Die religionsgeschichtliche Ana-
lyse, die Siegfried Morenz in dem Aufsatt angekündigt hat, ist mittlerweile als Heft V der
Münsterschcn Forschungen erschienen (Die Zauberflöte. Eine Studie zum Lebenszusam-
menhang von Ägypten ~ Antike - Abendland. Münster/Köln 1952), eine gelehrte und
instruktive Einordnung der Freimaurerei der ,Zauberflötec in die seit dem Hellenismus im
Schwange befmdliche Agyptomanie. Das wertvolle Material zur Einze1erklärung betrifft
vor allem die Einweihung. Auf Goethes Fortsetzung wird kein Bezug genommen.
98 Vom geistigen Lauf des Menschen

ist nicht vielleicht umgekehrt alle Bekehrung eine solche Verwandlung, die
eine geheimnisvolle Identität verbirgt?
Nun ist gewiß das religions geschichtliche Moment in der ,Zauberflöte<
nicht in seiner religiösen Bedeutung wahrhaft lebendig. Aber es fragt sich,
ob nicht dennoch der Bruch im Textbuch Schikaneders einen tiefen Sinn hat
entstehen lassen, der vom Hörer der Oper - wie wenig explizit immer -
angenommen wird, und welches dieser Sinn ist. Ist es wirklich etwas nur
Äußerliches und im Grunde Sinnloses, daß sich das Verhältnis zwischen den
Personen dieser Operndichtung so grundlegend wandelt, daß sich scheinbar
auch die Charaktere in ihr Gegenteil verkehren? Mutter und Tochter werden
durch den gewaltsamen Vorgang eines Raubes voneinander getrennt - und
nun gewinnt der Räuber und die Welt dieses Räubers in der Dichtung eine
ständig steigende Bedeutung. Der Räuber Sarastro wird zum Beschützer,
zum Vollzieher einer positiven, geistigen, einer lichten Notwendigkeit.
Liegt in diesem Umbruch, so wie ihn die Dichtung gibt, kein eigener und
wesentlicher Sinn? Offenbar wird von jetzt an der Gegensatz der beiden
Welten ins Licht einer gültigen Bedeutung gerückt. Es ist der Gegensatz
zwischen der weiblichen Elementarwelt und der zur männlichen Welt gehö-
renden Geistverfassung des Lebens. Ist solcher Wechsel der Wertung wirk-
lich ein willkürlicher? Spiegelt er nicht ein Wesentliches? Jede Form der
Ablösung der Tochter von der Mutter, jede Auflösung der naturhaft-ele-
mentaren Bindung der Tochter an die Mutter hat doch, wie das Leben lehrt,
eine ihr eigentümliche Härte und Gewaltsamkeit. Sie ist ein Raub. Und
dennoch gehört zur eigentlichen Bestimmung der Frau und zur Struktur der
männlich bestimmten Gesellschaft das Ertragen dieser Härte der Lösung
und Trennung. Das erst begründet das Fundament der neuen Lebenseinheit
der Liebenden, der Ehe und der Familie: die Einführung in die durch die
männliche Welt gefügte Ordnung der Gesellschaft. Ist es nicht vielleicht
dies, was der Hörer der Oper als das eigentliche und beherrschende Motiv in
der Wandlung der Akzente des Textbuches versteht und wodurch sich der
Sinn des Ganzen auf eine vollkommen einheitliche Weise artikuliert?
Wenn wir versuchen, das Schikanedersehe Textbuch auf diese Beobach-
tung hin zu prüfen, so zeigt sich als ein ständiges Motiv der Dichtung die
Einschätzung der Frau auf der einen Seite und die Hervorhebung der männ-
lichen Gegentugenden auf der anderen Seite. Man vergleiche etwa die be-
sonderen Forderungen. die an Tamino gestellt werden, als er in den Bund
der Männer um Sarastro eingeführt und der Prüfung unterworfen wird. Die
drei Knaben reden ihn an:
Zum Ziele fUhrt dich diese Bahn.
Doch mußt du, Jüngling, männlich siegen.
Drum höre unsere Lehre an:
Sei standhaft. duldsam und verschwiegen.
Vom geistigen Lauf des Menschen 99
Demgegenüber fmden wir eine ganze Reihe von Außerungen, in denen
gerade von den Weibern gesagt wird, daß sie schwatzhaft und lügnerisch
seien. Man vergleiche da die Stelle. in der Tamino während seiner Prüfung zu
sich sagt:
Ein Meister prüft und achtet nicht.
Was der gemeine Pöbel spricht,
und als die drei Damen ihm zusetzen, antwortet er:
Geschwätz. von Weibern nachgesagt,
Von Heuchlern aber ausgedacht-,

und weiter, als sich Papageno auf die Königin der Nacht beruft:
Sie ist ein Weib, hat Weibersinn.
Sei still, mein Wort sei dir genug!

Noch deutlicher wird der grundsätzliche Gegensatz zwischen der weibli-


chen und männlichen Welt in der eigentlich grundlegenden Szene ausgespro-
chen, in der die Königin der Nacht ihrer Tochter gegenüber von dem
Vermächtnis ihres Gatten und der dadurch entstandenen Entzweiung spricht.
Dort heißt es:
.Dein Vater übergab freiwillig den siebenfachen Sonnenkreis den
Eingeweihten. Diesen mächtigen Sonnenkreis trägt Sarastro auf
seiner Brust. Als ich ihn darüber beredete, so sprach er mit gefalteter
Stirne: •Weib, meine letzte Stunde ist da - alle Schätze, so ich allein
besaß, sind dein und deiner Tochter.' - Der alles verzehrende Son-
nenkreis - fiel ich hastig ihm in die Rede - .ist den Geweihten
bestimmt', antwortete er, ,Sarastro wird ihn so männlich verwalten
wie ich bisher. Und nun kein Wort weiter. Forsche nicht nach Wesen.
die dem weiblichen Geist unbegreiflich sind. Deine Pflicht ist, dich
und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen.,u

- Und an einer anderen Stelle, als Pamina zu ihrer Mutter zurückzukehren die
Kindespflicht fühlt, entgegnet ihr Sarastro:
Du würdest um dein Glück gebracht,
Wenn ich dich ihren Händen ließe.

und nennt die Mutter »ein stolzes Weib«:


Ein Mann muß eure Herzen leiten,
Denn ohne ihn pflegt jedes Weib
Aus seinem Wirkungskreis zu schreiten.

Es ist also ein im Wesen der menschlichen Dinge gelegener Gegensatz, der
sich in kosmische Symbole kleidet, der Gegensatz zwischen der geistigen
Ordnung der Männer und ihrer Gefährdung durch das elementare Prinzip des
100 Vom geistigen Lauf des Menschen

Weiblichen, den Sarastro mit überlegenem Wissen ausspricht. »Das Weib


dünkt sich groß zu sein, hofft durch Blendwerk und Aberglauben das Volk
zu berücken und unsern festen Tempelbau zu zerstören. Allein das soll sie
nicht.« Das Weib gilt ihm als der Feind der männlichen Gemeinschaft,
sofern sie sich dem Manne nicht in Liebe unterwirft.
Bewahret euch vor Weibertücken:
Dies ist des Bundes erste Pflicht!

Taminos Gewinnung für den Kreis der Eingeweihten bedeutet den Sieg
des männlich geistigen Prinzips in ihm. »Dieser Jüngling will seinen nächtli-
chen Schleier von sich reißen und ins Heiligtum des größten Lichtes blik-
ken. CI Und famina besteht auf ihre Weise die gleiche Prüfung und erfährt
mit ihm die Einweihung, weil sie der Liebe sich selbst zu opfern bereit ist (im
verzweifelten Liebesselbstmord):
Zwei Herzen, die von Liebe brennen,
Kann Menschenohnmacht niemals trennen,
Verloren ist der Feinde Müh',
Die Götter selbst beschützen sie.

Es ist also der Gegensatz zweier Welten, durch den die Handlung be-
stimmt ist - die weibliche und die männliche, das Elementarische und das
Geistige, das Naturhafte und das Staatsbildende - der sich in die kosmischen
Symbole einer alten astroreligiösen Vorstellungswelt kleidet: das nächtliche
Mondsymbol (die Königin der Nacht ist mit der Sichel auf dem Haupt
dargestellt) und die Sonne (Sarastro als Repräsentant der Lichtwelt des Tages
trägt den Sonnenkreis auf seiner Brust).
Die Forderungen, die an Tamino bei der Einruhrung in den Kreis der
Eingeweihten gestellt werden, sind insbesondere Verschwiegenheitstorde-
rungen. Man erinnere sich der entzückenden Szenen der Oper, in denen
Tamino im komischen Kontrast zu dem schwatzhaften Papageno die
Schweigepflicht, die ihm auferlegt ist, standhaft wahrt und dies bis zujener
grausamen Härte der Szene durchhält, in der die liebende Pamina ihn an-
fleht, ihr ein Wort der Liebe und Neigung zu sagen, und wie er gleichwohl
auf seiner Härte beharrt und damit dem Gebot des Bundes genügt. Hier ist
etwas von dem Wesen der männlichen Welt getroffen, etwas von jener
Forderung, die die Welt des Männlichen und damit, wie sich versteht, die
durch die männliche Welt bestimmte Ordnung von Staat und Gesellschaft
entscheidend trägt. Verschlossenheit und Schweigsamkeit sind hier nicht
religiöse Pflichten eines in einen Geheimkult Aufzunehmenden, sondern
werden unmittelbar zum Symbol rur die Zugehörigkeit zu einer überper-
sönlichen verpflichtenden Ordnung, vor der das elementarische Prinzip des
Daseins, das auch über den Mann Gewalt hat, zurücktritt.
Vom geistigen Lauf des Men~chen 101

Das sind keine künstlichen Deutungen, sondern hier spricht sich, wenn
auch in einer künstlichen und sekundär tradierten Form, eine Weisheit aus,
die weit in die Urzeit des Menschengeschlechtes und in die Anfänge ihrer
religiösen Schöpfungen zurückreicht und den geheimnisvollen Zauber einer
mutterrechtlichen Gesellschaftsordnung am Rande unserer geschichtlichen
Überlieferung aufleuchten läßt. Es ist ein Spätling der deutschen Romantik,
Bachofen, gewesen, der das Problem des Mutterrechts in einer die gesamte
Vorwelt der Antike beherrschenden Bedeutung entwickelt hat - vielleicht in
einer gewaltigen übertreibung der Universalität dieses frühen Prinzips.
Aber unleugbar ist, daß zur Genüge überzeugende Zeugnisse dafür spre-
chen, daß es eine solche mutterrechtliche Ordnung überhaupt gegeben hat,
eine Ordnung, in der die Thronfolge und grundsätzlich die eigentliche
Rechtsperson der Familie im Gegensatz zu der uns gewohnten vaterrechtli-
chen Ordnung durch die Frau repräsentiert war. Es sind in vereinzelten
mythologischen Nachklängen, die Bachofen gesammelt hat, Züge eines
prähistorischen Hetärismus nachweisbar, der diese frühe Rechtsordnung
geschaffen hat. Es ist auch kein Zweifel, daß es zu der Begründung unserer
geschichtlich überlieferten Kulturwelt gehört, daß solche mutterrechtlichen
Ordnungen durch das Patriarchat überall, wo sie bestanden haben, ver-
drängt worden sind.
Es soll nun nicht behauptet werden, daß die Dichtung der ,Zauberflöte< zu
den Zeugnissen einer solchen prähistorischen Matriarchatsordnung Bezug
hat, wohl aber, daß in ihr - vielleicht auf dem Traditionswege der hellenisti-
schen Religionsgeschichte, die in Schikaneders Quelle eingegangen war -
die ganze Schärfe des vaterrechtlichen Gedankens und damit auch dessen
Gegenwelt lebendig ist und in die aufgeklärte Geistreligion des freimaureri-
schen Männerbundes mit echtem sittlichem Problembewußtsein umge-
formt worden ist. Man beachte, daß in der ,Zauberflöte< die Mutter wie in
alten mutterrechtlich beeinflußten Sagen das Mädchen zum Mord gegen den
Repräsentanten der Männerwelt (wenn auch nicht gegen den Geliebten)
anstiftet, und daß die siegreiche Abwehr des Anschlages nicht einer überle-
genen männlichen Gewalt gelingt, sondern der überlegenheit des eigenen
Prinzips, das in Pamina und Tamino siegt. Sarastro kennt keine Rache:
.Allein du sollst sehen, wie ich mich an deiner Mutter räche. Der
Himmel schenke nur dem holdenjüngling Mut und Standhaftigkeit
in seinem frommen Vorsatz. dann bist du mit ihm glücklich. und
deine Mutter soll beschämt nach ihrer Burg zurückkehren. «

Es gibt keine andere Rache. Der Sieg der Liebe, die Einführung in die Welt
der Eingeweihten. ist selbst die Ohnmacht der Elementarwelt.

Die Analyse des Schikanederschen Textbuches hat die wahrhaft bedeuten-


102 Vom geistigen Lauf des Menschen

den Hintergründe aufgezeigt, die sich hinter dem Märchenzauber der Oper
auftun. Nicht die Freimaurerei als solche, sondern das allgemeinere Problem
der vom Geist bestimmten menschlichen Sittlichkeit ist der höhere Sinn der
Erscheinungen, den Goethe in der Oper erkannt haben wird. Es fragt sich
nun, wie Goethes Fortsetzung zu diesem Sinn der )Zauberflöte( in Bezie-
hung steht, welch eigenen, seinem eigenen dichterischen Wesen angehöri-
gen Sinn er aus ihm entwickelt. Denn die bloße Wiederholung und Steige-
rung der Situationen und Charaktere der Oper, die offen zutage liegt, ist
keine Antwort auf diese den dichterischen Sinn des Ganzen angehende
Frage. Auch scheint es mir nicht möglich, Schwieriges durch Schwierigeres
erklären zu wollen und etwa eine andere Goethesche Dichtung, die vom
Eindruck der )Zauberflöte( mitbestimmt ist. das Märchen aus den )Unter-
haltungen deutscher Ausgewanderten(, zur Hilfe heranzuziehen.
Die Deutung der Goetheschen Dichtung ist aber ungleich schwieriger als
die des Schikanederschen Textbuches, schon deswegen. weil Schikaneder
kein wirklicher Dichter war und deswegen die gedanklichen Motive. die
dem Werk (oder seinen Quellen) zugrunde liegen. oft in reflektierender
Form ausspricht, so daß sie für den nachforschenden Betrachter als solche
deutlich abhebbar werden. Goethes Dichtung dagegen ist durchaus poe-
tisch. Hier ist alles in Handlung und Gebärde umgesetzt. alles in Vorgängen
gestaltetes. kaum je sich selbst gedanklich auslegendes Sinnbild. Bedeutsam
genug - gerade für den späteren Dichter des zweiten Teiles des )Faust(
bedeutsam genug -, daß diese Dichtung ein Opern plan ist. Sinnlinien zu
dem opernhaften Spektakel der ersten Akte der Faustfortsetzung sind deut-
lich erkennbar. Aber es ist nur ein Fragment. Die erhaltenen Pläne der
Fortsetzung geben nur einen ungefähren Rahmen, und am Ende wird man
den Bruchstückcharakter des Ganzen positiv nehmen müssen: Goethe selbst
hat dieses Bruchstück als ein Ganzes in seine Ausgaben aufgenommen. Was
macht es zum Ganzen? Zum Ganzen eines Sinnes?
Die Handlung versetzt uns in den Zeitpunkt. da aus der Ehe zwischen
Tamino und Pamina eben ein Kind geboren worden ist. und beginnt mit der
Erneuerung des Kampfes zwischen der Königin der Nacht und dem von
Sarastros Weisheit geleiteten, von Tamino mit königlicher Hand regierten
Lande. Die sittliche Ordnung, deren Sieg die )Zauberflöte( gefeiert hatte,
wird mit der Geburt des Kindes aufs neue von der Gegenwelt des elementa-
ren nächtlichen Wesens angefallen. Monostatos. der abtrünnige Mohr Sara-
stros, Helfer der Königin der Nacht. kommt mit seinen Dienern zurück, um
der Königin über einen vollzogenen Auftrag Bericht zu erstatten. Sie hatten
das Kind, sowie es auf die Welt kam, rauben sollen - eine Rache der Königin
der Nacht an Sarastro und seinen Schützlingen.
Vom geistigen Lauf des Menschen 103
Erhebet und preiset,
Gef'ährten, unser Glück!
Wir kommen im Triumphe
Zur Göttin zurück.
Wir wirkten verstohlen,
Wir schlichen hinan;
Doch was sie uns befohlen,
Halb ist es getan.
Der Raub des Kindes ist ihnen nur halb gelungen - sie haben das Kind im
Augenblick der Geburt, da der Zauber der Nacht Dunkelheit und Verwir-
rung verbreitete, in den von ihnen mitgebrachten goldenen Sarg gelegt, aber
als sie nun mit diesem Kästchen davonschleichen wollten, wurde es auf
wunderbare Weise so schwer, daß sie es nicht von der Stelle bewegen
konnten. So blieb ihnen nur übrig, das Kästchen durch einen Zauberbann zu
verschließen und sich davonzumachen. Die Rache ist halb gelungen. Noch
ist das Kind nicht geraubt, aber der böse Zauber hat es dennoch den Eltern
entrissen - sie können das Kästchen nicht öffuen, und der Zauber bewirkt
weiterhin, daß die unglücklichen Eltern, sowie sie einander erblicken, von
Wahnsinn gefaßt werden - und daß das Kind von der Parze weggerissen
würde, wenn die Eltern es je erblickten. So weit reicht der Fluch der Königin
der Nacht, die von Goethe in großartiger Weise als die »allgegenwärtige
Macht« der Finsternis, des Schweigens und des Todes gestaltet ist, in die
»heiligen Bezirke« hinein.
Die zweite Szene schildert den Königshof, an dem Tamino inzwischen die
Herrschaft angetreten hat. Frauen tragen unter klagenden Gesängen den
goldenen Sarg, in dem das Kind eingeschlossen liegt, unausges~tzt dahin:
So wandelt fort und stehet niemals stille,
Das ist der weisen Männer Wille;
Vertraut auf sie, gehorchet blind;
So lang ihr wandelt, lebt das Kind.
Tamino und die Frauen vereinigen sich in ihren Klagen über das Unheil, in
das sich das Glück der Geburt des Sohnes gewandelt hat, aber die Hoffnung
vereinigt sie, daß der Fluch gebannt werden wird:
Bald rettet uns mit heil ger Weihe
Sarastros lösend Götterwort
und daß das ersehnte Glück der Vereinigung des Kindes mit seinen Eltern
eintreten wird. Die Szene ist von hoher poetischer Kraft, Plage, Sorge und
Zuversicht wunderbar verschlingend.
Dann folgt eine Szene zwischen Papageno und Papagena, die in komi-
schem Kontrast die beiden inmitten ihres märchenhaften Idylls unglücklich
104 Vom geistigen Lauf des Menschen

zeigt, weil ihnen bisher Kinder versagt sind, und froh getröstet, als ihnen
Kinder verheißen werden - eine reizende Variation der berühmten Papage-
noszenen der Mozartschen Oper.
Die vierte Szene führt in das Heiligtum des Tempels und in das Leben der
Eingeweihten. Goethe fügt hier dem Bild dieses Ordens einen neuen, für ihn
überaus charakteristischen Zug ein: die Bestimmung des Ordens erfüllt sich
nicht in der bloßen Absonderung ihres Lebens von der Welt. Alljährlich
muß - durch das Los bestimmt - einer aus dem Orden als Pilger durch die
Welt wandern: die Erforschung des Innersten muß durch die Wanderung
»auf den weiten Gefilden der Erde« ergänzt werden. Nur so, als Wanderer,
lernt der Mensch »die erhabene Sprache der Natur, die Töne der bedürftigen
Menschheit« kennen - ein Zug, der ganz der Welt des ,Wilhelm Meister(
entspricht. Auch hier ist die Pilgerschaft zugleich als eine Prüfung gemeint,
ob die reine Gesinnung des Bundes den Anfechtungen der Welt gegenüber
sich bewährt und rein erhalten hat. Der Augenblick ist gerade gekommen.
Der zurückkehrende Pilger erweist sich an dem Prüfstein des Kristalls als
rein und wird in den Kreis wieder aufgenommen. Die Neuwahl des Pilgers
trifft Sarastro selbst. Er muß aus dem Kreise seiner Getreuen scheiden,
gerade in dem Augenblick, in dem der Kampf mit dem nächtlich bösen
Reich der Königin der Nacht aufs neue entbrannt ist. So ist es diesmal eine
Prüfung besonderer Art, da nun der weise Schirmherr des ganzen Bundes
fehlen wird und der Kampf zwischen Nacht und Licht ohne ihn bestanden
werden muß.
Dann folgen zwei unausgefiihrte Szenen: ein abermaliger Anschlag der
Königin der Nacht läßt den im Sonnentempel dargebrachten Sarg des Kin-
des vor Paminas Augen in das Dunkel der Erde versinken. Und eine weitere
Szene: aus goldenen Eiern, die Papageno und Papagena in ihrer Hütte
fanden, erstehen drei Kinder. Sarastro kommt zu ihnen, »Einige Worte über
Erziehung«, und berichtet dann über das erneute große Unglück am Kö-
nigshofe. Zur Erheiterung des unseligen Königspaares entsendet er Papage-
no mit der Flöte an den Hof.
Die nächste Szene ist wieder ausgeführt und schildert das Eintreffen
Papagenos am Hofe. Der leichtfertige Optimismus und der hohle Eigennutz
der höfischen Welt werden sichtbar: wie sich der Hof mit Gerüchten von der
baldigen Rückkehr Sarastros (der doch in Wahrheit seine lange Pilgerfahrt
angetreten hat) tröstet und mit der falschen Nachricht, daß das Kind gefun-
den sei und bald alles in Glück und Frieden sein werde. Papageno wird auf
Grund der Kunde von den goldenen Eiern, die er in seiner Hütte fand, von
den besitzgierigen Höflingen umschmeichelt, bis er schließlich zur Enttäu-
schung der Weltleute seine goldenen Eier vorzeigt, die er in Gestalt der aus
ihnen ausgekrochenen bunten Vögel mitführt. Das Ganze eine Kritik des
höfischen Lebens aus der großen Seelenkenntnis des Dichters.
Vom geistigen Lauf des Menschen 105

Dann eine der reizvollsten, des dramatischen Genius des Dichters beson-
ders würdige Szene: das Königspaar ist durch den Zauberfluch in periodi-
schen Schlaf versenkt - wenn sie erwachen und einander erblicken, überfällt
sie Wahnsinn und Verzweiflung. Papageno bläst die Flöte, und solange er
bläst, weichen Wahnsinn und Verzweiflung. Sie sehen alles hell und freudig.
Aber sobald er mit Blasen aussetzt, kehrt die alte Pein und Verzweiflung
zurück. Die Beschwörungskraft der Töne und die Grenze ihrer Macht,
sobald Papageno der Atem ausgeht - eine unvergeßliche, opern gerechte und
zugleich unmittelbar bedeutende Szene, Macht und Ohnmacht der künstle-
rischen Verzauberung des Lebens symbolisierend.
Dann kommt eine Botschaft. Die Priester haben das Versteck, wo der
Knabe, in seinem Sarg vom Verschmachten bedroht, liegt, gefunden. Die
Szene verwandelt sich in das unterirdische Gewölbe, in dessen Mitte der
versunkene Altar mit dem Sarg steht, von geharnischten und angeketteten
Löwen bewacht. Ein geheimnisvoll tiefsinniger Zwiegesang der Wächter
folgt, und dann dringen Tamino und Pamina - ganz wie im Schlußakt der
lZauberflöte< - durch Wassers- und Feuersgefahren siegreich hindurch, um
ihr Kind zu retten. Die Königin der Nacht feuert die Wächter zum Wider-
stand an - umsonst, und als sie nun durch die Löwen den Sarg verschlingen
lassen will, begibt sich das Wunder: das Kind im Sarge erwacht beim Klang
der elterlichen Stimmen und entsteigt als Genius dem goldenen Kasten. Als
die Wächter das Königspaar zurückdrängen und das Kind mit ihren Spießen
bedrohen, fliegt der Genius davon - eine Szene, die auf die Euphorion-Szene
im lFaust 11< vordeutet.
Damit schließt das Fragment, der Handlung nach eine echte Zauberoper,
fraglos und unbekümmert wie ein Märchen - und doch die Frage nach einem
Sinn bergend, der die Einzelmotive verknüpft und in ein Sinnganzes
schließt. Wir können uns fragen, was die geplante Fortsetzung, die Goethe
in Stichworten notiert hat, über das ausgeführte Stück hinaus lehren kann.
Es ist nicht eben viel: eine Szene »Sarastro und Kinder« mag die» Worte über
Erziehung« der ersten Kinderszene fortgesetzt haben, eine Szene »Genius
Pamina Tamino« scheint, wenn wir die als >Paralipomenon 3< abgedruckten
Verse hier einsetzen dürfen, den flüchtig vorübereilenden Genius seinen
Eltern begegnend gezeigt zu haben. Die Verse lauten:

Von Osten nach Westen


Von Ästen zu Ästen
Von Westen nach Osten
Von allen zu kosten
Von Früchten zu Früchten
Gefällt es mir nur
So komm ich und flieh ich
Und wechsle die Flur
106 Vom geistigen Lauf des Menschen

Und wer mich verfolget


Verlieret die Spur.
Da bin ich recht zu Hause
Das ist der schönste Baum
Genügen mir zum Schmause
Die vielen Früchte kaum
Es machen brave Kinder
Die Eltern brav und gut.

Weiter läßt sich aus dem Szenarium erraten, daß der Genius sich den Kindern
Papagenos und Papagenas gesellt und dort durch Monostatos gefangen
wird. Eine große Schlacht in einer »Nachtszene mit Meteoren«, offenbar
unter Eingreifen Sarastros, bringt Tamino den Sieg (eine Kontrastszene:
IIPapageno gerüstet'" zu der die Verse Paralip. 4 passen, gehört dazu). Dann
folgt eine große Siegesfeier, die nochmals durch Monostatos' Brandstiftung
gestört wird. Als Schluß ist notiert: "Zeughaus. Die überwundenen Prie-
ster« (was mit Recht verbessert worden ist in: »Die überwundenen. Prie-
ster«). Der Fortgang der Handlung hat also den Kampf der beiden Welten
von Licht und Nacht in großartiger Steigerung bis zu dem endgültigen Siege
des Lichtes und der Wiedervereinigung der Eltern mit dem Sohne darstellen
sollen.
Es muß nun versucht werden, den Sinnfaden, der die einzelnen Glieder
der Handlung zusammenhält und das Ganze zu einheitlicher Bedeutung
zusammenschließt, freizulegen, so wieja auch die Handlung der >Zauberflö-
te< ein bedeutsames Sinnganzes darstellte. Denn gerade auch der l>höhere
Sinn der Erscheinungen«, den Goethe in der IZauberflöte< erkannte, hat ihn
zu seiner Fortsetzung derselben inspiriert. Das heißt natürlich nicht, daß
seiner eigenen Dichtung der gleiche Sinn zugrunde läge, den er in der Oper
fand. Der Gegensatz von Mutterrecht und Männerbund, der in der Oper den
Sinn des Kampfes von Nacht und Licht ausmachte, kann in der veränderten
Situation der Fortsetzung, die den Liebesbund von Tamino und Pamina
voraussetzt und das Glück und den Segen der Familie zum Gegenstand hat,
nicht mehr bestimmend sein. Das neue Aufbegehren des nächtlichen Ele-
mentes, sein vorübergehender Triumph und seine endliche überwindung
müssen aus dieser veränderten Thematik der Goetheschen Dichtung ver-
standen werden.
Bevor wir uns der eigentlichen Handlung zuwenden, wird daher zu
untersuchen sein, wieweit sich das Verhältnis der beiden feindlichen Welten
in Goethes Dichtung neu gestaltet hat und dadurch der Kampf des Lichtes
mit der Finsternis einen veränderten Sinn empfing. In der Tat ist das Grund-
schema der sittlichen Aufklärung, das die freimaurerischen Klänge der Oper
bestimmt, nicht das Goethesche. Kein geradliniger Aufstieg von der Nacht
zum Licht, vom elementaren Triebdasein zur geistigen Ordnung der Weis-
Vom geistigen Lauf des Menschen 107

heit ist hier da, und die Bahn des Menschen ist nicht durch diesen Aufstieg
eindeutig vorgezeichnet. Die Grundsituation alles Menschlichen. auch der
im heiligen Bunde zum freudigen Genuß des Lichtes Zusammengeschlosse-
nen, ist die Bedrohung. Der Kampf des Guten mit dem Bösen ist ein niemals
endender. Auch der heilige Orden - in der Pilgerschaft, aber sel bst in seinem
eigenen Bestande - ist der Prüfung ausgesetzt und muß sich im Kampf mit
dem Bösen bewähren. Die Stimme der Finsternis, verkörpert in dem ge-
heimnisvoll unbeweglichen Wächterpaar in der Grotte, spricht es selbst aus,
was d::s eigentliche Geheimnis des Lebens ist: die Zeit.
Wird es Tag?
Vielleicht ja.
Kommt die Nacht?
Sie ist da.
Die Zeit vergeht.
Aber wie?
Schlägt die Stunde wohl?
Uns nie.

Und nun folgt - von diesem ewigen Wissen um die Zeit und ihren unauflös-
baren Wechsel her gesehen - die tiefsinnige Charakteristik des menschlichen
Strebens:
Vergebens bemühet
Ihr euch da droben so viel.
Es rennt der Mensch. es f1iehet
Vor ihm das bewegliche Ziel.
Er zieht und zerrt vergebens
Am Vorhang. der schwer auf des Lebens
Geheimnis. auf Tagen und Nächten ruht.

In der ersten Fassung dieser Stelle ist es geradezu »das Geheimnis der Tage
und Nächte« - also das Geheimnis des Wechsels von Tag und Nacht. das
alles menschliche Streben ins Helle zum Wahne werden läßt. So unvermeid-
lich wie Tag und Nacht miteinander wechseln. ist auch das menschliche
Streben. indem es den Wechsel nicht wahrhaben will. in Wahn verstrickt.
Dies Mitdasein der nächtlichen Gegenmächte mit dem »geistigen Laufe« des
menschlichen Daseins ist offenbar die neue Prägung. die der gnostisch-auf-
klärerische Gegensatz von Nacht und Licht in Goethes Dichtung erfährt.
Was sich so im Munde der Wächter ausspricht. ist auch dem weisen
Sarastro nicht verborgen. In seiner Abschiedsrede vor seinen Freunden sagt
er, daß die Kräfte feindseliger Mächte geradejetzt wirksamer werden. Und
in der ursprünglichen Fassung dieser Stelle, die Goethe später gestrichen hat,
offenbar. weil sie ihm schon zu sehr Reflexionsform hatte. den Sinn des
Ganzen zu unmittelbar angab, hieß es gar: nWir aber sind dem Schicksal
108 Vom geistigen Lauf des Menschen

unterworfen, und das Schicksal, die ewige Weisheit selbst darf den Tag
nicht zur Nacht verwandeln, die Nacht nicht in den Tag. Doch den Wech-
sel von beiden zu bestimmen, das vermag sie. Der Augenblick ist da, in
welchem das Licht der Weisheit sich einen Augenblick verbergen und die
feindlichen Mächte ihren Einfluß ausüben sollen. Der Vorteil ist unser.
Denn wir werden geprüft.« Wenn eine wahrhaft Goethesche Grundvor-
stellung hier sichtbar wird, so ist es diese, daß es selbst der höchsten Weis-
heit unmöglich ist, eine Welt des dauernden Tages zu begründen. So wie
im Walten der Natur der ständige Wechsel von Tag und Nacht beiden in
gleicher Weise bestimmt ist, so ist auch das menschliche Leben nicht von
der Bedrohung durch das »in sich selbst verschlossene« Element der Fin-
sternis, durch die dämonische Macht des Abgrundes, des Schweigens, des
Todes je ganz abzulösen. Es gibt keine Welt des Geistes und des Guten, die
ungefahrdet und unbewegt in sich selbst bestünde. Die Prüfung, die den
Mitgliedern des >Heiligen Bundes< in Goethes Dichtung auferlegt wird: das
Hinausgehen in die Welt, die Reinheit des Herzens in ihr zu bewähren,
bedeutet nicht eine gelegendiche oder vorsorgliche Einschränkung eines an
sich himmlischen Glücks durch ein mißgünstiges Schicksal: »Der Vorteil ist
unser. Denn wir werden geprüft.« Leiden und Prüfung sind nicht nur die
unabdingbare Mitgift des menschlichen Lebens - sie bewähren erst seine
Wahrheit.
So ist selbst die Form, in der das Leiden der Trennung vom Bundesleben
und die Prüfung des Wanderjahres den Eingeweihten auferlegt wird, die
Form des Loses nämlich, von symbolhafter Bedeutung für das menschliche
Leben insgemein. Der tiefsinnige Eingangschor, der nach dem Vorbild der
Mozartschen Oper die Versammlung der Priester eröffnet, begründet die
Zufallsbefragung, die den zum Leiden der Wanderschaft bestimmten Pilger
erliest, aus der Begrenztheit des menschlichen Wissens und Wahlvermö-
gens. Es ist die bedrohliche Schwebe des menschlichen Wesens, die im
Bundesritual ihren angemessenen Ausdruck findet:
Schauen kann der Mann und wählen!
Doch was hilft ihm oft die Wahl.
Kluge schwanken, Weise fehlen,
Doppelt ist dann ihre Qual.
Recht zu handeln,
Grad zu wandeln,
Sei des edlen Mannes Wahl.
Soll er leiden,
Nicht entscheiden,
Spreche Zufall auch einmal.
Vom geistigen Lauf des Menschen 109

Die höchste Weisheit, die mit dem Schicksal einig ist, vermag den Wechsel
zu bestimmen, d. h. anzunehmen - das abstrakte »düstere Streben« dagegen
führt von Wahn zu Wahn, d. h. ist selbst ein unweises Verfallen an die Macht
der Irre und der Dunkelheit.
Es entspricht dieser anderen Artikulation des aus Mozarts Oper bekann-
ten Gegensatzes von Nacht und Licht, Bösem und Gutem, daß in Goethes
Dichtung das weibliche Prinzip in einem neuen Lichte erscheint. Die Köni-
gin der N acht, der Repräsentant der feindlichen Gegenrnacht, die kosmische
Potenz des elementaren, in sich verschlossenen Dunkelwesens, hat keinen
der die Oper beherrschenden Züge der beleidigten Mutter und des herrsch-
gierigen Weibes mehr. Dagegen ist es jetzt die Mutterliebe. die in Pamina
den siegreichen Gegenzauber darstellt. Wie Tamino die Prüfungen. die ihm
Sarastro und die Priester auferlegen, durch das standhafte Festhalten an dem
Geheiß des Bundes besteht und die Geliebte, die sich ihm unterwirft, durch
die Wassers- und Feuersgefahren unangefochten hindurchführt. so ist es in
Goethes Dichtung, wie ausdrücklich gesagt wird, die Mutterliebe. die durch
den feindlichen Widerstand der Elemente und der Gegengewalten der nächt-
lichen Wesen hindurchgeleitet und das Kind, den Genius. befreit. Auch hier
bieten die Paralipomena einige Verdeutlichungen, die die tragende Bedeu-
tung dieses sittlichen Prinzips betonen:
Und Menschenlieb und Menschenkräfte
Sind mehr als alle Zauberei.

Und ferner:
Nein, durch keine Zaubereien
Darf die Liebe sich entweihen.
Und mein Talismann ist hier.

Wir wissen nicht. wie diese Verse in die Handlung gehören, aber daß Goethe
hier mit Bewußtsein das Zauberwesen - auch die wunderbare Bannkraft der
Zauberflöte - durch ein höheres, sittliches Wesen, den in der menschlichen
Liebe gelegenen Zauber, überbietet. ist zweifellos eine jener >Steigerungen<
des in der Mozartschen Oper Angelegten, von denen Goethe im Blick auf
seine Dichtung spricht. Hier wird die Mutterliebe als ein neues, sittliches
Moment sichtbar, das die elementarische Sphäre des Weiblichen hinter sich
läßt.
Stellen wir nun VOn diesen Feststellungen aus die Frage nach dem Sinn der
~anzen Handlung. Was bedeutet die Verzauberung des Kindes. das merk-
würdige Herumtragen des goldenen Sarges. schließlich die Befreiung durch
die elterliche Liebe und das Entweichen des Kindes als Genius? Wir dürfen
aus der weiteren Handlung hinzufügen, daß dieser Genius an den Eltern wie
ein flüchtiges Vögelchen vorbeieilt. daß er bei Kindern verweilt und. aber-
110 Vom geistigen Lauf des Menschen

mals entrissen, schließlich nach einer endgültigen Auseinandersetzung der


feindlichen Lebensgewalten in den Schoß seiner Familie siegreich und freu-
dig zurückkehrt.
Was soll das alles und was meint es? Gewiß wäre es verfehlt, dies poetische
Märchen wie eine frostige Allegorie zu erklären. Nur was dichterisch da ist,
d. h. aber, nicht das Märchenhafte der Ereignisse, sondern das Menschliche,
wie es in diesen Ereignissen begegnet, kann uns leitend sein. Zunächst, was
bedeutet es, daß gerade im Augenblick der Geburt des Kindes das elementa-
re Wesen der Nacht bis in die »heiligen Bezirke« mit bannender Gewalt
eindringt und daß das Kind in einen Sarg verschlossen wird? Ich meine, es
zeigt die Verschlossenheit des neuen Lebens gegenüber der vorausschauen-
den Sorge und der planenden Hoffnung, die die Eltern auf ihr Kind setzen.
Jedes neue Leben ist für seine Eltern ein noch im Elementaren verschlossenes
Geheimnis. Es ist ihr Fleisch und Blut - und dennoch ein anderes, eigenes,
ihnen nicht organisch angehöriges Dasein. Und wenn nun Goethe den Sarg
- nach dem Geheiß der weisen Männer - unermüdliCh hin- und hertragen
läßt, damit das Kind am Leben bleibt -, sollte damit nicht darauf gedeutet
sein, daß trotz dieser Verschlossenheit und der Verwehrtheit aller sichern-
den Verrichtung die Wartung, Pflege und Erziehung für das neue Wesen
nicht sinnlos ist, daß vielmehr trotz dieser unaufhebbaren Verschlossenheit
in der liebenden Sorge und hoffenden Fürsorge der Eltern ein wesentliches
Lebenselement für das Kind gegeben ist? Und sollte es nicht von Bedeutung
sein, daß die Befreiung des Kindes, sein Entsteigen aus dem Kästchen, in
dem Augenblick erfolgt, da das Kind die Stimme der Eltern vernimmt und
mit dem eigenen >ersten Ton< beantwortet? Ist nicht wirklich der Wechsel-
tausch der Stimmen und die aus ihm sich bildende Kommunikation der
Sprache, diese erste >Äußerung<, eine Öffnung des verschlossenen, schlafen-
den Lebensgeheimnisses, das im Kinde waltet? Nun erhebt es sich unange-
fochten über die Spieße der Wächter und die Rachen der Löwen - das
versinnlicht doch wohl die Unzerstörbarkeit des neuen Lebenskeimes, sein
Sichhinausringen aus dem Elementaren in seine eigene geistige Helligkeit.
Und dieser >geistige Lauf< des Kindes, sein Davonfliegen als Genius, in dem
es zugleich auch den Eltern entrückt wird, auch das hat seine unmittelbare
Wahrheit. Das neue Geistwesen, zu dem das Kind sich erhebt, tritt unter sein
eigenes neues Lebensgesetz, indem es die Warnungen und Hoffnungen,
Befürchtungen und Angste und alle Fürsorge der Eltern überspringt. Man
denkt hier unwillkürlich an die Euphorion-Szene von >Faust 11<, wo auch aus
einer Ehe des Schönen und des Weisen eine neue Geburt sich erhebt, der
zauberhafte Genius Euphorions, der als ein Schein gebilde. gleich einer
Traumerscheinung. die Ehe Fausts und Helenas, der modernen und der
antiken Welt, schmückt - und widerlegt. Aber gegenüber dem späteren, in
allegorische Symbolik gespannten Euphorion-Motiv bedeutet die ausge-
Vom geistigen buf des Menschen 111

führte Schlußszene der zweiten )Zauberflöte< etwas wesentlich anderes. Der


hier aufsteigende Genius wird zwar dem Kreis des elterlichen Geistes ent-
rückt, aber er kehrt in ihn zur neuen, geistigeren Gemeinschaft zurück.
Denn wenn man zum Sinn der geplanten Fortsetzung noch Vermutungen
äußern darf: daß jene schönen Verse, in denen der Genius »von Früchten zu
Früchten« nach seinem Gefallen hin- und hereilt, die unbegreiflich geniale
Weise bezeichnen, mit der das spielende Kind die Welt kostet; und daß er
sich zu Kindern gesellt, um aus ihrer Mitte entrissen zu werden in eine neue
Verschlossenheit - bis am Ende »Sarastros lösend Götterwort« die geistige
Ordnung, das sittliche Element der Familie herstellt: ist es zu kühn, zu
meinen, daß es das problematische Geschehen der menschlichen Erziehung,
der Bildung zum Menschen ist, um das der Kampf der elementaren und der
geistigen Lebensmächte in dieser Opernhandlung geht?
Goethe hat von der Begreiflichkeit einer poetischen Produktion fiir den
Verstand nicht viel gehalten: »Je inkommensurabler und für den Verstand
unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser« (zu Eckermann, 6. Mai
1827). Und doch besteht das Geschäft des Interpreten darin, die inkommen-
surable Sinnfülle der Dichtung so auszulegen, daß die Empfänglichkeit fiir
das unauflöslich Bedeutende der Dichtung sich weitet und belebt. Nur eine
Richtungsweisung dieser Empfänglichkeit kann es darstellen, wenn wir
dem Bezug der kostbaren kleinen Dichtung aufihren schöpferischen Anlaß,
die Mozartsche Oper und das Schikanedersche Textbuch, nachgingen. Der
abstrakte Gegensatz des naturhaften und des geistig-sittlichen Lebenseie-
ments, den Mozarts Oper zu einem triumphalen Lichtgesang verklärt hat,
verwandelt sich im Medium der dichterischen Welt Goethes, die das ständi-
ge Mitdasein der Elementarmächte mit der geistigen Gestaltungskraft des
Lebens tiefsinnig umspielt, und rückt Goethes leichthingesetztes, von Schil-
ler beispielsweise als unbedeutend verschmähtes kleines Werk erst in die
rechten Bezüge, die auch die großartigsten und bedeutendsten Dichtungen
Goethes, insbesondere seine Faustdichtung, umfassen.
8. Goethe und Mozart - das Problem Oper
(1991)

Aus bestimmtem Anlaß habe ich einmal eine ,Zauberflöten<-Aufflihrung in


Dresden kurz nach dem Zweiten Wdtkrieg gehört. Dresden lag damals ganz
in Schutt und Asche. Ich war Professor an der Universität Leipzig und nach
dem Kriege dort zum Rektor gewählt worden. So mußte ich öfters nach
Dresden reisen, und einmal fuhr ich mit dem Oberbürgermeister dorthin,
und da hörten wir zusammen die IZauberflöte<. Die Aufführung fand in
einer Turnhalle statt, alles andere war zerstört. Was nicht zerstört war, war
jedoch die hervorragende Musikkultur der Dresdener Oper, die mit so
berühmten Dirigentennamen wie Fritz Busch und Karl Böhm verbunden
ist. Sie hatte dem Regime wie den Bomben und der Tragödie von Dresden
standgehalten. Das wurde fiir mich eine sdtene Erfahrung, wie ein Vor-
klang des Wiederaufbaus der verwüsteten Wdt und eine Hoffnung für die
Kultur der Menschheit. Mir fiel da ein, daß es auch eine Fortsetzung von
Goethe zur IZauberflöte< gab, mit der ich mich bald beschäftigen sollte. Ich
hatte eigentlich kein besonderes Interesse am Textbuch von Mozarts Oper.
Als ich zwölfJahre alt war, sagte uns ein sehr eindrucksvoller Deutschlehrer
einmal: »Ja, die IZauberflöte<, das ist nichts als .gesungener Unsinn. « Mir
schien es nun beim Hören dieser Aufführung anders, wie eine Botschaft
voller Sinn. Es war eine stimmlich und instrumental meisterliche Darbie-
tung, die gar nicht erst den Versuch unternahm, mit der großen Maschinen-
und Lichtkunst des Barockzeitalters zu wetteifern. Es gab ja nur das Podium
der Turnhalle, zu dessen Füßen das Orchester und auf dem Podium die
Sängerinnen und Sänger. Gleichwohl übertraf diese Aufführung für mich
alle Darbietungen der IZauberflöte<, die ich vorher gesehen hatte. Mozarts
Musik, die !eigene Einbildungskraft und das erschütterte Gemüt waren
stärker als die technische Kultur unserer Epoche mit ihren Illusionsmitteln.
So sah ich mich vor die Frage gestellt, wie die Musik es vermag, von sich aus
Sinn zu vermitteln und ohne Hilfe der Bühne Bilder zu erzeugen, so daß man
nichts vermißte. Es waren die schönsten Märchenbilder, die schönste Feuer-
probe, die ich da vor meinen Augen hatte, und doch tat ich nichts, als der
Musik und den Stimmen zu lauschen.
Was ist die Oper? Zunächst ist sie ein Versuch, die griechische Tragödie in
Goethe und Mozatt - das Problem Oper 113

die moderne christliche und humanistische Welt hinüberzuretten und zu


neuem Leben zu erwecken. So hat Monteverdi mit seinem monodischen Stil
der Tonkunst einen neuen Raum eröffnet. Und von der italienischen Oper
aus hat sich dann in vielen Abzweigungen das entwickelt. was wir Opern-
kultur nennen. In der Folge von Vorlesungen. die wir hier in den letzten
Wochen gehört haben, wurde es sehr anschaulich. wie sich diese Kultur der
Oper aus dem Festbedürfnis des Barockzeitalters und der Fürstenhöfe entfal-
tete und sich dann im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen des bürgerli-
chen Wettbewerbs fortsetzte.
Mozart nimmt in dieser Geschichte eine Ausnahmestellung ein, als Voll-
endung und zugleich als übergang. Ich darf hier an meinen verstorbenen
Freund Thrasyboulos Georgiades erinnern, dessen Formel vom »musikali-
schen Theater« lautete. Mozart hat nach Georgiades das spezifisch musikali-
sche Theater erst geschaffen und darin eine eigene Vollendung erreicht.
Gewiß hat er die spätere Opernentwicklung und auch das Musikdrama
vorbereitet, aber seine Form des musikalischen Theaters ist doch etwas
Unüberholbares geblieben. das wir jungen Leute im Zeitalter der Jugendbe-
wegung, also wir, die wir Oper sonst verschmähten, von unserem negati-
ven Urteil immer ausnahmen. Mozart war nicht nur Oper, er war mehr.
Sein Theater war nicht länger das bloße Nummernspiel des italienischen
Operntheaters. diese Folge von Rezitativen. Arien und Chören. Es richtete
sich nicht mehr gänzlich auf die Art des Zuhörens ein. wie sie in den großen
Opernhäusern des 18. Jahrhunderts selbstverständlich war. (Da öffnete man
etwa den Vorhang der Loge erst dann, wenn der berühmte Sänger seine Arie
sang, und dann schloß man ihn eben wieder.) Freilich. wenn wir das Text-
buch der ,Zauberflöte< aufschlagen, finden wir, daß auch sie in Nummern
eingeteilt ist. Ja. Mourt berichtet von dem Erfolg der .Zauberflöte< auf dem
Wiener Vorstadttheater. daß etliche Wiederholungen einzelner Nummern
verlangt wurden! Niemand wird doch behaupten wollen. daß dieses Publi-
kum, das sich an den verschiedenen Nummern ergötzte. den Sinn der
Handlung verstand. so wie wir sonst die Handlung eines Theaterstücks
verstehen.
über diesen Sinn der Handlung der .Zauberflöte< möchte ich nachdenken
und mich dafür der Augen Goethes bedienen. Er hat eine Fortsetzung der
.Zauberflöte< geschrieben und veröffentlicht. obwohl sie nur Bruchstück
blieb. Was in der Opernhandlung Schikaneders und dann bei Goethe in
seinem Textbuch geschieht. ist gewiß in beiden Fällen nicht Drama. Gleich-
wohl ist zwischen dem Libretto des erfahrenen Theaterdichters Schikaneder
und Goethes Fortsetzung ein wesentlicher Unterschied. Das zeigt sich im
Erfolg. Goethe hat seinen Versuch nicht vollendet. Es ist ihm nicht gelun-
gen. einen Komponisten für sein vorbereitetes Textbuch zu finden. Keiner
hat es wohl gewagt, mit Mozart den Wettkampf aufzunehmen. Oder hat
114 Goethe und Mozart - das Problem Oper

vielleicht ein jeder etwas von dem sprachlichen überschuß empfunden, den
die dichterischen Worte Goethes enthalten und der sich der Musik entzieht?
Goethe wollte zwar ein Libretto schreiben, aber konnte er den Dichter in
sich dieser Aufgabe unterordnen?
Was ist ein Libretto im Vergleich mit einem rein dichterischen Text? Das
eine ist eben ein Textbuch ror Musik, das durch diese seinen Sinn erhält, und
das andere ist ein Text, der seine Aufgabe in sich selber als Dichtung erfiillt.
Hier darf ich eine semantische Bemerkung einfügen. Das Wort >Dichtung,
heißt eigentlich >Diktatl, es ist von )dicerel, von >dictarel abgeleitet, und das
meint, daß damit etwas unverbrüchlich festgelegt ist, woran man nichts
ändern soll, weder Silbe noch Ton. Daher können lyrische Gedichte in
fremde Sprachen nicht übersetzt werden, wie wir alle wissen. Es kann sich
nur um mehr oder minder gute Nachdichtungen handeln. Wenn die über-
setzer aber wahre Dichter sind, dann sind die Nachdichtungen ihrerseits
originale Werke des nachdichtenden Dichters. Der Sprachklang einer dich-
terischen Schöpfung muß aus dem Sprachklang der Muttersprache kom-
men, wenn er dichterischen Anspruch erheben will. Als Hölderlin Sopho-
kIes zu übertragen unternahm, entstand Dichtung - aber ein Werk Hölder-
lins und kaum noch ein Werk des Sophokles.
Die von uns allen gesprochene Sprache gewinnt im Akt des Sprechens so
etwas wie Leibhaftigkeit. Erst als dichterische Sprache erhält diese Leibhaf-
tigkeit aber Bestand. Sonst sind wir im Sprechen immer schon über den
Sprachklang hinaus, bei dem, was wir dem anderen mitteilen wollen oder
was uns von dem anderen mitgeteilt wird. Wie kommt es, daß in der
dichterischen Sprache die Sprache selber )Leibl gewinnt und zu eigenem
Gewicht gelangt? Das ist ein Thema, das vor allem den Philosophen angeht,
der es mit der Hermeneutik zu tun hat. Die Bedeutungshaftigkeit der Worte
und die Klangmusik der Sprache sind im dichterischen Wort so eng ineinan-
dergefUgt, daß, wer das Gedicht haben will, die Einheit von beidem haben
muß. Er muß die Musik der Sprache hören und gleichzeitig die Bedeutun-
gen und den Redesinn des Ganzen mitvollziehen. Ein Libretto dagegen will
gar nicht in der gleichen Weise als Sprache wahrgenommen werden. Sein
Sinn läßt sich erst im Hören der gesungenen und gespielten Musik vollzie-
hen. Es sind ja Texte, die auf eine Vertonung, das heißt auf Erfüllung ihrer
Aufgabe jenseits ihrer selbst, warten. Gewiß warteten auch die Texte der
griechischen Tragödien auf ihre Aufführung auf der Bühne, und auch das
mit den Mitteln der Musik. Aber in der Oper ist die Verteilung der Gewichte
zwischen Wortkunst und Tonkunst doch eine ganz andere als in der griechi-
schen Tragödie. Georgiades hat in seinem Nachlaßwerk über Nennen und
Erklingen die beiden Seiten, die Nennkraft der Worte und das Erklingen der
Sprache, zu analysieren unternommen und im besonderen untersucht, wie
Goethe und Mourt - das Problem Oper 115

beide in der Tonkunst zusammenwirken 1. Das sind schwierige Fragen, und


sie bedürfen immer weiterer Untersuchungen, zumal im Fane von Schika-
neder, Mozart und Goethe, wo so verschiedene Probleme illeinanderge-
schlungen sind.
Was offenbar der Musik der Neuzeit ganz eigen geworden ist, das sind
ihre eigentümlichen Wiederholungsgesetze, die immer neuen Variationen
der Wiederaufnahme oder Umkehrung, kraft derer die klassische Satztech-
nik alles Einzelne zu einem großen Einheitsgebilde zusammenschließt. Das
gilt natürlich auch für die Oper, wie ja gerade im Gesang von jeher Wieder-
holungskräfte wirksam sind. Sie sind aber auch für den Text, der Vorlage für
die Musik sein will, von form prägender Bedeutung. Bei Shakespeare wird
ein Charakter, ein Schicksal und eine uns zum bebenden Mitgehen zwingen-
de Handlung in Worten hingezaubert, und es bedurfte seinerzeit des Kulis-
senwerks auf der Bühne nicht wesentlich mehr, als ich es etwa in der
Turnhalle Dresdens bei der 'Zauberflötec antraf. In der Oper, und vollends
in der ,Zauberflötec, ist die Handlung nur in vagen Verknüpfungen formbe-
stimmend. Die Psychologie ist verschwendet, wenn man überall nach ein-
deutigen und einleuchtenden Motivationen sucht, welche die Rollenträger
zu ihren Arien und Melodien, zu ihren Duettantworten oder zu ihrem
Einstimmen in das Ensemble bringen. Allein der Grad des Verständnisses
der Texte dürfte in jeder normalen Aufführung unvergleichbar viel niedri-
ger sein als etwa im Shakespeareschen Theater und auf dem Sprechtheater
sonst. Der Oper und ihrem Textbuch liegen ganz andere Bildungsgesetze
zugrunde als dem Charakterdrama. Die psychologische Motivation und die
durch sie gesteuerte Form des Mitgehens mit der Handlung ist eben nicht das
einzige einheitsbildende Prinzip des Theaters. Auch die antike Tragödie mit
ihrem - der Psychologie abholden - Maskenspiel warnt uns davor, alles von
dem seelischen Mitgehen mit Handlungsmotivationen zu erwarten, statt
sich der neuen Deutung des allen bekannten Mythos hinzugeben. Auch die
antike Komödie arbeitet ja mit typischen Motiven wie Verwandtschaft,
Verwechslung, Vertauschung - und mit Charaktertypen, die in der Opera
buffa weiterleben.
In dieser Beziehung besteht durchaus eine gewisse Analogie zwischen
dem antiken Theater und der Oper mit ihrer Abfolge von Nummern. Wir
müssen uns an die große Tradition der Rhetorik erinnern und an ihre
Fähigkeit, für.vorgefaßte Ziele zu gewinnen und durch Redekunst Emotio-
nen zu wecken. Das wird auch die Aufgabe der Oper: eine im Textbuch
vorgebildete Handlung nicht so sehr glaubhaft zu machen als sie zu nutzen,

I THRASYBOULOS G. GEORGJADES, Nennen und Erklingen: die Zeit als Logos. Aus d.
Nachlaß hrsg. v. IRMGARD BENGEN. Mit e. Geleitwort v. H.-G. GADAMER. Göttingen
1985.
116 Goethe und Mozart - das Problem Oper
I
die Affekte und Leidenschaften als solche, die uns Menschen bewegen, zu
einer zwingenden Präsenz und Wirkung zu fUhren. Im Sprechtheater gelten
andere Gesetze. So sehr etwa auch die Schauspiele Calderons vom Form-
prinzip der Rhetorik bestimmt sind - bei Shakespeare muß sich das Drama
doch aus den Charakteren der auftretenden Personen der Handlung entwik-
keln. Da geht es nicht so sehr um die Emotionen, die in dem Handlungsge-
schehen zum Ausbruch kommen, als um das Sein dieser Menschen, ihren
Charakter, der ihnen zum Schicksal wird. Ein Charakter ist ein sich in allen
Emotionen äußernder Habitus, eine ,Hexis<, eine sich durchhaltende Identi-
tät, die sich in den wechselnden ,Pathemata<, den Passionen, zur Darstellung
bringt. Der Darsteller im Drama Shakespeares ist ein Menschengestalter,
der gewiß nicht mehr eine starre Maske tragen kann. Dagegen sind es die der
Rolle zugewiesenen und durch die Musik gestalteten 'Pathemata<, die Lei-
denschaften, welche das Formgesetz der Oper bilden. Deswegen hat die
Arie in ihr eine bevorzugte Stellung und ist nicht - wie meist der Monolog
im Drama - eine Art Zwischenspiel. Es ist die Meisterschaft von Mozart
gewesen, den hergebrachten Opernformen doch so viel innere musik;llische
Kohärenz zu verleihen, daß die verschiedenen Nummern durch Mozarts
Ensemble-Kunst zu einem einheitlichen Seelengeschehen zusammenklin-
gen. Man geht daher auch bei ihm fehl, wenn man Charakterentwicklungen
sucht, wo die Spielfreude der Bühne ihr Reich hat. Wir werden sehen. wie
etwa die Rolle des Sarastro den Psychologen da in die Irre lockt.
In der ,Zauberflöte< haben wir es mit einem Märchenspiel zu tun. Die
eigentümlich kontrastreiche, von Goethe gerade wegen dieser Kontraste
gerühmte Handlung ist eine Zauberposse des volkstümlichen Genres, die
doch in hoch spirituelle Sphären gehoben wird - bis zur Einweihung ~es
hohen Paares in den Tempel der Weisheit -, aber zugleich in Kontrastbeglei-
tung durch das volkstümliche Element. Ich möchte später zeigen,· wie
Goethe dieses Textbuch, das Schikaneder in Zusammenarbeit mit Mozart
verfaßt hat, in seinem eigenen Fragment weitergedacht hat. Zunächst aber
wollen wir auf den Text der klassischen Mozartschen Oper blicken.
Der Mozart-Forscher Otto Jahn, ein bedeutender klassischer Philologe
um die Mitte des 19. Jahrhunderts, meinte nachweisen zu können, daß das
Textbuch der ,Zauberflöte< aus äußeren Gründen, die wir hier nicht noch
einmal wiedergeben wollen, einen Bruch aufweise. daß sich also zwischen
dem ersten und zweiten Akt eine totale Programmänderung ereigne. Diese
kühne und natürlich gut durchgearbeitete Beweisführung fand damals über-
all Anerkennung. Sie entsprach einer Tendenz der Philologie jener Zeit. in
Texten überall Oberschichtungen. Spätredaktionen und Montagen zu se-
hen. wie man sie in der Tat in Textbüchern fürs Theater. aber auch im
Schrifttum der Spiltantike oft entdecken kann. Er nahm also an, daß auch das
Textbuch Schikaneders mit diesen Mitteln fabriziert wurde. Heute ist man
Goethe und Mozart ~ das Problem Oper 117

von dieser einstmals herrschenden Meinung abgerückt. Auch ich habe sie
schon in meinem Aufsatz zur )Zauberflöte< aus dem Jahre 1947 bezweifelt. 2
Die Handlung beginnt bekanntlich damit, daß der junge Fürstensohn
Tamino sich auf der jagd verirrt, von einer Schlange verfolgt und durch drei
Damen gerettet wird, weiche die Schlange töten. Es stellt sich heraus, daß es
die Königin der Nacht ist, welche ihn beschützt hat. Mir scheint - auch wenn
es mir bisher nie in Auffuhrungsinterpretationen begegnet ist -, daß es der
Einbruch der Nacht selber ist, der als das Rettende in mythischer Gestalt
erscheint, und daß die drei Damen mit ihren silbernen Pfeilen das erste
Funkeln der Sterne sind, die dem Bedrängten den rettenden Schutz der
Nacht anzeigen. Ich könnte mir denken, daß sich das auch szenisch verwirk-
lichen ließe: durch Verdunkelung, Erscheinenlassen der ersten Sterne und
schließlich des ganzen Sternenhimmels. (Die Inszenierung von Johannes
Schaaf in Salzburg ist dem sehr eindrucksvoll nahegekommen, wenn er die
Königin der Nacht in einem geradezu gleißenden Mondlichte erscheinen
läßt.)
Die Handlung ist in Wahrheit eine Abfolge von Unwahrscheinlichkeiten.
Im ersten Akt erscheint die Königin der Nacht als die durch eine fremde
GegenII).acht erbitterte Frau. Ihr Gegner Sarastro hat ihre Tochter Pamina
geraubt. Der böse Räuber erscheint später jedoch als der edle väterliche
Beschützer Paminas, und er ist der Führer der Eingeweihten in den Tempel
der Weisheit. Dieser Wechsel in der Wertung Sarastros innerhalb der Hand-
lung hat die sonderbarsten Konstruktionen von seiten der Interpreten her-
aufbeschworen. Sarastro wird da als der abgewiesene Liebhaber Paminas
ausgegeben, der schließlich zum Verzicht reift und das junge Paar in seinen
geheimen Kreis der Eingeweihten einführt. Pamina wird in anderer Sicht als
ein um seine Befreiung kämpfendes junges Mädchen gedeutet, das durch
eben diesen bösen Sarastro und seinen )Schutz< an der wirklichen Befreiung
des Weiblichen vom Druck der männlichen Welt gehindert wird und am
Ende klein beigibt.
Wie sind die Widersprüche des Librettos zusammenzubringen? Es handelt
sich eben um ein Märchenspiel. Die Logik des Märchens aber ist die Ver-
wandlung. Und da scheinen doch einige recht verständliche Verwandlun-
gen ineinanderzugreifen. In der Mitte der Handlung wird deutlich, daß die
Königin der Nacht eine Art Erbstreitigkeit mit dem sterbenden König der
Sonnenwelt hatte. Sie hatte über das Ganze der Welt herrschen wollen,
während der König seine Tochter und die Herrschaft über die Sonnenwelt,
den )Sonnenkreis<, Sarastro und seinen Freunden durch letzten Willen über-
geben hat. Also kein Raub eigentlich, sondern Ausführung eines Vermächt-
nisses.

2 Siehe .vom geistigen Laufdes Menschen<, Teil 2, in diesem Band. S. 80ff.


118 Goethe und Mozart - das Problem Oper

Zweifelhafter ist, ob hinter dem )Raube Sarastros noch ein anderes Motiv
lauert - daß er hoffte, die Liebe Paminas zu erringen; als er dabei scheitert,
scheint er freiwillig zu verzichten. Es gibt eine Stelle im Textbuch, die sich
so deuten läßt ("Zur Liebe will ich dich nicht zwingenee). Sicher lag esjedoch
nicht im Interesse des Textdichters und des Komponisten, Prozesse des
Reifens an einzelnen Personen zu schildern. Es sind vielmehr die Stufen der
Liebe selbst, es ist die menschliche Passionsgeschichte, die den eigentlichen
Faden der Handlung bildet. Und so steht am Anfang die Mutterliebe und die
elementare Liebe der Tochter zur Mutter. Sodann wird uns sowohl die
Verwandlung und Umkehr Paminas als auch die Taminos geschildert.
Beiden werden gleichsam die Augen geöffuet, und offenbar ist es die kei-
mende Liebe zwischen den bei den, die mit der berühmten Porträt-Arie des
Anfangs einsetzt und sich schließlich mit der Prüfung und Aufnahme in den
Kreis der Eingeweihten vollenden wird. Stufen der Liebe, Erwachen der
Liebe, Verwandlung der Welt durch das Wissen, geliebt zu sein. Gewiß sind
es Märchenmittel, mit denen sich diese Logik darstellt. Schließlich versteht
man die Prüfung der Verschwiegenheit als Vorbereitung für die Aufgaben
des Mannes in der Gesellschaft, und man bewundert Paminas unbeirrte
Treue als Beweis der sittlichen Bindungskraft der Liebe, die zur Gründung
der Familie führt - wir werden sehen, daß genau an diesem Punkte Goethe
weitergedacht hat.
Wie alle Märchen in der Häufung ihrer Unwamscheinlichkeiten eine
verborgene Sprache der Weisheit reden, so ist es auch in der )Zauberflötee.
Wenn wir die nicht eben kunstvoll, aber sehr theatergerecht geführte Hand-
lung verfolgen, dann sehen wir doch, wie die Zeichen für die Liebesge-
schichte der beiden oder besser für die Geschichte der Liebe gesetzt sind. Wir
sehen, wie das junge Mädchen zunächst durchaus noch elementar zur Mut-
ter zurückstrebt. Sie ist offenbar noch nicht wirklich von dem verwandeln-
den Funken der Liebe erleuchtet. Aber als das geschehen ist, da zeigt sich
plötzlich alles in einem neuen Licht. Sarastro, als Repräsentant der Geistes-
ordnung gegenüber der elementaren Mutterbindung, erscheint nun in seiner
beschützenden und führenden Rolle und in überlegener Würde. Er wird das
Liebespaar durch alle Prüfungen führen und in den Kreis der Eingeweihten
erheben.
Elementare Zuneigung muß sich zu sittlicher Bindung erheben, das ist der
Sinn der Prüfungen des jungen Paars. So versteht man Paminas Szene mit
dem Dolch und der letzten überwindung des nur Elementaren in der
Todesbereitschaft. Pamina wird geprüft, ob sie entschlossen ist, lieber nicht
zu leben, als sich trennen zu lassen von dem, den sie liebt. Auch das dürfte
nicht nur in Märchen vorkommen. Ahnliches gilt für die Prüfungen von
Tamino, in denen sich männliche Entschlossenheit als staatserhaltende Kraft
bewähren soll.
Goethe und Mozart"'" das Problem Oper 119
Goethe hat den in der ,Zauberflöte< dargestellten Stufen weg der Liebe um
eine neue Phase weitergedacht. Auch in seiner Fortsetzung erscheint die
Königin der Nacht als eine der Grundpotenzen im seelischen Erfahrungsbe-
reich der Menschheit: das Dunkel, sein Geheimnis, seine Gefahr und sein
Reichtum, und auf der anderen Seite die durch Sarastro verkörperte Hellig-
keit des Gedankens und des Geistes. Goethe wollte diese beiden Potenzen
noch einmal im Kam pfsich zeigen lassen, in dem Moment, da die Familie ihr
Dasein begonnen hat. Die Königin der Nacht will das Kind rauben, das aus
der Ehe hervorgegangen ist. Zwar bleibt es den Eltern erhalten, aber es ist in
einem Kasten verschlossen, den man nicht öffnen kann. Der Kasten muß
immer bewegt werden, damit das Kind am Leben bleibt: .. Solang ihr wan-
delt,lebt das Kind.« Nun wahrlich, jedes neue Lebewesen, das plötzlich zum
Ziel aller Sorge und Fürsorge durch seine Eltern wird, ist ein in sich ver-
schlossenes Geheimnis. Das so pflanzenhaft verschlossene Kleinkind ist eine
ganz neue, andere Sorge, als was in den Schwingungen der Liebe zwischen
den Liebenden hin und her webt ... Solang ihr wandelt, lebt das Kind«.
Goeth'e schildert, wie am Ende des langen Kampfes zwischen Dunkelheit
und Helle die elementare Macht, welche die menschliche Natur beherrscht,
im Wunder der Sprache und im Tausch der Worte zu einer neuen Freiheit
aufsteigt. Das Kind hebt beim ersten Wechsel der Worte mit seinen Eltern
alle Feme auf-und steht zu neuen Fernen auf. Am Ende erhebt sich aus dem
Dunkel des Naturseins die Offnung des Geistes, ähnlich wie in Goethes
,Faust 11< Euphorion gen Himmel fliegt.
Ein neuer Kampf setzt ein, nochmals trennt sich in den Stufen der Liebe
das geliebte Kind von den liebenden Eltern. So hat in grober Linie Goethe
die Handlung weitergedacht. Nochmals wird in Goethes Erfindung das
Wesen der Prüfungen deutlich, wenn Sarastro selbst einer neuen Prüfung
ausgesetzt wird. Leben heißt geprüft werden, das hat Goethe als den eigent-
lichen Ansatz von Schikaneders Textbuch verstanden. Er hat es als Dichter
gelesen und weitergedacht. Dieses Weiterdenken zeigt freilich erneut den
Unterschied zwischen Dichter und Librettist, von Wortkunst und Ton-
kunst, und den Unterschied zwischen den Musen.
Um das zu verdeutlichen, lege ich zum Vergleich zwei Stellen aus Mozarts
,Zauberflöte< und aus Goethes Fortsetzung vor. In Schikaneders Textbuch
findet sich, was Goethe auf seine Weise aufgenommen hat. Es sind die
Geharnischten, die als Wächter für die gefangene Pamina aufgestellt sind,
und die Goethe in seiner Fortsetzung den Kasten mit dem Kind Taminos und
Paminas bewachen läßt. An dieser Übernahme eines Motivs mÖchte ich den
Unterschied zwischen dem Text eines Librettos und einem dichterischen
Text noch einmal konkret illustrieren. Man kennt die Verse der zwei Gehar-
nischten: »Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden,lWird rein
durch Feuer, Wasser, Luft und Erden;/Wenn er des Todes Schrecken über-
120 Goethe und Mozart - das Problem Oper

winden kann,lSchwingt er sich aus der Erde himmelan.lErieuchtet wird er


dann im Stande sein,/sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn. « Zweifellos
sind es ganz gute Verse, denen aber kaum daran liegt, rein dichterisch zu
überzeugen. Die Verse Schikaneders sollen nur darauf hinweisen, daß jetzt
die feindliche Welt abgewehrt ist und die Liebe über die Gegenwelt der
Nacht und Finsternis siegt. - Bei Goethe spielt das Ganze eine Generation
später, und die Geharnischten tauschen sich so aus: »Wird es Tag?/Vielleicht
ja./Kommt die Nacht?lSie ist da./Die Zeit vergeht./Aber wie?/Schlägt die
Stunde wohl?/Uns nie.« So lautet das Zwiegespräch der Geharnischten.
Darin stellen sich diese dämonischen Figuren vor, wie sie, die vom mensch-
lichen Leben Ausgeschlossenen, nichts von der Zeit erwarten und erhoffen
können. Und sie fahren fort: "Vergebens bemühetlIhr euch da droben so
viel./Es rennt der Mensch, es fliehet/Vor ihm das bewegliche Ziel.lEr zieht
und zerrt vergebens/Am Vorhang, der schwer auf des Lebens/Geheimnis,
auf Tagen und Nächten ruht. «
Diese Verse sind voll von Klang und Sinn. Für die Wächter da unten ist es
ein Geheimnis: der Wechsel von Tag und Nacht, das Geheimnis des Lebens
in seiner wechselhaften Unbeständigkeit und seinem Fortbestand zwischen
Wachsein und Schlafen, und vielleicht - als tiefstes Geheimnis - zwischen
Leben und Tod. All das deutet Goethe an, und all das ist in diesen Versen
Klang geworden. Es erhebt sich damit zu neuer Bewußtheit, was in dem
mythischen Kampf der ,Zauberflöte< zwischen der Königin der Nacht und
dem Sonnenreich liegt. "Er zieht und zerrt vergebens am Vorhang [... ] des
Lebens ... « Wie dieses »vergebens« im Vers steht und in seinem Reimwort
wiederkehrt - da wird nicht etwas gesagt, sondern da wird wirklich gezo-
gen. Das Ziehen und Zerren und seine Vergeblichkeit - in den Augen der
zeitlosen Wächter - ist leibhaftig da. Das ist Dichtung: es wird nicht nur
etwas gemeint, sondern das, was man meint, ist da im Vollzug - es zeigt
sich. ,
Goethe konnte gar nicht so dichten, daß etwas nur gemeint ist. Deshalb
hat die Musik hier keinen Raum, in dem sie mit den Wortklängen ganz
verschmelzen könnte. Dazu müßte es gewaltige Umformungen geben, wie
sie Schubert den Goetheschen Gedichten hat angedeihen lassen, und selten
sind die Fälle einer inneren Verschmelzung von dichterischer Sprache und
musikalischer. Daß Musik kann, was Dichtung allein nicht kann, schließt
nicht aus, daß auch der Musik der Ausdruck versagt ist, wo Dichtung ihre
eigene Macht entfaltet.
Meine heutige Rückkehr zu Mozarts ,Zauberflöte< und Goethes Fortset-
zung in diesem Mozartjahr mag meine ältere Arbeit von 1947/49 ergänzen.
Ich habe mich von neueren Diskussionen über das Werk belehren lassen, nicht
zuletzt durch das abermalige Dabeisein bei einer meisterhaften Aufführung
der ,Zauberflöte< anläßlich der diesjährigen Salzburger Festspiele. Was zieht
Goethe und Mozarr - das Problem Oper 121

uns nur immer wieder zu dieser Oper zurück? Gewiß hat gerade zu ihrem
Welterfolg durch die Jahrhunderte beigetragen, daß sie dem Humanitäts-
denken des sich ankündigenden bürgerlichenjahrhunderts entsprach, und es
mag in diesem Sinne etwas bedeuten, daß ohne jede psychologische Moti-
vierung das große Liebesduett der .Zauberflöte< nicht dem Liebespaar,
sondern den Ungleichen, Pamina und Papageno, in den Mund gelegt ist:
einer zur Liebe erwachenden Seele und einem sinnenfrohen Naturmen-
schen. Der Höhenflug der Haupthandlung wird an die Natur zurückgewie-
sen. Doch aufbeiden Ebenen läßt sich das Hohe Lied vernehmen: .. Mann
und Weib und Weib und Mann/Reichen an die Gottheit an.«
9. Das Türmerlied in Goethes >Faust<
(1982)

Die Generation, der ich selber angehöre und die mit dem Zusammenbruch
des Wilhelminischen Kaiserreiches die Kinderschuhe auszog, stand nicht im
Zeichen Goethes. Der wohltemperierte Bildungsstolz des Besitzbürger-
turns, das Goethe im zweiten Kaiserreich auf den Schild gehoben hatte, war
einem Krisenbewußtsein gewichen, das neuen Maßlosigkeiten zustrebte
und sich in der gepreßten Inständigkeit des späten Hölderlin, der damals erst
eigentlich zu sprechen begann, weit eher wiedererkannte als in der Gelassen-
heit des Olympiers. Das mag an ein paar bezeichnenden Anekdoten verdeut-
licht werden.
Von Heidegger, der damals durch das revolutionäre Pathos seiner Denk-
energie in seinen Bann zog, wurde berichtet, daß er eines Tages in der
Vorlesung ein Hölderlin-Gedicht vorlas und am Schluß sagte: »Das ist doch
ein Gedicht! Etwas anderes als das Reimgeklingel des alten Goethe.« (Später
hat auch er anders gesprochen.) Es mag in der gleichen Zeit, um 1930, als wir
alle in Hölderlin, George, Trakl lebten, gewesen sein, daß mir Bultmann,
der Marburger Theologe, einmal sagen mußte: »Wenn Sie erst älter sind,
werden Sie eines Tages Goethe entdecken.« Und so war es. Das Dritte Reich
kam dem zu Hilfe. Die Leichtigkeit und Natürlichkeit der Goetheschen
Sprache gewann, angesichts des Gebrülls der Bewegung, eine neue, stille
Macht. übrigens war sogar die Goethe-Gesellschaft nicht einmal richtig
gleichgeschaltet. So sollte Bultmann auch für mich mehr und mehr recht
bekommen.

Rückkehr
In Wahrheit war es eine Rückkehr, ein Wiederfinden. Ich war wohl gerade
18 Jahre und kaum aus den Entwicklungsjahren heraus - man schrieb das
Jahr 1918. Mit Goethe war ich bereits durch die Schule bekannt gemacht
worden, auch mit seinem >Faust<, wesentlich im Stile des Spätklassizismus
unserer Schulkultur, als ich eines Tages - es war in Breslau - den großen
Reinhardt-Schauspieler Alexander Moissi ein mir wohlbekanntes Gedicht
Das Türrnerlied 'in Goethes .Faust, 123
vortragen hörte, und ich war wie verzaubert. Es war das Türmerlied aus
Goethes .Fauste 11. Teil, das die dramatischen Schlußszenen mit der Phile-
mon-und-Baucis-Tragödie einleitet:
Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen, gefallt mir die Welt.
Ich blick' in die Feme, ich seh' in der Näh'
Den Mond und die Sterne, den Wald und das Reh.
So seh' ich in allen die ewige Zier
Und wie mir's gefallen, gefall' ich auch mir.
[hr glücklichen Augen, was je ihr gesehn,
Es sei wie es wolle, es war doch so schön!

Ich bin einigermaßen ratlos, wie man diese Verse heute lesen soll. Pathos ist
im Zeitalter technologischer Unterkühlung nicht mehr am Platze, und
Verse sind es überhaupt auch nicht mehr. Aber selbst damals hatte der vom
zeitgenössischen Naturalismus und von der allgemeinen Psychologisierung
beherrschte Theaterstil die Verskunst und ihren Vortrag bis zur Unkennt-
lichkeit zersetzt - und da kam Moissi und )sange dies Türmerlied so, daß die
Süße dieses Melos einen ganz gefangennahm.
Nun soll esja wirklich ein Lied sein, und niemand, der diesen Eingang der
dramatischen Szenen im 5. Akt von .Faust He liest, kann sich darüber täu-
schen. Die Weise, wie der Türmer Lynkeus plötzlich die Feuersbrunst
gewahrt, die das idyllische Glück der beiden Alten Philemon und Baueis
zerstören wird, und wie er in jagenden Versen das schreckliche Geschehen
schildert, geben dem Lied selber einen einzigartigen Nachklang, den Ton
eines unwiederbringlichen Verlustes, eines unwiderruflich gestörten Frie-
dens - und doch bleiben diese Verse zugleich eine überwältigende und
gültige Preisung des Glücks des Schauens und der Schönheit der Welt. Es
sind Verse, die nie ganz verklingen.
Wie können Verse so zaubern? So sein und so zeigen, so sagen und so
verneinen? So singen? "Gesang ist Dasein.« Aber wie ist dieser Gesang da?
Allein durch das Wort. Diese Verse als einen Text lesen, zu dem es eine
Melodie gibt oder verschiedene mögliche Vertonungen, ist schon ein Miß-
verständnis. Sie sind bereits Ton. sind selber Gesang. und das war es. was
mein unerfahrenes Ohr an Alexander Moissis Vortrag derselben erfaßte. Da
bleibt keine Wahl möglicher Vertonung oder Betonung - es ist. als ob die
Sprache von sich aus sänge. nach ihrer eignen Melodie.
Nun sprechen wir von Sprachmelodie auch dort, wo die Sprache nicht
singt. wo sie nicht liedhaft ist. und so fragt man sich. welche besonderen
Züge die Sprache des Liedes auszeichnen, das nicht einen Liedtext darstellt,
sondern selber schon Lied ist. Es ist nicht nur das Gewebe aus Klang und
Sinn als solches, nicht Metrum und Reim und Binnenlautung, die auch sonst
124 Das Türmeclied in Goethes .Faust.

die lyrische Grammatik gegenüber der logischen Grammatik auszeichnen.


Das ist zwar alles da, überall, wo es sich um Vers und Dichtung handelt -
aber wie wird es zum Liede? Und gar zu einem Liede, das das schon ist, auch
wenn kein Tonsetzer sich daran versucht?
Es gibt ja genug Goethesche Gedichte, die Liedform haben und obendrein
Liedtext geworden sind: )Gretchen am Spinnrad< zum Beispiel oder .Sah ein
Knab' ein Röslein stehn<. Die Vertonung Goethescher Lieder und Gedichte
ist ohnehin ein merkwürdiges Kapitel, wenn man bedenkt, daß Schuberts
Vertonungen, die die ganze Welt als unsterbliche Meisterwerke bewundert,
von Goethe selbst etwa den Zelterschen und Reichardtschen Vertonungen
nachgesetzt wurden. Und gewiß hat Georgiades, der unvergessene Münch-
ner Musikhistoriker, recht, wenn er in seinem Schubert-Buch1 sagt, daß
gerade Schuberts Liedkompositionen eine Art besonderer Unterordnung
unter die dichterische Sprache zeigen, die seine Vertonungen auszeichnet
und etwa· von denen Beethovens unterscheidet. Trotzdem ist die Umset-
zung der Sprache in Musik, ihren Rhythmus, ihre Intervallgesetze, die ihr
wesenhaft zugehörige Möglichkeit der Polyphonie, immer etwas anderes als
das Klingen des Liedgedichts in seiner eigenen Melodie.

Lied aus Sprache


Auch das Türmerlied ist ein Lied aus Sprache und nicht aus Tönen, liedhafte
Sprachbewegung und kein Singen. In dem Theaterstück - der Faust-Tragö-
die - ist es ja selbst ein gespieltes Singen, das Gespieltsein eines Singenden
mit seinem Gesang. Als Moissi diese Verse )sang<, war er freilich nicht auf
der Bühne, sondern auf dem Podium, und so war es nur der Gesang, was da
erklang. Aber so lesen wir ja auch heute noch das Gedicht als den Text -
ebenso wie der Schauspieler Moissi den Text, auch wenn er fast sang, doch
sprach. Das aber heißt, er gehorchte den Worten des Textes, wie wir alle
tun, wenn wir die Worte hören. Auch wir horchen auf sie, wie sie von selber
erklingen. Der wirklich Singende spricht überhaupt nicht, sondern ftihrt
den ihm vorgegebenen, vielleicht sogar im Notentext fixierten Gesang zum
Erklingen. Was tut der, der ein Lied spricht, das heißt liest und sich selber
vorspricht oder vor anderen vorträgt? Woraufhorcht er? Wem gehorcht er?
Gewiß dem Metrum, gewiß auch den Reimen. Beides sind gleichsam die
Taktschläge dieser Musik der Worte. Aber die Worte selbst, ihr Ineinander
von Bedeutung und Klang, die Sprache selbst, ihr Ineinander von Sinn-
Aussage und Klangmelodie - wie füllen sie diese Takte? Was ist die Kunst,
die unerlembare Harmonielehre, die den Dichter macht? Nun, auch hier
sind Intervalle - nicht nur in der wirklichen Musik - freilich, sie sind nicht
1 THRASYBOULOS G. GEORGJAD2S, Schuben: Musik und Lyrik. Göttingen 21979.
Das Türmcrlicd·in Goclhcs .FausI' 125

kalkulierbar. Es sind Intervalle - und solche von fühl barer Genauigkeit: vom
Sehen zum Schauen, von der Naturhaftigkeit des Geborenen zum bestellten
Beruf, von der Strenge der Pflicht, die den Türmer an den einsamen Platz auf
dem Turme bindet, zur Freude am Ganzen der Welt. Das sind Tonschritte,
Denkschritte, Tanzschritte des Seins, die einen einzigen Einklang bilden.
Das Bauprinzip ist auch weiterhin das der Polarität - zwischen Ferne und
Nähe, zwischen den Gestirnen und dem nächsten Umblick, zwischen der
immer nahen, schweigenden Schattenwand des Waldes und dem seltenen
Anblick friedlich äsenden Wildes, das aus ihm hervortrat - ein Ganzes von
Sein, das auch in der Stimmftihrung der Wortklänge das Weite und die Nähe
wie in einer Kantilene vereinigt. Wie »Ferne« und »Sterne« ins Unbestimm-
te der Weite verklingen, wie »Näh'« und •• Reh« das fast schreckhafte Jetzt
eines s9lchen flüchtigen Anblicks Klang werden lassen - und dann folgt wie
ein großer choralartiger Abgesang die gedankliche Anwendung, die wie in
einem Sinnspruch endet: •• Es sei wie es wolle, es war doch so schön!«
Die »ewige Zier« läßt unmittelbar die protestantische Choralsprache an-
klingen. Man wird wie Gerhart Hauptmanns Hannele •• die Zinnen der
ewigen Stadt« mithören. Das Ganze nimmt damit eine Wendung in die
Allgemeinheit einer Reflexion, die die beiden Schlußstrophen ausfüllt. Dazu
stimmt, daß in die ruhige Symmetrie dieses Metrums eine leichte, immer
wieder auf den Leser überspringende Unruhe kommt. Der Sinn-Akzent
folgt nicht mehr völlig der metrischen Vorzeichnung. Denn wie man es auch
wenden mag, der Gedanke ist doch der, daß, indem die Dinge mir gefallen,
ich mir selber gefalle. Es ist ein echt Goethescher Gedanke einer fast heidni-
·schen Selbstbejahung und Selbstversöhnung - aber gewiß gegen das Me-
trum: »Wie mir's gefallen, gefall' ich auch mir.« Weder das •• und wie mir's
gefallen« noch das »gefall' ich« tragen den Ton, sondern das »mir« in .. wie
mir's gefallen« und das »ich« in •• gefall' ich auch mir«.
Gewiß, es ist keine harte Zumutung. Irgendwie hält sich das Metrum im
Hintergrunde durch, aber die gedankliche Umkehr, die man Reflexion
nennt, bildet sich in dieser Verschiebung des Bedeutungstones auf die Worte
»mir« und .. ich« unüberhörbar ab.
Nimmt die Schlußstrophe wieder alles ins Schwebende des Gesangestex-
tes zurück? Es scheint fast so, wenn man das wunderbare Ansteigen der
Kantilene aufnimmt: »Ihr glücklichen Augen, was je ihr gese/zn, es sei wie es
wolle -«. Hier sind die metrischen Vorzeichnungen mit der Sinnbewegung
in vollem Einklang und tönen im Ohre so nach. Aber zum Schluß meldet
sich erneut das Hin und Her des Gedankens. Denn da heißt es nicht nur, daß
am Ende, im Rückblick auf alles, waS war, es schön war. Diesem IIwar« ,
diesem Wort •• war«, das dem Metrum wie seiner syntaktischen Funktion
gewiß seinen starken Ton verdankt. folgt vielmehr ein .. doch«: es war doch
so schön! Ein Wort, das alles Gegen-Schöne anklingen läßt, bevor der
126 Das Türmerlied in Goethes ,Faust.

Sänger sich nach diesem »doch« und mit diesem »doch« zu seiner eigenen
Bejahung - wie in einem Schwur - bekennt. Es ist ein gewiß recht leichter
Gegenakzent, der die freudige Dauerhaftigkeit des »war« nur ganz leise zu
beunruhigen vermag. Der Ausgleich ist am Ende erreicht, das »Ja« scheint
unbedingt und siegreich.
Unbedingt? Siegreich? Die dramatisch-tragische Zerstörung dieses Ja
und dieses Friedens bricht mit grausiger Deutlichkeit herein und läßt - am
Ende der ganzen Faust-Tragödie - nur einem Erblindeten seine Illusionen.
Wenn er dem Klirren der Spaten lauscht, die sein Grab ausheben - was er
für Deicharbeit hält, die neues Land gewinnen soll-, träumt er davon, »auf
freiem Grund ein freies Volk« zu sehen. Mit der Selbsterlösung scheint es
am Ende nicht zum besten zu stehen. Ganze Chöre müssen aufgeboten
werden, um den seligen Büßer zu empfangen und zu geleiten.

Am Ende
Wissen wir es nun? Steht am Ende fromme Ergebung oder umgekehrt der
Sieg eines unerschütterlichen Glaubens an die Versöhnungskraft des Gei-
stes, an die Selbstversöhnung? Oder soll man gar verstehen, daß auch ein
blindes, bis zur Verblendung unwirkliches Bemühen immer Erlösung ver-
dient, insbesondere, wenn es sich der Selbstlosigkeit einer sozialen Tätig-
keit rühmen kann? Wissen wir es? Nein, wir wissen es nicht. Das Rätsel,
das Goethe sich und uns mit seinem )Faust< aufgab, ist nicht so einfach zu
lösen.
Am Ende lassen uns aber auch die Verse des Türmerliedes nicht ganz
ohne Antwort. Dies »Ja« zu allem und dieses »Doch« sind vielleicht nicht
die ganze Wahrheit, aber ohne sie ist auch anderes nicht seiner eigenen
Wahrheit fähig. Es ist wahrlich kein Ratschlag, was hier gegeben wird, den
ja doch keiner zu befolgen wüßte. Für wen gilt es nicht, daß er an seinen
Platz gestellt ist und daß er sich und alles, das Ganze, das da ist und das da
geschieht, annehmen muß - wie dieser Türmer? Wenn dessen Lobgesang
auf das Dasein erschallt, heißt das gewiß nicht, daß er noch nie zuvor
Zeuge von Schlimmem, von »greulichem Entsetzen«, geworden war.
Und auf der anderen Seite bleibt zu bemerken: Auch nachdem er Zeuge
der Katastrophe geworden ist, drängt selbst dieser Jammer ins Lied. Auch
da wird ausgesprochen, was immer geschieht. Der Türmer singt es (wie es
ausdrücklich heißt):
Was sich sonst dem Blick empfohlen,
Mit Jahrhunderten ist hin.
Das Tünnerlied in Goethes .Fauste 127
Dies »Jammerlied« - wie Faust es nennt - ist so wahr wie das, was des
Türmers Lobgesang pries. Und so lernen wir: Im Liede erklingt. was ist. Da
gilt kein Widerruf.
Und so mag des Lebens Erzklang
Durch die Seele dröhnen!
Fühlt der Dichter sich das Herz bang,
Wird sich selbst versöhnen.

Im Jahre 1947 hielt KarlJaspers eine. von moralischer Radikalität getrage-


ne, sehr kritische Goethe-Rede. Er folgte damit der vehementen, aus selbst-
quälerischer Gewissensprüfung erwachsenen Kritik des dänischen Denkers
Sören Kierkegaard, der Hegel und überhaupt den Idealismus der Goethezeit
vom christlichen Standpunkt aus angriff und der in unserem Jahrhundert in
Gestalt der ,Existenzphilosophie< Epoche gemacht hat. Auchjaspers, einer
der Repräsentanten dieser ,Existenzphilosophie<, sah in Goethes 'Selbstver-
söhnung< einen Mangel an existentieller Entschiedenheit. Ihm trat der große
Humanist Ernst Robert Curtius öffentlich mit erbitterten Worten entgegen
und warnte vor der Selbstgerechtigkeit, in die die Gebärde moralischen
Richtertums so leicht umschlägt. Wer hatte recht? Für mich bildete sich an
diesem Konflikt etwas von dem Rätsel ab, das Dichtung ist: wahr zu sein
über alle Einrede hinaus, und doch nichts zu sein, auf das man sich berufen
darf.
10. Die Natürlichkeit von Goethes Sprache
Ein Kongreßbeitrag
(1985)

Für uns alle gibt es einen Zugang zu Goethe, den wir nicht zu wählen haben,
sondern der alle unsere Begegnung mit ihm schon vorbestimmt. Wir haben
uns desselben nur bewußt zu werden. Er beruht darauf, daß· die Gestalt und
das Werk Goethes im Laufe der Jahrzehnte und nun bald Jahrhunderte seit
seinem Tod eine Prägung gewonnen haben, die ihrerseits Maßstäbe gesetzt
hat. Da müssen wir uns als erstes klarmachen, daß wir heute, im Jahre 1982,
ebensogut eine Jahrhundertfeier feiern könnten. Denn es war erst das Jahr
1882, das die dauerhaft bestimmende Wirkung Goethes eröffilete. Die poli-
tische Entwicklung Deutschlands, wie die politische Entwicklung der ande-
ren Staaten Europas, führte ,vom Weltbürgertum zum Nationalstaat(, um
mit Friedrich Meinecke zu reden. Das hob Schiller heraus, war aber dem
Weltbürger (boethe zunächst gar nicht günstig. Die letzten 15 Jahre seines
Lebens war Goethe zwar eine europäische Berühmtheit, jedoch alles andere
als ein deutscher Nationalhe1d. Sein Verhältnis zu seinen lieben Deutschen
war, wie man weiß, recht gespannt. Bezeichnend ist auch, daß der' West-
östliche Divan(, eines der Meisterwerke deutscher lyrischer Poesie, imJahre
1882 in erster Auflage noch nicht ausverkauft war. Erst damals, nachdem die
Gründung des Deutschen Reiches im kleindeutschen Sinne gelungen war
und sich konsolidiert hatte, trat die Bildungsfigur Goethe überhaupt ins
allgemeine Bewußtsein. Es war die Wiederaufuahme des Weimarer Erbes
durch die ganze junge Nation. Die große Goethe-Ausgabe, die sogenannte
Sophienausgabe, die damals begonnen wurde, gab der steigenden Entfal-
tung des Goetheschen Ruhmes im deutschen Kulturleben und in der Welt-
kultur großen Auftrieb.
Gleichwohl war auch in unserem Jahrhundert Goethes Werk und Goethes
Persönlichkeit durchaus nicht unbestritten. So ist es nicht ohne Inten:sse,
daß sich die Frankfurter Universität erst seit 1932 'Goethe-Universität(
nennt. So wurde 1932 auch der Goethe-Preis gestiftet, dessen erster Preisträ-
ger der Dichter Stefan George wurdel. Die politische Konstellation war

I Zu den Hintergründen der Verleihung des Goethe-Preises an Stefan George siehe


Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 129

klar: Der Dichter Stefan George verkörperte damals das Empfinden der
Edelkonservativen, die der Weimarer Republik, ihren Fragwürdigkeiten
und politischen Schwächen, mit Skepsis und Ablehnung gegenüberstanden
und die später mit ihrer Sympathie für das nationale Erbe in schrecklicher
Weise durch die Revolution des Nihilismus überrannt wurden. Stauffenberg
gehörte dem Kreise um George an und hat die gewaltige Täuschung der
Männer, die damals von einer Revolution von rechts träumten, mit seinem
Leben besiegelt. Daß nach 1933 Goethes Erbe von der nun zur Ohnmacht
verurteilten bürgerlichen Intelligenz allein getragen wurde, versteht sich
von selbst. Als wir 1949 hier in Frankfurt, wo ich als Professor tätig war, den
ersten Schritt zu einer Wiederaufnahme internationaler Beziehungen ver-
suchten, haben wir das Goethe-Jubiläum dieses Jahres dazu benutzt und
.Goethe und die Wissenschaft( als Thema gewählt. Das Thema •Wissen-
schaft( erlaubte eine über die Sprachschranken hinweghebende Form der
leichteren Wiederanknüpfung an die internationale Kultur. Wir hoben damit
die morphologische Tendenz, die in den Naturwissenschaften selbst ihre
Bedeutung besitzt, hervor und brachten Goethe als einen ihrer großen
Pioniere zur Geltung.
Die Wirkungsgeschichte Goethes ist immer eine Art Dokumentation der
jeweiligen Gegenwart, und so war es nicht zufällig, wie mir scheint, daß der
erste Vortrag des diesjährigen Kongresses - also wiederum 1982 - dem
Thema .Goethe und die Aufklärung( gewidmet war, injenem weiten Sinne,
den Herr Vierhaus uns gestern geschildert hat. Wiederum machte das eine
Grundströmung im eigenen gesellschaftlichen Bewußtsein unserer Tage
namhaft. Sie läßt sich vielleicht in der Erkenntnis zusammenfassen: Die
Epoche der "deutschen Bewegung« (Dilthey), in der von Goethe, von dem
deutschen Idealismus und von der Romantik aus die besondere Gestalt der
deutschen Geistesgeschichte ihr Gepräge erfuhr, war, wie Ernst Troeltsch
einmal gesagt hat, im großen Geschehen der neuzeitlichen Aufklärung
letzten Endes nur eine .Episode(.
Wenn ich für heute das Thema .Die Natürlichkeit von Goethes Sprache( in
Vorschlag brachte - gewiß nicht als ein Philologe, der ich auf diesem Gebiete
nie gewesen bin, sondern als ein denkender Leser Goethes -, so glaube ich
damit eine andere, wie ich meine, auch wirksame Grundströmung unseres
gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewußtseins ins Licht zu rücken. Das
Globale der Aufklärung, in der wir heute stehen, weckt neue Rückwirkun-
gen - es ist nicht mehr die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die gegen den
Druck der Kirchen und der Höfe gerichtet war, die uns heute bewegt. - Die
jetzt ERW1N WALTER PALM, Spuren in Frankfurt. In: H.-J. ZIMMERMANN (Hrsg.), Die
Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Heidelberg 1985 (Sup-
plemente zu den Sitzungsberichten der Heidelb. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Klasse, Jg.
1984. BelA), S. 73-76.
130 Die Natiirlichkeit von Goethcs Sprache

Aufklärung ist in dieser Richtung durchgedrungen. Heute ist es eine neue


Welle der Aufklärung, deren technische Auswirkung die Umgestaltung
unseres Planeten zu einer gesellschaftlichen Fabrik betreibt und die Grenzen
dieses Unternehmens bedrohlich sichtbar werden Ilßt. Was kann ihr Goethe
bedeuten? Wenn wir heute die Buchhändler fragen: Sie sind von der Nach-
frage nach Goethes Werken völlig überrannt, obwohl eine Fülle von Ausga-
ben zu diesem Anlaß auf den Markt gekommen sind. Nun wird der Markt
gewiß manipuliert, das wissen wir; wir Autoren machen uns da nicht allzu
viele Illusionen. Aber selbst um Geschäfte zu machen, muß man Grundten-
denzen des gesellschaftlichen Lebens richtig voraussehen. Und so scheint es
mir etwas zu bedeuten, daß Goethe heute, offenbar vor allem von einer
jüngeren Generation, wieder gesucht wird. Warum? Das ist gewiß, wie alles
gesellschaftliche Geschehen solcher Art, ein komplexer Vorgang. Aber eine
der Ursachen desselben ist, glaube ich, daß viele dieses Beinahe-Deutsch
nicht mehr aushalten, das heute in so vielen Bereichen der Wissenschaft und
des Journalismus gang und gäbe ist. Die natürliche Gelassenheit Goe-
theschen Sprechens hat aus solchem Kontrast heraus eine neue Einschlags-
kraft gewonnen. Für mich jedenfalls war es der Grund, mir heute die Frage
zu stellen, auf die ich keine Antwort geben will, aber die ich in einigen
Richtungen artikulieren möchte: Worauf beruht es, daß wir Goethes Spra-
che so ausgesprochen natürlich fmden?
Um an diese Frage heranzukommen, müssen wir uns zunächst an den
großen Wandel erinnern, der im Laufe der letztenjahrzehnte in der Einschät-
zung bestimmter Werte des Künstlichen und des Kunstvollen eingetreten
ist. Denken wir zunächst an einen länger zurückliegenden Vorgang: an die
Entdeckung des Barock. >Barock! - das war einmal ein Schimpfwort! So
habe ich es noch in der Schule gelernt, und noch beim Studium der Literatur-
wissenschaft hieß es etwa von der schlesischen Barockpoesie, daß sie ein
unerträglicher Schwulst sei. Heute ist sowohl der englische wie der schlesi-
sche dichterische Barock neben manchen anderen Formen der Barockkunst
in hohem Ansehen, und selbst noch für die Goethe-Forschung ist der Barock
zum führenden Forschungsthema geworden. Dasselbe lesen wir auf dem
Antiquitätenmarkt ab: Bescheidene Beamte können sich bestenfalls noch in
Biedermeier-Möbeln equipieren, aber nicht in BarockmäbeIn, die einfach
nicht mehr bezahlbar sind! Das waren und sind Wandlungen im Geschmack
und Stilempfinden, und solche Wandlungen spielen sich auch heute im
gesellschaftlichen Verhalten ab und markieren neue, nicht nur poetische,
sondern auch antipoetische Wendungen. Wie schnell ist etwa die ungeheure
Wirkung Hölderlins verklungen! Gewiß, er bleibt eine führende dichteri-
sche Figur. Man kann ihn geradezu den großen Klassiker des 20. Jahrhun-
derts nennen. Denn erst durch das 20. Jahrhundert, erst durch die Helling-
rath-Ausgabe, erst durch die Entzifferung der späten Hymnen ist Hölder-
Die Natürlichkeit von Goethcs Sprache 131

lin aus einer Randfigur zwischen Klassik und Romantik zu einem der großen
Gestirnc unserer Literatur geworden2 • Trotzdem wird heute zweifellos
Hölderlins Emphase - oder etwa dic Hcideggers oder Georges oder Rilkes -
nicht mehr so leicht akzeptiert. Ehcr schon kommen die leisen T6ne Hof-
mannsthals wieder an, eher schon entsprechen selbst gegenüber der kunst-
vollen Manieristik Thomas Manns die unmerklichen Biegungen Musilscher
Prosa dem Zeitgeschmack, der sich heute ankündigt. Es ist etwas, was tiefer
liegt, was sich hier vollzieht. Eine Art Abkehr von einer bestimmten Form
von Künstlichkeit scheint sich anzubahnen, ein instinktiver Widerstand - es
müssen nicht die Grünen sein, aber die Grünen sind ein Symptom. Sie
deuten ein tieferes Empfinden rur die Engen und Verwicklungen an, aus
denen herauszufinden unsere Lebensaufgabe und Oberlebensaufgabe sein
wird.
So möchte ich über die Natürlichkeit von Goethes Sprache ein paar Ge-
danken vortragen und ein paar Fragen formulieren. Natürlichkeit und
Künstlichkeit: Ich darf mit einer sprachlichen Frage beginnen. Schon das
Wort )Natürlichkeit( gibt zu denken. Wer hat eigentlich noch das rechte Ohr
dafür, daß )Natur( ein lateinisches Wort ist? So natürlich ist uns das Wort
geworden. Aber )Natürlichkeit( klingt verhältnismäßig spät; jedenfalls steht
es im Gestirne Rousseaus, durch den zuerst )die Natur( als ein Gegenwort
gegen den Rationalismus einer kahl gewordenen Aufklärung zu einem
Wert- und Leitwort geworden ist. So war es nicht ohne Rousseaus Einfluß,
daß auch die deutsche Entwicklung in der Epoche Goethes ihre neuen, dem
Barock gegenüber neuartigen Wege ging. Wieder läßt sich an etwas erin-
nern, was im allgemeinen Bewußtsein ist. Ich meine die Abkehr vom
französischen Gartenstil und die Wendung zum englischen Garten. Es ist die
Entdeckung der Natur in der Kunst der Gartengestaltung, die sich in dieser
Wendung abbildet.
Damit haben wir uns der entscheidenden Figur genähert, die im Positiven
wie im Negativen Goethes unvergleichliche Natürlichkeit der Sprache ent-
bunden hat. Ich meine Herder und die Entdeckung des Volksliedes. Daß das
plötzlich eine neue, große Wertfigur wurde, die Sangesweise der Völker, die
)Stimmen der Völker in Liedern(, daß die Kunst dieser Natürlichkeit etwa
der schottischen Ballade oder in all dem anderen sonst, was Herder zusam-
mengetragen hat, für Goethe zu einer Art Vorbild und zungenlösender
Begegnung wurde, hat etwas Einleuchtendes. Aber es ist gewiß nicht alles.
Denn Herder selbst, dieser Entdecker der )Stimmen der Völker in Liedern.,
war im Grunde kein sanghafter, kein liedhafter Dichter überhaupt. Er war
im Grunde überhaupt kein Dichter, wohl aber der größte Redner der deut-
schen Klassik - selbst noch im Vergleich zu Schiller, dessen dichterische

2 Vgl. dazu .Die Gegenwärtigkeit Hölderlinsc. in diesem Band. S.39«'


132 Die Natürlichkeit von Goethes Sprache

Kraft dem Redner in ihm so viel verdankt. In Herder hat sich noch einmal, in
einer geradezu elementaren Weise, die Rhetorik in ihrer ganzen Wucht und
Weite, in dem Pathos der Kanzel und mit dem Atem eines sich im Unendli-
chen verströmenden Seelentums, vor uns ergossen.
Das ist nun genau der Punkt, von dem aus wir die Natürlichkeit der
Goetheschen Sprache umreißen können. In ihr scheint das Rhetorische bis zur
Unmerklichkeit abgedämpft. Man muß nur neben einem Wiederlesen von
Goethe ein paar Seiten Schiller lesen, um sich sofort dieser Besonderheit in der
Dichtweise Goethes bewußt zu werden. Schiller hat es gewiß nicht ohne
Seitenblick aufsich selbst in meisterhafter Begrifflichkeit als den Unterschied
der naiven und sentimentalen Dichtung formuliert. Damit wollte Schiller
selbstverständlich nicht eine platte Zuordnung Goethes zur naiven Dichtung
vornehmen; gewiß meinte er im Blick auf Goethe eher die Möglichkeit einer
Synthese des Naiven und Sentimentalen, die ihm selber verwehrt war..
Das ist in erster Annährung ein Hinweis auf die Natürlichkeit der Goe-
theschen Sprache. Ihre Auszeichnung ist, das Sangbare und das Sagbare in
Reinheit darzustellen. Goethe hat sogar gelegentlich zu sagen gewagt:
Schriftlichkeit ist immer schon eine Minderung von Wahrhaftigkeit. Ä.hnlich
hat er, auch in späteren Jahren und gewiß durch den Blick auf Schiller sehr
temperiert, von den »forcierten Talenten« gesprochen, die durch Nachden-
ken erzwingen wollen, was einem in Wahrheit nur aus einer gesteigerten
Form der poetischen Imagination und der Leidenschaftlichkeit der Rede von
selber zuströmen muß. Hier drängt sich die Frage auf, wie es eigentlich mit der
Augusteischen Dichtung und Goethe steht, wie mit Horaz? Daß Goethe die
Meisterschaft Horazens erkannt und ihn bewundert hat, ist kein Zweifel. Daß
er die Anakreontik zu schätzen wußte, ist zumindest in der Jugendzeit sehr
deutlich. Wir haben gestern ein Lied gehört, das aus seiner späteren Zeit das
gleiche bezeugt. Trotzdem scheint mir in allen Reflexionen Goethes eine
eingehendere Würdigung von Horaz eigentlich zu fehlen, und ich meine, das
ist sehr zu verstehen. Wer Horaz liest, der muß sich - wie soll ich das nennen-
in einer Art von höchster literarischer Puzzlekunst einüben. Die Ordnung der
Worte im Horazischen Vers ist von einer so bewußten und eleganten Künst-
lichkeit, daß es bei aller Unmittelbarkeit Horazischer Sprachgewalt und bei
aller Magie der sprachlichen Melodik immer eine Ordnung von kunstvollen
Kontraposten ist, in denen sich die ,Rede< eines Horazischen Gedichtes zum
Gedicht gestaltet. Mir scheint das Liedhafte, das Sanghafte, das Goethes
Gedicht auszeichnet, von diesem Ideal der Horazischen Dichtung sehr weit
entfernt. Das soll nicht etwa dem einen vor dem anderen den Vorzug geben,
aber es macht ein anderes Kunst-Ideal sichtbar: das Kunstvolle, das etwa im
Zeitalter des Naturalismus einen Stefan George in Horaz ein großes Vorbild
sehen ließ - es war eine ähnliche Goldschmiedehandwerkskunst, die er in der
Formung seiner dichterischen Verse bewies.
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 133

Um die Natürlichkeit von Goethes Sprache zu verstehen, hilft es, sich der
begrifflichen Hintergründe zu versichern, die im Wort >Natur' anklingen.
Die Konturen eines Begriffs zeichnen sich an seinen Gegenbegriffen ab.
Denn Begreifen ist Unterscheiden. So drängen sich mir Natürlichkeit und
Natur in zwei Gegensätzen auf, die hier bei Goethe dem Begriff der Natur
seinen Kontur geben: >Natur und Kunst, und >Natur und, - kann man es
überhaupt auf deutsch sagen? - >Geschichte< oder >Gesellschaft< oder gar
>Geist,? Ich will lieber die Karten aufdecken und griechisch reden: Dann
heißt es >Physis, und >Techne< (für Natur und Kunst); >Physis, und >Ethose
(für Natur und Gesellschaft). Beide Komponenten können uns etwas tiefer
in das Begreifen der Kunst der Natürlichkeit hineinführen, die das Goe-
thesche Werk und Wesen auszeichnet, und zwar nicht nur das Gedicht, auch
seine Prosa. Ich nannte nicht umsonst neben dem Sangbaren das Sagbare.
Gerade auch an den Erzähler Goethe sollten wir in diesem Zusammenhang
denken - und an sein geselliges Talent, das von seinen Jugendtagen an seine
Zeitgenossen faszinierte.
Die Unterscheidung von Natur und Kunst spielt gewiß hier die wichtigste
Rolle. Goethe selbst hat zwar, insbesondere nachdem er durch Schiller in
eine gewisse Begriffssprache eingewöhnt worden war, die von der Kan-
tisch-Fichteschen Philosophie ausging, gelegentlich über das Verhältnis VOn
Natur und Kunst reflektiert, aber das ist meistens in späteren Jahren. Dage-
gen gibt es ein Zeugnis für die ursprüngliche Form, in der Goethe seine
elementare Sangfähigkeit zu formulieren suchte, das aus früherer Zeit
stammt: Kad Philipp Moritzens >Bildende Nachahmung des Schönen'.
Goethe hat ja daraus einen wesentlichen Auszug in seine ,Italienische Reise,
aufgenommen und ausdrücklich bestätigt, daß es in der Tat auch seine
Gedanken gewesen seien. Was ist der Grundgedanke, von dem aus sich hier
das Verhältnis von Natur und Kunst darstellt? Wovon spricht die >Bildende
Nachahmung des Schönen,? Offenbar vom schaffenwollenden Bildungs-
trieb. Dieser damals viel gebrauchte Ausdruck stammt aus der Naturkunde.
Von hier aus soll er für Karl Philipp Moritz und Goethe zum Ausdruck
bringen, wie ein Gefühl der tätigen Kraft, die das Kunstwerk hervorbringt,
das eigentliche Wesen des Schönen ausmacht. Das ist bei Karl Philipp Moritz
ganz deutlich; da heißt es geradezu, daß »das Werk, als schon vollendet,
durch alle Grade seines allmählichen Werdens, in dunkler Ahndung, auf
einmal vor die Seele tritt, und in diesem Moment der ersten Erzeugung
gleichsam vor seinem wirklichen Dasein da ist; [... ] das Schöne hat daher
seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden schon
erreicht: unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins«. Daß
das Werk keine erstarrte Form ist, sondern die Formwerdung des Augen-
blicks und gestalterischen Entwurfs selber, das hat offenbar dem jungen
Goethe durchaus als eine angemessene Form seiner eigenen dichterischen
134 Die Natürlichkeit von Goethes Sprache

Erfahrung eingeleuchtet. Selbstverständlich steht die anhebende Genie-As-


thetik dahinter, und Kant hat später das Verhältnis von Natur und Kunst in
der .Kritik der Urteilskraft( als das Verhältnis zwischen dem Naturschönen
und der Kunst des Genies formuliert. Gerade diese dritte )Kritik< Kants hat
Goethe besonders überzeugt3 • Das Genie erscheint da als der »Günstling der
Natuf«, dem es gegeben ist, ohne Regeln und ohne Muster zu haben,
Regelgebendes und Musterhaftes zu gestalten. Die Kantische Wendung
vom »Günstling der Natur« ist nun in gewissem Umfange in den Gedanken
von Karl Philipp Moritz schon enthalten. Das schaffende Genie - der Aus-
druck fällt auch hier in diesem Zusammenhang - ist von der Art, daß
eigentlich nur die schöpferische Neubildung von Sprache das Eigentliche
der Dichtkunst darstellt: »Natur, in eine höhere Existenz gehoben«. Der
Leser ist gleichsam vor das Vorbild des Schaffenden gestellt. Seine Emp6n-
dungsfähigkeit - so nennt es Karl Philipp Moritz - muß der Gestaltungsfä-
higkeit so nahekommen (und das ist eine tiefe Einsicht), daß ein Gedicht erst
eigentlich da ist, wenn man es - wie wir so schön sagen - in- und auswendig
kennt, oder - um Goethe zu zitieren - daß man »in dem Kunstwerk wohnen,
es wiederholt anschauen und sich selbst dadurch eine höhere Existenz geben
müsse«. Darin liegt, daß die Zeitlichkeit des dichterischen Sagens trotz
ihrem Charakter der Sukzessivität, den wir aus den bekannten Laokoon-
Problemen Lessings kennen, trotzdem zu etwas wie einer Simultaneität,
einer wahren Präsenz geworden ist - so wie etwa eine Tanz6gur sich im
Nacheinander zur Präsenz ihrer Figur erst artikuliert. In der späten Refle-
xion, aus der ich eben zitierte, wird es geradezu als eine Einrede formuliert,
die abgewiesen werden muß, daß der Künstler danach streben sollte, daß
sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine. Gewiß wirkt es wie
Natur, aber weil es übernatürlich, nicht außernatürlich ist und in eine höhere
Existenz hineinweist. So ist das Verhältnis von Kunst und Natur für Goethe
zweifellos ambivalent: Die Natürlichkeit der Kunst bleibt ein höchster
Wertbegriff, aber gerade für die Kunst in der Kunst.
Wir werden sehen, wie sich das in dem Kunstvollen der Goetheschen
Sprache und in der Natürlichkeit seines künstlerischen Reichtums nieder-
schlägt. Aber um das zu können, müssen wir vorher die zweite Bedeutungs-
wendung im Begriff der Natur und des Natürlichen genauer entfalten. Dort
nämlich liegt, wie ich meine, das eigentliche Zentrum von Goethes N atür-
lichkeit. Um es mit einem Goetheschen Ausdruck zu sagen, es geht um das
Verhältnis von Natur und )Geselligkeit<. Die Sprache Goethes ist eine gesel-
lige Sprache. Auch an diese Tatsache lassen sich einige Fragen knüpfen.
Es gibt ein besonders schönes Zeugnis beim späten Goethe, und wir
werden noch darüber zu reflektieren haben, warum es gerade der späte

3 Siehe dazu .Goethe und die Philosophie<. in diesem Band. S. 61 ff.


Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 135

Goethe ist, der alle diese Dinge formuliert hat. Er verteidigt einmal- wie er
sie nennt - die »demütigen Phrasen". Er will damit sagen: Es gehört zur
geselligen Tugend, daß man den Leuten die Worte nicht grob an den Kopf
wirft, sondern etwa Ausdrücke wie »gewissermaßen" (das ist sein eigenes
Beispiel) gebraucht. Das sind Ausdrücke, welche eine Moderation geselliger
Art in den Ausdruck der eigenen Meinung bringen und das Rechthaberische
und Dogmatische des Behauptens mildem. Hier scheint mir auch ein Zen-
trum Goethescher Dichtweise berührt. Ebenso fmden wir ihn als Menschen
geschildert. Seine seltene Feinfühligkeit für die Empfindung des gegenwär-
tig Anderen half ihm , die Leute zu bezaubern; seine Art beruhte nicht zuletzt
darauf, daß er stets auf die gesellige Situation reagierte, in der er sprach. Wir
haben auch Berichte, daß er als junger Mann, wenn er in guter Laune war.
im Augenblick ein ganzes neues Drama vorspielen konnte. das nie geschrie-
ben wurde. und daß das einen hinreißenden Eindruck auf alle machte. Selbst
seine dichterische Begabung hatte also ihre gesellige Seite. Begriffsge-
schichtlieh gedacht steht hinter dieser geselligen Komponente von Sprache
und Rede das Verhältnis von >Physis< und >Ethos< - Natur und Sitte. Es ist
die Auszeichnung des Menschen. daß er sich nicht wie die Naturwesen sonst
in bestimmten formativen Zwängen zu seiner Entelechie. zu seiner Gestalt
bildet. sondern daß er sich selber bilden muß. Er hat, um mit Aristoteles zu
reden, >Prohairesis<. d. h .• daß er dies jenem vorzieht und sein Lebtag eine
lange Reihe solcher Vorzugsakte vollbringt, die ja ebensosehr Zurückset-
zungsakte sind (denn kein Vorzugsakt ist ohne eine Zurücksetzung, kein
Gewinn ist ohne Verlust). Aber eben dadurch bildet sich der Mensch zu
dem, was er ist. Das nannten die Griechen sein >Ethos<. diese aus übung und
Gewöhnung aufgebaute zweite Natur. die nicht mit der drohenden Gebärde
eines nie erfüllbaren Sollens. sondern mit der Selbstverständlichkeit eines
Habitus sich am Menschen ausprägt. die das ausmacht, was er so an sich hat
und was sein Charakter ist. Der Gegensatz. um den es hier geht. ist zuerst in
der aristotelischen Ethik als das Verhältnis von >Physis< und >Ethos< formu-
liert worden. Er scheint mir der Begriffshintergrund für die Möglichkeit
und Auszeichnung des Menschen. daß er sich kraft seiner Natürlichkeit
gerade zur geselligen Lebensform. zur Kunst der Geselligkeit und zur kunst-
vollen Gestaltung von Sprache. ja sogar bis zur Dichtung zu erheben weiß.
und eben darin so etwas wie eine gesteigerte Natürlichkeit zu gewinnen
vermag. Wie ist dies allgemeine Verhältnis in Goethes Sprache gespiegelt?
Ich möchte versuchen, ein paar Fragen zu stellen. an deren Beantwortung
durch Kundige wirklich etwas zu lernen wäre. Die eine ist: Welche Rolle
spielt die Muttersprache und. im besonderen. welche Rolle spielt die mund-
artliche Sonderheit der Muttersprache bei Goethe. also der Frankfurter
Dialekt? Man hört ihn ganz gewaltig. »0 neiche. Du Schmerzensreiche" ist
ein berühmtes Beispiel. Es gibt Äußerungen von Goethe, nicht so sehr über
136 Die Natürlichkeit von Goethes Sprache

den Dialekt, aber einiges über die Muttersprache. Es begegnet im Zusam-


menhang von Bemerkungen über die Bedeutung des Lernens fremder Spra-
chen. Da sagt er VOn der Muttersprache, daß für sie nichts anderes als Poesie
und leidenschaftliche Rede das Element sind.
Hier drängt sich eine andere Frage auf, die Frage nach der Bedeutung des
Französischen für Goethe. Daß das Latein für die gesamte Ausgestaltung
einer hochdifferenzierten Literatursprache eine besondere Aufgabe der
neueren Jahrhunderte war, ist ja allbekannt. So gäbe es gewiß nicht eine
deutsche Philosophensprache von wirklich zureichender Ausdrucksfähig-
keit ohne Kant. Aber das Latein stellt - bei allen Einflüssen, die es auf die
Ausgestaltung der Semantik und Syntax der deutschen Literatursprache
ausgeübt hat - für Goethe schon mehr eine allgemeine Voraussetzung der
sprachlichen Möglichkeiten des Deutschen dar. Dagegen spielte das Franzö-
sische im damaligen 18. Jahrhundert in der gebildeten Oberschicht eine
besondere und beherrschende Rolle. Man denke nur an Friedrich den Gro-
ßen. So hat Goethe selbst, vor allem durch seine Straßburger Jahre, in denen
er so entscheidende Einflüsse und Formungen erfuhr, eine hervorragende
Beherrschung der französischen Sprache erworben. Damit stellt sich die
Frage, ob nicht an der Natürlichkeit und Geselligkeit der Goetheschen
Dichtersprache und Sprachhaltung überhaupt die starke Gesellschaftlichkeit
eine Rolle gespielt hat, die der französischen Sprache nachgesagt werden
darf. Wir empfinden dieses gesellschaftliche Element am Französischen
immer und besonders, wenn wir etwa französische übersetzungen griechi-
scher oder lateinischer, deutscher oder gar spanischer Texte lesen. Da ist
plötzlich alles umstilisiert in eine Art von gesellschaftlichem Zeremoniell.
Ich frage mich, ob nicht das auffällige gesellschaftliche Timbre von Goethes
Natürlichkeit, das in seinen späteren Jahren geradezu etwas Zeremonielles
zeigt, den Einfluß der französischen Sprache verrät.
Aber wichtiger ist die zuerst gestellte Frage, die Frage des Dialekts. Ist
nicht auch der Frankfurter Dialekt, den Goethe im Alltag durchaus zu
sprechen liebte, von besonderer Qualität, und hat er in dieser Richtung auf
Goethes dichterische Ausdrucksxahigkeit gewirkt? Das schließt natürlich die
allgemeine Frage des Verhältnisses von Dialekt und Dichtersprache ein, wie
sie sich überall stellt. Wenn auch die Dialektsprachen im Vergleich zu der
entwickelten Literatursprache an Beweglichkeit und Differenziertheit weit
zurückstehen, ist die Frage doch die, wie jemand, der noch über seine
Mundart verfUgt, eben dadurch flir seinen Gebrauch der Hochsprache eine
höhere Beweglichkeit behalten mag, und zwar gerade durch die Spannung,
die zwischen den beiden ihn einnehmenden Sprechweisen besteht. Kann
man sich Luther vorstellen, ohne daß er lidern Volke aufs Maul sah«? Ich
selbst habe es stets als eine große Verarmung empfunden, daß ich den
Dialekt meiner schlesischen Heimat nie wirklich gesprochen habe, weil im
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 137

damaligen gesellschaftlichen Leben und dem entsprechenden Schulsystem


der Gebrauch des schlesischen Dialekts ganz und gar verpönt war. In Mittel-
und Süddeutschland war das gewiß etwas anders, und ebenso waren die
Rückwirkungen andere. Meine Frage geht nun auf die besondere Art der
Rückwirkung, die das Frankfurtische auf Goethe gehabt haben mag. Sicher
finden sich viele schwäbische Ausdrücke bei Schiller oder bei Hölderlin.
Aber hat es nicht etwas zu bedeuten, daß es Dialekte gibt, wo der leichteste
Austausch zur Hochsprache gegeben ist, und das ist gewiß im Mitteldeut-
schen, im Sächsischen, aber auch im gewissen Umfange im Hessischen der
Fall. Darf man nicht vermuten, daß dort die Natürlichkeit des sprachlichen
Ausdrucks und damit auch die Beweglichkeit in der Ausdrucksgestaltung
eine besonders günstige Vorbedingung findet? Wie gezwungen wirkt doch
noch heute derjenige, der das ihm natürliche Sächseln in seiner Sprechweise
vermeidet. Von der Beweglichkeit und dem produktiven Reichtum der so
natürlich wirkenden Goetheschen Sprache beginnen wir jedenfalls auch
durch eine besondere Veranstaltung gen aue Kenntnis zu gewinnen; ich
meine durch das Goethe-Wörterbuch, das seinerzeit durch Wolfgang Scha-
dewaldt angeregt wurde. Das war tatsächlich eine geniale Idee, die in unse-
rem gelehrten Alexandrinismus mehr als eine vornehme Ausnahme er-
scheint. Hier wird nachweisbar, daß ein Dichter von einer besonderen
Sprachfreiheit eine Biegsamkeit im Gebrauch der deutschen Sprache ge-
wonnen hat, die tatsächlich einzigartig ist. Die enorme Vielfältigkeit von
Bildungen, Umbildungen, leichten Verwandlungen, neuen Zusammenset-
zungen, überraschenden Vereinfachungen von Wörtern, die er geschaffen
und in dichterische Zusammenhänge eingebaut hat, gehört doch wohl gera-
de auch zu diesem Flüssigkeitsideal, diesem Im-Werden-Sein, das wir in
seinen poetologischen, mit Moritz geteilten Grundüberzeugungen antrafen.
Hier wirkt nichts wie ein Neologismus. Neologismen, Neuschöpfungen
von Worten, sind im allgemeinen von der Art, daß ihr Erfinder sie zwar
unentbehrlich findet, aber niemand sie ihm abnehmen will. Die Goe-
theschen Bildungen wirken durchaus nicht so. Nicht, daß man sie nachah-
men könnte, aber sie wirken in ihrer geradezu unnachahmlichen Einfachheit
wie von den Wogen der Sprache selber an den Strand geworfen. Hier würde
mich interessieren: Was bedeutet der Frankfurter Dialekt für die Beweglich-
keit und Natürlichkeit der Goetheschen Sprache? Ist sie im höheren Grade
integrierbar in die Hochsprache der Literatur?
Ich füge eine weitere Frage an: sie betrifft die unreinen Reime bei Goethe.
Sie spielen eine sehr große Rolle, und es scheint mir durchaus fraglich, ob
man recht tut, das wie eine Art Mangel zu sehen und nicht vielmehr als die
reinste Erftillung der Reim wirkung. Erleichtert nicht gerade dieses Mode-
rieren der genauen Entsprechungen die Einbindung des Reims in den
Sprachleib eines Verses, die für das dichterische Ganze die zwischen Gleich-
138 Die Natürlichkeit von Goethes Sprache

klang der Reimworte und Assonanz der Binnenvokalisation entscheidende


Vermittlung leistet? Die Leichtigkeit, die in die Goethesche Kantilene
kommt, beruht sehr oft auf der Unreinheit des Reimes, auf dem leichten
Hera bstimmen, das das andere Reim wort zeigt. Nur in seltenen Fällen wird
man das so frankfurtisch herleiten und so aussprechen dürfen, wie ich das
karikierend bei »neiche« und »Schmerzensreiche« vorhin tat. überhaupt ist
ja die Vokalisation immer in einem großen Spielraum angesetzt, der reiche
Variation erlaubt. So stellt auch der unreine Reim, wie mir scheint, sehr oft
gerade eine Öffnung ins Weite des Singens dar, in dem die Klanggestalt des
Verses sozusagen nachhallt4 •
Die gesellige Haltung des Menschen und des Dichters Goethe reicht noch
in weit wesentlichere Tiefen. Viele Forscher, zuletzt auch Emil Staiger,
haben viel über die Unstimmigkeiten in Goethes Werken gesprochen. Sie
haben mit Recht darauf hingewiesen. daß Goethe es eigentlich nicht liebte.
einen fertigen Plan zu machen und dann denselben sozusagen fahrplanmäßig
auszuführen. Das ist unzweifelhaft wahr, aber ist es eigentlich richtig und
nicht vielmehr von unserem Regeldenken her suggeriert. daß das der Grund
ist, warum Goethe in der Gestaltung seiner Charaktere oder in der Kompo-
sition seiner Handlung so oft Änderungen vollzogen zu haben scheint? Ist
das der richtige Zugang zum Phänomen? Um ein Beispiel zu geben: Staiger
hat einmal die Figur des Mittlers aus den) Wahlverwandtschaften( rur diese
These herangezogen. Dieser Mann erscheint am Anfang als ein Meister
seelischer Vermittlungen, ein wahrer Mittler, der überall, wo seelische
Konflikte sind, mit seiner natürlichen Seelenkenntnis und suggestiven Bega-
bung schlichtend und vermittelnd auftritt - und dann scheitert er mit seiner
Kunst an den komplizierten Tragödien, die sich in den >Wahlverwandtschaf-
ten( abspielen. Heißt das wirklich, daß sich Goethes Konzeption dieses
Charakters geändert hat? Ich glaube eher, daß Menschen eben unter beson-
deren Umständen wirklichen Veränderungen ausgesetzt sind und sich ganz
anders benehmen und ausnehmen. als man von ihnen gewohnt ist.
Stößt nicht vielleicht auch hier in den )Wahlverwandtschaften< die hohe
menschliche Kunst des Vermitteins, die dieser Mittler hat, angesichts ele-
mentarer Leidenschaftsstauungen an Grenzen und wirkt deswegen so platt
und hilflos? Man muß in der Wirklichkeit mit solchen Dingen rechnen. Aber
selbst wo die Unstimmigkeit als solche undeutbar scheint, darf man, meine
ich, mit dem Gesellig-Verbindlichen in Goethes Wesen rechnen. Man denke
an die Art, wie Goethe Reflexionen in sein erzählerisches Werk einbaut. Man
hat mir erzählt, daß vor wenigen Tagen hier an dieser Stelle Wolfgang
Hildesheimer bekannt hat, daß ihm die )Wahlverwandtschaften( unerträg-

4 Zum Melos Goethescher Verse vgl. auch meinen Beitrag über das Türmerlied in
Goethes ,Faust<, in diesem Band, S. 122ff.
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 139

lieh seien, weil Ottilie dort wie Goethe reflektiere. Gewiß, so ist es. Das ist
Goethe, daß er mit eigentümlicher Sorglosigkeit in den Erzählfluß seine
eigenen Reflexionen einflicht, manchmal den Charakteren glaubhaft ange-
paßt, aber durchaus nicht immer. Selbst wo es paßt, ist es immer wieder so,
daß wir im Lesen durchaus vergessen, daß es nicht Goethe selbst ist, sondern
eine seiner Figuren, die da reflektiert. Das entspricht dem Gelegentlichen,
Aper{:uhaften, Beiläufigen, das Goethe überhaupt als eine Grundattitüde
kultiviert. So hat es ihn offenkundig keinerlei Bedenken gekostet, Gedichte
aus dem )Wilhelm Meistere, die Mignon-Lieder, die Harfner-Lieder und
dergleichen, die im Romanganzen gewiß ihren besonderen Ort haben,
zugleich in die Reihe seiner Gesammelten Gedichte aufzunehmen. Es scheint
mir, daß etwas von der geselligen Natur Goethes sich überall auswirkt. Er
vermeidet nicht das Beiläufige und Gelegentliche. Er setzt den guten Willen
des Lesers voraus und die freie Zustimmung des Interesses des anderen, und
sie ist ihm wichtiger als die gestalthafte Geschlossenheit des Werkes. Es ist
eine Komponente des Offenlassens in ihm, die in die Tiefenerfahrungen des
Lebens hineinreicht. So mag es mit vielen der sogenannten Unstimmigkei-
ten in Goethes Werk stehen. Es geht mir dabei nicht um eine Goethe-
Apologie, sondern um eine Beschreibung dessen, was uns an Goethe merk-
würdig ist, ob wir wollen oder nicht, ob wir uns fern oder nah fühlen. Wie
vieles läßt er offen, wie vieles läßt er sich offen! Das hat seine moralischen
Kritiker herausgefordert - etwa im Stile von Kierkegaard oder ]aspers -,
aber verleiht dies viele Offenlassen nicht auch Goethes Dichtungen etwas
von ihrer geheimnisvollen Lebendigkeit und Tiefe? Viele der Goetheschen
Planwidrigkeiten scheinen mir dieser Haltung zu entspringen, die zwischen
den verschiedensten Sphären schweben läßt. Wenn wir mitten im Roman
eine Novelle eingebaut finden, dann nehmen wir das Ineinander-sieh-Spie-
geln der Romanhandlung und der im Roman begegnenden Erzählung, wir
nehmen all diese vielen Spiegelungen und Widerspiegelungen, die sich da
ereignen, als etwas mehr oder minder Natürliches. Ich gehe noch weiter. Ich
habe immer ein leises Mitleid mit denen, welche Goethes )Fauste in dem
Sinne verstehen wollen, daß sie sich fragen, wie sich eigentlich Goethe selbst
seine Umdichtung der Volkssage von Faust und wie er sich Fausts Erlösung
am Schlusse denkt. Mir scheint die Frage falsch gestellt. Die Frage setzt
voraus, daß Goethe jedenfalls irgendwann einmal doch endgültig eine ein-
heitliche und vernünftige Auffassung davon gehabt haben müsse, ob Faust
erlöst werden soll oder nicht und mit welchem Recht. Auch was mit
Mephisto geschehen soll oder nicht geschehen soll. Ich halte viele der zur
Faustdeutung vorgetragenen Vermutungen rur sehr interessant, etwa auch
Henkels Beitrag über die )Apokatastasise, die Wiederherstellung aller Dinge,
die auch Mephisto als den gefallenen Engel noch in die große Enderlösung
140 Die Natürlichkeit von G~thes Sprache

mit einbezieht5 . Ich halte auch andere scharfsinnige Faustinterpretationen


für fruchtbar, aber hat Goethe das, wonach hier gefragt wird, überhaupt
gewußt? Gerade das scheint mir Goethe, daß er die vielf'altigen Möglichkei-
ten des Deutens und des Verstehens nur eben antönt. Wir wissen, daß sich
Goethe entsprechend verhalten hat, und wenn man ihm über seine Gedichte
Fragen stellte, sich sehr gern geheimnisvoll und rätselhaft ausweichend
zeigte.
Es steckt in Wahrheit noch mehr in diesem Offenhalten als nur die
Weisheit eines sich dichterisch sozusagen ständig selbst entdogmatisieren-
den Dichters. Eines der tiefsten Motive, die immer wieder in Goethe anklin-
gen, ist seine rätselhafte Ineinanderflechtung von Liebe und Tod. Wir ken-
nen sie aus der großen Szene des ]ugenddramas ,Prometheusc, in der die
Tochter des Prometheus ihre Freundin in einer Liebesszene beobachtet und
ganz entsetzt zu ihrem Vater gestürzt kommt, was das denn war, was ihre
Freundin so gänzlich verändert hat. Nun antwortet Prometheus mit einer
wunderbaren Rede über dieses Sich-Erheben und Auflösen aller Dinge in
der Ekstase, und wenn man erwartet, er werde sagen: ,Das ist die Liebe<, sagt
er: ,Das ist der ToM5.
Und ein anderes Beispiel aus dem Gedicht ,Der Bräutigamc, ein rätsel-
haftes Gedicht des späten Goethe, das er seiner Schwiegertochter gegeben
hat. Es ist in den späteren Ausgaben überall aufgenommen. Es führt den
Bräutigam als Sprecher ein, der »um Mitternacht« - ist es im Traum oder ist
es in der traumgleichen Erwartung der kommenden Hochzeitsnacht? - in
herrlichen Versen sich aussagt. Aber wie endet das Ganze?

Um Mitternacht! Der Sterne Glanz geleitet


In holdem Traum zur Schwelle, wo sie ruht.
o sei auch mir dort auszuruhn bereitet,
Wie es auch sei, das Leben, es ist gut!

Die Erwartung des Liebesglücks und der friedvolle Vorblick auf das Lebens-
ende klingen hier im eigentümlichen Ineinander höchster Erhebung
menschlichen Daseinsgefühls zusammen. Es ist das gleiche Ineinander von
,Stirb und Werdec, das Goethe auf seine Weise immer wieder dem Alter und
dem Nahen des Todes wie eine ewige Auferstehung entgegengesetzt hat. Ist
nicht auch das natürlich?
Ich breche meine Fragen ab - es sind wirklich alles Fragen, die in die eine
Frage zusammengehen: Ist das nicht gerade die Natürlichkeit Goethes, daß
5 ARmUR HENKEL, Das Ärgernis Faust. In: V. DORR I G. V. MOLNAR (Hrsg.), Versuche
zu Goethe (FS Erlch Heller). Heidelberg 1976, S. 282-304. Jetzt revidiert in: A. HENKEL,
Goethe-Erfahrungen. Studien und Vorträge (Kl. Schriften 1). Stuttgart 1982, S. 163-179;
203-206.
e Vg!. .Vom geistigen Laufdes Menschen., Teil 1, in diesem Band, S. 87f.
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 141

er immer auch ein Geselliger ist und daß sich selbst seine Dichtung immer
wieder in die gesellschaftliche Wirklichkeit zurückstellt, in der sie ihre
mitteilsame Präsenz hat?
Es ist mir aufgefallen, daß, wenn Goethe, dieser große Könner im Dicht-
handwerk, über andere Dichter und Dichtungen spricht, er als sein Lieb-
lingswort das Wort »tüchtig« gebraucht. Das Wort bezeichnet eine Bürger-
tugend allererster Art. Sie wird von Goethe an allen Menschen, die sie
besitzen, nicht nur am Handwerker, auch am Dichter hoch geschätzt. Ich
meine, man spürt darin etwas von dem gesellschaftlichen Selbstbewußtsein
des Bürgersohnes einer freien Stadt. Wenn man Goethe mit seinen großen
Parmern im klassischen Zeitraum unserer Literatur vergleicht, so zeigt er am
wenigsten die Züge eines Fürstendieners, obwohl er am meisten ein Diener
eines Fürsten, ja ein Minister, gewesen ist. Die bürgerlichen Tugenden der
Tüchtigkeit, der Sorgfalt, der Verläßlichkeit des Könnens haben selbst die
dichterische Inspiration, die in Goethe so reichlich strömte, immer wieder
diszipliniert. Seine eigene Lebensbilanz ist, wie mir scheint, mit der Natür-
lichkeit seiner Sprache in engster Entsprechung. Das zeigt die gleichsam
beiläufige Rolle, die für ihn das Dichterische in seinem Lebenswerk darstellt.
Hier hat, wie ich meine, Staiger richtig gesehen, wenn er in Goethes >Tasso<
nicht allein in der Figur des Tasso das dichterisch-tragische Selbstbildnis des
leidenden Empfindsamen - der gewiß auch Goethe war - gesehen hat, dem
das Privileg war, »zu sagen, wie ich leide«, sondern daß auch Antonio dies
Selbstbildnis ist. Beide, der große Gegenspieler des realen Lebens und der
dichterische Träumer, der an der Wirklichkeit zerbricht, beschreiben erst
den vollen Umkreis Goethescher Lebenserfahrung. Zur Natürlichkeit der
Sprache Goethes gehört auch Maß und Mitte, mit denen er gesellschaftliche
Bedingtheiten.und inneren Aufschwung miteinander zu versöhnen wußte.
11. Bach und Weimar1
(1946)

Johann Sebastian Bach ist ein Kind des Thüringischen Landes, kein Rätsel
einer Schickung, die so oft das Genie unerwartet und unbegreiflich erwach-
sen läßt inmitten einer gleichgültigen Welt und aus einem gleichgültigen
Geschlecht. Johann Sebastian Bach ist in einem musikfrohen und frommen
Lande aufgewachsen, als Sohn einer Familie, in der sich seit Generationen
ein gediegenes Erbe musikalischer Gaben angereichert hatte, und noch seine
Söhne haben einen reichen Teil von dieser Mitgift ihres Geschlechtes bewie-
sen. Es war auch nicht eine Folge besonderer Fügung, daß Johann Sebastian
Bach in seinem schaffensfrohen Leben eine bedeutende Zeit in Thüringens
Hauptstadt Weimar tätig war - er kam im Jahre 1708 als Dreiundzwanzig-
jähriger an den Weimarer Hof als Organist und Konzertmeister und hat dort
neun Jahre gewirkt-, sondern frühe Bewährung in seinem Organistenberuf
und alte Heimatverbundenheit seiner Familie mit den Thüringischen Lan-
den und ihren Fürsten führten ihn auf die natürlichste und selbstverständ-
lichste Weise in diese Stellung. So hat denn Thüringen und seine Lan-
deshauptstadt ein unbestrittenes Recht, ihn als ihren treuen Sohn zu ehren
und zu lieben - auch wenn ihn auf nicht minder verständlichen Wegen sein
Genie über Köthen schließlich nach Leipzig führte und ihn dort zu der fast
sagenhaften Gestalt des Thomaskantors prägte, als der er in der Geschichte
der deutschen Kultur lebt. In unseren Tagen, in denen sich so viele ehemals
helle Sterne nationalen Lebens in ein von uns selbst verschuldetes und zu
tragendes Dunkel verhüllt haben, ist uns jedes Erinnern an unser eigenes
lebendiges Wesen, wie es die größten Söhne unseres Volkes gültig darstel-
len, besonders not, »daß in der zaudernden Weile, daß im Finstern für uns
einiges Haltbare sei«. Es lag nahe, bei einem Johann Sebastian Bach gewid-
meten Weimarer Musikfest insbesondere Bachs Weimarer Jahre in die Erin-
nerung zu rufen - sind doch diese Weimarer Jahre seines Schaffens die
entscheidende Epoche, in der er die riesige Spannweite seiner Talente in die
dichte Prägung seines eigensten Stiles zusammenfassen lernte und damit die

1 Die Rede regte KARL STRAUBE zu einem langen Brief an den Verfasser an, der in dem

Archiv für MusikWissenschaft. 14.Jg. 1957, S.138-144erschienen ist.


Bach und Weimar 143
ganze unermeßliche Fülle und Tiefe seines späteren Schaffens im Ansatz
vorentschied. Und wer hätte berufener sein können, durch das deutende und
darstellende Wort das Fruchtbar-Entschiedene dieser Jahre aufzuwecken, als
der Altmeister der deutschen Bachforschung und Bachpflege, Karl Straube?
Es ist für uns alle eine schmerzliche Enttäuschung, daß Karl Straube von
dem Vorhaben, diesen Beitrag zum gemeinsamen Gedenken an Bachs Wei-
marer Jahre zu leisten, aus Gesundheitsgründen zurücktreten mußte. An die
Stelle dieses einzigen Kenners tritt nun ein Beliebiger aus dem großen Kreise
der Liebhaber Bachscher Musik. Wir gehen damit alle der Belehrung verlu-
stig, die uns Straube zu dem Thema )Bach und Weimar< hätte geben können.
Er hätte uns zeigen können, wie in den Weimarer Jahren Bach die Ver-
schmelzung der Tradition niederdeutscher Orgelkultur mit dem effekt-
reichen Zauber der italienisch-französischen Opernkunst gelang, wie das
gewaltige Architekturwerk der Fuge mit den neuen Mitteln der Monodie,
dem Rezitativ und der Arie, eine Verbindung einging, die dem Zeitalter eine
völlig neue Dimension religiösen und künstlerischen Ausdrucks öffnete. Er
hätte darüber hinaus die künstlerischen und religiösen Kräfte aufzuzeigen
vermocht, aus denen Bach diese schöpferische Einung und Steigerung ver-
schiedenartiger musikalischer Traditionen gelang. Er wäre uns gewiß auch
nicht schuldig geblieben, die Ansätze der ins überlebensgroße ansteigenden
Werke der späteren Zeit Bachschen Schaffens in diesen Weimarer Jahren
nachzuweisen. Aufall das müssen wir hier verzichten, denn ich kann weder
als Musiker noch als Musikforscher sprechen, sondern allein als ein geden-
kender Liebhaber, der bei den Kennern auf alle Nachsicht, bei den Liebha-
bern auf freundliche Mithilfe rechnen muß. Dem gedenkenden Liebhaber
aber muß sich das Thema )Bach und Weimar< in seinem Sinne wandeln.
Bach und Weimar, bezieht sich das nicht noch in einem anderen Sinne
aufeinander als in dem der Bachbiographie und der Bachforschung? Benen-
nen diese beiden Namen nicht zwei tragende Pfeiler unseres ganzen geistigen
Seins? Weimar, das Weimar Schillers und Goethes, das einst auch das
Weimar Johann Sebastian Bachs gewesen ist, trägt es nicht wahrhaft allein
noch die Trümmer dessen. was wir sind? Mit ihm hebt unsere dichterische
Gegenwart an; was dahinter liegt. ist fast ausschließlich Vergangenheit. Die
Spannweite der geistigen Gegenwart eines Volkes aber entscheidet über die
Möglichkeit seiner Zukunft. Bedenkt man dies mit sorgendem und hof-
fendem Sinne, so beginnt einem sogleich auch das ungeheure GestimJohann
Sebastian Bachs aufzustrahlen. Denn seine Musik bezeichnet nicht minder
scharf und entschieden eine Grenze unserer geistigen Gegenwart. Wie im
Dichtel"ischen selten etwas hinter die großen Weimarer Dichter zurückreicht
- Luther und Lessing selbst sind uns kaum anders vernehmlich denn durch
die Sprachwelt unserer klassischen Dichtung -, so ist unser musikalischer
Vergangenheitshorizont durch das gewaltige Massiv der Bachschen Musik
144 Bach und Weimar

förmlich begrenzt, und nur wenige Kenner haben das rechte Ohr für Hein-
rich Schütz oder gar die großen niederländischen Zeitgenossen Martin Lu-
thers. ]ohann Sebastian Bach ist der erste der großen Klassiker der deutschen
Musik.
Das ist nicht als eine stilgeschichtliche Aussage zu verstehen. Der Begriff
der Klassik hat noch einen anderen, tieferen Sinn als den eines Stilbegriffs
(dessen Anwendung außerhalb seines geschichtlichen Ursprungsbodens im
sogenannten klassischen Altertum ohnehin voller methodischer Fragwür-
digkeit ist). Nach einem selbst klassisch zu nennenden Wort Hegels ist
klassisch »das sich selbst Bedeutende und damit auch sich selber Deutende«.
Dies Wort ist, sofort überzeugend, wenn man ihm eine geschichtliche Di-
mension unterlegt. Denn es kann ja nicht meinen, daß solche Selbstbedeu-
tung ein Wesenszug von Werken in der Art wäre, daß sie in geschichtsloser
Ewigkeit beharrlich sich selber aussagten. Es ist vielmehr ein Urteil über die
unerschöpfte Mächtigkeit, mit der ein Werk oder ein Meister in allen ge-
schichtlichen Wandel eingeht. Einer jeden Gegenwart will es freilich so
scheinen, als sei es ein Allgemein-Menschliches, das in Homer und Sopho-
kles, in Dante, in Shakespeare und in Goethe, in Bach und in Beethoven zu
uns spricht. Aber was ist das Allgemein-Menschliche? Was uns allen
menschlich dünkt, wird selbst erst bestimmt durch das gesammelte und in
unserem Bewußtsein zusammengehaltene Wort dieser großen Menschheits-
dichter. Wir selbst reinigen sie gleichsam von der geschichtlichen Einmalig-
keit und Vergänglichkeit ihrer Erscheinung, bis wir ihr reines Wesen als
unser eigenes, als das menschliche Wesen überhaupt gewahren. Klassisch ist
also nicht etwas von sich selbst her Bleibendes, sondern ein immer aufs neue
Belebtes, das immer neue Gegenwart fUr uns gewinnt. Wie Goethe und
Schiller, wie Beethoven und wie Bach. Denn auch die Musik des großen
Thomaskantors ist von einer für uns unerschöpflichen Gegenwärtigkeit, so
sehr sie auch Ausdruck eines fUrstlichen Zeitalters ist, das uns fremd wurde,
das die Sprache einer Glaubensfestigkeit spricht, von der uns eine Welt des
Zweifels oder der entschlossenen Eigenmächtigkeit trennt.
Daß das für Bach gilt, ist aber um vieles wunderbarer, als daß es fUr
Beethoven oder fUr Goethe und Schiller gilt. Denn diese genialen Individua-
litäten, Manifestationen des schöpferischen Genies der Neuzeit, haben mit
sich selber eine Kette unablässiger Wirkung, Schätzung und Nachfolge
eröffnet, die uns in die Gliederfolge ihres Fortlebens förmlich eingeschmie-
det hält, ja, sie selbst sind mit dem Bewußtsein tätig gewesen, ein neues
Bleibendes in ihren Werken und mit ihrem Wirken zu schaffen. Sie beseelte
ein Stifrungsbewußtsein von monumentaler Selbstgewißheit. Johann Seba-
stian Bach dagegen, bei allem Ansehen und Ruhm, die er erwarb,· wurde von
seinen Zeitgenossen und Nachfahren schnell vergessen, schneller noch ver-
gaß er sich selbst, indem er mit sorgloser Verschwendung immer neue
Bach und Weimar 145

Werke schuf, zu Gehör brachte und beiseite tat, wie ein redlicher Handwer-
ker, dem jedes Stück ersetzbar scheint durch neuen fleiß und neues Gelin-
gen. Und dennoch ist auch er in einem schöpferischen und bis heute unabge-
schlossenen Vorgang des Wiederfindens in jene Reihe der bleibenden. der
klassischen Meister der deutschen Musik eingerückt und gewinnt von Jahr-
zehnt zu Jahrzehnt an innerer Mächtigkeit in aller Welt. So wandelt sich uns
das Thema )Bach und Weimar< in eine Frage, die ebenso sehr auf die Gestalt
des großen Meisters der Töne zielt wie auf uns selbst. Wie geschah es. oder
besser: wie konnte es geschehen. daß auch er zum Klassiker wurde. zu einer
verbindlichen Gegenwart unserer Tage und einem Unterpfand der Zukunft
unserer Kultur?
Dabei will es ein Zufall- oder ist auch das mehr als ein Zufall? -. daß die
Geschichte seiner neu auferstandenen Wirklichkeit mit dem klassischen
Weimar verknüpft ist in ihrem Beginn. Forkel. der erste große Biograph
Bachs. dessen Werk 1802 erschien, bemühte sich, die »patriotischen Vereh-
rer echter musikalischer Kunst« rür das unschätzbare nationale Erbgut der
Bachsehen Musik zu gewinnen: Wie wäre solch ein Unternehmen auch nur
denkbar ohne das ansteigende Selbstbewußtsein der deutschen Art und
Kunst. das Goethe so machtvoll gegründet und durch sein eigenes Werk
befestigt hat? Und Goethes Musikfreund Zelter hat Goethe für Bachs Musik
zu derselben Zeit gewonnen, in der Mendelssohn die Matthäus-Passion neu
aufführte und damit die große Auferstehung Bachs eröffnete. die nun schon
über ein Jahrhundert wirkt. Daß es eine romantische Musikanschauung war.
die diese Bewegung trug, ist bis heute für die Bachpflege bestimmend
geblieben. Seelenvoller Ausdruck und machtvolle Dynamik. klangvolles
Aufrausehen eines sich selbst geheimnisvollen Lebensstromes: die Grundzü-
ge romantischen Musikerlebens sind zwar nicht der gültige Maßstab, mit
demJohann Sebastian Bachs Musik heute zu messen ist. aber sie bleiben das
Gegenmaß, an dem sich das abzeichnet, was Bach innerhalb der Klassiker
der deutschen Musik so einzigartig und so über alles hinaus gegenwärtig
macht.
Was ist es, woraus Bachs Musik heute so lebendig ist - was ist es, woraus
wir heute leben? Längst ist es nicht mehr die Herkunft aus schlichter lu-
therischer Frömmigkeit, die hier als Antwort genügen kann. Wahr ist es
freilich, daß Johann Sebastian Bachs Musik in ihren weltlichen und geistli-
chen, vokalen. und instrumentalen Formen aus dem gleichen reinen und
klaren Metall ist und überall Gottes Ehre meine. Wahr ist es auch, daß diese
Musik eine Musik der Innerlichkeit ist, wie sie nur auf dem Boden des
Christentums und seiner reformatorischen Erneuerung erwachsen konnte.
Aber ihre Gültigkeit reicht ebensoweit über diese ihre Ursprünge hinaus,
wie auch sonst die Geschichte der menschlichen Innerlichkeit über ihren
christlichen Ursprung hinausgeht. Es ist weit von der sich im Tonraum des
146 Bach und Weimar

gregorianischen Chorals aufbauenden Vielstimmigkeit der Niederländer bis


zu Bachs den Affekt der Worte in die Ordnung der Fornl fUgendem Aufbau
- weiter aber, als wir heute glauben, ist es noch von diesen baumeisterlichen
Werken des Thomaskantors zu den mächtigen Konfessionen Beethovens
oder Bruckners. Der Innenweg der modemen Seele hat manche Kehre,
kaum eine, die uns so an eine Umkehr mahnt wie das WerkJohann Sebastian
Bachs. Es ist eine Kunst von unerschöpflichem Reichtum des Ausdrucks,
die von der Innigkeit des sich mit sich unterredenden Gemüts bis zur
Äußerlichkeit tonmalerischer Nachahmung reicht. Aber weder das Aus-
drucksstreben einer sich in sich vertiefenden Innerlichkeit gibt ihr ihr Gesetz
noch gar das Reizwerk klang bildnerischer Effekte. Diese Musik steht an
Stimmungskraft keiner anderen nach, und doch ist sie in ihrem Wesen
verkannt, wenn man sie als Ausdruck von Stimmungen oder Gefühlen
auffaßt und auslegt. Auch wo sie sich bis zum dramatischen Gespräch
agierender Menschen erhebt, wie etwa in der Passionsmusik, oder zur
Zwiesprache der trostsuchenden Seele mit dem Wort der Verkündigung
und der Zuversicht der Gemeinde, ist ihr Gesetz nicht das der Unmittelbar-
keit seelischen Ausdrucks. Jede psychologische Interpretation ist daher wi-
drig. Es ist, als ob die sich aussprechende und auslebende Subjektivität, das
individuelle Gesetz der Persönlichkeit, hier noch nicht freigegeben würde
und keine formbildende Geltung besäße wie in der späteren klassischen und
romantischen Musik. Das Gesetz dieser Musik ist vielmehr eine überindivi-
duelle Ordnung. Sie ist eine Musik der Innerlichkeit, aber niemals bloßer
Ausdruck eines Innern. Es kann nichts erklären, wohl aber ist es verdeutli-
chend, wenn man Bachs Bindung an sein göttliches Instrument, die Orgel,
bedenkt. Auch ihre Stimmen singen, aber was in ihnen singt, sind nicht
Stimmen, in denen ein einzelnes Wesen sich ausdrückt - es sind Instrumente,
in denen sich die große Form dieser Musik aufbaut. Auch die Singstimme
hat ihre ganze Bestimmung in der gegenständlichen Darstellung der musi-
kalischen Architektur.
Das ist es, was uns an dieser Musik so anrührt und mahnt: Sie hat
Ausdruck von gewaltiger Intensität, aber sie ist dennoch keine Ausdrucks-
kunst. Im Wesen des subjektiven Ausdrucks liegt ja. daß das, was sich da
ausdrückt, gerade nicht ins gegenständlich Äußere übertritt, sondern in sich
selbst beschlossen bleibt. Ein jeder Ausdruck macht das Verschlossene als
Verschlossenes offenbar. Jede Geste bezeugt ein Geheimnis. Nur was für
sich ist und bleibt, kann sich äußern, um sich aus jeder Äußerung zurückzu-
nehmen in sein fortwebendes Fürsichsein. Bachs Musik aber ist stets ganz
Ausdruck, ganz Wirklichkeit, ist Ausdruck des Ganzen, ist Wirklichkeit des
Ganzen, Gottes, des Menschensohns, aber nicht einer einzelnen Menschen-
seele. Man hat von jeher mit einem gewissen Erstaunen beachtet, daß Bach
sich der pietistischen Frömmigkeit verschlossen hat, in der die Seele mit
Bach und Weimar 147

Gott 50 vertraulich und menschlich umgeht. Daß diese pietistische Strö-


mung seiner Zeit dem kunstvollen Musikstreben Bachs keinen äußeren
Raum der Betätigung gestattet hätte, ist dafür eine ebenso äußerliche Erklä-
rung wie die biographische Herleitung aus der lutherischen Tradition der
Bachschen Familie. Daß dieser fromme Musikus die Ehre Gottes in immer
klarerer, immer umfassenderer Steigerung musikalischer Symmetrien und
Responsionen, Spannungen und Lösungen suchte und nicht an der schlich-
ten Gefühlsinnigkeit des Chorals allein sich genügte, in der er doch ein
unübertroffener Meister war, das deutet auf das ursprüngliche Gesetz seines
Geistes und seiner Frömmigkeit: Gott als den wahren Fürsten der Welt mit
dem Außersten dessen, was die Kunst vermag, zu ehren. Das Gewaltige und
Erhabene seines Genius erscheint uns darin, daß er die weitesten Spannun-
gen in der gewaltigsten Form zusammenzufassen vermochte und in die
kunstvolle Orgeltradition seiner Herkunft die neuen Zauber der Monodie
und damit die lockende und verführungsstarke Sprache unmittelbaren See-
lenausdrucks einzuschmelzen wußte. Die forts pinnende Figuration des Or-
gelstils gewann durch die Einheit des monodisch phrasierten Themas eine
neue architektonische Festigkeit und Größe. Er ist dem allein in sich selbst
begegnet, dem die neueren Jahrhunderte erlegen sind bis zum Rande der
Auflösung aller bindenden Form. Aber für ihn wurde jede Ausweitung der
Sprache der Töne nur Anlaß zu neuem Triumph des Geistes und der Form.
Die Seelengeschichte des Abendlandes hat in ihm einen ihrer großen über-
winder zu sehen. Die Welt der Gefühle zu formen und zu binden in die
Ordnung des Geistes, das ist das Geheimnis seiner steigenden Macht über
unsere Seele.
Man hat ihn gern mit seinem großen philosophischen Zeitgenossen Leib-
niz verglichen. Mit Recht - wenngleich der Vergleich seiner alles überwöl-
benden musikalischen Baumeisterlichkeit mit der Lehre Leibnizens von der
prästabilierten Harmonie etwas äußerlich bleibt. Aber Leibniz hat wirklich
für uns eine ähnliche exemplarische Bedeutung wie Bach. Sein sinnreiches
System der Monadenlehre ist - verwandelt in die romantische Gestalt eines
dynamischen Pantheismus - der Keim der ärgsten Gefährdungen des mo-
demen Subjektivismus geworden 2 • Aber auch das Lebensgesetz der Monade
- das Gesetz eines Ausdrucks, einer organischen Entfaltung dunkel ver-
schlossener Kraft - ist ein falscher Zeuge der Ansprüche des modemen
Ichbewußtseins. Die fensterlose Monade, die immer nur ihre eigenste indi-
viduelle Weltvorstellung produziert, ist nicht der Leibnizschen Weisheit
letzter Schluß, kein erster Ausdruck der verzweifelten Innerlichkeit des

2 Vgl. dazu meine Rede aus dem gleichen Jahr (1946) zum 300. Geburtstag von
Gottfried Wilhelm Leibniz. Jetzt gedruckt in den Studia Leibnitiana, Bd. XXIIIl (1990),
5.1-10. [Erscheint in Ges. WerkeBd.l0)
148 Bach und Weimar

modemen Individuums. Sie steht nicht nur in einer vorgefügten Ordnung


göttlicher Schöpfung an einem festen Platze, sie vermag sich gerade auch zu
der Welt des Verstandes zu erheben, der diese Ordnung in ihren vernünfti-
gen Prinzipien vernünftig erkennt. Die Architektur des großen Weltbau-
meisters wird rur die sich zum Verstande erhellende Kraft erkennbar. Nicht
die Blindheit des dynamischen Dranges, sondern die Geistigkeit der von
ihm getragenen und vollendeten Teleologie ist der organisierende Gedanke
des Leibnizschen Systems. Und wie im Reiche des philosophischen Gedan-
kens der modeme Subjektivismus dieser Überlegenheit seines Ursprungs
eingedenk werden muß, wenn eine neue Ordnung der Welt und des sozialen
Lebens über ihn hinaus entstehen soll, so ist in der bezwingenden Gegenwart
der Kunst - und nirgends stärker als in der Bachschen Musik - die ordnende
Idealität des Geistes über die Weltverlorenheit der individuellen Seele sieg-
reich gegenwärtig. Auch die Formenwelt der großen Kontrapunktik ist ein
Reich der Gnaden.
Wir wollen die Probe auf das Exempel, das uns Bachs Musik darstellt, an
einem Lichtblitz des greisen Goethe machen und damit das Weimar der
deutschen Klassik auf das Weimar Johann Sebastian Bachs antworten lassen.
Goethe hat einmal, als er durch Zelter mit Bachs Werk bekannt geworden
war, mit seiner grenzenlosen Durchdringungskraft von Bach gesagt: »Als
wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich's etwa in
Gottes Busen, kurz vor der Weltschäpfung möchte zugetragen haben. So
bewegte sich's auch in meinem Innern, und es war mir als wenn ich weder
Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch
brauchteu 3 • Dies Wort will richtig verstanden werden. Es meint nicht, daß
diese Musik wie ein wogendes Gedankenmeer ist, in dem sich die festen
Formen der Wirklichkeit noch nicht abzeichnen. Das ist eine romantische
Auffassung Goethes und eine falsche romantische Interpretation der Bach-
schen Musik. Goethe variiert hier vielmehr einen Gedanken, den Hegel auf
seine Logik, dieses abstrakteste und dennoch am strengsten gebaute Werk
des philosophischen Gedankens, angewandt hat. Er nennt den logischen
Zusammenhang »das ewige Leben Gottes in sich selbst, gleichsam vor
Erschaffung der Weltu 4 • Die reinen Gedanken in ihrem ideellen Gefüge,
bevor sie sich in das Anderssein der Natur endassen und zu Wirklichkeiten
werden, seien »die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor
der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes istu 5 • Diese Entspre-
chung zwischen Goethe und Hegel ist sehr vielsagend. Der logische Zusam-
menhang der Ideen, den Hegels Dialektik darstellt, und die Bachsche Musik

3 Goethe, Briifentwurf an Zelter 1827, W. Ä. Bd. 42, S. 376.


4 Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (ed. Hoffmeister) I, S. 69.
, Wissenschaft der Logik (ed. Lasson) I, S. 31. .
Bach und Weimar 149

treten hier zusammen. Die Bewegung, die Goethe in Bachs Musik sieht und
in die er durch sie versetzt wird, ist nicht der Zustand eines produktiven
Chaos, aus dem erst Welt werden soll, sondern umgekehrt »die Wahrheit,
wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist« (Hegei). Gerade die reine
Genauigkeit der ideellen Strukturen, fiir die unser Ohr und unsere Sinne
nicht rein und genau genug sind, vergleicht Goethe mit dem Wesen der
Hachschen Kunst. Wie der bei sich selber rechnende Verstand Gottes die
Möglichkeit aller Schöpfung vorausdenkt und dadurch zum Schöpfer dieser
Welt wird - dum deus calculat, fit mundus -, so ist auch die große Rechen-
kunst des Thomaskantors im sinnlichen Stoffe der Töne dem Anschein nach
nur ein abstraktes Spiel, aber in Wahrheit die Schöpfung einer Ord-
nungswelt, die keiner romantischen Beseelung oder gefühlshaften Ver-
menschlichung noch bedarf. Und wenn sie auch eine Welt der Kunst ist und
damit ein Besitz und eine Aufgabe unserer Innerlichkeit, so ist doch der
Aufbau und die Erbauung dieser innerlichen Welt mehr als eine bloße
Abkehr Enterbter von der Verwirrung der wirklichen Welt. Gerade auch
solchen, die vor der Aufgabe stehen, aus den Trümmern der Vergangenheit
etwas Neues und Haltbares in der materiellen und sittlichen Welt" zu errich-
ten, muß die reine Urgestalt einer tragenden Ordnung, zu der in Bachs
Musik vergangenes Leben zusammengegangen ist, etwas bedeuten, und sie
werden für ihr eigenes ordnendes Tun mit Rainer Maria Rilke an den Vorteil
glauben,
daß sie's nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!
12. Prometheus und die Tragödie der Kultur
(1946)

Mythen sind U rgedanken der Menschheit. So sehr wir danach verlangen, sie
zu deuten, ihren ursprünglichen Sinn und Tiefsinn zu erfassen, so sehr
bleiben wir doch bei solchem Versuch des Begreifens hinter der undurchläs-
sigen Wirklichkeit der Mythen und ihrem anspruchsvollen Geheimnis zu-
rück. Es ist, als ob wir nur uns selber vernähmen, Sinnbilder oder Verklei-
dungen unserer gedeuteten Welt - und als ob der wahre Sinn jener urzeitli-
chen Schöpfungen stumm und deutungslos über uns hinwegreichte. Die
modeme historische Mythenforschung ist vorsichtig im Verzicht, indem sie
die Frage nach dem Sinn der Mythen abweist und lediglich der Geschichte
ihrer Entstehung und Verbreitung nachgeht. Aber auch so wird uns das
Geruhl einer hilflosen Ohnmacht vor etwas zu Großem nicht genommen.
Und vollends wird uns auch so die Versuchung nicht femgehalten, die aus
diesen bedeutungstiefen Stimmen einer Urzeit an uns gelangt, ihnen zuzu-
hören, d. h. aber, sie verstehen zu lernen. Ein solcher Mythos, dessen
stummer Sprache wir uns nicht zu entziehen vermögen, ist der antike
Prometheus-Mythos 1 . Sein Ursprung ist für uns ununterscheidbar zusam-
mengegangen mit der Geschichte seiner überlieferung, Umdeutung und
Erneuerung, die von den Tagen Hesiods bis in unser Zeitalter hineinreicht.
Aber eben deshalb ist er uns nicht so sehr wie andere Mythen ein beunruhi-
I Die Studie begnügt sich damit, Hesiod und Aischylos auf eine ganz bestimmte Frage
zu beziehen: wie sich in ihrer dichterischen Darstellung des Mythos das Selbstbewußtsein
der menschlichen Kultur spiegelt. Ein Versuch, die Geschichte des Mythos selbst zu
rekonstruieren, wurde nicht unternommen. Zum Stand der Forschung: KAIIL REIN-
HAIIDT, Tradition und Geist. Göttingen 1960, S. 191, Anm. 1 (dort auch reiche Literatur-
angaben, die zu ergänzen sind durch die umfassende Darstellung, die die Geschichte des
Prometheus-Symbols in der Welditeratur bei R. TIIOUSSON gefunden hat: Le theme de
Promethee dans la litterature europeenne. Geneve 1964). Kar! Reinhardt zufolge war
Aischylos der erste, der den Prometheus zum Titanen gemacht hat und damit seine
Beziehung auf das Schicksal des Menschen vertiefte. Die geistreiche Rekonstruktion des
>Feuerträger Prometheus" die dort (182-190; 220-226) auf Grund des neu herausgekom-
menen HeideIberger Papyrusfetzens vorgenommen wird, vermutet, daß in diesem
Schlußstück der Trilogie, wie auch oben dargelegt ist, die Versöhnung mit Zeus erfolgte
und daß zugleich damit Prometheus als attischer Lokalgott der Schmiede- und Töpfer-
kunst gefeiert wurde.
Prometheus und die Tragödie der Kultur 151
gendes Rätsel der Frühe als eine durch Alter und Schicksalsfälle ehrwürdige
und gewichtige Stimme im Chor der menschlichen Selbstbesinnung. Denn
in diesem Mythos hat sich offensichtlich von früh an die abendländische
Menschheit in ihrem eigenen Kulturbewußtsein gedeutet. Er ist wie ein
Schicksalsmythos des Abendlandes. Die Geschichte seiner Deutung erzäh-
len heißt daher, die Geschichte der abendländischen Menschheit selbst zu
erzählen.
Man empfindet leicht, daß dieser Mythos solch eine grundlegende Bedeu-
tung hat, wenn mall etwa Nietzsches Vergleich desselben mit dem semiti-
schen Mythos vom Sündenfall liest. Beide Sagen führen das mühsame
Geschick des Lebens auf eine Verschuldung zurück, die semitische Sage (um
eine Charakteristik Nietzsches zu verwenden) auf die Neugierde, die lügne-
rische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe
vornehmlich weiblicher Affektionen, die )arische< Vorstellung, die im Pro-
metheus-Mythos sich ausspricht, erteilt dagegen dem Frevel Würde und ist
ausgezeichnet durch die »erhabene Ansicht von der aktiven Sünde als der
eigentlich prometheischen Tugend«. Eben das aber macht den Prometheus-
Mythos zum wahren Mythos unserer Kultur. Er schaut das Schicksal des
menschlichen Lebens nicht als Fluch und Strafe rur einen Sündenfall, son-
dern als die mit Leiden bezahlte Selbsthilfe des Menschen, der sich in tätiger
Arbeit seine Welt baut. Er deutet in mythischer Form die Tragödie der
Kultur.
Soviel wird man wohl vom alten Mythos annehmen dürfen, daß Prome-
theus den Feuerdiebstahl zugunsten der Menschen beging. Das scheint uns
sinnvoll: Das Feuer, das im Blitz des Gewitters zur Erde fährt, nach dem
Willen und Ermessen des Donnerers allein, lernt der Mensch selbst entfa-
chen und unterhalten. Das ist wie ein Frevel, ein Abfall vom Herrn der
Wetter, und ist so der Beginn einer freventlichen Umwandlung der Natur in
einen Bereich menschlichen Treibens, in eine Welt der eigenen Pflege und
Herrschaft. Sinnvoll erscheint auch, daß es ein göttlicher Widersacher des
höchsten Gottes ist, der dem Menschengeschlecht diese neue Selbstän-
digkeit erobert, ein Geist der Widergöttlichkeit selbst, ein titanischer Geist,
in dem die Menschheit zu sich selbst findet. Und es begreift sich gut, daß
Prometheus in späterer Fortbildung des Mythos, im Anschluß an eine
attische Lokalsage über den Töpferdämon Prometheus, zum Menschen-
schöpfer geworden ist. Als solchen kennen wir ihn aus zahlreichen späteren
bildlichen Darstellungen. So scheint sich der Ursinn der Sage von selbst zu
verstehen. Doch sagen wir vorsichtiger: Was wir als diesen Ursinn bezeich-
nen, stellt eine letzte Gemeinsamkeit im Ganzen der schicksal vollen Ge-
schichte dieses Mythos und seiner Deutung dar. Dieser Geschichte wenden
wir uns nunmehr zu.
Unsere älteste überlieferung über Prometheus ist die Darstellung des
152 Prometheus und die Tragödie der Kultur

Mythos bei Hesiod. Sowohl in der ,Theogonie< wie in dem bäuerlichen


Lehrgedicht der ,Werke und Tage< wird er behandelt. Das eine wirkt wie
eine nicht ganz sicher eingepaßte Ergänzung zum anderen.
Die Erzählung der ,Theogonie< hat die rur Hesiod charakteristische Form,
daß sie, nacpdem sie die Geburt des Prometheus und seiner Brüder erzählt
hat, zunächst das Ende seiner Geschichte vor uns hinstellt, den von Gott
Gestraften, Gefesselten, dem der Adler des Zeus täglich die Leber frißt, bis
Herakies ihn, IIdoch nimmer gegen den Willen des Zeus«, wie der Dichter
mit Fleiß betont, befreit. Dann erst wird die Vorgeschichte gegeben: wie
Prometheus bei dem Opfervertrag von Mekone zugunsten der Menschen
den Zeus betrog. Er bedeckte nämlich den einen Teil, der nur die Knochen
barg. mit schimmerndem Fett, den anderen dagegen. der den eigentlich
wertvollen Anteil enthielt, machte er unansehnlich, indem er ihn mit dem
Magen des Stiers zudeckte. Zeus durchschaute zwar den Betrug. ließ ihn
sich aber dennoch gefallen und ging darauf ein, denn er »erdachte Verderben
sterblichen Menschen im Geist, das bald vollenden sich sollte«. Er beschloß
nämlich, ihnen das Feuer dauernd zu verweigern, womit sie ihres vermeint-
lichen Vorteils bei der Opferteilung gänzlich verlustig gegangen wären.
Doch abermals täuscht ihn Prometheus, indem er das Feuer in der Höhlung
einer Narthexstaude stiehlt und den Menschen bringt. Und nun unterläßt es
der Erzähler, ausdrücklich zu sagen, daß es die Strafe tur diesen Betrug war,
daß Prometheus an den Felsen geschmiedet und der Qual durch den Adler
überliefert wird. Statt dessen erzählt er, wie Zeus an Stelle des Feuers den
Menschen ein übel bereitete, ein schönes übel, die Mutter aller Weiber.
Ihr ja entsprangen das arge Geschlecht und die Stämme der Weiber,
Die zum Unheil wohnen mit sterblichen M:mnern ·zusammen. (592 Cf.)
Ausf'ührlicher aber wissen hier die' Werke und Tage< zu berichten, wie Zeus
den abermaligen Betrug zugunsten der Menschen mit triumphierendem
Hohn zunichte macht, indem er ihnen das Weib, Pandora, verfertigen läßt,
ein übel, »darüber jeder im Herzen sich freut, sein eigen Verderben umar-
mend«. Doch abermals geht die Erzählung ins Mythische über. Es folgt
nicht, wie in der ,Theogonie<, ein bitterer Klageruf über das Unheil der
Weiber, sondern eine Schilderung, wie alle Götter Pandora ausstatten helfen
und Epimetheus sie gegen den Rat das Prometheus aufnimmt. Sie aber
öffuet von einem großen Faß den Deckel, so daß viele Übel v~n da unter die
Menschen kommen.
Einzig die Hoffilung blieb in dem niemals wankenden Hause
Unter der Mündung noch im Gefäß und konnte heraus nicht
Flattern, da jene zuvor dem Gefäße den Deckel noch aufdrückt. (96 Cf.)
Soweit die sich zu einem Ganzen rundende Erzählung des Hesiod.
Prometheus und die Tragödie der Kultur 153

Wenn wir sie jetzt näher ins Auge fassen, soll uns die bekannte Außerung
des Herodot, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter erzeugt,
den Blick schärfen. Es scheint mir kein Zweifel über den religionsge-
schichtlichen Ort, an dem Hesiod steht. Seine mythische Genealogie der
Göttergeschlechter ist wirklich, wie die Herodot-Stelle sagen will, eine
große Ordnungstat, die aus der lokalen Vielfalt kultischer Überlieferung
herausführt und eine gesamthellenische Theologie bietet. Dieser Vorgang
theologischer Systembildung ist gleichbedeutend mit dem Aufsteigen der
Zeusreligion, deren Sieg das Bild der olympischen Welt vollendet. Es
scheint mir nun offenkundig, daß diese Absicht, die wir aus Homer und
Hesiod sonst kennen, auch auf die Prometheus-Erzählung eingewirkt hat.
Ursprünglich nämlich war Zeus bei dem Opferbetrug von Mekone wirk-
lich der Betrogene und wählte falsch. Dann (554ff.) ergrimmte er schreck-
lich, "als er die Knochen, die weißen des Stiers mit dem Truge gesehen«.
Ursprünglich also war es ein ätiologischer Mythos, bestimmt, den fakti-
schen Gebrauch bei der Darbringung von Tieropfern mythisch zu begrün-
den. Auch verlangt der Fortgang der Geschichte, die Zeus' Rache enthielt,
offenbar, daß er der Betrogene war. So ist noch das Bild der Sache, das die
, Werke und Tage( (Vers 49) voraussetzen. In der ,Theogonie< dagegen
deutet Hesiod den Mythos um und läßt Zeus den Betrug durchschauen.
Das Motiv hierfür is~ sichtlich, die Überlegenheit des Zeus zu steigern,
seine Weisheit über allen Wettbewerb hinaus zu erhöhen. Das ist dem
Dichter so wichtig, daß er dafür in Kauf nimmt, das wissentliche Zulassen
des Opferbetruges nun nur schlecht begründen zu können, durch böse
Gesinnung des Zeus gegen die Menschen. Der zweite Betrug dagegen, das
Gelingen des Feuerdiebstahls, hat offenbar in den Augen des Dichters für
Zeus nichts Herabsetzendes. Solches Getäuschtwerden durch heimlichen
Frevel mindert nicht die göttliche Größe. Nur in List und Betrug, als
Partner in einem Handel übertroffen zu werden, in einem Rechtshandel
betrogen zu werden, nur das schien dem Dichter mit der Größe des Zeus
unvereinbar. (Man muß sich von dem christlichen Begriff der Allwissen-
heit freimachen, wenn man die Geschichte verstehen will.) Die dargestellte
Umformung der ursprünglichen Geschichte hat also einen theologischen
Hintergrund.
Aber auch die Schilderung in den ,Werken und Tagen< verrät (durch ihr
Ungeschick) bewußte Umdichtung anderer Überlieferung. Die Pandora-
Geschichte wird mit dem Prometheus-Mythos verbunden. Aber die Einar-
beitung ist nicht fugenlos. Der doppelte Betrug des Prometheus hat ein
doppeltes Gegenhandeln des Zeus zur Folge, erst die Feuerverweigerung,
die den Opferbetrug zunichtt: macht, dann die Schaffung des Weibes, das
durch seine Verschwendungssucht allen Gewinn aus dem Feuerbesitz für
die Menschen zunichte macht. Eine schöne Steigerung, deren Pointe darin
154 Prometheu5 und die Tragödie der Kulrur

liegt, daß dieses Übel, das Weib, die endgültige Plage des Menschen ist,
gegen die es keine Abhilfe gibt, weil gar keine gesucht wird, im Gegenteil
ein jeder sich freut, »sein eigenes Verderben umarmend«. Von da an ist den
Menschen nicht mehr zu helfen. Dieser klare Aufbau wird nun unklar durch
die Einknüpfung des Pandora-Motivs. Die Pandora-Geschichte selbst
scheint dabei grundlegend verändert worden zu sein. Ursprünglich nämlich
muß es so gewesen sein, daß in dem Faß lauter gute Gaben waren. Der
Mensch (nach Babrius 58) läßt sie aus Neugier entweichen - bis auf die
Hoffnung, die als einziges Gut in diesem beraubten Leben den Menschen
bleibt. Man darf als sicher annehmen, daß diese Fabelüberlieferung auf den
Pandora-Mythos zurückgeht, derart, daß Pandora ihrem Gatten Epime-
theus als einzige Mitgift, die sie nicht verschwendet, die Hoffnung beläßt.
die Mitgift derer, die nicht vorzusorgen wissen (die nicht np01',''llJeif; sind).
Ein schöner Sinn, mannigfach zu früher überlieferung passend, daß die
Hoffnung der einzig sichere Besitz des Menschen ist. Theognis (1135ff.)
bedeutet eine Bestätigung dieser Überlieferung. Hesiod dagegen macht aus
dem Faß ein Faß mit Übeln. Offenbar. um in die alte Sagenform hineinzu-
nehmen, daß das Weib den Menschen eine Fülle von übeln bringt. Auch
machte der Zusammenhang seiner Geschichte die Ausstattung der Pandora
mit Übeln nötig, denn sie wirdja zur Strafe. zur Vereitelung der Menschen-
freundlichkeit des Prometheus, entsendet. Nun wird aber dadurch der Sinn
der Geschichte selber dunkel. Was bedeutet es jetzt, daß die Hoffnung im
Faß zurückbleibt? Der Zusammenhang fordert, daß sie hier als ein übel
gesehen ist. Diese Einschätzung der Hoffnung paßt auch sonst gut zu
Hesiod. Der Landmann solle lieber vorsorgen als auf nichtige Hoffnungen
bauen (>Werke und Tage( 496ff.). In den Augen des bäuerlich denkenden
Dichters mag also wirklich das Zurückbleiben der Hoffnung im Faß eine Art
Milderung des Unheils sein. Wenigstens werden die Männer von der Hoff-
nung unverführt bleiben und in der bitteren Mühsal ihres entstellten Lebens
nicht in Untätigkeit versinken. So mag Hesiod gedacht haben, mit dieser
äußeren Bitterkeit, die noch im hoffnungslosen Hintragen des Lebens etwas
Besseres sieht als in der Eitelkeit des Hoffens. Und wenn er selbst nicht so
gedacht haben sollte, sondern die Folgen seiner Umformung der überliefe-
rung nicht übersah, so hat er doch den Denkenden diesen Sinn gezeigt. Eins
aber ist sicher - warum und in welcher Richtung Hesiod den Prometheus-
Mythos umgedichtet hat. Der mit Zeus an Klugheit wetteifernde Titan, der
den Menschen Gutes bringt, wenn er selbst auch dafür büßen muß, wird
zum immer und völlig Unterlegenen, der die bösen Pläne des Zeus mit den
Menschen ohnmächtig fördert. So tritt die Kulturtat des Prometheus, die
Bedeutung des Feuerdiebstahls für die Geschichte der menschlichen Zivili-
sation, gar nicht heraus. Dem Unheil, das Prometheus wie die Menschen
trifft, fehlt damit die Sinnschärfe des tragischen Widerspruchs.
Prometheus und die Tragödie der Kultur 155

Hier aber setzt der Tiefsinn des Prometheus-Dramas ein, das unter dem
Namen des Aischylos auf uns gekommen ist. Die Deutung, die hier dem
alten Mythos gegeben wird, zeugt zwar von einem neuen. zum Denken
entschlossenen Geiste. Dennoch ist es wohl gerade der alte Geist des My-
thos, der in dieser neuen Deutung zu reden beginnt. Ja, fast scheint es, als
hätte Aischylos genau dort weiter und in die Tiefe des alten Mythos zu-
rückgedacht, wo Hesiod anhielt. Er hat die Prometheusgestalt ins Licht der
Tragödie der Kultur gestellt, indem er mit Bewußtheit ausdeutete, was der
Feuerdiebstahl der Sage für die Menschen bedeutete: den Beginn eines ins
U na bsehbare hinausstrebenden menschlichen Schaffens.
Das Prometheus-Drama nimmt innerhalb der attischen Tragödie eine
Sondc:rste1lung ein - es ist als einziges ein reines Götterdrama. Sein religiö-
ser Sinn ist nicht ohne weiteres klar. Die einfache Handlung versetzt uns in
die Zeit nach dem Frevel des Prometheus und beginnt mit seiner An-
schmiedung an den Fels im fernen Kaukasus. Sie empfängt ihre dramati-
sche Spannung daraus, daß der gefesselte Prometheus im Besitz eines Ge-
heimnisses ist. Er weiß von seiner Mutter, daß Zeus. wenn er sich mit der
Meernymphe Thetis vermählt, einen Sohn zeugen wird, der ihn einstmals
vom Weltenthrone stürzen soll. Zeus sucht ihm dieses Geheimnis auf alle
Weise zu entwinden. Auch seine eigenen Freunde, Okeanos und die Meer-
mädchen, reden ihm zu. Aber er verharrt in unbeugsamem Trotz; im
Angesicht der entsetzlichsten Leiden genießt er das triumphierende Be-
wußtsein, daß sein Gegner den Sturz erleiden wird. Das Drama schließt
damit, daß der ergrimmte Zeus den trotzigen Titanen mit seinem Blitz in
den Abgrund hinabschmc;ttert.
Auch wenn man alle Nachrichten über ein anderes Prometheus-Drama
des Aischylos beiseite läßt. wonach nach langem Zeitraum die Erlösung
des unter gesteigerten Qualen Gefesselten durch Herakles und seine Ver-
söhnung mit Zeus behandelt worden sei, ist es evident, daß der IGefesselte
Prometheus1, den wir kennen, nicht das letzte Wort des Dichters gewesen
sein kann. Es mußte auf die schließliche Versöhnung von,Zeus und Prome-
theus hinauslaufen, denn die Herrschaft des Zeus ist ja am Ende doch ewig
und ungefährdet - nach der geltenden griechischen ReligioJll -, und der
Titan ist mit ihm versöhnt. Diese religiös-verbindliche mythische Tatsache
gilt ohne allen Zweifel auch für den Dichter des IGefesselten Prometheusl.
Mit seinem Drama greift er nur in die Vorgeschichte dieses sanktionierten
Zustandes der Zeusre1igion zurück, in eine Zeit. zu der der· neue Himme1s-
herrscher und der Titan einander noch mit unversöhnlicher Härte gegen-
überstehen.
Der Dichter hat den Titanen mit einem glühenden Rechtsbewußtsein
ausgestattet. Prometheus hat danach im großen Kampf der Götter und
Titanen die Partei des Zeus ergriffen und ihm Rat und Dienst geleistet. Als
156 Promcrheus und die Tragödie der Kultur

aber Zeus das Menschengeschlecht vernichten will, stellt sich ihm Prome-
theus entgegen und leidet nun für seine Menschenliebe die grausame Strafe
des Götterkönigs, der alle Pflicht der Dankbarkeit verleugnet. Er selbst
freilich ist nicht minder maßlosen Wesens als sein Widersacher. Hermes hat
offenbar recht, wenn er sagt: »Nicht auszuhalten wär' es, wenn du glück-
lich wärst« (979). Sosehr der Dichter die Großartigkeit seines unbeugsa-
men Trotzes in dem Drama zur Wirkung bringt, Prometheus wie sein
Gegner werden beide Maß und Weisheit lernen müssen. Erst dadurch, daß
sie beide von ihrer Härte gegeneinander lassen, begründet sich die dauern-
de Ordnung der olympischen Religion. Das muß der ergänzende Gedanke
gewesen sein, mit dem das griechische Theater das Spiel vom Trotz des
Titanen aufnahm. überdies ist es ein echt Aischyleischer Gedanke - man
erinnere sich der Aufnahme der Eumeniden in die olympische Ordnung,
die der Orestie ihren religiösen Abschluß gibt.
In diese Geschichte vom Zwist der Götter ist nun bei Aischylos das
Schicksal der Menschheit in einer neuen und tiefsinnigen Weise verfloch-
ten. Prometheus ist der Menschenfreund, Zeus dagegen, der von seinem
Siege trunkene neue Himmelsherrscher, »nahm auf die armen Sterblichen
gar keine Rücksicht, sondern wollte ihr ganzes Geschlecht vernichten und
ein neues schaffen« (Aisch. Prom. 231-33). Prometheus rettet die Men-
schen - das ist sein Frevel (if'JUlpret; 260), für den er leidet -, und wenn er
sich am Ende mit Zeus versöhnt hat, so bedeutet diese Versöhnung zu-
gleich die Versöhnung des Zeus mit dem menschlichen Geschlecht. Was
das aber besagt, wird erst offenbar. wenn man bedenkt. wie Prometheus
von den Menschen das Verderben abgewendet und wie er das Leben der
Menschen verändert hat.
Er sagt es selbst (248): Er machte dem ein Ende. daß die Menschen
ihren Tod vorhersahen, indem er »eitle Hoffnungen ihnen eingab« - und
außerdem ihnen das Feuer und damit die ganze folgenreiche Fähigkeit zur
Erlernung der ITechnai(, die Fähigkeit zur Kultur, verlieh. Wenn dies die
Rettung der Menschheit vor dem völligen Verderben sein soll. muß diese
Tat des Prometheus bedeuten. daß er den Menschen die Fähigkeit zur
Selbsthilfe. gab. Das aber ist ein Vorrecht der Götter. das er damit den
Eintagswesqn (den bpr"p.epoz) freventlich verschaffte (945ff.). Die Kultur
selbst also ist ein Frevel gegen die Götter. Nun ist es offenbar des Aischy-
los eigentliche Meinung. daß nicht so sehr der Besitz des Feuers als dessen
geistige Voraussetzung für die Kultur das Entscheidende ist: die Hoff-
nung. Sie ist zwar an sich trügerisch, denn sie läßt immer Zukunft sein.
die doch eines Tages nicht mehr ist. Insofern möchte sie ein übel schei-
nen, wie Hesiod meinte. Aber Aischylos sieht tiefer: Sie ist nicht der
Gegensatz zum prometheischen Selbstvertrauen des nicht hoffenden. son-
dern voraussorgenden Menschen, vielmehr dessen Ermöglichung. Nur weil
Prometheus und die Tragödie der Kultur 157

ein jeder ständig hoffend Zukunft hat, hat das Menschengeschlecht als
Ganzes seinen Bestand, auch wenn der einzelne stirbt. )Kultur( gibt es nur,
wo der einzelne Mensch nicht nur sein Leben fristet, sondern für alle schafft,
was dem einzelnen vielleicht heute noch zu genießen versagt wird. In ihrem
Wesen liegt ein tragischer Widerspruch - die ständige Selbsttäuschung aller
und doch im ganzen Wahrheit zu sein, ein Wissen für alle zu sein und doch
für den einzelnen nicht.
Das ist der geistige Hintergrund der Feuertechnik, die die menschliche
Kultur trägt. Aischylos tut ein Außerstes, diesen geistigen Sinn der Kultur-
tat des Prometheus einzuschärfen. Prometheus selbst nämlich schildert in
längerer Rede sein Verdienst um die Wendung der menschlichen Leiden
(442ff.): »Sie sahen und sahen doch nicht, hörten und hörten doch nicht,
s,ondern wie Traumwesen ließen sie ihr ganzes langes Leben alles durchein-
andergehen« (448-50), lebten schutzlos in Höhlen usw. Er aber gab ihnen-
und nun folgt eine Liste menschlicher Künste, von der Sternkunde bis zur
Seefahrt, von der Heilkunde bis zur Vogelschau und zum Bergbau, »kurz,
hör es alles in einem Wort«:
Alle Künste stammen dem Menschen von Prometheus. (505-506)

Damit hat Aischylos auf den einen Urfreund der Menschheit alles zusam-
mengehäuft, was mythisches und profanes Kulturbewußtsein der Griechen
den verschiedensten Erfindern, Hephaistos und Palamedes und wie sie alle
heißen, zuschrieb. Und was das Wichtigste ist: Die eigentlichen Feuerkün-
ste, Bergbau und Schmiedekunst, treten in dieser Selbstrühmung ganz in
den Hintergrund. Das ist die bewußte Wendung, die der Dichter hier der
überlieferung gibt.
Allen Künsten der Kultur aber ist gemeinsam, daß sie zwar insgesamt die
Herrschaft des Menschen über die Erde bedeuten, aber das Los der Sterb-
lichkeit nicht aufheben können. Auch Sophokles. in dem großen Chorlied
der )Antigone(, das die furchtbare Herrlichkeit des Menschen besingt, weiß
um die Unaufhebbarkeit dieser Schranke, die nicht am Ende des menschli-
chen Kulturstrebens aufgerichtet steht, sondern eines jeden einzelnen
furchtbarer Anfang und Antrieb ist. Eben dieser tragische Widerspruch im
Herzen der menschlichen Kultur aber ist es, der sich im Schicksal des
Menschenfreundes Prometheus spiegelt. Er ist der Arzt, der sich nicht
selber zu helfen weiß, der heroische Verschwender seines Geistes und der
unbeugsame Frevler. In ihm schaut sich die Menschheit selbst an, für die er
leidet. Er ist der tragische Held der Kultur, in der die Menschheit sich will,
indem sie sich opfert. In der tragischen Vermessenheit, in der er der
Menschheit Selbsthilfe gab, hat sich die Menschheit ständig selbst vermes-
sen. Der Stolz des menschlichen Kulturwillens ist unmäßig und verzweifelt
zugleich. Kulturbewußtsein ist immer schon Kulturkritik. Das ist die
158 Prometheus und die Tragödie der Kultur

Form. in der Aischylos den mythischen Urgedanken vom Frevel des


Feuerbesitzes fur die Tragödie gewonnen hat. Indem sich aber der Zwist
des alten titanischen und des neuen olympischen Gottes am Ende auflöst.
schließt sich auch über der tragischen Spannung des menschlichen Kultur-
bewußtseins die zur Dauer befestigte Ordnung des Seins.
Mißt man das Leben eines Mythos daran. wie lange er in eine religiöse
Ordnung eingefügt bleibt. so wäre hier. mit Aischylos. das Ende der Ge-
schichte dieses Mythos erreicht. Was folgt. antikes wie modemes Sichspie-
geln in seiner Gestalt. stellt kein religiöses Verhältnis mehr dar. sondern ist
entweder ein Deuten. das nach dem Sinn fragt. der ein anderer ist als die
Geschichte selbst. Dann ist es Allegorie. Oder es ist ein neues Bilden der
Geschichte und Gestalt selbst - in der dichterischen Phantasie. Beides aber
bleiben Metamorphosen des mythischen Urgedankens selbst, Wandlungen
eines Symbols. in dem sich die Menschheit erkennt und zu ihrem Schicksal
bekennt. Es sei noch mit flüchtigen Strichen gezeichnet. wie diese Ge-
schichte verläuft.
Ist Prometheus die mythische Spiegelung der menschlichen Kulturtat. so
muß sich jede entscheidende Wendung in der Geschichte des menschlichen
Kulturbewußtseins zur Deutung oder Nachgestaltung gereizt gefunden ha-
ben. Der antike Teil dieser Geschichte ist rasch erzählt. Da ist das Zeitalter
der Sophistik. in dem die neue. aufgeklärte Gestalt des Geistes, die wir
Bildung nennen. entstand. In Platos >Protagoras< stellt sie sich ausdrücklich
in einer neuen Deutung des Prometheus-Mythos dar. Bei der Ausstattung
der Wesen habe Epimetheus für die Menschen nichts Rechtes mehr übrig-
gelassen: schutzlos und schwach. wie ihre Ausstattung war, schienen sie
dem Verderben geweiht. Da brachte ihnen Prometheus EVreXVO( oorpia oVv
nvpi. den Kunstgeist mit dem Feuer. Aber - und das ist die Weiterbildung
der Geschichte unter dem Gedanken der Bildung -: auch so war die
Menschheit noch nicht lebensfähig. weil sie ihr neues gewaltiges Können
gegen sich selbst kehrte und durch Krieg und Verwüstung sich selbst zu
vernichten drohte. Da ließ ihr Zeus Recht und Scheu (öi1t1J xai al8r«) brin-
gen und an alle Menschen gleichmäßig verteilen. Bildung, Paideia. ist
nichts als die Weckung dieser in jedem Menschen verborgenen Gaben. die
ihn zum staatlichen Dasein befähigen. So erscheint der sophistische Lehrer
als der wahre Vollender der Kulturtat des Prometheus.
Dem Selbstgefühl der Bildung aber ist stets die Kritik der Bildung ver-
schwistert. Neben der sophistischen steht die kynische Prometheusdeu-
tung. Es wechselt das Vorzeichen. Prometheus ist nun nicht mehr der
Retter der Menschheit (den nur noch der Bildungslehrer übertreffen kann).
sondern ist ihr Verderber • der mit Recht vom höchsten Gotte gestraft
wird. Denn was ist diese Gabe des Feuers und der Künste anderes als eine
ständige Verführung der Menschheit zur Verweichlichung und zum Lu-
Promctheus und die Tragödie der Kultur 159

xus? Ist nicht gerade die prometheische Gabe der Vorausschau und Vorsor-
ge das Unheil der Kultur, weil ihre Anwendung halt- und ziellos ist?
So oder so, Lehrer oder Verführer, in beiden Formen der Bildung ist der
mythische Hintergrund der Prometheusgestalt geschwunden, und es be-
greift sich gut, daß nunmehr aus der Geschichte der Sage ein anderer Zug
heraustritt und die ganze Gestalt neu prägt: Prometheus wird zum Anthro-
poplasten, zum Bildner des Menschen. Das aber bedeutet: der Mensch ist
nicht mehr auf eine göttliche Ordnung bezogen, gegen die er freveln und
an der er scheitern kann, sondern sich selbst überantwortet und vom
Selbstbewußtsein seines Wissens und Könnens geprägt. Das ist die Form,
in der das spätere Altertum Prometheus und sich selbst gedacht hat, insbe-
sondere so, daß dem Prometheus die Hilfe der Minerva, d. h. des Geistes,
zuteil wurde. Prometheus und Minerva vereint seien die Urheber und
Schutzgötter des menschlichen Daseins. Dann aber, am Ausgang des Al-
tertums, erfaßte eine neue religiöse Erregung die Menschheit. In der gno-
stischen Form der Selbsterlösung der Seele von der Welt oder in der christ-
lichen Form des für die Menschheit leidenden Erlösers wird die Prome-
theusfigur gelegentlich zum Ansatz für die religiöse Selbstaussprache der
Zeit, aber sie erscheint in einer Verkleidung, in der die Figur des alten
Mythos unkenntlich wird, etwa in der Gestalt, daß Prometheus das wirkli-
che Ende der olympischen Herrschaft voraussah.
Es ist wie eine neue Geschichte, die mit der neuzeitlichen Wandlung des
Prometheussymbols beginnt. Sie schließt sich an die spätantike überliefe-
rung von Prometheus als dem Menschenschöpfer an, aber sie reflektiert
diese Überlieferung in dem neuen Selbstbewußtsein des sich aus den christ-
lichen Bindungen lösenden Geistes. Diese Geschichte mußte mit der Re-
naissance ihren Anfang nehmen - wirksam aber wurde sie zuerst bei Shaf-
tesbury und gewinnt ihre gültige Form in der berühmten Ode Goethes. In
dem Menschenbildner Prometheus erkennt sich nun die Menschheit in
ihrer eigenen bildnerischen Macht im Reiche der Kunst. Es ist der Mythos
des Genies, der allmächtigen Produktivität des Künstlertums, dieser spezi-
fisch moderne Mythos vom Menschen, der sich nun an das alte Symbol
anschließt. Der Künstler ist der wahre Mensch, weil er die Manifestation
seiner produktiven Kraft ist. Im Schöpferturn der künstlerischen Phantasie
ist eine Allmacht gelegen, die durch keine Bindung an Gegebenes einge-
schränkt ist. Der schöpferische Mensch ist ein wahrer Gott. Goethes Pro-
metheus-Ode hat in aufsehenmachender Weise die antichristlichen Folge-
rungen dieses künstlerischen Machtgefühls gezogen: "Dein nicht zu achten
wie ich« wird die Bestimmung des titanischen Menschen. In der Nachfolge
Goethes haben dann andere, vor allem Shelley und Byron, in eigenen
Prometheus-Dichtungen das ästhetische und ethische Selbstbewußtsein des
modemen Menschen gegen die christliche Überlieferung und die christli-
160 Promcchcus und die Tragödie der Kultur

che Kirche gewendet. So wird in einer für die neuzeitliche Geschichte


entscheidenden Stunde der antike Mythos bedeutsam. Im Aufstand des
Titanen gegen die Olympier entdeckt diese Zeit ihr heldisches Ideal der
sittlichen Freiheit.
Doch nochmals wandelt sich das Prometheussymbol, indem es die See-
lengeschichte des modemen Menschen begleitet. Dem Rausch des Schöp-
fertums ist das Leiden nahe, das aus dem Widerspruch dieser Allmacht in
der Phantasie und der Ohnmacht im Wirklichen erwächst. Auch das aber
war Prometheus - nicht nur der heroische Schöpfer einer eigenen Welt, er
war auch der ständig vom Adler des Zeus Zerfleischte. Das Leiden des
modernen Menschen freilich fühlt sich nicht als Leiden an Gott, sondern an
sich selbst. So wird Prometheus zum Symbol dieser Selbstzerfleischung
der Menschheit durch ihr Gewissen. zum Symbol der Tragödie des Be-
wußtseins. Man spürt die Nähe Nietzsches. In der Tat hat Andre Gide in
einer frühen Arbeit eine satirische Geschichte vom )Schlechtgefesselten
Prometheusc erzählt. die dem Geiste Nietzsches verwandt ist. Hier kommt
Prometheus auf die Idee. sich selbst von seinem Adler zu befreien, sich
gleichsam von dem eigenen Zwiespalt des moralischen Leidens zu erlösen.
indem er seinen Adler verspeist. Die künsderische Berechtigung dieser
Satire steht hier nicht zur Diskussion. In jedem Falle erhebt sich' dieser
willkürliche Gebrauch des alten Mythos zu einer mehr als willkürlichen
Bedeutung. )Jenseits von Gut und Bösec zu sein scheint heute manchem
wie eine neue Gesundheit, als die Heilung eines alten Leidens an sich selbst.
Indessen, die Geschichte von Prometheus scheint mir so wenig zu Ende,
wie die Geschichte des Menschen. Ja, vielleicht beginnt sie erneut in die Nähe
des antiken Mythos zu treten. der vom Menschen nur zu sagen wußte, indem
er vom Streit der Götter sprach. Auch die Erfahrung der heutigen Menschheit
beginnt die Grenzen des modernen menschlichen Selbstbewußtseins zu
fühlen. Ich will zum Schluß an eine Figur des Geistes anknüpfen, deren Maße
uns alle unendlich übertreffen - ich meine Goethe. Ihn hat das Prometheus-
symbol nicht das eine Mal nur angerührt, als er der titanischen Kräfte seines
bildnerischen Könnens innewurde. Als Schlußstein seiner von ihm selbst
veranstalteten Ausgabe letzter Hand lesen wir ein dramatisches Fragment,
)Pandorac, dessen Sinn dunkel genug bleibt2. Soviel aber ist klar: Prometheus
bleibt hier nicht der titanenhafte Mittelpunkt einer souverän beherrschten
Welt. Er ist jetzt der Geist der rasdos unermüdeten Tätigkeit, aber selbst
dieses gebändigte Wirken des Titanen begrenzt sich noch am Rechte anderer
Geisteswelten. Goethes Fähigkeit, sich selbst zu überwinden und zu be-
schränken. hat fiir uns fast etwas Unbegreifliches. Wir wagen nicht, der

2 VgI. meinen Deutungsversuch in ,Vom geistigen Lauf des Menschen<, Teilt. in


diesem Band. S. 89ft'.
Prometheus und die Tragödie der Kultur 161

menschlichen Kultur als ganzer gleiche Kräfte zuzutrauen. Indessen, was die
Kraft unseres Wollens übersteigt, bewegt sich vielleicht auf dem Wege des
Leidens zu seinem Ziel. Auch die Tragödie der modernen Kultur findet
vielleicht irgendwo, wohin wir nicht mehr reichen, ihre Versöhnung.
13. Der Gott des innersten Geflihls
(1961)

Daß das Theater mit den Göttern wie mit den Menschen sein eigenes. freies
und oft frivoles Spiel treibt, ist uns aus der Antike und aus mancher anderen
Kultur wohlbekannt. Es ist irgend etwas überzeugendes darin. daß eine
Religion der festen kultischen und rituellen Ordnung sich leisten kann, was
etwa die christliche Religion. die eine Religion der Heiligen Schrift ist und
Rechtgläubigkeit verlangt, ihren Gläubigen verbieten muß. Wenn innerhalb
der christlichen Kulturwelt ein antiker Komödienstoff, wie im Falle des
>Amphitryon< die Verwechslung von Göttern und Menschen. dichterisch
erneuert wird, etwa von Moliere, dann sind diese Götter bloße Masken. in
denen sich der menschliche Gegensatz zwischen den hohen Herren der
höfischen Welt und ihrer Dienerschaft verkleidet. Auch Kleists >Amphi-
tryon<, der ja eine bloße überarbeitung Molieres ist, scheint in diese Linie zu
gehören, wenngleich hohe dichterische Töne eine Art pantheistischer Gottes-
vorstellung anklingen lassen. Es ist daher kein Wunder, daß man die Kleist-
sche Umdichtung überhaupt nicht auf ihre religiöse Bedeutung hin zu
befragen pflegt und vielmehr den Tiefsinn und die Abgründigkeit, die das
Spiel als solches bei Kleist gewinnt. hervorkehrt. Aber ist das richtig? Ist es
auch nur genügend, um den Spielverlauf dieses Spieles wirklich zu vollzie-
hen? Wenn nach Thomas Mann, Max Kommerell. Peter Szondi. Arthur
Henkel das Kleistsche Spiel hier nochmals analysiert wird, so geschieht es um
dieser Frage willen. Man darf daran denken, daß der IAmphitryon< von den
Zeitgenossen, insbesondere von dem enthusiastischen Adam Müller und der
christlich-deutschen Tischgesellschaft, der Kleist angehörte. als ein Doku-
ment wahrer Religiosität und gereinigter Gottesvorstellung gefeiert worden
ist. Zwar wird man dem im einzelnen nicht folgen können, zum Beispiel nicht
der konkreten Ausdeutung der Alkmene-Gestalt auf die unbefleckte Emp-
fängnis Mariens hin. Aber die religiöse Stimmung der Berliner Romantik, in
der sich Kleists Leben bewegte, bekundet sich darin auf eine unbezweifelbare
Art. So sollte man sich fragen, ob sich die Kleistschen Aussagen ihrer
religiösen Verbindlichkeit nach etwa mit Hölderlinschen Gottesaussagen
durchaus messen können. Gewiß ist die religiöse Grundstimmung des Zeital-
ters bei Dichtern wie bei Denkern zu seltsam freien und kühnen Bildungen
Der Gott des innersten Gefiihls 163

gelangt. Aber wenn man, wie das Guardini mit Recht festgestellt hat, bereit
ist, Hölderlin )seine Götter zu glauben<, so scheint mir auch Kleists )Amphi-
tryon< von der Erfahrung der Transzendenz aus und nicht von ihrem Verlust
her zu verstehen zu sein. Sein Jupiter ist keine bloße Bildungsfigur des
humanistischen Bewußtseins wie der des Moliere, der ohne alle Metaphysik
und Transzendenz den Souverain des Dieux darstellt, welcher durch seinen
fürstlichen Rang über den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft steht.
Kleists Jupiter ist im Gegensatz dazu ohne jedes gesellschaftliche ProfIl. Die
Grenzen seiner Person gehen in einer unvergleichlichen Weise ständig in die
Allheit des Seins über. Er ist der Allumfassende, dernicht nur diese Person ist,
sondern alles Seiende. Injeder Gestalt der Natur und der Menschenwelt ist er
anwesend. Ist das einfach eine pantheistische Häresie, wie sie auch sonst als
eine A.uflösungsform der christlichen Kultur auftritt? Oder ist es eine mensch-
liche Erfahrung, welche Kleist hier in die Dimension der mythischen Realität
des Göttlichen hineinreichen läßt, und müssen wir auf das Spiel dieser
Verwechslung von Göttern und Menschen so hören. daß wir ihm dahin
folgen?
Fragen wir zunächst, welche Züge an dem Moliereschen Stück er beson-
ders hervorgehoben und wie er das Ganze umgezeichnet hat. Man darf dabei
von der Vorgeschichte des griechischen Mythos ganz absehen, die Kleist
sicher aufkeinerlei Weise unmittelbar berührt hat. Ja, man braucht auch nicht
einmal aufPlautus und die literarischen Vermittlungen zwischen Plautus und
Moliere zurückzugehen, die Kleist ebensowenig gekannt haben wird. Es ist
vielmehr die geistreiche Wendung, die Moliere der Fabel des alten Lustspiels
gibt, das Motiv der Verwechslung von menschlichem Gatten und göttlichem
Liebhaber, was Kleist gefesselt hat: daß die Unterscheidung von Gatte und
Geliebtem in der Passion der Liebe selber ein echtes Anliegen wird. Die
gesellschaftliche Institution der Ehe, der Pflichtenkreis, den sie umschreibt,
die Rechte, die sie dem Manne einräumt, all das scheint einem liebenden
Bewußtsein wie eine Verfremdung dessen, was in seinem leidenschaftlichen
Herzen lebt. Von da aus gibt Moliere der Fabel ihren Sinn. Der göttliche
Souverän, der sich als der beglückende Liebhaber fuhlen möchte, wird die
von ihm geliebte Frau zur unbedingten Anerkennung der Passion zu bewegen
suchen, das heißt aber, er muß die Täuschung, derer er sich bedient hat,
zerstören wollen. Die komische Verwicklung besteht nun bei Moliere darin,
daß der wirkliche Amphitryon erscheint und als der gekränkte Ehemann vor
aller Welt sein Recht geltend macht. Da bleibt dem Gott fatalerweise nichts
anderes übrig, als seinerseits die ihm zugefallene Rolle des Ehemanns weiter-
zuspielen. Er muß nachträglich den aufgetretenen Riß - als Amphitryon
selbst den nächtlichen Besuch bei seiner Gattin abgeleugnet hatte - als einen
schlechten Scherz bagatellisieren und die Verzeihung seiner Gattin dafur
erflehen. Diese Handlung ist nicht ohne objektive Komik, aber auch nicht
164 Der Gott des innersten Gcfiihls

ganz ohne Würde. An ihrem Ende steht die Theophanie, in der Jupiter der
ganzen Gesellschaft klarlegt, daß er der nächtliche Besucher war und daß eine
Teilung der Frau mit dem Souverän der Götter nichts Entehrendes habe,
zumal der Gott ja nur in der Gestalt des Gatten diese Liebe habe gewinnen
können. Es geht also bei Moliere um die Ehre des Amphitryon. Die Hauptfi-
gur des Stückes ist durchaus nicht Alkmene. An keinem Punkte der Handlung
wird Alkmene auch nur von einem Schatten des Verdachtes gestreift, es
könntejemand anderes als ihr Gatte bei ihr gewesen sein.
Kleists )Amphitryon( dagegen ist das Drama der Alkmene, der sich bald der
liebende Gott in der Gestalt des Gatten, bald der wirkliche Gatte naht, und
deren »unfehlbares Gefiihl« sich in diesen Verwechslungen zu verwirren
droht. Kleist führt das Molieresche Motiv, daß der Gott die Unterscheidung
von Gatte und Geliebtem betreibt, genau in der gleichen Weise ein (1/4), aber
es findet seinen eigentlichen Austrag nicht zwischen den streitenden Herren,
sondern in dem weiblichen Gemüte, dem die Unterscheidung von Gatte und
Geliebtem nicht fremd und dem doch die Einheit beider wesentlich ist:
Nicht, daß es mir entschlüpft
In dieser heitern Nacht, wie vor dem Gatten
Oft der Geliebte aus sich zeichnen kann;
Doch da die Götter eines und das andere
In dir mir einigten, verzeih ich diesem
Von Herzen gern, was der viel1eicht verbrach. (487ff.)

Die neue Erfindung, mit der Kleist von seiner Moliereschen Vorlage ab-
weicht, besteht darin, daß Alkmene selbst sich nicht täuschen läßt. Sie
entdeckt in dem ihr überreichten Gürtel den falschen Buchstaben und wird
nachträglich von den Doppelsinnigkeiten beunruhigt, mit denen der Gott ihr
seine Liebe schwur. Ihr »innerstes Gefiihl « freilich kann noch weiterhin in der
Erinnerung an die Liebesnachtnur zustimmen. Darin ist sie ihrer selbst sicher.
Wie meiner reinen Seele! Meiner Unschuld!
Du müßtest d~ die Regung mir mißdeuten,
Daß ich ihn schöner niemals fand als heut.
Ich hätte rur sein Bild ihn halten können,
Für sein Gemälde, sieh, von Künsderhand,
Dem Leben treu, ins Götdiche verzeichnet.
Er stand, ich weiß nicht, vor mir, wie im Traum,
Und ein unsägliches Geflihl. ergriff
Mich meines Glücks, wie ich es nie empfunden,
Als er mir strahlend, wie in Glorie, gestern
Der hohe Sieger von Pharissa nahte.
Er war's, Amphitryon, der Göttersohn!
Nur schien er selber einer schon mir der
Verherrlichten, ich hätt ihn fragen mögen,
Ob er mir aus den Sternen niederstiege. (1186ff.)
Der Gott des innersten Gefuhls 165
Gewiß, das ist das »Gesicht der Liebe«. Aber ist darin vielleicht eine zu
erlernende Wahrheit? Und geht es in der ganzen spannungsvollen Szene
zwischen Alkmene undJupiter am Ende um diese Wahrheit?
Hier setzt Kleists Eigenstes ein. Alkmene verliert angesichts der vertausch-
ten Buchstaben in dem Diadem ihre Sicherheit und glaubt sich betrogen. Die
große Vel'söhnungsszene zwischen Alkmene und Amphitryon-Jupiter, die
bei Moliere steht, wird zu einem Gespräch zwischen Alkmene und Jupiter,
das die ganze Spannweite des weiblichen Gemüts durchmißt. Die Szene
gehört zu den größten dichterischen Kostbarkeiten der Weltliteratur. Aber ob
der Sinn dieses Gespräches schon ganz erfaßt ist? Gewiß, es blitzt darin
beständig wie von Wahrheit. Aber daß es ein Gespräch ist, das zu einem Ziele
führt, und was dieses Ziel ist, scheint mir noch nicht erkannt. Wohl spürt
man, wie Jupiter hier das Gemüt Alkmenes beunruhigt und verwirrt und
schließlich befreit, und daß das von der opemhaften Versöhnungsszene
Molieres durch eine Welt, eine Welt voller Abgründe, geschieden ist. Der
Sinn dieser Szene wird aber, wie ich glaube, immer wieder ins Unklare
gebracht, wenn man in die Jupiter-Figur - in der Nachfolge Molieres - ein
dem Vorgang in Alkmene analoges Drama hineinliest und gar noch die Qual
des unerlösten Gottes mit Kleists selbstquälerischer Existenz ineins setzt. Ich
möchte statt solcher Vermenschlichung des Gottes die Hinflihrung des
Menschen zum Göttlichen, ein Zeugnis echter mythischer Erfahrung, in
dieser Szene sehen.
Gewiß ist es richtig, daß der Gott in seiner Göttlichkeit erkannt und
anerkannt sein möchte, und wenn Alkmene ebenso unbeirrbar den sterbli-
chen Gatten vorzuziehen versichert, sieht er sich um seine Selbstbegegnung in
der Liebe der Frau betrogen:
Verflucht der Wahn, der mich hierhergclockt! (1512)

Aber was ist das Bittere dieser Erkenntnis? Daß sich der Mann nicht als Mann
anerkannt sieht und von Eifersucht geq uäl t wird - oder daß er sich nicht als der
Gott bestätigt sieht? Warum begnügt sich Jupiter nicht damit, Alkmene
täuschend zu beruhigen? Warum verwirrt er sie auf quälerische Weise immer
neu? Der innere Sinn dieses Gesprächs scheint mir darin zu bestehen, daß der
Gott sich selber will, wenn er Alkmene lehren will, das untrügliche Gefühl,
das in ihr ist, nicht zu verleugnen, und daß sie, wenn sie an sich selbst zweifelt,
auch an der Göttlichkeit des Göttlichen zweifelt, und umgekehrt daß, wenn
sie zu ihrem eigenen Gefühl steht, sie den Gott in seiner wahren Göttlichkeit
sein und erscheinen läßt.
Gewiß wird man nicht vergessen dürfen, daß es eine Lustspielhandlung ist,
in der dieses Zwiegespräch zwischen dem weiblichen Herzen und dem GOtt
seinen Platz hat. Man wird die kontrastierenden Szenen der Diener nicht als
das einzig Lustspielhafte in diesem Spiele denken dürfen. Wenn Charis in dem
166 Der Gott des innersten Gefiihls

vor Wut blitzenden Augedes Sosias Apollo zu erkennen meint, so macht diese
Parodie die objektive und metaphysische Komik sichtbar, die überhaupt
zwischen der Endlichkeit des Menschlichen und der Unendlichkeit des
Göttlichen ihr Spiel treibt. Aberdie eigentliche Wahrheit, um die es in diesem
Verhältnis geht, hat einen fast tödlichen Ernst. In der heiteren Feierlichkeit der
abschließenden Theophanie kommt etwas heraus, was eine bleibende Wahr-
heit des menschlichen Herzens ist: daß die irdisch erscheinende und daher
tragisch zu nehmende Verwechslung die Verwechslung mit einem Gott und
daher keine Verwechslung war. Was bei Moliere in der Sphäre höfischer
Etikette die Auflösung bedeutet, das hat hier religiösen Ernst. Alkmenes
))Ach!«, mit dem das Stück schließt, läßt die auseinandergetriebenen Unter-
schiede des Menschlichen und des Göttlichen, des Gatten und des Geliebten,
in einer alles Endliche vollendenden Einheit mit Zustimmung zusammenge-
hen.
Der Weg zu dieser schließ lichen Auflösung ist alles andere als komisch.
Wenn in hoher Feierlichkeit der allseiende Gott aus Alkmenes Herzen das
Bewußtsein eines Frevels zu verbannen sucht:
Wer wäre außer mir, Geliebte? (1268)

so scheitert dieser Versuch zunächst daran, daß Alkmene ihrem innersten


Gefuhl nicht mehr vertraut. Sie beruhigt sich auch nicht bei der Auskunft, die
bei Moliere am Schluß die Ehre des Gatten befriedigt, daß der Betrüger selber
der Betrogene sei und die Überlegenheit des Gatten anerkenne, da er ihn
nachahmen müsse, um zu betrügen. Derartiges kann dem weiblichen Gemüt
Alkmenes keine Beruhigung gewähren:
o Gott, wir müssen uns auf ewig trennen. (1299)

So wird sie zur eigentlichen Heldin dieses komisch-tragischen Dramas, weil


sie sich nicht beschwichtigen läßt. Es bleibt dem Gott nichts anderes übrig, als
sie über die Sphäre menschlicher Konflikte ganz hinauszunötigen, und damit
vor eine dem weiblichen Herzen noch ganz anders schwierige Prüfung zu
stellen. Er erweckt in Alkmene den Glauben, daß es ein Gott war,]upiter, der
sie besucht hat. Damit verstellt sich aber erst ganz, was eigentlich heraustreten
soll. Denn indem ]upiter in der Gestalt des Amphitryon Alkmene davon
überzeugt, daß es allein ]upiter gewesen sein kann, muß er erfahren, wie
wenig das Göttliche ihr bedeutet:
Wie gern will ich den Schmerz empfunden haben,
DenJupiter mir zugefügt,
Bleibt mir nur alles freundlich wie es war. (1412ff.)

So kommt es zu der merkwürdigsten und aufregendsten Szene des Ganzen.


Der Gott, der Gott sein will, muß sich dagegen wehren, daß das göttliche Sein
Der Gott des innersten GefUhls 167

vom liebenden Herzen der Frau in ein halb widerwillig geleistetes Ritual
abgedrängt wird. Es ist nicht ein quilerischer EinfallJ upiters. sondern es trifft
ihr Herz, wenn er ihr die Erscheinung des Gottes als Rache damr deutet. daß
sie über dem irdischen Geliebten den höchsten Gott selbst im Gebet vergessen
habe. Es trifft ihr Herz. aber nicht so, daß sie schon lernt. Alkmene nimm t die
Warnung vielmehr so an, daß sie sich in dem Wahne bestärkt mhlt, sie solle
den Gott und den Geliebten unterscheiden, und sie könne es auch:
Wohlan! Ich schwör's dir heilig zu! Ich weiß
Aufjede Miene, wie er ausgesehn,
Und werd' ihn nicht mit dir verwechseln. (1471 ff)

Gewiß entspräche es unseren theologischen Vorstellungen von der Jenseitig-


keit Gottes, daß solche Verwechslung des Gatten mit dem Gott der eigentlich
religiöse Frevel sei. Was scheint näherliegend, als daß der Gott sich solche
Verwechslung verbittet-aber ist das die KleistscheTheologie? Ich glaube, die
Kleistsche Theologie - wenn man eine solche konstruieren wollte - würde
alles andere enthalten als eine Betonung derJenseitigkeit Gottes. Was wäre der
Gott fur Alkmene dann?
Gut, gut, du sollst mit mir zufrieden sein.
Es soll in jeder ersten Morgenstunde
Auch kein Gedanke fürder an dich denken:
Jedoch nachher vergeß ichJupiter. (1486ff.)
Soll man glauben, daß der Gott damit zufrieden sein und wirklich »durch
soviel Besserung gerührt« sein kann? Eine solche Frömmigkeit bestünde ja
gerade in dem Vergessen des Göttlichen. Kleist macht das vollends klar,
indem Alkmene sich sogar ausdrücklich wünscht. sie könnte »einen Tag
zurück leben« und sich »vor allen Göttern und Heroen [... ] riegelfest
verschließen«. Sie will sich zwar nicht geradezu der göttlichen Bestimmung
verweigern, die sie getroffen hat, aber
Läßt man die Wahl mir-

so bliebe meine Ehrfurcht ihm,


und meine Liebe dir, Amphitryon. (1537ff.)
So sicher scheint sie in ihrer Unterscheidung von GOtt und Gatte.
Diese vermeintliche Sicherheit Alkmenes ist in Wahrheit der Gipfel der
Verwirrung, ja der VerIeugnung ihres Gefühls. Das gerade kann sie nicht,
was sie hier gelobt. Und um ihr das klarzumachen, und nicht aus irgendeiner
quälerischen oder eigensüchtigen und eifersüchtigen Lust, fragtJupiter plötz-
lich:
Wenn ich nun dieser Gott dir wäre - ? (1540)
168 Der Gott des innersten Gefiihls

An diesem nochmaligen prüfenden Wort des Gottes wird ihre Verwirrung in


ihrer ganzen Tiefe aufgedeckt. Die vermeintliche Sicherheit ihres Unterschei-
dens bricht zusammen, und sie ist bis in das Innerste ihres Gefühls, dahin, wo
sie sich nicht mehr an ein vermeintliches Wissen und Unterscheiden halten
kann, zuruckgenötigt. Wenn sie nun vor die Wahl gestellt wäre, ob sie den
Gott, den sie in den Armen hielte, oder den Amphitryon, der sich ihr zeigte,
vorzöge, bekennt sie endlich:
Ja - dann so traurig würd ich sein und wünschen
Daß er der Gott mir wäre und daß du
Amphitryon mir bliebst, wie du es bist. (1566ff.)

Und auf diese Worte Alkmenes hin beendet Jupiter in königlicher Sicherheit
das Gespräch:
Mein süßes angebetetes Geschöpf!
In dem so selig ich mich, selig preise!
So urgemliß dem göttlichen Gedanken,
In Form und Maß, und Sait' und Klang,
Wie's meiner Hand Aonen nicht entschlüpfte!
Alkrnene: Amphitryon
Jupiter: Seirufrig,rufrig,rulUg!
Es wird sich alles dir zum Siege lösen.
Es drängt den Gott Begier, sich dir zu zeigen,
Und ehe noch des Stemenheeres Reigen
Herauf durchs stille Nachtge6lde zieht,
Weiß deine Brust auch schon, wem sie erglüht. (1569ff.)

Man hat die Szene erst verstanden, wenn man hier den notwendigen Schluß
des gan2en Seelengespräches erkennt. Hier flillt nicht etwaJupiter aus seiner
Rolle, sondern hier ist er am Ende seiner Rolle. Hier hat er - endlich - den Sieg
errungen, um den es ihm geht, Gott zu sein. Jetzt endlich bekennt sich
Alkmene ganz und unbedingt zu ihrem »innersten Geftihk Sie will den
Unterschied nicht mehr festhalten, sie weiß sich dessen sicher, was ist. Nun
findet Jupiter sie ),urgemäß dem göttlichen Gedanken« - offenbar deshalb,
weil sie Amphitryon nicht mehr, weil er Amphitryon, das heißt ihr Gatte ist,
liebt, sondern weil sie den wählt, den sie liebt und als gegenwärtig in ihrem
Gefühle hält. Damit erfüllt sie das Maß des göttlichen Gedankens. Indem sie
nicht mehr zwischen dem Gatten und dem Geliebten unterscheidet, gibt sie
beiden, dem Gatten und dem Gotte, ihr Sein. Der Gott ist der Gott des
innersten Gefühls. Es ist nur konsequent, daß Alkmenes Verwirrung von nun
an behoben ist und nicht wiederkehrt. War es doch der Sinn der vorausgegan-
genen Versöhnungsszene, die ,theologische< Auszeichnung Alkmenes mit
der Gewißheit ihres innersten Gefiihls zu versöhnen. Der Gott ist nicht mehr
,der Andere<. Er ist es so wenig, daß Alkmene überhaupt nicht auf die Idee
Der Gott des innersten Gefiihls 169

kommt, der zu ihr Sprechende, den sie fiir ihren Gatten hält, sei der göttliche
Besucher. Selbst dann nicht kommt sie auf diese Idee, als er ihr sagt, ein
Sterblicher sei da, der behaupte, Amphitryon zu sein. Sie empfmdet nur aufs
neue die unauslöschliche Schmach, die ihr widerfahren ist:
Entsetzlicher! Ein Sterblicher, sagst du? (2167)

So sicher ist sie, in aller Verzweiflung, ihrer selbst und ihres Vertrauens zu
dem, der gegenwärtig ist, daß sie auch dann nicht wieder schwankend wird,
als ihr, wie sie an der Seite Jupiters unter das Volk tritt, dort der wahre
Amphitryon gegenübersteht. Sie zögert nicht, den wahren Gatten zu ver-
leugnen und zu verfluchen. Das ist kein Irrtum Alkmenes. Vielmehr ist sie
damit Z'.l der Gewißheit ihrer selbst zurückgekehrt, die, wie alle angefochtene
und wiedergewonnene Gewißheit, eine höhere Gewißheit ist, als sieje war.
Das ist auch der theologische Sinn der ans Pantheistische streifenden Theo-
phanie Jupiters: er preist sich in ihr selig. Das will heißen, die Göttlichkeit der
Liebe ist in ihr zur Erscheinung gekommen. Für den Gott bedeutet das die
Anerkennung seines eigenen göttlichen Seins. Mit der möglichen Unter-
scheidung in Gatte und Geliebten ist auch die mögliche Verwechslung des
Gatten mit dem Geliebten und mit dem Gotte hinfallig geworden.
Wenn auch das Drama des ,Amphitryon( das Drama der Alkmene ist, kurz
vor der letzten Offenbarung des Göttlichen, als sich Alkmene flir Jupiter-
Amphitryon, also ,falsch( entscheidet, streift Amphitryon die gleiche Wahr-
heit, zu der Alkmene sich geläutert hat: Mit der größten Emphase bekennt er
sich zu dem »unerschütterlich erfaßten Glauben«, daß der andere »Amphi-
tryon ihrist«. Im Drama zwischen Am phitryon undJ upiter ist dies der gleiche
Höhepunkt, der im Drama zwischen Alkmene und Jupiter dort auftritt, wo
am Ende des langen, qualvollen Gespräches Jupiter ausruft:
Mein süßes, angebetetes Geschöpf!
In dem so selig ich mich, selig preise! (1569{.)

Deshalb macht Jupiter nun der Verwirrung ein Ende und erklärt vor allem
Volk:
Wohlan! Du bist Amphitryon. (2291)

Und wenn darauf Amphitryon sagt und fragt:


Ich bin's!-
Und wer bist du, furchtbarer Geist? (2292)

undJupiter antwortet:
Amphitryon. Ich glaubte, daß du's wüßtest. (2293)
170 Der Gott des innersten GcfUhls

so ist das nicht eine Steigerung komischer Kontraste allein, sondern spiegelt
die Aufhebung aller partikularen Icherfahrung, die sich im Anhauch des
Göttlichen ergibt.
Amphitryon! Du Tor! Du zweifelst noch?
Argatiphontidas und Photidas,
Die Kadmusburg und Griechenland,
Das Licht, der Äther, und das Flüssige,
Das was da war, was ist, und was sein wird. (2296ff.)

Hier scheint mir der religiöse Keimgedanke der Kleistschen Umdichtung


Molieres zu liegen. Bei Moliere hat Jupiter, als er in seiner unsterblichen
Glorie erscheint, dennoch nicht im eigenen Namen triumphieren können,
und der Seigneur Jupiter weiß damit seinem Lehnsmann Amphitryon .die
Pille zu versüßen(. Als Kleists Jupiter aber in seiner eigenen Glorie erscheint,
gibt es darin keinen Gegensatz mehr zu dem Triumph des irdischen Mannes:
Was du, in mir, dir selbst getan, wird dir
Bei mir, dem, was ich ewig bin, nicht schaden. (2321f.)

Der Triumph des Gottes und des Gatten ist einer, weil der Sterbliche und der
Göttliche, der Gatte und der Geliebte im zustimmenden Herzen der Frau einer
sind. Die Komödie der Verwechslung hat sich aufgelöst. Das Sein des einen ist
das Sein des anderen, nicht nur sofern Jupiter das All des Seienden und damit
auch Amphitryon ist, sondern weil auch umgekehrt Amphitryon nicht nur
dieser durch die Bürger von Theben bestätigte »hohe Sieger von Pharissa«
und der königliche Gatte Alkmenes ist, sondern der einzige, der rur Alkmene
existiert, der Geliebte.
Dürfte nicht auch Kleist, wie Hölderlin, sagen:
Und es waltet ein Gott in uns?
14. Vergänglichkeit
(1991)

Das Sich-Halten am Sein


Auch in Zeiten. in denen Wohlstand und Gedeihen so etwas wie ein behagli-
ches Glück versprechen. ist in unserem Daseinsgefühl das Wissen um die
eigene Endlichkeit immer rege. Es gehört zur Grunderfahrung des Men-
schen. daß er um seinen Tod weiß und zugleich nicht weiß, wann oder wie
bald er abberufen wird. Wissen um den Tod hat die Menschheit schon
Jahrtausendelang vor aller bezeugten überlieferung begleitet. Dafür gibt es
ein unumstößliches Zeugnis. Die Menschen haben ihre Toten bestattet. und
dabei haben sie nicht nur etwas beiseite geräumt und aus dem Bewußtsein
verdrängen wollen. Sie haben im Gegenteil den Verstorbenen. den großen
Herrn oder den großen Herrscher vor allem. weit über den Tod hinaus
festzuhalten gesucht. Das zeigen uns die Gräber. in denen die Fülle der
Votivgaben nicht nur von dem Gedächtnis an den Verstorbenen Zeugnis
ablegen. sondern weit mehr noch eine kultische Verleugnung des Todes
auszudrücken scheinen. Man muß es ja fast wie etwas Unglaubhaftes erst
lernen. daß all die kunstvollen Geräte und Gebilde. die die Archäologen den
Gräbern entreißen. nicht so sehr. wie es scheint, als überreste die Lebens-
kultur vergangener Zeiten spiegeln. Sie sind in Wahrheit alles Votivg.aben
und sind nicht für den wirklichen Gebrauch bestimmt, sondern für den
Gebrauch durch den Toten. Auch wissen wir. daß sich solches nicht etwa auf
eine bestimmte Religion beschränkt. etwa auf das klassische Altertum.
Griechenland und Rom. Es findet sich vielfach, wo menschliches Leben
seine Spuren hinterließ. in frühzeitlichen Gräbern oder an v'orzeitlichen
Gräberstätten. Wir müssen es wie eine Ableugnung des Todes oder wie
einen Widerstand gegen den Tod verstehen.
Es scheint fast widersinnig. daß die Besonderheit des Menschen in seinem
Wissen um den Tod besteht. das alle seine Lebensgewißheit begleitet. und
daß doch der Mensch die gewaltigsten Befestigungen in seinen Grabdenk-
mälern gegen den Tod errichtet hat. und diese haben manchmal Riesen-
ausmaße. wie die ägyptischen Pyramiden oder die Königsgräber der Wikin-
ger in Norwegen. - Und so fragt man sich. ob nicht am Ende beides. Wissen
172 Vergänglichkeit

um den Tod und Widerstand gegen den Tod, den Menschen überhaupt zum
Menschen gemacht hat. Am Ende ist auch die geheimnisvolle Macht der
Sprache ein Zeugnis für diesen rätselhaften Zusammenhang. Denn was ist die
Sprache anderes als das Stiften von Gedächtnis und das Vorstellig- und Sich-
gegenwärtig-Machen von Nichtseiendem? »Wenn auch abwesend, im Geiste
fest gegenwärtig« - so steht es im Lehrgedicht des Parmenides.
Das liegt im Dunkel der Vorzeit verborgen. Aber es bleibt zu spüren - in all
dem, was mit dem Grab verbunden ist. Von den Votivgaben bis zur Denk-
malskunst reicht eine lange Seelengeschichte. Was hat sie uns zu sagen?
Der griechische Tragödiendichter Aischylos hat den attischen Töpfergott
Prometheus mit dem alten Mythos vOn Prometheus verbunden, der das Feuer
vom Himmel gestohlen und den Menschen gebracht hat. Prometheus war in
der alten Sage wohl einer der Titanen, der, selbst ein Unsterblicher, den
WiderstandgegenZeus, den Herrscher auf dem Olymp, gewagt hat. Sohater
durch den Feuerdiebstahl gegen Zeus den Menschen eine Art Gegenwelt mit
eigener Souveränität ermöglichtl. Aischylos' Drama nun zeigt, daß dieser
Prometheus als der gute Geist aller menschlichen Kunstfertigkeit gelten darf.
Der Name des Titanen, Prometheus (= der Voraus-Seher), sagt, daß ihm der
Ausblick in die allen anderen verhüllte Zukunft gegeben ist. Prometheus hat
seine Unbotmäßigkeit gegen Zeus mrchterlich zu büßen. An den Kaukasus
geschmiedet, kommt täglich der Adler, um seine Leber zu zerhacken. Eine
schauerliche!, grausame Sage, die zeigt, wie der Kampfzwischen Unsterbli-
chen aussieht. Zugleich aber ist Prometheus ein Sinnbild unbeugsamen
Trotzes, der in ihm verkörpert ist. Sein Vergehen gegen Zeus ist zugleich der
Aufbau der ganzen menschlichen Welt, wie sich Prometheus selber rühmt.
Aischylos hat den Zusammenhang tiefsinnig gedeutet. Prometheus hat den
Menschen das Wissen um ihre Todesstunde genommen. Ihr Wissen um den
Tod ist ihnen aber geblieben. Sie wissen, daß sie einmal sterben müssen.
Damit ist das Wissen um den Tod zum Wissen einer verhüllten Zukunft
geworden und eben damit zur unbegrenzten Öffnung für Mögliches. Es ist
eine Gabe von Lebensgewißheit und Zukunft zugleich. Früher hätten die
Menschen, ihre Todesstunde kennend, in Höhlen gelebt und träge und
traurig dahingedämmert. Mit der Gabe des Feuers ist dem Menschen Kunst-
fertigkeit und damit alle Kulturfähigkeit durch Prometheus zuteil geworden.
Das ist die eigentliche Gabe des Prometheus: Der Voraussehende schenkt die
Verhüllung der Zukunft. So wurde in den Menschen Lebenskraft, Erfin-
dungsgabe und Gestaltungsfreude geweckt. All das liegt in der unbeugsamen
Lebensgewißheit der Menschen, die im Todeskampfihre einzige Niederlage
hinnehmen muß. Sie hat in dem unbeugsamen Trotz des Prometheus ihr
wahres Vorbild.

1 Siehe dazu ,Prometheus und die Tragödie der Kultur,. in diesem Band. S. 150f(.
Vergänglichkeit 173
Der Weg der Menschheit zur Kultur ist gewiß ein vielfacher gewesen.
Was sich hier in der griechischen Mythologie spiegelt, ist nur einer dieser
Wege, aber einer, der das gesamte Abendland dauerhaft geprägt hat. Es ist
die logische Energie der Griechen, die sich in ihrer mathematischen und
dialektischen Begabung entfaltet und so dominierend wird, daß sie die
Vergänglichkeit alles Seienden kaum je ins Bewußtsein treten lassen. Einer
der größten Denker der griechischen Frühzeit, Parmenides, hat alles Werden
und alles Vergehen als ein verirrtes Denken des Nichts abgewiesen. Ebenso
hat die älteste griechische Aufklärung in Milet die Ausgleichsordnung, die
die Natur beherrscht, von allem zufälligen und willkürlichen Handeln höhe-
rer Mächte abgelöst. Und selbst bei Parmenides fmdet sich nur ein einziges
Mal ein fast ungewollter Hinweis auf das Nichts, wenn er von dem Verge-
hen der leuchtenden Farbe spricht, das er, wie alles Anderswerden. als
Verirrung verwirft.
Nun waren gewiß die Wege der Menschheit zur Kultur sehr verschiedene.
Aber daß ihnen allen, wie dem griechischen Wege mit dem Wissen um den
Tod, die Bangnis der Vergänglichkeit zugrunde lag und daß alle ihre Ant-
worten, von Mythos und Sage, Antworten auf diese Bangnis darstellen, ist
ihnen wohl allen gemeinsam. Auch die Griechen wußten. wie Pindar es
singt: »Der Traum eines Schattens ist der Mensch. « Als die griechischen
Städte ihre eigene Lebensform fanden und über manche Wirrnisse hinweg
am Ende so etwas wie die Selbstverwaltung im Stile der griechischen Demo-
kratie geschaffen haben. war das eine sorgsame Sicherung des Gleichge-
wichts aller Kräfte. - Dies wurde der Boden. auf dem sich auch die logischen
Gaben der Griechen bis zur Redekunst und zur Streitkunst. zur Logik und
zur Dialektik. hinentwickeln durften. Das hat das Schrittgesetz der europäi-
schen Kultur bis zum heutigen Tage bestimmt - eine erste Vorbereitung der
Aufklärungsbewegung, die dann die beginnende Neuzeit und die heutige
Weltkultur geprägt hat.
Gleichzeitig blühte aber in Griechenland die Kunst, die griechische Tragö-
die, die griechische Plastik und die griechische Philosophie, in deren Schöp-
fungen der Zusammenklang von Mythos und Logos einen einzigartigen
Höhepunkt erreicht, der die gesamte Bildungsgeschichte Europas be-
stimmt. So ergreift uns noch heute wie gegenwärtig der Seelenton von
Abschied und Trauer, der uns von den aus platonischer Zeit stammenden
Grabreliefs erreicht. Sie beginnen mehr und mehr die kultische Form der
Votivgaben zu überstrahlen. Diese Grabreliefs tauchen in den verschieden-
sten Gauen Griechenlands aus der Erde auf und machen im Bildwerk die
Vergänglichkeit auf ergreifende Weise sichtbar. Der wachsende Reichtum
dieser Funde bezeugt, wie der leise und zarte Klagelaut uns alle rührt.
Sicheriich spricht daraus Gesinnung und Haltung der Oberschicht der da-
maligen Gesellschaft. Es ist aber vielsagend, daß diese Grabdenkmäler im
174 Vergänglichkeit

allgemeinen früh Verstorbenen gelten und in der Gedenkfeierlichkeit die


Gegenwart der Abgeschiedenen festhalten. ob es sich nun um im Kriege
gefallene Jünglinge handelt oder um einen bei einem Jagdunfall zu Tode
gekommenen, oder ob ein Reliefeine blühende junge Frau festhält, die wie
zum Abschied mit dem Schmuck spielt. der ihr durch die Finger rinnt. In all
dem liegt eine uns ganz vertraute Verinnerlichung, etwa wenn wir an das
Grabrelief in der Münchner Glyptothek denken. auf dem ein Jüngling mit
seinem Hund im Bilde erscheint - zugehörig, unzertrennlich und wie nun
vergebens suchend. Oder man denke an das vielfaltig sich wiederholende
Nebeneinander zweier würdiger Männergestalten. Da hält der Ältere den
Arm des Jüngeren leise umschlossen, mit einer Hand. die >drucklos beruhte.
zum Abschied des Vaters von seinem im Kriege gefallenen Helden. [n all
diesen Darstellungen stehen wir vor der Gegenwart des Gedächtnisses. So
denkt alles Denken über die Gegenwart hinaus, und selbst über das Ende des
eigenen Lebens hinaus. Bei allem Wissen um die Flüchtigkeit des Irdischen
haben sich Trauernde und Betrauerte in fester Kultordnung zu dauernder
Gegenwart erhoben.
Der Weg von den Votivgaben zu dem Bildgehalt der Grabszenen setzt ein
Festhalten fort. Noch heute bestätigt uns unser Sprachgefühl, daß man
jemandes Leben oder das eigene Leben nicht als vergänglich denken kann,
weil der Lebendige sich der Endlichkeit seines Daseins immer schon bewußt
ist. Vergänglich kann am Ende nur etwas heißen, was dauernden Bestand
versprach.

Im Zeichen desjenseits - das Diesseits der Bildenden Kunst


So ist es am Ende die Wende des Christentums, das in dem eigenen Leben
selber nicht mehr das eigentliche Leben sah. »Christus ist mein Leben und
Sterben mein Gewinn«, konnte ein frommer Christ noch in neueren Jahr-
hunderten singen - und in der Tat war es die Radikalität der christlichen
Botschaft von dem stellvertretenden Leiden Christi, durch das der Tod
seinen Stachel verlor. Der Glaube an die Auferstehung hat dem Himmel des
Wiedersehens eine Wirklichkeit verliehen, an der sich die irdische Welt ihrer
Vergänglichkeit erst voll eingeständig wurde. So trägt im christlichen Zeit-
alter das Motiv der Vergänglichkeit einen eigentümlichen Doppelsinn. Die
Vergänglichkeit steht gleichsam vor dem Goldgrund der Ewigkeit. So
konnten die christlichen Humanisten und ihre Verkünder im Zeitalter der
Romantik die Grenzen der griechischen Antike und ihr Scheitern an dem
Widersinn des Todes nicht verkennen. Novalis hat in seinen >Hymnen an die
Nacht( darin die Grenze des·Griechischen gesehen, daß erst durch die christ-
liche Botschaft der Tod wirklich überwunden worden sei.
Vergänglichkeit 175

Hier wußten selbst die Götter keinen Rat.


Der die beklommne Brust mit Trost erfüllte.
Das gleiche mußten selbst solche Dichter und Denker anerkennen. die ganz
von der Göttlichkeit der Welt und der Weltlichkeit der Götter ergriffen
waren. So auch Friedrich Hölderlin. Er hat in dem ,Einzigenc immer die
Bedrängnis seines Weltglaubens empfunden und in ,Patmosc dem christli-
chen Vorbehalt Achtung bezeugt2 • Die Verse lauten:
Es warten aber
Der scheuen Augen viele,
Zu schauen das Licht. Nicht wollen
Am scharfen Strahle sie blühn,
Wiewohl den Mut der goldene Zaum hält.
Wenn aber, als
Von schwellenden Augenbraunen,
Der Welt vergessen,
Stilleuchtende Kraft aus heiliger Schrift fallt, mögen,
Der Gnade sich freuend, sie
Am stillen Blicke sich üben.
Das sind Verse, die der Dichter denen widmet. die den Weg der inneren
Erleuchtung gehen. sich im Glauben gefestigt fuhlen und sich der Gnade
freuen. Für ihn ist es nicht länger oder noch nicht wieder der goldene Zaum
des Sonnenlaufs und der Blick auf die Ordnung des Alls, den das Glück des
Schauens und die Allgegenwart der antiken Götterwelt gewährte. Vor dem
Mahnmal des Kreuzes und des Gekreuzigten. vor dem Ewigkeitsgrund des
christlichen Glaubens und der Verheißung der Heiligen Schrift vermochte
der Christ »der Welt vergessen zu sein«. Die Welt hat damit an Gewicht
verloren. Die christliche Kirche war so sehr auf das Wort gestellt. daß sie nur
in der Innerlichkeit des Gedächtnisses, der im Glauben erfahrenen Erlösung
und der Erwartung der Wiederkehr des Erlösers. das Göttliche zu denken
vermochte. Der Grabspruch. den in der Mitte des 19. Jahrhunderts der
dänische Denker Kierkegaard rur sich gewählt hat. spricht das Ganze mit
Entschiedenheit aus:
Nur eine kurze Frist
Dann ist's gewonnen.
Dann ist der ganze Streit
In Nichts zerronnen.
Dann werd ich laben mich
An Lebensbächen
Und ewig, ewiglich
Mit Jesu sprechen.

2 Vgl. ,Hölderlin und die Antike., in diesem Band. S. I ff.


176 Vergänglichkeit

So war es für das christliche Weltalter, das die überwindung der Welt
lehrte, nicht so leicht, den großen Bewahrer allen Gedächtnisses in sich
aufzunehmen, und das ist die Kunst. Erst in solchem Gedächtnis kann aber
die Bangnis der Vergänglichkeit und ihre Annahme zur Sprache werden.
So folgen wir dieser Sprachwerdung, die sich im Bild wie im dichteri-
schen Wort vollzog. Die christliche Kirche hatte einen zweimaligen Bilder-
streit zu überstehen. Einmal wirkte das alttestamentliche Bilderverbot nach.
Die Bildkunst konnte insbesondere ein wirkliches Bild des Schöpfergottes
überhaupt nur in Wolken gehüllt wagen. Auch das Symbol des Kreuzes
zeigte in der frühen Christenheit noch nicht den Leib des Gekreuzigten.
Ebenso ist die Mutter Gottes und das Jesuskind erst langsam als Kultfigur in
die christliche Kirche eingedrungen. Selbst dann noch hat die Bildform
etwas von dem Wortcharakter der biblischen Verkündigung festgehalten,
wenn die Heiligenlegende das Bildbedürfuis der >Armenl befriedigte und
wenn die Madonna, von Heiligengestalten umgeben, das wortlose Gespräch
mit ihnen führt, das man die )santa conversazionel genannt hat.
Eine zweite Epoche der Bildfeindlichkeit stellte dann die Reformation
dar, die ja auf das Wort der Bibel erneut zurückging, die Kirchen von der
Heiligenpracht reinigte und das Wort der Predigt in den Vordergrund des
Gottesdienstes stellte. So blieben auflange hin auch Bilder, die wir Kunst-
werke nennen, im Grunde Kultbilder.
Erst langsam dringt dann Weltliches in die Bildwelt ein, ohne den Hauch
von Heiligkeit zu verströmen, insbesondere, nachdem mit der Reformation
Erfolg im Erwerbsleben, wie Max Weber gezeigt hat, als gutes Zeichen für
alle Sündenvergebung galt. Aber gerade damit wird die Welt als Welt in
ihrer Vergänglichkeit zum Gegenstand, sie ruht nicht länger in ihrer korpo-
rellen Schönheit und ihrer Glaubensverheißung, sondern das ist der Augen-
blick, in dem die Vergänglichkeit des Irdischen unter dem Stichwort der
Vanitas die Grundstimmung bildet: »All~ ist eitek Die neue Innerlichkeit
nachreformatorischer Frömmigkeit flihrte zu weltlichen Verewigungen hi-
storischer Ereignisse oder repräsentativer Herrscherpersönlichkeiten und
schließlich in dem individuellen Porträt dazu, daß das Kunstwerk feSthält,
was von der Vergänglichkeit bedroht ist.
Deutlicher spricht sich das im Aufkommen des Stillebens, der nature morte
aus. Hier ist die Vergänglichkeit selber zum Thema geworden. Die Pracht
der irdischen Dinge, die eine sinnenfreudige Weltlichkeit zu genießen be-
ginnt, hat ihre unheimliche Seite. Da sind die reichen Tafeln, die mit
erlegtem Wildbret oder mit geangelten Fischen bedeckt sind und schließlich
mit einem Überreichtum der Früchte der Erde. Man sieht den Dingen nicht
leicht an, daß sie die Vergänglichkeit dieser Welt zum Ausdruck bringen - so
groß ist die Pracht dieser Welt. Und doch, die Jagdbeute, die an der Wand
hllngt, ein Hase oder ein Pasan, der geangelte Fisch, dessen tote Augen einen
Vergänglichkeit 177
vom Tisch aus anglotzen, die Fruchte und die Blumen, all das sind sinnliche
Gewißheiten und doch auch Mahnmale der Vergänglichkeit. Die Orangen-
schale, die sich halbgeschält herabringelt, die Nußschale, die tropfende
Kerze, die halb heruntergebrannt ist, die flüchtigsten Lebewesen, Schmet-
terlinge, Insekten, Würmer - und dem Blindesten wird es deutlich, wenn
auch ein Totenschädel daneben liegt oder eine Inschrift lehrt: »Das sind die
allerschönsten Biom, die den Blick lenken nach oben. « Die alttestamentliche
Psalmenweisheit läßt uns sofort verstehen, daß Vanitas, Eitelkeit, für die
ganze sinnliche Welt gilt: Es ist eine Art glänzender Leere, ob wir das Wort
nun auf einen Menschen anwenden oder auf die Flüchtigkeit der Dinge, in
denen kein Bestand ist.
Wir stehen alle in der fortdauernden Auseinandersetzung zwischen der
christlichen Überlieferung und der sich ausbreitenden Aufklärung. Alle
Erkenntnis ist Abschied. Aber im Abschied reift auch Erkenntnis. Die
Seelengeschichte des Abendlandes ist davon beherrscht. Die Hinfälligkeit
alles Irdischen und die Vergeblichkeit aller hochfliegenden Pläne lehrt die
Erfahrung. Aber die ganze Natur wie die Menschenwelt, beide sind von
Zerstörung bedroht. Weltuntergangsängste gab es im christlichen Zeitalter
schon im Jahre 1000 und wieder um 1830. und überhaupt lebte man in der
Erwartung des Jüngsten Gerichts als des Endes dieser irdischen Welt. Das
spiegelt sich auch in dem dichterischen WiderscheIn. der zwischen Zeitlich-
keit und Ewigkeit wie ein zitterndes Licht hin und her weht. Etwas davon
hat jedes Werk der Kunst. dank der flüchtigen und geflihrdeten Vollkom-
menheit, die an allem Schönen haftet. Wie jeder Schaffende wird auch der
Kunstschaffende von heute immer wieder von der Vergänglichkeit aller
Dinge angerührt und gewinnt gerade daraus immer neuen Antrieb. der
Verzauberung durch die Kunst zu dienen. Zwischen der Vergänglichkeit der
Welt und der Erfüllung des Augenblicks verspricht die Kunst uns allen. daß
»in der zögernden Weile einiges Haltbare sei«. Auch die Oper. diese ehema-
lige Stätte gesellschaftlichen Paradierens, will an verborgene Emotionen
rühren.
Einige Zeugnisse aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts seien dem Leser
riahegebracht. Eine Novelle von Kleist, ,Das Erdbeben in Chili<, führt
Zerstörung, Hinflilligkeit und Verwüstung vor, und fürchterlicher noch als
die entfesselten Naturgewalten, die hier ihre Opfer forderten, ist der mörde-
rische Wahnsinn der verfolgungswütigen Menge, die das Liebespaar, das die
Natur verschont hatte, zerschmettert. Es ist ein kurzer Satz am Ende des
Unheils, dessen eherne Aussagekraft den erschütterten Leser aufrichtet:
überlebende nehmen ein elternlos gewordenes kleines Kind in die eigene
neue Familie auf. und das läßt an Aufbau selbst unter schrecklichsten Zerstö-
rungen glauben.
Andere Zeugnisse volksnaher Dichtung kommen einem in den Sinn. Der
178 Vergänglichkeic

alemannische Dichter Johann Peter Hebel hat in einfachen, volkstümlichen


Geschichten die HinflHligkeit alles Irdischen zu eindringlicher Darstellung
gebracht. Der Dichter durchmißt die einfache Wahrheit von der Verg~ng­
lichkeit und von der Hinnahme der eigenen Bestimmung in einigen Ge-
schichten, an denen man erfahrt, wie der Besitz eine leere Illusion ist. Da ist
die allbekannte Geschichte von dem Handwerksmann, der auf seiner Wan-
derfahrt nach Amsterdam kommt und über die dortigen Reichtümer staunt.
Wenn er sich bei den Vorbeigehenden erkundigt, wem dieser Palast da
gehört oder jene reiche Schiffsladung, die am Hafen gerade ausgeschifft
wird, regt sich in ihm etwas wie Neid. Er bekommt immer als Antwort
»Kannitverstan(( und hält das für den Namen eines so reichen Mannes. Aber
dann begegnet ihm auf der Straße plötzlich ein langer, langer Leichenzug mit
Kutsche und Trägern und einer großen Trauergemeinde. Wieder glaubt er
zu verstehen, daß hier der Herr ))Kannitverstan« zu Grabe getragen werde,
und da wird ihm seltsam leicht und dankbar und freudig zumute. Wenn er
sein eigenes bescheidenes Leben bedenkt - ihm ist es weiter gegönnt.
Das ist der Typus von Geschichten, die Hebel schlicht und kunstlos
erz~hlt. Aber in seinen in alemannischer Sprache geschriebenen Gedichten
erreicht er wahre Höhen dichterischer Weisheit, die schon Goethe seinerzeit
bezaubert haben. Da ist vor allem dieses lange Gespräch zwischen Vater und
Sohn über die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge. Man wird die originale
Fassung des alemannischen Dialektes nicht ganz leicht verstehen. Aber ein
Ton von Treuherzigkeit und Schlichtheit wird einen jeden erreichen, auch
wenn er dabei auf die übersetzung blicken muß. Vater und Sohn sprechen
über die Hinfälligkeit aller Dinge, und im langsamen Gespräch, in einer
wahren Seelenführung, führt der bäuerliche Vater seinen kindlichen Sohn in
die Wahrheit von der Hinfalligkeit aller Dinge ein. Zum Schluß erhebt sich
die Rede des Vaters ganz ohne Pathos oder Künstlichkeit, beim Anblick des
Stadtbildes von Basel, an dem der Weg hier vorbeifUhrt, zu einer wahrhaft
kosmischen Vision der Zukunft: wie bei dem Aufstieg zum Himmel durch
die Milchstraße die verbrannte Erde der früheren Stadt sichtbar ist und die
Schlösser, an denen sie vorbeigekommen waren, da unten zerfallen sind.
Beide, Vater und Sohn, nehmen am Ende mit der gleichen Ruhe und stillen
Gefaßtheit alles hin, wie es ist:Ja, so ist es mit den Dingen. Das Kind werde
dann selber vielleicht schon längst auf einem fremden Stern von allem
Ungemach befreit mit der verstorbenen Mutter und mit dem Vater vereint
sein, nachdem es längst seinen Erdenweg beschlossen hat. Die schlichte
Festigkeit bäuerlich-bürgerlicher Welt und ihre unangefochtenen christli-
chen Vorstellungen tragen das ganze Gespräch.
Am Ende des gleichen Jahrhunderts hat der Dichter Hugo von Hof-
mannsthai in den Terzinen) über Vergänglichkeit( gedichtet:
Vergänglichkeit 179

Dies ist ein Ding, das keiner je voll aussinnt,


Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.
Die Melancholie des Fin de siec1e hat hier dichterischen Ausdruck gefun-
den. Und doch heißt es bei Hofmannsthai anderswo:
Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der >Abend< sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt,
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Und wieder gegen Ende eines Jahrhunderts liest man bei dem westfali-
sehen Dichter Ernst Meister, der noch unser aller Zeitgenosse war3:
Die alte Sonne
rührt sich nicht
von der Stelle.
Wir
indem
dämmrigen Umschwung
leben
die Furcht oder
die schwere Freude.
Liebe-
Verlaß und
Verlassen,
von ihr
haben wir gewußt
auf dem Trabanten,
eh alles
vorbei.

3 Zur Interpretation dieses Gedichts vg!. .Gedicht und Gespräch<, in diesem Band,
S.345f.
15. Karl Immermanns >Chiliastische Sonette<!
(1949)

Ich schau' in unsre Nacht und seh' den Stern,


Nach dem die Zukunft wird ihr Steuer richten,
Bei dessen schönem Glanze sich die Pflichten
Besinnen werden auf den rechten Herrn.
Einst geht er auf, noch aber ist er fern.
Es sollen unsresjetz'gen Tags Geschichten
Zu Fabeln erst sich ganz und gar vernichten,
Dann wird gepflanzt der neuen Zeiten Kern.
Dann wird der König, den ich meine, kommen,
Und um den Thron, den ich erblicke, wird,
Wonach gestrebt das allgemeine Ringen,
Und was die Größten einzeln unternommen,
Was wir erkannt, worin wir uns geirrt,
Als leichter Arabeskenkranz sich schlingen!

*
Er wird als Held nicht kommen, kriegumweht,
Dm kümmern weder Franken, weder Slaven,
Da nur fiirTröpfe westlich unsrer Strafen
Gefiillte Schale oder ösdich steht.
Er wird auch nicht erscheinen als Prophet.
Er macht sie nicht zu eines Wortes Sklaven.
Vorüber gehn, so ihn zuiallig trafen,
Er predigt nicht, er lehrt sie kein Gebet.
Er gibt den Augen nichts und nichts den Ohren,
Sein achten weder Reiche, weder Arme,
Ihm schallt ein Fluchen und ein Segnen nie.
Doch wie er Speise nimmt und schlummert, wie
Er selig atmet in des Weibes Arme,
Fühlt alle Welt entzückt sich neugeboren!
1 Immennanns >Chiliastische Sonette. wurden dem Verfasser 1933 durch PAUL FRIED-
LÄNDER bekannt, dem der Verfasser seine Ausbildung als klassischer Philologe verdankt.
Ihm war die vorliegende Studie gewidmet.
Karllmmermanns .Chiliastische Sonette< 181

Wie Wahnwitz müssen klingen euch die Worte.


Denn nimmer ist der Ding' urmächt'ges Prangen
In euren ganz verarmten Sinn gegangen,
Ihr rauft von grünen Wiesen das Verdorrte.
Ihr sitzt beständig in des Hauses Pforte
Und fühlt ein schmerzliches, ein sehnend Bangen,
Ins Inn're der Gemächer zu gelangen,
Wollt aber euch nicht rühren von dem Orte.
Ihr seid so ferne jeglichem Genusse,
Daß mir die Zähre kommt, euch zu beweinen.
WIewohl ihr mich verlacht, wenn ich euch frage:
Ob ihr den Gott genosst im Brot am Tage?
Ob Engel mochten eurer Nacht erscheinen?
Ob Andacht euch durchschauert hat im Kusse?

*
Wenn auf des Königs Einzug harrt die Menge,
Und er zu lang' ausbleibt der Neubegier,
So treibet in den Gruppen da und hier
Zu manchem Possenspiel der Stunden Länge.
Dann springt ein Knabe wohl durch das Gedränge
Und ruft: • Ich bin's!. in nachgemachter Zier,
Die Krone auf dem Haupt von Goldpapier,
Und ihn begrüßen lachende Gesänge.
Dies Gleichnis setz' ich euch, daß niemand wähne,
Als ob mein Sehnen auf dem Flügelrosse
In niedre Dienste sich begeben habe.
Denn wo der Tand zu Hause, an der Seine,
Wirdjetzt gespielet meines Königs Posse,
Und Saint-Simon heißt der gezierte Knabe.

*
Wenn sich, mein Fürst, vor deiner Sohlen Spangen
Dereinst vom Weg empor ein Stäubchen stiehlt
Und jubelnd vor dir her im Lichte spielt,
So ist's der Staub des Menschen, der vergangen.
Und wenn zu deinen schönen Götterwangen
Sehnsüchtigwehend sich ein Lüftchen hielt.
So ist's mein Seufzer, der nach dir gezielt,
Eh' du erschienest, hinter Kerkerstangen.
Ich trug mich an der Zeitenjoche matt!
Nur das Gemeine lebt und ist beständig,
Im Handwerksschmutz verwaltet von den Zünft'gen.
182 Kar! Immermanns )Chiliastische Sonette.

Ach, die Verachtung macht so bald uns satt!


Ich bin's. Du kommst! DctlnJetzt entronnen, send' ich
Des Untertanen Eide dem Zukünft'gen!

Karl Immermanns dichterisches Werk ist nicht im ganzen in den klassischen


Bestand der deutschen Literatur aufgenommen worden, sondern nur sein
phantastischer Münchhausen-Roman, und auch aus diesem satirischen und
zeitkritischen Roman kennt man meist nur die kostbare Episode vom )Ober-
hof<, in der der Dichter in einer klassisch ausgewogenen Prosa das Leben
eines westfälischen Dorfschulzen meisterhaft schildert. Indessen ist es ganz
abwegig, in ihm nicht mehr zu sehen als einen Bahnbrecher auf dem Gebiete
der Dorfgeschichte. Das ländliche Idyll der >Geschichte vom Oberhof< hat
seinen Platz vielmehr im Zusammenhang eines großen Zeitromans, die die
pragmatisch-realistische Tendenz des Zeitgeistes dichterisch spiegelt. Im-
mermanns dichterisches Wesen ist sehr weit von ländlich-idyllischer Zeit-
flucht entfernt. Der Roman war die ihm spezifisch bestimmte Kunstform,
mit der er die eigene geschichtliche Situation wissend und gestaltend durch-
dringt. Er weiß sich einer Generation zugehörig, die in mehr als einer
Hinsicht nachgeboren war: weder die große Erschütterung der französi-
schen Revolution und des napoleonischen Zeitalters noch die geistige Ge-
burt der deutschen Literatur, die an die Namen Goethes und Schillers
geknüpft ist, hat er mit zeitgenössischem Bewußtsein erlebt und doch die
Ursprünge seines eigenen Daseins in diesen großen Geschehnissen erblickt.
Schon vor dem >Münchhausen< hat er in einem anderen großen Roman, den
>Epigonen<2, der in mancher Hinsicht ein Gegenstück des >Wilhelm Meister<
ist, sein eigenes zwiespältiges Zeitgefühl gestaltet und insbesondere den
Verfall der feudalen Lebensformen unter dem Andringen der industriellen
Revolution und des bürgerlichen Kapitalismus geschildert. Selbst zwischen
romantischer Rückwendung und offenem Sinn fur das heraufkommende
Neue hin- und hergezogen, hat er mit diesem Roman den Kampf der Kräfte
beschrieben, aus denen das bürgerliche Jahrhundert aufstieg und sich mit
steigender Saturierung in dem bürgerlichen Roman eines Friedrich Spielha-
gen und Gustav Freytag ein billiges Denkmal schuf.
Es charakterisiert die zwiespältige Natur des Dichters und die innere
Unsicherheit seines Lebensgefühls, daß er den Weg des Romans, den Weg
seiner bleibenden dichterischen Leistung und seiner echten geschichtlichen
Wirkung, nur zögernd betrat - beide Romane, die >Epigonen< wie der
>Münchhausen<, fallen in das letzte Jahrzehnt von Immermanns Leben (der
Dichter ist 1840 als Vierundvierzigjähriger gestorben). Seine zahlreichen
Dramen, seine Versepen und seine lyrischen Gedichte haben sich nicht
durchzusetzen vermocht. Doch fmden sich unter seinen Sonetten, die im
2 Vgl. den folgenden Aufsatz.
Karllmmennanns .Chiliastische Sonette< 183

ganzen weder an Reinheit der Form noch an dichterischer Geschlossenheit


den Vergleich mit der geschmeidigen Sonettenkunst seines großen literari-
schen Widerparts. des Grafen Platen. auszuhalten vermögen. funfGedichte.
die zu den vollendetsten Schöpfungen der deutschen Dichtkunst gehören.
Auch sie sind weithin unbekannt geblieben. Es sind die sogenannten .Chilia-
stischen Sonette<. die er im Jahre 1832 geschrieben hat und dem Sonetten-
band. den er 1830 veröffentlichte. später hinzufügte. Wer diese Gedichte
unbefangen liest. wird wie von einem neuen Ton betroffen innehalten. Die
übrigen Sonette Immermanns. denen die .Chiliastischen Sonette< als 17.-21.
Stück angefügt sind. enthalten gewiß manches Schöne. aber sie erfüllen
nicht das wahre Gesetz dieser Gattung. Die Kunstform des Sonetts ist durch
die Symmetrie ihres Versbaues und ihrer Reimverschränkung zu einer be-
sonderen Einheit gebunden. die den Zauber eines in sich ausgewogenen
Gefüges auch dann verleiht. wenn die dichterische Kraft von sich aus der
organisierenden Einheit ermangelt. Keine zweite Gattung des lyrischen
Gedichts übt daher auf die dichterische Neigung des Liebhabers eine solche
verführende Gewalt aus. Wir besitzen in vielen Sprachen reizvolle Sonette.
die mehr Dokumente des guten Geschmacks als des wahren dichterischen
Genies sind. Aber gerade um dieses Formzaubers willen. der dem Sonett
einwohnt. ist seine volle dichterische Belebung nur Sache einer höchsten
poetischen Dichtigkeit. Auch Immermanns Sonette bleiben hinter dieser
höchsten Forderung meist zurück. teils weil sie von zu geringer Bildkraft
sind. teils weil sie durch ein okkasionelles Element das kosmische Prinzip
ihrer Form durchbrechen. Die .Chiliastischen Sonette< dagegen - bis auf
eines. das vierte. das mehr im Meinen verbleibt - sind bis an die äußersten
Grenzen ihrer Form voll echten Lebens. Die Entsprechung ihrer Metren und
Reime trägt ihren gewaltig zusammengefaßten Sinnrhythmus. ohne je als
gesetzter Formzwang hervorzutreten. Der Kenner der deutschen Dichtung
fühlt sich unmittelbar an die schönsten Gedichte Stefan Georges erinnert: die
gleiche feierliche Glut. der gleiche magische Sprachzauber und vor allem die
gleiche Weite der Bogenführung, dies alles aber bei vollkommener Natür-
lichkeit in Wortwahl und Satzbau. Es wird sich zeigen. daß Immermanns
Sonette wie die Dichtungen Georges in einem größeren Zusammenhang
gesehen werden müssen, der solche Entsprechungen verstehen läßt.
Immermann selbst berichtet in seinem Reisejoumal vom Jahre 1831 von
einem Besuch in Frankfurt .•• Selbst chiliastische Ideen. Träume von einem
neuen Christus wurden mir vorgetragen, die mit starker Gewalt Punkte
meines Innersten trafen. Ich hütete mich aber immer, ihnen Worte zu leihen.
weil sie. ausgesponnen. zur Gotteslästerung oder zur entnervendsten Gei-
stesschwelgerei führen. Freilich kann uns in unserem großen Unglück nur
ein drittes Wunder helfen; wer das aber recht tief empfindet, der wird auch
wissen. daß nur die formlose unendliche Sehnsucht danach das Menschliche
184 Kar! Immermanns >Chiliastische Sonette<

ist, und daß dem Gotte wird überlassen bleiben müssen, sich in seiner
Erscheinung, wann und wie er will, offenbarend zu setzen.« Die >Chiliasti-
schen Sonette( sind unter solchen Anregungen im Herbst 1832 entstanden.
Es ist eine alte religiöse Vorstellungswelt, die hier über den modernen
Dichter Gewalt gewinnt. Chiliastische Erwartungen hängen mit dem Mit-
telpunkt der christlichen Lehre und der christlichen Frömmigkeit aufs engste
zusammen. Die Hoffnung auf die verheißene Wiederkehr des Herrn gibt ja
allem christlichen Glauben einen adventistischen Zug, und die Geschichte
des Christentums ist von Anfang an von Auseinandersetzungen mit einem
massiven Verständnis solcher Erwartungen durchflochten. Erweckungsbe-
wegungen, die die bevorstehende Wiederkehr Christi und die Begründung
des tausendjährigen Reiches verkünden, sind aber im besonderen in Immer-
manns Zeit und Umwelt zutage getreten. Vor allem der schwäbische Pietis-
mus des 18. Jahrhunderts hatte in der Exegese der Apokalypse solchen
eschatologischen Stimmungen ein theologisches Fundament geschaffen.
Der Prälat Bengel berechnete mit Scharfsinn aus den Zahlenangaben der
Apokalypse und den Beobachtungsdaten der astronomischen Wissenschaft
das nahe bevorstehende Kommen Christi auf das Jahr 1836, und die mächti-
gen Erschütterungen der Gesellschaftsordung und des staatlichen Gefiiges
Europas am Ausgang des 18. Jahrhunderts gaben solchen Erwartungen
weitere Nahrung. Denn der Wiederkunft des Herrn sollte ja die Herrschaft
des Antichrist vorhergehen, den man auf die Jakobiner oder Napoleon zu
deuten liebte. Insbesondere in den Immermanns Wirkungskreis benachbar-
ten Landschaften, im Bergischen Land, in Elberfeld, in Berleburg, lebte
auch in seinen Tagen ein solches chiliastisches Sektierertum fort. Der echte
religiöse Antrieb, den diese Erweckungsbewegungen aus der Erwartung der
Wiederkehr Christi gewannen, galt der Erneuerung der urchristlichen Le-
bensformen und ihrer caritativ-sozialen Impulse.
Indessen war es nicht nur die Vorstellungs welt abseitigen pietistischen
Sektierertums, die in Immermanns Phantasie Widerhall fand, als er die
Sonette schuf. »Der König, den ich meine« ist nicht der wiederkehrende
Herrscher der Apokalypse, sondern ein neuer weltlicher Heiland, der dem
allgemeinen Sehnen des Zeitalters nach einer neuen Ordnung der Dinge
Erftillung bringen soll. So motiviert sich vor allem das vierte der Sonette, in
welchem sich der Dichter gegen die Verwechslung mit dem damals in Paris
aufgetretenen Saint-Simonismus - die Lehren Saint-Simons lernte er in der
Darstellung von Carove kennen - ausdrücklich verwahrt. Der neue Hei-
land, der künftige Prophet, von dem er häufig redete, werde ein natürlicher
Mensch sein (Tagebucheintragung vom 13. 5. 1832). In der Tat, das Bild
dessen, der kommen wird, das die Sonette geben, ist das eines vollkommen
natürlichen Menschen, der eben durch die vollkommene Natürlichkeit, mit
der er sich darlebt, der Gründer einer neuen Zeit wird. Alle Vorstellungen
Karl Immermanns .Chiliastische Sonette< 185

von dem mystischen Kaiser, der die Gottesherrschaft auf Erden bringt, oder
dem prophetischen Verkünder einer neuen Heilsbotschaft fUhren in die Irre.
Die Gloriole seines Auftrags wird in nichts anderem bestehen als in der
überwältigenden Sicherheit, mit der er das Alltägliche lebt. Dies Bild eines
neuen Erlösers legt das Leiden der Gegenwart offen, wie es das dritte der
Sonette schildert: der verarmte Sinn der Menschen ist blind gegen »der
Ding' urmächt'ges Prangen«, sie sind unfähig zum Genuß. Speise, Schlaf
und Liebe, diese natürlichsten Akte des Menschseins, sind ihres heilen
Sinnes beraubt. Es ist der Zwiespalt zwischen der Weltlichkeit des Daseins
und seiner geistigen Sehnsucht, an dem die Menschheit leidet und von dem
sie erlöst wird durch den vollkommen natürlichen Menschen. »Nicht in
weltertötender Gestalt, sondern in weltverklärender Herrlichkeit« wird er
erscheinen. Die Zunft mit ihrem Handwerksschmutz, von der das letzte der
Sonette spricht, umfaßt ohne Zweifel auch die irdisch gewordene Kirche3 .
Die »Trocknis der Seelenkräfte«, mit der die neue maschinelle Produktions-
weise die Menschen bedroht, die Verdüsterung durch Schrift und Schule,
von der sich der Dichter zu dem »alten treuen Naturgeist rettet« - alle diese
Motive mußten den Dichter mancherlei Verwandtes in den Ideen des Saint-
Simonismus empfmden lassen. Schon das Motto, das Carove seiner ausge-
zeichneten, an Hege! geschulten Darstellung derselben vorausschickt, hat
ihn offenkundig berührt und klingt in seinen Sonetten an: »Unsere ganze
Zeit gleicht einem großen Haufen, der vor einer Kirche versammiet ist. ehe
der Gottesdienst begann, - es ist noch keine Andacht in ihm; Alle werden
aber bald von einem anderen Geist bewegt werden, dem Keiner widersteht
... « (aus G. H. Schubert, Ahndungen u. allgern. Gesch. des Lebens, I, 130).
Er wird Carove zugestimmt haben, wenn dieser an den Saint-Simonisten
anerkennt: »Sie deuten mit Recht auf die Notwendigkeit hin, das überwie-
gend irdische Heidentum und das, fast ausschließlich auf Erwerbung des
jenseitigen Himmels gerichtete, mittelalterliche Christentum durch eine Leh-
re zu ersetzen, welche den ganzen Menschen ergreife und auch dem Leben
auf Erden seinen vollen Wert ertheile. Sie haben Recht, wenn sie die Materie
den Klauen des Teufels entreißen und in den Gesetzen und Formen derselben
Göttliches anerkannt wissen wollen. « Die Verknüpfung religiöser und sozia-
ler Ideen, die er hier fand, mußte seinen eigenen Gedanken entgegenkom-
men. Erst recht aber wird er Caroves Kritik an der »ungeheuren Frivolität«
zugestimmt haben, »mit welcher die Saint-Simonisten sich unterwinden

3 LEO SPITZER hat durch seine .Note on Immermann's Chiliastische Sonette< (The
Germanic Review 1950, S. 196f.) die vorsichtige Formulierung. die jetzt im Text steht.
nötig gemacht. Er zeigt dort, daß Immermanns Vers eine dichterische Umschreibung
dessen ist, was man damals .Banausentum< zu nennen begann. also einen viel weiteren
Sinn hat, der die ganze Verhäßlichung des Lebens durch den .Zeitgeist< umfaßt. Vgl. auch
im folgenden meinen Aufsatz über die .Epigonen<.
186 Karl Immermanns .Chi)iastische Sonette(

konnten. der Menschheit das Leben ihres Lehrers als Ersatz für das Leben
Christi anzubieten.« Gerade weil sein Bild des neuen Heilands, das die
Sonette entwerfen. mit dem des Christentums wenig gemein hatte. mußte
er sich gegen die umgekehrte Verwechslung verwahren. insbesondere ange-
sichts der ungeheuerlichen Verherrlichung des von Saint-Simon versuchten
Selbstmordes durch seine Anhänger - sie priesen diesen Selbstmord als ein
Selbstopfer. das den Opfertod Jesu darin noch übertreffe. daß Saint-Simon
nicht wie Jesus andere an seinem Tode schuldig werden ließ. Aber nicht nur
die Apotheose des Meisters, auch der sozialrevolutionäre Affekt der Saint-
Simonisten und ihre Lehre von der >Heilung der Industrie( mußten ihm zu
kurz zielen. So sehr auch er die Selbstentfremdung des Menschen in der
modernen industriellen Gesellschaft empfand und die Notwendigkeit einer
Neuordnung aller Dinge fühlte. sein »Sehnen auf dem Flügelrosse« meint
dennoch nicht ein revolutionäres Gesellschaftsbild, sondern entwirft ein
neu es Bild des Menschlich-Göttlichen, das Symbol eines neuen Messias,
eine poetische Mythologie.
Eine neue Mythologie - dies Wort gibt Immermanns Sonetten nicht nur
die weitgezogene Nachbarschaft des romantischen Suchens und Sehnens
nach einem neuen - christlichen oder außerchristlichen - Mythos, die von
Hölderlin und Novalis über Mörike, Hebbel, Richard Wagner. Nietzsche
bis zu Stefan Georges Maximinkult reicht, es weist auch auf die geistigen
Wurzeln dieser Sehnsucht im deutschen Idealismus zurück, die sich zuerst in
Schellings Systemprogramm vom Jahre 1796 und Hegels Forderung einer
.volksreligion( bekunden. Denn tiefer als die Anklänge an den pietistischen
oder den sozialistischen Chiliasmus der Zeit reichen die Bezüge zum ideali-
stischen Denken in Immermanns eigene Welt hinein. Das bezeugt nicht nur
seine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Fichtes >Anweisung zum seli-
gen Leben<, die ihn in die Nähe der spekulativen Religionsphilosophie
Schellings und Hegels führt, indem sie den Gegensatz von Einheit und
Mannigfaltigkeit im Wesen Gottes selber sucht - auch der Dichter Immer-
mann hat in seiner tiefsten Schöpfung, dem >Merlin<, soIche Gedanken zu
gestalten versucht; in den Gedankenkreis seiner Merlin-Dichtung gehören
aber auch die >Chiliastischen Sonette(, die ihre reife Nachfrucht sind.
Immermann hat in seinem >Merlin( das Drama des Widerspruchs schaffen
wollen. Die germanisch-keltische Sagenfigur vom Zauberer Merlin, dem
geheimnisvollen Träger des seiner selbst kundigen Naturgeistes, ver-
schmolzen mit gnostischen Lehren von dem widergöttlichen Demiurgen.
der die Welt erschaffen habe. wird ihm zum Symbol des Zwiespaltes, der
sein eigenes Daseinsgefühl beherrscht. Uechtritz erzählt in seinen >Erinne-
rungen<, daß damals. als Immermann seinen >Merlin< dichtete, der Zwie-
spalt zwischen den heidnischen und christlichen Bestandteilen seines We-
sens, das Gefühl ihrer Unvereinbarkeit, auf seinen Gipfelpunkt gediehen
Karllmmcrmanns 'Chiliastische Sonettc. 187

war. »Man hörte ihn zuweilen von der Notwendigkeit eines neuen Mes-
sias träumen. der Gott und Welt (nach Art seines Merlin) zu versöhnen
kommen werde.« Der Dichter selbst hat in Briefen an Ludwig Tieck seine
Ansichten in ähnlicher Weise dargestellt. Das theologische Fundament
derselben ist an sich nicht neu: mit dem christlichen Spiritualismus. der ja
auch der Vorliebe Fichtes und Hegels für das Johannes-Evangelium und
der spekulativen Deutung der christlichen Inkarnationslehre durch den
Idealismus des absoluten Geistes entspricht, sieht Immermann die Ge-
schichte des Christentums als die beständige Auseinandersetzung zwi-
schen dem »einfachen und eigentlichen Geist desselben. der das Men-
schengeschlecht aus den Fesseln des äußeren Naturgesetzes befreite«. und
der »Herrschaft des Irdischen« über die Gemüter der Menschen. Die Kir-
chengeschichte ist der beständige »Kampf der beiden, wenigstens auf Er-
den unvereinbaren Dinge in Volk und Individuo«. Die Rückkehr zu der
Schlichtheit und Einfalt des Urchristentums, die die Reformation sucht,
ist ihm nur ein schöner Traum, der nicht lange dauert. »Bald tritt die
Doppelheit und der nie zu schlichtende Zwiespalt immer größer und ge-
waltiger auf, treibt auf dieser Seite zu neuen Heiden, die denn doch nichts
wären ohne das Christentum, auf jener Seite zu Christen, welche ohne die
Ausstattung durch Natur und Altertum auch zusammenschrumpfen wür-
den, und erscheint endlich in seiner Spitze da, wo nun selbst die heißeste
Andacht. die tiefste, unmittelbare Sehnsucht nach dem Göttlichen. so von
ihrer eigenen irdischen Fülle durchdrungen, verdichtet und verkörpert
wird. daß die Gnade von diesem Drange sich abwendet. und das Heilige
vor dem Gebete erschrickt.« Es ist die Richtung des modernen Pantheis-
mus, die Immermann hier beschreibt, und er zitiert Spinoza. Aber das
Eigene des Dichters liegt gerade darin. daß er den »Schritt weiter« zur
pantheistischen Naturvergötterung, den er in Spinoza sieht, nicht zu tun
vermag und eben deshalb den Widerspruch zwischen Gott und Welt zum
tragisch-unseligen Konflikt zuspitzt. Merlin wird ihm der eminente Re-
präsentant jenes »modernen. unbeschreiblichen, in seinem Reichtum un-
seligen Geistes«, vor dem er »manchen Schauder« verspürt habe. Die dra-
matische Gestaltung desselben mußte alle Vorstellungen von Schuld und
Buße hinter sich lassen. Die eigentliche Tragödie besteht ja gerade darin,
daß die Göttlichkeit der Welt. die »lebensvolle, energische Durchdrin-
gung .mit der Herrlichkeit, Fülle und Schönheit des Irdischen und Weltli-
chen« zu einer Vorstellung führt. die Gott »als einen dem Weltlichen
fremden, ja feindlichen auffaßt« (Uechtritz). Merlins Frevel ist, wie der
Dichter betont, nicht »psychologische Unwissenheit«, sondern im Ge-
genteil ,~die Andacht ohne Gott« - sie ist das »Elend an sich«.
Die Tragödie dieses modernen Pantheismus konnte nur als ein kosmi-
sches Drama gedichtet werden, und Immermann mußte zum Dichter die-
188 Kar! Immennanns .Chiliastische Sonette(

ser Tragödie werden, wenn er die Not des modemen, an seiner Vereinze-
lung leidenden Individuums in religiöse Formen reflektierte.
Die ideologische Reflexion dieses WlSeres »großen Unglücks« fUhrte den
Dichter zu gnostischen Gedanken. Der »Fürst dieser Welt«· konnte nicht der
christliche Teufel sein, nicht das» Ungeheuer mit Klauen und Schweif« oder
Goethes »listiger Kammerdiener, der seinem Herrn die Dime schafft«, denn
er ist ja das Prinzip jener Weltlichkeit, die selbst als göttliche Fülle erfahren
wird. So ist der Schluß gegeben, daß der Teufel mit Notwendigkeit aus
Gottes Wesen hervorgeht, wie die Welt - oder vielmehr: als die Welt, als
.. der in den Mannigfaltigkeit geoffenbarte Gott, der durch diesen Akt sich
selbst in seiner Einheit verloren hatte.« Immermann hat auf diese innere
Selbstentzweiung Gottes, die zugleich - eodem momento - auch sein Zu-
sammenschluß mit sich sei, in seinen >Memorabilien( eine kritische Ausein-
andersetzung mit dem »toten« Gottesgedanken Spinozas und Fichtes ge-
gründet und sich damit - offenbar, ohne es zu wissen - in den spekulativen
Bahnen Schellings und Hegels bewegt. Und wenn er sich auch wie diese
seiner Christlichkeit dabei sicher glaubt - »denn das Christentum entwickel-
te ja eben an Armuth, Schmach, Schmerz und Tod nicht die Nichtigkeit,
sondern die reale und korporelle Schönheit des Daseins« -, so ist der >Merlin(
doch keineswegs ein christliches Schuld- und Bußdrama. Nicht nur, daß es
in ihm recht »heidnischfrech« zugeht und Merlins tragischer Versuch einer
neuen Welterlösung sich auf dem Hintergrunde einer gnostisch-wider-
christlichen Satanologie vollzieht. Zwar gewinnt das Drama so gut wie die
Sonette seine dichterische Substanz daraus, daß sie das Mysterium der
menschlichen Beschränkung und »das Rätsel, wie ein Rest des Dumpfen in
der Welt gesetzt sein könne, wenn sie eine Seite der göttlichen Liebe ist«,
unaufgelöst lassen. Merlin, der sich vermißt, die Identität Gottes und des
Demiurgen zu enthüllen, und sich selbst als den Parakleten, den Bringer des
dritten Wunders bezeichnet, stürzt ins Nichts. Die unbegreifliche Majestät
Gottes wendet ihre Gnade von ihm - nicht weil er falsch dachte, Schuld auf
sich lud und nun büßen muß, sondern weil seine unmittelbare Vereinigung
mit Gott an seiner menschlichen Beschränktheit zuschanden wird. Nur im
Gebet ist dem Menschen die Vereinigung mit Gott beschieden - an ihr
festhaltend, das Vaterunser auf den Lippen, stirbt Merlin und läßt damit den
widergöttlichen Versuch Satans, durch die vollkommene Weltlichkeit die
Menschheit von der christlichen Weltvemeinung zu erlösen, scheitern.
Aber auch dieses SchIußmotiv des .Merlin( ist trotz seinem christlichen
Klang gnostischer Herkunft und Art. Die valentinianische Gnosis, die Im-
mermann aus Neanders Kirchengeschichte kannte, sah im >Horos(, der
>Beschränkung(, geradezu eine der kosmischen Potenzen, und Merlins Un-
tergang ist wie eine AustUhrung des bei Neander stehenden Satzes: »Sobald
irgend etwas über diese Schranken hinauswill, sobald irgend ein Wesen, statt
Kar! Immennanns .Chiliastische Sonette, 189

Gott in seiner Offenbarung, wie er sich ihm selbst auf seinem besonderen
Standpunkte darstellt, zu erkennen, in dessen verborgenes Wesen eindrin-
gen zu wollen sich erkühnt, geräth es in Gefahr, ins Nichts zu versinken.
Statt das Reelle zu erfassen, verliert es sich ins Wesenlose.« Ja, der Dichter
hat in einem Brief an Tieck sogar gestanden, daß er ursprünglich einen
anderen Schluß geplant hat: »Im Nachspiele sollten aus dem Hades herauf
die Gesänge der Schatten der Tafelrunde erschallen, deren Inhalt eine Art
wehmütigen Glückes war, Merlin selbst sollte als Geisterstimme das Ganze
epilogisieren, sich zum weltlichen Heiland erklären und aussprechen, daß,
weil nun einmal alle Freude und aller Schmerz der Erde in einem Individuo
durchgefühlt worden sei, der Fluch sich erschöpft habe und jeder Künstler in
der Grotte des Dulders Trost finden könne. (e Dieser geplante Schluß habe
dann einem einfacheren und mehr .populären( weichen müssen, aber nicht
um der christlichen Ergebung das letzte Wort zu überlassen, sondern "ein
vollerer, metaphysischerer Klang hätte vielleicht das Ganze in die Metaphy-
sik und Philosophie getrieben. Die Kräfte des Himmels und der Hölle haben
sich bewegt, das übermenschliche hervorzubringen, eine Figur, die die
beiden Pole zusammenknüpft, und es kommt doch in letzter Instanz nur zu
einem Beschränkten, Anthropologischen. Mich dünkt, der Künstler mußte
sich auf diese Sphäre resignieren.«
Dieser Bericht ist rur Immermanns messianistische Gedanken und damit
auch für die .Sonette( von der höchsten Wichtigkeit. Was hier als Abschluß
der gnostischen Tragödie geplant war, ist allerdings das äußerste Gegenteil
des christlichen Bußgedankens: eine neue weltliche Christologie. Die bei den
Pole des Geistigen und des Weltlichen, deren Zwiespalt das immer schärfer
sich zuspitzende Leiden der Menschlichkeit ausmacht, sollten in dem neuen
stellvertretenden Duldertum Merlins zusammengeknüpft werden, sein Un-
tergang sollte die Bedeutung eines erlösenden Märtyrertums haben, und nur
um nicht in Dogmatik und Philosophie zu verfallen - nicht etwa um Christi
willen -, mußte sich der Künstler bescheiden. Ja, Immermann hat sich
anscheinend sogar mit Plänen für einen .Erlösten Merlin( getragen. Indessen
behielt doch der ausgeführte Schluß der Merlin-Mythe für ihn eine dauer-
haftere Geltung, wie das lyrische Gegenstück .Merlin im tiefen Grabe<
beweist: die Erlösung der Kreatur »von Harren und von Ängsten«, das
Freiwerden des Naturgeistes wird nicht sein:
Doch das wird nimmer glücken.
Das Reich. die Macht ist sein.
Merlin wird unvernommen
Und unerlöst sein.

Der Widerstreit, in dem hier Immermanns theologische Spekulation und


sein Künstlertum zu liegen scheinen, geht aber nicht in einem bloßen Zu-
190 Karl Immermanns ,Chiliastische Sonette.

rückweichen der dichterischen Gestalt\111g vor der Forderung des Gedan-


kens auf. Das beweisen gerade die >Chiliastischen Sonette<, die das Thema
neu aufnehmen. Vielmehr ist auch an diese dichterische Beschwörung eines
neuen weltlichen Heilands die Frage zu stellen, was eigentlich ihr Geltungs-
anspruch ist und aus welcher Wahrheit er sich herleitet. Dafür gibt der obige
Bericht einen Hinweis, wonach »jeder Künstler in der Grotte des Dulders
Trost finden könne«. Wenn so die Erlösung des Künstlers das letzte Ziel
jener Mythe sein soll, so ist es auch das Leiden des Künstlers an dem
Zwiespalt von Gott und Welt, das den eigentlichen organisierenden Punkt
der ganzen Gedankenbildung darstellt. Das aber ist in der Tat die schmerz-
hafte Erfahrung des Künstlerturns in der modemen Welt, daß er den im
christlichen Weltalter aufgebrochenen Widerspruch zwischen GottesJensei-
tigkeit und der Weltlichkeit seines eigenen bildnerischen Auftrags als unauf-
löslich erfährt. Die gesamte Theorie vom klassischen Altertum, die dem
ästhetischen Humanismus von Winckelmann bis Goethe, aber auch der von
Friedrich Schlegel zuerst entwickelten romantischen Kunsttheorie zugrunde
lag, beruht auf der Vorbildlichkeit und Unwiederbringlichkeit der .schönen
Kunst< der Griechen, in der jener Gegensatz aufgehoben war. Das Fazit
dieser Entwicklung hat dann Hegel mit der berühmten These vom Vergan-
genheitscharakter der Kunst gezogen. Dante verdankt dem die besondere
Verehrung der Romantiker, daß er in seiner >Göttlichen Komödie< diese
gewaltige Scheidung des Geistigen vom Körperlichen überwand. Der
Kunsthistoriker Schnaase, dessen teilnehmende Freundschaft Immermann
gerade beim Entstehen der Merlin-Dichtung begleitete, schreibt in den
.Niederländischen Briefen<: »Man könnte die ganze geistige Geschichte des
Mittelalters als die Entwicklung dieses Gefühls betrachten. In Dante trat es
zuerst in völlig belebter, geistiger Kunstgestalt auf ... nach scheinbarer
Vereinigung trennten sich die geistige und die sinnliche Natur aufs neue.«
Hölderlins Leiden an der Unvereinbarkeit seiner Liebe zu der griechischen
Götterwelt und seiner Vorliebe für den >Einzigen< ist das ergreifendste, weil
in die äußerste Eindringlichkeit getriebene Dokument dieser Not: »Die
Dichter müssen auch, die geistigen, weltlich sein. «4 Die christliche Parado-
xie der Menschwerdung Gottes, die im christlichen Weltalter ihre universel-
le Formkraft auch über die bildende Kunst behauptet hatte, bricht im mo-
dernen Künstlertum des .isolierten Egoisten< (F. Schlegel) zum vollen Kon-
flikte auf und treibt das Kunstwerk zu dem metaphysischen Anspruch einer
- wenn auch immer nur einmaligen und im künstlerischen .Erlebnis< unver-
weilend genossenen - .Versöhnung des Verderbens< herauf. Seitdem haftet
der Kunst und ihrem Voll bringer, dem Künstler, eine neue Art religiöser
Würde an. Man ist versucht, um dies zu bezeichnen, dem Begriff der

4 Vgl. in diesem Bande meinen Aufsatz über ,Hölderlin und die Antike., S. 1 ff.
Karllmmermanns .Chiliastische Sonette. 191
Kunstreligion, den Hegel für die griechische Kunst gebraucht hatte, eine ins
Subjektive gewandte Bedeutung zu geben. Der Künstler des neunzehnten
Jahrhunderts ist in der Tat so etwas wie ein >weltlicher Heiland<, und wenn er
religiöse Symbole zur Aussage seiner letzten Daseinserfahrung gebraucht,
schweben diese in einer ungewissen Mitte zwischen religiösem Ernst und
ästhetischem Spiel. Auch Immermanns·>Chiliastische Sonette< erheben nicht
den Anspruch, das Leiden der Gegenwart durch religiöse Prophetie aufzulö-
sen, sondern wollen es dichterisch verklären. Es ist nicht so, daß ihn sein
Künstlertum von den kühneren Ansprüchen seiner gnostischen Metaphysik
zurückhält und die geplante Absolution durch den Dulder Merlin verwerfen
heißt - es ist im Gegenteil sein Künstlertum, das ihn überhaupt erst an die
zweideutige Grenze seines chiliastischen Traumes heraustreibt. Die echte
dichterische Kraft seiner Sonette beruht gerade auf ihrem Einklang mit
seinem Denken und Wissen, das ihm sagt, »daß nur die formlose unendliche
Sehnsucht danach das Menschliche ist, und daß dem Gotte wird überlassen
bleiben müssen, sich in seiner Erscheinung, wann und wie er will, offenba-
rend ·zu setzen«. Andere haben aus dem »nie zu schlichtenden Zwiespalt ..
gewaltsam auszubrechen gewagt. Man denke an Nietzsches Selbstapotheose
als Dionysos oder an Stefan Georges Maximin-Erlebnis. Und doch hat
Nietzsche in seiner Selbstapotheose sich selbst verloren und Stefan Georges
kultstiftende Herrscherlichkeit gelangte nicht zur Verbindlichkeit eines ge-
meinsamen Mythos.
Aber noch eine andere Wahrheit wird hinter der Tragödie des modernen
Künstlertums sichtbar. Es ist kein Zufall, daß in Immermanns Abgrenzung
gegen den realen politischen Anspruch der Saint-Simonisten die matte Wen-
dung von dem »Sehnen auf dem Flügelrosse« begegnet. Auch die politi-
schen Heilslehren des 19. Jahrhunderts tragen etwas von der religiösen
Weihe der Eschatologie an sich. Der Dichter, der eine ihrer Erscheinungen
abweist, möchte sich in die unverbindliche Weite seiner geflügelten Freiheit
zurückziehen. Er gesteht damit etwas, das er nicht verleugnen kann, ein
allgemeines Schicksal der Moderne, das in ihrer künstlerischen Welterfah-
rung nur prototypisch begriffen ist. Die Kunst ist nicht, wie sie es im
Griechentum war, die bildnerische Darstellung der mythisch erfahrenen
Wirklichkeit - sie ist auch nicht das weltliche Widerspiel der christlichen
Jenseitsgewißheit, sie ist nicht von dieser und nicht von jener Welt, sondern
das >innere Reich<, das sich die weltlose Subjektivität des modernen Men-
schen erschafft. Sie ist die Dokumentation seiner Weltanschauung, gerade
weil er die Welt nicht als geschöpfliche Ordnung anschaut, sondern seinen
eigenen Entwurf darin dargestellt sucht. So ist sie Ausdruck seiner Innerlich-
keit. Der Künstler ist der Souverän in diesem Reich der Innerlichkeit, das
dem modernen Menschen seine verlorene Heimat, seine geistliche wie seine
weltliche, ersetzen soll und nicht ersetzen kann. Er lebt - zumeist auch als
192 Karllmmermanns .Chiliastische Sonette'

)Religiöser< - ästhetisch, d. h., er sucht die Auflösung des Zwiespalts zwi-


schen Geistigem und Körperlichem in der Tröstung der Kunst. Er verbirgt
sich damit nicht nur die Not seiner Einsamkeit - er weicht damit auch seiner
unausweichbaren Aufgabe aus, sich Dasein zu geben. »Eine Kirche gibt es
kaum noch, der Feudalismus hat ganz aufgehört, und etwas Analoges wie
den Staat des Altertums erblicken wir nur erst in der Zukunft in dämmern-
den Umrissen.«
16. Zu Immermanns ~pigonen-Romanl
(1964)

Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts ist nicht reich an Romanen, die
sich neben den großen Leistungen der Engländer, der Franzosen und der
Russen behaupten können. Stendhal, Balzac, Flaubert. Zola, Proust: jeder
dieser Namen bezeichnet nicht nur eine wesentliche Etappe in der Entwick-
lung dieser dichterischen Gattung, sondern auch in der Gesellschaftsge-
schichte des bürgerlichen Jahrhunderts , die in ihren großen Romanen ihren
bedeutendsten geistigen Niederschlag fand. Ahnliches ließe sich von dem
englischen Roman von Dickens bis Joyce oder von dem russischen Roman
sagen, der von Gogol über Turgenjew, Dostojewskij, Tolstoi, Leskow und
Gorki den wahrsten Spiegel des russischen Lebens und die wirksamste
Ausstrahlung des russischen Geistes auf die Gesamtkultur Europas darstellt.
Es wäre schwer, ja, es wäre unmöglich, die großen Erzähler deutscher
Zunge, die in diesem Zeitraum aufgetreten sind, in gleicher Weise als die
Repräsentanten unseres geschichtlichen Lebens zu deuten. Gewiß erlauben
auch die großen Romankunstwerke der deutschen Literatur, den Zeiten-
wandel und die gesellschaftlichen Veränderungen im deutschen Leben zu
erkennen. Goethe, Stifter, Gottfried Keller (wenn man ihn als Deutsch-
schweizer in dieser Reihe nennen darf), Theodor Fontane, Thomas Mann
behaupten einen ehrenvollen Platz in der Weltliteratur. Sie sind auch ohne
Zweifel wichtige Dokumente der deutschen Gesellschaftsgeschichte der
Zeit. Das liegt ja im Wesen des Romans, daß er stärker als irgendeine andere

I Die Studie wurde MARGARETE SUSMAN in dankbarer Erinnerung an frühe Anregung


durch die Schrift .Das Wesen der modemen deutschen Lyrik. (Stuttgart 1910) zum 90.
Geburtstag gewidmet. Inzwischen ist die genau dokumentierte Untersuchung von MAN-
FRED WINDFUHR, Immermanns erzählerisches Werk (Gießen 1957) erschienen. Aus ihr
geht hervor, daß die Wendung zum Zeitroman nicht etwa durch die Juli-Revolution
ausgelöst wurde, sondern daß im Gegenteil die Arbeit an dem Roman durch dieses
Ereignis eine Weile ins Stocken geriet. In diesem Punkte ist die Darstellung bei HANS
MAYER, Studien zur Deutschen Literaturgeschichte, Neue Beiträge zur Literaturwissen-
schaft, Bd. 2, S. 123ff. zu berichtigen. Auch die .Chiliastischen Soneue •• die 1832 entstan-
den, bezeugen das, sofern sich dort das empfindliche ZeitgefUhl des Dichters ausdrücklich
gegen falsche politische Aktualitäten (Saint-Simonismus) wehrt. AusfLihrlicher dazu im
Vorhergehenden, S. 184 ff.
194 Zu Immermanns Epigonen-Roman

dichterische Gattung die Prosa des wirklich gelebten Lebens abbildet. Aber
schon die oben getroffene Auswahl der Namen hat nichts Zwingendes. Man
wird z. B. schwanken, ob nichtJean Paul am Anfang dieser Reihe erscheinen
müßte, und man wird das epische Genie Fritz Reuters in diese Reihe stellen
wollen, das doch auch wieder keinen Platz in ihr findet. Ist solche Unsicher-
heit nur rur uns vorhanden, die wir unserer eigenen Dichtung so nahe
verbunden sind, daß jede Auswahl uns willkürlich erscheint? Oder zeigt sich
darin ein objektiver Unterschied zu den anderen Literaturen?
Die Antwort muß sein: es liegt in der Sache, nicht in unserer besonderen
Perspektive. Das wird aus vielem deutlich. Die deutschen Dichter, deren
Romanschöpfungen sich in der Weltliteratur einen Platz erobert haben, sind
offenkundig nicht in dem gleichen Sinne Romanciers, in dem es die großen
französischen oder russischen Romanschriftsteller sind. Der Romarrist eine
ihrer Ausdrucksformen unter anderen, nicht minder gewichtigen. Gewiß
haben auch die französischen oder russischen Erzähler neben ihren Romanen
glänzende Erzählungen im Novellenstil geschaffen. Aber das innere
Schwergewicht ihrer Romanschöpfungen wird dadurch nicht beschränkt.
Ihre Romane haben einen universalistischen Zug, der die comedie humaine in
der ganzen Ausbreitung ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit zur umfassen-
den Darstellung bringt. Die wenigen Romane der deutschen Literatur dage-
gen, die einen gleichen künstlerischen Rang besitzen, sind ganz anderen
Wesens. Ihr Reichtum ist nicht der einer ausgebreiteten Weltfülle, sondern
der der Sammlung und Verdichtung der Welt in die innere Bildungsge-
schichte ihrer Helden. Allerdings hat die Form des Bildungsromans, die
Wieland, Goethe, Jean Paul, Stifter, Gottfried Keller in so bedeutender
Weise repräsentieren, auch in anderen Literaturen ihre Vertreter. Aber es ist
doch mehr als ein Zufall, daß Goethes ,Wilhe1m Meister<, der in der deut-
schen Literatur gleichsam an der Eingangspforte des Jahrhunderts des Ro-
mans steht, mit einer besonderen Ausschließlichkeit dieser Gattung ange-
hört. Gewiß ist auch der ,Wilhelm Meistere ein echter Roman, d. h., er
bringt in den Vorgängen, die das Schicksal seines Helden ausmachen, be-
deutenden Weltstoff zur Darstellung. Aber wie unbestimmt bleibt diese
Welt, die der Seelengeschichte Wilhelm Meisters, einem der genauesten und
lebendigsten Seelengemälde der Erzählungskunst aller Zeiten, den Schau-
platz bietet. Es sind Kulissen von andeutender Allgemeinheit, ohne konkre-
te Bestimmtheit von Stadt und Landschaft. Und die Personen sind bei aller
lebendigen Charakteristik ihres WeSens gleichfalls in ihren gesellschaftlichen
Bezügen wie verschwimmend. Schon ihre Namen sind mehr nur Symbole
ihrer Individualität als ihrer konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zwar
sind die Grundelemente der Gesellschaftsordnung, in der die Geschichte
spielt, erkennbar und aufbedeutende Weise wirksam: Bürgertum, Adel und
die gleißende Zwischenwelt der ,fahrenden Leute<, in die der Held verwickelt
Zu Immermanns Epigonen-Roman 195
wird, um aus ihr den Weg zu verbindlicher Wirklichkeit des Lebens zu finden.
Aber wie wenig sind diese seine Lehrjahre ein Erfahren der ausgebreiteten
Weltfülle, wie sehr, wie ganz sind sie ein innerlicher Vorgang von absichts-
voll-zufälliger Bedeutung. Die Menschen, mit denen der Held zusammenge-
führt wird, sind nicht Menschen, wie man ihnen begegnet, Glieder einer
unendlichen Melodie, sondern, wie Friedrich Schlegel sie genannt hat, eine
"Suite von Bildungsstücken«, die im Grunde auch noch über den Helden
dieser Bildungsgeschichte hinausreichen .•• Nicht dieser oder jener Mensch
sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannigfachen
Beispielen dargestellt und in einfache Grundsätze zusammengedrängt wer-
den« (F. Schlegel in der klassischen Rezension des .Wilhelm Meister( im
Athenäum, 1798). Selbst die .Wanderjahre(, in denen Staat und Gesellschaft
zum eigentlichen Thema werden und Goethes bewundernswe~tes Empfin-
den für den Wandel des Zeitgeistes zujenem Neuen hin dokumentieren, dem
das dritte Jahrzehnt des neuenJahrhunderts entgegeneilte, sind ein Buch voll
Weltweisheit, abstrakter Phantasie und sozialer und pädagogischer Erkennt-
nis, aber kein Bild dieser gewandelten Zeit und Gesellschaft selbst.
In der Tat sind es erst die dreißigerJahre des 19. Jahrhunderts, in denen sich
die realistischeTendenz des Zeitalters literarischen Ausdruck verleiht und den
gewaltigen Vorgang der Industrialisierung Europas in seinen gesellschaftli-
chen Konsequenzen zur Darstellung bringt. Scendhal und Balzac, später
Flaubert und Zola. in England Dickens und Thackeray prägen die Kunstform
des modernen Gesellschaftsromans, der seither die herrschende Literaturgat-
tung des bürgerlichen Zeitalters ist. Ihr Gegenstand ist der .moderne
Mensch(, d. h. der Mensch in der Gesellschaft, für den .die Gesellschaft( zum
eigentlichen Schicksal wird. Jene >Gesellschaft(. die aus der Emanzipation des
Bürgertums erwachsend ein eigenes Gefugevon Klassen und Rängen entwik-
kelt, das die höfischen und aristokratischen Formen nachbildet und das neue
Zusammenleben von Adel und Bürgertum in einer von Besitz und Bildung
beherrschten Ordnung gestaltet. Hier nun ist es für die Entwicklung der
Lebensverhältnisse in Deutschland bezeichnend. daß der gesellschaftliche
Roman großen Stiles ausbleibt und an seiner Stelle der Bildungsroman in der
Nachfolge des> Wilhelm Meister( die eigentliche Kunstform des deutschen
Erzählertums bleibt. Denn man wird nicht im Ernst die pathetisch-sentimen-
talen Schwarz-WeiB-Malereien in den Romanen Friedrich Spielhagens oder
Gustav Freytags neben den groBen Kunstschöpfungen des französischen und
englischen Gesellschaftsromans nennen wollen. Die groBen Meisterwerke
der deutschen Romankunst des 19. Jahrhunderts, man denke an Stifter oder
Keller. suchen ihre Helden in einer Welt der innerlichen Bildung und doku-
mentieren damit die verhängnisvolle Entwicklung des deutschen Bildungs-
bewußtseins. das sich der Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft entfrem-
det.
196 Zu Immermanns Epigonen-Roman

Bedenkt man diese Zusammenhänge, dann gewinnt der große ~oman


Karl Immermanns, )Die Epigonen(, der 1836 in drei Büchern erschien, eine
besondere und unveraltete Bedeutung. Mehr als irgendein anderer Roman
des 19. Jahrhunderts stehen )Die Epigonen( in der Nachfolge von Goethes
)Wilhelm Meister(, und doch sind sie alles andere als der Roman einer der
gesellschaftlichen Wirklichkeit entfremdeten Innerlichkeit. Sie verfolgen
den Lebensweg ihres Helden, einen symbolisch-bedeutsamen Weg freilich,
durch die Spannungen einer Gesellschaft, die von dem Kampf der aufstre-
benden Industrie und des Kapitals gegen die überalterten Lebensformen des
Feudalismus beherrscht ist. Es ist der klassische Roman des Restaurations-
zeitalters. Immermann selbst spricht sich über die Zeit seines Romans in
einer der zahlreichen Spiegelungen, die die Figuren seines Romans über das
Ganze werfen, aus:
liDer Zeitabschnitt, in welchen unsere Entwicklungskrankheiten fielen-
denn so möchte ich die Geschicke, welche uns betrafen, nennen -, war vor
vielen geeignet, ein deutsches Sitten- und Charakterbild hervorzubringen.
Es war Friede im Lande geworden; die alten Verhältnisse schienen herge-
stellt, das Neue war auch in seinen Rechten anerkannt; alle Bestrebungen
hatten eine feste, naive Färbung, während die neu esten Weltereignissejegli-
che Richtung an sich selbst irre gemacht und in das Unsichere getrieben
haben.
Die Geflihle und Stimmungen jener Periode - der letzten acht oder neun
Jahre vor der Julirevolution -liegen fast schon als mythische Vergangenheit
hinter uns. Der Adel suchte sich mittelalterlich zu restaurieren; das Geld
glaubte treuherzig, wenn es nur den privilegierten Ständen den Garaus
machte, so werde die Welt den harten Talern gehören; der Demagogismus
wollte ·studentenhaft die Festung stürmen, die Staatsmänner meinten nach
Ideen regieren zu können; es gab Schriftsteller, welche mit großer Macht die
Einbildungskraft beherrschten; ein Denker [Hegel] stand unter seiner weit
sich breitenden Schule und katastrierte den Geist. Was ist von allem dem
übrig geblieben? Die französische Thronveränderung hat abermals das Ant-
litz der Welt verändert, und so wenig ich in weichliche Klagen über dieses
Ereignis und seine Folgen auszubrechen geneigt bin, so muß ich doch sagen,
daß die Jahre, welche ihr vorangingen, an geistigem Gehalt und an einer
gewissen Dichtigkeit des Daseins die Gegenwart übertrafen.«
Diese Worte, die einem Arzt in den Mund gelegt sind, charakterisieren
nicht nur den zeitgeschichtlichen Gehalt des Werkes, sondern auch die
eigentümlich zwiespältige Haltung des Dichters zu seiner Zeit.
Zweifellos ist Immermann eine Dichterpersönlichkeit von reichem Talent
und einer wahrhaft umfassenden Bildung. Wilhelm Dilthey hat recht, wenn
er ihn den Gebildetsten aus der ganzen Generation der in der Goethe-
Nachfolge stehenden Schriftsteller nennt. Seine IMemorabilien( und Reise-
Zu Immermanns Epigonen-Roman 197

tagebücher sind gleich ausgezeichnet durch die Anmut ihres Stiles wie den
Reichtum an Gedanken und an dichterischer Anschauungskraft. Sie vermö-
gen sich neben ihrem klassischen Vorbild, Goethes )Dichtung und Wahr-
heite, mit Ehren zu behaupten. Kein anderer seiner Zeitgenossen, auch
Heinrich Heine nicht, mit dem ihn gute persönliche Beziehungen verbanden
und dessen geistreiche Prosaschriften längst nach Gebühr geschätzt sind,
kommt ihm gleich. Und dennoch hat diese reiche Natur, in der dichterische
Unmittelbarkeit und gedankliche Kraft so glücklich gemischt waren, kein
dichterisches Gesamtwerk hinterlassen. das diesen Anlagen entspräche. Ein-
zig sein Münchhausen-Roman hat sich in der deutschen Literatur einen Platz
von bleibendem Rang erworben, und selbst dieses originelle satirische
Kunstwerk verdankt seinen Erfolg weniger der ihm vom Dichter gegebenen
Gestaltung im ganzen als der köstlichen Episode vom )Oberhofe, in der er
Land und Leute der )roten Erdee mit einer frischen Beobachtungskraft
geschildert hat, die ihr in der Gattung der Dorfgeschichte klassische Bedeu-
tung verlieh. Seine übrigen dichterischen Werke dagegen sind heute so gut
wie vergessen. Nur der Gelehrte weiß, daß er eine Fülle von Dramen, einige
V;ersepen, einige andel,"e Romane und Novellen und einen Band Gedichte
geschrieben hat. Wer sich heute in sein dichterisches Gesamtwerk vertieft,
wird überraschende Entdeckungen machen. Eine Novelle wie )Der 1leue
Pygmalione, ein dramatisches Gedicht wie der )Merline und die )Chiliasti-
schen Sonettee, aber auch der große Vorläufer des ,Münchhausene, )Die
:fpigonene, sind voll Tiefsinn und dichterischer Schönheit. Woran liegt es,
~aß gleichwohlImmermanns Werk so wenig bekannt und geschätzt ist? Ist
~s der Schatten des Größeren, den Goethes beherrschende Gestalt wirft, so
daß wir das geringere Kostbare nicht gewahren? Wenn man bedenkt, daß
manche romantische Dichtung, daß Grillparzer und Stifter, Heine und
Hebbel sich dennoch unter den gleichen Bedingungen durchsetzen, so er-
kennt man, daß es mit Immermann seine eigene Bewandtnis hat: sein
eigenes dichterisches Lebensgefühl ist zwiespältig, hin- und hergezogen
zwischen dem in Goethe repräsentierten ästhetischen Bildungsideal und den
realistischen Tendenzen des eigenen Zeitalters, zwischen romantisch-kon-
servativer Wehmut und frischer Bejahung der Gegenwart. Seine dichteri-
schen Arbeiten sind treue Spiegelbilder seines zwiespältigen Wesens - vieles
versuchend, oft überraschend gelungen in einzelnen Teilen und als Ganzes
doch selten rein und zwingend. Weder in der Abwehr noch in der Hingabe
dem Zeitgeist gegenüber eindeutig, ist ihm der eine wie der andere Weg
verschlossen, der ihn zur allseitigen Ausprägung im dichterischen Werk
fUhren konnte. Gerade dieses empfindliche Zeitgefühl aber weist ihn auf den
Weg des Romans, den er schließlich mit bleibendem Erfolg ging. Ist doch
die Kunstform des Romans selber die Sprachwerdung eines entzweiten
gesellschaftlichen Bewußtseins, in dem sich untergehende Welten brechen -
198 Zu Immermanns Epigonen-Roman

von Cervantes' großartiger Spiegelung des untergehenden ritterlichen Zeit-


alters bis zu Prousts mitleidloser Analyse der Bildungskultur des Fin de
siede. Der Plan eines großen Zeitromans hat Immermann über einjahrzehnt
beschäftigt, und es scheint bezeichnend, wie die Findung des endgültigen
Titels )Die Epigonen< das Ganze in seine Form bringt. Es ist ein Familienro-
man, der Fiktion nach die Herausgabe von Familienpapieren durch den
Dichter. Der Held der Geschichte ähnelt in vielem seinem Vorbild, dem
Wilhelm Meister. Auch er gerät in jungen Jahren in schicksalsvolle Verstrik-
kungen, aus denen er sich schließlich erhebt und ein an der Welt gebildetes
Selbstbewußtsein gewinnt. Aber )Die Epigonen< sind nicht, wie der) Wil-
helm Meister<, eine Darstellung des Gedankens der Bildung selbst, sondern
Zeitbild, das in der Geschichte seines Helden das gebrochene Generationsbe-
wußtsein des Epigonen, das seinen Dichter ausfüllt, spiegelt.
)) Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen
und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenenschaft anzukleben
pflegt. « Dieses Wort, das in dem Roman unter Zustimmung seitens des
Helden gesprochen wird, will zunächst eine geistige Verfassung beschrei-
ben: die durch die große geistige Bewegung der deutschen Dichtung und
Philosophie hervorgerufene leichte Zugänglichkeit aller geistigen Dinge,
die zu einer Art moralischer Seekrankheit fuhrte. Die Vorgeformtheit aller
eigenen Empfindungen und Gedanken, das leichte Bereitliegen der ))geist-
reichen, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten« entfremdet von der Eigen-
tümlichkeit der überzeugung. Man bewegt sich ständig in »Ansichten«.
Solche» Verderbnis des Wortes« ist aber weit mehr, als was sie scheint. Sie
macht alle Lebensverhältnisse zweideutig und haltlos. Sie fUhrt zu einer
allgemeinen Heuchelei als dem eigentlichen KerulZeichen unserer Zeit: der
Heuchelei der Bildung. Immermann bezeichnet es in einem Briefe an seinen
Bruder Ferdinand (April 1830) als die Aufgabe seines Romans, »das dadurch
entstandene eigentümliche Siechtum durch alle Verhältnisse hindurch dar-
zustellen. « In der Tat ist der Enthüllung der Hohlheit des allgemeinen
Bildungstreibens in den )Epigonen< ein breiter Raum gegeben. Insbesondere
Berlin, das Zentrum dieser kulturfreudigen Bestrebungen, ist dem Dichter
stets zuwider gewesen, und das Sigel, unter dem die Berliner Gesellschaft in
dem Roman auftaucht. ist bezeichnend genug: Byzanz - nicht ein Byzanz
der Despotenverehrung und Anbetung der geheiligten Macht, sondern ein
Byzanz der unwahrhaftigen Umschmeichelung des Geistes, der selbst der
Repräsentant des königlichen Hauses seinen Tribut zu zahlen hat. Doch das
ist nur die äußerliche. gesellschaftliche Seite einer viel tieferen Verderbnis.
die auch die ernsthaften Geister bedroht. Immermann spricht gelegentlich
von der Schwelgerei des Geistes. Der schwelgerische Geist ist die eigeptliche
Gefahr in dem modernen Elend. Die leichte Erwerbbarkeit der geistigen
Güter, das unwirklich bleibende Schweifen in sich selbst fuhrt zum Schwiir-
Zu Immermanns Epigonen-Roman 199

mertum - nicht nur im engeren Sinne des Worts zu religiöser Sekten bildung,
sondern ebensosehr zu den mannigfachen Formen der Bildungsschwärme-
rei, von denen der Dichter manches Ergötzliche vor allem in seinen »byzan-
tinischen Händeln« zu berichten weiß. Auch die Schloßbewohner des
Münchhausen-Romans leisten darin das Erheiterndste. Immermann ent-
wickelt einmal die Idee eines neuen Mönchtums. das. anders als das Mönch-
tum der christlichen Jahrhunderte, nicht in der asketischen Abtötung des
Fleisches und der Abkehr von der Welt bestünde, sondern im Gegenteil sich
den Gang in die Welt auferlegte: »Gerade umgekehrt wie de~ Mönch, der
sich aus der Welt zurückzog und in geistlichen übungen den Rest der
Fleischlichkeit abtötete, müssen wir aus unserer Stille uns in die Welt bege-
ben und an ihrem Wesen das übermaß des schwelgenden Geistes in uns
abtöten. In diesem Mönchtum leben bewußt oder unbewußt schon alle
denkenden und sinnenden Menschen.«
Das gleiche wird an Immermanns Stellung zu Goethe sichtbar, den er
ganz dem 18. Jahrhundert zurechnet, eben weil seine Poesie so ganz Aus-
druck seiner Individualität war: »Die Dichtung des achtzehnten Jahrhun-
derts ist die individuell-interessante, und man verfällt in den größten Irrtum.
wenn man ihr Haupt deshalb das objektive Genie nennt, weil ein höchst
vielseitiges und bewegliches Subjekt seine wechselnden Stimmungen zum
Objekt der Behandlung gemacht hat.« Die neue Wendung der Zeit aber
gehe .gerade auf die »Entäußerung von der Selbstigkeit«, auf eine Poesie,
»die von den großen Lebensgestaltungen an und für sich trunken ist«. Solche
Ideen sind charakteristisch für die inneren Spannungen, die insbesondere
innerhalb der von Hegels gewaltigem Geist beherrschten Schule zur Spal-
tung führten. Es ist der Umschlag der Philosophie in die Politik, den
Feuerbach, Ruge und in radikaler Form Marx zur Parole erheben. Auch
Immermann sieht diese Konsequenz - bis zu der Möglichkeit, daß die
kommende Weltepoche nicht mehr im alten Sinne Philosophie kennen wird.
Das Auseinandertreten von Theorie und Praxis, das die Auflösung des Alten
charakterisiert, ist eine andere Form dieses Zustandes der Welt, die Immer-
mann selbst erfahren hat als die Kluft »zwischen dem Schulwissen und dem
innerlichen Wachsen durch das Gewußte«. Darin aber lag wiederum die
gleiche Gefahr. Denn das führte dazu, daß »der innigeren Natur alles Wissen
zu einem Erleben wird. Das Allgemeine, Universellgültige wird ganz in die
zweideutige Wandelbarkeit des Individuums hineingerissen. Jede Kenntnis
löst sich in ein Ereignis auf.« Es ist das feuilletonistische Zeitalter, das sich
aus diesem Zwiespalt gebiert und seine kurzatmige Regsamkeit über alles
breitet. Im Münchhausen-Roman, im 5. Kapitel des ersten Buches, wird der
krankhafte Fortschrittsoptimismus. der sich aus Journalen nährt. prächtig
geschildert: »Man muß nur Mitglied unseres Journal-Lesezirkels geworden
sein. um zu erfahren. daß nichts so wunderbar ist, was nicht jetzo vorfällt;
200 Zu Immermanns Epigonen-Roman

die Menschen und die Sachen und die Erfindungen sind in einem erschreckli-
chen Fortschritte.«
An einer späteren Stelle fUhrt Hermann diesen llDoppel- und Nichtzu-
stand«, an dem ein Werther des 19. Jahrhunderts sehr wohl zugrunde gehen
könne, auf den Widerspruch der politischen Verhältnisse zurück. Die
schwärmerische Innigkeit, in der ehedem das Leben in Familie und Freund-
schaft gelebt wurde, ist dem Streben nach weiteren und höheren Zwecken
gewichen. »Das wäre nun recht schön, wenn wir nur schon ein Vaterland
oder große öffentliche Einrichtungen hätten.« Aber» trotz alles Redens von
der praktischen Richtung des Zeitalters laufen die Vorstellungen und Dinge
weit auseinander, und der Wahn hat eine furchtbare Macht gewonnen. Es
ließe sich der Fall denken, daß jemand unter der Last eines eingebildeten
Schicksals sein Leben hinkeuchte und stürbe, ohne das Antlitz der Wahrheit
geschaut zu haben. « .
In der Tat ist die Handlung der )Epigonen< ein vielfältiges Beispiel dieser
Macht des Wahns. Der Herzog, auf dessen Besitztum der Held seine ersten
Erfahrungen macht, lebt in dem Wahn, einem Geschlecht von unverfälsch-
tem adligem Blute zu entstammen, und geht an der Enthüllung der Wahr-
heit zugrunde; der große Gegenspieler des Herzogs, der bürgerliche Han-
delsherr und Industrielle, lebt in einem nicht minder wahnhaften Bewußt-
sein, gegenüber der verfallenden Adelswelt einen Hort bürgerlicher Fami-
lientugend in seinem Hause zu bilden, und der Held der Geschichte selber
gerät in eine Wahnverstrickung nach der anderen, weil ihm das Augenmaß
fiir die Wirklichkeit noch fehlt, und verfällt über dem Wahne, unwissend
eine furchtbare Inzestschuld auf sich geladen zu haben, fast dem Wahnsinn.
Die ganze künstliche und seltsame Fabel des Romans findet hierin ihre
Begründung. Am Ende bekennt der Held: »Wie mich der Wahn in wech-
selnden Gestalten, lächerlichen und schrecklichen verfolgt! Als Zwanziger
meinte ich fertig zu sein, und muß mich nun in den Dreißigen als Anfänger
und jungen Schüler bekennen. « Und sein Freund antwortet ihm: »Du bist
hierin nur der Sohn deiner Zeit. Sie duldet kein langsames. unmittelbar zur
Frucht fiihrendes Reifen, sondern wilde. unnütze Schößlinge werden an-
fangs von der Treibhaushitze, welche jetzt herrscht, hervorgedrängt, und
diese müssen erst wieder verdorrt sein, um einem zweiten. gesünderen
Nachwuchs an Wurzel und Schaft Platz zu machen.«
Auch )Die Epigonen< sind somit ein Bildungsroman und bekunden in
ihrer Durchfiihrung das beherrschende Vorbild des) Wilhelm Meister<. Frei-
lich ist es nicht mehr das ästhetische Bildungserlebnis, das den Helden in
seinen Bann zieht, und nicht die gesellschaftliche Zwischenwelt des Thea-
ters. in der sich die gesellschaftlichen Unterschiede von Adel und Bürger-
tum vermitteln, sondern im Eintreten in die gesellschaftliche Wirklichkeit
selber bildet sich die Lebensanschauung des jungen Mannes zu ihrer resi-
Zu Immermanns Epigonen-Roman 201

gnierten Bestimmtheit. So zufällig seine Bekanntschaft mit dem herzogli-


chen Hause, an dem er eine erste Tätigkeit und dauerhafte Freundschaft
findet, geschlossen wird, so romanhaft und seltsam auch die Fügung ist, die
ihn am Ende in den Besitz des großen Vermögens seines Oheims bringt und
seine verwandtschaftliche Beziehung zu dem fUrstlichen Hause aufdeckt, so
ist es doch der Weltstoff in der ganzen Breite seines realen Daseins, der sich
ihm auf diesen Wegen aufschließt. Ein wenig blaß und unbestimmt tritt
Hermann uns freilich entgegen, wie überladen und erdrückt von den kräfti-
ger profilierten Gestalten, die in sein beginnendes Leben eintreten. Darin
wirkt die alte Form des Bildungsromans nach, die ja den Träger der Hand-
lung gleichsam mit dem Ganzen der Welt belädt, die ihm zu bewältigen
aufgegeben ist, und seine Person durch ihre repräsentative Bewußtheit oder
Bewußtwerdung aus allem heraushebt. Auch Hermann ist ein wenig tabula
rasa, in die sich die Welt erst nach und nach einzeichnet, ein Nullpunkt, der
sich im Fortgang erst zu einer artikulierten Weltformel bestimmt. Auch ist
es etwas zu viel, was ihn überhäuft: die romantische Mentorrolle, die ihm
dem exzentrischen Naturwesen Flämmchens gegenüber zufällt, das kindi-
sche Duell, das ihn in einer falschen Heldenrolle zeigt, die unreife Schwär-
merei für die edle Herzogin, die enthusiastische Freundschaft mit dem
kernigen Archivar Wilhelmi, einem weicher geformten Schoppe, die geist-
reiche weltanschauliche Auseinandersetzung mit dem Arzte, die wie von
unsichtbaren Mächten gelenkte und gedämpfte Liebe zu Cornelia, die halb-
geschwisterliche Leidenschaft ftlr Johanna, das schwierige Spannungsver-
hältnis zu seinem Oheim, und schließlich der furchtbare Inzestwahn, aus
dem ihn eine späte Aufklärung noch eben rettet - es ist kein Wunder, daß die
Buntheit dieser Beziehungsfälle, untermalt von dem Grau einer beständig
begleitenden Reflexion, der Plastik dieser Gestalt Abbruch tut. Auch die
Handlung selbst darf nicht an den Maßstäben gemessen werden, die dem
Wirklichkeitspathos des modernen Gesellschaftsromans entstammen:
Waldzauber und Zigeunerwesen, Schloßleben und Kleinstadtidyll, barocke
Zierlandschaft und romantische Naturgewalten wechseln mit kritisch-sati-
rischen Schilderungen von Studentenkonventikeln und Großstadtzirkeln -
all das nicht so sehr Wirklichkeit als kunstvolle Staffagen, wie wir sie von der
zeitgenössischen klassizistischen und romantischen Bildkunst kennen. Kein
ungestörter Fluß der Erzählung trägt das Ganze in epischen Bahnen dahin,
sondern Briefwechsel, Papiere, Korrespondenzen mit dem >Herausgeber<
tragen zu der ironischen Unwirklichkeit des Ganzen ebenso bei wie die
naiven Unwahrscheinlichlceiten der eigentlichen >Intrige<. Es bezeugt die
dichterische Kraft Immermanns, daß gleichwohl das Schicksal des Helden
die erschütterte Teilnahme des Lesers findet, und daß ein Zeitbild entsteht,
das diesem Roman überdies einen dokumentarischen Wert besonderer Art
verleiht.
202 Zu Immermanns Epigonen-Roman

In einem sehr aufschlußreichen Brief, den Immennann an einen seiner


Kritiker schreibt, rechtfertigt sich der Dichter ausdrücklich gegen den Vor-
wurf. dies Zeitbild, das sein Roman gab, sei ein einseitig verzerrender
Spiegel. Ich setze den Hauptteil des Briefes her:
"Wenn Sie im allgemeinen von einem Werke der modemen Zeit den
Eindruck verlangen. den Ihnen die Poesie des Homer. des Sophokles oder
Shakespeare erregt. so empfinden Sie ein Begehren, welches Ihnen die
Gegenwart und die Dichter der Gegenwart nicht erfüllen können. welches
Sie aber auch gar nicht empfinden sollten, da man von jeder Zeit nur fordern
darf. was ihr gehört. Das Altertum hatte seine geschlossenen Grenzen, die
Ihnen, dem Gelehrten und Philosophen. gewiß noch anschaulicher sein
werden, als sie es mir sind. Innerhalb derselben entwickelten sich jene
Dichtungen mit unglaublicher Schönheit, die aber neben sich noch viele
Entfaltungen zugelassen hat und zulassen wird. Das Individuum, wollte es
überhaupt existieren. fiel zusammen mit dem Staat, dem Volksglauben. der
Sitte: aus dieser Identität entsprang nun das charakteristische Merkmal der
alten Poesie, da die Dichtung immer nur der geistige Reflex der Zeit ist; ihr
Planes, Faßliches, Symbolisches. aber auch ihr Enges, und wenn Sie das
Wort nicht zu schwer nehmen wollen, ihre Armut.
Mit dem Christentum tritt die Persönlichkeit, das Individuum in seine
eigentlichen, weit greifenden Berechtigungen ein; der Mensch ist nur für
sich da. der beste Teil seiner Existenz beginnt erst mit der Loslösung seines
Selbst von dem allgemeinen, irdischen Substrate; das Gemeinsame war
eigentlich nur die Kirche, ein Staatsleben gab es kaum, der Feudalismus, das
einzige politische Institut, spiegelte das besonderste Verhältnis ab. Die Dich-
tungen jener Zeiten waren wie die Zeit, psychologisch, scheinbar willkür~
lich, phantastisch; ihre glänzendste Erscheinung. Shakespeare, stand an det
äußersten Grenze desselben, in ihr resümierte sich gewissermaßen noch
einmal das Mittelalter mit allem Reichtum und allen Geheimnissen der
Individualität. - Alte Poesie und Shakespeare geben daher die beiden Extre-
me einfacher Weltstellung und Weltbetrachtung. Sie müssen, wie alles
Einfache, eine höchst wohltätige Wirkung hervorbringen.
Was ist nun das Charakteristische der modemen Zeit? Das Individuum hat
sich mit seinen Ansprüchen bis zur eigensinnigsten, ja krankhaftesten Spitze
heraufgetrieben, aber eben darum ist es auch über den Punkt der Befriedi-
gung in sich selbst schon hinweg. Alle Menschen empfinden jetzt ein Be-
dürfnis nach allgemein gültigen Unterlagen das Daseins. nach organischen,
objektiven Lebensformen, ohne gleichwohl zur Ergreifung derselben schon
geschickt zu sein, weil es dabei immer auf eine starke Entäußerung des
Egoistischen, Individuellen ankommt. Eine Kirche gibt es kaum noch, der
Feudalismus hat ganz aufgehört und etwas Analoges, wie den Staat des
Altertums. erblicken wir nur erst in der Zukunft in dämmernden Umrissen.
Zu lnunermanns Epigonen-Roman 203
Dieser noch nicht geschlichtete Zwiespalt gibt allen Charakteren der
Gegenwart etwas Halbes und Doppeltes zugleich, allen Ereignissen etwas
Zweideutiges, aber freilich auch um so Magischeres, die Schicksale schwe-
ben mitten inne zwischen Zufall und Vorsehung. - Ein Werk nun, wie die
Epigonen, welches das Leben der Gegenwart darstellt, muß also in Anlage,
Führung, Gestaltung und Gliederung etwas Ähnliches von diesem Doppel-
und Vieldeutigen sein. Hierin wird seine Wahrheit bestehen, ul'\d die Wahr-
heit ist, wie und wo sie erscheine, immer göttlicher Natur.
Freilich wäre jene Zweideutigkeit der Zeit, jene Unbekanntheit der
Schicksale mit einseitiger Vorliebe in das Grelle ausgemalt, die Epigonen
auch nur streckenweise ein ins Widerliche verzerrender Spiegel, wie Sie
sagen, so würde es schlimm um das Buch stehen; allein Sie erlauben mir zu
bemerken, daß außer Ihnen noch niemand, der mit mir darüber sprach, dies
fand. Ich wüßte auch nicht, wie dergleichen in das Buch gekommen sein
sollte, da meine Seele, wenn ich daran schrieb, frei war von Haß und
Schärfe, und mit Liebe die Gestalten, die mir vorschwebten, umfaßte. Mich
dünkt, alle Figuren, die darin vorkommen, sind, so seltsam und närrisch sie
sich auch hin und wieder gebärden mögen, als Menschen gedacht und ge-
zeichnet, und wo es irgendwie künstlerisch motiviert war, ist zum Troste
auf den unendlichen Reichtum der Zeit, der eben aus dem geschilderten
Kampfe entspringt, hingewiesen. - Wäre ich aber weiter gegangen, hätte ich
einen Charakter, wie Sie ihn zu wünschen scheinen, hingestellt, an dem sich
die Anderen festgehalten und auferbaut hätten, oder irgendeinem Dogma,
philosophischen oder christlichen, einen durchgreifenden Einfluß aufgetra-
gen, so würde ich in meinem poetischen Gewissen mir selber unwahr und
unfromm vorgekommen sein, denn es gibt dergleichen Charaktere, Ver-
hältnisse und Einflüsse nicht. - So viel im allgemeinen konnte ich nur
anfUhren und mußte, um meine Deduktion zu rechtfertigen, an manches
Bekannte hier erinnern. Können Sie sich diesem Gesichtspunkte überhaupt
vertraut machen, so wird auch manches Einzelne in anderem Lichte erschei-
nen.«
Man wird diese Selbstverteidigung nicht in allen Stücken fUr die künstleri-
schen Schwächen des Werkes gelten lassen wollen, aber man muß anerken-
nen, daß der Dichter sich des gewaltigen Unterschiedes seiner Schöpfung
von den künstlerischen Möglichkeiten vergangener, klassischer Zeiten
schmerzhaft bewußt war und einen Gesichtspunkt angibt, der für die rechte
Würdigung derselben von höchster Bedeutung ist.
Die zwiespältige Haltung des Dichters zu den bestimmenden gesellschaft-
lichen Mächten der Zeit erwächst danach nicht aus einer schwankenden
Halbheit seines Wesens, sondern entspricht dem zweideutigen Zustand der
Dinge selbst. Daß Immermann kein Freund des Adels ist, ist aus der klassi-
schen Stelle im Münchhausen-Roman (11, 10) bekannt: »Leider sind unsere
204 Zu Immermanns Epigonen-Roman

höheren Stände hinter dem Volke zurückgeblieben. um es kurz und deutlich


auszusprechen. Daß es viele höchst ehrenwerte Ausnahmen von dieser
Regel gebe, wer wollte es leugnen? Sie befestigen aber eben nur die Regel.
Der Stand als Stand hat sich nicht in die Wogen der Bewegung. die mit
Lessing begann und eine grenzenlose Erweiterung des gesamten deutschen
Denkens. Wissens und Dichtens herbeiführte. getaucht. « Entsprechend
heißt es in den ,Epigonen<: »Auch der Adel ist so eine Ruine« - er hält die
Prätentionen seiner Kaste über ihre wahre Wirklichkeit hinaus fest und
krankt daher an einem tödlichen Widerspruche. Mit kunstvoller Buntheit
schildert der Dichter einen tragikomisch scheiternden Versuch zur Restaura-
tion alter ritterlicher Sitten in dem ,Das Karussell< genannten Abschnitt. So
imposant dieser verfallenden Welt gegenüber der harte und entschlossene
Wirklichkeitssinn des modemen Industrieherrn und der großartige Zug
seiner Schöpfungen geschildert wird - es ist nicht der Weg des Heils. den es
voll Mut und Vertrauen zu betreten gilt, sondern der Weg einer unaufhaltsa-
men Notwendigkeit, dessen menschliche Folgen düster und bedrohlich
sind.
Damit ist das Grundmotiv des Romans angeschlagen, das die Handlung in
den ,Epigonen< immer wieder anklingen läßt: der Kampf des Geldes gegen
den Adel wird seitens des Handelsherrn mit überlegener Sicherheit geführt,
jener Sicherheit. die das siegreich vordringende Prinzip ausstrahlt und dem
Bürgertum im Gegensatz zu den unwägbaren Illusionen eines untergehen-
den Prinzips eine wirkliche Überlegenheit verleiht. Der Dichter hat es sich
nicht leicht gemacht und einem hervorragenden Vertreter des modemen
Unternehmergeistes die Anwaltschaft des Neuen übertragen. Aber das auf-
merksame Auge des Helden, der die Vorausschau und Klugheit, die in dem
ganzen weitverzweigten Unternehmen regiert. sehr wohl erkennt. vermag
dennoch die Einbuße nicht zu übersehen. die mit diesem Weg der Industria-
lisierung verbunden ist: er vermißt in den Gestalten der modemen Industrie-
arbeiterschaft und in ihrem ganzen zweckhaft geordneten Lebensrhythmus
alle Schönheit und Gesundheit - was hätte er erst empfunden. wenn er die
zeitgenössischen Verhältnisse in den englischen Industrierevieren gesehen
hätte. die Dickens und Friedrich Engels so tief erschütterten! Aber er sieht
das alles nicht mit der Leidenschaft eines pragmatisch gerichteten Willens,
sondern mit der nachdenklichen Empfindlichkeit eines dichterischen Men-
schen. auf den die Schönheit der von der adligen Gesellschaft gepflegten
Formen und Sitten gewirkt hat. Als ihn die verschlungenen Schicksale seines
Lebens am Ende zum Besitzer des großen Unternehmens werden lassen.
tritt der Zwiespalt seiner Haltung unverhüllt hervor: Recht und erblich
erworbener Anspruch - dies in die kapitalistische Ordnung der neuen Zeit
übergehende Prinzip der untergehenden feudalen Ordnung - sind für ihn
ohne Faszination. Er ruhlt die ganze Zweideutigkeit seiner Lage. das Erbe
Zu Immermanns ·Epigonen-Roman 205
des Feudalismus und der Industrie antreten zu müssen als einer. »der beiden
Ständen angehört und keinem«, und will daher nur als >Depositar< dieses
rechtmäßig-unrechtmäßigen Erwerbs angesehen werden. Und doch ist er
so wenig von dem verpflichtenden Inhalt dieser Vorstellung durchdrungen.
daß er die Stillegung des gesamten Fabrikbetriebes beschließt, um die natur-
haften Formen eines ländlichen Lebens wiederherzustellen. »Die Erde gc-
hört dem Pflug, dem Sonnenschein und Regen, welcher das Samenkorn
entfaltet. der fleißigen. einfach arbeitenden Hand. Mit Sturmesschnelligkeit
eilt die Gegenwart einem trockenen Mechanismus zu; wir können ihren Lauf
nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten. wenn wir für uns und die
Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen und diese Insel so lange als möglich
gegen den Sturz dervorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.«
Der Dichter hat sich diesen Widerspruch im Verhalten seines Helden gewiß
nicht verborgen: »Diese Handlungen dürften doch die Befugnisse eines
Depositars übersteigen« - antwortet dem Helden sein Freund. und nun
beruft sich Hermann auf sein Gefiihl. das ein unendliches sei. und auf die
allgemeine Aufgabe. die er sich gestellt sieht. die Gegensätze. welche auf
seine Schultern geladen sind. würdig zu schlichten - eine Lösung. die keine
Lösung ist. sondern eine in sich unbestimmte Wiederholung der Aufgabe.
Die Konzeption des Münchhausen-Romans. der Kontrast zwischen dem
satirischen Zeitbilde der von dem Genius der Windbeutelei genasführten
Schloßbewohner und der unverfälschten Bodenständigkeit des westfäli-
schen Bauernlebens. ist die dichterisch meisterhaft gelungene Ausführung
des gleichen Glaubens. »daß die schrecklichsten Zerstörungen die in der Zeit
schlummernden Heilungskräfte nicht vernichten können«. Immermann hat
sich gegen den angeblichen Pessimismus. der aus seinen >Epigonen< spreche.
mit diesen Worten in seinen >Memorabilien< verwahrt, und in der Tat lebt in
dem Dichter ein Glaube an die Zukunft, die sich aus den abgelebten Gestal-
ten der Vergangenheit und insbesondere aus der Reinigung von den Ab-
straktionen. in denen sich das erhitzte Zeitbewußtsein herumtreibt. zu einer
lebensvollen Wirklichkeit erheben werde.
So sind >Die Epigonen< ein breit ausgeführtes Kulturgemälde, das Adel
und Geld, großstädtisches Bildungstreiben und politisches Demagogen-
turn, religiöse und pädagogische Tendenzen des Zeitalters zu schildern
unternimmt. Daß der Dichter gleichwohl nicht Geschichte schreiben woll-
te, sondern das Schicksal einzelner Personen durch die wirren Läufte der Zeit
begleitet. entspricht seiner grundlegenden überzeugung von der Bedeu-
tung des Individuums in dieser Zeit: »Nie sind die Individuen bedeutender
gewesen als gerade in unseren Tagen; auch der Letzte fühlt das Flußbette
seines Innern von großen Einflüssen gespeist. «Jeder Mensch, in der intimen
Innerlichkeit seines persönlichen Lebens. wird ihm so eine »historische
Natur«. d. h .• er zieht die Ereignisse an sich und ist deshalb rur den Dichter.
206 Zu Immermanns Epigonen-Roman

dem das Menschliche des Charakters vorgängig vertraut und allein heimat-
lich ist, der Zugang zu den Ereignissen und dem Leben der Geschichte. Es ist
bewußte Abwehr gegen Hegels philosophischen Glauben an die Notwen-
digkeit in der geschichtlichen Entwicklung. Aber trotz aller auch ihn anrüh-
renden Bewunderung fur den historischen Roman eines Walter Scott ist
Immermann ihm auf diesem Wege der poetisierenden Distanzsuche zur
Gegenwart nicht gefolgt, sondern hat die realen Tendenzen seines eigenen
Zeitalters in den menschlichen Gestalten seiner dichterischen Phantasie ge-
sammelt, gespiegelt und gedeutet. Er hat damit die innere Verbindung mit
dem ästhetisch-humanistischen Ideal der klassischen Epoche festgehalten,
ohne doch in eine romantische Innenwelt auszuwandern: »Mein Sinn, in
welchem etwas Dichterisches sich nicht austilgen lassen will, neigt sich mit
Wehmut und Trauer dem Verfallenden zu, denn die Musen sind Töchter der
Erinnerung; aber eine Tatsache läßt sich nicht ableugnen, nicht verschwei-
gen. « Die Tatsachen, denen er sich so unterwirft, sind freilich nicht die
realen Tendenzen der Entwicklung selber, so sehr er diese in ihrem Recht
erkennt, sondern ihr menschlich-moralischer Reflex: die schrankenlose Ent-
bindung der Individualität und die aus ihr folgende Zweideutigkeit aller
Verhältnisse. Das wunderbare Schlußbild seines Romans, in dessen statuen-
hafter Monumentalität die oft krause und künstlich verzerrte Schicksalsbe-
wegung der Romanhandlung zur verklärten Ruhe zusammengeht, ist eher
vom GeisteJean Pauls als ein Symbol des neuen, in aller Unseligkeit reichen
Zeitalters und seines pragmatischen Realismus. Um dieser dichterischen
Rückwendung willen ist Immermann zumeist der Romantik zugerechnet
worden. Aber gerade die wahrhaft dichterischen Begabungen in der jünge-
ren Generation seiner Zeitgenossen haben ihn nicht verkannt. Davon legt
die Gedenkschrift ein schönes Zeugnis ab, die Ferdinand Freiligrath, einer
seiner glühendsten Verehrer, im Jahre 1842 herausgab.
17. Gesang Weylas
(1989)

Du bist Orplid, mein Land!


Das ferne leuchtet;
Vom Meere dampfet dein besonnter Strand
Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet.
Uralte Wasser steigen
Verjüngt um deine Hüften, Kind!
Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind.

Die wunderbaren Verse Mörikes aus dem Jahre 1831, deren Vertonung
durch Hugo Wolf den seltenen Fall einer völligen musikalischen und lyri-
schen Übereinstimmung darstellt, um nicht zu sagen, eine nicht mehr
auflösbare Verschmelzung musikalischer und dichterischer Kunstgestal-
tung, sind in dem schönen Bande .Augenblicke deutscher Lyrikl von Ger-
hard Kaiser erstmals einer eindringlichen Analyse unterworfen und in voller
Ausdehnung interpretiert worden l • Das fordert mich wahrlich nicht zum
Wettbewerb mit dem Gelehrten heraus. aber es lockt mich zu einer nach-
denklichen Verteidigung der Rechte des Liebhabers, den diese Verse bezau-
bern und immer wieder bezaubern. In solcher Bezauberung liegt selbst
schon etwas von Verstehen. Da liegt das Problem. Es ist wie bei der antiken
Tragödie, an der sich die moderne Forschung seit Jahrhunderten die Zähne
ausbeißt - und doch gewann das attische Publikum. das sehr gemischter Art
war, ein mehr oder minder genaues Verständnis von eindeutiger Evidenz,
und selbst heute, auf der Bühne wie beim Lesen, geht es jedem Empfäng-
lichen bei diesen Texten so.
Nun ist ein explizites Verständnis gewiß noch etwas anderes als der
Eindruck, den ein Kunstwerk auf uns macht. Das hat aber seine zwei Seiten.
Jeder Versuch. einzelnes ausdrücklich zu machen, führt mit Notwendigkeit
zur Auflösung solcher eindeutiger Evidenz, die einen im Anfang eingenom-
men hat. Auf der anderen Seite bleibt es das entfernte Ziel aller Interpreta-
1

GElIHAlID KAISEIl: 0 Lied mein Land. Eduard Mörike: .Gesang Weylasc. In: Augen-
blicke deutscher Lyrik. Gedichte von Manin Luther bis Paul Celan, interpretiert durch
Gerhard Kaiser. Frankfurt 1987. S. 269-282.
208 Gesang Weylas

tion, zu der ersten Evidenz zurückzufinden. So würde ich die Aufgabe der
Hermeneutik sehen, literaturwissenschaftliche Forschung immer wieder in
die Unmittelbarkeit des Verstehens zu integrieren.
Nun steht jeder Leser vor einer solchen Aufgabe. Sowie er sich der Fülle
der Interpretationsmöglichkeiten, historischer wie ästhetischer Art, bewußt
wird, die die Wissenschaft bietet, muß er versuchen, seinen eigenen Leserge-
winn dabei zu erzielen. Es geht nicht um eine einfache Wiedergewinnung
erster vager Evidenz. wenn man versucht, sich darüber Rechenschaft zu
geben, wie man versteht und warum man so versteht. Da verwickelt sich ein
jeder aufs neue in die Vielfalt der Gesichtspunkte, durch die sich die schein-
bare Eindeutigkeit des leitenden Verständnisses auflöst.
Man wird sich selbst eingestehen, daß man manches, auch wenn man
nicht erst von der Wissenschaft belehrt wurde, so und auch anders lesen
kann, und man wird vielleicht auch erfahren, daß man den gleichen Text zu
verschiedenen Malen auf verschiedene Weise liest. In gewissen Fällen wird
man sogar immer wieder hin und her schwanken, wie der Text zu lesen ist.
Das heißt aber in meinen Augen, daß man eben noch nicht weiß. wie er zu
lesen ist.
Kann es wirklich etwas anderes heißen? Stellt ein Gedicht wirklich frei. es
so oder anders zu lesen? So frage ich mich im gegebenen Falle, ob die
überschrift »Gesang Weylasc< wirklich etwas anderes sein kann als ein
Genitivus subiectivus. Das heißt also: Weyla singt. Rein von ~er Grammatik
aus kann man dies gewiß auch als einen Genitivus obiectivus lesen, so daß
Weyla dann der Gegenstand des Gesanges wäre. Aber das wäre eine Zumu-
tung. Das auch nur als Möglichkeit überzeugend zu machen, bedürfte der
ganzen gelehrten und subtilen Erörterung der Mörikeschen Privat theologie
und ihrer allegorischen Tendenzen. Der Liebhaber des Gedichtes wird sich
dazu kaum bereitfinden, wenn er den Gesang Weylas und die Verse hört.
Der Gesang feiert das in der Ferne sagenhaft leuchtende Eiland wie das aus
den uralten Wassern des Meeres aufsteigende göttliche Kind. Das hat einen
großen einheitlichen Zug, und dem wohnt eine solche Evokationskraft inne,
daß man nicht zu wissen braucht, wer Weyla ist, noch all das, was sich
damals die jungen Tübinger Theologen als ein Südsee-Inselparadies er-
träumt haben oder wie Mörike selber seine Träume geträumt hat. Da weiß
man aus dem Schattenspiel, das Mörike in den )Maler Nolten( eingefügt hat,
daß Weyla dort die Inselgöttin selber ist. Gleichwohl wird man nicht im
Ernste die Verse so verstehen wollen, als singe Weyla vom Boden der Insel
aus ihren Gesang und preise »Orplid, mein Land«. Man wird die Göttin
nicht so verstehen, als ob es nur für die anderen so erscheint. daß die Insel
»feme leuchtet«. Die Göttin sieht und singt ihr Land, wie sie über ihm aus
Götterfeme, aus Gätternähc waltet.
Gerhard Kaiser bietet in seiner schönen Studie zu Mörikes Gedicht eine
Gesang Weylas 209
höchst subtile und aufschlußreiche Analyse der metrisch-rhythmischen,
vokalen, klanglichen und bedeutungshaften Elemente. Da werden Worte
und Wendungen - und nicht nur die überschrift ))Gesang Weylas« - auf die
Mannigfaltigkeit von Assoziationen und Konnotationen abgehorcht. die
sich an die vielen Elemente des Textes anschließen. Unleugbar ruht das
Volumen dichterischer Sprache auf solcher Vielfalt von Ober-. Neben- und
Untertönen, die das melodische Ganze eines Sprachkunstwerkes ausma-
chen. Das ist allerdings ein nie vollendbares Unternehmen, und es wäre
schlimm, wenn das Verständnis und das Hören eines Gedichtes von der
expliziten Annahme der Resultate einer solchen Analyse abhinge. Die ro-
mantische Lehre vom hermeneutischen Zirkel hat das bereits mit aller
Klarheit gesehen. Jedenfalls ist es nur ein Gedicht, wenn es ein Ganzes ist, das
alle mittönenden Saiten unter die Sinn- und Klangmelodie des Ganzen
ordnet. Dadurch entsteht erst die dichterische Eindeutigkeit, die den Sinn-
gewinn des Ganzen tl'ägt und einem nicht nur erlaubt, sondern einen auch
nötigt. so zu lesen. wie man lesen muß, und nicht, wie man auch lesen kann.
So ergibt es sich hier. Unbestimmt, unbestimmbar, von dampfenden
Nebeln halb verhüllt und halb verklärt, ist dies Orplid wie die Erscheinung
einer veljüngten Welt oder die Theophanie eines göttlichen Kindes. Hier
sind unüberhörbare christologische Anklänge. Es beirrt einen gar nicht, daß
es sich um mehr als drei Könige handeln mag. Im Grunde weiß ich gar nicht,
was hier schwer verständlich sein soll. Nun hat der Interpret gewiß das
Recht, überall den verschiedenen Anklängen nachzugehen und sich die
verschiedenen Elemente, die darin auftauchen, bewußt zu machen. Wer das
Gedicht in voller Unschuld anhört. wird aber bei diesen Königen, die seine
Wärter sind, gar nichts von einem Volk wissen wollen, das auf dieser Insel
lebt. Er wird auch in den Wärtern wahrlich nichts von Gefangenenwärtern
mithören. Er wird auch kaum an einen angeblichen Kreislauf der Wasser
denken oder gar eine detaillierte Mythologie rekonstruieren wollen. Man
wird Weyla als eine mütterliche Stimme hören, die eine wirkliche Insel
feiert, freilich aus der Ferne, wie eine Offenbarung.
Daß es diese Insel nicht gibt und daß es sie nur im Gedichte gibt, ist einem
ebenso selbstverständlich. Aber das heißt noch lange nicht. daß das Gedicht
diese Insel ist. Ist dieser ganze Weltgehalt, die Insel im Meer, Sonne und
steigende Nebel, eine sich verjüngende Gottheit, alles nur Kulisse für das
Lied, das sich selber meint? »Lied, mein Land! I<? - Ich will nicht leugnen, die
Unverbindlichkeit, die in solchen mythologischen Schattenspielen zum
Ausdruck kommt, ist einem wahrlich bewußt. Man versteht auch, wie
anders das war, wenn in der humanistisch-christlichen Epoche der Klassik
und Romantik Mythen neu gedeutet wurden. Man hat nicht Mythen er-
dacht wie dieses Orplid. So darf man gewiß, mit Gerhard Kaiser, in dem
Orplid-Traum Mörikes wie in der Beschwörung Merlins durch Immer-
210 Gesang We-ylas

mann - und man könnte diese Reihe gewiß gewaltig verlängern - das
Zeugnis eines Verlustes sehen. Eine gemeinsame mythische Sprachwelt ist
jetzt zerbrochen.
Soll man dann dieses wunderbare Gedicht mythologisch durchkonstru-
ieren wollen? Zwar klingt in einem klangvollen Namen wie Weyla oder
Orplid allerhand an, das Sinn und Gemüt bewegt. Ähnlich wird es etwa sein
wie in Hölderlins Fragment )Der Mutter Erde<, wenn man den Figuren Hom
und Tello begegnet. Soll man da wirklich mehr tun als die Anklänge an
Mensch und Erde klingen und verklingen lassen? Ein lyrisches Gedicht steht
doch auf sich selbst. Es ist ein Text, dessen Sinn man versteht, und eine
Klangfolge, die man als Melodie hört - beides, wie etwas, was man mitsin-
gen kann. Da kann einem keine Mythologie helfen, die man von woanders
herholen muß, auch wenn es der Dichter Mörike selbst ist, der in seinen
>Maler Nohen( ein ganzes Spiel eingefiigt hat, in dem sogar einige Winke zur
Deutung des Mythos begegnen. Aber das ist nicht in diesem Gedicht. Ein
dichterisches Intermezzo in einem Roman ist etwas von Grund auf anderes
als dieser Gesang Weylas. In dem Gedicht hat der Dichter offenbar von
seiner Privatmythologie Distanz genommen und ein Lied geschaffen, dessen
Seelenmelodie das tiefe Bedürfnis der Menschheit nach Verjüngung und
nach einer heilen Welt traumgleich heraufbeschwört.
Das heißt nicht, daß das ferne Land das Gedicht meint - wohl aber, daß
alle Gedichte das ferne Land meinen, die nirgendwo seiende heile Welt.
18. Der Dichter Stefan George
(1968)

Der Dichter Stefan George ist innerhalb der deutschen Literatur eine einzig-
artige Erscheinung - nicht durch sein dichterisches Werk allein, sondern vor
allem durch die bannende Macht seiner Persönlichkeit, die seine Freunde
und Verehrer nicht als eine anonyme Gemeinde, wie sie jeder Künstler
sammelt, sondern als einen engen Bund von Menschen zusammenschloß,
denen er der Meister war. Selbst in dem Abstand der Jahrzehnte - George ist
bereits 1933 gestorben - sind diese Menschen bis zum heutigen Tag an ihn
gebunden geblieben. Er gewinnt immer neue Verehrer von gleicher Unbe-
dingtheit - allein durch sein dichterisches Werk. Was ist die Eigenart dieses
dichterischen Werkes? Welche Kunstmittel und welche aus ihnen strömende
Seelenmacht ist es, die die ungewöhnliche, fremdartige, ebensosehr zu
unbedingter Ablehnung wie zu unbedingter Hingabe reizende Wirkung des
Dichters ausmachen?
Es gehört wohl zu der Gleichzeitigkeit großer Dichtung, daß man so
leicht vergißt, daß George seine bedeutenden ersten Gedichtwerke noch im
vorigen Jahrhundert publiziert hat. Er war ein Zeitgenosse des jungen
HofmannsthaI, er war wenig älter als Rilke und begann seine dichterische
Wirksamkeit in einem ausgesprochen polemischen Affekt gegen die damals
herrschende Kunstgesinnung des Naturalismus. Sein Leben hatte seine be-
sondere Geheimhaltung und seine besondere Öffentlichkeit. Sein frühes
Reisen, sein Aufenthalt in Paris, sein häufiges Verweilen in München, vor
allem aber das unstete und doch beständige Hin- und Herziehen eines
Freundes zwischen den Wohnsitzen seiner Freunde, bilden eine höchst unge-
wöhnliche Figur des Lebens. Er hielt sich mit Betonung von den gesell-
schaftlichen Bindungen fern, vermied die Einordnung in das gesellschaftli-
che Gefüge, die einemjeden aufgegeben ist, und war stolz auf seine Abseitig-
keit und die Unabhängigkeit, die er sich gewiß nicht ohne Verzicht und
durch Strenge gegen sich selbst aufgebaut hatte.
Was ihn in der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, entsprang insofern
seinem eigenen Bestreben, als er, schon als junger Dichter, die Initiative zur
Sammlung Gleichgesinnter ergriff und eine literarische Bewegung begrün-
dete. Es waren die )Blätter für die Kunst(, für die er in jungen Jahren seine
212 Der Dichter Stefan George

Bundesgenossen suchte und fand und in deren Rahmen damals auch Hugo
von Hofmannsthal seine Beiträge leistete. Im Ausgang von dieser literari-
schen Bewegung sammelte er mehr und mehr seine Freunde. Das Unterneh-
men existierte zunächst aufSubskriptionsbasis. Man konnte sich als Dichter
nicht einfach um die Aufnahme in diese Blätter bewerben, sondern wurde
zur Mitarbeit eingeladen, ja, man mußte sich sogar als bloßer Leser um die
Ehre bemühen, die im Kreise der >Blätter für die Kunst< entstehenden
Publikationen erwerben zu dürfen. Auf diese Weise sammelte George seine
Freunde und lebte außer in München an manchem anderen Ort, in Berlin, in
Darmstadt, in Heidelberg. Alles, was wir von ihm wissen und was von ihm
berichtet wird, zeigt einen neuen Stil des Meister-Schüler-Verhältnisses, der
auch in dem ursprünglichen Vorbild, das Mallarme für George darstellte,
keinen Vorläufer hat. Gundolf, der große Lehrer der Literaturwissenschaft
an der Heidelberger Universität, war einer von denen, die von dem Meister
der Menschenfiihrung, der dieser Dichter war, zu einem ihr Leben lang
währenden Jünger-Verhältnis bestimmt wurden. Die Unlösbarkeit seiner
inneren Bindung bewährte sich auch noch, als George mit ihm gebrochen
hatte.
Was in solchem Verhältnis zwischen Meister und Jüngern herangebildet
wurde, war fiir jeden, der das auch nur von feme beobachten konnte Qder
von feme davon angerührt wurde, deshalb besonders eindrucksvoll, weil es
dem allgemeinen Zeitbewußtsein und seinen Werten entschieden wider-
sprach. Denn hier stand der Wert der Nachahmung, der >imitatio<, im
Vordergrund. Es war Georges bewußtes Streben, sein Anspruch und die
Auffassung von seiner eigenen Sendung, daß er sein dichterisches Wollen,
seinen Sinn fiir die Möglichkeiten von Dichtung und Sprache, einer jünge-
ren Gefolgschaft gleichsam anlernte. Jeder, der zum ersten Male einen Band
aus den Folgen der >Blätter fiir die Kunst< in die Hand bekommt, ist von der
Gleichförmigkeit und der Familienähnlichkeit der literarischen Produkte
überrascht, die dort - bezeichnenderweise ohne daß die Autorennamen
mitgeteilt wurden - gesammelt waren.
Mit den Jahren verwandelte sich dieser literarische Kreis Gleichstrebender
mehr und mehr in einen Lebenskreis, in dem George nicht nur der fiihrende
Dichter war, sondern der große Erzieher und Menschenbildner, der als der
Meister im vollen Sinne des Wortes die Mitte bildete.
Dann kam das für uns heute, aber auch für viele von damals schwer
vollziehbare Erlebnis, das George mit einem heranwachsenden Jüngling in
München hatte, dessen früher Tod dem Dichter wie eine Art Berufung und
Weihung seines eigenen Lebens und Wirkens erschien. Das Gedächtnis an
Maximin war wie eine Kultstiftung, die das dichterische Werk Georges
veränderte, und brachte eine Scheidung der Geister in di~ienigen, die diesen
kultischen Zug annahmen, und diejenigen, die sich ihm verschlossen. Selbst
Der Dichter Stefan George 213

große Bewunderer Georges vermochten ihm bei dieser religiösen Kultstif-


tUng - wenn es eine solche sein sollte - nicht wirklich zu folgen.
Damals begann der George-Kreis sich in einer neuen Richtung zu entfal-
ten. Das lebendige Schüler-Meister-Verhältnis, das den )Kreis< trug, erfuhr
einen Formwandel, der vor allem durch das politische Ingenium von Fried-
rich Wolters vorangetrieben wurde. Wolters war ein Wirtschaftshistoriker
aus der Schule Gustav Schmollers und gehörte zu den engsten Freunden
Georges. Er erblickte im Heranwachsen einer jungen Generation, die nach
dem Vorbild und dem Willen ihres Meisters geprägt war, den Ansatz zu
einer volkhaft-staatlichen Erneuerung im ganzen. In einer kleinen Schrift,
die Epoche gemacht hat, deutete er das lebendige Verhältnis zwischen
Meister und Jünger als die Keimzelle einer neuen politischen, staatbildenden
Ordnung. Sein Buch hieß )Herrschaft und Dienst<. Er suchte die Ehre des
Dienens und die Weihe des Herr-Seins in einem neuen Lichte zu zeigen,
indem es auf die gestuften Lebensformen des mittelalterlichen Reiches und
der römischen Kirche verwies. Damit kam etwas wie eine Institutionalisie-
rung in das lebendige Fluten des von dem Dichter George und seiner
Dichtung inspirierten Lebens des Kreises. Der Anspruch auf eine gesell-
schaftliche Erneuerung des Volkes im ganzen war ein provozierender und
für viele den Zugang erschwerender Anspruch, wie das etwa die scharfe
Kritik Max Webers in seiner Problematik dargestellt hat.
Indessen läßt sich im Rückblick sehr wohl begreifen, was die Stärke dieser
Gesinnung war. Im weltlichen Raume einer Massengesellschaft, innerhalb
eines diffusen Kulturbetriebs, bildete diese Gemeinschaft so etwas wie eine
Kirche, die von dem Wahlspruch geprägt war: >Extra ecclesiam nulla salus<.
Daß in diesem Satz, den die römische Kirche als den Anspruch ihrer eigenen
Heilsverkündigung bis zum heutigen Tage festhält, auch eine weltliche
Wahrheit steckte, daß es nicht sinnlos und nicht beleidigend war, wenn
reiche Talente, die außerhalb des Kreises hervortraten, dennoch vor dem
Anspruch geringerer Geister, die dem Freundeskreis Georges angehörten,
zurückgesetzt wurden, das wurde damals von den Jüngern dieses Kreises auf
eine eindrucksvolle Weise vorgelebt (und gew.iß nicht durch die so viel
verlästerten äußerlichen Moden, mit denen sich mancher wichtig machte).
Ein eigenes Erlebnis mag das Sendungs bewußtsein, das in dem Kreis
lebte, verdeutlichen. Friedrich Wolters, den ich als Student und als junger
Doktor in seinen Vorlesungen und Übungen gehört hatte und mit dem ich
häufigeren Umgang hatte, schenkte mir 1922 ein gerade erschienenes Buch
von Wolff und Petersen über )Das Schicksal der Musik. und schrieb darein
folgende Widmung, die, so privat sie ist, ein allgemeines Interesse hat:

Narr ist der, der so verwegen ist,


daß er den Geist aus dem Kreise heraussendet.
214 Der Dichter Stefan George

Und noch mehr Narr ist der,


der sich grämt und grübelt, seinen Ursprung zu wissen.
Und ohnejeglichen SilUl ist,
wer seine tiefsten Gedanken wissen will.
Novelle Antiche, 29. Stück

Offenbar war es eine von Friedrich Wolters selbst angefertigte übersetzung


des italienischen Textes. Hier sprach sich nicht nur das innere Heilsbewußt-
sein derer aus, die dem Kreise angehörten. Es war klar, daß diese Widmung
jemandem galt, der in den Augen von Wolters zu sehr auf das Denken - denn
das war mit dem Wissen seines Ursprungs gemeint - gerichtet war. Die
Form des gedanklichen Lebens, die ich damals als Schüler von Paul Natorp
verfolgte, galt als verderblich und unfruchtbar. Das Nietzsche-Gedicht des
>Siebenten Ringes( gibt dem einen epigrammatischen Ausdruck:
sie hätte singen
nicht reden sollen diese neue seele!

Hier klingen in dichterischer Form die Antithesen an, die damals von
Gundolfund anderen auch begrifflich in dem >Jahrbuch für geistige Bewe-
gung( formuliert worden sind, die Gegensätze von Sein und Wissen, von
Substanz und Funktion, VOn Gestalt und Begriff. Was mir an diesen mehr
mit schriftstellerischer Kunst als mit gedanklicher Schärfe vorgetragenen
Antithesen aufging, war freilich doch eine Wahrheit, nämlich, daß jedes
Denken VOr die Prüfung gestellt ist, ob es das Gedachte durch lebendige
Erfahrung einlösen kann. In einer Zeit vielfach versuchter und suchender
Jugendlichkeit war das keine bequeme Forderung, und sie widersprach
überdies der allgemeinen Hochwertung der Originalität, des Neuen, der
schweifenden Vielseitigkeit des Interesses, wie sie im literarischen und wis-
senschaftlichen Leben galten.
In den zwanziger Jahren wirkten sich die politü;chen Ambitionen des
Kreises darin aus, daß seine Anhänger vielerorts in die Universitäten ein-
drangen. Ich nenne als die wichtigsten Universitäten, an denen sich der Kreis
um Stefan George Wirkung verschaffte: Heidelberg, Marburg, Gießen,
Kiel, Berlin, Bonn, Frankfurt. Basel und Hamburg. Sicherlich fehlen dabei
manche andere. Damals begannen Anhänger und Freunde Georges, wissen-
schaftliche Positionen zu erwerben: Gundolf und Wolters. Bergstraesser.
Bertram. Salin,' Boehringer, Schefold. von den Steinen, Hildebrandt, Sin-
ger. von Blumenthai. Andreae. von Uxkull. Landmann. Petersen. Stauffen-
berg u. a. Das waren nicht immer Namen von erstem Rang in der Wissen-
schaft. aber das eine Beispiel von Ernst Kantorowicz zeigt durch sein großes
Werk über Friedrich II .• daß die Maßstäbe, die durch die Erfahrung und das
Der Dichter Stefan George 215
Vorbild Georges gesetzt waren. auch zu echter geschichtlicher Erkenntnis
ermächtigten 1•
Dazu kam das Eindringen des George-Kreises in manche anderen Berufs-
schichten. Unter dem Antrieb des politischen Ehrgeizes von Wolters wur-
-den damals. nach dem Ersten Weltkriege, Beziehungen zu den nationalen
Jugendverbänden aufgenommen und sowohl innerhalb des Heeres wie in
der Verwaltung und der Diplomatie eine personelle Politik der Ausbreitung
des neuen inneren Staates verfolgt. Darüber ist die Weltgeschichte hinweg-
gegangen. Wolters starb früh, Max Kommerell fiel von seinem Meister ab,
und es gab dergleichen Ereignisse mehr, die dann in dem Jahre 1933 ihre
letzte Zuspitzung erfuhren, in dem die fortschreitende Tendenz zur politi-
schen Wirkung des ,Kreises< zum Scheitern kam. Aber wie groß und dauer-
haft auch während des Dritten Reiches der Glaube an das Igeheime Deutsch-
land< war, bezeugt die Zugehörigkeit des Attentäters GrafStauffenberg zu
diesem Kreis. George selbst verließ Deutschland schon 1933. Viele seiner
Freunde waren durch die Nürnberger Rassengesetze betroffen und verließen
Deutschland ebenfalls.
Das Jahr 1933 bedeutete im Grunde weniger den Höhepunkt als den
letzten Endpunkt der großen öffentlichen Wirkung Georges. Als Max Kom-
merell im Jahre 1930 seine Frankfurter Antrittsvorlesung über )Jugend ohne
Goethe< hielt und veröffentlichte, erinnere ich mich meines Erstaunens beim
Lesen dieser Rede. Kommerell sagte dort, daß die Jugend keinen Zugang zu
Goethe habe. weil sie allzu ausschließlich von der Dichtung Stefan Georges
eingenommen sei. Das war schon damals nicht richtig. 'Jugend ohne Geor-
gel wäre fUr die damalige Generation ein noch richtigerer Titel gewesen.
Denn es bestand die erstaunliche Tatsache. daß nach einem Aufstieg von
zwanzig. fUnfundzwanzig Jahren der Vorbereitung und einer Blütezeit in
den zwanziger Jahren die öffentliche Wirkung Georges und seine dichteri-
sche Präsenz ganz rasch verblaßten. Das mag viele Gründe haben. am Ende
aber auch den. daß die große dichtungspolitische Entschiedenheit, die von
George und seinem Kreis ausging, gegen einen anderen großen Dichter der
deutschen Sprache ein Verdikt gesprochen hatte. das ihn beschattete, so daß
er mit einer Art von angestauter innerer Strahlkraft nun in das allgemeine
Bewußtsein zu treten begann: Rainer Maria Rilke, dessen Spätwerk, die
Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus, sich damals durchsetzte. Die
ganzen jahre des Dritten Reichs wirkte Rilke fast wie ein Dichter der
Resistance, nicht zuletzt dadurch, daß der hochgetriebene Manierismus
seines dichterischen Stils zu der sich uniformierenden Öffentlichkeit von
damals einen extremen Kontrast bildete.

1 Vgl. zu diesem Aspekt auch ,Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft•• in
diesem Band. S. 258ff.
216 Der Dichter Stefan George

Das soll gewiß nicht heißen, daß nicht die dichterische Meisterschaft
Georges, vor allem die epigrammatische Kraft seiner Sprache, beständig
weiterwirkte. wie man etwa an Gottfried Benn und Paul Celan beobachten
kann. Aber die Zeit der großen Öffentlichkeit Georges war vorbei.
Wenn wir uns heute besinnen. was uns George bedeutet, so erschwert die
eigenartige und ungewöhnliche Wirkung, die von ihm ausging, dies Unter-
nehmen. Es sind ebenso die positiven Vorurteile der bedingungslosen Ver-
ehrer wie die negativen der entschlossenen Gegner, die der Besinn,ung im
Wege stehen. Die Vorurteile gegen George haben dabei im heutigen Zeitbe-
wußtsein durchaus den Vorrang. Man ordnet George in die Kritiker der
technischen Zivilisation des Jahrhunderts ein, denen mit Recht vorgehalten
werden kann, daß sie von dem leben, was sie bestreiten. Man kritisiert
Georges aristokratische Femstellung von dem Leben der arbeitenden Mas-
sen - man denke an den provozierenden Vers »Schon eure zahl ist frevel«,
der freilich mehr die Krämer als die Arbeitenden meint. Es gibt das Vorurteil
der Wissenschaft, das sich darauf gründet, daß George der Wissenschaft
seinerseits mit Kritik und 'Skepsis gegenüberstand und mehr die geistige
Wirkung als die Objektivität wissenschaftlicher Wahrheits forschung such-
te. Es gibt das Vorurteil, das gegenüber dem Einformungsanspruch, der von
George ausging, die individuelle Differenzierung vermißt. 'Es gibt die Des-
potie des Erziehers George, die von einer Härte des Ansichreißens wie von
einer Härte' des Verwerfens war, die viele verletzt hat und verletzt, und es
gibt schließlich und vor allem die Ablehnung der Selbststilisierung, die
Georges Figur umgibt und die er selber etwa in einem Brief an Sabine
Lepsius bekennt, in dem es heißt:
»Ich kann mein Leben nicht leben es sei denn in der vollkommenen
geistigen Oberherrlichkeit. Was ich darum streite und leide und blute dient
keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die Freunde. Mich so zu
sehen wie sie mich sahen ist ihr stärkster Lebenstrost. So streit und duld und
schweig ich für sie mit. Ich gehe immer und immer an den äußersten
Rändern - was ich hergebe ist das letzte mögliche ... auch wo keiner es
ahnt.«
Die Selbststilisierung, die auch aus Georges Dichtungen spricht, ist es
wohl vor allem, die für viele den Zugang zu seinem dichterischen Werk
erschwert.
Auf der anderen Seite stehen die Vorurteile zur George, die nicht minder
hinderlich sind. Wohl jeder, der ihm begegnet ist, bezeugt die bezwingende
Macht seiner Person. Es scheint nicht zuviel gesagt, daß es damals kaum
jemand anderen gab, von dem eine solche bannende Kraft ausging. Wir
können noch heute beobachten, wie groß die Macht war, die von diesem
dämonischen Menschen sowohl auf Altere wie aufJüngere ausgeübt wurde.
wenn wir sehen, wie diese Männer bis zu ihrer letzten Stunde nie ga.t:Iz von
Dcr Dichter Stcfan George 217
dem Bewußtsein der Abhängigkeit, der Unterordnung, der freiwilligen
Unterwerfung unter den überlegenen Willen und die überlegene Weisheit
des Meisters freigeworden sind. Es ist der Erfolg des Menschenbildners
George, der unsere Besinnung auf eigentümliche Weise erschwert.
Jeder Menschenformer erzeugt gerade dadurch, daß er die >imitatio<, die
produktive Nachahmung, auf sich zieht, eine Art Echoeffekt, und damit
verunklärt sich die eigene Stimme dessen, von dem dies Echo ausgelöst
wird. Das ist ein notwendiges Gesetz geistiger Wirkung, und jeder Lehrer
und Erzieher weiß etwas von der Macht und dem Elend dieses Echoeffekts.
Das wird noch verstärkt durch die hohe Bewußtheit, mit der George seine
eigene Wirkung plante und lenkte. Es ist eine Art selbstgeschaffener Dog-
matik, die alle Biographien des George-Kreises durchzieht. Ob man nun das
Buch Gundolfs von 1920 oder das Buch von Wolters über George von 1928
in die Hand nimmt, oder eine der großen Gestaltbiographien, die aus dem
George-Kreis hervorgegangen sind, immer begegnet hinter den geschichtli-
chen Figuren ein auf eine in sich konsistente Werttafel gegründetes Urbild,
das ihnen allen ein gewisse Familienähnlichkeit verleiht und geschichtliche
Unterschiede verdeckt. Das ist nicht immer ein Erkenntnisgewinn. Wenn es
etwa bei Gundolfheißt, daß George der einzige antike Mensch unserer Tage
war, so ist eine solche Außerung so sehr aus der Selbstauffassung Georges
und seiner Freunde heraus gedacht, daß mit ihr nicht wirklich etwas gesagt
ist.
So möchte ich Stefan George nicht in der ganzen Beziehungsftille, die sein
Name und seine Person bedeuten, sondern als den Dichter behandeln, in
dessen dichterischem Werk das Bleibende und das Geschichte-Machende
der großen Persönlichkeit beschlossen ist. Es gilt, seine Dichtung zu befra-
gen, als was sie bleibt und besteht.
Georges dichterischer Ton hat eine eigentümliche Erweckungskraft.
Zwar waren es immer nur wenige, die davon erweckt wurden, aber bis
heute gibt es immer wieder solche wenigen, dichterisch empfanglichen
Menschen, die davon erreicht werden. Wieder gebe ich ein Beispiel aus der
eigenen Erfahrung. Ich war noch Gymnasiast, als ich, nicht durch ein
Elternhaus geleitet, weil dessen Interessen ganz woanders, in den Naturwis-
senschaften lagen, an Lyrik heranzukommen versuchte. Ich kaufte mir eines
Tages, von niemandem beraten, eine Anthologie der modernen Lyrik, die
bei Redam erschienen war. In der Einleitung derselben fand ich eine Klage
des Herausgebers Hans Benzmann, daß der Dichter Stefan George leider den
Abdruck von Gedichten nicht genehmigt habe. Der Herausgeber bedauerte
das, und in der typischen Weise, in der nun einmal rechtliche Schwierigkei-
ten umgangen zu werden pflegen, benutzte er die Einleitung, um zwei
Gedichte von George in vollem Wortlaut Zu zitieren. Diese beiden Gedichte
wirkten auf mich wie die Berührung von einem elektrischen Schlage. Ich
218 Der Dichter Seefan George

hatte keine Ahnung, wer das war, Der Dtuck war eine gräßliche Fraktur, so
wie die Reclamhefte der Zeit eben waren, Doch war der Kleindruck immer-
hin beibehalten - soviel Treue gegenüber dem Text hatte sich der Herausge-
ber bewahrt. Wie ich noch immer weiß, waren es zwei Gedichte aus dem
ITeppich des Lebens< (»Blaue Stunde« und »Juli-Schwermut«). Sie hatten
einen so eigenen Ton und waren etwas so Unverwechselbares, daß man
innerlich auf die Suche ging, wo der Ton dieses Dichters noch zu hören sein
möge.
Ich beschreibe diese eigene Erfahrung, weil ich weiß, daß das bis heute so
sein kann und immer wieder so ist. Es scheint mir nun der Gegenstand einer
vernünftigen Selbstbesinnung, sich zu fragen. worauf das beruht. Soviel ist
klar: George ist in einem solchen Grade vom Willen zur Kunst beherrscht.
daß auch sein dichterischer Stil und seine Sprechhaltung sich durch ihre
Ungewöhnlichkeit gegen alles Zeitgenössische abhoben. Dem entspricht.
daß er mit der sogenannten IStilbewegung< gleich'l.eitig war, demjugendstil,
dessen lange verkannte Bedeutung darin lag, daß er dem historisierenden
Wust des späten 19.Jahrhunderts einen reinigenden, auf einfache Formen
zurückführenden Stilwillen entgegensetzte. Es ist bemerkenswert, daß man
dieser neuen Stilbewegung, die schließlich IJugendstil< hieß, heute auf der
Seite der bildenden Kunst wieder steigendes Interesse entgegenbringt, wäh-
rend das beständige Fortleben des dichterischen Wortes Georges den Stilwi-
derstand des öffentlichen Zeitgeschmacks noch nicht zu überwinden ver-
mag.
Zeitgeschmack ist eine eigene Macht, die darüber bestimmt, was einen
überhaupt zu erreichen und zu berühren vermag. Geschmack hat dadurch
seine bestimmende Gewalt. daß er Erwartungen und Auffassungsschemata
vorbereitet, gegen die nicht verstoßen werden darf. wenn nicht selbst die
größte künstlerische Qualität unkenntlich werden soll. Man denke et\\'a
daran. wie erst der ISturm und Drang( im 1B.Jahrhundert einen solchen
Einbruch in die Geschmackserwartung der Zeit darstellte, daß er Shakespea-
re entdeckte. Der Geschmack ist eben eine Art Oberflächensinn und reagiert
wie eine empfindliche Haut aufjede Berührung. Er erschöpft aber durchaus
nicht das, was an der Kunst Kunst ist. Das muß man sich heute auch im Falle
Georges klarmachen. Der Abstand zu den Geschmackserwartungen der
eigenen Gegenwart, ihre Wendung zum Unpathetischen, zum Reportage-
haften. zur provokativen Desillusionierung, zur Zersprengung der herge-
brachten dichterischen Formen ist groß. All das steht offenbar in schärfstem
Kontrast zu dem, was die Georgesche Dichtung von uns verlangt.
Da ist zunächst Georges bewußte Betonung der Kunst und der Künstlich-
keit des dichterischen Wortes. Sie spricht sich schon in dem Titel der IBlätter
für die Kunst< aus. Nur von hier aus gibt es einen Zugang zu dem, was
Georges Dichtung ist. Man spürt an dem Worte IKunst<, wie George und
Der Dichter Stefan George 219
seine Freunde es gebrauchen, die Nähe der Augusteischen Kunst, der großen
Dichter Roms um die Zeitenwende, vor allem Vergil und Horaz, die den
Anspruch erhoben, eine eigene, der griechischen ebenbünige Dichtung zu
schaffen. Diese Nähe spüren bedeutet die Ferne ermessen, die rur das Ver-
ständnis der Georgeschen Kunst heute zu überwinden ist. Georges römische
Willens strenge, die imperatorische Knappheit und Bestimmtheit seiner
Sprache, das bewußte Hervorkehren des Kunstvollen an der Kunst, wie es in
seiner Dichtung zutage tritt, ist dem Ideal der natürlichen Liedhaftigkeit,
wie es seit der Goetheschen und der Nach-Goetheschen Lyrik den Maßstab
bildet, denkbar fern. Hier ist eine Goldschmiedekunst des Wortes am
Werke, die das Köstliche, das Kostbare und Seltene sprachlicher Preziosen
mit Bewußtsein zumutet. Es ist nicht zuletzt das Vorbild von Mallarme
gewesen, den George alsjunger Mann in Paris kennenlernte, dem er seiner-
seits folgte. Anfangs mag er sich geradezu so verstanden haben, daß er diese
poesie pure, die neue Musikalität des lyrischen Gedichtes, wie er sie an
Mallarme bewunderte, im deutschen Sprachstoff nachbilden ynd sein Vor-
bild im deutschen literarischen Leben wiederholen wollte. Was hier Musika-
lität der Sprache heißt, meint die vollständige innere Zusammenfügung von
Klang und Bedeutung, von Meinen und Sein des Wortes. Sie stellt eine
höchste Steigerung der Möglichkeiten des dichterischen Wortes überhaupt
dar, das immer zwischen Klang und Bedeutung vielfache Möglichkeiten des
Gleichgewichts hält. Die äußerste Steigerung der dichterischen Musikalität
bedeutete folgerichtig die Abkehr von der Musik, sofern dieselbe sich von
dem Wort und der Bedeutung löst und als freigesetzte Musikalität autonom
wird. Der George-Kreis sah in der labsoluten< Musik eine auflösende Seelen-
macht. Dagegen verbindet die lyrische Musikalität mit dem Klang den
Sinnrhythmus. Sie schaltet den gegenständlichen Sinn des sprachlich Gesag-
ten nicht aus, indessen bindet sie ihn vollständig in die dichterische Klangbe-
wegung ein. Der Grad der verständnisvollen Bewußtheit, mit der solche
klangvollen Verse in ihrem Sinn erfaßt werden, ist daher sehr großer Steige-
rung bzw. Abdämpfung fähig, ohne daß der dichterische Gesamteindruck
entschwindet.
Das rechtfertigt die Anwendbarkeit des Begriffes des Magischen auf den
dichterischen Wortgebrauch Georges. Im magischen Gebrauch des Wortes
ist das Verständnis der Worte offenkundig nicht ganz ferngehalten, aber es
ist sekundär gegenüber den eigentlichen Wirkungsfaktoren. Im magischen
Sprechen liegt eine ungewöhnliche Konzentration von Wille, und in der Tat
ist auch Georgein seinem Werk ganz Wille. Das magische Wort ist ferner ein
Wort, das verwandelt, das nicht nur gehört und verstanden wird, ja das
überhaupt nicht primär verstanden wird, sondern das im Hören ergreift wie
die Beschwörung von Geistern. Etwas, das vorher nicht war, ist da, und
durch keinen natürlichen Vorgang, nicht herbeigeführt durch spezifische
220 Der Dichter Stefan George

Mittel wie im handwerklichen Tun, sondern gerade durch das Unspezifi-


sche der Mittel wie beim Zaubern. Daher hat die magische Wirkung, auch
die Georges, etwas Unbegreifliches und etwas, dem man sich nicht durch
den Einspruch rationaler Kritik entziehen kann.
In der späten, reifen Form seines Werkes verlangt George darüber hinaus,
ähnlich wie im religiösen und kultischen Formelgebrauch, eine Auffüllung
dessen, was durch die Sprache präsent gemacht wird - wie man eine Verflu-
chung spricht und doch die >Annahme< des Spruches seitens des Härenden
den Fluch erst vollstreckt. Je mehr das dichterische Werk Georges sich mit
dem Anspruch kultischen Sinnes durchdringt - das erreicht seine Höhe im
>Stern des Bundes< -, desto mehr verlangt es solche Auffüllung. Dem
entspricht auch die eigene Form des Hersagens von Gedichten, die George
gepflegt und auf die hin er seine Jünger geschult hat. Zwar dürfte es wieder-
um so sein, daß der gute Sprecher, d. h. der, der auf seine eigene Weise dem
rhythmischen Gesetz des Gedichtes gehorchte, auch in Georges Augen der
beste gewesen ist und nicht der, der gleichsam ein monotones Ritual vor-
führte. Aber auch dann blieb das Sprechen, wie es in diesem Kreise gepflegt
wurde und wie es zu Georges eigener Dichtung durchaus gehört, ein Hersa-
gen. Man vermied im George-Kreis Fremdworte, wenn man konnte. Und
so hieß das Sprechen von Gedichten (nicht erst bei Robert Boehringer,
sondern schon in den frühen Folgen fmdet es sich so) »Hersagen «. Hersagen
bedeutet Heraussagen fiir andere, rur die Hörenden. Es ist nicht, wie ich
etwa als Gegenwendung, vor allem im Blick auf den damals ins Bewußtsein
tretenden dichterischen Ton Hölderlins, sagen würde, ein >Hinsagen(. Der
Hölderlinsche Vers ist ein hingesagter Vers, ein Vers, den man vor sich hin
spricht, wie in einer meditativen Versenkung. Der Georgesche Vers will mit
Bewußtsein vor anderen gesprochen werden.
Es gilt, das in seiner künstlerischen Berechtigung zu erkennen und nicht
die herrschenden Sprechgewohnheiten oder den Zeitgeschmack der Gegen-
wart über die Legitimität eines solchen Hersagens richten zu lassen. So
glaube ich, daß Gundolf recht hat, wenn er von George sagt, daß er die
deutsche Sprache des katholischen Zaubers mächtig gemacht habe. Darin
liegt sein Einzigartiges. Denn unsere deutsche Dichtungsgeschichte ist selbst
dort, wo es sich um katholische Dichter handelt, wie Eichendorff oder
Hofmannsthai, von der Inständigkeit des Hinsagens bestimmt, das heißt
aber von der protestantischen Wendung der christlichen Innerlichkeit, die in
Luthers Bibeldeutsch ihren festen Grund hat. Georges Werk bricht in diese
Tradition wie etwas Fremdartiges ein, weil es den liturgischen Zauber des
Sinnlich-Klangvollen und des Zeremonienhaften zu seinem Grundgesetz
hat.
Fragen wir uns, welche Kunstmittel George gebraucht, um der deutschen
Sprache, die auch bei ihm die Sprache Luthers und des Bauern ist, diesen
Der Dichter Scefan George 221

einzigartigen neuen Ton abzugewinnen. Da ist zunächst sein Spracharchais-


mus. Es ist bezeichnend, daß ausländische Freunde Georges, die ihm als
Person begegnet waren und ihn verehrten, dennoch große Schwierigkeiten
hatten, Georgesche Verse zu verstehen. Es sind zu viele ftir den Ausländer
unbekannte Ausdrücke darin. Damit ist nicht eine Erfindung neuer Worte
gemeint. Das ist nicht Georges Art, auch nicht die gewaltsame Umdeutung
überkommener Wortbedeutungen. Sein Spracharchaismus beruht vielmehr
darauf, daß er frühe Wortformen der deutschen Sprachgeschichte neu er-
weckt und aus der Sprache des Bauern und Handwerkers seiner Heimat die
eigene Sprache bereichert.
Ein wesentliches Moment dieses Archaismus ist, daß George die Macht
des Simplex, der einfachen Form, entdeckt hat. Was das einfache im Gegen-
satz zum zusammengesetzten Wort, das einfache Verbum, das einfache
Nomen im Gegensatz zum Kompositum leistet, ist, scheint mir, daß es die
nach vorn und hinten verweisenden Bezüge des Wortes beschneidet. Wenn
etwa George statt Ankunft »Kunft« sagt, so ist mit diesem Worte »Kunft«
das Kommen selbst gegenwärtig gehalten und wird nicht weg bezogen auf
ein Woher und Wohin. Das einfache, unzusammengesetzte Wort drängt also
den Bezugscharakter des Wortes zugunsten seiner Kraft, Gegenwärtiges zu
evozieren, zurück. In Begriffen Gundolfs gesprochen: Die Substanz der
Worte tritt vor ihre Funktion, so wie auch sonst nach Georges Lehre über
dem Funktionalismus des modernen Lebens die Substanz verkannt und
wiederzuentdecken ist. Mit der Bevorzugung des Simplex gelingt die Nen-
nung dessen, was ist.
Die weitere Folge ist, daß das, was wir in der Grammatik die Syntax
nennen, d. h. die sprachlichen Mittel der Zusammenfügung von Worten,
hier durch etwas anderes ersetzt wird, das weniger geläufig, härter im
Anspruch und nicht so sehr von einem zum anderen hinleitend ist. Es ist das,
was schon Hellingrath (für Hölderlin und von Pindar her) die .harte Fügung<
genannt hat. Die dichterischen Bindemittel, die es auch hier geben muß,
damit wir nicht Worte, sondern Sätze lesen, sind nur zum kleinsten Teil die
unserer grammatischen Syntax. Es sind recht verschiedenartige Bindemit-
tel, die George verwendet, um aus den Wortblöcken des Genannten durch
sprachliche Klangmittel Einheit der Rede und Gegenwart des Gemeinten
hervorgehen zu lassen.
Das erste dieser Mittel möchte ich die Entmachtung des Endreims nen-
nen. Das Schwergewicht, das in der deutschen Literatur, vor allem in der
Entwicklung der romantischen und nachromantischen Poesie, auf den End-
reim fiel, verliert im Versbau Georges sein Gewicht. Das Mittel, durch das
George die Entmachtung des Endreims herbeiführt, ist die Spannungsdich-
te, die er dem Versinneren verleiht. Es ist das Mittel der Assonanz und der
Binnenvokalisation, das wir hier mit einzigartiger Bewußtheit eingesetzt
222 Der Dichter SteCan George

finden und das das Formniveau der deutschen Dichtungssprache mächtig


gesteigert hat. Die Vokalisation, die innere Klangkomposition des Versgan-
zen, verleiht durch ihre Assonanzen und Symmetrien, ihre Antithesen und
Reduplikationen, durch ihr Spiel von Höhe und Tiefe dem Endklang des
Reimwortes ein leichteres Schweben.
Dadurch wird - das ist das dritte - das Versende, weil die Reim-Schwere
gemildert ist, für das Halten des Tones freigegeben. Wer einmal George-
Verse hat lesen hören, wie George selber und seine Jünger sie lasen, weiß,
daß das Endwort nicht wie sonst die Stimme sinken läßt, sondern daß die
Stimme in der Höhe gehalten wird. Das ist nur möglich, wenn das Gewicht
der Binnenvokalisation eines Verses den ausklingenden Verston gleichsam
verschweben lassen kann. Das aber verstärkt die Einheit des dichterischen
Tones im ganzen. Hier vor allem scheint mir zu entspringen, was die
eigentümliche und unverwechselbare Wirkung Georgescher Gedichte aus-
macht. Denn es kommt eine Art Bogenführung in das Gedicht, die in dieser
Weise nirgends in der deutschen Dichtung da ist. Georges Bogenführung ist
sehr anderer Art als etwa die Bogenführung einer Hölderlinschen Hymne,
die wie eine große Architektur wirkt. Dort wird auf einen ferngesetzten
Markstein hin ein weitausholender Wurf gewagt, der sich am Ziele erfüllt
und löst, ein inniges Gestammel der Fülle und Überfülle. Hier, bei George,
beruht der große Bogen, der seine Verse zu höheren Einheiten zusammen-
faßt, auf ganz anderen Mitteln. Es ist vor allem die Wiederholungsform und
die Steigerung in der Wiederholung, durch die seine Bogenführung zustan-
de kommt, ein Sichüberlagern und ein Aufschwung bis zu einer höchsten
Erhebung des dichterischen Tones. Wieder sind es die gleichen Mittel einer
inneren Komposition des Lautgebildes, des Klangleibes der Worte, die hier
verwendet werden. Aber dazu kommt die Kurzform Georgescher Sätze. Sie
läßt die rhythmische Einheit zugleich Sinneinheit sein und macht dadurch
Wiederholung und Steigerung auf einfache Weise möglich. Das ist in der
deutschen Verskunst etwas Einzigartiges. Es ist die melodische Substanz des
gregorianischen Chorals, der Georges >Ton< dichterisches Leben verliehen
hat.
In einem lebendig gewachsenen dichterischen Werk wie dem Georges
sind die Kunstmittel natürlich nicht überall die gleichen. Die Art, wie
dieselben in seinen frühesten Dichtungen verwendet werden. ist noch recht
anders. In ihnen ist eine gewisse Überdeutlichkeit. die das Kunstvolle der
Arbeit unterstreicht, aber zugleich auch, im Vergleich zu der Tiefendimen-
sion, die dem späteren Werk einen sonoren Klang verleiht, etwas Flächiges
behält. Die innigste Verbindung aller sprachlichen Mittel zu einer Kunstwir-
kung, die fast etwas von einer zweiten Natur an sich hat, zeigen die mittleren
Bücher, insbesondere das >Jahr der Seele< und der >Teppich des Lebens<, die
eben deshalb leichter eingehen als das künstlich verfeinerte Frühwerk und
Der Dichrer Srefan George 223
der hohe Ton kultisch-stilisierter Rede in den späteren Bänden. Aber es ist
methodisch richtiger. nicht mit dem größten Einklang der von mir beschrie-
henen Vers- und Sprachmittel einzusetzen, sondern mit Vorklängen und
Nachgestalten dieses Einklangs, weil diese die Mittel als solche deutlicher
zur Abhebung bringen.
Ich beginne mit einem frühen Gedicht, um zu zeigen. wie George seine
Sprechhaltung aufbaut. In lAlgabale, einem der ersten Gedichtbände. klin-
gen die Assonanzen im Vers und alles, was die Binnenvokalisation trägt.
noch überdeutlich heraus. und dem entspricht, daß die Entmachtung des
Endreims ihrerseits noch nicht auf der vollen Höhe der Unmerklichkeit ist.
die das mittlere Werk Georges erreicht. In dem Schlußgedicht von ,Algabal(.
11 Vogelschau«, heißt es:

Weisse schwalben sah ich fliegen·


Schwalben schnee- und silberweiss·
Sah sie sich im winde wiegen·
In dem winde hell und heiss.

Das ist eine fast stabreimhafte Dichte der Assonanzen und eine Form der
Wiederholung von Worten, die ihnen nahezu den Charakter einer magi-
schen Zauberformel verleiht. Das Gedicht wiederholt die Einleitungsstro-
phe beinahe wörtlich am Schluß und unterstreicht dadurch noch, indem es
eine Refrainwirkung erzielt. die magische Funktion.
An einem zweiten Beispiel, das ich aus den ,Hängenden Gärten( wähle.
möchte ich zeigen, wie sich mit den beschriehenen Mitteln die Steigerung
und der Aufschwung ergeben, die ich als das Unvergleichliche des George-
sehen Tones charakterisiert hahe:
Als durch die dämmerung jähe
Breite röte sich wies·
Balsamduft mich umblies·
Kannt ich die freundliche nähe:
Stammes boden und mauern.
Stolz und mit glücklichem schauern
Wandel der seele geschah
Als ich die üppig und edel
Zu mir sich neigenden wedel
Erster palmen wiedersah.

Hier werden die drei letzten Verse zu einer höheren rhythmischen Einheit
zusammengeschlossen. Dazu verhilft einmal die Sinneinheit des durch lIals«
eingeleiteten Satzes, die ein Reimgefüge von der Form a b b a hinter a
sprengt. Aber die rhythmische Wirkung dieses Zusammenschlusses wird
ihrerseits durch die Sinnzäsur vorbereitet, die in der Mitte des Gedichtes das
einzige einfache Reimpaar, von der Form a a, zerspaltet und seine heiden
224 Der Dichter Stefan George

Teile je nach vorn und hinten verspannt. So steigert die erste Zäsur hinter
»mauern« die zweite hinter »geschah«, die die chiastische Folge a b b a
zerteilt. Das ist das rhythmische Gerüst, über dem sich der Bogen des
Schlusses erhebt, Klang und Bedeutung zu einer großartigen Einheit ver-
schmelzend: Der Gebärde breiten Ausladens von sich wie ein Teppich
entrollenden Palmenblättern, die durch das Reimpaar »edel« - »wedel«
gebildet wird, folgt das schlanke und steile Aufsteigen zur Höhe von Sinn
und Klang, in der sich die Heimkehr der Seele vollendet.
Zwei Proben aus dem mittleren Werk mögen zeigen, wie sich die Kunst-
mittel in eine fast liedhafte Einfachheit der Wirkung zurückziehen. Das erste
aus den »Traurigen Tänzen« im >Jahr der Seele< möchte zugleich deutlich
machen, mit welchem Rechte Gundolf von dem »katholischen« Zauber
spricht, den George der deutschen Sprache gewonnen habe:
Wie in der gruft die alte
Lebendige ampel glüht!
Wie ihr karfunkel sprüht
Um schauernde basalte!
Vom runden fenster droben
Endliesst der ganze glanz·
Von feuriger monstranz
Mit goldumreiften globen
Und einem weissen lamme-
Und wenn die ampel glüht
Und wenn ihr kleinod sprüht
Ist eS von eigner flamme?

Wieder ist der Aufbau voll kunstvoller Symmetrie und Asymmetrie. Die
Reimfolge a b b a hält sich zwar durch alle drei Strophen durch, aber die
Sinnzäsur, die die drei letzten Verse von den vorausgehenden trennt, bildet,
rhythmisch gesehen,·einen deutlichen Hiat, der von unglaublicher Wirkung
ist: Die drei Schlußzeilen werden eine einheitliche Bewegung, verstärkt
noch durch die refrainhafte Aufnahme eines Reimpaares aus der ersten
Strophe, und leiten ein sursum corda ein, das in dem fragenden Auftaut des
Endwortes über sich hinausschwingt. Das ist die Bogenführung des grego-
rianischen Chorals.
Ein Beispiel aus dem >Teppich des Lebens(, das durch seine Einfachheit
ausgezeichnet ist, »Nacht-Gesang I«, möge die Sprachkunst, die solche
Bogenfiihrung bildet, weiter verdeutlichen:
Mild Wld trüb
Ist mir fern
Saum und fahrt
Mein geschick.
Der Dichter Stcfan George 225

Sturm und herbst


Mit dem tod
Glanz und mai
Mit dem glück.
Was ich tat
Was ich litt
Was ich sann
Was ich bin:
Wie ein brand
Der verraucht
Wie ein sang
Der verklingt.
Auch hier sind Dissonanzen von Klang- und Bedeutungseinheit bewußt
eingesetzte dichterische Mittel. Der dritte Vers der ersten Strophe hat hinter
"Saum« eine Sinnzäsur, die die rhythmische Symmetrie des Versmaßes
verletzt. Zwar vergiBt man die Wunde fast über der wohlabgewogenen
Antithese der beiden folgenden Verspaare, in denen »herbst« und »mai«,
»tod« und »glück« einander entsprechen. Dazu kommt, daß der Vers »Mein
geschick«, der die neue Sinneinheit anheben läßt, durch den einzigen Reim,
der im Gedichte vorkommt, auf das folgende hin gebunden ist (»geschick«'
»glück«). Dennoch soll die Dissonanz gehört werden. Denn nur dank ihrer
gewinnt die zweite Hälfte des Gedichtes ihre volle harmonische Wirkung.
Tun und Leiden, Singen und Sein schweben in einem gelösten Gleichge-
wicht, das etwas von der Leichtigkeit des Tanzes hat; das Verrauchen eines
Feuers und Verklingen eines Liedes sind nicht nur in dem rhythmischen
Verklingen der Verse selber gegenwärtig - in ihnen ist mit gegenwärtig, daß
es ein Lebenslied ist, das dergestalt verklingt. So ist der volle Einklang von
Klang und Bedeutung erreicht.
Die oben geschilderte innere Verlagerung des eigenen Lebensbewußtseins
des Dichters, wie sie durch das Maximin-Erlebnis und die Stiftung des
Gedenkkultes an Maximin Georges späteres Schaffen und seine Lebensge-
staltung beherrschte, zeigt sich im Spätwerk Georges auch auf stilistische
Weise. Hier vor allem wird die Auffullungsbedürftigkeit seiner Verse zu
einer bewußten Forderung. Solche Auffullungsbedürftigkeit ist in religiösen
Urkunden nichts Ungewöhnliches. Wir halten es etwa für ganz selbstver-
ständlich, daß die großen Texte des Neuen Testamentes, am literarischen
Maßstab von Wortkunst gemessen, weit unter dem sind, was sie als religiöse
Urkunden bedeuten. Das heißt nichts anderes, als daß die Auffullung, die
durch den Verkündigungssinn der Texte gefordert wird, vom Glauben
geleistet wird. Nun handelt es sich im )Stern des Bundes<, wie ich meine,
nicht um eine religiöse Bewegung oder einen echten religiösen Kult, der sich
neben oder gegen den Anspruch der christlichen Kirche stellen möchte. Was
226 Der Dichter Stefan Gcorgc

George fUr die dichterische Deutung des Maximin-Erlebnisses aufbietet,


sind vielmehr Inkarnationsmetaphern. Wenn man das Maximin-Buch des
>Siebenten Ringes( genauer analysieren wollte. lieBe sich zeigen, wie George
sein Maximin-Denkmal im ständigen Blick auf die religiösen Urkunden des
Christentums metaphorisch-poetisch errichtet hat. Gleichwohl sind auch
solche Verse, und deutlicher noch die im )Stern des Bundes(. der Auffüllung
bedürftig. Wenn es da heißt:
Den leib vergottet und den gott verleibt

so ist das mehr eine Formel von der Art von Glaubensformeln. als daß das
Gemeinte hier im Worte dichterisch präsent wäre. Eher ist es hier die
kunstvoll geordnete Folge von Gedichten. die das Formelhafte bundstiften-
der Parolen dichterisch trägt. Das Beispiel allS dem >Stern des Bundes(, das
ich gebe, mag in einem doppelten Sinne repräsentativ sein: für die Bedeu-
tung. die das Maximin-Erlebnis als Unterpfand ror die Hoffnung auf Er-
neuerung des ganzen vaterländischen Lebens fUr George besaß, als allch
dafUr. wie sich sein Stil ins Didaktische, ins Lehrhaft-Fordernde steigert, so
daß die innere Präsenz des Gemeinten dem Worte dllrch die Auffüllung
seitens des Hörers zuwachsen soll:
Nun wachs ich mit dir rückwärts in die jahre
Vertrauter dir in heimlicherem bund.
Du strahlst mir aus erlauchter ahnen werke
Entzückten fehden und berauschten fahrten
Und wesest wach wie schamvoll auch verhüllt
Im weisesten im frömmsten seher-spruch.
Was über noch so stolze nachbam fürstet-
Im blut ein uralt unerschöpftes erbe:
Du wirfst in fristen fruchtend in das all
Ein zuckend lohen eine goldne flut.
Wie muss der tag erst sein· gewähr und hoffen'
Wo du erschienen bist als schleierIoser
Als herz der runde als geburt als bild
Du geist der heiligen jugend unsres volks!

Auch diese Verse sind Zeugnis hoher Kunstübung: Das großartige Pro-
ömium der ersten zwei Verse, der Aufschwung der letzten vier Verse. die
Pracht gebärde des Mittelstücks. Dennoch trägt das alles nur, wenn vom
Leser oder Hörer die liturgische Haltung eingenommen wird, die dem
einzelnen Gedicht seine Funktion im Ganzen leiht. Das durch das dichteri-
sche Wort zu bewirken, ist der Sinn der Kompositionsstrenge, mit der dieser
Gedichtband aufgebaut ist.
Der Schlußchor des Bandes ist nur wie ein Siegel auf das Ganze. Daß
solche steile Selbststilisierung mehr fordert, als die Lesererwartung zu lei-
Der Dichter Stef3n George 227
sten bereit ist. muß man zugestehen. Hier beginnen die Grenzen sich zu
verwischen, die zwischen der dichterischen Wirkung Georges und der
Macht seiner menschenbildnerischen Leidenschaft bestehen.
Indessen zeigt der letzte Gedichtband .Das neue Reich<. der offenbar eine
Sammlung in das strenge Gefiige des vorigen Bandes sich nicht einfügender
Gedichte mit neueren Gedichten vereinigt. die ganze Schwingungsweite des
Georgeschen Tones. von der prägnanten dramatischen Wechselrede über
den hochstilisierten Seherspruch bis zum fast volksliedhaften schlichten
Sang. Hier finden sich Gedichte, in denen sich die Willensspannung lockert.
die der Selbststilisierung Georges zugrunde liegt. Die Spannung zwischen
dem Für-andere-Sein, zu dem sich George in seiner Lebensführung wie in
seinem dichterischen Werk bekennt, und dem Für-sich-Sein des großen
Einzelnen, der von eh und je ein Einsamer ist, wird in der Intensität der
Georgeschen Sprachkunst überall spürbar, und der Ton des Verzichts. der
Bescheidung, des Nichtwissens und des Leidens ist in seinem ganzen Werke
ein beständiger Unterton, von den Schwermuts- und Trauergebärden der
frühen Bände bis in das späte, immer härtere, immer sparsamere Schaffen
hinein. Aber jetzt findet das Schicksalsgefühl des Dichters unmittelbaren
dichterischen Ausdruck. So mag eines der schönsten Gedichte aus dem
)Neuen Reich<, dessen geheimnisvoll-dunkler Liedklang solchen Bekennt-
niston hat. am Schlusse stehen:
Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch -
Worin du hängst· das weisst du nicht.
Vielleicht entdeckt ein spätrer mund:
Du sassest mit an unsrem tisch
Du zehrtest mit von unsrem pfund.
Dir kam ein schön und neu gesicht
Doch zeit ward alt· heut lebt kein mann
Ob er je kommt das weisst du nicht
Der dies gesicht noch sehen kann.
Das Gedicht gilt als schwierig, obwohl sein Thema durch seinen Rhythmus
klar und zwingend angegeben ist: Der Spruch der Erde, die alles weiß und
alles in sich zurücknimmt, läßt den Angeredeten die Grenze und die Abhän-
gigkeit aller seiner Oberherrlichkeit erkennen:Z. Aber wer hier angeredet ist,
ist der Dichter. jeder Dichter. der dichterische Mensch. jeder Mensch. Er hat
ein Gesicht. und was er sieht, bleibt von allen anderen ungesehen. Das nötigt
den Verzicht auf, wie ihn George vielfach. z. B. im Motiv des »Spiegels« im
)Siebenten Ring<:
l Zum Hölderlin-Bezug dieses Gedichts siehe im folgenden ,Hölderlin und George.,
S.2..?I)ff.
228 Der Dichter Stefan George

.wir sind es nicht! wir sind es nicht!c

und im Motiv des" Wortes« im ,Neuen Reiche:


Kein ding sei wo das wort gebricht

bekannt hat. Was sich der Dichter hier wie einen Spruch der Erde vorsagt, ist
eben dies, daß keiner dessen Herr ist, sich auszusagen. Ein Späterer mag es
wissen. Er wird erkennen, was einmal als große Möglichkeit des Lebens
unerkannt gegenwärtig war. Gewiß hat das seine sakralen Töne, wie das
unerkannte Dabeisein des auferstandenen Gottessohnes unter den erwarten-
den und nicht sehenden Jüngern. Aber der Dichter stilisiert sich damit
keineswegs in die Rolle eines unerkannten Heilands, der das von sich weiß.
Er weiß sich nicht. Denn er weiß - und dieses Wissen verleiht dem Lehrer
Stefan George seine letzte Glaubwürdigkeit -, daß nur das ins Wort Gebann-
te, nur das Gesehene und Cllr alle Sichtbare, wirklich da ist und daß bloßes
Gemeintes nicht gilt. Was so da ist, ist in Stefan Georges dichterischem Werk
da.
19. Hälderlin und George
(1971)

Das Thema )Hölderlin und George( ist nicht ein beliebiger Vergleich, durch
den sich die Eigenart des einen und des anderen Dichters gegeneinander
abheben soll, sondern ein echtes geschichtliches Thema. Auf eine erstaunli-
che Weise haben Hölderlin und George in unserem Jahrhundert eine echte
Gleichzeitigkeit gewonnen. Gewiß war Hölderlins dichterisches Werk
schon ein Jahrhundert früher von der Generation der romantischen Dichter
erkannt und geschätzt worden. Aber gerade die romantische Rezeption
seiner Dichtungen ordnete ihn in einen Zusammenhang ein, der auch die
Auffassung seines Werks durch die Maßstäbe der romantischen Dichterge-
sinnung festlegte. Als nun am Anfang unseres Jahrhunderts das Interesse an
Hälderlins dichterischem Werk sich zu beleben begann - wie immer war
auch in diesem Falle eine Konstellation der literarischen Gegenwart dafür
maßgebend, nämlich das Bedürfnis, dem herrschenden Naturalismus eine
neue Stilgesinnung entgegenzusetzen -, wurde es ein wahrhaftes Ereignis.
als das Spätwerk des Dichters durch eine neue kritische Ausgabe erstmals
zugänglich wurde. Es kam einer Wiederentdeckung eines verschollenen
Werkes, nein, der Entdeckung eines unbekannten Dichters gleich, als Nor-
ben von Hellingrath, der an der Münchner Universität eine Dissertation
über Hälderlins Pindar-übersetzungen vorbereitete, die in München, Stutt-
gart und Homburg liegenden Handschriftenbestände untersuchte und das
große Hymnenwerk aus Hälderlins SpätZeit, von dem bisher nur einiges
bekannt war, aus den Handschriften in vollem Umfange hers~ellte.
Der besondere Zugang, den der klassische Philologe Norbert von Helling-
rath zu dem Dichter fand, war dabei von Bedeutung. Es war der Weg über
Pindar. Denn die dichterische Form seiner Siegeslieder , die damals durch die
Arbeit der klassischen Philologie in neues Licht getreten war, öffnete auch
für die dichterische Arbeitsweise des späten Hölderlin die Augen. Pindar
hatte seit langem als ein bedeutendes Exempel dichterischer Freiheit gegol-
ten, insbesondere nachdem ihn Goethe unter Herders Einfluß zu seinem
Vorbild wählte und die Form der freien Rhythmen durch eigene großartige
poetische Schöpfungen ausfüllte. Es entsprach der ästhetischen Theorie des
Genies, die damals Shakespeare gegen die Regelästhetik des französischen
230 HölderIin und George

Klassizismus auf den Schild erhob. daß man in Pindar den ekstatischen
Dichter einer ungemessenen Hymnik sah1 • Was dagegen Hellingrath als
Erbe einer langen philologischen Forschungsarbeit. die insbesondere die
Pindarische Metrik aufgeklärt hatte. an ihm bewunderte. war gerade sein
großer Kunstverstand und die strenge Gemessenheit seiner dichterischen
Kompositionen2 • Das eröffnete ihm einen völlig neuen Zugang zum Spät-
werk Hölderlins. das sich nun selbst in seinem fragmentarischen Zustand als
Zeugnis eines ähnlich strengen Kunstverstandes erwies. Was man früher in
diesen späten Schöpfungen Hölderlins als Zeichen des Zerfalls. der geistigen
Zersetzung und der zerrinnenden Verständlichkeit angesehen hatte, enthüll-
te sich mit einem Male als ein strenger kompositorischer Aufbau, der in
seinen vollendeten Stücken VOn einer verbindlichen Strenge des Strophen-
baus und der Responsionen war, die nichts mit dem Strom freier Rhythmen
zu tun hat, den Klopstock, Herder und Goethe gepflegt hatten. Hellingrath
hatte aus dem Formgeftihl seiner eigenen Zeit den Blick flir das, was er mit
Dionys von Halikarnass die »harte Fügung« nannte und was ihm ebensosehr
in Pindars Dichtung wie in der Hölderlins entgegentrat.
Aber es begegnete ihm auch in einem zeitgenössischen Dichter, in Stefan
George, dessen letzte Werke, insbesondere die Gedichte des ,Siebenten
Rings<, dem gleichen Stilideal entsprachen. So näherte sich der Philologe
und Hölderlin-Herausgeber innerlich mehr und mehr dem dichterischen
Werk Stefan Georges und wurde auch von der persönlichen Macht, die von
Stefan George ausging, tief ergriffen. In seinem Briefwechsel mit seinem
Lehrer Friedrich von der Leyen spricht sich das deutlich aus. Hatte er noch
im Jahre 1907 in einem Seminarreferat in George vor allem den Techniker
bewundert, der deshai b der ideale übersetzer sei, weil er ein großer Künstler
der Worte und doch kein Dichter sei, hatte er mit einer Art kalter Bewunde-
rung an George die große Gebärde, die Maske und den Kothurn hervorge-
hoben und ihn selbst kalt und unbewegt genannt, so schrieb er schon wenige
Jahre später, am 7. 5. 1910, an Friedrich von der Leyen3 : »Und so verbinde
ich gegenwärtig allerdings meine nächsten Hoffnungen von der Zukunft der
Welt mit dem Namen Stefan Georges.« Er berichtet selbst, wie er von dem
späteren Werk Georges her seine Abneigung gegen die frühen Werke über-
winden und die wunderbare Entwicklung Georges »von der Vornehmheit
und Dekadenz und dem Artistentum der Mallarmes und seiner Sicherheit
nicht ohne Pose zu der heutigen fast unbehülflichen Größe Pindarisch herber
Schlichtheit« zu bejahen gelernt habe4 • Ohne Zweifel ist dieses Bekenntnis
zu Stefan George, das nicht eigentlich die Zugehörigkeit zu dem ,Kreis<
1 O. REGENBOGEN. Kleine Schriften. München 1961, S. 520ff.
2 F. BElSSNER, Hölderiins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 21961.
3 N. v. HELLINGRATH. HölderIin-Vennächtnis. München 21944, S. 226.
4 A.a.O., S. 229.
Hölderlin und George 231
bedeutet, auch für seine Hölderlin-Auffassung und Hölderlin-Begeisterung
bestimmend. nicht im Sinne eines Einflusses Georges auf seine Hölderlin-
Entdeckung. wohl aber im Sinne der Bestätigung dessen, was er in Hölder-
lin sah, durch den zeitgenössischen Dichter und im Sinne der Ermutigung,
Hölderlins dichterisches Sehertum in seiner religiösen Bedeutung anzuer-
kennen.
Hier stellt sich die entscheidende Frage. Die Briefzeugnisse Hellingraths
lehren mit voller Deutlichkeit, daß er auch den Maximin-Kult bejahte, der
im Kreis um Stefan George dem verstorbenen jungen Freunde gewidmet
wurde. Er schreibt: "Die fundamentale Tatsache entscheidet, daß es sich
nicht um eine literarische etc., sondern religiöse Bewegung handelt.« Und
er sieht eine protestantische Enge darin, wenn man sich weigert. die Sache
»iiber literarisches Gebiet hinauszutragen«.
So folgt Hellingrath scheinbar ganz der religiösen Deutung, die Stefan
George in seinem Prosahymnus auf Friedrich Hölderlin programmatisch
festgelegt hatte. Es ist ein kurzer Aufsatz, der unmittelbar nach dem Ersten
Weltkriege durch die Veröffentlichung in der 11.112. Folge der >Blätter für
die Kunst( weiteren Kreisen bekannt wurde. George sieht dort in Hölderlin
den großen Seher für sein Volk, der, einem Wunder gleich. plötzlich vor uns
steht, und preist ihn als den Rufer des neuen Gottes. Was George in diesem
Hymnus hervorhob. war vor allem die Unvergleichbarkeit Hölderlins. und
insbesondere. daß er nicht mit der romantischen Bewegung der deutschen
Dichtung verwechselt werden dürfe. Vielmehr sah er in Hölderlin eine Art
Vorwegnahme von Nietzsches Entdeckung des dionysischen Untergrundes
der apollinischen Kultur der Griechen und ebenso des Stromes geheimreli-
giöser orphischer überlieferung im Hintergrunde der homerischen Reli-
gion. »Er allein war der Entdecken. heißt es da. und das will sagen: nicht der
in Wahnsinn und Verzweiflung rasende Nietzsche, sondern der große Dich-
ter, der die Wiederkehr der Götter in seinen vaterländischen Ges:ingen
beschwor, hat den religiösen Dunkelgrund hinter der apollinischen Hellig-
keit gesehen und damit das klassizistische Griechenbild überwunden. So
strittig die Frage des religiösen Anspruchs bei Hölderlin. wie übrigens auch
bei Stefan George selbst, sein und bleiben mag - was George damals pro-
grammatisch verkündete. ist heute in einem Punkte völlig durchgedrungen:
Hölderlin ist neben die ganz großen Dichter der deutschen Sprache getreten.
Niemand würde ihn mehr der romantischen Schule zurechnen. Was George
seinem Aufsatz vorausschickt, sind ein paar ausgewählte Stücke aus Hölder-
Hnschen Gedichten, immer nur wenige Verse aus den verschiedensten Hym-
nen. Auch diese Auswahl bekundet den Gesichtspunkt. unter dem George
Hölderlin feiert: es ist die eschatologische Stimmung. die Parusie-Erwar-
tung und das Leiden an dem Noch-nicht-Erschienensein der Götter. was aus
allen diesen Versen spricht. Es ist deutlich genug. daß George Hölderlins
232 Hölderlin und Geotge

Dichtung damit als eine Art Vorläuferschaft zu der Verkündigung des neuen
Gottes in Anspruch nimmt, den er selber in dem »geist der heiligenjugend«
seines Volkes verehrt.
Der entscheidende Band von Hellingraths Ausgabe, der das Spätwerk
brachte, erschien kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Vorrede aus dem
Jahre 1914 zeigt die Perspektive, unter der Hellingrath Hölderlins Werk
sieht. Sie ist merkwürdig vorsichtig, wenn man sie mit den Briefbekenntnis-
sen aus dem Jalue 1910 vergleicht, und es wird berichtet, daß George sie
wegen ihrer Halbheit verwarf5 • Zwar gibt er, im gleichen Tone wie George
in seineIll Hymnus, in seiner Vorrede eine religiöse Deutung: ))Die großen
Hymnen darin empfand der Dichter selbst als Wort Gottes.« Aber die
vaterländische Wendung, die Hölderlins Spätwerk bringt, grenzt er nicht
nur gegen die VaterIänderei der romantischen Abkehr vom antiken Vorbild
ab, sondern ehensosehr von den »neuheidnischen Bestrebungen, welche
wesentlich eine bloße Verleugnung unsrer christlichen Vergangenheit
sind«. Der Anspruch auf religiöse Verkündigung wird also hier begrenzt.
HelIingrath schreibt: »Und auch hier ist das Verkünden selbst Unterpfand
des Verkündeten. Die dröhnenden und innigen Worte von Leben und
Einkehr der Himmlischen bringen den Beweis fiir das fast Unglaubhafte:
daß noch in unserer Zeit kindlich wahrer Glaube die Götter herabrufen
kann ... «
Hier gilt es, genau zu prüfen, was Hellingrath damit eigentlich sagt - und
vielleicht auch, was Stefan George mit seinem Maximin-Kult eigentlich tat.
Was bedeutet hier das Religiöse? Es scheint, daß Hellingrath sehr wohl
wußte, was den Dichter von dem eigentlichen Kultstifter unaufhebbar
trennt. Aber er weiß es, indem er nichts davon wissen will und ganz auf die
innere Affinität des Künstlers zu der religiösen Bewegung den Ton legt. Er
schreibt: »Da aber wohl das Kultische oder die Tendenz dazu integrierender
Bestandteil der Religion ist, glaube ich doch, daß der Künstler, der ausge-
staltet und Form wird, minder mittelbar Träger der religiösen Bewegung in
ihrer ganzen Erfiillung sein dürfte: Klopstock, H6lderlin, Marees. George."
Eine höchst lehrreiche Reihe. Zunächst ist klar. was der Maler in dieser
Reihe bedeutet. Es ist der Maler, den Hellingrath durch die schönen Beispie-
le seiner Kunst in der damaligen Münchner Staatsgalerie kannte: Hans von
Marees. der Freund aus dem Kreise Konrad Fiedlers und Adolf von Hilde-
brands. dessen Werk eine kühnere und glühendere Klassizität atmete und der
eine heroische Welt klassisch-hellenischer oder auch christlicher Gestalten
und Szenen in monumentalen Kompositionen. zum Teil in der Form von
Triptychen, auf der Leinwand beschwor. Man wird sich fragen. ob man den

5 Vgl. E. S.um. Um StefanGeorge. München 1954. S.19. S. 27. H.


2 SINCER. Rilkeund
Hölderlin. KölnlGraz 1957, S. 34.
Hölderlin und George 233
Maler der >Neapler Ruderer< oder der >Abendlichen Waldszene< wirklich als
Träger einer religiösen Bewegung sehen darf. Aber ein Gleiches gilt, wie
mir scheint, von den übrigen Namen der Reihe: Klopstock., Hölderlin und
sogar George. Ist es wirklich, wie der Zusammenhang bei HeIlingrath
suggeriert, der Weg oder die Weisung auf das Kultische, was sich in der
dichterischen Formgebung anbahnt? Stimmt das für Klopstock.? Stimme es
für Hölderlin? Stimmt es für George?
Was diesen Dichtern gemeinsam ist, scheint mir das Pindarische Erbe, das
Hymnische. Nun ist die literarische Gatttung des Hymnus ein Gebilde
eigener Art. Der Hymnus dient ausschließlich dem Preis von Göttern und
Heroen (wobei >Heros< im griechischen Sinne als ein vergöttlichter Mensch
verstanden werden muß). Ein Hymnus ist nicht ein Lobgedicht. Die Grie-
chen haben sehr genau zwischen Lob und Preisung (>Makarismos<) unter-
schieden und ebenso zwischen dem Lobgedicht und dem Hymnus. Und mit
Recht. Loben setzt Gleichheit mit dem Gelobten in einem letzten Sinn
voraus. Nicht jedem ist es gestattet, jeden zu loben. Denn wer lobt, kann
nicht vermeiden, sich gleichzusetzen. Dagegen setzt die Preisung und
ebenso der Hymnus, der ihre Kunstform ist, die Anerkennung von etwas
schlechthin Höherem voraus, das einen selbst übersteigt und dessen Gegen-
wart einen erfüllt. Hier zeichnet sich eine Skala von Haltungen ab, die von
der Anerkennung und Bewunderung über die Verehrung (ein bei uns ganz
abgegriffenes Wort) bis zur Anbetung von etwas Göttlichem führen kann.
Das ist griechische Religion .. Ihr folgt die Kunstform des Hymnus. Wenn
wir nun sehen, wie diese dichterische Form im Spätwerk Hölderlins eine
unvergleichliche Erfüllung findet, so ist deutlich, was damit impliziert ist,
nämlich daß hier nicht nur eine literarische Form, die dem griechischen
religiösen Leben unmittelbar angemessen bleibt, auf eine großartige Weise
von einem modernen Dichter verwendet und verwandelt wird, sondern daß
es auch hier die Erfahrung von etwas Höherem war, was diese literarische
Form möglich und nötig machte.
Was war dieses Höhere? Stellen wir diese Frage in bezug auf HölderIin.
um daraus die entsprechende Frage rur George zu beantworten. Für Hölder-
!in war das, woran ihm das Höhere begegnete, der Abschied von Diotima,
Trennung, die ein lebendiges Glück zerstörte. Es war die Erfahrung des
Göttlichen, die es gerade in seinem eigenen Entzuge bietet, was den neuen
Ton in Hölderlins Dichtung brachte. Vor dem unser Jahrhundert wie vor
etwas vÖllig Neuem stand. Es ist wichtig, daß es die Erfahrung des Ab-
schieds war, die den Dichter des Seins des Göttlichen gewiß macht. Von der
>Göttlichkeit< der Liebe aus, die ihm zur Erfahrung wurde, verwandelt sich
Hölderlins dichterischer Ton von Grund aus.
Es ist nun der Ton der Nennung, und das heißt der Anrufung dessen, was
ist, und nicht mehr der rhetorisch-allegorische Ornatus dichterischer Rede,
234 Hälderlin und George

wie ihn Hölderlin in der Nachfolge Schillers·gebraucht hatte. HölderIin hat


zahlreiche Gedichte nach der Trennung von Diotima geschrieben. in denen
er ausspricht, wie dem Heimat- und Ortlosen der Gesang zum »Asyl«
wurde, zur eigentlichen Zuflucht aus der Leere und Kälte einer lieblosen
Welt6 • Was er in seinem dichterischen Werk aufbaut, ist nun nicht eine neue
religiöse Verkündigung. die sich aus einer göttlichen Offenbarung legiti-
mierte, sondern die Deutung des Seienden und der Welt im Wissen um den
Entzug der Götter. Dies Seiende sind die »Engel des Vaterlands((, denen das
hymnische Spätwerk gilt. Auch diese Hymnen sind Preisungen von Höhe-
rem, Anrufvon Zeugen und Deutung von Winken und Botschaften, die das
Sein des Göttlichen verbürgen. »Des Göttlichen aber empfiengen wir doch
viel. (( 7 Der neue große Ton, den HölderIin findet. läßt ihn dem Pindarischen
Ton, der jeweils sicher Bekanntes. im Kult Lebendiges nennt, nahekom-
men. Es ist harte Fügung in der Tat auch hier. aber darüber hinaus ein
inniges und inständiges Stammeln. das seines eigenen Ungenügens in er-
greifendem Verzicht inne ist.
Hellingrath hat recht, und darin ist an sich gar keine Zweideutigkeit.
wenn er "das Verkünden selbst Unterpfand des Verkündeten(( nennt. Spra-
che - und was dem Dichter in seiner Sprache gelingt - bezeugt eine gemein-
same Wirklichkeit, die keiner anderen Legitimierung bedarf. Sieht man
genauer zu, so sieht man allerdings, daß Hellingrath die Anerkennung des
Dichterischen in seiner Vorrede wie in seinen Briefen und letzten Vorträgen
nur als eine Art Mindestforderung behandelt, der sich auch ein Skeptiker
Hölderlin gegenüber nicht entziehen könne. Er selbst aber folgt Georges
Deutung, wenn er das Unterpfand des Werkes als eine Verheißung für das
"geheime Deutschland« interpretiert, wie sie ihm in der patriotisch erregten
Stunde des großen Weltkrieges eine innere Erfullung war.
Auch ist eS unüberhörbar. daß ihn eine Art heils geschichtlicher Gewißheit
erfüllt. In seinen letzten Vorträgen spielt er auf den größten Lebenden, und
das ist offenkundig Stefan George. wie auf einen an, dessen Gegenwart und
Zukunft Erfüllung und Heil bedeute und dem das Wort des Dichters Höl-
derlin eine aus dem Zeitabstand geSChöpfte Legitimation biete. So muß man
die Akzente setzen, wenn man den Satz liest: "Nur Verkünder, nicht - auch
nicht in seinen geheimsten Gedanken - Bringer der Erfüllung. so steht
Hölderlin unbekannt verborgen in seinem Volke. ((8 Das entspricht Georges
Deutung der Hölderlinschen Sendung. Georges >Lobrede(, die wir schon
würdigten, wird nämlich ergänzt durch das Dreigedicht des >Neuen Reichs(,
das »Hyperion(( überschrieben ist. Dort sind Hyperion, Hölderlin und

6 HÖLDERUN, St.A. I, S. 307 (Große Stuttg. Ausgabe).


7 HÖWERLIN, St.A. H. S. 136.
8 N. V. HEUINGRATH, Hölderlin-Vermächtnis, S. 139.
Hölderlin und George 235
George selbst ZU einer einheitlichen dichterischen Spiegelung ineinanderge-
flossen.
Dabei soll gewiß nicht verkannt werden. daß der I)Meister« sich selber
stets als den Dichter und Seher und nicht als eine Art Heiland gesehen hat.
Sosehr er sich selbst »darstellte«. seine eigentliche Prägung gewann seine
Gestalt durch eine ähnliche Erfahrung von etwas Höherem, wie die, die
Hölderlin an Diotima erfuhr: seine Begegnung mit Maximin. Die Zeugnisse
lehren es deutlich, daß nicht so sehr die Verzauberung durch die Gegenwart
des Jünglings als die Trennung und die Trauer. die sein früher Tod brachte.
dem Ganzen die religiöse Tönung verlieh. Insofern ist das Maximin-Erleb-
nis eine Entsprechung zu Hölderlins Diotima-Erlebnis. Die Analogien lie-
gen auf der Hand: Wie den zwischen Gedanke und Gesang zerrissenen. von
ungestilltem Ehrgeiz verzehrten Magister Hölderlin die Liebe zu der schö-
nen Frau seines Frankfurter Brotherrn verwandelte und wie aus dem
Schmerz der Trennung die atemberaubende Inständigkeit seines hymni-
schen Werks aufstieg, so hat auch Stefan George in der Begegnung mit
Maximin eine neue Begründung seiner ganzen gefährdeten Existenz erfah-
ren. Sein Werk, insbesondere die härtere Fügung des ISiebenten Rings( und
des >Sterns des Bundes(, geben dem dichterischen Ausdruck.
Wie sehr das Ganze des Maximin-Kults aus dem Abschied von Maximin
konzipiert ist. lehren die eigenen Verse Georges. Der frühe Tod des Jüng-
lings, der George tief getroffen hat - man ahnt. wie die ungeheure Steige-
rung. zu der der Dichter den heranwachsenden Knaben emporriß. dem
Dichter selber wie eine Schuld erschienen sein mochte -. inspirierte ihn
dazu, sein eigenes Leben im Gedenken desjungen Freundes neu zu sammeln
und auch dem Leben seiner Freunde eine neue Prägung zu verleihen. indem
er sie zu einer Art von Gemeinschaft des Gedächtnisses zusammenschloß.
Das sprechen etwa die Verse aus dem >Stern des Bundes( aus:

Der sich und allen sich zum opfer gibt


Und dann die tat mit seinem tod gebiert.
Die tiefste wurzel ruht in ewiger nacht..
Die ihr mir folgt und fragend mich umringt
Mehr deutet nicht! ihr habt nur mich durch ihn!
Ich war verfallen als ich neu gedieh..

Denkt man an Hölderlins Diotima-Gedichte, so tritt innerhalb der Analogie


das Unterscheidende deutlich hervor. Zunächst wird man bemerken dürfen.
daß sich Hölderlin durch das Diotima-Erlebnis in eine ganz neue Dimension
dichterischen Sagens steigerte. die erst seinen hohen dichterischen Rang voll
begründet hat. In Georges Dichten ist das Maximin-Erlebnis und seine
dichterische Gestaltung dagegen mehr eine Konsequenz. auf die sein Leben
und sein Dichten hinwies. und der einzigartige Ton seines Dichtens. der von
236 Hölderlin und George

früh an sein Werk von allem Zeitgenössischen abhob, erhielt hier nur einen
neuen Akzent. Man gewahrt ferner, wie sich Hölderlins neue Gewißheit von
der Gegenwart des Göttlichen in einer überfülle neuer Gesichte gleichsam
verlor. Er geht ganz in der Deutung der ihn umgebenden Natur und der in
der Natur gegenwärtigen Geschichte auf, die ihm das Göttliche sind, und
wird so selbst fast unhörbar in »seligem Verstummen«. Dagegen macht sich
George selber zum Gegenstand der neuen dichterischen Selbstaussage und
für den Kreis seiner Freunde, die um ihn sind. Der Gedächtniskult für
Maximin, den George für sich und seine Freunde stiftet, ist das dichterische
Vermächtnis der eigenen Erfahrung. Es ist seine Person, die er in ihrer
eigenen Erscheinung und Gestalt als Lebensmittelpunkt seines Freundes-
bundes darstellt. Seine Dichtung erhebt sich bis zur Form religiöser Selbstin-
terpretation und steigert sich bis zu der Wendung:
Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.
Das bestimmt zutiefst die Weise des Sprechens, in der sich der Ton Georges
von der hymnischen Poesie Hölderlins unterscheidet, indem er sich immer
stärker in der Richtung auf das Liturgische und Chorische hinbewegt. Man
kann den Unterschied in der Antithese zweier Wörter formulieren. Be-
kanntlich hat George, der Fremdworte vermied und obendrein die fremde
Sache verwarf, die man Rezitation nennt, für das Sprechen von Gedichten
den Ausdruck »Hersagen« gebraucht. Ohne Zweifel hat seine gewaltige
Kraft der Menschenbildung gerade in der übung des Hersagens Von Ge-
dichten eine wesentliche Vollzugsform besessen. Hölderlin bildet dazu eine
volle Antithese.
Man kann Hölderlin nicht hersagen. Hölderlin kann man nur hinsagen. Er
sagt sich selbst vor sich hin - es ist ein meditativer Zug in Hölderlins
dichterischer Spätsprache. So kann man zweifeln, ob man Hölderlins Hym-
nen überhaupt vor einem größeren Kreise laut vorlesen kann. Wer es tut,
verkennt vielleicht am Ende doch den protestantisch-meditativen Zug in
dieser lyrischen Form. Dagegen scheint mir Georges Ton ganz vom grego-
rianischen Choral geprägt. Es ist das Melos des Chorals, das der George-
schen Sprachgebärde den Charakter eines liturgischen Tuns gibt. Das sind
gewaltige Unterschiede, die der Aneignung Hölderlins durch George eine
eigene Spannung verleihen mußten.
Dabei bedeutet der große Einbruch, den der Tod Maximins und seine
dichterische Verarbeitung rur George darstellt, weniger eine Veränderung
in seinem dichterischen Ton als in der gesamten Gestaltung seiner dichteri-
schen Exist!enz. Das eigene Leben, das er neu aufbaute, und das seines
Kreises nahm neue Züge an. Es war die Wendung zum inneren Staat, die sich
damals anbahnte. Man kann das auch die immer stärkere Verlagerung des
eigenen Lebensgewichts des Dichters auf die Erziehung seiner jungen Freun-
Hölderlin und George 237
de nennen, die sein dichterisches Schaffen mehr und mehr zurücktreten ließ.
Der geistige Ausdruck dieser Verlagerung, den Friedrich Wolters gefunden
hat, faßt sich in der Formel ,Herrschaft und Dienst< zusammen. Die Ehre des
Dienens und die Weihe des Herrschens beschwor Friedrich Wolters aus den
Überlieferungen des christlichen Mittelalters, und so erhielt der )Kreis< mehr
und mehr institutionellen Charakter, nicht in der leeren Äußerlichkeit von
Zeremonien oder zur Schau getragenen Besonderheiten, etwa der Kleidung,
sondern in dem Bewußtsein der Berufung, das die Glieder des Kreises
erfüllte und das ihnen ein Heilsbewußtsein verlieh, das einer kirchlichen
Ordnung von Gnadenmitteln gleichkam. Man muß dies mit sehen, wenn
man den neuen dichterischen Ton in Georges Sprechen richtig erfassen will.
Es ist ein Sprechen, das die Auffüllung durch den Angesprochenen verlangt.
Das ist jedoch nicht in dem Sinne gemeint, in dem eine echte religiöse
Urkunde Auffullung durch die gläubige Gemeinde fordert und findet. So
hat etwa die Sprachgestalt des Neuen Testaments, das seiner Gemeinde
gewiß war, nicht den Rang hoher Sprachgestaltung, wie ihn sonst große
dichterische Prosa besitzt. Georges Spätwerk dagegen ist ohne Zweifel von
erlesener sprachlicher Gestaltung. Gleichwohl ist auch in Georges )Stern des
Bundes< nicht nur ein AufTlillungsbedürfnis vorhanden, sondern eine Auf-
fUllungsmacht wirksam, die sich zwar von der dichterischen Sprachgestal-
tung her aufbaut, sich aber nicht in ihr erfUllt.
Man würde George nicht gerecht, wenn man die Veränderung seines
Tones in diesem Sinne auf seine religiöse Selbstinterpretation gründen woll-
te, in der er sich als Stifter eines neuen Kults darstellt. Zwar ist nicht zu
leugnen, daß vor allem der )Stern des Bundes< durch seine Hochstilisierung
kühler und krampfhafter wirkt als die früheren Gedichtbände und daß viele
Liebhaber seines Werkes das )Jahr der Seele< oder den )Teppich des Lebens<
fur den Höhepunkt seines dichterischen Werkes halten. Aber auch in den
späteren, den kultischen Ton suchenden Gedichtbänden ist ein enormer
Kunstverstand am Werke. Wenn die Verkündergeste und das Zeremoniöse
des hohen Kothurns manchen abstößt, so ist das nicht, weil es sich hier um
eine religiöse Esoterik handelt, die keine dichterische Gültigkeit erreicht. Es
ist in diesen Gedichtbänden nichts von dem, was wir aus Sektenstiftern, die
durch ihre rednerische Faszination eine Gemeinde um sich sammeln, ken-
nen, nämlich daß die literarische Fassung ihrer Schriften - ich denke etwa an
Rudolf Steiner - einen den Kopf schütteln läßt, daß es möglich sein soll,
durch solche literarischen Texte eine Gemeinde zusammenzuhalten. Geor-
ges dichterisches Spätwerk gründet sich nicht wie solche Texte auf ein
vorgegebenes Gemeinde-Ritual. Vielmehr sind es dichterische Mitte!, die
ihm ,kultische< Wirkung verleihen und die eine ähnliche Bereitschaft zur
Auffüllung erzeugen, wie sie eine religiöse Gemeinde nicht aus dem Wort
gewinnt, sondern dem Wort von sich aus zubringt.
238 Hölderlin und George

Wir können hier nicht verfolgen, was die verschiedenartigen Mittel sind,
die in Georges dichterischer Sprache solche gemeindebildende Wirkung
tun9 • Wir begnügen uns mit einer Gegenüberstellung der Sprachhaltungen,
in denen Hölderlin und George die Gattung des Hymnus erfullen, d. h. das
Höhere besingen.
Da gilt es vor allem zu sehen, wie verschieden die Voraussetzungen sind,
die Hölderlin wie George als Künstler der Sprache vorfinden. Hölderlin
begann sein dichterisches Werk, als die deutsche Dichtersprache gewisser-
maßen ganz frisch und blankgeputzt war, vor allem dank der einzigartigen
Geschmeidigkeit und Natürlichkeit, mit der Goethe die deutsche Sprache zu
handhaben wußte10 • So konnte Hölderlin diesem schmiegsamen und wie in
natürlichen Tropfen fallenden Stoff deutscher Sprache die kunstvollsten
Kaskaden zumuten, ohne daß der innige und liedhafte Ton derselben verlo-
renging. Er vermochte die großen Freiheiten, die die deutsche Sprache läßt,
fur eine Kompositionskunst fruchtbar zu machen, die alle Nachahmung der
Antike hinter sich ließ, so sehr sie auch nach ihrem metrischen und literari-
schen Vorbild gestaltet wurde. Dagegen herrschte in Georges Zeit eine der
eigentlichen Sprachkunst ferne Kunstgesinnung. Denn der damals herr-
schende Naturalismus war ganz auf die Möglichkeit gerichtet. Worte als
Ausdruck des Charakters und der seelischen Regung des Sprechers einzuset-
zen. Und ihn erfüllte überdies und konsequenterweise eine solche Vers-
feindlichkeit. daß er den Vers nur noch als beiläufige, möglichst unmerkü-
che Stütze des intensiven sprachlichen Ausdrucks gelten ließ. So mußte
Georges Formwille und Stilwille zu einer willenshaften Sprachhaltung füh-
ren, der man ihr Gewolltsein durchaus anmerken sollte und die nicht mit
dem Goetheschen oder romantischen Liedideal sanghafter Natürlichkeit zu
messen ist.
Es wäre ein Irrtum, in der Erlesenheit des Georgeschen Vokabulars, in der
Gesuchtheit seiner Bildersprache eine nachträgliche Poetisierung und poeti-
sche Verfremdung zu sehen. Die Gewaltsamkeit seiner Sprachgebärde ist
vielmehr dichterisch gefordert und drückt die herausfordernde Abseitsstel-
lung aus, die der Dichter gegenüber dem herrschenden poetischen Realis-
mus und seiner Lebensgesinnung einhält. Bei ihm gewinnt der 'Klangleib<,
ein charakteristischer Ausdruck der Zeit, in der Nachfolge der französischen
Symbolisten eine neue Präsenz. Es werden von ihm die mannigfaltigsten
sprachlichen Mittel eingesetzt, das Gleichgewicht von Sinn und Klang, das
alle Lyrik zu halten hat, recht weit in die Richtung der Klangkomposition
hin zu verschieben. So ist keine Gestalt der Weltliteratur, nicht einmal die

9 J. ALER, Im Spiegel der Form. Stilkritische Wege zur Deutung von St. Georges
Maximindichtung. Amsterdam 1947.
10 Vgl. dazu IDie Natürlichkeit von Goethes Sprache<, in diesem Band, S. 128ff.
Hölderlin und George 239
von George so sehr bewunderte und nachgeformte Kunst Dantes, seinem
eigenen Ton so nahe wie die Augusteische Dichtung. Vor allem Horaz steht
hinter der ,harten Fügung( seiner späten Gedichtbücher. Die Mittel der
Horazischen Verskunst, insbesondere auch sein Gebrauch der Binncnvoka-
lisation und der Inversion gewohnter Wortstellungen, sind fiir George ein
Vorbild, das Spannungsgefüge des Verses zu steigern und den Leierklang
des Endreims zu entmachten. Indem die Vokale nach dem Vorbild der poesie
pure eine Art Eigenleben entfalten und sich mit kunstvoll komponierten
Assonanzen durchmischen, wird eine neuartige rhythmische und musikali-
sche Gesetzlichkeit freigesetzt. Die harte Fügung. die Hellingrath im An-
schluß an Dionys von Halikamass zur Charakteristik des Pindarischen und
des Hölderlinschen Stiles gebraucht, gilt tUr George zwar nicht ganz in dem
gleichen Sinne, aber sie beherrscht in Wahrheit doch die Kunst seiner Kom-
position ll . Das Prinzip der Inversion. das die Horazische Wortstellung
beherrscht, fmdet sich in der Georgeschen Klangstellung wieder und erzeugt
dort eine ähnliche Spannungseinheit, die ebenfalls durchaus nicht unmerk-
lich sein will. sondern wie bei Horaz mit steigender Bewußtheit in den
Vordergrund drängt. Die reife Kunst Georges vermeidet dabei die unmittel-
bare Alliteration und sucht statt derer eine sorgfältig ausbalancierte Form,
Anklänge der Konsonantik und der Vokalik ineinander zu verschränken.
Für die Musikalität des Georgeschen Versbaus ist aber auch die Satzform
von besonderer Bedeutung. Er vermeidet den Nebensatz zweiter Ordnung
und bevorzugt überhaupt den kurzen Hauptsatz und das einfache Satzglied.
Dadurch flillt Verseinheit und Sinneinheit so oft zusammen. daß das seltene
Auseinanderklaffen eine besondere Ausdrucksintensität erzeugt. Daraufbe-
ruht das, was ich die Georgesche Bogenführung nennen mächte. Denn der
Sinnhiat ist es, der das Gleichmaß der metrischen Abläufe skandiert und
Versfolgen zu größeren Einheiten zusammenschließt. So entstehen gleich-
gebaute. analoge oder analog klingende Verse, die sich übereinanderstufen
und dadurch einen Wiederholungseffekt erzeugen, der sich mit einem Stei-
gerungseffekt verbindet. Das ergibt den unvergleichlichen, oft rauschhaft
klingenden Aufschwung, zu dem sich Georges Verse erheben.
Bei aller Gemeinsamkeit, die der Hintergrund Pindarischer Verskunst für
George und Hälderlin bedeutet, läßt sich gerade hier zeigen, daß die Entdek-
kung Hölderlins durch den Dichter George und die von ihm inspirierten
Zeitgenossen eine Einseitigkeit war. Wenn Hellingrath die Stimme Hölder-
lins »die dröhnende und innige Stimme« nennt. so ist das für HölderIin
kaum eine zutreffende Charakteristik. Die Innigkeit zugestanden, aber
dröhnend? Was ist Dröhnen? Doch wohl eine Lautgestaltung. die alle Arti-
kulationen zugunsten der Identifikation vitalen Einklangs herabmindert.

11 Siehe dazu auch )Der Dichter Stefan George., in diesem Band, S. 221 ff.
240 Hölderlin und George

Wir wissen alle etwas von der Vitalwirkung des großen Dröhnens, das
Blasinstrumenten eigen sein kann, die ja auch in religiösen Kulten eine
entsprechende Rolle spielen, und wir kennen es insbesondere auch als Be-
zeichnung rur die Stimme und das Mitreißende, das ein dröhnender Stimm-
klang hat. Davon ist wenig in der großen Bogenführung Hölderlinscher
Dichtung. Sie behält immer etwas von Meditation, von steigender Versen-
kung und Beengung der Stimme bis ans Verstummen heran.
Jetzt aber endiget. seeligweinend.
Wie eine Sage der Liebe,
Mir der Gesang, und so auch ist er
Mir, im Erröthen, Erblassen,
Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so.

Für Georges Verskunst dagegen ist die Charakteristik des Dröhnens, wenn
man es nur nicht falsch versteht, durchaus zutreffend. Sein Vers ist natürlich
wie jeder dichterische Vers auf das Spiel von Sinn und Klang gebaut. Aber
innerhalb der Spiel weite, die das Gleichgewicht dieser dichterischen Sprach-
rnächte gestattet, steht sein Vers unter dem Vorrang der Klangesmacht.
Daher haben seine Verse etwas Einhämmerndes, etwas von der Wiederho-
lung des Gleichen, die mit dem Worte Dröhnen mitgegeben ist. In Dröhnen
liegt aber auch und vor allem die Unmittelbarkeit des Mitreißens, die nicht
aus dem geistigen Gehalt der sprachlichen Fügung entsteht, sondern mehr
wie eine übertragung von Wille zu Wille, und mehr ein Durchtöntwerden
als ein Sprechen ist. So kann George selbst von sich sagen
Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme,

Hier mußte der eigene Charakter Georgescher Dichtung auch die Rezeption
der Hölderlinschen Dichtung beeinflussen und ihn in eine Sprechlage einsti-
lisieren, die ihm, wie wir heute sehen, nicht ganz angemessen ist.
Gleichwohl müssen wir die religiöse Selbstauffassung, wie sie sich'etwa in
Hellingraths oben zitierten Außerungen, aber insgesamt in dem Vokabular
des George-Kreises findet, selber tUr fragwürdig halten und eine tiefere
Gemeinsamkeit zwischen dem innigen Gestammel Hölderlinscher Hym-
nenkunst und der zuchtvollen Strenge Georgescher Verskompositionen
anerkennen. Sie liegt, wenn ich richtig sehe, in der Auffassung, die der
Dichter von sich selbst hat. Trotz allem Unterschiede zwischen der pompö-
sen Selbstdarstellung, die sich George in seinen Gedichten gibt, und dem
bescheidenen Verzicht, den der >Dichter in dürftiger Zeit< aufzubringen
bereit ist, bildet doch die Auffassung vom Dichtertum und vom Menschsein
den gemeinsamen Hintergrund beider . Sie ordnen sich damit in einen Mo-
tivzusammenhang des neuzeitlichen Denkens ein, der mit der Renaissance-
Poetik anhebt. Es war die Erneuerung der Prometheus-Figur und ihre
Hölderlin und George 241

Anwendung auf den Künstler als den zweiten Schöpfer, den alter deus, die
sich damals, bei Bovillus zuerst, ausspricht 12 und dann bekanntlich über
Shaftesbury bis zu Goethes großartiger Verwandlung des Prometheus-
Symbols gefiihrt hat t3 . Das Wesentliche an diesem Symbol liegt darin, daß
der Dichter, sosehr er auch der Ausgesetzte und der Außerordentliche ist, in
seinem schöpferischen Tun dennoch zugleich den Menschen vertritt.
Das dichterische Ich ist weit weniger, als man meist wahrnimmt, das Ich
des Dichters, und fast immer jenes allgemeine Ich, das ein jeder ist. Es
scheint, daß selbst die Interpreten Georges, von denen Hölderlins oder
Rilkes ganz zu schweigen, die Ambivalenz im Ichsagen des Dichters nicht
genügend beachten. Sie sollten besser auf George selbst hören: .. Selten sind
sosehr wie in diesem buch ich und du die seI be seele«14. Das ist gewiß eine
besondere Auszeichnung des .Jahrs der Seele., daß nirgends so sehr, wie in
diesem Buch, Ich und Du dieselbe Seele sind. Aber man soUte daraus auch
entnehmen, daß das filr den Dichter heißt, daß in allen seinen Büchern Ich
und Du dieselbe Seele sind. Das sollte gerade auch für die Gedichte beachtet
werden, in denen der Dichter vom Dichter spricht.
Ein Gedicht Hölderlins, das für George von besonderer Bedeutung gewe-
sen zu sein scheint, möge als Hintergrund dafür dienen. Es ist das fragmenta-
rische Gedicht .Der Mutter Erde<ls, dessen eigenhändige Abschrift durch
George sich in den hinterlassenen Papieren des Dichters in Minusio fand.
Auch ist eines der Bruchstücke, die George seinem Prosaaufsatz vorange-
stellt hat, diesem Gedicht entnommen. Hölderlins Gedicht redet von dem
Los des Dichters in dürftiger Zeit, wie fast alle seine Dichtungen der späten
Jahre. Ich möchte zeigen, wie hier das Schicksal des Dichters in seiner
stellvertretenden Bedeutung rur das allgemeine Menschenlos ausgesprochen
ist.
Es ist der bekannte Dreigesang der Brüder Ottmar, Hom und Tello. Der
Gesang Ottmars stellt in drei Strophen den einsam singenden Dichter dem
Chor des Volkes gegenüber, der noch aussteht. Aber das geschieht nicht,
um das Trennende zu sagen. Das erste Wort heißt vielmehr
Statt offner Gemeine sing' ich Gesang
und die dritte Strophe weist das eigentliche Gemeinsame auf, das Dichter
und Volk trägt: es ist die Sprache,

.. E. CASSIRER, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Berlin


1927. S. 299ff.
13 O. WALZEL, Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. Leipzig 31932.
14 S. GEORGE, Vorrede zur zweiten Ausgabe vom .Jahr der Seele<.
1~ HÖLDERLlN, St.A. II, S. 123.
242 Hölderlin und George

Doch wie der Fels erst ward,


Und geschmiedet wurden in schattiger Werkstatt,
Die ehernen Vesten der Erde,
Noch ehe Bäche rauschten von den Bergen
Und Hain' und Städte blüheten an den Strömen,
So hat er donnernd schon
Geschaffen ein reines Gesetz,
Und reine Laute gegründet.

Daß hier von der Sprache die Rede ist, ließe sich durch manche Parallele bei
Hölderlin bestätigen 16 • Der Dichter und das Volk habe in einem, sozusagen
in einer Vorschöpfung vor der Schöpfung, durch den Donner des Höchsten
die reinen Laute erhalten. Die Sprache ist die Antwort, die die Sterblichen
finden. Sie ist aber auch das Unterpfand, das eigentliche und einzige, das in
unserem Besitz ist, auch wenn die Götter fern sind und kein gemeinsamer
Geist sich zum gemeinsamen Gesang erhebt.
Der Gesang Horns malt dieses Fehlen und die stellvertretende Funktion
des Dichters aus. Es sind müßige Zeiten, in denen das Gedächtnis einer
Heldenzeit bewahrt wird, und die großen Ordnungen der Tempel »stehn
verlassen in Tagen der Noth«.
Wenn wir uns nun dem dritten Gesang, dem Gesang Tellos, der nur als
Fragment erhalten ist, zuwenden, so wird, wie ich hoffe, deutlich, warum
ich dieses Gedicht mit Georges dichterischem Selbstbewußtsein zusammen
sehe. Konnte man bei den ersten beiden Strophen noch ganz auf den Unter-
schied blicken, der zwischen der bewußten Einsamkeit des Dichters bei
Hälderlin und der Hinordnung des Dichters auf die ihn umgebende Ge-
meinde bei George besteht, so macht die dritte Strophe eine innerste Nähe
zwischen George und Hälderlin fUhlbar, wie sie in der gemeinsamen Erfah-
rung des Dichterturns gelegen ist.
Wer will auch danken, eh' er empfängt,
Und Antwort geben, eh' er gehört hat?
Ni[ cht ist es gut,] indeß ein Höherer spricht,
Zu fallen in die tönende Rede.
Viel hat er zu sagen und anders Recht,
Und Einer ist, der endet in Stunden nicht,
Und die Zeiten des Schaffenden sind,
Wie Gebirg
Das hochaufwoogend von Meer zu Meer
Hinziehet über die Erde,
Es sagen der Wanderer viele davon,
Und das Wild irrt in den Klüften,
Und die Horde schweifet über die Höhen,
Im heiligen Schatten aber,
-----
16 HÖLDERLlN, St.A. 11, vgl. S. 92 (.Brot und Wein<).
Hölderlin und George 243

Am grünen Abhang wohnet


Der Hirt und schauet die Gipfel.

Das Fragment bricht ab. Daß der Prosa-Entwurf, der mit »0 Mutter Erde«
beginnt, auf die Fortsetzung verweisen soll, ist nicht glaubhaft. Das Dreier-
gespräch ist trotz des fragmentarischen Zustandes weitgehend durchkom-
poniert, und es ist nicht zu sehen, wie der Inhalt von ,,0 Mutter Erde« hier
hätte eingebaut werden sollen. Vom Inhalt her scheint es mir im höchsten
Grade zweifelhaft, ob die beiden Stücke überhaupt etwas miteinander zu tun
haben 17 • Ist das Thema überhaupt das gleiche? Im Prosa-Entwurf ist »Mut-
ter Erde« angeredet, und sie soll der Gegenstand aller kommenden Preisge-
sänge sein. Hier ist sie nicht angeredet. Hier ist von ihr die Rede, als den
"Vesten der Erde«. Sie sind das reine Gesetz der Sprache, aus dem der
Dich~er singt und aus dem auch der Gesang der Gemeinde allein kommen
kann. Erde und Sprache sind hier ineinandergespiegelt, um zu sagen: die
Zeiten des Schaffenden sind nicht in der Gewalt und Verfügung des Dich-
ters, so wenig wie die Gebirge, auf deren Gipfel, auf das, was über ihm ist,
der Hirt schaut.
Doch wie dem auch sein mag - George hat jedenfalls nicht den Prosa-
EntWurf abgeschrieben, sondern unser dichterisches Fragment. Er hat sein
eigenes Lebensbewußtsein als Dichter darin erkannt. Das möge das George-
Gedicht aus der 11./12. Folge bestätigen:
Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch-
Worin du hängst· das weisst du nicht.
Vielleicht endeckt ein spätrer mund:
Du sassest mit an unsrem tisch
Du zehrtest mit von unsrem pfund.
Dir kam ein schön und neu gesicht
Doch zeit ward alt· heut lebt kein mann
Ob er je kommt das weisst du nicht
Der dies gesicht noch sehen kann.

Der Hintergrund dieses Gedichtes ist das aus Georges Werk wohlbekannte
Motiv des Verzichts. So beugt sich im ,Siebenten Ring< der Dichter über den
Spiegel des Quells, wenn er nach einer großen Erfahrung, für die er die
dichterische Form gefunden zu haben glaubte, Zustimmung sucht und ihm
die Gestalten immer antworten: "wir sind es nicht! wir sind es nicht!« Und
nichts anderes bekennt das Gedicht aus dem >Neuen Reich<: "Kein ding sei
wo das wort gebricht.« Man muß unser Gedicht auf dem Hintergrunde
17 Daß sie nicht als zwei Phasen eines einheidichen Schaffensentwurfs miteinander
vereinbart werden können, bemerkt BEISSNER (St.A. " 2, S. 685), meine ich, zu Recht.
244 Hölderlin und George

dieser Motivkonstanz lesen. Sein Schlüssel ist (und ich meine, damit ist seine
Deutung nicht mehr schwierig) die Ambivalenz zwischen Dichtersein und
Menschsein. Denn was das Gedicht sagt, und so, daß es uns etwas sagt, ist
am Ende dies, daß der Dichter nicht über seine Eingebung und Schöpfung
Herr ist, sondern wie alle anderen auch auf eine unaufhebbare und undurch-
schaubare Weise abhängig bleibt. Den Ton möchte ich auf das )wie alle
anderen auch< legen. Das singt sich durch das» Worin du hängst ... das weißt
du nicht« in unser Ohr ein, insbesondere weil es in der vorletzten Strophe
wieder aufgenommen wird und dem ganzen Gedicht seinen Takt verleiht.
Es ist die dumpfe Erde, etwas, was man auf keine Weise aufhellen kann und
woher ein jeder von uns stammt, was uns diese wesenhafte Unwissenheit
um uns selber verkündet. Nicht nur der Dichter,jeder von uns kann sich die
folgenden Worte gesagt sein lassen. Denn immer wird ein späterer Mund
wissen, was wir nicht wissen. Gewiß sind es Parusie-Formen der christli-
chen Überlieferung, an die diese Verse anklingen. Nicht. daß Christus
gemeint wäre, der unerkannt unter den Seinen weilt und erst am Brechen des
Brotes erkannt wird - aber es ist von dem Dasein dessen die Rede, der das
heilende Wort zu sagen hätte und der doch unerkannt bleibt. Nun ist es das
eigentliche Thema dieses Gedichtes und ist in diesen Versen gegenwärtig,
daß der Dichter sich unter die Nichtwissenden einrechnet. Auch er weiß
nicht. Doch er weiß, daß er nicht wissen kann, ob ein Gesicht, das er hat, je
sichtbar werden wird, je für aUe da sein wird. Das heißt aber, daß er nicht
weiß, ob ein Wort sein wird. Das tiefe Beben, das durch diese Verse geht, ist
nicht auf die anderen beschränkt, denen das Ich des Dichters gegenüberstün-
de.
Kehren wir von hier zu der dritten Strophe von )Der Mutter Erde< zurück,
so erkennen wir die Gemeinsamkeit des Themas. Man soll nicht fallen in die
tönende Rede, man darf nichts übereilen, nicht mit frevelnder Hand nach
dem Feuer greifen. Das ist bei Hölderlin ein zentrales Motiv l8 • So muß der
Dichter auch hier aushalten, daß er Vorsänger einer noch nicht antworten-
den Gemeinde ist l9 • Die Zeiten des Schaffenden, die ihren eigenen, durch
nichts umzulenkenden, durch nichts zu beeinflussenden Gang gehen wie der
Zug des Gc!birges von Meer zu Meer, sagen das gleiche »Das weißt du nicht«
wie Georges Gedicht. Es ist die innere Gemeinsamkeit, die die Stellung des
Dichters zu Zeit und Welt ausmacht, was zwei sehr voneinander verschiede-
ne Dichter verbindet, und es scheint mir ein Zeichen für die Größe Georges
zu sein, daß seine eigene dichterische Stimme gleichwohl so ganz anders und
~~gen erklingt und in seinen Versen keine Spur von Nachahmung oder
Ubernahme des Hölderlinschen Tones aufweist.

18 HÖLDBRLIN, St.A. ll, S. 120, S. 141, S. 155.


19 Siehe dazu ,Hölderlin und das Zukünftige., in diesem Band, S. 20ff.
20. Ich und du die selbe seele
(1977)

Ihr ahnt die linien unsrer hellen welten·


Die bunten halden mit den rebenkronen·
Den zefir der durch grade pappeln flüstert
Und Tiburs wasser weich wie liebesflöten ?
Da hebt sich euer blondes haupt: kennt IHR
Der nebel tanz im moore grenzenlos·
Im dünenried der stürme orgelton·
Und das geräusch der ungeheuren see?

Man kann sich fragen, ob das erklärende Wort dort überhaupt am Platze ist,
wo dichterische Rede unmittelbar und unaufgehalten durch Verborgenhei-
ten von Wort und Sinn den Leser und inneren Hörer erreicht. Gewiß
gehören diese aus Georges 'Jahr der Seele< entnommenen Verse bei aller
epigrammatischen Gedrungenheit ihres Baues nicht zu den dichterischen
Gebilden, die den verstehenden Vollzug immer hinter sich zurücklassen,
weil sie ihm in dunkler Dichte voraus sind. Diese Verse stellen im einfachen
Bau einer Frage und einer Antwort zwei Landschaften bedeutungsvoll ein-
ander gegenüber, und niemand bedarf irgendeiner Hilfe, um in ihnen See-
lenlandschaften und in der gespannten Weite dieser Fernen sich selber zu
erkennen.
Und doch - das auslegende Wort fühlt sich auch hier angerufen. Da ist der
Platz, an dem die Verse stehen; in einer Abteilung des 'Jahrs der Seele<, deren
Gedichte vom Dichter selber als flüchtig geschnittene Schatten bezeichnet
sind. Zwei Initialen (A. V.) lassen einen bestimmten Mann aus dem Freun-
deskreise des Dichters erraten, und man könnte versucht sein, diesen vom
Dichter selbst gegebenen Winken nachzugehen und in der Begegnung zwei-
er Dichter, eines nordländischen mit dem rheinisch-römischen Dichter des
'Jahrs der Seele<, den Lebensgrund dieses Widmungsgedichtes zu erkennen.
Allein, da liest man die Vorrede zu der zweiten Auflage dieses Buches, in
der der Dichter aller Aufklärung aus Lebensgeschichtlichem und Gelegen-
\1eitlichem die Warnung entgegenhält: "Und selten sind sosehr wie in die-
sem buch ich und du die selbe seele. « Gewiß, im Ganzen dieses Gedichtban-
des gehört dieses Gedicht zu der Gruppe, die durchweg Initialen zeigt und
246 Ich und du die selbe seele

Anrede ist. Insofern mag die Warnung des Dichters dieser Gedichtgruppe
gegenüber am wenigsten bedeuten. Aber sie bedeutet genug. Es sind eben
selbst diese persönlich bezogenen Widmungen Gedichte. die nicht diesem
oder jenem als Geste und Gabe zugesungen sind. sondern Werkteile. die ein
wählerischer Goldschmied des Wortes gearbeitet und geziert und angeord-
net hat. Sie gehören einer anderen Ordnung an als der des einmalig gelebten
Lebens. nicht anders als die Siegeslieder. die Pindar an sizilischen Höfen
aufführen lieB und die dennoch Kostbarkeiten griechischer Literatur sind.
nicht anders als die von tönender Anrede eröffneten Oden des Horaz. Was
macht sie zu einem Imonumentum aere perennius(? Welche Kunst. welche
Fügung. welche Sagkraft des Wortes?
Das zitierte Gedicht hat in der Reihe dieser Schattenschnitte. sosehr seine
formale Struktur des aus zwei vierzeiligen Strophen gebildeten Ganzen ihm
mit den anderen Gedichten der Gruppe gemeinsam ist. das Besondere einer
zweistimmigen Komposition. Frage und - in anderer Stimme tönende -
Antwort. Und wie jedes Verhältnis von Frage und Antwort hat auch dieses
eine genau gefügte Entsprechung - den Auflaut. der sich in der Schwebe des
Versuchens hält. und die Entschiedenheit des Gegenwortes. das das Ganze
zum Ganzen siegelt. Denn allerdings ist auch dieses Frage-Antwort-Gedicht
ein Ganzes. und die fragende wie die antwortende Stimme sind weit eher die
Stimmen einer musikalischen Komposition als die der Abbildung eines
Gesprächs zweier einzelner.
Die fragende Stimme hat etwas Forderndes. überlegenheit und Sicherheit
geht VOn ihr aus - und sie weiß. was sie sagt. Sie weiß. wogegen sie redet.
Indem sie sich auf ihre hellen Welten beruft, sind die düsteren Welten des
anderen mit da. Und wenn der Angeredete die hellen Welten »ahnt«. so
scheint das zu suggerieren. daß er sie wie ein höheres. fernes Ziel oder ein
gelobtes Land erkennen soll. Das wird insbesondere dadurch deutlich. daß
diese »hellen welten« als Linien - wie helle Berglinien eines fernen Ziels-
erscheinen. Oder meint dies zugleich die klare Linienführung in diesen
hellen Welten. ihre geistige Architektur? Es ist wohl beides - ein klares
Vorbild und ein Vorbild von Klarheit: Landschaft. die ganz von Menschen
gestaltet und von der hellen Geistigkeit menschlicher Durchformung beseelt
ist. »Die bunten halden mit den rebenkronen« evoziert die rheinischen
Weinberge. eine königliche Landschaft. streng und planvoll gebaut. und
vom herbstlichen Gold der Reben wie gekrönt. Das Element mit seiner
vormenschlichen Gewalt ist nur per contrarium. in der gebändigten Klarheit
dieser Landschaft da. Die künstliche Flüsterstimme des Zephir läßt es unge-
rufen. Das gleiche gilt für die geraden Pappeln. Diese im 18. Jahrhundert
nach Europa verpflanzte Baumart. die mit dem geometrischen Geist der
Zeit. mit der geregelten. gezirkelten. geplanten Straßenlandschaft des
18. Jahrhunderts zusammengeht. ist wie ein Symbol menschlich geordneter.
Ich und du die selbe seele 247

menschlich beherrschter Natur - und vollends klingt der ganze Zau ber einer
in Kunst verwandelten Natur in der vierten Zeile auf. Mit der Anrufung
Tiburs, des berühmten Landsitzes Augusteischer Zeit, den jeder Humanist
aus Horaz kennt, mag in die erregte Landschaftsvision des Lesenden, Hören-
den ein Zweifel kommen. ob hier der reine Süden, Italien. dem reinen
Norden entgegengesetzt sei - bis man die stärkere Evidenz des Symbolwor-
tes (Ti bur ist Tivoli) erkennt und mit Bewunderung realisiert, daß die
berühmten Wasserspiele dieses gesegneten Platzes mehr meinen als das
Sinnbild deutschen Romfahrertums, daß sie die Anmut und den Lebensge-
nuß römisch-rheinischer Humanität als eine Lage der menschlichen Seele
beschwören. Woher weiß man eigentlich, daß »Tiburs wasser« ein Plural
sind? Gewiß nicht aus klassisch-archäologischer Bildung, wohl auch nicht
nur aus den umgebenden Pluralformen der Pappeln und der Flöten - die
mächtige Gebärde des vorangestellten Genitivs» Tiburs« ist es Vor allem, die
die volle Weite dieser künstlichen Paradiese heraufruft.
Und doch ist etwas Schwereloses. etwas Unwirkliches in dieser dem
Ahnenden verheißenen Landschaft - die Antwort, das Gegenwort. das die
zweite Strophe sagt, ist in der Frage schon da. Diese Antwort ist die ganze
andere Seite der Seele, ist erst das Ganze der Seele. Das kann kein Leser des
>Jahrs der Seele( verkennen. daß das blonde Haupt des Antwortenden keine
fremde Botschaft sagt, sondern wahrhaft erinnert. ein innerstes Wissen um
die elementaren Gewalten ausspricht, die allem Seelentum und Geisteswe-
sen erst volles Leben, Wahrheit und Wirklichkeit verleihen. Es ist nicht
umsonst, daß die drei letzten Verse bis in die Vokalisation hinein die Macht
des Elementaren entgegenhalten - dieser Stolz ist nicht nur der des blond-
häuptigen Nordländers auf seine Heimat, sondern mehr noch der Anruf der
großen Natur- und Seelenmacht des Erhabenen, dessen dynamische Unend-
lichkeit Kant der >intelligiblen Bestimmung der Menschheit( gewiß sein ließ.
Ein anderer, nicht auf die Humanisierung, geschweige denn auf die Bändi-
gung der Natur gegründeter Stolz, sondern ein Stolz, der die Natur besteht
und geistig ermißt. ist es, der den Menschen das Haupt heben läßt.
Man kann sich fragen. ob das ausgewogene Gleichgewicht dieser Frage
und dieser Antwort, ob das innere Gleichgewicht der Seele, die beide Welten
liebt, oder gar, ob der Rest lebensgeschichtlicher Anspielung, die den rheini-
schen und den holländischen Dichter konfrontiert. durch solche Deutung
nicht am Ende verschoben wird. Ist wirklich die Gegenstrophe mehr als eine
Entgegnung? Ist sie wirklich Einklagung eines übergangenen Rechts? Dich-
tungsauslegung kann nie vermeiden, einseitig zu werden. und hat daher
andere Seiten offenzulassen. Gewiß war der Dichter dieser Verse immer auf
der Seite des Gestalteten, Klaren, Beherrschten. und den zerlösenden Weiten
des Unbestimmten, Unmäßigen abhold. Aber dies 'Jahr der Seele( spricht
allzu deutlich aus dem nächtlichen Grunde der Seele, als daß man die großen
248 Ich und du die selbe seele

Bilder des Sturmes. des Moores. des alles begleitenden. alles bestreitenden
Atems der See ihm nicht als Eigen lassen müßte. Gewiß hat sich das auch
dem Text gegenüber zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung soll hier nicht
durch Ausgreifen über den gewählten Text auf Seelenlage und Stimmungs-
macht des ganzen Buches oder gar auf die Topik von Sturm und Meer im
Gesamtwerk des Dichters gegründet werden. sondern auf die Bewußtma-
chung der Klangbewegung dieser Verse selbst.
Zwar. die Antithese ist wie bloße Gegensetzung. Aber wie ist das vorbe-
reitet - so daß es gar nicht ausbleiben kann. Die Tonlage der beiden letzten
Verse der ersten Strophe. das sanfte Säuseln des Windes. das leichte Plät-
schern der Wasserspiele Tivolis. alles in hohen. hellen. heischenden Tönen
gehalten. fordert das machtvolle Bekenntnis zum Grunde geradezu heraus.
Und so sind es weithallende Klang- und Sinngebilde. die diese andere
Strophe fUllen. wie vom basso continuo eines unendlichen Chorals skan-
diert. Es ist ein menschenloses Dahinfahren des Elements. Kein Macbeth.
kein Hamlet ist beschworen. und doch ist es wie ein Dröhnen in der Luft. das
sich zu Shakespeareschen Vers-Visionen erheben möchte. Aber wie wird
das alles hineingenommen in den letzten Vers. in dem sich Geheiz;nnis und
Offenbarung dichterischer Kunst auf wunderbare Weise die Waage halten.
Es sind einfache Worte - IGeräusch<. lungeheuere. ISee( -, die hier zur
unauflöslichen Einheit eines Gebildes zusammengehen - und so, daß sie in
der neuen Fassung wie seltene. erlesene Steine blitzen. Was ist nicht alles
IGeräusch(! Aber dieses Geräusch ist das Rauschen der Brandung selbst. ist
dies Ganze unaufhörlichen Schlagens und Verrinnens - die unendliche Me-
lodie. vor der alle menschlichen Laute und Gestaltungen zufallig-flüchtig
werden. Warum hört man das alles? Gewiß. da ist die Wiederaufnahme der
Laute. Ir< zu Ire. des Volkals zum Vokal- und irgendwie mag der Chiasmus
von Ir-äu-eu-r< den Grundlaut des lau( in IRauschen< freisetzen. Aber es ist
dann ja auch die kollektive Formung, die das Rauschen zum »Geräusch «
werden läßt und die Übermacht des allen menschlichen G~staltungskräften
femen. ihnen gleichmütig überlegenen Elementes evoziert. Die See. dies
mütterlich all-umfassende Wasser. heißt »ungeheuer«. Fast klingt es trivial:
wie ,riesig< oder 'grenzenlos< - und dann doch nicht. Dann doch wie ein
letztes. ein endgültiges Wort. Nein. ein vorletztes. Denn die »ungeheure
See«. gewiß. sie ist das Weltmeer, in das alles zurückgeht und aus dem alles
kam. Aber es ist doch ldie See(! - vor der einen Staunen und Jauchzen befallt.
Denn sie ist nicht ein um weniges. sondern ein unendlich Größeres als alles,
was Menschenhand zur Ordnung einer hellen Welt fUgte, was menschliches
Schaffen ins Licht heraufgebar - sie läßt uns »der ungeheuren Weite Segen
ahnen«.
21. Der Vers und das Ganze
(1979)

Fassen wir das 19. Jahrhundert bis auf unsere Tage, mit denen wir im
letzten Viertel des 20. Jahrhunderts stehen, ins Auge und betrachten die
wechselnden Konstellationen, die etwa Schiller und Goethe aufweisen: wie
Schiller voranging, indem er dem vaterländischen Empfinden des sich for-
mierenden deutschen Nationalstaates die Stimme lieh; wie Goethe erst dem
Ende des 19. Jahrhunderts und dessen liberalen Idealen seine breitere und
umfassendere Wirkung verdankte; oder wie Hölderlin von einem Poeta
minor des romantischen Zeitalters in unserem Jahrhundert zu einem wah-
ren Klassiker aufstieg. Umgekehrt sehen wir zahllose Figuren von einer
zentralen und alle erfüllenden Bedeutung zu einer umstrittenen oder zu-
rücktretenden Größe werden. Und selbst unter den Größten wandeln sich
die Bevorzugungen. Denken wir etwa an Richard Wagner gegenüber Ver-
di oder an Beethoven gegenüber Bach. Es sind lebendige Spannungen, die
sich in solchen Zusammenordnungen ausdrücken. Oder - um damit unse-
rem Thema noch näherzukommen - denken wir an die überraschende
Wiederkehr des Jugendstils in unseren Tagen. An ihm hatte der junge
Stefan George selber teil, als er seinem eigenen Stilwillen Form und Gestalt
gab. Stefan George selber und sein Werk hat freilich im öffentlichen Be-
wußtsein unserer Zeit noch nicht eine entsprechende neue Beleuchtung
erfahren wie der 'Jugendstik Die Gelegenheit, die uns hier zusammen-
fUhrt, ist nicht ohne ein Bewußtsein dieses Umstandes geschaffen worden.
Man muß erwarten, daß die altgewohnte Provokation, die der Dichter
Stefan George gegen die Massengesellschaft schleudert, in uns heute neue
Resonanzen weckt - in uns allen ohne Unterschied des Alters oder der
Gesinnung oder der politischen Willensrichtung. Denn in uns allen beginnt
das Bewußtsein zu erwachen, daß Natur und Umwelt mehr sind als ein
Feld der Ausbeutung und der Umgestaltung zu einem einzigen riesigen
Industrie-Betrieb; daß Unsere menschlich - gesellschaftliche Arbeitswelt
sich vielmehr um die Wiedereinfügung in das größere Ganze sorgen muß,
das uns trägt und uns nährt. So könnte es sein, daß die Sehersprüche eines
Dichters wie Stefan George sich langsam von den kurzschlüssigen Anwen-
dungen lösen, die ihnen in den letzten Jahrzehnten zugewandt geworden
250 Der Vers und das Ganze

sind, und daß sie ihren wahren Maßstab zeigen, der mit Maßen mißt, die für
die Zukunft so gut wie flir Gewesenes gelten.
Das Thema .Der Vers und das Ganze( möchte in diesem weiten und
radikalen Sinne verstanden werden. Es deutet auf eine Frage, die im Grunde
drei Fragen umfaßt, die ich nacheinander behandeln und ins Licht stellen
möchte.
Es "geht um die Fragen:
1. Wie ist der Weg vom Vers zum Ganzen?
2. Wie ist die Trennung des Verses vom Ganzen?
3. Wie ist am Ende das Ganze im Vers zu .begreifen?

Die erste dieser Fragen ist jedem Kenner des dichterischen Werkes und der
Lebensleistung Stefan Georges wohl vertraut: »Der Weg vom Vers zum
Ganzen«.
Als Stefan George mit der Folge der IBlätter flir die Kunst( zum ersten
Male in eine beschränkte Öffentlichkeit trat, hat er im Vorwort die rich-
tungsweisenden Sätze gesagt, daß diese Blätter der Kunst, besonders der
Dichtung und dem Schrifttum, dienen wollen, »alles Staatliche und Gesell-
schaftliche ausscheidend«. Er nannte das ausdrücklich eine geistige Kunst,
eine Kunst für die Kunst. Nun ist das Wesen der Dichtung freilich immer
nicht nur der Schonbezirk einer Gesellschaft, der kultureller Selbstbefriedi-
gung dienen soll. Das Wesen der Dichtung steigt immer irgend wie aus der
gesprochenen Sprache auf und findet Widerhall in den Ohren und Seelen
aller, die hören können. So mag ein anderes Wort des Dichters bereits
vorzeichnen, wie der Anfang mit der Dichtung zum Ganzen hinzuführen
vermag. Das Wort lautet: »Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich
und Du· Hier und Dort· Einst undJezt nebeneinander bestehen und eins und
dasselbe werden.« Dies Wort spricht aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, es
spricht in den Beginn dieses Jahrhunderts hinein, in die Zeit vor dem Ersten
Weltkriege. Plötzlich rücken auch für uns Einst und Jetzt ganz nahe zusam-
men, diese Zeit vor dem Ersten Weltkriege und unsere Zeit, die - wie wir
hoffen - nicht eines Tages die vor dem dritten Weltkrieg heißen wird. Zeit
rückt zusammen, und in dieser geeinten Zeit stehen dann etwa die Gedichte
des .Sterns des Bundes( mit ihrer prophetenhaften Intensität. Da begegnet
ein Gedicht wie dies, aus dem ich nur ein paar Verse zitiere:
Und an der weisheit end ruft ihr zum himmel:
.Was tun eh wir im eignen schutt ersticken
Eh eignes spukgebild das him uns zehrt?(
Der lacht: zu spät für stillstand und arznei!

Und dann kommen die berühmten drei Verse:


Der Vers und das Ganze 251

Zehntausend muss der heilige wahnsinn schlagen


Zehntausend muss die heilige seuche raffen
Zehntausende der heilige krieg.

Welch eine Spanne von dem »Alles-Staatliche-und-Gesellschaftliche-Aus-


scheiden« zu diesen Versen! George hat sich selber die Frage vorgelegt, wie
diese Spanne überbrückt wird und wie Rechtfertigung des eigenen Tuns aus
ihr erwächst. Im ,Stern des Bundes< heißt es in dem großen Gedicht, das das
eigentliche Thema dieser Erörterung aufruft:

DA DEIN GEWITTER 0 DONNRER DIE WOLKEN ZERREISST


Dein sturmwind unheil weht und die vesten erschüttert
Ist da nicht nach klängen zu suchen ein frevles bemühn?
.Die hehre harfe und selbst die geschmeidige leier
Sagt meinen willen durch steigend und stürzende zeit
Sagt was unwandelbar ist in der ordnung der sterne.
Und diesen spruch verschliesse für dich: dass auf erden
Kein herzog kein heiland wird der mit erstem hauch
Nicht saugt eine luft erfüllt mit profeten-mus\k
Dem um die wiege nicht zittert ein heldengesang.

Die Frage drängt sich von selbst auf: Konnte der Dichter - der so sehr darauf
bestand, immer der Dichter zu bleiben, und der, auch wenn er für so viele
der Meister war, es immer als der Dichter sein wollte - das, was dieser Zeit
so fehlte, wie der Heldengesang, vom Dichten her wieder erwecken wollen?
George hat immer, selbst in seinen Freunden, selbst in Männem von der
großen wissenschaftlichen Begabung eines Friedrich Gundolf, mit Entschie-
denheit vor allem den Dichter gesehen und sie so angeredet. Erziehen war
ihm Erziehen zum Dichten. Die viel angegriffene Einformung und Anler-
nung jüngerer Freunde an und in den Ton seines eigenen meisterlichen
Verse-Könnens sollte Erziehung durch Dichtung und durch Lesen von
Dichtung sein und diente dem Ziel- um ein Wort Georges zu zitieren -, die
»Traumfähigkeit« neu zu wecken und zu stärken. Der Weckung der Traum-
fähigkeit sollte am Ende auch der Maximin-Kult dienen, der neue Mythos
des George-Kreises, der als Gedächtniskult und durch Leben im Gedächtnis
an eine fUr den Dichter bedeutende menschliche Erfahrung eine Gruppe von
Menschen vereinigen und mit einem neuen LebensgefUhl erfüllen sollte.
Fragen wir uns: wie kann dieser Weg eines Dichters als ein Weg zum
Ganzen gegangen werden, wenn das Ganze vom Vers so verschieden, dem
Vers so entfremdet ist, wie das in Georges eigener Jugend der Fall war und
erst recht in unserer Zeit der Fall ist. Fragen wir zuerst: Wie kam es zur
Trennung des Verses vom Ganzen? Kann Poesie etwas anderesjsagen als des
gemeinsamen Geistes Gedanken? Poesie ist Weitersage des Mythos. Mythos
ist die keiner Beglaubigung bedürftige ,Sage<. Aber wo ist eine solche,
252 Der Vers und das Ganze

keiner Beglaubigung bedürftige Sage in unserer unromantischen Welt? Ich


nenne unsere Welt lunromantisch< und gebrauche damit bereits einen Aus-
druck, der selber einen besonderen Akzent trägt, seit die deutsche Romantik
zwischen dem Klassischen und dem Romantischen unterschied. Hier muß
ich an Hegel erinnern, jenen großen Denker der romantischen Periode, der
heute für jeden, auch wenn er es nicht weiß, einen der Einschläge in dem
geistigen und sprachlichen Gewebe seiner denkenden Rechenschaft bildet.
Es geht um die berühmte Lehre, die weniger eine Lehre als eine Feststellung
ist, die Hegel über den I Vergangenheitscharakter der Kunst< formuliert hat l .
Die Formel meint, daß die Kunst nicht mehr die höchste Form des Geistes
sei, sondern als Ganzes der Vergangenheit angehöre. Damit ist ganz eindeu-
tig gemeint, daß in der klassischen Kultur der Griechen die Einheit der
sinnenhaften Erscheinung und der Wirklichkeit des Göttlichen unbestritten
da war. Wir aber beugen nicht mehr das Knie vor diesen gewaltigen Skulp-
turen griechischer Götter, auch wenn wir sie als höchste Gestaltungen
menschlicher Schöpferkraft bewundern und verehren. Sie sind flir uns mit
unserem eigenen Sein und Sehnen nicht mehr eins. Das gleiche gilt, neben
der Skulptur, in der es am anschaulichsten ist, auch von den Beschwörungen
des Göttlichen in der Dichtung, dem Epos, der Tragödie, und am Ende auch
noch von dem platonischen Seelenmythos und selbst von dem aristoteli-
schen oder stoischen Weltengott. Sie sind selbst noch wie letzte sinnliche
Erscheinungen von Unsinnlichem. Mit Hölderlins IBrot und Wein< denken
wir in diesem Sinne Christus selber als den letzten Gott, der in der sinnlich-
erfahrbaren Welt und Wirklichkeit Gegenwart war, und sehen in ihm den
Abschied des letzten Gottes, den scheidenden Gott2. Das Christentum aber
hat die Entmythologisierung dieser Welt heraufgeführt. Es hat das welthafte
Erscheinen des Göttlichen durch eine andere Botschaft vom Göttlichen
ersetzt. Sein Wesen ist die Transzendenz, im Geist und in der Wahrheit
anbeten wurde die neue, christliche Haltung gegenüber dem Göttlichen.
Alles, was dann im christlichen Weltalter an Kunst, etwa an christlicher
Dichtung, erscheint - um an das große christliche Epos Dantes oder Miltons
zu erinnern -, alles, was in die großartige humanistisch-christliche Einung,
die wir die abendländische Tradition unserer Kultur nennen, zusammenge-
gangen ist, stellt, gemessen an der bezeichneten Einheit des Klassischen, eine
Art erster Vergangenheit dar. Aber was vergangen ist, ist nicht die Kunst,
sondern ihre religiöse Unmittelbarkeit. Sie wird gerade dadurch als IKunst(
erfahren, daß sie ihre religiöse Unmittelbarkeit verlor und daß sich der
Anspruch des geistigen Begreifens, den die christliche Botschaft erhoben
1 Siehe dazu in Ges. Werke Bd. 8 lEnde der Kunst? und IDie Stellung der Poesie im
System der Hegeischen Asthetik und die Frage nach dem Vergangenheitscharakter der
Kunst<.
er.
2 Vg!. dazu IH61deriin und die Antike" in diesem Band, S. 1
Der Vers und das Ganze 253

hatte, nun auch gegenüber der Anschaulichkeit aller künstlerischen Gestal-


tung erhob. Hegel meint das ganze christliche Weltalter.
Aber gleichzeitig spüren wir. daß Hegel mit seiner Lehre noch etwas
anderes, sehr Bestimmtes, in unser Bewußtsein hebt, das wir nicht ableug-
nen können: Mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts beginnt eine zweite
Vergangenheit der Kunst. Was sich damals ereignete, war der Abbruch der
griechisch-christlich gebundenen mythischen Tradition, in der die Kunst
lebte. Was nun folgt, ist wie ein freier Nachhall dieser mythischen Tradition.
Wenn Goethe im IWest-östlichen Divan< sich in östlichen Gestalten wiegt;
wenn Hölderlin uns die heimatlichen Chiffren unserer Landschaft mit der
unerhörten Intensität seines Seherauges als die Gegenwart des Göttlichen
sehen lehrt; wenn Kleist den Gott des innersten Gefühls anruft; wenn Im-
mermann in einer verwirrten und materialistischen Welt chiliastische Er-
wartungen auf das Heil besingt; wenn Mörike seinen Jugendmythos von
.Orplid. mein Land< spielt, dessen Lied uns als IGesang Weylas< in Hugo
Wolfs Vertonung im Ohr ist; und wenn dann - immer zweifelhafter -
deutsches Mittelalter, deutsche Vorzeit, etwa im Nibelungendrama Hebbels
oder in Richard Wagners gewaltiger musikalischer Theaterphantasie, wie-
derkehrt; wenn fernste Figuren heraufgerufen werden wie Zarathustra in
Nietzsches Denken, und wenn schließlich Stefan George im Maximin-Kult
den Klang des Mythischen beschwört, um im Gedächtnis zu halten und die
Seinen im Gedächtnis zu vereinen - was sich auf solche Beschwörungen des
Mythischen beruft, ist nicht mehr das Ganze, ist nicht mehr Kirche, nicht
mehr das Wissen eines ganzen Volkes. Es ist eine Art von spielendem
Variieren des ehedem Verbindlichen. Das religiöse Vokabular vermittelt
auch weiterhin die eschatologische Stimmung und eine Erwartung, die bis
tief ins Politische und Gesellschaftliche hinein die Tönung gibt - aber das
alles ist offenbar nur noch - wie positiv immer man es werten mag - das
Auffangen und Bewahren eines Nachhalles.
Und doch bleibt Poesie noch immer Weitersage der Wahrheit. Das scheint
mir die Kehrseite der von mir beschriebenen Entwicklung. Die Trennung
der Einheit von Vers und dem Ganzen schließt nicht aus, daß es als ein
Traditionsgeschehen, als ein Geschehen der beständigen Erweckung und
Wiederaneignung unsere eigene geistige und menschliche Ganzheit durch-
dringt. Es handelt sich dabei nicht, wie man im Zeitalter des dogmatischen
Wissenschaftsglaubens zu denken gewohnt ist, um eine Frage des ästheti-
schen Unernstes oder des historischen Relativierens. Es ist vielmehr, wie
Georges Eingangswort es sagt, das Wesen der Dichtung wie das des Trau-
mes, daß »Ich und Du· Hier und Dort· Einst und Jezt« eins und dasselbe
werden. Was sich im überlieferungsgeschehen menschlichen Daseins voll-
zieht, ist ein beständiger Wiedererwerb. Das ist nicht jene Zerstreuung und
Distanzierung durch ständig wechselndes Licht, in dem das Wertbewußt-
254 Der Vers und das Ganze

sein einer Kultur sich aufsplittert, wie Nietzsche den Historismus seiner Zeit
empfand. Hier ist anderes im Spiel. Damit komme ich auf die größte
Legitimation, die wir f"ür uns, in unserer späten Zeit, in Anspruch nehmen
dürfen. Plato hat es im >Symposion( geschildertl. Dort belehrt Diotima den
Sokrates darüber, daß Eros, die hinreißende Weltmacht der Liebe, nicht als
ein Inbegriff des Schönen gefeiert werden sollte, sondern als das dämonische
Wesen, das überall auf Zeugung im Schönen aus ist. Dies Außer-sieh-Sein
sind wir selbst. Plato sagt uns auf diese Weise mit einer - bis heute, wie mir
scheint - immer wieder vergessenen Entschiedenheit. daß menschliches
Wesen und Wissen sich nur durch Üben ~W'II) verwirklicht: 'nur durch
immer neue Zeugung. durch ständigen Wiedererwerb, ständige Wiederer-
neuerung. ständiges Wiederschaffen kommt Bleiben zustande. Der griechi-
sche Ausdruck rur das Behalten des Gedächtnisses (}I/vIZP"l) hatte vielleicht fur
das griechische Ohr etwas vom pivew, vom Bleiben. vom Bleibend-werden
in sich. Jedenfalls hat >memorial fur uns den großen Sinn der inneren
Schatzhäuser unserer Seele. von denen Augustin zuerst zu reden wußte.
Nun sagt Plato: dieses Verfahren des Wiedererwerbs. diese immer neue
Zeugung, sei die Weise (P7JX01'1l), wie das Sterbliche am Unsterblichen teil-
hat. Alles Lebendige, und so auch das Menschengeschlecht. erhält sich nur
so, durch physische Fortzeugung. Aber es gibt auch Menschen. die in den
Seelen zeugen. Unter ihnen fuhrt Diotima als erste die Dichter an und alle
anderen Menschen, die wir >schöpferisch( nennen, einschließlich der gro-
ßen Gesetzgeber: sie fuhrt Homer. Hesiod, Lykurg und Solon an. Sie alle
erneuern das Ganze.
Es sollte deutlich geworden sein, wieso das, was als ein bloßer Nachhall
einer ehedem unmittelbaren, religiös durchformten Kultur erscheinen
konnte, in Wahrheit eine bleibende menschliche Grundaufgabe. eine Grund-
möglichkeit des Menschen wahrnimmt. so daß am Ende die Trennung des
Verses vom Ganzen sich aufhebt und gerade auch das Ganze im Verse zu
erkennen möglich wird. >Mnemosyne( waltet über allem: Im Gedächtnis
halten heißt Mensch sein. Das lehrt uns nicht zuletzt die religiöse überliefe-
rung aller Völker und all die zahllosen Gräberfelder und Gräberfunde, die
aus der Frühzeit der Menschheit zu uns zurückkehren. Mnemosyne waltet
vor allem in der Dichtung. Mnemosyne ist die Grundlage aller epischen
Poesie, uns allen durch das Tun der Rhapsoden-Geschlechter überliefert. die
unsere älteste epische Literatur vermittelten. und wir·wissen gerade heute.
dank den neueren amerikanischen Forschungen in den dreißiger Jahren auf
dem Balkan, daß es selbst in unseren Zivilisationen noch mündliche, ledig-
lich auf Memoria, auf Gedächtnis, gestützte epische Tradition gegeben hat
und vielleicht noch heute gibt.

3 Ausführlicher dazu ,Unterwegs zur Schrift?, in Ges. Werke Bd. 7, S. 264ff.


Der Vers und das Ganze 255
Gleichwohl gilt: Diese große Möglichkeit des selbstverständlichen Lebens
im Gedächtnis der eigenen Tradition geht mit der zweiten Vergangenheit -
von der ich im Anschluß an Hegel sprach - zu Ende. Kein Epos, kein Drama,
das wir zur )Literatur< zählen, ist mehr eine wirkliche Anspielung, fortge-
hendes Weiterspielen des mythischen Klanges, von dem eine überlieferung
widertönt. Es ist vielfältig gebrochener Nachhall, was uns erreicht. Das
Epos der Neuzeit, der Gesellschaftsroman, drückt schon im Namen aus,
wer sein Held ist und daß da keiner mehr ein Held ist, und soweit Schauspiel
und Oper nicht bloßer Nachhall sind, gilt für sie das gleiche. Gleichwohl
ordnen sich auch diese literarischen Formen erzählender oder dramatischer
Prosa in die Geschichte der literarischen Gattungen ein. Die Auflösung der
gebundenen Redeform entspricht der neuen Stofflichkeit, die zur Darstel-
lung kommt. Es muß aber doch wohl als Konsequenz angesehen werden,
daß auch die lyrische Poesie alle erzählenden Inhalte mehr und mehr redu-
ziert. Am Ende beweist sie ihre reine lyrische Kraft dadurch, daß sie kein
mythisches Erbe mehr weiterträgt, sondern eigene mythopoietische Be-
schwörung vollbringt". Man nennt das wohl Symbolismus. Die lyrische
Poesie erfüllt damit erst das volle Gesetz ihrer Gattung, ein Ganzes von
Klang und Sinnklang zu sein, das uns keine Sage sagt und das uns doch sagt,
was es mit uns ist. Das lyrische Wort ist seine eigene Sage. Es hallt von sich
selber wider und wird so in unserer mythosfernen Zeit die bevorzugte Form
des Dichterischen. So finden wir auch in dem Dichter Stefan George - bei
allem Drängen zu chorischen Formen des dichterischen Sagens - das Lyri-
sche im Vordergrund.
Diese Möglichkeit, im dichterischen Wort das Ganze zu enthalten und
festzuhalten: möchte ich mit einigen philosophischen überlegungen stüt-
zen, die jedem von uns naheliegen: Man sollte bei dem Wort )Philosophie<
nicht zu sehr erschrecken. Es meint jene denkende Rechenschaft, die jeder
einzelne von uns von sich verlangt. Es ist nur die Schwierigkeit, kommuni-
kativ wirksame Worte zu finden, die unser aller Rechenschaftsgabe ausspre-
chen, was die Philosophen in ihre Not und in Verruf bringt.
Was also ist es, das uns etwas so bedeutsam macht, was nichts als ein
sprachliches Gebilde, ein Gedicht, ist? Was ist Sprache? Nach Aristoteles,
dem großen Lehrer, der er war und den auch George so genannt hat, ist es die
Auszeichnung des Menschen, daß er Sprache hat. Sprache und Werkzeugge-
brauch unterscheiden den Menschen von den anderen tierischen Lebewesen.
Sprache aber ist rur ihn mehr als ein bloßes Werkzeug oder ein bloßes
Zeichensystem zum Zwecke der Kommunikation. Wir wissen inzwischen
einiges über )Tiersprachen<, wie wir das zu nennen pflegen. Wir beobachten,

4 Vgl. >MythopoiC"tische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien •• in diesem Band.


S.289«'
256 Der Vers und das Ganze

ohne es zu verstehen, daß die Delphine eigene Mittel der Kommunikation


haben. Wir wissen etwas über die Sprache der Bienen. Auch der Morsetele-
graph ist ein Kommunikationsmittel und sonst nichts. Aber die Möglich-
keit, die die Sprache rur uns Menschen darstellt und die wir alle wahrneh-
men, geht über die eines Werkzeugs und eines Gebrauchs von We::kzeugen
hinaus. Sprache bedeutet Gedächtnis. Mnemosyne aber ist die Mutter aller
Musen, die Spenderin der Kunst. Kunst. ob Bild. ob Wort, ob Klang, ob
Sang, was immer ihr Ursprung war oder ihre heutige gesellschaftliche
Funktion sein mag, bedeutet letzten Endes eine Weise der Selbstbegegnung.
in der wir unser selbst eingedenk werden. Im Wort wie im Bild, in der
Felszeichnung wie im frühesten Gesang, und ebenso noch in der verfeinerten
und vermittelten Gestaltung später Literatur, ist die Welt als ganze, ist das
Ganze unserer Welterfahrung präsent geworden. Noch die stummsten Ge-
staltungen unserer ein brütendes Schweigen ausströmenden modemen Bil-
der rufen das »Das bist du!« in uns herauf. Solche Erfahrung des Ganzen, in
der wir uns selbst begegnen, bewegt sich auf dem Wege über ständige
Neuerweckung des Widerhalls der Kunst. In ihr liegt unsere eigentliche
menschliche Auszeichnung. Philosophen reden, indem sie die alte platoni-
sche Weisheit von menschlicher >Unsterblichkeit<, an die ich erinnerte, in
Begriffe umsetzen, von der menschlichen Grundsituation der Endlichkeit.
Diese Endlichkeit durchformt uns so ganz, weil es unsere Auszeichnung ist.
darum zu wissen. Sie macht unsere wesenhafte Zukünftigkeit ,aus. Wir
leben, indem wir uns auf unsere Zukunft richten, in Erwartung und Hoff-
nung. In unserem täglichen Tun und Lassen und vor allem in unserer Arbeit
vollbringen wir einen beständigen Triebverzicht. Wir suchen nicht unmit-
telbare Triebbefriedigung, sondern wir arbeiten.
Aber auf der anderen Seite b.edeutet dieses Herausgedrängtsein des Men-
schen aus der durch die Naturzüge gebundenen lebendigen Schöpfung eine
beständige Aufgabe der Rückkehr und Einkehr. Rückkehr zu uns selber ist
aber stets Rückkehr zu dem uns Zugeteilten. Rückkehr zu dem Ganzen, in
dem wir sind und das wir uns sind. Das tiefste Symbolwort fur diese
menschliche Uraufgabe ist vielleicht >Nomos<. Es muß einer im Fort-
schrittsglauben sich verlierenden Generation immer wieder ins Gedächtnis
gerufen werden. Nomos ist nicht nur Gesetz und durch uns gesetzte Ord-
nung. Nomos ist das ,Zugeteilte<, das Maß. Und es zu wissen. ist mensch-
lich. Es anzunehmen, lehrt nicht zuletzt das Gedicht. So hat der Dichter
Verwey, von George in den >Blättern< zitiert, einmal gesagt: »Nur wenn die
Lebensbewegung in Worten maßvoll wird, kommt sie zu ihrer höchsten
Kraft.« Von daher versteht sich - wie ich meine -, daß das dichterische
,Lesen< und Sprechen die eigentliche Erziehungsform des Meisters Stefan
George im Umgang mit seinen jüngern war. Dichterisches Lesen ist mehr
als ein Können oder eine Kunst. Es ist ein Lernen, sich in das Maß zu fugen,
Der Vers und das Ganze 257
das Freiheit gibt. Es ist der »Christ im Tanz«. Die selbstverständliche
Durchrhythmisierung, die das Lesen eines dichterischen Gebildes verlangt
und vermittelt, artikuliert und ordnet nicht nur den Vortrag, den Atem des
Sprechers. Es ist eine Erfahrung des Ganzen und unser selbst im Ganzen, die
so erworben wird. Denn im Vers, in dem schwebenden, und wenn ich so
sagen darf, in Tanzleichtigkeit sich dahin bewegenden Vers, waltet ein In-
sich-Ruhen. Aus allen Bezügen ist Rückkehr geschehen. Der Vers hat teil an
dem Gerundeten allen Gebildes und ist wie der Kreis, jene gute Unendlich-
keit, von der Hege! spricht und die er der schlechten Unendlichkeit des
grenzenlosen Fortgangs und des beständigen Sich-seIbst-Überschreitens
entgegenstellt. Sie ist das Ganze. Indem der Vers und die Kunst ihrerseits
solch Ganzes sind, nehmen sie uns in sich auf. Sie sind, wiederum philo-
sophisch gesagt, Reflexion in sich. Wir seIbst sind von dem Ganzen, das wir
sind und das in uns ist, umfangen, aber nicht so umfangen, daß es als das
Ganze auch filr uns da wäre. Uns begegnet es vielmehr als das Ganze und das
Große, worin alles ist, lediglich in der Einhaltung des uns Zugeteilten, des
,Nomos(, was immer er sei. Unsere Zivilisation wird das wieder lernen
müssen. Aber ein Schritt auf dem Wege dieses Lernens ist das Leben im
Gedicht. Es ist mehr als eine Art von Entspannungsübung in der Hast und
dem Gedränge des Leistungslebens. Das Leben im Gedicht ist vielmehr eine
der Weisen, in der wir das Bewegtsein in uns selbst erfahren, in dem allein
,Menschen ihre Selbsterfüllung zu finden vermögen. Unsere Erziehung wird
wieder dazu kommen müssen, anzuerkennen, was innerer Besitz ist und was
das Leben im Gedicht - gewiß auch, was dem Frommen das Leben im Gebet
- und was für uns alle das Leben im unaussprechlichen Wort bedeutet. Es ist
die Wiederentdeckung des Reichtums, den Memoria dem menschlichen
Leben zu gewähren vermag. Memoria ist Bewahren - nicht äußerer Ord-
nungen oder Einrichtungen, sondern alles dessen, was wir sind. Bewahren
ist nicht fragloses Festhalten von Bestehendem. Wir haben es am Ende doch
von Plato zu lernen, daß wir ständig erneuern müssen, was uns als wahr gilt.
Das Gedicht des Dichters gestattet uns keine überlegen-kritische Beurtei-
lung. Kritik heißt gegenüber einem Gedicht, es als ein solches erkennen, es
als wahr gelten lassen. Es liegt an uns, es zu bewahren. Das Bewahren ist
doch wohl immer und zuletzt die eigentliche Weise, in der uns Menschen das
Wahre sein kann.
22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft
(1983)

Wer in der Wirkungsgeschichte des Dichters Stefan George steht oder


gestanden hat, kann davon erzählen, wie das geistige Klima, innerhalb
dessen er seine Ausbildung erhielt und zur wissenschaftlichen Arbeit heran-
wuchs, durch die Werke dieses Dichters mitbestimmt worden ist. Es geht
also sozusagen darum, Zeugenaussagen zu sammeln. Zur Pflicht des Zeu-
gen gehört: sagen, was er weiß, und nichts verschweigen. Wenn ich mich
dieser Aufgabe widme, so frage ich als erstes, wofUr wir hier und heute
Zeugnis ablegen sollen. Sicherlich nicht fUr den Dichter als Person. Ich darf
sagen, daß uns das gar nicht zusteht. Wenn ich den Ausdruck des großen
Antipoden von Stefan George, des berühmten Soziologen Max Weber,
gebrauchen darf, würde ich sagen: Das war eine charismatische Persönlich-
keit - und dann wird nur der Zeugnis ablegen können, der selber unter der
persönlichen Ausstrahlung dieses Charisma gestanden hat.
Unser Thema ist Stefan Georges Wirkung auf die Wissenschaft. Das ist als
solches keiner Rechtfertigung bedürftig. Daß hier ein Dichter auf die Wis-
senschaft bestimmenden Einfluß gewann, ist eine unleugbare Tatsache und
eine seltene. Das gleiche werden wir vielleicht von Goethe sagen dürfen,
vielleicht auch von Rousseau, falls wir ihn hier im weiteren Sinne als einen
Dichter auffassen wollen. Vor allen anderen aber ist es Homer, für den das
wahrhaft gilt. Er hat ein Werk der Dichtung geschaffen, dessen Sprache das
Denken und die Wissenschaft inspiriert hat. Er stellt innerhalb unserer
abendländischen Geschichte einen unwiederholbaren Vorgang dar, der
höchstens mit den Bibelübersetzungen, der Vulgata und der Luther-Bibel,
verglichen werden kann. Etwas davon scheint mir nun auch für den Dichter
Stefan George zu gelten, der in der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert ein
schmales dichterisches Werk geschaffen hat. Sein Wort und dessen Sprache
hat im Leben der Wissenschaft eine unverkennbare Spur hinterlassen. Das ist
mein heutiges Thema. Damit ist zugleich gesagt, daß es sich in meiner
Darstellung nicht um die Einwirkung des Kreises um Stefan George durch
seinen Eintritt in das Universitätsleben handelt. Das wäre gewiß auch ein
sehr interessantes Thema. Es sind zahlreiche Namen, die da zu nennen
wären. Da wäre zunächst daran zu erinnern, daß es in Heidelberg mit
Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissensdufr 259

Gundolf begann, dem dann Bertram und zahlreiche andere Freunde Stefan
Georges folgten, indem sie Universitätsprofessoren wurden. Aber man
sollte das nicht als ein Bekenntnis zur Wissenschaft verstehen. Man sollte
sich vielmehr erinnern, was George selber darüber gedacht und gesagt hat.
Er hat ausdrücklich davor gewarnt, daß ein Dichter sich von dem Erfolg
seiner dichterischen Arbeiten abhängig mache - statt sich eine Existenz-
grundlage zu schaffen. Wenn zahlreiche unter den Freunden Georges den
Weg zur Universität gefunden haben, haben sie damit mehr oder weniger
den Weisungen des Dichters selber gehorcht. Ein Bekenntnis Georges zur
Wissenschaft war das nicht. Wir wollen es nicht beschönigen, daß der
Eintritt in die Universität mehr oder weniger als Broterwerb gemeint war.
Das ist mit allem Respekt vor diesem Verhalten gesagt.
Ich darf vielleicht ein äußeres Zeichen anführen. In dem veröffentlichten
Briefwechsd zwischen George und Gundolf fällt auf. daß George seinen
jungen Freund, auch als er längst Professor war, »lieber Dichter« anzureden
pflegte. So entschieden bestand er sdbst gegenüber dem Forscher und
akademischen Lehrer darauf. daß das, was sie eigentlich verbinde, nicht die
Wissenschaft sei, sondern die Kunst. Es kann kein Zweifel sein, das Thema
,Stefan George und die Wissenschaft< hat etwas Paradoxes. George pflegte
das Wort »Analyse« polemisch zu gebrauchen. Wenn man das Fremdwort
vermeiden wollte, könnte man, wie Dilthey das tat, »Zergliederung« dafür
sagen. George aber übersetzte es als »Auflösung«. Das, was da aufgelöst
wird, ist die lebendige Substanz, d. h. aber das, was über das Wissen des
einzdnen hinaus alle, ein Volk und die Menschen, verbindet.
Ich will also den Einfluß und die Wirkung, die Stefan George auf die
Wissenschaft gehabt hat, nicht in dem Sinne zum Thema machen, daß man
die bedeutenden Beiträge würdigte, die die engeren Freunde Georges inner-
halb der Wissenschaft geleistet haben und die später zum Teil in einer
Schriftenreihe zusammengefaßt wurden. die den bezeichnenden Titel trug:
,Bücher der Schau und Forschung<.
Um die Frage, die ich im Auge habe, anschaulich zu machen, möchte ich
wie ein Zeuge schildern, wie Stefan George in meiner Studienzeit wirksam
geworden ist. Ein Zeuge hat zu sagen, was er selbst gesehen hat, und so darf
ich kurz berichten. wie ich zu diesem Dichter kam und wie sich das im Laufe
der eigenen wissenschaftlichen Entwicklung auswirkte. Es handelte sich
dabei um eine indirekte Zugehörigkeit zu Werk und Wirken des Dichters.
und das scheint mir in meiner Generation und erst recht auch bei weit·
jüngeren sehr verbreitet.
Als Sohn eines Naturforschers fand ich in meinem Elternhause nicht sehr
viele Anregungen für solche Dinge. Weil ich mich für Lyrik interessierte,
wovon mein Vater nichts hielt, der eigentlich aus mir einen Naturforscher
zu machen hoffte. kaufte ich mir eines Tages als Gymnasiast von meinem
260 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft

Taschengeld eine Anthologie der neueren deutschen Lyrik von Benzmann,


die bei Rec1am herausgekommen war. Dort fand ich in der Einleitung mit
Bedauern ausgesprochen, daß der Dichter Stefan George die Aufnahme in
diese Anthologie verweigert habe - und wie man das so macht (die Juristen
wissen davon ein Lied zu singen), brachte daraufhin die Einleitung des
Herausgebers zwei Gedichte Stefan Georges als Zitat. Sie sind mir beide
unvergeßlich. Ich wurde wie von einem Schlage gerührt und wußte nicht,
wie mir geschah. Jedenfalls war es etwas ganz anderes, als ich bisher in
meinem Umgang und mit meiner Liebe zu Gedichten erfahren hatte.
Als ich' dann nach Marburg kam, geriet ich in Kreise, die mich weiter
einfUhren konnten. Da war mein engster Freund, Oskar Schürer. der selbst
zu der Aufbruchsgeneration der expressionistischen Lyrik im Kurt-Wolff-
Verlag gehört hatte und unter dem Eindruck des Spätwerks Georges eine
neue Formstrenge in seine dichterischen Versuche brachte. (Er wurde später
Kunsthistoriker und ist bereits 1949 gestorben.) Dazu kam die Begegnung
mit Ernst Robert Curtius, der mir zum ersten Male George-Gedichte in der
Art vortrug, in der man sie mit dem Dichter zu lesen pflegte - ich selber hatte
sie etwas verhaltener gelesen. aber. wie ich hoffe, rhythmisch richtig.
Vor. allem aber war Friedrich Wolters als Professor der Wirtschaftsge-
schichte nach Marburg gekommen. Wolters war ein Mann, dessen Bedeu-
tung für die Organisation des Kreises nach dem Muster eines Staates im
Staate kaum zu überschätzen ist - und der deshalb auch im Kreise selbst seine
entschiedenen Gegner hatte. Er war ein Lieblingsschüler von Gustav
Schmoll er gewesen, aber er war kein überzeugender wissenschaftlicher
Lehrer. Ich habe eine wirtschaftsgeschichtliehe Vorlesung gehört, die mit
einem etwas unangemessenen rhetorischen Pathos sehr nüchterne Dinge
ohne überzeugende Suggestion vortrug. Anders war schon die Art. wie er
sein Seminar leitete. Da spürte man etwas von der Erzieherhand und dem
Blick für junge Leute und die Weise, wie man sie anzuleiten hat. Dagegen
war eine öffentliche Vorlesung über den deutschen Menschen des 19. Jahr-
hunderts eine enorme Provokation. In ihr trug er mit starkem rhetorischem
Pathos eine Summe der Kulturkritik vor, die im George-Kreis und vor allem
auch durch George selbst mit Radikalität vertreten wurde. Die Vorlesung
reizte uns durch die einseitige Haltung, in der hier geurteilt und verurteilt
wurde. Das dogmatische Auftreten des Mannes übertrug sich auch auf seine
Anhänger und bewirkte zwischen mir und denen, mit denen ich freund-
schaftlich umging, allerhand Spannungen.
Trotzdem ist es nicht so gewesen, daß diese aufreizende Herausforderung
nicht auch in ihrer Substanz etwas spüren ließ, das man nicht ignorieren
konnte. Irgend etwas von dem )Extra ecc1esiam nulla salus( sprach daraus,
und bei aller kritischen Zurückhaltung gegenüber solcher Esoterik mußte
man sich doch fragen, ob da nicht etwas Wahres daran war - und etwas, was
Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft 261
uns anderen abging. War es nicht im Grunde wahr, daß man nicht als
einzelner, sondern nur von einem gemeinsamen Geiste getragen die Ant-
worten des gemeinsamen Geistes vernehmen kann? Es sollte gerade diese
»Lehre« sein, deren Bedeutung für die Arbeit in den Geisteswissenschaften
sich von meinen eigenen Erfahrungen aus zur Geltung brachte.
Wie überall in diesen Jahren war damals auch in Marburg ein Wandel
deutlich zu spüren, der insbesondere die Wissenschafts gesinnung betraf und
ein reflektierteres Verhältnis zur Wissenschaft heraufführte. Insofern er-
schien uns die Philippika eines Wolters manchmal geradezu trivial: Wir
standen schon ganz woanders.
Ein besonders deutliches Symptom war das veränderte Verhältnis zu den
Griechen, deren ureigenste Schöpfung, die Polis, in diesen Jahren zerbroche-
ner Staatsgesinnung wie ein Vorbild gemeinsamen Geistes wirkte. Die
junge Generation der klassischen Philologen, die sich damals gegen ihren
überlegenen Meister Wilamowitz zu profilieren begann, berief sich im allge-
meinen auf den Einfluß, den Nietzsche auf sie gewann - wohl weniger
wegen seiner Kritik am klassizistischen Stil des degenerierenden Schul-
Humanismus. Darüber hätten sie in dem robusten Realismus eines Wilamo-
witz kaum ein Beispiel sehen können. Wohl aber vollzogen sie selber eine
neue Wiederzuwendung zu den großen griechischen Klassikern, weil »die
Philologie über der Mikroskopie des Einzelnen und dem Aufsuchen von
Beziehungen (beides sind gewiß wichtige Dinge) arg versäumt hat, nach
dem Ganzen eines )Werkes<, einer )Gestalt< zu fragen«.
Ich zitiere hier aus einem 1980 erstmals publizierten Brief von Paul Fried-
länder an Wilamowitz vom 4. Juli 1921 aus Marburg. Hier werden Namen
genannt, die die neue Wendung brachten: »Nietzsche, der seit meiner Ju-
gend allmählich in mich eindringend meinen Gesamtblick auf das Leben
bestimmte, dann im besonderen meine Ansicht vom ,Historischen< formen
half. Dann Wölfflin und hinter ihm Burckhardt, die eine ganz neue in der
Philologie mir nicht gebotene Forderung an das Begreifen eines ,Werkes<
stellten und in der bildenden Kunst die Erfüllung wiesen. Es sind noch
andere verwandelnde Kräfte zu nennen, im allgemeinen die ,Philosophie<
und in den letztenjahren ist es George, der die größte Erschütterung und die
stärkste Umlagerung aller Kräfte gebracht hat.«
Friedländer erarbeitete sich damals einen neuen Zugang zu Plato. Ihm
folgten Friedrich Klingner, der damals bei ihm promoviert wurde, und
Georg Rohde, beides Assistenten am Marburger Seminar. Ich selber bin
ganz von der Peripherie aus auch bei diesem Meister der szenisch-dialogi-
schen Plato-Interpretation in die Schule gegangen. - Nicht weit von Mar-
burg war auch Frankfurt. Dort waren Kar! Reinhardt und Walter F. Otto,
dort war Kurt Riezler, der Kurator der Frankfurter Universität, der zugleich
ein leidenschaftlicher Platoniker war und mit dem man deswegen auch vom
262 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft

eigenen Fachinteresse aus einen unmittelbaren und freundschaftlichen


Kontakt hatte. Daß damals die Dichtung Stefan Georges überall in einer
jungen Generation in steigendem Maße aufgenommen wurde. zeigt nicht
zuletzt die Tatsache, daß Stefan Geor~e als erster Preisträger den Goethe-
Preis der Stadt Frankfurt erhielt 1 •
Ja, und dann kam Max KommereIl nach Frankfurt und sammelte um
sich seine Freunde2. Immerhin soIlte ich zweierlei von mir aus bemerken:
Das eine ist die Vorbereitung, die wir alle durch die Wiederentdeckung
des Spät werkes von Hölderlin erfahren hatten. Das hatten wir alle
HeIlingrath zu verdanken, aber das ging auch auf Georges Teilnahme an
He1lingraths Forschung zurück3 - und auf die dichterische Erweckung des
Sinnes frlr die harten Fügungen Pindars im späten Hölderlin. Die Zeit
zwischen den beiden Weltkriegen ist wesentlich dadurch mitbestimmt
worden, daß sich neben die Großen Goethe und Schiller damals in der
Werttafe1 der deutschen Klassik Friedrich Hölderlin als Ebenbürtiger sei-
nen Platz erwarb. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang noch ein
Hinweis, nämlich daß - wohl VOr allem über Max KommereIl - schließ-
lich auch mein eigener Lehrer, Martin Heidegger, mit Georges Dichtup.g
immer stärker vertraut wurde. Hier möchte ich sogar eine gewisse Priori-
tät in Anspruch nehmen. Schon im Jahre 1923, als ich auf Einladung von
Heidegger auf seiner Hütte in Todtnauberg den Herbst der Inflation über-
lebte, habe ich in sein Gästebuch geschrieben: »Der wind der weiten zärt-
lich um uns braust. «
Die Wende des Stils der geisteswissenschaftlichen Forschung war in
diesem Jahrzehnt aIlgemein, und die Wirkung Stefan Georges und seiller
Freunde wurde immer deutlicher, auch wenn und gerade wenn sie zJm
Widerstand herausforderte. Das hat sich gewiß nicht auf die Geisteswis-
senschaften beschränkt. Es gab auch Naturforscher, und vor allem unter
den Jüngeren solche, die am Werk des Dichters tiefen Anteil nahmen.
auch wenn sie nicht alle außer ihrem persönlichen Gewinn auch noch et-
was rur ihre eigene Arbeitsweise von da empfingen. Es ist etwas Ahnli-
ches wie im Falle Goethes. Auch bei George fand die morphologische
Betrachtungsweise so etwas wie eine neue Legitimation. Das wirkte sich
sowohl in der Chemie, Mineralogie und Geologie, aber auch in der Bio-
logie und Medizin deutlich aus. Der Begriff des »mechanistischen Den-

1 Vgl. dazu den Beitrag von ERWIN WALTER PALM auf dem George-Kolloquium der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, vom 3. Dezember 1983.
Gedruckt in: H.-]. ZIMMERMANN (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissen-
schaft. Heidelberg 1985, S. 73-76.
2 Dazu ARTIlUR HENKEL in seinem Vortrag ,Max Kommerell (1902-1944)(. Eben-
falls jetzt in: H.-]. ZIMMERMANN (Hrsg.), a.a. 0., S. 51-59.
3 Siehe dazu auch 'Hölderlin und George(, in diesem Band, S. 230ff.
Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft 263
kens« wurde damals gerade Mode. Ihm stand das gestalthafte Sehen entge-
gen, das innerhalb des George-Kreises besonders gepflegt wurde.
Mit dem Wort »Gestalt« ist das Stichwort gefallen, unter dem sich ein
neuer Stil der Forschung durchsetzte und in der Wissenschaftsgeschichte
unter dem Namen der »Gestaltbiographie« Eingang fand. Von Freunden
Georges entstanden Bücher über Nietzsehe und Goethe, über Raffael und
Winckelmann usw. Daß Werk und Wirken solcher Männer nicht als eine
Folge von Erlebnissen und aus einer Summe geschichtlicher Einflüsse er-
klärt werden darf, sondern vor allem als eine in sich beruhende und zu
bleibender Einheit geschlossene Gestalt gesehen werden muß, war allen
gemeinsam. Daß dabei die Maßstäbe kritischer Methode und wissenschaftli-
cher Vorsicht in den Hintergrund traten und wohl auch öfters geradezu
verle"tzt wurden, liegt auf der Hand. Der Anspruch war ein anderer. Man
denke an den Begriff des Mythos, der durch Bertram und manche andere in
die Wissenschaft eingefiihrt wurde und dort einen neuen Sinn gewann.
Mythos ist ja etwas, auf das man zu hören hat und dem man nicht mit
erklärenden Mitteln gerecht wird, sondern nur als ein Horchender und
gehorchend4 • All daß hinterließ im Stil der Forschung seine Spuren.
Das zweite Wort, das George selber ganz in den Vordergrund gestellt hat,
war »die Kunst« - in jenem doppelten Sinne der Dichtung und einer über das
Dichterische noch hinausgehenden weiteren Bedeutung von .Kunstc. Hier
wäre eine Bemerkung zu machen, die ich innerhalb der George-Deutungen
immer ungenügend berücksichtigt fmde. Man spricht dort sehr viel von
dem Visuellen, von der Gesichtigkeit der Anschauung, die das Eigentliche
an Georges Dichtung sei, und es ist gewiß wahr, daß die neue Formgesin-
nung dieser Dichtung in vielen Bereichen - so in der Archäologie und in der
Kunstgeschichte - zu produktiver Wirkung kam. Trotzdem beruht nach
meiner Überzeugung die Georgesche Dichtung nicht primär auf der Kraft
ihrer Anschaulichkeit, sondern ganz im Gegenteil auf dem sprachlich-musi-
kalischen Aspekt einer neuen Klangwirklichkeit von geradezu magischer
Ausstrahlung. Das wird in meinen Überlegungen noch eine Rolle spielen.
Schließlich ist der Begriff des» Vorbildes« und der Vorbilder von George
neu zu Ehren gebracht und einer fortschritts trunkenen Epoche entgegenge-
stellt worden.
Fragen wir nun nach den Gründen, aus denen eine Haltung. die der
bisherigen Wissenschaftsgesinnung so herausfordernd entgegentrat, einer
Generationjunger Forscher nicht nur Anregung und Förderung bedeutete,
sondern ihr geradezu eine dauernde Prägung verliehen hat.
Da ist zunächst die Sonderart der Georgeschen Dichtung. Daß sie etwas

4 Ausflihrlicher zum Begriff des Mythos siehe in Bd.8 der Ges. Werke die dorr
ges3~me1ten Beiträge zum Thema .M ythos und Logos. und .Mythos und Vernunft.,
264 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft

anderes war als der gewohnte Empfindungsausdruck, den ein, lyrisches


Gemüt im Zeitalter der Psychologisierung von Gedichten kannte, war, wie
ich beschrieb, von der ersten Begegnung an flihlbar. Diese Kunst stand der
Kunstgesinnung jener »Wirklichkeits kunst«, wie George den Realismus
polemisch nannte, ebenso fremd gegenüber wie der »Eindruckskunst« (dem
Impressionismus) und sprach irgendwie das Empfinden und das Verlangen
einer Generation aus, die nach einer neuen Gemeinsamkeit suchte, die über
die Vereinzelung hinausfUhren konnte. Heute würde ich von der Dichtung
Georges sagen, daß hier das Ich, das »ich« sagt, nicht mehr das Ich ist, das
den unmittelbaren Ausdruck seines Erlebens zur Sprache bringt, weder das
des Dichters noch das des einzelnen Lesers. Es hat mich daher erstaunt - und
ich sage das mit einigem Nachdruck -, daß manche der Freunde Georges die
Ferne vergessen zu haben scheinen, in der sich George selber zu aller solchen
Kunstauffassung befand, die in ihren Deutungen immer wieder aufPersön-
liches und Biographisches zuging. Dabei hat George selber in seiner Vorrede
zum >Jahr der Seele< es deutlich ausgesprochen. Er warnt ausdrücklich davor
zu fragen, was da alles an biographischen Anregungen und realen Gelegen-
heiten dahinterstand: »Und selten sind sosehr wie in diesem buch ich und du
die selbe seele.« Er mag Anlaß zur Warnung gehabt haben. Der mächtige
Lebenseindruck, den seine Person auf die Menschen, die ihm nahestanden,
machte, scheint so gewaltig gewesen zu sein, daß die Deuter seines Werkes
in ihren Erläuterungen gegen ihr eigenes besseres Wissen handelten. Man-
cher mag auch sagen, daß mindestens .Der Stern des Bundes< nicht mehr so
gelesen werden könne wie die früheren Bände. Er scheint mehr wie eine
Grundungsurkunde eines Bundes konzipiert zu sein. Doch ist auch dort und
überall eine Präsenz des Dichterischen, die keiner Hinterfragung bedarf und
sie im Grunde nicht einmal zuläßt. Gewiß bedeutet das nicht, daß die
Wissenschaft etwa kein Recht dazu hätte, solche Fragen biographisch-histo-
rischer Art an diese Dichtung zu richten. Aber die Erfahrung der Dichtung
selber hüllt alles wieder in ihre eigene Gegenwart ein. Wer hier »ich« sagt, ist
nicht dieser einzelne.
Hier wird ein Zusammenhang sichtbar, der der gesamten Entwicklung
der Geisteswissenschaften von einer anderen Seite her eine bestimmende
Prägung gegeben hat. Ich meine Wilhelm Dilthey und seine kritische Hal-
tung gegenüber der reinen Auflösung historischer Forschung in Ursachen-
forschung. Wilhelm Dilthey war der Mann, der das Erbe des deutschen
Idealismus und der deutschen Romantik neu umsetzte und den Begriff des
Strukturzusammenhangs und Wirkungszusammenhangs in die Theorie der
,
Geisteswissenschaften eingeflihrt hat. Er brachte damit eine neue Kategorie
oder Kategorienlehre gegenüber der reinen Ursachenforschung zur Gel-
tung. Es scheint mir kein Zufall, daß George eine freundschaftliche und
bewundernde Beziehung zu Dilthey gepflegt hat. Dilthey hat in seinem
Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft 265
Alter den jungen Dichter gelegentlich zu sich gebeten und sich von ihm seine
Gedichte vorlesen lassen. Offenbar hatte er das Ohr für diesen neuen Klang.
Es entsprach das gewiß seinem in diesen Jahren steigenden Interesse an
Hegel und an den Objektivationen des Lebens, daß der Autor von >Das
Erlebnis und die Dichtung< für diesen neuen Klang empfänglich war. Er hat
selbst den Zusammenhang von Erlebnis und Dichtung nicht im Sinne der
Dokumentation biographischer und historischer Fakten verstanden, son-
dern als wirkliche Verwandlung in - Kunst.
In voller Ausdrücklichkeit hatte diesen neuen Ton der Georgeschen Dich-
tung Georg Simmel bereits in den neunziger Jahren begriffen, als >Das Jahr
der. Seele< und >Der Teppich des Lebens< erschienen, und hat an diese Wende
einsichtsvolle kunstphilosophische Betrachtungen geknüpft. Simmel hat in
diesen Studien gezeigt, daß das Kunstwerk ein idealer Brennpunkt ist, und
näher ausgeführt, wieso es sich um ein objektives Ich handelt. Darin sind
ihm auch andere gefolgt, so insbesondere Margarete Susman, und ebenso
scheint mir der Heidelberger Lukäcs von da inspiriert. Man bewundert
Simmels Scharfblick: »Obgleich nun in Wirklichkeit die Lyrik aller großen
Dichter sich mindestens auf dem Wege von dem primären, sozusagen
naturalistischen Gefühl zu dem objektiven, von der Vergewaltigung durch
den primitiven Impuls erlösten befindet, so scheint mir, seit dem späteren
Goethe. doch erst in der Lyrik Stefan Georges diese Fundamentierung auf
das Ober-Subjektive des Gefühls ... zum unzweideutigen Prinzip der Kunst
geworden.« Das ist kein schönes Deutsch, gewiß. Aber Simmel hat an dieser
Dichtweise begriffen, daß die Form bei George selbst der Inhalt ist. Simmel
hat die Dinge freilich bis zum Extrem zugespitzt, wenn er sagt: »Nicht
irgendein Inhalt soll in poetischer Form vorgetragen werden, sondern ein
poetisches Kunstwerk soll geschaffen werden, für das der Inhalt keine
andere Bedeutung hat, als der Marmor für die Statue.« Was er meint. ist, daß
so, wie das Material im fertigen Werk nur gegenwärtig bleibt, um die Dichte
der Form wirklich möglich zu machen, so auch der Inhalt der Dichtung
gegenüber der Form keine selbständige Bedeutung für sich beansprucht.
Das ist wahr. Aber es bedeutet auch umgekehrt, daß durch die Form der
>Inhalt< so etwas wie eine neue Legitimation empfängt.
Ich habe selber in späteren Arbeiten in dieser Richtung Weiteres herauszu-
arbeiten versucht, als ich über das Thema >Der Vers und das Ganze< eine
Gedenkrede auf George gehalten habes, und seit langem beschäftigt mich
das sachliche Problem, daß in der Dichtung die Sprache nicht nur Sinnträger
ist, so daß man aus ihr etwas entnimmt wie eine Information, sondern auch
das ist, worein man eingeht und worin man sozusagen wohnt. Sprache kann
wie ein Ritual sein, und ganz gewiß ist es die Dichtung. Da wird nichts zur

5 Jetzt in diesem Band. S. 249ff.


266 Die Wirkung Stefan Georges aufdie Wissenschaft

Kenntnis genommen, sondern die Dichtung nimmt einen ganz ein. Man
darf auch an die Sprache der Religion denken und an das falsche protestan-
tische Vorurteil, wenn etwa katholische Gebetsriten deshalb kritisiert wer-
den, weil, etwa beim Rosenkranzbeten. das gar nicht gedacht und verstan-
den werde. was in der Sprache gesagt ist. Nicht nur um George zu verste-
hen. sondern um die Sache zu verstehen. die in dem Rätsel der Sprache
liegt, muß man erkennen, daß die Sprache noch eine andere Funktion hat
als nur die übermittlung von Gedanken. Das Wort ist noch anders ein
Sinnträger.
Und doch soll es etwas sagen und kann sich versagen. Ge.orge hat selbst
dem Geheimnis des Wortes in seinen Gedichten wiederhoit Sprache verlie-
hen, das auch für den Dichter unbeherrschbar bleibt. Das Wort gewährt
sich und das Wort versagt sich. Das Wort. das immer nur ein Gemeinsames
sein kann, fuhrt das Regiment.
Georges meisterliche Oberherrlichkeit hat sich - anders als manche sei-
ner Deuter - die schicksalhafte Grenze eingestanden. die das Amt des Dich-
ters zu einem Leiden macht. »Kein ding sei wo das wort gebricht. II Den
tiefsten Ausdruck solcher Grenzerfahrung hat der Dichter in einem Gedicht
gefunden. das leider von den Interpreten immer weggedeutet wird. weil es
in ihr Bild von dem »Meister« nicht paßt6 :
Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch -
Worin du hängst· das weisst du nicht.
[... ]

Man wird hinter die Philosophie der Neuzeit und die Sprache der Meta-
physik, die ganz auf Bewußtsein und Sdbstbewußtsein gegründet sind,
zurückgehen müssen, wenn man diese Erfahrung als eine fundamentale
menschliche Erfahrung einsehen will und der Aussage gerecht werden will,
die das Werk der Dichtung für uns darstellt. Wir haben nicht nur in der
Philosophie, sondern in vielen Wissenschaften etwas davon gele01t, daß
Sprache weit über die jeweiligen subjektiven Möglichkeiten ihres Sinnvoll-
zuges hinaus ragt und etwas von der Gemeinsamkeit eines Atems hat, der
uns alle beseelt.
Der zweite Punkt, den ich erörtern möchte, betrifft die Warnungen, die
Nietzsche in der zweiten der >Unzeitgemäßen Betrachtungen< ausgespro-
chen bat. als er über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
reflektierte. Da war es vor allem die Rolle. die die monumentale Historie
für die Kritik an einem abgeblaßten und sekundären Begriff der Objektivi-
tät spielt. die in George und seinen Freunden eine neue Aufnahme fand.
6 Vgl. die Interpretation dieses Gedichts aus dem >Neuen Reich. (.Das Lied«) in den
ersten beiden George-Aufsätzen dieses Bandes, S. 227f. u. 243f.
Die Wirkung Stefan Georgcs auf die Wissenschaft 267
Es sind zwei Begriffe, die wir hier genauer ins Auge fassen müssen. Das
eine ist der Begriff des historischen Sinnes und das zweite der Begriff des
Vorbildes. .
Der Begriff des historischen Sinnes wird in unserer Sprache und in unse-
rem Denken in einem doppelten' Sinne gebraucht. Im George-Kreis wie
auch bei Nietzsche bedeutet der Ausdruck zunächst das, was wir heute mit
dem Begriff )Historismus< verbinden, und schließt die vollständige Eineb-
nung aller Geltungsansprüche der Vergangenheit und der Überlieferung
ein. )Historischer Sinn< bedeutet in dieser Richtung eine bloße Entgrenzung
des eigenen Lebens und der Gegenwart, in der wir selbst stehen, in. die
grenzenlos sich öffnende Dimension der Vergangenheit hinein. Im Sich-
Einlassen auf ihre wechselnden Werttafeln kommt damit die Ausweitung
des Lebens seiner Auflösung nahe. - Historischer Sinn ist eben vor allem der
Blick für das Einmalige in aller Überlieferung. Diesen Blick zu schärfen und
der eilfertigen Anpassung an das Erwartete und selbstverständlich Scheinen-
de zu widerstehen, das verlangt historischen Sinn. Dadurch wird das Ver-
gangene sprechend, daß es als die jeweilige Gegenstimme gehört wird, ob
diese nun ein Text oder ein Monument oder was immer ist. Historischer
Sinn ist dann eine Art von innerer Sensibilität für das, was über unseren
eigenen Horizont hinausgeht und was gerade dadurch als eine eigene
Stimme in unser Gespräch mit uns seIbst hineinspricht. Ich habe für diese
Wirksamkeit des historischen Sinnes in der Aneignung der überlieferung
den Begriff der Horizontverschmelzung eingeführt.
Aufs engste hängt damit der Begriff des Vorbildes zusammen. Nietzsche
hat breit ausgeführt, welcher Gewinn und welche Gefahr im Suchen und
Wählen von Vorbildern liegt. Jeder wird das an den Werken der Forscher
innerhalb des Kreises um Stefan George empfinden. Man kann da von einer
seltsamen Familienähnlichkeit reden, die die großen Gestalten aufweisen,
denen diese Forschung gewidmet ist, ob es sich da um Plato oder Dante
handelt, um Winckelmann oder Raffael, um Napoleon oder Friedrich Il.
und wie die ganze Reihe der Vorbilder lauten mag. Hier besteht ohne
Zweifel die Gefahr gewaltsamer Anpassung und Unterordnung unter ein
paradigmatisches Vorbild, das für alle diese Männer der Dichter Stefan
George selbst war. Das Positive sollte man hier nicht verkennen, daß gerade
auch. echte Erkenntnis auf diese Weise möglich wird und die solideste
Quellenarbeit durchaus nicht ausgeschlossen ist. So ist ein Fall bekannt, die
Biographie Friedrichs II. durch Kantorov.-icz. Da hat man die Kompetenz
des Forschers angezweifelt, der diesen Stauferkaiser mit antiken Zügen im
Sinne Stefan Georges ausgestattet hatte. Man hat die Belege aus der Überlie-
ferung vermißt, und da hat der Verfasser einen zweiten Band - man kann nur
sageri: nachgeschmettert -, an dem sich zeigte, wie solide und substantiell
die Basis für seine Aussagen gewesen war. Vielleicht kann man sogar sagen,
268 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft

daß die ungewöhnliche Figur des Staufers dem geheimen Vorbild des Histo-
rikers in diesem Falle wirklich besonders ähnlich war. Im Falle Platos etwa
konnte mir die Stilisierung auf den fast priesterlichen Meister und Kultstifter
weniger einleuchten.
Injedem Fall aber steckt ein tieferes philosophisches Problem in der Rolle
des Vorqildes für die Geschichtsschreibung: das dialektische Verhältnis des
Allgemeinen und des Einzelnen. Immer geht es darum, wie das Allgemeine
im Einzelnen erscheint und wie sehr sich das Allgemeine dadurch bestimmt,
daß es nur im Einzelnen oder in einer Vielzahl von Einzelnem seine wahre
Wirklichkeit hat. Das nennt man eine Aufgabe der Urteilskraft, das Allge-
meine im Konkreten zu erkennen und von da aus seine Bedeutung selbst zu
ermessen.
Hier muß man auch an Gundolfs Reflexionen über den Begriff der Aus-
wahl denken. Von der Arbeit des Historikers ist das Recht der Auswahl und
die Verantwortung rur die Auswahl unabtrennbar, auch wenn dieses Prinzip
nicht immer mit vollem methodischen Bewußtsein gehandhabt wird. Nicht
das große Gedächtnis allein macht den Historiker, sondern ebenso die Kraft
des Auswählens, durch die erst das» Wie es eigentlich gewesen ist«, vielsa-
gend wird. Die Gestaltbiographien des George-Kreises zeichnen sich durch
bewußte Annalune des Prinzips der Vorbildnahme aus. Dabei wird man die
jeweilige Annäherung an das geltende Vorbild verschieden bewerten müs-
sen und wird vielleicht sagen dürfen:Je schwerer es sich einer macht, das ihn
leitende Vorbild in der überlieferung wiederzuerkennen, desto reicher wird
der Erkenntnisertrag.
Als letzten Punkt möchte ich einen Fall beleuchten, ft.ir den ich wohl selbst
am meisten Sacheinsicht habe: das neue Plato-Bild (was man damals so
nannte). Es ist kein Zweifel, daß der George-Kreis in der Plato-Forschung
eine sichtbare Spur hinterlassen hat. Das Plato-Werk Paul Friedländers, von
dem schon dieRede war, oder Karl Reinhardts hinreißendes kleines Buch
über Platos Mythen 7 zeigen das deutlich. Aber es ist erstaunlich, daß selbst
Männer, die gar keine Philologen waren, wie Friedemann, Singer und
Hildebrandt, hier gutes Neues zur Geltung gebracht haben. Stefan George
selbst scheint erst am Ende seiner großen dichterischen Schaffens periode,
also erst um 1910, in das Werk Platos tiefer eingedrungen zu sein. Kurt
Hildebrandt hat damals eine übersetzung des >Symposion( herausgebracht
und in intensiver Zusammenarbeit mit George selbst ein großes Plato-Werk
vorbereitet, das 1932 vollendet wurde und Anfang 1933 erschien8 • Es ver-

7 KAn RmNHARDT, Platons Mythen. Bonn 1927. Jetzt auch in: Vermächtnis der
Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, hrsg. v. eARL
BECKER. Göttingen 1960, S. 219-295.
8 KURT HlLDURANDT, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Ber/in 1933. Vgl.
dazu meine Rezension inder DLZ von 1935 (jetzt in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 331-338).
Die Wirkung Sref.h Georges auf die Wissenschafr 269
leugnet die Schwächen seiner Zugangsweise nicht, zeigt aber auch die
Stärke. Die eigene Erfahrung im Verhältnis von Meister und Jünger und die
Teilhabe an der bildenden Wirksamkeit des Dichters an seinen jungen
Freunden hat ihm eine Wiedererkennung von vielem ermöglicht, das in den
Platonischen Dialogen bedeutsam ist. Hildebrandt hat mir einmal erzählt,
wie er im Freundeskreis ein Kapitel seines Buches vortrug und jemand
skeptisch sagte: "Ja, ob's aber auch wahr ist«, und daß George darauf gesagt
habe: »Ob's wahr ist? - Ihr sollt es halt wahrscheinlich machen. « Diese
Bemerkung wurde von Hildebrandt und seinen Freunden ganz positiv
aufgefaßt, und gewiß wollte George damit nicht sagen, daß man Beliebiges
wahrscheinlich machen darf, wenn es nur den eigenen Zielen und Interessen
und Wertungen el;1tspricht. Er meinte vielmehr, daß man über das, was sich
durch rein kritisch-methodische Feststellungen sichern läßt, immer hinaus-
gehen muß. Das scheint mir nun fürjede geisteswissenschaftliche Forschung
ein richtiges Prinzip. Vermutlich gilt es in dem gesamten Bereich dessen,
was wir aus der Rhetorik als das Kapitel )De inventione. kennen. Daß man
auf etwas kommt, ist nie etwas, was schon gesichert ist, und selten so, daß
man es unbezweifelbar beweisen kann. Gewiß brachten George und seine
Freunde - aber auch ein Forscher wie Friedländer - den rechten Sinn fur das
auf, was in den Erziehungsgesprächen des Sokrates mit seinen Partnern
geschieht. Das ist kein Asthetizismus, dieser Seite der Dialoge Aufmerk-
samkeit zu schenken. Es ist eine Bedingung für das rechte Verständnis der
Gedanken selbst. Denn es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen
dem. was einer denkt, und dem, was einer ist. Die sokratisch-platonische
Dialog-Logik ist auf dieser dorischen Harmonie. dieser Harmonie zwischen
Logos und Ergon, aufgebaut. Sie bedeutet negativ, daß nicht jeder zu jeder
Einsicht fähig ist und wer einen wahren Satz bloß wiederholt, ohne ihn ganz
von sich aus zu erfiillen, seine Einsichtslosigkeit dadurch beweist, daß er ihn
nicht verteidigen kann. Darauf beruht die sokratische Dialektik. Sie ist eine
Prüfung nicht nur von Sätzen, sondern auch von Seelen.
Im Bereich der Philosophie haben wir diese Einsichten in den letzten Jahr-
zehnten in der sogenannten Hermeneutik und ihrer Umbildung weitgehend
fruchtbar zu machen '/ersucht. Daß die wissenschaftlichen Methoden und
damit die kritische Histode unentbehrlich bleiben. wußte auch Nietzsche und
ist überhaupt unleugbar. Aber die Fruchtbarkeit der Forschung geht noch von
etwas anderem aus, das aller Methodik vorausliegt: daß wir lernen, richtig zu
fragen und von richtigen Fragen bewegt an die Quellen heranzutreten. Stets
sind es Spuren von Wirklichkeiten, die uns auf das rechte Fragen kOl11men
lassen. Eine Spur solcher Wirklichkeiten habe ich an dem einheitlichen
Werden aufzuzeigen gesucht, das von Georges Lebensbahn bis in unsere Tage
reicht. Diese Spur hat uns gezeichnet, mögen wir wie immer unsere Abstände
zu den bei den Extremen bestimmen, von denen das eine etwa durch den
270 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft

großen Soziologen Max Weber gebildet wird und das andere durch den
großen Dichter Stefan George, aufder einen Seite durch das Forscherideal der
innerweltlichen Askese, auf der anderen Seite durch den Dichterberuf des
Ivates<.
Vergegenständlichung, auch wenn man es auflateinsich ausdruckt und von
Objektivität redet, ist nicht der einzige Maßstab unserer Realitätserfahrung
und in gewissem Sinne sogar dem nachgeordnet, was ich mit Plato ITeilhabe<
nenne. Teilhabe scheint mir das Wesen der Geisteswissenschaften im beson-
deren auszumachen. Doch gilt es vermutlich für alles menschliche Wissen.
Wir sind als endliche Wesen nie in der Lage dessen. der seine Erfahrung der
Realität so besitzt, daß er seinen Gegenstand la principio<, vom Anfang an,
konstruieren und seiner ganz Herr werden könnte.
23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins
Zu dem Buch von Romano Guardini
(1955)

Daß die Dichtung Rilkes nicht nur ein Gegenstand der Literaturwissenschaft
ist, sondern den heute Lebenden ein wahrhaft philosophischer Gegenstand,
das heißt ein Anlaß der Selbstbesinnung und der Auseinandersetzung mit
der Weltdeutung des Dichters, bedarf keiner Begründung. Ein Blick in die
unübersehbare, Rilke-Literatur beweist es. Denn was aus diesen zahllosen
Büchern spricht, ist kein bloßes ästhetisch-literarisches Interesse mehr. Da-
von macht auch das Buch von Romano Guardini keine Ausnahme l • Insofern
stößt sein Anspruch, daß es Rilke erstmals ernst nehme, ins Leere. Es
übertrifft allerdings an Sinn für das Dichterische und an Kunst der Ausle-
gung das allermeiste. Aber nicht das ist der Grund, warum es eine besondere
philosophische Beachtung verdient. Vielmehr nimmt es dadurch einen be-
sonderen Rang ein, daß sein Ernstnehmen Rilkes keine stillschweigende
I Obwohl es sich hier um die Kritik eines Buches handelt, ist meine Auseinanderset-
zung mit GUAR01NlS Rilke-Deutung alles andere als eine Gelegenheitsarbeit. In sie ist eine
lange Bemühung um die Deutung der Duineser Elegien eingegangen, die bereits um 1930
einsetzte. Herausgefordert durch die Sachfeme der damals aufkommenden Interpreta-
tionen von protestantisch-theologischer Seite und immer wieder bestürzt über die Unge-
nauigkeit des Lcsens, von der die Rilkc-Literatur zeugte, plante ich damals einen ausführ-
lichen Kommentar, der im akademischen Unterricht wiederholt vorgetragen wurde. In
denjahren der zunehmenden Verdüsterung nach 1933 gewann neben dem späten Hölder-
!in der späte Rilke eine immer größere Bedeutung für die Verteidigung der inneren
Freiheit. Das Gedrängte und Bedrängte seiner in freien Maßen sich auftürmenden Invoka-
tionen fand überall bereiteste Aufnahme, und langsam wuchs das Ve:ständnis dieser
hermetischen Dichtung, das zugleich dem Gedanken der Philosophie diente. Es war in
dieser Zeit, daß auch GUAROINIS erste Rilkc-Deutungen erschienen, eigenen Deutungen,
die nicht über den Kreis des Hörsaals hinausdrangen, begegnend. Nach dem Kriege
schwoll dann die Flut der philosophischen Rilkc-Deutungen immer weiter an. Aber erst
Guardinis dichterisch feinfühlige und positions bewußte Gesamtdeutung der Elegien reiz-
te mich zu zeigen, daß man immer noch genauer lesen muß und daß Guardinis theologi-
sche Kritik - im Vergleich zu der theologischen Assimilation der frühen drcißiger und der
wahllosen philosophischen Assimilation der vierziger Jahre gewiß ein bedeutender Fort-
schritt - am Anspruch des dichterischen Werks Rilkes vorbeihört. Inzwischen haben sich
die Konstellationen des Geistes deutlich geändert und Rilke wird nicht mehr wie damals
gelesen, sondern ist Objekt der Literaturwissenschaft.
272 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins

Identifikation der Meinung des Interpreten mit der Meinung des Dichters
voraussetzt, sondern im Gegenteil einen bewußten kritischen Abstand.
Trotzdem bleibt es eine gemeinsame Voraussetzung, die Guardini mit fast
aller Rilke-Interpretation teilt: daß die Rilkesche Dichtung nicht bloß ästhe-
tisch, das heißt als ein auf Echtheit bewertbares Ausdrucksphänomen, son-
dern als Aussage, die etwas Wahres sagt, verstanden wird. Aber durch
Guardini stellt sich das grundsätzliche Problem: Was ist Kritik an einem
Dichter, die nicht das dichterische Gelingen, sondern seine Wahrheit meint?
Allerdings macht Guardini diese gemeinsame und überzeugende Voraus-
setzung auch seiner Interpretation sogleich in der Einleitung zweideutig.
Unter Berufung aufRilkes Selbstaussagen sieht er seine Dichtungen als eine
religiöse Botschaft an - und will deren Legitimation daran prüfen, ob ihre
Aussagen wahr seien.
Beides vereinigt sich nicht einfach. Es sind doch zwei ganz verschiedene
Instanzen, auf die sich Guardini beruft: der natürliche Anspruchjedes Rilke-
Lesers, Wahrheit gesagt zu bekommen, und der besondere angebliche An-
spruch Rilkes, eine religiöse Botschaft zu übermitteln. In der Tat gebraucht
Rilke Beschreibungsformen seiner dichterischen Inspiration, die fast wie ein
Anspruch auf religiöse Offenbarung klingen, und im Zusammenhang der
Entstehung der Sonette an Orpheus sagt er sogar einmal, daß diese nicht
Aufklärung forderten, sondern Unterwerfung. Für Guardini heißt das, daß
sie Glauben fordern. Mir scheint es aber kein Zweifel, daß der allgemeine
Wahrheitsanspruch, den Guardini auch bei Rilke mit Recht voraussetzt,
nicht wirklich religiöse Autorität in Anspruch nimmt. Es ist eine Unterstel-
lung, daß Rilkes dichterische Aussagen mit religiösem Ernst verstanden
werden müßten, wenn man nicht annehmen wolle, daß Rilke zu »solchem
existentiellen Ernst nicht mehr fahig gewesen sei«.
Tertium non datur: religiöse Botschaft oder ästhetische Spielerei (20 ff.).
Wer in Rilkes wie in aller großen Dichtung Wahrheit sucht, ohne deshalb
etwa die griechische Tragödie als ein frommer Grieche und das Calder6n-
sche Schauspiel als ein katholischer Spanier in naiver Unmittelbarkeit erfah-
ren zu können, wer also dichterische und nicht mit religiöser Autorität
auftretende Wahrheitsaussagen sucht, sieht sich um alle Legitimation ge-
bracht. Er wird von Guardini dem ))Relativismus der ausgehenden Neuzeit«
zugerechnt:t (21).
Man kann diese seltsame Überspannung des Wahrheitsinteresses bei Gu-
ardini begreifen, wenn man sich in seine Einzelinterpretationen vertieft.
Denn Guardini prüft in der Tat nicht eine dichterische Aussage, wie sie als
das treffende und betroffen machende Dichterwort erfahren wird, auf ihre
Wahrheit, sondern er konstruiert aus der vielschichtigen Gleichnisrede des
Dichters ein einheitliches System der Daseinsdeutung und >Religion<.
Da Guardini als katholischer Christ dieses System an den Wahrheiten der
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins 273

christlichen Religion mißt. springt eine wichtige geschichtliche Einsicht


dabei heraus. Rilke wird in den allgemeinen Säkularisationsprozeß der N eu-
zeit eingeordnet, sofern er die religiöse Welt des Christentums und die Stoffe
der Bibel nur noch als Material zu ganz eigenen Aussagen gebraucht. Man
wird dem christlichen Interpreten die Frage gern zubilligen, ob die Sag kraft
solcher dichterischer Aussage sich nicht auch dann noch aus den christlichen
Wahrheiten nährt, wenn sie sie bis zur Verunstaltung umgestaltet. Man
denke etwa an die Geschichte vom verlorenen Sohn, die nach Rilke die
Geschichte dessen ist, der nicht geliebt sein wollte. Aber solche historische
Feststellung scheint mir über die Wahrheit der dichterischen Aussagen Ril-
kes nichts zu entscheiden. Niemand wird bestreiten, was Guardini auch ganz
mit Recht feststellt. daß Rilke aus einer katholischen Umwelt und Herkunft
die entscheidenden Möglichkeiten für seine dichterischen Aussagen ge-
winnt.
Aber wenn man nun Guardini bei der Interpretation der ersten Elegie an
Rilkes )Liebeslehre< Kritik üben sieht, weil Rilke die Liebe ohne die Entspre-
chung des Du des Geliebten über alles stelle (49 ff.). so fragt man sich doch,
ob nicht ein mehr )relativistisches( Verstehen gerade die Wahrheit des hier
Vernehmlichen besser erkennt. Guardini bedenkt hier offenbar nicht, daß
Rilkes Liebeslehre eine Lehre vom Lernen der Liebe ist. "Nicht ist die Liebe
erlernt.« So ruft er als Lernender sich Vorbilder auf, deren Liebenkönnen
über alle Entsprechung hinaus sich bewährt. Das sind die verlassenen Lie-
benden. Wie kann man verkennen. daß die wahrhaft Liebenden, das heißt
die Qunendlich« sich hingebenden. einander die gleiche Weite gäben. wie sie
die verlassenen Liebenden leisten und durch sie vorbildlich sind. Ich wüßte
nicht, was daran nicht wahr - und übrigens auch mit der christlichen Ethik
im vollsten Einklang - wäre.
Es ist keine ästhetische Unverbindlichkeit, wenn man sich die schweben-
de Freiheit eingesteht, mit der der Dichter. wie Pindar so schön sagt. aus
allen Blüten Honig saugt. Gerade wem an der Wahrheit dichterischer Aussa-
gen liegt. darf sich die Vielschichtigkeit der gegenständlichen Motive nicht
verbergen. deren sich eine Dichtung bedient. Was mit ihrer Hilfe zur Aussa-
ge kommt, soll verstanden und als wahr genommen werden. Das aber
mißlingt, wenn man statt dessen die stoffiich-gegenständlichen Mittel dieser
Aussagen als die Sache selbst behandelt. Was Guardini zum Beispiel in der
zweiten Elegie vom Engel sagt, ist im Sinne der Stoffgeschichte sicher
richtig (77 ff.). Aber was Rilke uns sagt, wenn er solche uns im Fühlen
unendlich übertreffenden Wesen, in denen wir, wir Schwindendsten, uns
also selber verstehen, dichtet. wird durch die Frage. ob sie christliche oder
heidnische oder sonstige numinose Gestalten seien, zu denen man sich
religiös verhalten kann. nur verdeckt. Ich sehe nicht ein, warum man
dadurch, daß man nicht religiös versteht, was ein Dichter sagt, ihm und sich
274 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins

selbst »den existentiellen Ernst« abspricht (89). Was in der zweiten Eleg~e
gemeint ist, und warum die Engel Engel sind, ist doch ganz eindeutig. In uns
Menschen ist unser Fühlen ein Schwindendes. Wesen, deren Fühlen sich
nicht verflüchtigt, sind nicht mehr Menschen. So scheint es mir ganz abwe-
gig, die Erfahrung der Griechen vom Göttlichen mit der Nennung der
Engel, die überhaupt keine Götter sind, zusammenzubringen (99). Nicht
Erscheinung des Unsichtbaren, sondern Garant des Seinsanspruchs des
Unsichtbaren nennt sie Rilke in dem bekannten Brief an Witold Hulewicz.
Hier kann freilich Kritik einsetzen. Ist dieser Maßstab des reinen Fühlens,
der auch den Liebenden nur im Zauber des Beginns erfUllbar ist, ausrei-
chend, um das menschliche Dasein recht zu sehen? Schon Rudolf Kassner
hat auf die Grenze der Rilkeschen Welt aufmerksam gemacht: sie sei nur im
)Reich des Vaters<, nicht >im Reich des Sohnes< daheim. Ihr fehle die Wahr-
heit der Inkarnation. Guardinis Kritik ist sicher ähnlich motiviert.
Denn auch er vermißt an Rilke das Kernhafte der Person und sieht gerade
in dieser Entselbstung das fragwürdig Gegenwärtige, das Rilke mit der
Moderne verbinde. Der Verlust der Person und das der Totalität Anheimfal-
len, das die gegenwärtige Welt kennzeichnet, gehören nach Guardini zusam-
men. Das ist vielleicht aufs Ganze gesehen richtig. Wir werden darauf
zurückkommen.
Aber ist das, was die Dichtungen sagen, deshalb nicht wahr? Hat es nicht
für jeden Menschen Wahrheit, wenn das dichterische Ich sich hier als den
Lernenden und Unbelehrbaren sieht, dem die Selbstlosigkeit des wahren
Fühlens und damit das wahre Lieben nicht gelingt? Ist dieser Maßstab
wirklich falsch? Gerade die dritte Elegie, die Guardini als eine gnostische
Irrlehre, in der das Dunkle und das Böse als die seiende Gegenmacht des
Hellen und des Guten gesehen werde, bezeichnet (104f.), gewinnt von da
erst ihren Ort. Es ist schwer, ein Selbst zu sein, schwer, gerade in der Liebe
sein Selbstsein nicht zu verlieren an das Namenlose des Triebes. Wo liegt
hier der Irrtum? Ist es denn vielleicht nicht wahr, daß dem liebendenJüng-
ling vor dem »reinen Gesicht« des Mädchens der »Flußgott des Blutes«
schuldig heißen muß? ;
Ich meine, es ist ein richtiges Prinzip, ja eine notwendige hermeneutische
Forderung fUr alle Interpretation von Dichtung, sich vom Wort des Dichters
treffen zu lassen. Nur der Betroffene versteht, was gesagt wird. Und voll-
ends bei einer Dichtung wie den Rilkeschen Elegien, die überhaupt nieman-
den anreden, so sehr ist der Dichter schon jeder andereZ, gilt es, eine jede
Elegie als die Einheit eines meditativen Ganges zu vollziehen. Die feinfühli-
gen Auslegungen Guardinis, so hilfreich sie in vielen Einzelheiten sind (daß

2 Das .Du« der 1. Elegie (v. 23) versteht Guardini falsch, wenn er darin nicht die
Intensivierung der Selbstanrede erkennt (37).
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins 275
ich manche der Einzelerklärungen für verkehrt halte, mindert nicht das
Gesagte), lassen die Einheit des dichterischen Anliegens meist nicht genug
zur Geltung kommen. Am fühlbarsten wird dieser Mangel dort. wo das
Anliegen verkannt wird. Das scheint mir besonders bei der' vierten und
fünften Elegie, und etwas auch bei der zehnten.
Das einheitliche Thema der vierten Elegie, in das sich das Generalthema
des Lernens des wahren Fühlens und Liebens hier konkretisiert, ist die aus
übereilung entstehende Falschheit, die in die menschlichen Beziehungen
unheilvoll eindringt. Auch hier bedarf es nicht biographischer Ausdeutung.
»Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang?«
Guardini glaubt (155 ff.), daß es zum Verständnis hilft, wenn man hier
einiges aus der Biographie Rilkes hinzunimmt: daß der Vater, als Berufsoffi-
zier gescheitert, nun seinen Sohn für diese Laufbahn bestimmte und dabei
eine neue Enttäuschung erfuhr. »[ ... ] So ist die Weise, wie Rilke den Vater
anredet, verständlich: .der um mich so bitter das Leben schmeckte. meines
kostend (... ), den ersten trüben Aufguß meines Müssens, da ich heran-
wuchs.< [... ] Hier scheint das Zentrum des Verhältnisses zwischen beiden
zu liegen: in der Angst, die der Vater um den Sohn hat; andererseits im
Berührtsein des Sohnes durch die Angst - welches Berührtsein sowohl
Dankbarkeit, wie Mitleid, vielleicht sogar Gereiztheit ist. Wenn der Sohn
hofft. dann ist in dieser Hoffnung der Vater und hat Angst. Der Sohn fühlt
also: Der Vater hat kein rechtes Zutrauen zu mir, sonst würde er sich nicht
ängsten. Das bedrückt ihn, reizt ihn vielleicht auch. Andererseits sagt er sich:
Wie arm war der Vater, daß er, der fiir sich selbst nichts mehr erhoffte, nicht
einmal mit Zuversicht auf mich hoffen konnte. Und das ist noch immer so.
Noch immer kann er nicht auf mich vertrauen; noch immer hat er mich nicht
in die Zuversicht meines eigenen Weges freigegeben« (15517).
Mir scheint das ganz in die Irre zu führen. Davon ist in des Dichters reifem
Rückblick auf seinen Vater gar nichts geblieben. Er spricht von nichts als
von der Liebe des Vaters. Die volle Verzeichnung des Ganzen gipfelt in dem
Mißverständnis der Worte »prüftest mein beschlagnes Aufschaun«: Rilke ist
viel genauer, viel weniger impressionistisch, als sein Interpret annimmt. Er
beschreibt mit wunderbarer Präzision, was zwischen einem Vater und ei-
nem Sohn vorgeht, wenn der Sohn bei der sorgenden Prüfung, mit der ihn
der Vater zu ermessen sucht, im Bewußtsein, wohlbeschlagen zu sein,
seinen Vater voll Eifer, sicher und unsicher zugleich ansieht.
Ähnlich verfehlt sind auch die an die Wendung »mein bißchen Schicksal«
geknüpften Betrachtungen über Rilkes Leben: »Wer hätte reicheren Lebens-
inhalt gehabt als er? Er war ein Dichter, wohl der größte seit Mörike.
Unzählige Menschen haben mit ihm in Beziehung gestanden, darunter sehr
bedeutende und lebensvolle. Ihm ist von allen Seiten Liebe zugetragen
worden. Er hat Europa bewohnt und ist von einer Schönheit zur anderen
276 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins

gegangen. Orte, die andere nur von außen sehen dürfen, haben ihn aufge-
nommen. Und dennoch das Gefühl: >mein bißchen Schicksal<!« (158). - In
Wahrheit geht es in dieser Wendung nicht um ein Mehr oder Minder an
>Lebensinhalt<, sondern darum, was gegenüber der Einfachheit und Größe
von Leben und Tod Schicksal überhaupt bedeuten kann3 •
Bleiben wir lieber beim Text der vierten Elegie: »Wer saß nicht bang vor
seines Herzens Vorhang?« Das Tier und das Kind, auch der Sterbende stellen
für den der Falschheit seiner Gefühle Eingeständigen etwas Nachdenkliches
dar. Guardini trifft hier den Punkt ganz und gar nicht. Und doch, was
könnte anschaulicher sein als diese Schilderung des Falschen zwischen Lie-
benden? Wie sie miteinander im Gutsein überdeutlich sind, weil sie einander
wie Feinde begrenzen, so daß das Lieben - der Kontur des Fühlens - gar nie
zur vollen Abzeichnung kommt, so zweideutig und voller Vorwand ist jeder
für den anderen. Der Dichter gibt genau an, daß die Bühne, von der im
folgenden die Rede ist, die des eigenen Herzens ist. Guardini sieht darin
unbegreiflicherweise ein Ausweichen vom »Herzwerk« ins bloße Anschau-
en (170 f.). Dabei sind wir doch gar nicht nur die Schauenden, sondern selbst
ebensosehr das, was gespielt wird. Die Auftritte auf der Bühne des Herzens
sind die Gefühle. Das sich prüfende Herz erfährt, daß sie alle falsch, bemüht,
nur scheinbar sind (wie schlechte Schauspieler). Und doch waz:tet man
immer aufs neue auf das Auftreten eines reinen Gefühls, wartet unbeirrbar,
denn es gibt keine absolute Erstorbenheit des Herzens: »Es giebt immer
Zuschaun.« Kaum glaublich, daß dieser schöne Ausdruck für die niemals
wirkliche Winterlichkeit des Herzens von Guardini so mißverstanden wird,
daß er auch den Anruf der Zeugen, des liebenden Vaters und der geliebten
Frauen, überhaupt nicht als solchen erkennt. Wer nun sich nichts mehr
vormacht und wirklich zu warten wüßte, dem muß der Engel den reinen
Auftritt des Fühlens heraufführen, indem er die Puppe (das von sich aus
nichts Vormachende) hochreißt: »Dann kommt zusammen, was wir im-
merfort entzwein, indem wir da sind.« Guardini findet diesen Satz ungeheu-
erlich (163). Aber hat er ihn richtig verstanden? Ist nicht diese Klage Rilkes,
daß wir in unserm Dasein die heile Ganzheit des vorbehaltlosen, selbstlosen
Fühlens nicht aufbringen, wahr? Und ist es nicht wahr, daß wirklich nur der
über das Dasein schon fast Hinausseiende - der Sterbende - und das noch
davorstehende Kind das reine, unverstellt eingeständige Fühlen kennen -
und die Liebenden es zu lernen suchen? Der Engel ist da, sobald sie es
können.
Man ahnt, daß der Tod, dies Furchtbare und Gefürchtete unserer Endlich-
keit, der wahre Grund all unserer übereilungen und Vorwandhaftigkeiten

3 Vgl. dazu ,Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge., SämtI. Werke (ed. Zinn)
Bd. 6, S. 898 f.
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins 277

ist. leh kann nicht finden, daß Guardinis Interpretation der fünften Elegie
diesen Zusammenhang richtig erfaßt. Hier ist die künstliche Metaphorik
Rilkes freilich besonders skurril und die Klage des Interpreten (204) begreif-
lich. Es kommt offenbar darauf an, die Fahrenden mit ihrem ruhelosen
Oben und seltenen sinnlosen Gelingen in ihrem Symbolsinn zu erfassen: ein
wenig Flüchtigere noch als wir selbst, die wir, vom Tode in die Muster
unseres Geschicks geschlungen, die unwahren Vorwände und die kurzfristi-
gen Verdeckungen des nahenden Winters ruhelos versuchen. Es scheint mir
bezeichnend, daß Guardini (200) das "anprallt ans Grab« auf den möglichen
Artistenunfall einschränkt, statt darin die Transparenz des Symbols der
Fahrenden zu gewahren und seine Anwendung auf unser aller Schicksal
darin vorbereitet zu sehen. Alles menschliche Mißlingen prallt an das Grab.
So steht am Ende der Elegie das wahre Schauspiel unser selbst und des
Glückes, das im Können der Liebe läge - auch dies ein Schauspiel, weil ein
Vorbild und die jenseitige Erfüllung eines hier stets gescheiterten Traums.
Auch hier vermag ich nicht zu verstehen, was Guardini da falsch und
verhängnisvoll findet (222): daß das menschliche Herz unendlich vieles
Scheitern und seltenes Gelingen bei seinem Herzwerk erfährt; daß das Sich-
mühen in alles Herzwerk etwas Falsches bringt und das wahrhafte Können
auch ein wahrhaftes Lächeln möglich macht, wieso hebt dies das Personsein
auf?
Nebenbei: daß das »reine Zuwenig [... ] umspringt injenes leere Zuviel ..
(Vers 82 bis 84) ist ein reines Bild des Könnens, der Balance. Was wie ein
Zuwenig an Anstrengung schien, erweist sich nachträglich, seit man die
Balance kann, als ein leeres Zuviel. Die Rechnung geht ohne Rest, "zahlen-
los« auf. Guardini (213) verkennt das.
Guardini vergißt hier, wie mir scheint, was eine Elegie ist: Klage um die
Eingeschränktheit unseres Daseins, Erfahrung seiner Mangelhaftigkeit an
Vorbildern des Heilen und des Ganzen. Daß ein christlicher Elegiker von
dieser Endlichkeit unseres Daseins anders sprechen könnte, aus einem ande-
ren Wissen, ist gewiß richtig. Aber daß Rilke aus dem, was er weiß, spricht,
daran tut er recht; und man tut ihm unrecht, wenn man die Wahrheit seiner
Aussagen nicht an den Erfahrungen mißt, die ihnen zugrunde liegen.
So scheint es mir sinnlos, etwa in der siebenten Elegie Rilkes Anspruch,
die Dinge im Anschaun des Engels gerettet zu sehen, mit der christlichen
Errettung aller Dinge in Gott zu konfrontieren (282). Hier meint Errettung
nichts anderes als »die Bewahrung der noch erkannten Gestalt«, ihre Aufbe-
wahrung im fühlenden Herzen. Darin übertrifft uns der Engel, weil sein
Fühlen nicht bedingt und begrenzt und so oft getrübt ist wie unseres. Es
scheint nichts Rühmliches zu geben, das diese fühlenden Wesen nicht längst
besäßen.
Aber die neunte Elegie - die. in Guardinis Augen schönste - findet doch
278 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins

etwas, das gerade dem so zuruckgewandten Wesen, das der Mensch ist,
vorbehalten bleibt: das Irdische, das Einfache, in dem menschliches Fühlen
Ges talt geworden ist, zu etwas» Säglichem « wurde. Man hätte erwartet, daß
Guardini hier abermals die Säkularisation eines christlichen Gedankens auf-
wiese. Es ist die Inkarnation, die Rilke hier dem Menschen zuspricht. Darin
sind wir Irdischen dem reinen Fühlwesen des Engels überlegen, daß unser
Fühlen nicht das Unbedingte kennt und daher das Bedingte, die Dinge, in
ihr wahres Sein erweckt, und wir können das, weill1nd soweit wir das rechte
Verhältnis zu unserer eigenen Bedingtheit, das heißt aber zum Tode, gewin-
nen.
Es sind sehr gewichtige Dinge, die Guardini der ITodeslehre( Rilkes
entgegensetzt (414 ff.). Er sieht im Protest gegen den Tod die» ontologische
Ehre« des Menschen und im Fehlen dieses Protestes die Kapitulation des
Menschen. Das ist gewiß richtig, aber hat es auch gegen Rilke recht? Glaubt
er wirklich, daß es Rilke an ontologischer Ehrenhaftigkeit fehlt? Bedürfte es
für Rilke der inständigen Bemühung um die Bejahung des Todes, wenn er
diesen Protest nicht bewußter als irgendein Mensch in sich truge? Eine
Wahrheit scheint mir gerade auch diese >Lehre( Rilkes zu enthalten. Es gibt
ein falsches und ein richtiges Verhalten des Menschen zu seiner Endlichkeit:
das Weglügen (durch die Illusionen des »behübschten Glücks«) und das
Wahrhaben, das dem Endlich-Einmaligen die ganze Kraft des eigenen Füh-
lens zuwendet. Ich vermisse bei Guardini, daß er erklärt, warum Rilke den
»vertraulichen Tod« einen Ilheiligen Einfall der Erde« nennen kann. Daß das
menschliche Herz das Seiende in Dinge von echter Dauer verwandeln kann,
indem es sein menschliches Fühlen in ihnen Gestalt und Geist werden läßt,
verdankt es doch wirklich der eigenen Erfahrung seiner Endlichkeit.
Das hat schon Aischylos gewußt. Bleibt dies nicht eine richtige Beschrei-
bung des irdischen Seins - auch wenn sie dem Christen unvollständig ist,
sofern dieser Einfall der Erde, die Erde selbst und der Mensch göttliche
Schöpfung und Bestimmung sind? Man mag zweifeln, ob es dem Menschen
möglich ist, solche Bejahung des Todes von sich aus existentiell zu vollzie-
hen - aber daß es eine Wahrheit ist, was Rilke hier aus der Sinnfülle des
Weltalters, an dessen Ende wir stehen, bewahrt, sollte man nicht leugnen.
Ist es nicht gerade der ihm von seinem Interpreten zu Unrecht vorenthal-
tene Freibrief des Dichters, kein vollständiges philosophisches oder theolo-
gisches System haben zu müssen, sondern in sich wahre Aussagen zu ma-
chen. deren begriffliche Verifikation in einem Ganzen von Sinn nicht mehr
seine Sache ist? Rilkes interpretierende Briefe sind gewiß wertvolle Winke
für das, was er meinte. aber die Systematisierung, die in ihnen anklingt,
behält etwas Dilettantisches, und Guardini ordnet sich ihr viel zu sehr unter.
Hier steckt ein unverlierbarer Wahrheitskern des von Guardini so verpönten
ästhetischen Relativismus (keineswegs eine bloß neuzeitliche Erscheinung:
Raincr Maria Rilkcs Deutung des Daseins 279

man denke an die Behandlung der antiken Mythologie in der attischen


Tragödie und Komödie und an Platos Kritik an den Dichtem). Dieser
Wahrheitskern enthlilt. daß die Wahrheit der Kunst und damit der Sinn ihrer
Aussagen erst im Interpreten die Bestimmtheit und Begrenztheit erfährt, die
unmittelbare Kritik möglich macht. Alle Kritik an Dichtung - soweit sie
nicht sagt, daß die angebliche Dichtung keine Dichtung ist, weil ihr die
,Realisierung< fehlt - ist also immer Selbstkritik der Interpretation. Die
Aufgabe des Interpreten, gerade sofern er Wahrheit sucht, ist, den Ort der so
realisierten Wahrheit zu ermitteln, und damit zugleich ihre Grenze, ihre
Bedingtheit durch Gegeninstanzen in sich aufzusuchen. Er muß das Gültige
in Selbstkritik gelten lassen. Es ist sehr irreführend, das als ästhetischen
Relativismus zu kritisieren, was gerade den Wahrheitsanspruch von Dich-
tung allererst möglich macht.
Auch wenn ich die besonderen Voraussetzungen der Guardinischen Ril-
ke-Interpretation einrechne. bleibt es mir doch erstaunlich. daß sich seiner
hervorragenden Em pfänglichkeit für das Dichterische die überlegene Dichte
der zehnten Elegie nicht aufgedrängt hat.
Rilkes dichterische Rede ist nur zu sehr mit Reflexion durchsetzt. seine
Metaphorik oft ein Äußerstes an Gesuchtheit. Aber innerhalb seines Stiles
stellt die zehnte Elegie - darin hat sein eigenes Urteil wohl recht - ein
Höchstes an dichterischer Verwandlung dar. Man muß nur entschlossen die
Wahrheiten ermitteln. von denen da in Form einer Handlung erzlihlt wird.
Es ist die Geschichte des Herausgedrängtseins aller wahren Gefühle und
vor allem des Leids aus der heutigen Welt. Wo gibt es noch das Leid? Wo
gesteht es sich ein? In der Klage! Der weltschmerzliche Jüngling weiß etwas
von der wesentlichen Zugehörigkeit des Schmerzes zum Sein - er folgt einer
Klage ein Stück aus dem Jahrmarkt der Welt heraus. bis er 'gereift< in die
nüchterne Wirklichkeit zurückkehrt. Klage ist weiter da mit dem jungen
Toten. Hier gelingt es der vernünftig organisierten Totenverehrung der
modernen .. Leid-Stadt« nicht mehr. das Dasein der Klage auf die Seite zu
bringen. Sie empfangt ihn als junge. Später. nach einiger Zeit. nimmt eine
ältere ihn auf. Sie weist bereits aus der Einzelheit dieses Trauerfalles in das
ganze weite Reich der Klagen und des Leides und führt schließlich zur
Einsicht in die erhabene Majestät des Todes und die Zugehörigkeit dieses
Leides zu einem ganzen Sternenhimmel von Leid. Bis schließlich die ältere
Klage ihn auch verläßt - nur das stumme Leid ist noch bei ihm. aus dem
schließlich die »Quelle der Freude« wieder entspringen wird. Man kann das
Prinzip der dichterischen Mythopoiie Rilkes wohl nirgends klarer sehen als
hier4 • I

4 AusfUhrlieher zu diesem Prinzip siehe >Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Dui-


neser Elegien<, in diesem Band. S. 289ff.
280 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins

Das Sein des Toten ist von Klage begleitet, bis er unendlich tot ist, das
heißt, daß keine Klage, kein letztes Weinen mehr bei ihm ist, ja, daß das bis
zu Ende durchschrittene Leid sich in Freude löst. Die Zustimmung zum
Totsein der »unendlich Toten« ist das Ja zur Endlichkeit, mit dem die Elegie
und das Ganze der Elegien schließt. Das wahre Glück des menschlichen
Daseins ist nicht »steigendes Glück«, das heißt, es liegt nicht im Meinen von
Zukunft und Dauer. Man kann die Resignation, die in dieser Einsicht liegt,
fiir den gottverlassenen Menschen unerträglich finden. Aber man wird nicht
sagen dürfen, daß es keine Einsicht ist, wenn auch die Wahrheit dieser
Einsicht für den nur von eingeschränkter Geltung sein wird, der die christli-
che Hoffu.ung auf ein Jenseits mit solcher Heilung im Hiesigen vereinigt.
Aber auch fiir ihn wird sie nicht falsch.
Aus diesen Darlegungen folgt, daß eine legitime philosophische Dich-
tungs-Kritik nicht bei dem ansetzen darf, was eine Dichtung sagt, sondern
bei dem, was in ihr nicht gesagt wird. Die Grenze ihrer Wahrheit gilt es zu
sehen. Der Wert des Guardinischen Buches liegt gewiß - außer der reichen
Fülle interpretatorischer Einzelbelehrung - darin, daß es diese Frage an
Rilkes Dichtung fördert, auch wenn es selbst mit seiner Kritik zu unmittel-
bar bei den Aussagen der Dichtung selbst einsetzt. Die Frage nach der
Grenze von Rilkes Wahrheit versteht sich aber nur richtig, wenn sie die
Grenze meint, die Rilkes Wahrheit in uns zukommt. Alle Dichterkritik, die
die Betroffenheit durch das Dichterwort voraussetzt, ist und bleibt Selbst-
kritik der Interpreten.
Zu einer solchen, der Dichtung selbst verdankten Selbstkritik sei ange-
deutet: Rilkes beherrschendes Thema ist Liebe und Tod. Man sieht den
Zusammenhang dieser Thematik am klarsten, wenn man von Rilkes Satz
über die Liebenden ausgeht: »Feindschaft ist uns das Nächste.« Wie wir
Menschen uns selber meinen, indem wir leben, ist uns das Du die feindlich
erfahrene' Grenze unseres Seins - und der Tod erst recht. Lernen der Liebe
und Lernen des Ja zum Tode hängen so zusammen. Man vermißt freilich bei
Rilke - und das ist das Trostlose seiner Welt -, daß aus dem einen das andere
erworben wird. Es sieht zwar so aus, sofern die »Fühlung zu allen Dingen<!
und damit das Ja zu allem, was ist, in der Entzückung der Liebenden
entspringt und vom Dichter nur ausgesprochen wird. Aber solche gänzliche
Hingabe, in der alles Seiende in sein inniges Sein kommt, ist fii! Rilke ein
immer schnell verlorener Anfang der Liebe. Denn »Feindschaft ist uns das
Nächste<!. Man wird zugeben müssen: das ist wahr. Aber es gibt noch eine
andere Wahrheit, nicht die nächste, sondern vielleicht die fernste und
schwerste, eine Wahrheit, die Rilke nicht sagt, und das ist die der Vergebung
und der Versöhnung. Zwischen Liebenden ist sie die eigentliche Wahrheit,
in der die Freiheit beider gegeneinander, diese durch die »Feindschaft«
bedrohte Freiheit, zurückgewonnen, ja gesteigert wird. Darin erst wird die
Rainer Maria Rilkcs Deutung des Daseins 281

Person ganz zur Person. Rilkes Dichtung weiß von dieser Erflillung fast nur
in der Weise der Klage. Aber auch das ist ein wahres Wissen. Guardini hat
nicht recht, wenn er diese Bedeutung des Du (das freilich kein ,Gegenstand.
der Liebe ist) flir das wahre Selbst der Person immer wieder gegen Rilke
kehrt. Der Lehrer des Christentums wird mit Recht hinzufligen, daß auch
das Ja zum Tode ein solches Ja der Versöhnung und damit erst die eigentliche
Errettung der Personalität ist - nur daß das Christentum lehrt, daß dies Ja
von keinem menschlichen Ich und keinem menschlichen Du gesprochen
werden kann. Daß Rilke dem »einzelnen Herzen« dies Ja zumutet, in der
Bejahung der Endlichkeit, wird dem Christen als die dem Dichter selbst
verborgene christliche Wahrheit, die auch ihn noch trägt, erscheinen. Und
vielleicht wird, wer nicht als Christ denkt, zugestehen müssen, daß die
Wahrheit der Versöhnung der uneingestandene Grund ist, auf dem auch die
unendliche Mühsal von Rilkes Lernen des Ja allein möglich war. - Das
würde - und nicht nur rur Rilkes Verhältnis zum Christlichen - bedeuten,
daß Rilke philosophisch gesehen noch immer in den Umkreis Hegels ge-
hört.
24. Poesie und Interpunktion
(1961)

Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?


Wann, auf dem ruhenden Berg, zerbricht sie die Burg?
Dieses Herz, das unendlich den Göttern gehärende,
wann vergewaltigts der Demiurg?
Sind wir wirklich so ängsdich Zerbrechliche,
wie das Schicksal uns wahr machen will?
Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche,
in den Wurzeln - später - still?
Ach, das Gespenst des Vergänglichen,
durch den arglos Empfanglichen
geht es, als wär es ein Rauch.
Als die, die wir sind, als die Treibenden,
gelten wir doch bei bleibenden
Kräften als götdicher Brauch.
(Rilke, Sonette an Orpheus. 2. Teil, XXVII)

Die Interpunktion gehört wie die Orthographie zu den Konventionen der


Schriftlichkeit. Jeder Autor erfahrt es als einen Schock, wenn ihm eine von
ihm gewählte Schreibweise oder Interpunktion unter Berufung auf den
Duden verwehrt wird. Auf dem Gebiete dieser Konventionen triumphie-
ren die Regeln. Nicht einmal das bescheidene Differenzierungsbedürfnis,
das sich in der Abweichung von den Regeln zeigen könnte, scheint zuläs-
sig. Und doch, welche Verkehrung liegt darin! Als ob die Rechtschreibung
und mehr noch die Zeichensetzung zur Rede und ihrem Sinn wirklich
gehörten, als ob sie das Primäre wären, das es einzuhalten gilt, und nicht
vielmehr das Sekundäre, zur Schriftlichkeit Gehörige, ein Hilfsmittel, das
die Sinnartikulation der Rede erleichtern sollte. Bekanntlich haben Zeiten,
in denen das laute Lesen noch eine feste Gewohnheit war, das Mittel der
Zeichensetzung überhaupt nicht benutzt oder erst in einer späteren Ent-
wicklungsphase, sozusagen auf dem Wege zu dem stillen Lesen, einzufüh-
ren begonnen. Selbst in literarischen Zeiten, in denen das stille Lesen zur
herrschenden Gewohnheit wird, bedeutet Lesen mehr als bloße Deutung
von Zeichen, nämlich die Wiedererzeugung von Rede vor dem inneren
Poesie und Interpunktion 283
Ohre des Lesenden. Das schließt aber ein, daß die Artikulation der Rede
unendlich viel differenzierter ist, als die spärlichen Zeichen der Schrift
andeuten.
Man muß aus dieser Erkenntnis die Konsequenzen für die Poetik ziehen.
Denn es steht fest: Nur ganz von feme gehört das Schriftbild oder Satzbild
zu der Erscheinung der Poesie hinzu. In das schwebende Verhältnis von
Klang und Sinn, das ein Gedicht ausmacht, darf sich das Schriftzeichen
nicht als gleichberechtigter Partner eindrängen. Was nicht im inneren Ohre
des Lesers zu hören ist, was nicht der rhythmischen Gliederung der Laut-
und Sinngestalt des Gedichtes zu dienen vermag, hat kein' eigentliches
poetisches Dasein. So gehört es schon zu der Fragwürdigkeit eines hoch-
entwickelten Manierismus, wenn überhaupt die Sphäre des Schriftlichen
mit der ursprünglichen Sphäre des Sprachlichen in ein Partnerschaftsver-
hältnis versetzt wird, wie zum Beispiel in einigen Formen des Barockge-
dichtes. Oder nehmen wir ein Beispiel aus der Gegenwart: In der fünften
Duineser Elegie wagt Rilke eine ähnliche Vermischung der Dimensionen:
Engel! 0 nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.
Schaff eine Vase, verwahrs!
Stells unter jene, uns noch nicht
Offenen Freuden; in lieblicher Urne
rühms mit blumiger schwungiger Aufschrift: ,Subrisio SaltatI.

Das »kleinblütige Heilkraut« des Artistenlächelns, das in einem Apothe-


kergefaß verwahrt werden soll, trägt die Aufschrift IISubrisio Saltato «. Das
Schriftbild belehrt uns, daß hier die Abkürzung »Saltat.« aufzulösen ist in
ISaltatorisl, das heißt >des Tanzersl. Aber diese Abkürzung ist nicht zu
hören, sie ist nicht für das Ohr da, und verlangt daher von dem Leser zu
viel: Umsetzung des Gelesenen in ein innerlich zu Hörendes, Aufbau des zu
Hörenden zur vollen Sichtbarkeit des Gemeinten, Entdeckung von In-
schrift und Schrift innerhalb desselben - und nun noch die entscheidende
Zumutung, daß das vor unseren Augen stehende Schriftzeichen, der Ab-
kürzungspunkt, keine bloße Lesehilfe, sondern die bildhafte Gegenwart
jener »blumige[n] schwungige[n] Aufschrift« selber sei.
Wie alle Extreme macht auch solches manieristisches Extrem die Norm
sichtbar. Sie besteht darin, daß das Lesen von Dichtungen in eine von den
Konventionen der Schriftlichkeit freie Sprachlichkeit zurückversetzt. So
gibt es fur den Dichter ganz andere Gebote der Interpunktion als für den
Geschäftsverkehr des täglichen Lebens. Sie sind wesentlich vom Rhythmus
bedingt. Man denke etwa an die Atemlosigkeit der Kleistschen Periode, die
durch reichliche Verwendung von Kommata in ihrer atemlosen Hast sym-
bolisiert wird. Umgekehrt sehen wir, daß die konventionelle Zeichenset-
zung unter Umständen vom Dichter ganz verschmäht wird, dann nämlich,
284 Poesie und Interpunktion

. wenn es sich um Verse handelt und das Versverständnis durch das Stilideal
eines psychologisierenden Naturalismus ohnehin bedroht ist. So hat Stefan
George eine eigene, sehr sparsam verwendete, teils sinnakzentuierend, teils
rein rhythmisch gemeinte Zeichensetzung eingeruhrt, durch die er der im
Schwange befindlichen Verwechslung von Sprachgebärde und Seelenge-
mälde Einhalt tat.
In jedem Falle gehört Interpunktion nicht zur Substanz des dichterischen
Wortes. Sie ist ,eine Lesehilfe und als solche ein Teil der Interpretation. Das
bedeutet etwas Grundsätzliches rur die Frage ihrer Authentizität. Es soll
hier gar nicht zu dem schwierigen Problem Stellung genommen werden,
wie weit eine Modernisierung der Interpunktion bei klassischen Texten
gestattet oder gar geboten ist. Aber wenn es richtig ist, daß die Interpunk-
tion immer schon ein Teil der Interpretation ist, dann steht es für alle
Interpretationsfragen von Dichtung grundsätzlich nicht gut mit. der Au-
thentizität von Zeichensetzung. Es stellt einen schwer zu ermittelnden
Kompromiß dar, wenn der Dichter dann und wann zwischen den Inter-
punktionsgewohnheiten des Lesers und dem eigenen Ausdrucksbedürfnis
einen Ausgleich sucht und sich gegenüber den Regeln der Interpunktion
Freiheiten herausnimmt. Aber noch viel grundsätzlicher trifft eine andere
Einwendung die Verbindlichkeit der authentischen Zeichensetzung. Denn
grundsätzlich sind gerade solche Freiheiten, die sich der Dichter nimmt,
eine Art Selbstinterpretation. Der Dichter sucht zu verdeutlichen, wie er
sein Gedicht versteht - falls er überhaupt das Mittel der Zeichensetzung,
dessen Wert gegenüber dem in seinem inneren ühre für ihn Hörbaren er
nicht allzu hoch einschätzen wird, bewußt anwendet. Selbstinterpretation
ist gewiß von hohem Interesse tur einen jeden, aber eine wirkliche Ver-
bindlichkeit kann sie nicht beanspruchen. Das kann hier nicht näher be-
gründet werden 1.
Es sind solche Vorerwägungen, die, wie mir scheint, eine Legitimation
dafiir darstellen, daß man sich unter Umständen auch gegenüber einer
überlieferten Zeichensetzung auf die rhythmische Evidenz eines Verses
berufen darf. Wenn man die beiden ersten Verse in dem oben abgedruckten
Sonett rhythmisch analysiert, so wird man sich kaum dem Eindruck ent-
ziehen können, daß hier bei aller Parallelität der zwei gestellten Fragen
zugleich ein entschiedener Kontrast in der Sprachgebärde hörbar ist. Die
erste Frage scheint von weither zu kommen, wie eine Antwort auf unendli-
che Zweifel, die sich noch nicht ganz abzustreiten getraut, daß es die Zeit,
die zerstörende. gibt. Rhythmisch gesehen, ist diese Frage: •• Giebt es wirk-
lich die Zeit, die zerstörende?« eine breit verströmende Bewegung, von

1 Vgl. ,Wahrheit und Methode! (Ges. Werke Bd. 1), wo ich eine nähere Begründung
auch fllr diese These zu geben versucht habe.
Poesie und Interpunktion 285
Unvordenklichem her und in eine unbestimmte Ferne hin auslaufend. Der
zweite Vers dagegen, der schon durch seine Unverbundenheit mit dem
ersten wie eine Wiederholung der ersten Frage erscheint, hat eine ganz
andere Bewegung. Er ist durch zwei Kommata des Dichters, die »auf dem
ruhenden Berg« einschließen und logisch gesehen gewiß nicht nötig wä-
ren, bis zur Atemlosigkeit skandiert. Und hier nun drängt sich die Frage
auf: Sollte gar noch ein Komma fehlen?
Ist das rhythmische Gefüge der beiden Verse auf eine nochmalige Skan-
dierung angelegt: "zerbricht sie, die Burg«? Das starke Ritardando, das
durch das Komma nach" Wann« und nach IlBerg« gegeben ist, schlösse
sich erst ganz zu der Einsicht eines stakkatohaften Rhythmus, wenn das
"sie« der zweiten Vershälfte sich nicht zurück, sondern auf das Folgende,
"die Burg«, vorbezöge. Ich muß gestehen, daß ich, noch bevor ich irgend-
welche Konsequenzen zog, beim inneren Hören dieses Verses niemals ohne
eine dritte Atempause hinter »zerbricht sie« ausgekommen bin. Zieht man
die Konsequenz, die ich durch die Setzung des Kommas andeute, so heißt
das, daß "die Burg« ein appositi.onell gestelltes Subjekt ist und daß »zer-
bricht« intransitiv 'gemeint( ist. Ist das richtig? Ist das so gemeint? Die
Frage meint nicht, was der Dichter 'gemeint( hat. Denn was der Dichter
gemeint hat, kann und darf hier nicht binden. Wer ein Gedicht verstehen
will, will verstehen, was das Gedicht ,meint<, das heißt aber, wozu es sich
gefiigt hat, in weIche Gestalt und in welche Bedeutung es einrückte. als die
Sprachbewegung aus ihrem Schwanken und Schweben zu Form und Fixie-
rung gelangte, fiir den Dichter vielleicht genauso überraschend wie für
uns, als eine fremde Fügung. Könnte etwa Folgendes 'gemeint< sein?
Wie erfahren wir endlichen Menschen die Vergänglichkeit? Wie sollen
wir sie erfahren? Angstlich? Sich wehrend gegen die Zerstörung, die droht,
in der hochgelegenen Burg, die so viele Belagerungen und Bestürmungen
im Laufe der Zeit bestand? Sich wehrend gegen die Zeit selbst, diesen
beständig anstürmenden Belagerer? Oder gibt es diesen Angreifer gar
nicht, ist er unwirklich? Ist unsere Vergänglichkeit am Ende ganz anderer
Art, keine Zerstörung, die eintritt, wenn ein ermattender Widerstand zum
Erliegen kommt, sondern ein Vergehen. das >richtig< ist, fast mehr wie ein
»Brauch«, das heißt etwas Gepflogenes und Gepflegtes, jedenfalls etwas,
was keinen Urheber oder gar Schuldigen hat, auch nicht »die Zeit«? Wenn
das die Meinung des Gedichtes sein sollte, dann schiene es sachlich richti-
ger, den Parallelklang des ersten Verspaares des Gedichtes auch als einen
logischen Einklang zu verstehen, indem man in beiden dort gestellten Fra-
gen den gleichen Zweifel an der Richtigkeit der landläufigen Einstellung zu
Zeit und Vergänglichkeit vernimmt.
Gibt es die zerstörende Zeit? Ist unsere beständige Angst davor richtig,
daß unser auf dem ruhenden Berge verteidigtes Sein doch eines Tages der
286 PoeReundIn~rpunkrion

Zerstörung anheimfallt? Das wäre eine echte Fragenverdoppelung. Die


übliche, durch das fehlende Komma der Phantasie nahegelegte Auffassung
ließe dagegen auf den generellen Zweifel der ersten Frage bereits eine neue
Frage folgen, die scheinbar die erste Frage als positiv entschieden voraus-
setzte, indem sie nicht mehr )Ob<, sondern» Wann?« fragt. Oder soll etwa
auf diese zweite Frage: »Wann?« auch eine negative Antwort provoziert
werden, ein )Nie<? Das ist doch kaum möglich. Das Bangen der endlichen
Kreatur ist nicht einfach grundlos. Wohl aber könnte es, auch wenn die
Gewißheit des eigenen Endes zu unserer Daseinsgewißheit dazugehört,
dennoch im Sinne der ersten Frage falsch sein, sich gegen das Verhängnis
unserer Endlichkeit wie gegen einen Feind wehren zu wollen. Eines Tages
werden wir nicht mehr sein. Aber ist es die feindliche Zeit, die hier zerstö-
rend handelt? Ist es überhaupt eine Zerstörung, was uns droht? »Zerbricht«
könnte intransitiv gemeint sein, als Deutung jener geheimnisvollen Le-
bensbewegung des Vergehens, die nur von dem Selbstverteidigungswillen
des Burgherrn her - und das heißt im Grunde: unrichtig - als Zerbrechen
beschrieben würde. Durch eine solche Skandierung erhielte das Versende,
))die Burg«, den Nachdruck, den diese kühne Metapher - die ja auch die
falsche Meinung eines Sichwehrens ausspricht - im Grunde gebieterisch
verlangt, indem sie zur nachgestellten Apposition würde. Was drückt wohl
die angstvolle Erwartung des Irdischen besser aus; der gelassene Ausklang
einer zäsurlosen Frage, die die Wortstellung einer Alltagsfrage hätte - oder
das sich wiederholende Anhalten im Hinzielen auf das Ungewisse des aus-
stehenden Endes, das durch gehäufte Zäsuren und die ungeduldige Vor-
wegnahme des Subjektes »sie«, das heißt l)die Burg«, im Vers nachgebildet
wäre2 ?
Es lassen sich noch einige Beobachtungen hinzufügen, die diese Skandie-
rung nahelegen; so etwa diese, daß das nächste Verspaar einen einzigen Satz
- also unbestreitbar eine einzige Sinnmeinung - enthält. Das legt nahe, daß
auch das erste Verspaar so gebaut ist, das heißt, daß mit der Wann-Frage
nicht etwa ein neuer Gedanke eingeführt, sondern der des ersten Verses
varüert wird. Wenn das zweite Verspaar die Zweifelsfrage des Beginns
seinerseits in aktiver Form, das heißt in transitiver Wendung, wiederholt,
so spricht das nicht gegen unsere Auffassung des ersten Verspaares, denn
jetzt ist ja auch nicht mehr in abstrakter Weise von der Zeit die Rede,
sondern an die Stelle des abstrakten Rätsels der Zeit ist eine mythologische
Person getreten, der gnostische Begriff des Demiurgen. Das ist nicht nur
2 Ich verdanke W. BRÖCKER inzwischen den Hinweis aufRilkes Verse:
Wann ist die Zeit, die diese Dinge mindert?
Ich wartete: doch nie zerbrach der Stein.
(Im Angesicht einer südfranzösischen Burgruine, Les Baux 1909. SämtI. Werke [ed.
Zinn] Bd. 2, S.374).
Poesie und I~rpunktion 287
eine Variation des Ausdrucks, sondern ein Fortschritt im Gedanken, die
Anspielung auf ein ganzes religiöses System, das die Schöpfung dieser
mangelhaften Welt nicht den allvermögenden Göttern, sondern einem my-
thischen Gegenwesen zuschreibt. Auch auf diese zweite Wann-Frage soll
ohne Zweifel die Antwort am Ende negativ lauten - weil es die Wider-
macht gegen das Sein der Götter, vor der wir so in Angst sind, in Wahrheit
gar nicht gibt. Es ist eine gnostische Irrlehre, die unser Menschenschicksal
so vom Kampf der Mächte her deutet.
Die zweite Strophe scheint mir ebenfalls die gemachte Beobachtung zu
bestätigen. Hier wird ganz unzweideutig von uns als den Zerbrechlichen in
intransitiver Wendung gesprochen. Das emphatische •• wirklich« , das die
erste Frage aufnimmt, zeigt deutlich an, daß diese herrschende Meinung
falsch ist. Es ist offenbar ein trügerischer Anschein, den »das Schicksal«,
dieses Wahngebilde eines zwischen Gunst und Ungunst torkelnden We-
sens, in uns erzeugt, die wir ständig voller Wünschen und voll von Hoff-
nung auf das Günstige sind. Es ist dieser Wahn, der die falsche Vorstellung
von der zerstörenden Zeit in uns erweckt .•• Das Schicksal liebt es, Muster
und Figuren zu erfinden ... Das Leben selbst aber ist schwer aus Einfach-
heit« ...; dieser Satz aus dem IMalte( ist wie ein Leitwort überall dort mitzu-
hören, wo der Dichter von Schicksal spricht. Wenn hier, wie so oft bei
Rilke, an die Kindheit erinnert wird und an das tiefe Versprechen, das in ihr
liegt, so ist der entscheidende Punkt darin gerade dies, daß das Kind kein
Schicksal kennt. Es lebt ohne Zeitsinn. so daß ftir es das »Hiersein« herrlich
ist (7. Elegie). In seiner Einfachheit und seinem Einklang mit sich selbst
stellt es eine Wahrheit dar, die die Unwahrheit der Zeitangst, in der wir
leben, offenbart.
Und nun folgt das abschließende Strophenpaar als Antwort auf die Frage
des Anfangs: Wie sollen wir die Zeit erfahren? Diese Frage wird auf eine
unnachahmliche Weise dichterisch beantwortet, durch ein elegisches
»Ach«. ein /lAch«, das die gewohnte Klage über die Vergänglichkeit antönt
- und doch diese Klage von ihrem Grund her gerade zur Aufhebung
bringt, in Versen, deren fallender Rhythmus zugleich einen zauberhaften
Einklang stiftet. Die Klage wird zur Rühmung. Für den, der /larglos emp-
fänglich« ist, das heißt. der wie das Kind nimmt, was kommt, und sich
nicht hoffend und ftirchtend auf sich selbst versteift, ist das Vergängliche
nichts wirklich zu Fürchtendes. Gerade die Vergänglichkeit ist dann ein
»Gespenst« - das heißt: ist selbst unwirklich. vergänglich wie ein Rauch.
Wir dagegen gelten als ein Brauch. das heißt als etwas, das zu dem Bereich
des »Göttlichen«( gehört und in allem Vergehen ein Bleibendes ist. Es gibt
sie nicht. die Zeit, die zerstört.
Das Unnachahmliche dieser Verse ist, daß sie wie eine Klage klingen und
dennoch ein Trost sind. daß in ihnen die Zustimmung zur Vergänglichkeit
288 poesie und Interpunktion

eine neue, bleibende Gültigkeit erhält. Es ist Rilkes eigenster Klang, der
auch am Ende seiner Duineser Elegien lang nachhallend verklingt:
Und wir. die an steigendes Glück
denken. empfanden die Rührung.
die uns beinah bestürzt,
wenn ein GIÜcklichesfiillt.
25. Mythopoietische Umkehrung
in Rilkes Duineser Elegien
(1967)

Alle Interpretation ist einseitig. Sie zielt auf einen Scopus, einen Gesichts-
punkt. der nicht Einzigkeit beanspruchen kann. Vollends. wer Dichtung
interpretiert, kann dies unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten tun. Er
kann gattungsgeschichtlich vorgehen, indem er das vorliegende Gedicht in
eine Tradition von Vorbildern der gleichen literarischen Gattung einreiht, er
kann motivgeschichtlich vorgehen, indem er die Aufnahme und Abwand-
lung bestimmter tradierter Motive verfolgt, er kann die Kunstmittel rheto-
risch-poetischer Art und ihre Bindung zum Ganzen einer >Struktur( heraus-
arbeiten usw. - Er kann aber auch die ursprüngliche hermeneutische Aufga-
be. Unverständliches zu erklären, übernehmen. Und wieder kann er dabei
okkasionell vorgehen (wie das die protestantische Hermeneutik des Neuen
Testamentes und die Philologie bis ins ausgehende 18. Jahrhundert hinein
getan haben) und die Einzelschwierigkeiten, die unverständliche Stellen
bereiten, durch Analyse des Zusammenhangs, Heranziehung von Parallelen
usw. zu beheben suchen. oder er wird von der Einheit des Gesagten ausge-
hen und auszulegen suchen, was das Gedicht sagen will, letzteres vorzugs-
weise bei Dichtungen. die ein hohes Reflexionsniveau besitzen und daher im
ganzen als dunkel und schwer verständlich gelten1.
Rilkes Duineser Elegien gehören zu dieser Art Dichtung und verlangen in
erster Linie nach einer Interpretation dieser Art. Sie ist denn auch reichlich
auf sie gewendet worden, zuerst seitens der Theologen, dann der Philo-
sophen und vieler weltanschaulich engagierter Autoren. - Sie alle folgten
dem Bestreben. das, was die Dichtung sagt, in die Prosa ihrer Gedanken und

1 Der vorliegende Aufsatz verdankt seine Entstehung der Enttäuschung über den in
dem fleißigen Kommentar vonJACOB STElNER (Rilkes Duineser Elegien. Bem/München
1962) vertanen großen Aufwand. Nur schwer habe ich der Versuchung widerstanden. wo
ich es könnte. die detaillierten Einzelerklärungen zu berichtigen. die dort aufgehäuft sind.
Der vorliegende Aufsatz deckt sich mit vielem. was ich in meiner Kritik an GUARD1Nl
bereits vor 12Jahren dargelegt habe (vgl. jetzt in diesem Band, S. 271 ff.). Doch schien mir
das theoretische Interesse an dem hermeneutischen Prinzip eine ausdrücklichere Behand-
lung und die Erprobung am Bei.piel zu erfordern.
290 Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien

die verbindliche Wahrheit ihrer Begriffe umzusetzen. Vom Text und seiner
genauen Einlösung war dabei meist nicht viel die Rede. Engagement des
Interpreten ist zwar aus keiner Interpretation von Dichtung ganz wegzuden-
ken (oder sollte es wenigstens nicht sein). Aber es stellt zugleich eine bestän-
dige VerfUhrung dar, aus dem Text das herauszulesen und herauszuhören,
was den eigenen Vorbegriffen am willigsten entgegenkommt, auch wenn
dabei gegen den Kanon des Verstehens verstoßen wird, der durch die
Sinnkohärenz des Ganzen gegeben ist.
ln jüngster Zeit beginnt die Literaturwissenschaft, die Elegien zu ihrem
Gegenstand zu machen und genau auf den Text zu senen, der ihr freilich
leicht in Wörter zerfällt. So ist der fleißig und gewissenhaft gearbeitete
Kommentar von Jacob Steiner mehr ein Kommentar zu den Wörtern, der
insbesondere mit Parallelen sehr verschwenderisch umgeht. Es ist aber ein
heikles Problem, was bei der Interpretation von Dichtung Parallelen über-
haupt zu leisten vermögen. Zwar haben sie immer einen gewissen Richtwert
für Feststellung des Sprachgebrauchs, Deutung einzelner Motive usw. Aber
wenn es schon sonst in der Philologie sehr schwer und selten ist, Parallelen
zu finden, welche wirklich stimmen, so ist es im Falle der Interpretation von
Dichtung um vieles schlimmer, indem auch die Parallelen, welche stimmen,
die Gefahr mit sich bringen, die durch die Einheit der dichterischen Rede
geweckte Resonanz zu verstimmen.
Wenn man heute, in einer Epoche, die durch die Welle einer neuen
Aufklärung hochgetragen wird und der poetischen Aussage einen immer
beengteren Raum läßt, so daß sie mit Entschiedenheit das Pathos der Nüch-
ternheit, der Untertreibung, der epigrammatischen Andeutung und des
reportagehaften Streiflichtes hervorkehrt, auf Rilke zurückkommt, der in
den dreißiger und frühen vierziger Jahren der Dichter war, der das Zeitbe-
wußtsein, VOr allem das der )Gleichschaltung! widerstehende Bewußtsein,
durch den extremen Manierismus seiner Sprachgebärde am tiefsten zu bestä-
tigen vermochte. ist es eine Bewußtheit anderer Art, die von einem verlangt
wird. Zwar ist es ein allgemeines Bedürfnis, das wir aller Dichtung gegen-
über empfinden, »zu begreifen, was uns ergreift« (E. Staiger), aber im
Vergleich zu den engagierten Umsetzungen, die hinter uns liegen, hat dieses
Bedürfnis eine andere Gestalt angenommen. Nicht im Sinne der literatut-
wissenschaftlichen Analyse und Kommentierung, aber auch nicht im Sinne
jener vorengagierten Applikationen, sondern so, daß über allen Abstand
eines gewaltig veränderten Lebensgefühls hinweg das dichterische Wort
Rilkes, das noch immer von der unstreitigen Präsenz großer Dichtung ist,
nach der Klärung des Horizontes verlangt, der es umschließt. Endlich
scheint es an der Zeit, in ausdrücklicher Entfaltung des hermeneutischen
Horizonts das Reflexionsniveau zu erreichen, auf dem Rilkes Dichtung sich
bewegt, und aus dem herauszubewegen, in unmittelbare Verkündigung von
MydlOpoietischc Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 291
Wahrheit theologischer oder philosophischer Art. das Anliegen der Ausle-
ger ehedem war2.
Wer das Reflexionsniveau gewinnen will. auf dem die Duineser Elegien
zu Hause sind. muß sich zunächst VOn allen theologischen und pseudoreli-
giösen Vorgriffen freimachen. als ob auf dem diskreten Umweg über den
Engel hier von Gott die Rede wäre. Wovon die Elegien reden. läßt sich
vielmehr auf einem sehr einfachen. hermeneutisch gebotenen Wege ausma-
.chen, und es ist erstaunlich. daß die bisherige Rilke-Literatur diesen Weg
.noch nicht beschritten hat. Ich meine die Tatsache. daß noch zu dem Zeit-
punkt, als die in ihrer Entstehung sich über ein Jahrzehnt hinziehenden
Elegien vom Dichter zum Zyklus geordnet und rur die Publikation bereit
gemacht wurden, die damals flinfte Elegie gegen eine neu entstandene
ausgetauscht wurde. Wir lesen das Gedicht, das der neuen Elegie weichen
mußte, unter dem Titel ,Gegen-Strophen<.
Daß es dem neuen Gedicht. das wir als die Elegie der Fahrenden kennen,
weichen mußte. erklärt sich leicht. Die heutige fünfte Elegie 1/ildet mit den
anderen neun eine weit bessere stilistische Einheit - die gleiche weit hinrol-
lende Versbildung, die gleiche weit ausholende Sinngebärde, die gleiche
kunstvoll-indirekte Bilderwelt. Dagegen gehen die ,Gegen-Strophen< ihr
Thema, wenn auch auf kunstvolle Weise, unmittelbar an und fallen durch
ihre fast strophisch wirkende Responsionsform auch formal ganz heraus.
Um so wichtiger ist es aber, daß dies Gedicht einmal die Stelle der fiinften
unter diesen zehn Elegien einnehmen konnte. Die direkte, unverschlüsselte
Aussage, die es macht, empfangt damit echte Verbindlichkeit für das Ganze.
Sie gibt ein zentrales Thema der Elegien an:
Oh, daß ihr hier, Frauen, einhergeht,
hier unter uns, leidvoll,
nicht geschonter als wir und dennoch imstande,
selig zu machen wie Selige.

Es ist das Thema, das in den Sonetten an Orpheus so heißt:


Nicht ist die Liebe gelernt.
Auch die fünfte' Elegie klingt in dieses Thema aus, wenn sie den scheinhaften
Aufbau der Artistengruppe auf das Sehnsuchtsbild hin wendet, das die
wahrhaft glückliche Vereinigung der Liebenden darstellen würde.
Wie alle Elegien sind auch Rilkes Duineser Elegien Klagegesänge. Was
geklagt wird, ist die Unerreichbarkeit des wahren Glücks für die Liebenden,
oder besser: die Unfähigkeit der Liebenden. und vor allem des liebenden
Mannes, so zu lieben, daß wahrhafte Errullung möglich würde. Damit aber
Z Die Hinweise. die ich in meiner obigen GUARDlNI-Kritik vor 12 Jahren zu geben
suchte. sind. wie das Beispiel STEINERS lehrt. überhaupt nicht vermerkt worden.
292 MythopOictische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien

weitet sich das Thema der Elegien ins Allgemeinere. Es geht um die Unkraft
des menschlichen Herzens, sein Versagen vor der Aufgabe, sich ganz seinem
Fühlen hinzugeben. Die )Gegen-Strophen< wissen davon zu klagen, daß die
liebende Frau dem Manne darin voraus ist. AhnIich setzt mit den »unend-
lich« Liebenden, den Verlassenen und dennoch Liebenden, das Elegienwerk
ein. Aber der Raum, den es ausschreitet, reicht weiter. Mit der Erfahrung
der Liebe ist die Erfahrung des Todes verknüpft, beides offenbar Erfahrun-
gen, deren Forderung zu groß ist, als daß das menschliche Herz an ihnen
seines Versagens nicht inne würde. Insbesondere sind es die junge~ Toten,
an denen der Klagende der Unkraft seines Herzens sich bewußt wird. Was er
nicht vermag, ist offenbar, es hinzunehmen, wie es ist, trauernd und kla-
gend, aber ohne in Anklage gegen die Grausamkeit solchen Geschickes zu
verfallen, wie es der Tod von Kindern und Jugendlichen ist: lIdes Unrechts
Anschein« gilt es abzutun.
So etwa läßt sich die Ausgangserfahrung und der ganze Umfang dessen
umschreiben, wovon die Elegien sprechen. Von diesem Vorverständnis
dessen, wovon hier die Rede ist, das einem die Dichtung sdber aufnötigt,
muß ausgegangen werden, wenn man zu verstehen sucht, wie davon die
Rede ist, das heißt, es muß der Verständnis- und Auslegungshorizont ge-
wonnen werden, innerhalb dessen die dichterische Aussage in Genauigkeit
vollziehbar wird.
An der Spitze steht die Frage, 'Was der Engel der Elegien bedeutet. Es
bedürfte gar nicht der Selbstinterpretation, die Rilke gegeben hat und die
von ihm ohnehin allzuweit in eine spiritualistische Dogmatik hinein ausge-
folgert wird, um diese Frage zu beantworten. Der Engel ist zwar ein über-
menschliches Wesen und wird als das uns im Fühlen unendlich übertreffende
Wesen angerufen, aber in keiner Weise erscheint er als ein Bote oder Stellver-
treter Gottes und bezeugt überhaupt keine Transzendenz im religiösen
Sinne. Wenn Rilke ihn einmal den Garanten des Unsichtbaren nennt, so ist
auch diese Kennzeichnung alles andere als theologisch. Das Unsichtbare ist
das, was sich nicht sehen Und greifen läßt, und das dennoch Wirklichkeit hat.
Im menschlichen Herzen ist es die Wirklichkeit seines Fühlens, das eine
solche unstreitige Gewißheit beansprucht, ohne sich ausweisen zu können.
Sie hat sich daher gegen die utilitaristische Skepsis eines massiven Realismus
zu behaupten, der den Luxus der Geflihle verachtet. Wenn nun das Bestehen
auf der Wirklichkeit dessen, was wir fiihlen, von dem Engel bestätigt wird,
so heißt das, daß die Bedingtheit und Halbheit unserer Geftihle, die an ihrer
Wirklichkeit Zweifel erwecken könnte, im Engel über alle Bezweiflung
hinausgehoben ist. Sein Fühlen ist so unbedingt und unzweideutig, ,vie das
menschliche Herz es nur in seltenen Augenblicken zu empfinden vermag.
Es ist also eine höchste Möglichkeit des menschlichen Herzens selber, die
hier als Engel angerufen wird - eine Möglichkeit, vor der es versagt, die es
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 293

nicht zu leisten vermag, weil den Menschen vieles bedingt und zur Eindeu-
tigkeit und uneingeschränkten Hingabe an sein Fühlen unfähig macht. Die
dichterischen Situationen, in denen von uns und dem Engel in den Elegien
die Rede ist, bestätigen das: »Ich verginge von seinem stärkeren Dasein«,
»hochaufschlagend erschlüg uns das eigene Herz«, »wir. wo wir fühlen.
verflüchtigen«, der Engel der vierten Elegie, der »über uns hinüberspielt«.
und dann immer der Engel, dem etwas gezeigt wird: das mühsame Lächeln
des Artistenkindes, die Mühsal des Artistenschicksals, aber auch die großen
Werke menschlicher Kunst, in die Gefühl eingegangen ist, und - diesseits
aller hohen Gefühle - die Welt der Dinge: immer ist es etwas, vor dem das
menschliche Herz zu versagen pflegt, indem es achtlos darüber hinsieht.
Immer ist es die Macht und Ohnmacht des menschlichen Fühlens, die an den
Engel denken läßt als den, dessen Fühlen nicht dUrch das Fühlen von
anderem begrenzt ist, sondern ihn so einnimmt, daß sein Gefühl mit ihm
ganz und gar identisch ist. Ein Gefuhl, das sich nicht verflüchtigt. sondern in
sich steht, das heißt bei Rilke »Engel«, weil solches Fühlen den Menschen
übertrifft. Die Frauen, wie sie in der ersten der >Gegen-Strophen< angespro-
chen werden, gelten dem Dichter als dem Engel ein klein wenig näher.
Sicherlich hat Rilke die Engel-Theologie des christlichen Mittelalters
überhaupt nicht gekannt. Gegen die Verbindung mit der Engel-Vorstellung
des Christentums hat er sich bekanntlich sogar ausdrücklich gewehrt.
Trotzdem liegt in der Idee >Engel< ein ontologisches Problem, das offenbar
überall durchschlägt: Daß der Engel mit seinem Auftrag identisch ist und
daher keine >Zeit< im Sinne des menschlichen Zeitbewußtseins, weder Zeit
noch Ewigkeit besitzen kann, hat das mittelalterliche Denken sehr beschäf-
tigt3 . Auch der Engel der Elegien ist weder eine menschliche noch eine
göttliche Erscheinung - er erscheint überhaupt nicht, sofern das menschliche
Herz die Eindeutigkeit nicht aufbringt, die ihn herbeirufen könnte (» Wider
so starke Strömung kannst du nicht schreiten«). Der Anruf des dichterischen
Ich an den Engel ist kein Rufen, das jemanden herbeiriefe. Eher schon ist es
die Anrufung und der Aufruf eines Zeugen, der das, was man selber weiß,
bestätigen soll. Was man selber weiß, wessen man so inne und innerlich
gewiß ist, daß es von einem selbst untrennbar ist - das ist es, was hier (mit
Rilke) Fühlen und Gefuhl genannt wird. Ansicht und Anblick können sich
ändern, können aufgegeben werden, verschwinden usw. - das Gefühl, dies
Allerflüchtigste, das halten zu wollen, das überhaupt zu wollen unsinnig ist,
behält eine unzweideutige Wirklichkeit, in der überhaupt nichts anderes ist
als es selbst, das einen, wie wir sagen, vollkommen einnimmt und erflillt.
Was bedeutet es aber, wenn dieser Grenzbegriff unseres eigenen Seins als
Engel, das heißt als eine handelnde Person, angerufen wird? Hier muß eine

3 VgJ. TaOMAS. De instantibus (Baeumker. lmpossibilia des Siger von Brabant 160ff.).
294 Mythopoiecische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien

hermeneutische Besinnung darüber eirtsetzen, wie überhaupt dichterische


Rede verstanden wird. Alle dichterische Rede ist Mythos, das heißt, sie
beglaubigt sich selbst durch nichts als ihr Gesagtsein. Sie erzählt oder spricht
von Taten und Ereignissen und fmdet doch nur Glauben - aber sie findet
ihn -, sofern wir selbst es sind, die sich in diesen Taten und Leiden von
Göttern und Großen begegnen. So reizt die Mythenwelt der Antike bis zum
heutigen Tage die Dichter immer aufs neue, sie zu gegenwärtiger Selbstbe-
gegnung zu erwecken. Darin ist oft die raffinierteste Bewußtheit am Werk,
sofern der Dichter die eigenen dichterischen Vorfahren auch im Leser mitge-
genwärtig weiß. Überhaupt ist der Verständnishorizont, in den der Dichter
hineinspricht, hier auf eine verläßliche Weise vorbereitet.
Freilich heißt es auch dann nicht, daß der antike Mythos noch eine
religiöse Wahrheit hätte, und doch bleibt er verständlich, auf eine Weise, die
zum Begriff zu erheben freilich immer nur über die Interpretation gelunge-
ner dichterischer Erweckungen möglich ist. Als Walter F. Otto vor Jahr-
zehnten mit dem leise schwärmerischen Ton des Eingeweihten von den
homerischen Göttern so zu reden wußte, daß man etwas verstand, d. h. nicht
nur religiöse Fremdheiten zur Kenntnis nahm, sondern aus menschlichen
Erfahrungen zu diesen Göttern Zugang gewann, trug ihn Homer (und als er
Dionysos, nicht ohne Tiefsinn und Feinheit, aufzuschließen unternahm,
kam er, weil ihm die erweckende Dichtung fehlte, nicht über Nietzsche
hinaus)4. Das Prinzip des Verstehens ist in all solchen Fällen auf eine Um-
kehrung gegründet: Was sich als das Handeln und Leiden von anderen
darstellt, wird als das eigene leidende Erfahren verstanden. Auch der in der
heutigen Theologie so vielumstrittene Begriff der »Entmythologisierung«
impliziert insofern das Prinzip dieser Umkehrung, als der Sinnkreis der
religiösen Verkündigung des Neuen Testamentes sich von dieser Umkehr-
barkeit in ein menschliches Glaubensverständnis her begrenzts.
Man muß sich dieser hermeneutischen Voraussetzung vergewissern, um
die besondere dichterische Verfahrensweise Rilkes zu begreifen. Hier wird
nicht mehr die mythische Überlieferung der Antike und ihre christliche
Durchdringung, die noch das Zeitalter des Barock zu einer allegor'enfreudi-
gen Dichtung vermochte, weitergetragen, auch nicht in der Form bewußter
Neuerweckung, wie das etwa für Hölderlins dichterisches Spätwerk gilt.
Hier ist keine mythische Welt mehr, aber was geblieben ist, ist das Prinzip
der dichterischen Umkehrung. Bei Rilke wird es zur mythopoietischen

4 WALTER F. OTTO, Die Götter Griechenlands (Bonn 1929); Dionysos (Frankfurt 1933).
S Freilich definiert R. BULTMANN ,Mythos< und ,mythisches Weltbild< gerade als das
Gegenteil des Kerygmas, das im Glauben ,verstanden< wird. Aber das ist eine fragwürdige
Abhängigkeit von dem Weltbild der' WISsenschaft •• die das hermeneutische Prinzip nicht
einschränken kann. Vgl. ,Zur Problematik des Selbstverständnisses< in Ges. Werke Bd. 2,
S.121-132.
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 295
Umkehrung: Die Welt des eigenen Herzens wird in der dichterischen Sage als
eine mythische Welt, das heißt eine Welt aus handelnden Wesen, uns entge-
gengestellt. Was die Reichweite des menschlichen Fühlens übertrifft, er-
scheint als Engel. die Erschütterung über den Tod junger Menschen als der
junge Tote, die Klage, die das menschliche Herz erfiillt und die dem Toten
folgt. als ein Wesen. dem derjungeTote folgt, kurz, die ganze Erfahrungsdi-
mension des menschlichen Herzens ist es, die in die Selbsttätigkeit freien
personalen Daseins poetisch freigesetzt ist. Es ist die Selbstvergessenheit des
mythischen Bewußtseins, die Rilke leitet. Durch seine hohe manieristische
Kunst gelingt es ihm, in einer mythenlosen Gegenwart die Erfahrungswelt
des menschlichen Herzens ins Mythisch-Dichterische zu erheben.
Die hermeneutische Folgerung ist klar. Das mythologische Phänomen
verlangt seinerseits eine Art hermeneutischer Umkehrung. Man muß die
dichterische Aussage zurückübersetzen. Die methodische Schwierigkeit be-
steht hier aber darin, daß das Zurückzuübersetzende selber schon ein Zurück-
übersetztes war. Wenn sonst die große mythische überlieferung in neuer
dichterischer Erweckung gleichsam angestrahlt wird und von diesem Licht
her ins Unausdeutbare verdämmert, hat die mythische Wirklichkeit, die in
Rilkes dichterischer Rede unversehens begegnet. jeweils die genauen Kontu-
ren einer bloßen Rückspiegelung einer diesseitigen Erfahrung. Sie umzuspie-
geln und als lesbare Schrift in unser Verständnis zurückzuübertragen darf
nicht so geschehen, wie etwa in Zeiten gebundener allegorischer Dichtungs-
form eine Zuruckübersetzung in die Prosa des Gedankens das dichterische
Verständnis ständig begleitet. Hier ist keinein sich stimmige Welt mythischer
Gestalten oder ausdrücklich vorbereiteter Vergleiche, die unserem heutigen
Verständnis aufzuschließen die hermeneutische Aufgabe wäre. Es ist viel-
mehr ein plötzliches und unvermutetes Anklingen von Stimmigkeiten. von
denen aus sich ein fast hermetisch scheinendes dichterisches Gebilde in unser
Verständnis hinein ausbreitet. Es bleibt immer etwas von Unstimmigkeit in
solchem Verstehen. Aber gerade die Unstimmigkeit im Anklingen solcher
Stimmigkeiten ist es, die die dichterischen Ränder bewegt sein läßt.
An zwei Elegien soll im folgenden die konkrete Durchfiihrung des Prinzips
der mythopoietischen Umkehrung vorgelegt werden. Beginnen wir mit der
vierten Elegie. Gleich ihr Einsatz gibt Anbiß, unser Prinzip zu erproben. Der
Anruf» 0 Bäume Lebens« meint uns. Es ist falsch, den zweiten Vers mit einer
Betonung auf »wir« zu lesen. Der Ton liegtaufdem Nichteinigsein: »Wir sind
nicht einig«. weil wir nicht wissen. wann unser Winter ist. wie Lebensbäume.
die immer grün sind. Aber das klingt nur an, denn selbstverständlich sind
»Bäume Lebens « nicht Lebensbäume. Die großartige Fügung des Eingangs-
verses beruht vielmehr auf der Unverkennbarkeit der Selbstanrede: von uns
ist die Rede. klagend. Wir gleichen nicht den Zugvögeln. die ihre Zeit kennen.
und nicht den Löwen. die so sehr mit ihrem königlichen Gange eines sind. daß
296 Mythopoictischc Umkehrung in Rilkcs Duinescr Elegien

Ohnmacht. das heißt Wollen von etwas. was man nicht kann. sie nicht
erreicht.
An diesen Gegenbildern einer Einigkeit wird die Entzweitheit und Ge-
waltsamkeit jedes menschlichen Verhaltens klagend bewußt. und aus dem
vorbereiteten Vorverständnis heraus ist klar, daß es vor allem die Liebenden
sind, die das menschliche Verhalten hier repräsentieren. Die Halbheit unse-
res Herzens und die Begrenztheit, mit der es sich auf seine Getuhle einläßt, so
daß wir »den Kontur des Fühlens(e überhaupt nicht kennen, läßt uns immer
wieder zurückfallen aus unserer Hingabe. Der Dichter nennt dies übermäch-
tige Auf-uns-selbst-Bestehen, das die Hingabe tur den anderen begrenzt,
geradezu »Feindschaft«. Die wirkliche Hingabe wird dem Gegenteil, eben
dem Auf-sich-Bestehen, nur »rur eines Augenblickes Zeichnung« abge-
wonnen. Das will sagen: dieses Auf-sieh-Bestehen ist in uns so beständig
und allhin ausgebreitet wie der Grund. von dem sich eine Zeichnung abhebt.
»Man ist sehr deutlich mit uns(e - die Erklärer haben sich gefragt, wer dieses
»man« ist. Es ist ein einfacher Fall mythopoietischer Umkehrung: Wir sind
es, die miteinander so deutlich sind, indem wir die Augenblicke wirklichen
Einklangs durch soviel Widerstand, Vorbeihören, Aufsichbestehen vorbe-
reiten, als ob wir das mit Absicht täten, damit die Hingabe auch als solche
bemerkt werde. Natürlich heißt »manee nicht »wir«, sondern es meint uns,
wie wir nicht anders können, wie es mit uns geschieht, als wären wir gar
nicht wir.
Eben diese Erfahrung, daß es mit uns geschieht, liegt der Metaphorik des
ganzen Folgenden zugrunde, der Vorstellung, vor seinem eigenen Herzen
wie vor einer Bühne zu sitzen, in banger Erwartung dessen, was sich auf ihr
abspielen wird, als wären wir gar nicht wir. Die Bangigkeit, mit der wir dem
Auftritt entgegensehen, beruht darauf. daß wir wissen, niemals ganz in dem
Gefühl aufgehen zu können, das uns erfllllt, das Einssein mit unserem
Gefühl nicht so festhalten zu können, wie der Engel es kann, dieser» Tumult
entzückten Gefühls«, d. h. der sich ständig steigernden Erfiilltheit des Füh-
lens. Deshalb ist die Szenerie auf dieser Bühne des Herzens »immer Ab-
schied«. Damit sind nicht die zu Ende gehenden Liebeseriebnisse gemeint,
sondern das vorgängige Wissen darum, daß wir der Aufgabe nie ganz
gewachsen sind, mit unserem Fühlen ganz einig zu sein. In mythopoieti-
scher Umkehrung gewinnt das die Fonn, daß »der Tänzene auftritt, der auf
einer kulissenhaft schwankenden Bühne ein falsches Schauspiel gibt. Der
Garten, der uns das Entgegenblühen verspricht, ist falsch, die Einl).eit von
Mensch und Tanz ist nur vorgetäuscht. Man vergißt des Tänzers Privatexi-
stenz nicht, die des »Bürgers«, der sich anstrengt, wenn er seine Rolle spielt,
und der sich gehen läßt, wenn er nach Hause kommt. Der Tänzer repräsen-
tiert auf diese Weise die Halbheit - und das heißt: die Angestrengtheit,
Gewolltheit des menschlichen Fühlens.
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duincser Elegien 297
Und doch sitzt vor der Bühne des eigenen Herzens der Dichter in der
Erwartung des vollen ungebrochenen Auftritts eines wahren Geftihls. In
dieser Erwartung seines Herzens, das stets die eigendiche Liebe, die alles
auslöschende Hingabe erwartet, läßt er sich nicht beirren. Er ruft Zeugen
daftir an, daß es Sinn hat, vor der Bühne des eigenen Herzens das wahre und
ganze Fühlen zu erwarte!"!: vor allem den Vater. Wieder hilft uns die mytho-
poietische Umkehrung, genau zu verstehen. Von dem Vater, der längst tot
ist, wird gesagt, er habe "Gleichmut, wie ihn Tote haben« - und er gebe
diesen Gleichmut fur uns auf. Man versteht, daß umgekehrt der Tote für uns
so da ist, daß wir seinen Verlust mit Gleichmütigkeit zu verschmerzen
gelernt haben. Doch wird dieser Gleichmut in gewissen Lebenssituationen
gestört. Es gibt ausgezeichnete Lebensaugenblicke, in denen das Vor-Ich,
der Vater, einen Augenblick aus seiner gleichmütigen Verborgenheit her-
austritt. Man denkt an ihn dort, wo man ernste Entscheidungen wagen
muß. Und wenn am Ende der Engel kommen muß, die Puppenfiguren an
Drähten zu ziehen, so ist auch damit wieder eine Wahrheit des Selbstver-
ständnisses beschrieben, nämlich daß es Erfahrungen und Entscheidungen
unseres Herzens gibt, in denen keine Willkür, kein freies Belieben mehr ist
und überhaupt kein Auseinandertreten von Wollen und WoIlen, kein Ent-
zweitsein im eigenen Herzen mehr. Es ist dann wirklich so, als wäre es ein
uns übertreffendes Wesen, das uns einnimmt.
Daß es überhaupt möglich ist, so unzweideutig zu sich selber und zu
seinem eigenen Fühlen zu stehen, dafür gibt der Dichter im folgenden zwei
Zeugnisse: die Sterbenden und das Kind. Der Sterbende, der mit sich selbst
schon abgeschlossen hat, durchschaut das Vorwandhafte aller Dinge um ihn
her mit ungetrübter Klarheit. Man denke an den Tod des Iwan Iljitsch von
Tolstoi: die Verwandtenbesuche, die Kollegenbesuche, die falsche Munter-
keit und den Krampf einer scheinbaren Zuversicht - mit einem fast mitleidi-
gen Blick verfolgt der Sterbende die falschen Anstrengungen der Lebenden,
ihm sein Sterbenmüssen zu verbergen. Soviel mehr ist er schon mit sich
einig.
Und dann das Kind. Dieser Zeuge des richtigen Einsseins mit sich selbst
bleibt bis zum Schluß des Gedichtes gegenwärtig. Das Kind kennt ein
vollständiges Aufgehen im Augenblick, von dem her selbst noch sein Spiel-
zeug etwas von der gleichen Unbedingtheit erhält. Denn für das Kind ist das
Spielzeug im einen Augenblick alles 1:lnd im nächsten Augenblick nichts.
Wie da so gar keine Kontinuität in Anspruch genommen wird, kommt
heraus, was die Existenz des Kindes ausmacht,. volle Präsenz. vollständiger
Mangel an Vergangenheit und Zukunft. So ist in dem Kind die Ganzheit des
Fühlens repräsentiert, das ungeteilte Einverständnis mit sich selbst.
Es währt bis in die äußerste Zumutung des Todes hinein. Es ist eine Kette
rhetorischer Fragen: »Wer zeigt ... «, nWer stellt ... <C, »Wer macht ... <C, die
298 Mythopoietische Umkeluung in Rilkes Duineser Elegien

das Unbeschreibliche explizieren. Denn niemand kann das. So unbeschreib-


lich ist es, wie ein Kind dastehen kann, ganz in sein eigenes gegenwärtiges
Sein aufgegangen, ein unerreichbares Vorbild ungeteilter und gesammelter
Zuwendung. Auch das Kind hat sein Schicksal (es ist ))ins Gestirn« gestellt),
aber es hat dabei )) das Maß des Abstands«. Was ihm widerfährt, ist alles nicht
von der Art, daß es ihm nachhängt, grollend oder vermissend oder sehnend,
sondern es ist »mit Dauerndem vergnügt«, - eine wunderbare Prägung des
Wortes )vergnügt(, in der das Genügende und das Vergnügte zur Einheit
geworden sind. Das Kind hängt nicht ab von dem, was ihm widerfährt:
Wenn ihm ein Spielzeug zerbricht, ein Spiel zerstört wird, wenn es wegge-
rufen wird oder sonst irgendeinen Kummer hat - wie bekommt es das Kind
eigentlich fertig, aus dem äußersten Kummer so leicht in das seligste Lächeln
überzugehen, und woher hat es diesen Abstand zu allem, was ihm wider-
fahrt?
Seine letzte Probe und eigentliche Bewährung findet dieses große Beispiel
des Kindes im sterbenden Kind. Die Weise, wie das Kind nicht nur sein
Spielzeug und alles, woran es im Leben hängt, zu lassen versteht und schnell
getröstet ist, reicht noch bis dahin, wo das Kind das Leben läßt, wenn es
stirbt. Ein Kind, das sterben muß, ist so, wie wenn graues Brot hart wird, so
natürlich und bruchlos ist der Vorgang. - Es mag auch ein folkloristisches
Element in der Wendung »Wer macht den Kindertod« stecken, denn ein
soiches plastisches Verfahren, aus Brot Figuren zu bilden, die durch das
Verhärten ihren eigentlichen Ausdruck gewinnen, soll in bäuerlichen Ge-
genden Böhmens bestanden haben. Aber es scheint mir ganz unwichtig, ob
Rilke wirklich an solchen Volksbrauch denkt. Daß die Sinnrichtung dieses
Bildes richtig von uns bezeichnet wird, bestätigt sich durch das »oder«. Das
Bild springt: Erst wird der Tod gemacht, und nun läßt man den Tod im
runden Mund des Kindes, ))wie den Gröps von einem schönen Apfek Was
der Dichter nun evoziert, ist der eigentümlich bange Ausdruck, den das
kleine Kind annimmt, wenn es beim Essen etwas nicht durch die Kehle
herunterbekommt. Die Pointe dabei ist das Festhalten daran. Das Kind will
das nicht hergeben, woran es doch würgt. So sehr gehört ihm das Süße und
das Bittere zusammen. Beide Metaphern wollen offenbar das für uns unvor-
stellbare Verhältnis von Einigkeit ausdrücken, in dem ein Kind den Tod
willig hinnimmt. Uns scheint der Tod nur als das feindlich Gewaltsame
vorstellbar, dem man nicht zustimmen kann. Daher: »Mörder«. -
Wenn uns die einhei tlich durchgehaltene Thematik der vierten Elegie, wie
sie die Eingangsfrage stellte: Wann ist unser Fühlenje unentzweit? - immer
wieder durch das Prinzip der mythopoietischen Umkehrung den Zugang
zum Verständnis im einzelnen eröffnet hat, so ist die zehnte Elegie, die Rilke
selbst für die am meisten gelungene gehalten hat, in ihrem ganzen Aufbau
von diesem Prinzip beherrscht. Hier kann man die Interpretation besonders
Mychopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 299
weit in die Rückübersetzung hineinfUhren. Doch soll im folgenden nur
summarisch verfahren werden.
Das Thema, das sofort mit der ersten Anrufung gestellt wird, ist die
Bedeutung des Schmerzes fiir das menschliche Leben und die Verkehrtheit,
die in unserem Verhalten zum Schmerz liegt. Schon in dieser Anrufung des
Proömiums begegnet eine wunderbaremytbopoietische Umkehrung: Die
Nächte werden als »untröstliche Schwestern« bezeichnet, das heißt, sie
werden mit dem sprechenden Ich brüderlich-schwesterlich zusammenge-
schlossen, als ob sie sich nicht trösten ließen, sondern sich ganz dem
Schmerz hingäben. Natürlich ist es der Mensch, der sich in der Nacht ganz
seinem Schmerze hingibt, weil er in nichts mehr flüchten kann, das ihn
ablenken könnte. Die Angst vor der Nacht, die der von Kummer oder
Schmerzen Verfolgte hat, ist ein Grundmotiv Rilkes vor allem auch in den
>Aufzeichnungen des Malte Laurids Briggec, dem ersten Werk Rilkes, das
die Höhenlage des Spätwerkes erreicht.
Rilke nennt uns »Vergeuder der Schmerzen«, das heißt, wir halten mit
dem nicht haus, was wir doch ständig brauchen und was uns unentbehrlich
ist. - Es ist nicht der Ort, das Thema des Schmerzes und seines Unterschie-
des von der Freude hier in sich zu betrachten. Aber jedermann weiß, daß
Schmerz nach innen treibt und eben deshalb vertieft. Ein von Freude ver-
klärtes Gesicht ist gewiß etwas Wunderbares, aber nur der Schmerz zeichnet
ein Gesicht. Das weist auf die innere Zugehörigkeit des Schmerzes zum
Leben. zum Bewußtsein. zum Wissen um uns selbst. Die beständige Gegen-
wart des Schmerzes wird bis in die Vokalisation hinein laut in der Zeile
»Stelle. Siedelung. Lager, Boden. Wohnort«. die eine immer tiefer sich
eintönende und damit immer bestandhaftere Präsenz ausspricht.
Statt dessen sehen wir, wie wenig der Schmerz in unserem menschlichen
Dasein noch Raum hat. An der ganzen Falschheit des Friedhofs am Rande
der Stadt wird das sichtbar gemacht. und wieder ist es der Engel. das Wesen.
das keine halben Gefühle. keine Entzweitheit im Fühlen kennt, vor dem von
all diesem angeblichen Leid nichts bliebe (er zerträte es »spurlos«). Und
daher die bittere Formel vom »Trostmarktcc, wo man durch das Beerdi-
gungsinstitut sozusagen die Leidsymbolik durch Geld ablöst. Man braucht
nur an die antiken griechischen Grabstelen zu denken. die »attischen Stelen«
der zweiten Elegie, um am Kontrast zu wissen. daß die Grabdenkmäler
unserer Friedhöfe wirklich »aus der Gußform des Leeren der Ausguß« sind.
Wie das Leid hier nur eine falsche. weggedrängte Randstellung hat. ist das
wirkliche Leben für die Menschen eine Art ständiger Jahrmarkt. die Jagd
nach einem Glücke und nach der Illusion von Freiheit, die allen Gedanken an
das Leid übertönen. Ohne im einzelnen auf die Schilderung dieses »Jahr-
markts« des Lebens einzugehen, ist doch deutlich. was in diesem falschen
Leben die eigentliche Geltung hat: Erfolg und Geld. Dort, wo es sich ums
300 Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duinesec Elegien

Geld handelt, fangt es bei den Menschen an, ernst zu werden. Das wird hier
durch die Wendung »flir Erwachsene(! evoziert: Das Geld ist etwas, worüber
man eigentlich nicht redet (wie über das Geschlechtliche) und das doch
gerade das ist, worauf alle aus sind. Dieser Jahrmarkt ist eingezäunt, und an
den Planken des Zaunes hängen Plakate des Bieres »Todlos«. So wird uns
noch einmal eingeschärft, daß es der Sinn des ganzenjahrmarktes ist, zu tun,
als gäbe es den Tod nicht. Wenn man zu diesem Bier »frische Zerstreuun-
gen« kaut, heißt das also: Man betäubt den Gedanken an den Tod, indem
man sich in Zerstreuungen stürzt.
Hinter dem Jahrmarkt des Lebens, in dem alles falscher Flitter ist, sind erst
die wahren Gefühle anzutreffen: spielende Kinder, inein~der ganz versun-
kene Liebespaare, Hunde. die endlich einmal aus ihrer beständigen mensch-
lichen Gefangenschaft freigelassen sind - und hier nun zieht es den Jüngling
weiter. Der Ton liegt auf »Jüngling«. Jünglinge sind. so will das Gedicht
sagen. noch nicht gleich so vernünftig wie die Erwachsenen. Sie sind noch
verschwenderisch mit ihren Geflihlen. sind noch fähig, über etwas nicht
hinwegzukommen. sich einzugestehen. daß etwas nicht richtig ist und daß
man sich damit nicht abfInden soll. wie es ist. Für sie hat das Geld noch nicht
eine solche Faszination, und deshalb gibt es rur sie noch die Klage. Wieder ist
es mythopoietische Umkehr, wenn derjüngling der Klage folgt, von ihr wie
angezogen - er geht ihr nach, von etwas angerührt, das ihn bezaubert, bis er
am Ende in den Ernst und die Wirklichkeit des Lebens sich zurückwendet.
Er mag nicht länger wehmütig und fruchtlos dem Gedanken über die
Verkehrtheit der Wirklichkeit nachhängen, und so läßt er das Klagen.
Dann aber ist - als wäre das nur ein Weiteres in einer einheitlichen
Erzählung - von den »jungen Toten« die Rede, bei denen es anders ist. Sie
kehren nicht wieder um, sondern folgen der Klage. Man versteht hier nichts,
wenn man nicht versteht, daß nicht die Toten der Klage folgen, sondern daß
die Klage der Hinterbliebenen den Toten nachgeht, und vor allem den
jungen Toten. Hier ist die Klage gleichsam noch legitim, so daß es einem
niemand verdenkt, wenn man sich zur Klage bekennt.
Nun wird die mythische Welt der Klagen, in die der Tote eingeht,
aufgebaut, und gewiß soll man fortan nicht in eine frostige Allegorie umW-
sehen, was nicht im einzelnen verglichen, sondern im ganzen verzaubert ist.
Aber es bleibt klar, daß hier von der Klage geredet wird, die dem Toten gilt,
und zwar so, daß der Tote wie ein Subjekt des Vorganges erscheint, indem
er mit der Klage ist, die ihm gilt. Wenn sich die Klage Mädchen gegenüber
anders verhält als Jünglingen, so darf man auch darin wieder etwas von dem
Wesensunterschied spüren, den Mann und Frau im Verhältnis zur Klage
haben. Wenn die Klage mitJÜDglingen »schweigend« geht, dann liegt darin
etwas davon, daß der Jüngling sich der Klage nicht so frei hingibt wie das
Mädchen. So soll man es sehen.
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 301

Der Dichter folgt dem jungen Toten in das Reich der Klagen. Was der
Dichter zunächst zeigt, ist, daß die Klage ihren Ort in unserer Welt verloren
hat. Die Klagen sind verarmt. »Einst waren wir reich.« Es ist eine ältere
Klage, die davon weiß. Auch das hat seine menschliche Dimension. Die
junge Klage wird abgelöst von der älteren, und diese zeigt weiter hinauf ins
Gebirge, aus dem sie stammt, und dies Gebirge ist nicht mehr ein Gebirge
der Klagen, sondern des Leides, das heißt der verstummten Klage, ausge-
schliffen oder wie Zorn, der »schlackig versteinert« ist. Was dahinter steht,
ist sozusagen die ganze innere Dimension der Schmerzen, die von der
Äußerlichkeit der laut werdenden Klage bis zu der innersten Wirklichkeit
eines Leides fUhrt, das mit dem Menschen ganz eins geworden ist.
Die ältere Klage, die noch etwas Von der Legitimität des Schmerzes und
der Klage im menschlichen Dasein weiß, führt nun den jungen Toten
gleichsam durch die Archäologie des Leidlandes. Sie zeigt ihm die verfalle-
nen Reste einer großartigen Herrschaftsordnung des Leides und der Klage.
Ethnologie und Religionsgeschichte ertauben uns, das sofort mit Inhalt
aufzufüllen, und noch bis in unsere Tage gibt es in bäuerlich gebundenen
Gegenden die Herrschaft der Klage: Klageweiber und all die Klageriten. die
zum Bestattungskult gehören. Die hohe poetische Kraft dieser Verse zaubert
uns eine Landschaft der Klagen hervor. in der die Tränen zu hohen Tränen-
bäumen erhöht sind und ganze Felder von Wehmut in Blüte stehen, die bei
uns »nur als sanftes Blattwerk« irgendwo die Fensterbretter zieren, d. h.
unser Dasein nur gelegentlich und am Rande streifen. Und wenn die wei-
denden Tiere der Trauer dem jungen Toten gezeigt werden, so ist auch hier
keine allegorisierende Einzeldeutung am Platze. Wohl aber muß man spü-
ren, wie der Umriß einer abendlich weidenden Herde nach unten zieht und
Trauer verbreitet.
Schließlich kommt die Nacht, und was nun geschildert wird, hat etwas
Ägyptisches. Aber selbstverständlich soll man nicht meinen, diese Klage-
landschaft sei Ägypten. Was hier gezeigt wird, ist nicht am Nil. Ägypten
klingt hier an, weil dies die Kultur ist, in der der Tote die größte Präsenz hat.
Was sollen wir aber verstehen, wenn hier ein anderer erhabener Sphinx im
Mondlicht aufsteigt, den der junge Tote bestaunt, wie Rilke einst in einem
wunderbaren BriefII sein Erlebnis der ägyptischen Sphinx beschrieben hat?
»Der verschwiegenen Kammer Antlitz(( meint gewiß das Pharaonengrab,
über das der Riesenleib erbaut ist mit dem menschlichen Antlitz. Wir kön-
nen mit dem Dichter das Atemberaubende mitfühlen, das von dem Riesigen
dieses steingewordenen Gesichtes ausgeht, wenn dieses bewegliche und
immer wechselnde uns so lebendig Bekannte des Menschengesichtes nun in
das Licht der Ewigkeit getaucht vor dem Beschauer aufragt. Atemberau-

6 Jetzt abgedruckt bei]. STEINER, im Kommentar zu Vers 77ff.


302 Mythopoietische Umkehrung in RiIkes Duineser Elegien

bend, daß dieses flüchtige menschliche Dasein überhaupt etwas wiegen soll,
»auf die Waage der Sterne gelegt«. Aber was ist mit all dem gemeint? Hier
hilft die Aufbau-Ordnung des Ganzen. Eine klare Steigerung filhrt uns bis
zu diesem Grabmal: ein »krönliches Haupt«. Es ist die Majestät des Todes,
der hier das über alles Herr Seiende, den größten aller Schmerzen und den
größten aller Verluste, darstellt und daher der Todesklage ihren Rang gibt.
Hier hat Klage ihren eigentlichen Ursprung.
So ist auch die poetische Beschreibung der Begegnung des jungen Toten
mit dem Tode durch die Unfaßlichkeit des Todes bestimmt. Wieder müssen
wir umkehren: DerjungeTote, der »im Friihtod schwindelnd« das majestä-
tische Grabmal nicht zu fassen vermag, steht für das Unfaßliche, das ein
früher Tod für uns, die überleben, ist. Wir wissen es nicht zu fassen. In der
mythischen Selbstvergessenheit, die der Dichter hier bis zu einer ganzen
Beschreibung einer weiten Wanderung durch das Land der Klagen durch-
hält, wird nichts davon explizit. Denn es bleibt alles Beschreibung von
Geschautem. Die auffliegende Eule macht die Größe dieses königlichen
Antlitzes des Sphinx erst ganz bewußt, es bedarf eines aus unserem gewohn-
ten Quart durch doppeltes Aufschlagen ins Folio vergrößerten, "doppelt
aufgeschlagenen(( Blattes, um den ganzen Umriß des Unfaßlichen aufzu-
nehmen.
Richtet man den Blick »höher(( - so ist der Einsatz der nächsten Strophe
gemeint -, dann erblickt man »die Sterne des Leidlands((. Die Erklärer, vor
allem zuletzt Steiner, haben sich bemüht, einzelne dieser Sternbilder zu
deuten. Sehr fraglich, ob das auch nur als Aufgabe richtig ist. Man muß hier
viel eher an die poetische Funktion solcher Genauigkeit denken, wie sie die
neuere literaturwissenschaftliche Semantik zu erkennen beginnt. Wie man
dort z. B. )Lügensignale( erkennt, so hier die Zeichen einer ganzen von uns
verleugneten Erfahrungsdimension der Schmerzen. Ganz sicher muß jede
Einzeldeutung der Forderung standhalten, daß die neuen Sterne »Sterne des
Leidlands« sind. Die Symbole müssen etwas mit Leid zu tun haben, und die
Aufgabe scheint mir, das Ganze dieses aufsteigenden Sternenhimmels von
der Tiefe des Leidgehalts her zu empfinden, der an die einzelnen Symbole
angeschlossen ist. Gewiß kann ein Sternbild auch die Leidwelt in der Um-
kehrung spiegeln, so etwa in dem Glück der »Wiege(( oder in der seligen
Einung zwischen Mensch und Tier im »Reiter«. Davon weiß ein Sonett an
Orpheus (1, XI) zu sprechen. Aber dort ist die selige Einung nur ein
flüchtiger Moment, und das Zerfallen der Einheit wird schon bei der Heim-
kehr tragisch fühlbar, wenn Tisch und Weide Pferd und Reiter scheiden. -
Will man im ganzen die Richtung dieser Sternsymboie beschreiben, dann
wird die Steigerung, die in der Schilderung zu finden ist, den wichtigsten
hermeneutischen Wink geben. Diese Steigerung wird plötzlich verständlich:
in dem ,M(, das »die Mütter" bedeutet. Das ist nicht mehr zu verkennen: das
Mychopoiecische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 303

Sternbild der Mütter, das den ganzen südlichen Himmel einnimmt, vertritt
die tiefste Erfahrung des Leids und der Klage. Es ist das Mutterleid. So ließe
sich zu jedem einzelnen Sternbild des Leidlandes manches sagen, das An-
klänge und Resonanzen weckt, aber es scheint mir nicht im Sinne des
Dichters, dort Herkunftsbestimmungen zu suchen, wo die Wegrichtung
und damit die Verstehensrichtung im ganzen klar gewiesen ist.
Folgen wir nun dem Schluß des Gedichtes, das heißt, gehen wir die
Wanderung zu Ende, die der junge Tote mit der Klage geht und von der er
sich schließlich trennt, um in die Berge des Ur-Leids einsam hineinzuschrei-
ten. In m ythopoietischer Umkehrung bedeutet diese Wanderung des jungen
Toten durch die Landschaft der Klagen, daß der in den Schmerz um einen
jungen Toten Versunkene die Weisheit der alten Klagekulturen am Segen
der Klage erfahrt. Und wenn die Klage am Ende der Wanderung haltmachen
muß. um von ferne auf die Quelle der Freude zu zeigen. die lIim Mondschein
schimmert«. so antwortet in uns diejähe Einsicht, daß am Ende des klagen-
den Trauerns im Trauernden die Freude wieder aufspringen wird. Die Klage
muß den jungen Toten am Fuße des Leidgebirges verlassen. Wenn die
Klagen verstummen, dann ist die Klage von nun an nicht mehr bei dem
jungen Toten. Sie begleitet ihn nicht länger. - Das heißt: so sehr gehört er
nun zu denen. deren Verlust wir verschmerzen lernen. Das Leid. das die
Angehörigen und Hinterbliebenen tragen. wird endgültig stumm und ist
gleichsam im Herzen versteinert. Deshalb schreitet der junge Tote nun
»einsam« in die Berge hinein.
Jetzt gehört er zu den »unendlich Toten«. die kein Gedenken. geschweige
denn eine Klage. je zurückruft. Aber gerade sie, die so unendlich tot sind.
sollen in uns »ein Gleichnis erwecken(!. Das weist ausdrücklich darauf, daß es
hier etwas zu verstehen gibt. Die lange Wanderung der Klage mit dem Toten
ist nicht ohne Sinn und Zweck. Sie führt zu einer Einsicht. und diese Einsicht
ist es, aufdie der ganze dichterische Anrufder Elegien hinweist: »Daß ich der-
einst. an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, I Jubel und Ruhm aufsinge
zustimmenden Engeln.« »Zustimmung« ist das Stichwort. das die zehnte
Elegie mit der ersten Elegie (»des Unrechts Anschein«) zusammenschließt.
Der Dichter vergleicht hier, und wo verglichen wird. dort darf gewiß
verstanden werden, was der Vergleich meint. Die Kätzchen der leeren Hasel
erscheinen noch vor dem grünen Laub. Der Strauch ist noch leer. Aber ein
Haselstrauch. der auch weibliche Blüten trägt, kann sich dennoch nie selber
befruchten. So ist die Hasel Symbol für e"twas, das nicht für sich blüht,
sondern sich selbstlos verschwendet. Sie gleicht darin dem fruchtbaren
Frühlingsregen, der auch nicht die eigene, sondern die Fruchtbarkeit für
anderes meint, wenn er sich verbreitet. Und nun sagt das Gedicht, daß wir
auch diejungen Toten so ansehen sollen. Wenn wir Rührung empfinden, ist es
nicht mehr Anklage, die uns erfüllt, daß hier ein Leben nichtausgelebtworden
304 Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien

ist und daß die Glückserwartung, die mit jedem Leben beginnt, enttäuscht
wurde. Was uns mit Rührung erfüllt, soll vielmehr dies sein, daß unserer
Glückserwartung entgegen auch das glücklich sein kann, was sich für sich
nicht erfiillt hat. Und das ist eine Zustimmung, die mehr bedeutet, als daß
man sich mit dem Tod des jungen Menschen abfindet. Sie wird einem
gleichsam von dem sterbenden Kind eingeschärft, das sie in seinem ganzen
unentzweiten Kindsein uns vorgelebt hat.
Die mythopoietische Umkehrung, die wir als den hermeneutischen
Schlüssel zu dem Verständnis der Elegien gebraucht haben, hatte in Rilkes
Dichtung, wie wir gezeigt haben, einen Gegenstand besonderer Art. Ihr
Mythos ist'kein Mythos, das heißt keine überlieferte Sage, die neu gedichtet
wird. Es ist auch nicht eine Poetisierung der Welt, die hier geschieht. Im
Gegenteil wird gerade das U npoetische unserer Welt Gegenstand der dichte-
rischen Aussage. Wo ist eine Dichtung hohen Stiles, die einen Vers wagen
könnte wie den von dem ))Postamt am Sonntag«, von dem es heißt, daß es
))zu« ist? Aber eben das ist es, daß der Dichter diese wirkliche Welt, in der kein
Mythos mehr verbindet und in der die Klage der Elegie das Verkehrte und
Falsche eindringlich zu sagen weiß, von der Erfahrung des eigenen Herzens
her noch immer voller Wunder findet. Diese dem Zeitgeist widerstehende,
überwältigende Erfahrung ist es, die ihn über sich hinausgehen, von dem
Engel reden und vor dem Engel reden läßt - eine Mythopoiie des eigenen
Herzens. Ich bezeichnete es als die mythopoietische Umkehrung, daß der
Ausleger das auf diese Weise dichterisch f:linausgespiegelte zurückübersetzt
in die eigenen Begriffe des Verstehens. Hier droht gewiß die Gefahr der
Scholastifizierung. So wäre es eine falsche Scholastik, wenn man nun überall
das Prinzip der mythopoietischen Umkehrung ausdrücklich zu machen
suchte, statt es zu befolgen. Das explizite Bewußtsein davon kann nur die
Aufgabe haben, zu einer Art hermeneutischer Selbstreinigung zu fUhren,
indem es die Methodik wissenschaftlicher Verfremdung, die mit Dichtung
umgeht wie mit jedem ailderen Gegenstande unseres Wissens, zurückzuneh-
men lehrt. Das aber heißt, den Text als sinnvoll und sprechend wiederzuge-
winnen, der sich als fremd und befremdlich zu verbergen schien. Alle
Interpretation kann nur darin münden, daß sie den Resonanzboden in
Schwingung versetzt, von dem aus sich die dichterische Melodie uns ver-
stärkt ins Ohr singt. Was an interpretatorischen Explikationen dieser Absicht
dient, muß sich zugleich selbst aufheben. Man soll ein Gedicht,. dessen
Verständnishorizont man einmal explizit aufbereitet hat, eines Tages selber so
lesen, daß alle Explikationen völlig weggeschmolzen werden von der eindeu-
tigen Klarheit, mit der das Gedicht sich nun selbst aussagt.
In dieser Allgemeinheit gilt aber das Prinzip der poetischen Umkehrung für
alle Dichtung. Immer muß es eine Rückübersetzung geben können, die das in
den Versen Gegenwärtige uns gegenwärtig sein läßt. In diesem Sinne ist
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 305

,Parusie< nicht nur ein theologisches Begriffswort, sondern auch ein herme-
neutisches. Parusie heißt nichts anderes als Präsenz - und Präsenz durch das
Wort und allein durch das Wort und im Wort, das nennt man: ein Gedicht.
26. Rainer Maria Rilke nach fünfzigjahren
(1976)

Wenn wir des 100. Geburtstags Rainer Maria Rilkes gedenken und der
Tatsache inne sind, daß er wenig über fünfzig Jahre alt geworden ist, so
trennt uns ein Abstand von einem halben Jahrhundert von seiner Zeit -
fiinfzig Jahre, in denen sich die Welt, in denen wir uns, in denen Wesen und
Wirken der Dichtkunst sich gewaltig verändert haben. Wir realisieren den
historischen Abstand. Wir wissen, daß vieles abgestorben ist, was damals
dem Wort der Dichter Widerhall gewährte, und daß in den heute Lebenden
neue Resonanzräume sich aufgetan haben, die anderes verstärken und ande-
res übertönen. Was blieb gültig und worauf beruht die Gültigkeit dessen,
was noch gilt? Ein Abstand von fünfzig Jahren kann die größte Ferne
bedeuten. Selbst Goethes 50. Todestag - so gut wie sein 100. Geburtstag -
war keineswegs die fraglose Bestätigung seiner geistigen Gegenwärtigkeit.
Die Erstauflage des 'West-östlichen Divan< war damals noch nicht ausver-
kauft! Und gar Philosophen wie Hegel oder wie Heidegger waren und sind-
wie die Dichtung Rilkes - nach fünfzig Jahren in der Zeit ihrer größten
Sonnenferne.
So ist es eine allgemeine Frage, die nicht nur an dieses dichterische Werk
gerichtet ist. Alles, was in den dauernden Bestand dessen eingerückt ist, was
wir ,Literatur< nennen, steht auf ein rätselhafte Weise zwischen Einst und
Immer. Der Gang der Zeit ist wie ein großer Filterungsvorgang, der Weni-
ges, und dies dauernd, zurückbehält. So auslesend zu sein, ist das Wesen aller
Überlieferung. Das Werk der Kunst, das von der Überlieferung erhalten
wurde, auch das der sich am meisten 'authentisch< erhaltenden Dichtkunst,
steht darüber hinaus unter besonderen Gesetzen. Seine Dauer ist nicht nur
die des Überlebens, im Sinne der Erhaltung einer Kunde von Vergangenern,
die auf das Vergangene zurückgeht und zurückweist. Jede Begegnung mit
einem Werk der Kunst ist vielmehr absolute Gegenwart, gelöst von allem
Bezug auf eine ursprünglichere authentische, aber vergangene Gegenwart.
Ist das noch Dauer des Selben? Was dauert da? Das gleiche Werk? Gewiß ist
es noch derselbe Marmor, aber ohne seine ursprünglichen Farben, es ist noch
derselbe Text, aber ohne das widertönende Auditorium, für das diese Spra-
che seine eigene war. Es ist 'gültig< als Werk, obwohl uns seine Welt, der
Rainer Maria Rilke-nach fiinfzigJahren 307
Götter und der Menschen, kaum noch anders gilt als eine Kunde von
Vergangenern. Warum gilt es?
Die Antwort einer formalistischen Ästhetik wird sein: Wir bewundern
und uns erhebt das Formniveau dieser Gestaltungen, deren inhaltliche Aus-
sage uns vergangen bleibt, und vielleicht ruft man gar die Wissenschaft an,
daß sie uns beweist, wieviel Meisterschaft des Könnens in diesen Gebilden
Stein oder Farbe oder Wort geworden ist. Aber ist es das, was gilt? Kunst fur
Kenner? Ist es nicht eher umgekehrt so, daß all diese Könnerschaft - außer
rur eine Sekundärwahrnehmung des Kenners - gar nicht als solche wahrge-
nommen wird, daß vielmehr durch ihre Vermittlung etwas anderes zu
Gehör kommt, das gilt? Was es auch sei, unsere Frage meint dies. Ist es ein
unveränderlich Selbiges, was in allen solchen Vernehmungen vernommen
wird? Oder ist es, wie der junge Lukacs meinte, ein einmaliger Begegnungs-
punkt unserer ästhetischen Regsamkeit mit dem Gebilde, der Subjektivität
mit der Objektivität, was den Seinsstand des Kunstwerks ausmacht? Beide
Antworten verfehlen offenkundig die lebendige Spannung von Einheit und
Vielfalt, von fester Bestimmtheit und wechselnder Weiterbestimmung, die
die Dauerhaftigkeit eines Kunstwerks ausmacht.
Es ist auch nicht erst der historische Abstand, der nach Dezennien bei der
Rückkehr zu demselben Werk Neues und anderes daran herauskommen
läßt. All unser Aufnehmen von Kunst, wie unser ganzer Existenzvollzug, ist
von Zeitlichkeit durchwaltet. Das Werk eines Dichters begegnet nie mit
einem Male. Auch wenn ein künstlerischer Eindruck im zeitlosen Nu eines
Augenblicks zu stehen scheint - wir bleiben nie derselbe, der wir waren. Jede
neue Begegnung mit einem Werk wird zwar irgendwie und irgendwann auf
frühere Begegnungen Bezug haben, aber merkwürdigerweise ist es selbst
dann kein wirkliches Erinnertwerden an die frühere Begegnung - sie ist wie
ausgelöscht, wie ein Palimpsest, eine kaum noch lesbare Schrift hinter dem
Text, den wir lesen. Jede Begegnung hat ihre eigene Konstellation, mit
ihrem eigenen Hintergrund von Widerklang und Verhallen. Reizbarkeiten
kommen auf und stumpfen sich ab. Die Gestirne wechseln ihre Stelle.
Hier ist ein Gesetz dessen, was man .Reiz< nennen kann, das vor allem von
der formalistischen Schule der Russen - den Anregern und Vorbereitern des
Strukturalismus - herausgearbeitet worden ist, aber im Grunde auf Einsich-
ten Kants zurückgeht. Er unterschied den Reiz von der Form - und in der
Tat: Was Reiz ausübt, unterliegt der Dialektik des Neuen, daß es veraltet
und Altes, Verblaßtes, Vergessenes neuen Reiz gewinnen läßt. Dagegen ist
Form eine dauerhafte und Dauer verbürgende geistige Aufgabe, etwas, was
wir selber aufzubauen haben, als Beschauer, Hörer, Leser, und was daher
ganz unser ist, wenn wir überhaupt es zu uns hereinließen.
Wonach ist also gefragt, wenn wir das Werk Rilkes unter der Perspektive
.Nach flinfzigJahren< betrachten? Gewiß leitet uns kein historisches oder gar
308 Rainer Maria Rilke nach flinfzigJahren

biographisches oder selbst im traditionellen Sinn wirkungsgeschichdiches


Interesse. Wir fragen nicht nach der Welt vor hundert Jahren, oder vor
neunzig, als der junge Rilke seine unzähligen frühen Verse schmiedete,und
nicht nach seinem langsamen Wachsen und Reifen, oder nach der großen
Nachgeschichte' seines Werkes, die lang nach seinem frühen Tode im De-
zember 1926 einsetzte und alles übertraf, was ihm in nicht geringem Maße zu
Lebzeiten an dichterischen Erfolgen zuteil geworden war. Nach f~nfzig
Jahren, das meint eine echte Bestandsaufnahme. Der Ältere wird sie als seine
eigene Sache, die eines jungen Zeitgenossen des Dichters, vornehmen, kann
aber kaum beanspruchen, für Jüngere zu sprechen. Alle Lebensalter der
Jüngeren stellen ihre eigenen Bedingungen - und es ist doch derselbe Be-
stand, der gemeint ist.
Hat es Bestand? Man wird in diesem Falle so wenig zweifeln dürfen, wie
in den anderen genannten Fällen. Wir spüren es ja selbst, daß es Rilke nicht
allein ist, was uns in diese Ferne gerückt ist - das gleiche gilt von George
gewiß auch, und selbst von Hölderlin, dessen bedrängte Inständigkeit, seit
seiner Wiederentdeckung in der Zeit des Ersten Weltkrieges, den Ton
anschlug, auf den unser Ohr für das Dichterische jahrzehntelang gestimmt
blieb. Es ist dieser ,hohe Stil< - im Zeitalter der Abwendung vom Naturalis-
mus und Psychologismus der Jahrhundertwende ein zauberkräftiger Reiz-,
vor dem eine Zeit zurückweicht, der man so überdeutlich kommt, im
Wettgeschrei der Massenmedien, der Reklame und der Propaganda, daß ihr
jeglicher Nachdruck der Rede Widerstand weckt.
Rilkes Werk hat sich selbst klar strukturiert durch seine Gipfelung im
Spätwerk der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus. Die frühen
Gedichte, halb gegen den Willen des Dichters später unter diesem Titel
versammelt, sind keine schlechten Gedichte. Sie sind virtuos, gekonnt. Wie
viele Versuche lagen selbst diesen Pseudoleistungen voraus? Wir erkennen
eine unerhörte Biegsamkeit der Sprache, Variationsreichtum, Allregsam-
keit, Allreizbarkeit - und -dennoch: Georges bekanntem Verdikt, er habe zu
früh publiziert, hat Rilke später »sehr, sehr« recht gegeben. Vielleicht war
auch etwas von dem Zerfließen eines weiblichen Gemüts in den unendlichen
Weiten östlichen Seelentums in ihm angelegt, das ihn fast zergehen ließ.
Aber dann beginnt das, Werk<: Das Stunden-Buch. Der Dichter hat es selbst
als eine Art Vorwegnahme empfunden, abseits von seinem damaligen Sein
und Schaffen, sich selbst voraus, und es ist wahr - es enthält niebt nur
wunderschöne und tiefe Gedichte, es ist auch wie ein erstmals und endgültig
angeschlagener Ton darin, auf den alles spätere Schaffen des Dichters kom-
poniert ist. Ein ganz persönliches, individuelles Gottesverhältnis spricht sich
aus - wenngleich instrumentiert durch zahllose Gestalten und eine unendli-
che Variation von Stimmen.
Wenn man die Geschichte der modernen Lyrik seit Mallarrrie in eine
Rainet Maria Rilke nach funfzigJahten 309
Formel fassen will, so ist wohl die treffendste die überwindung des rheto-
risch-prosaischen Elements in der Poesie. Rhetorik ist zwar Kunst, kunst-
volle Komposition von Rede und Argumentation, und die traditionelle
Einheit von Rhetorik und Poetik hat ihren Boden. Dennoch erhebt sich die
Kunst des dichterischen Worts zu ihrer vollen Eigengesetzlichkeit erst in
der poesie pure, so daß sie keines festen Haltes in der Einheit des Gegen-
ständlichen, Stofflichen, Mythischen mehr bedarf, um dennoch ,Sage'.
Aussage, zu sein. Nun ist Rilke gewiß nie dem Ideal der poesie pure bis ins
Extrem gefolgt. Ein rhetorisches und insbesondere ein fast lehrhaftes Ele-
ment ist ihm eigen - man denke insbesondere im späten Elegienwerk an die
zahllosen Sperrungen, die uns heute überflüssig, wenn nicht gar störend
scheinen. Aber im späteren Werk bleibt alles Stoffliche bloß Anspielung,
die in die Meditation eingegangen ist - im ,Stunden-Buch<. wie in manchen
anderen Gedichten seines frühen Schaffens, ist die Meditation noch auf
angenommene Rollen verteilt. So weist auch noch das ,Stunden-Buch< von
sich und seinen güldenen Kostbarkeiten weg in eine größere Armut und
Strenge.
Das Werk, das den wichtigsten Schritt zwischen diesem Anfang und
dem späteren Gelingen markiert, war ein Roman: ,Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge<. Seit Nietzsehe .wohl die schönste, reichste, reifste
deutsche Prosa, die ich kenne, von einem bezwingend klaren Rhythmus
getragen und wie von einer durchsichtigen Dunkelheit durchstrahlt, über
der der opalene Schimmer eines leidenden Gedächtnisses liegt - ein Buch.
das als Roman damals fast einzig dasteht, da es alles Romanhafte in seinen
Eigenraum einer zeitlosen Gegenwart des Erinnerns auflöst. Fast möchte
man es die Fanfare einer Revolution nennen, die eine neue Romanwelt des
Gedächtnisgeschehens heraufführte: Proust, Joyce, Beckett - wenn auch
nur ein einziger Ton des Paradigmatischen, Fordernden, Heischenden in
diesen stillsten Zeilen deutscher Prosa zu vernehmen wäre. Manchmal mag
man die Nähe Herman Bangs und gewiß das vom Dichter stets betonte
Vorbildjens PeterJacobsens spüren. Es ist ein Roman, dessen ,Text< einem
Helden in den Mund gelegt wird. der nicht der Erzähler selbst ist. So bleibt
es ein Roman. den ein Erzähler erzählt. Was diesen ,Roman< in die vorder-
ste Linie des Rilkeschen Werks stellt, sind nicht die Vorzüge seines literari-
schen Mutes und seiner dichterischen Gekonntheit, sondern seine Tapfer-
keit. Wie hier ein qualvolles Leiden an sich selber ausgehalten und hilflose
Klage durch alle Verschmähung von Tröstung geadelt wird, führt einen
neuen, männlichen Ton von Härte in die weibliche Empfindsamkeit von
Rilkes dichterischem Werk ein. Seitdem konnte man wissen, daß einer der
ganz Großen unter den Dichtern dieser Welt in Bildung begriffen war,
einer, der bis an die äußerste Grenze ging und dort standhielt. Im Schein
der Dunkelheiten, den der ,Malte< um sich warf, gewann manches aus den
310 Rainer Maria Rilke nach funfzigJahren

>Neuen Gedichten< etwas ähnlich Bestimmtes und Hartes, wie ein zuverläs-
siges Versprechen, alles aushalten zu wollen.
Aber dann erst, nach unendlichen Mühen und den Qualen einer fast
zehnjährigen Schweigsamkeit, brachten die Duineser Elegien und die Sonet-
te an Orpheus mit einem Schlage die Erfiillung, das Gelingen, eine stürmi-
sche Ernte im Winter 1922. Niemand kann seither die Linie dieses Werkes
länger verkennen, die vom Verfließen in Weiten zur fast gepreßten Intensität
eines verhaltenen Schreies geführt hat. Es hat eine zwingende Folgerichtig-
keit. Der Dichter hat es selbst so empfunden, indem er insbesondere >Das
Marien-Leben<, den letzten Gedichtzyklus, den er vor den Elegien veröf-
fentlicht hat, selber später als eine Art Rückfall bezeichnete. Die Vollendung
der Elegien meldete er seinen Freunden mit einem tiefen »Es ist vollbracht«.
Es ist heute kaum möglich, sich der inneren Notwendigkeit im Aufbau
des Elegienwerkes zu entziehen. Hier scheint alles auf seinem von jeher
bestimmten Platz zu sein. Es wirkt wie die Erfüllung eines lang vorbereite-
ten Planes. In gewissem Sinne stimmt das wirklich: die ersten vier Elegien
sind schon 1912/13 entstanden, und die Anfangszeilen der heutigen zehnten
Elegie samt einer später verworfenen Fortsetzung ebenfalls. Die Zielmarke
war sozusagen gesetzt, und die zehn Jahre bis zum Erreichen dieses Zieles
sehen den Dichter in unseligem Ringen, durch die Ungunst der Zeiten und
mehr noch gewiß durch inneres Ausweichen gehemmt und beirrt. Indes,
man soll die ergreifende Schilderung, die Rilke in mehrfachen, fast gleich-
lautenden Briefen von dem Sturm des Gelingens gibt, der im Februar 1922
über ihn kam, nicht allzu wörtlich nehmen. Dieser ungeheuere Aufschwung
war ein Arbeitsabschluß, eine Ernte langer Vorbereitung, eine plötzlich
aufspringende innere Nötigung, zusammenzufassen - und, wie das dann
nicht anders sein kann, zu unterdrücken, wegzulassen, auszuscheiden, was
sich nicht einfügte. Daß dies der wahre Sinn der beschriebenen Vorgänge
war, scheint mir durch die Tatsache bewiesen, daß Rilke den Elegien noch
nach ihrer Vollendung einen zweiten Teil: »Fragmentarisches« beigeben
wollte - eine Art Kompromiß mit sich selbst, auf den er später offenbar ganz
von sich aus verzichtet hat, als er an sich selbst und den ersten Lesern sah, wie
diese zehn Elegien >standen<.
Ja, wir können sogar noch deutlicheren Einblick in diese inspirierten
Wochen gewinnen, in denen die Vollendung gelang. Es waren zunächst nur
sieben Elegien, die Rilke bereits als das fertige Werk ansah und ankündigte,
und erst in den unmittelbar folgenden Tagen traten die noch fehlenden drei
hinzu. War erst darunter wirklich die zehnte? Man kann sich schwer vorstel-
len, wie irgendeine andere der Elegien den Schluß einer Reihe hätte bilden
können als diese schon 1912 begonnene. Aber gerade darin mag sich doku-
mentieren, wie unfertig der anflingliche Abschluß war und wie die Bruch-
stücke und Entwürfe, über die Rilke gebeugt war, förmlich darauf warteten,
Rainer Maria Rilke nach fiinf~igJahren 311

an das schon Gestaltete anzuschießen wie in einem natür!:,::!':.e:"l K:;~=:;:l!isa­


tionsprozeß.
Noch viel erstaunlicher aber und für die Zufälle und Notwendigkeiten in
diesem Vollendungssturm endgültig beweisend ist die erst ganz kurz vor der
Absendung des Manuskripts an Kippenberg, den Inhaber des Insel-Verlags,
vorgenommene Austauschung der ronften Elegie. Hier gelang dem Dichter,
wie er schreibt, in einem »Nachsturmll die Elegie der Fahrenden - schwer-
lich als eine plötzliche neue Inspiration im Ganzen, wohl eher als die -
plötzlich genug gekommene - Reifung und Fügung älterer Entwürfe zur
überzeugenden Einheit des Gedichts. Das eigentlich Lehrreiche an diesem
Vorgang liegt aber in dem Gedicht, das ursprünglich die ronfte Elegie war
und in den )Späten Gedichten< unter dem Titel )Gegen-Strophen< zu finden
ist.
Gegen-Strophen
Oh, daß ihr hier, Frauen, einhergeht,
hier unter uns, leidvoll,
nicht geschonter als wir und dennoch imstande,
selig zu machen wie Selige.
Woher,
wenn der Geliebte erscheint,
nehmt ihr die Zukunft?
Mehr, als je sein wird.
Wer die Entfernungen weiß
bis zum äußersten Fixstern,
staunt, wenn er diesen gewahrt,
euern herrlichen Herzraum.
Wie, im Gedräng, spart ihr ihn aus?
Ihr, voll Quellen und Nacht.
Seid ihr wirklich die gleichen,
die, da ihr Kind wart,
unwirsch im Schulgang
anstieß der ältere Bruder?
Ihr Heilen.
Wo wir als Kinder uns schon
häßlich für immer verzerrn,
wart ihr wie Brot vor der Wandlung.
Abbruch der Kindheit
war euch nicht Schaden. Auf einmal
standet ihr da, wie im Gott
plötzlich zum Wunder ergänzt.
Wir, wie gebrochen vom Berg,
oft schon als Knaben scharf
an den Rändern, vielleicht
312 Rainer Maria Rllke nach fiinfzigJahren

manchmal glücklich behaun;


wir, wie Stücke Gesteins,
über Blumen gestürzt.
Blumen des tieferen Erdreichs,
von allen Wurzeln geliebte,
ihr, der Eurydike Schwestern,
immer voll heiliger Umkehr
hinter dem steigenden Mann.
Wir, von uns selber gekränkt,
Kränkende gern und gern
Wiedergekränkte aus Not.
Wir, wie Waffen, dem Zorn
neben den Schlafgelegt.
Ihr, die ihr beinah Schutz seid, wo niemand
schützt. Wie ein schattiger Schlafbaum
ist der Gedanke an euch
rur die Schwärme des Einsamen.

Ein schönes Gedicht, ganz aus dem Eigensten Rilkescher Liebeserfahrung


und Liebesmoral geschöpft. Man mag es selbst eine Elegie nennen, diese
Klage und Anklage, die über die vom Manne nie recht erlernte Liebe
ergeht. Aber als eine Elegie in der Folge der Duineser Elegien würde sie
niemand ansehen, so anders ist ihr Ton, ihr Maß, ihr Nachhall. Der Dich-
ter gestand sich das offenbar sogleich ein, als ihm die Elegie der Fahrenden
gelungen war. Er dachte keinen Augenblick daran, sie als elfte in die Reihe
der Elegien einfach einzureihen, sondern ersetzte durch sie die. ,Gegen-
Strophen(. Aber es sagt doch etwas, daß die ,Gegen-Strophen(, die offen-
bar als fiinfte Elegie schon 1912 geplant waren, als die erste Strophe ent-
stand, und die auch erst im Februar 1922 vollendet wurden, noch damals an
die schon länger vollendeten ersten vier Elegien als fünfte Elegie ange-
schlossen werden sollten. Man wird daran gewahr, welche Dimensions-
verschiebung, welcher Dimensionsgewinn mit der Vollendung des Ganzen
erreicht worden ist.
Zwar ist es kein Zweifel, daß die ersten vier Elegien heute kaum als zehn
Jahre früher entstanden erkannt werden würden, wenn man es nicht wüß-
te. Auch bleibt das Thema der großen Liebenden durch das ganze Werk
beständig anwesend. Jedoch schon mit der Helden-Elegie, und mehr noch
mit den folgenden - man denke an die Rudolf Kassner gewidmete Tier-
Elegie - verliert die Gegenwendung von Frau und Mann, die in den ,Ge-
gen-Strophen, bis zum elegischen Wechselgesang gesteigert ist, die struk-
turbildende Bedeutung. Das Gemeinsame, uns allen Zugeteilte, für uns alle
Anteilige wird jetzt beherrschend. Wie anders fügt sich die Elegie der
Fahrenden in dieses größere Spannungsfeld. Das Elegienwerk als Ganzes
Rainer Maria Rilke nach flinfzig Jahren 313

wäre ein anderes - weit mehr ein Sang von Mann und Frau-, wenn die
)Gegen-Strophen< in dieser Reihe geblieben wären.
Man darf das alles vergessen - man hat es vergessen, sowie man sich
unserem Text gegenübersieht, der wahrhaft endgültig wirkt. Genau das ist
es aber, wie ein dichterisches Gebilde sich zur Gültigkeit erhebt. Es streift
nicht nur die Zufälligkeit seiner Entstehung, die Anläufe und Abbiegungen,
die Variationen und Wiederholungen ab, die in den Keimen und Entwürfen
lagen - es streift auch, mehr und mehr, alle dem Zeitpunkt der Entstehung,
ja dem Zeitalter der Entstehung vorbehaltenen Bezüge ab -, es wird namen-
los gültig - trotz aller Bemühung der Gelehrten, es historisch oder biogra-
phisch einzufügen, oder der Soziologen, es zu )erklären< und abzuleiten.

Da hilft es wenig, festzustellen, daß Rilke ein religiöser Dichter war l . Besser
sollte man das Wort )Religion< dort nicht gebrauchen, wo keine religiöse
Gemeinschaft den Sinn des Wortes konkretisiert, und das ist für die einsame
Stimme dieser Dichtung gewiß nicht der Fall. Man wird auch nicht die
hundertfache Variation christlicher Motive - römisch-katholischer wie öst-
licher Christlichkeit -, die mindestens seit dem großen Rußlanderlebnis
Rilkes durch sein Werk geht, als Orientierung wählen dürfen. Es ist ja
gerade der große neue Ernst der Duineser Elegien, daß sie jeden Anschluß an
bestehende Religionen und Glaubenswelten radikal aufgeben und selbst das
leise Gespräch mit Gott, das Malte nicht abreißen lassen wollte, diskret
verschw~gen. Rilke selbst hat, in seiner zuletzt immer leidenschaftlicher
werdenden Ablehnung des Christentums und seines Angebots an Tröstun-
gen und Verheißungen, gelegentlich der jüdischen und islamischen Religion
mehr recht gegeben und würde vielleicht auch in den großen asiatischen
Religionen Verwandtes gespürt haben - wie er ja auch vom griechischen und
vom ägyptischen Altertum etwas ahnte. Aber die unendliche Diskretion
gegenüber Gott, die er einmal bekannt hat2, meint ein Verschweigen, das
alle solche Bezugnahme zurückweist.
Das gerade ist es: Rilkes Dichtung gesteht sich ein, daß Gott fern ist und
daß keine Heraufbeschwörung christlich-humanistischer Glaubensvorstel-
lungen oder ältester mythischer Symbole uns die Ferne Gottes verschleiern
darf. Das gibt der Botschaft dieser Dichtung ihre Anredekraft. Sie hat ihren
e·Jidenten Zeitbezug und bleibt zugleich - als eine äquivalente Aussage - für
jede religiöse Verkündigung wahr, die sich nicht selbst für überflüssig
erklären will. Sie mahnt uns, uns diese Ferne einzugestehen und in ihr
aufrecht zu stehen. Mochten die )Geschichten vom lieben Gott< und das

1 Siehe dazu auch meine Auseinandersetzung mit ROMANo GUARDINI in .Rainer Maria
Rilkes Deutung des Daseins<, in diesem Band, S. 271 ff.
2 In einem Brief an IIseJahr vom 22. Februar 1923.
314 Rainer Maria Rilke nach fUllfzigJahren

>Stunden-Bo.:..ch< noch immer die letzte E:reichbarkeit und Gegenwart Gc~­


tes vortäuschen, W~,,!te Laurids Brigge sucht zu lernen, in der Ferne VOn Gott
zu leben, gewiß nicht, ohne zu leiden, wohl aber, ohne Tröstungen oder
Verheißungen zuzulassen, die ihn nicht wahrhaft erreichen, und das EIe-
gienwerk hat gerade dadurch seinen Rang, daß es der unendlichen Entfer-
nung von Gott voll gewahr und eingeständig ist und selbst den Anruf an qen
Engel noch zurückzuhalten sucht.
So ist diese Dichtung eine Dichtung der Gottferne. Ihr entspricht aufs
genaueste die Rühmung des Hiesigen und des »Hierseinslf: das leidenschaft-
liche Bekenntnis zum hiesigen Dasein, noch in seiner äußersten Jämmerlich-
keit, Not, Bedrängnis. Solche Zustimmung verknüpft sich mit der Ableh-
nung der Vertröstung auf ein Jenseits. Das ist die >Botschaft<, die wir hören.
Ist sie uns neu? Ist sie nicht altvertraut? Man braucht nicht gleich an das
»Mensch, bleib der Erde treu« von Nietzsches Zarathustra zu denken. Wir
verstehen es schon immer, aus jener tiefsten Lebensgewißheit, die den Tod
nicht wahrhaben will und an seiner Unbegreiflichkeit rettungslos scheitert.
Gerade das Christentum hat darin seine ganze Rechtfertigung gesehen, daß
es die Verzweiflung des Todes nicht verschönte oder verhüllte, sondern im
Gekreuzigten als versammelndes Zeichen aufrichtete. Nicht durch Verhül-
lung seiner Bitterkeit, sondern durch völlige Selbstaufgabe wird die über-
windung des Todes in Christus vorgelebt und zugleich verheißen. Das, und
nicht die rührenden Jenseitshoffnungen auf den Himmel des Wiedersehens
und der für alles Jammerdasein entschädigenden Belohnung des Glaubens,
ist die eigentliche Botschaft des Christentums. Aber wie Nietzsehe sah auch
Rilke auf den irdischen Haushalt der christlichen Glaubensgemeinschaft, die
Menschen mit ihrer schäbigen Rechnung von Unglück und Seligkeit, und
verwarf das.
Ohne Tröstung auszuhalten und zu überstehen, darin hatte Rilke schon
die religiöse Produktivität des >Malte< gesehen. Das Beispiel der jungen
Toten in der ersten Elegie geht einen Schritt der Zustimmung weiter, wenn
auch nur den negativen, lIdes Unrechts Anschein« von den jungen Toten zu
nehmen. Das wiederum hat das Christentum auf seine Weise vonjeher in der
Ergebung in den unerforschlichen Ratschluß des Herrn gelehrt. Nur ein
verblassendes, rnoralisiertes Christentum, das noch in Kants postulatori-
sehern Gottesbeweis geistert, mochte hier Ausgleichsgedanken einbringen.
Aber dies kommt nicht von ungefähr. Diese »moralische Weltrechnung<j
der Gegenleistungen ist ein ganzes System des Lebens, das uns alle be-
herrscht - und dies meint die Botschaft der Elegie. Sie verweigert jegliche
Berufung auf eine religiöse Verheißung, weil eine solche sofort in das
System der Gegenleistungen einmündet. Sie ruft in den Bezeugungen des
menschlichen Herzens den überstieg über dieses Weltsystem der aufgehen-
den Rechnungen auf: daher die unendlich Liebenden, daher der Held, daher
Rainer Maria Rilkc nach flinfzigJahren 315

das Vorbild der Liebenden, die wahrhaft »in einander Genügte« wären.
Daher der Engel, das uns unendlich übertreffende Wesen.
Es ist nur die eine Seite des Ganzen, die in Rilkes den Engel deutenden
Briefen hervortritt: Er nennt sie die Garanten des Unsichtbaren. Das ist
sozusagen ihre Beweisfunktion rur den der Metaphysik Bedürftigen und
ihrer Entwöhnten. Aber die andere Seite ist gerade die, daß es in Wahrheit
keines Garanten bedarf, weil unser eigenes Herz selbst es ist, das darur
einsteht. Es weiß, wie es zurückbleibt hinter dem, was es ganz zu erfüllen
scheint. »Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen.« Der Engel ist überhaupt
nur das Gewahrwerden unseres eigenen Zuruckbleibens hinter uns selbstl.
Denn wir sind selbst uns übersteigende, Imetaphysische< Wesen. Und doch
hört uns nicht einmal der Engel.
Das ist das elegische Grundrnotiv, das vor allem die ersten Elegien be-
herrscht. Die elegische Klage gilt nicht etwa den verlassenen Liebenden,
nicht den jungen Toten, dem »vor dem Leben« lebenden und sterbenden
Kind, sondern uns, die wir nie so unbedingt sind wie diese, sondern immer
auf uns selbst bezogen bleiben und beständig die Gegenrechnung aufma-
chen. So sind wir abhängig und bedingt vom Gegenüber:
Wir, von uns selber gekränkt,
Kränkende gern und gern
Wiedergekränkce aus Not.

Rilke hat seine eigenen dichterischen Anfange eben deshalb verurteilt. weil
sie allzusehr den Erfolg - dies universalste Gegenüber - meinten. Er hat
Rodin und vor allem Cezanne wegen der Unbeirrbarkeit ihres Schaffenswe-
ges und rur ihr entschlossenes Alleinstehen und Bestehen auf der Suche nach
der eigenen Sprache bewundert. Er hat sein eigenes späteres Leben so
eingerichtet, daß er seine Lebenspartner, zuerst seine Frau und Tochter, und
manche andere, die ihm nahekamen, von sich weggeruckt hat. wie in einem
liebevollen Eingeständnis seines Nichtkönnens und zugleich in dem arbeit-
samen Entschluß, das Alleinsein auszuhalten und durch nichts zu verstellen.
Ein ganzes System der Diplomatie des Herzens hat er entwickelt, um sich die
äußere und äußerste Unabhängigkeit des Daseins zu ermöglichen. Der
bekannte Briefwechsel läßt das nur gerade ahnen. Die ProdukLivität seiner
dichterischen Antwort sollte die alleinige Rechtfertigung dafür sein, daß er
sich schonte, verwöhnen ließ, sich entzog und verschloß.
Der Engel: Rilkes Selbstdeutung sagt. daß im Fühlendsein des Engels die
Auflösung des Gegenüber, die Verwandlung ins Unsichtbare schon vollen-
det und geleistet sei4 • Wir sagen dafür: Unbedingt zu dem stehen, was uns
3 Vgl. dazu .Mythopoietische Umkehrung in Rilkcs Duineser Elegien<, in diesen)
Band. S. 292ff.
4 Briefan Witold Hulewicz. 13. November 1925.
316 Rainer Maria Rilke nach funfzigJahren

unser Herz sagt, ist unsere Aufgabe, die uns wie ein jenseitiges Wesen
ständig übertrifft. Unsere Begrenztheit in der Erfüllung derselben ist unsere
Schwäche. So ist die Gestalt des Engels das uns übertreffende Wesen -
schrecklich durch die Gewalt seiner Unbedingtheit.
Aber nun tritt, im Fortgang des Elegienwerkes und im Wandel des Tons,
heraus, daß der Engel nicht nur das uns übertreffende, sondern auch das uns
bezeugende Wesen ist. Denn unsere Aufgabe ist nicht minder, das ins
Unsichtbare Verwandelte zur Auferstehung im Sichtbaren - zur Gestalt - zu
bringen. Der Dichter tut es im Zeigen und Preisen des Hiesigen, im Bewah-
ren »der noch erkannten Gestalt« (7. Elegie).
Damit soll nicht das Privileg des Künstlers und der Kunst gegen die
Menschen sonst ausgespielt werden. Der Seiler in Rom und der Töpfer am
Nil haben den Dichter selbst fasziniert. weil da jeder Handgriff so sicher und
selbstverständlich getan wird, weil die Weisheit früherer Geschlechter darin
eingegangen ist, bewahrt und sich bewährend. Es ist - von jeher - der
allgemeine Auftrag des Menschen, zu bewahren und zu verwandeln. Er gibt
sich Dauer. Darin ist nichts von Berechnung und Rechnung aufZukunft - es
ist das Hiersein selbst, das sich so erfullt.
Zwar sprechen die Elegien eindeutig von dem Schwinden der »Dinge((,
das durch das Zeitalter der Hämmer unaufhaltsam heraufgefuhrt wird, und
die Bewahrung des so Schwindenden stellt nicht zuletzt des Künstlers Auf-
trag dar, der Sichtbares ins Unsichtbare- durch die Aufnahme in menschli-
ches Fühlen - hinausstellt, Stein und Farbe, Ton und Wort. Aber es wäre
eine falsche überresonanz, wenn man hier die Töne der bekannten Kultur-
kritik herauszuhören meint-die wahre Resonanz ist die Unveränderlichkeit
der menschlichen Natur und der Menschlichkeit inmitten aller Veränderun-
gen. Was sich in der rasch sich wandelnden Welt von heute so zuspitzt, ist im
Wesen nicht unterschieden von der Aufgabe, die die allgemeine Hinfällig-
keit aller irdischen Dinge vonjeher dem Menschen gestellt hat. Wir selbst
sind »die Schwindendsten((.
Rilkes These ist nun, daß die menschliche Aufgabe ist, zu dem Schwin-
dendenja zu sagen - und daß diese Aufgabe in der Zustimmung zum Tode
ihre letzte Effüllung fmdet.
Rilke hat in zahllosen Briefen dieser Wahrheit Ausdruck gegeben, daß der
Verlust, den der Tod eines geliebten Menschen rur die Hinterbliebenen
bedeutet. kein eigentliches Verlieren ist. Es ist eine falsche Negativität, die
damit dem Tod zu Unrecht zugeschrieben wird. Sie verkleinert die allum-
fassende Macht des Hiesigen, des Hierseins, der Gegenwart. Diese umfaßt
den Tod mit. Aber in Wahrheit nicht nur auch den Tod noch, diese absence,
die den Andern, Dahingegangenen, rur uns in eine neue Gegenwart - vor
dem Forum der Ewigkeit - eingelassen hat. Vielmehr umfaßt dies Sein des
Toten seinerseits das Ganze des Hierseins, denn auch dieses gewinnt teil an
Rainer Maria Rilke nach t'linfzigJahren 317

der neuen Ewigkeit des Toten und seiner veränderten Gegenwart. Das Hier
ist selbst anders geworden. Nicht nur der Tote bewegt sich seltsam im Raum
- der überlebende fmdet sich seltsam im Raum. »Aber Lebendige machen
alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden« (1. Elegie). In seinen Briefen
hat Rilke manchmal einen geradezu beschwörenden Ton. wenn er den Tod
als den eigentlichen großen Ja-Sager feiert. Er will damit sagen: Der Tod
macht das Hiersein in seiner Unbedingtheit erst rund und vollkommen - so
sehr. daß kein unerträgliches Hiersein denkbar bleibt. Es ist immer noch
Hiersein und »herrlich«. Das schärfen uns die Elegien ein, uns. den
)) Schwindendsten«.
Es ist eine nicht abzuweisende Wahrheit, daß jeder Verlust, auch der
schwerste, verschmerzt werden kann und daß dies eben leben heißt. Nun
liegt es im Sinne der )Botschaft< der Elegien, daß gerade der schwer zu
verschmerzende Verlust dem eigenen Leben mehr und mehr anzugehören
beginnt - auch wenn und gerade dann. wenn das)) Verschmerzen« - welch
großartiges Wort - wirklich geleistet, das Leben und die Freude wieder
aufgenommen wird. Das hat Rilke offenbar vor Augen. wenn er dasjenseiti-
ge Schicksal der jungen Toten schildert. als wären sie hier. In diesem
unsichtbaren Reich, das beide Bereiche umfaßt, sind sie da wie das Hiesige
auch. und mit ihm. Ich habe das ehedem das Prinzip der mythopoietischen
Umkehr genannt und damit nur unserer gewohnten Verständnisweise zu
ihrem Recht verholfen, die die Basis dafür ist, daß wir Rilkes dichterische
Aussagen )verstehen<. Aufihr steht einjeder, auch wenn er sich dessen nicht
bewußt ist.
Insbesondere die zehnte Elegie kann das illustrieren. In ihr ist die mytho-
poietische Kraft Rilkes von eindeutiger Dichte. Es wird von der Klage,
insbesondere der Totenk,lage (in der nichts von Anklage ist). auf eine Weise
berichtet, als wären die Klagen Wesen unserer Welt. einst wohl bestallt.
heute an den Rand gedrängt und in ihrem Recht verkannt. Sie gehören zum
Leben. Es gehört sich, zu klagen. Und nun wird von dem jungen Toten.
dem die Klage über den Tod hinaus folgt, so gesprochen, als sei er es, der der
Klage folgt. Diese Umkehrung brauchen wir uns nicht im Sinne der Trans-
formation einer Gleichung bewußt zu machen. aber sie trägt unser Ver-
ständnis. Das können wir gar nicht verleugnen. Am Ende will diese zehnte
Elegie den eigentlichen Punkt setzen, den der endgültigen und bedingungs-
losen Zustimmung. Das ist das Leben, daß es auch noch den Tod verwindet.
Mehr noch, daß es gerade aus der Anerkennung der vollen Trostlosigkeit
und Grausamkeit des Todes ihn annehmen lernt als das, was er ist: nicht als
eine unzumutbar beschränkte Dauer und verbunden mit der vorwurfsvollen
Gewißheit, bald vergessen zu sein. Zwar ist es wirklich nur eine kleine
Weile, was wir Leben nennen, und wirklich verstummen die Klagen am
Ende, und die Quelle der Freude schimmert in der Ferne. Aber das ist nicht
318 Rainer Maria Rillte nach fünfzig Jahren

eine bittere Erkenntnis, daß jeder vergessen wird, sondern eine Botschaft.
Wir sollen mit der Dichtung und an ihr die schier herzlose Gewalt des
Lebenswillens erkennen müssen, der jeden Schmerz überwindet und jeden
Toten am Ende ))unendlich tot« sein läßt - und wir sollen all das bejahen.
Das Gleichnis der leeren Hasel, die blüht, ohne die Zukunft der Frucht zu
meinen, und des fruchtbaren Regens, der seine eigene Fruchtbarkeit nicht
meint, will nicht nur sagen, daß wir die anderen, die unendlich Toten, die
wir verloren haben, in ihrem Geschick des Zurückgesunkenseins ins Ver-
gessen erkennen. Das Gleichnis wird uns selber erweckt, wie es ausdrücklich
heißt, und das will sagen, daß wir selber darin unser eigenes Geschick
begreifen. Auch wir werden - wie jene - einst »unendlich Tote« sein,
namenlos und vergessen, und sollen das mit Zustimmung annehmen. Das
zu wissen und,zu wollen - uns in unserer Flüchtigkeit zurücknehmen zu
lernen -, das lehren uns die Toten. »Könnten wir sein ohne sie? <I , so fragt die
erste Elegie. In der letzten begreifen wir vollends, warum der Tod der
»heilige Einfall« der Natur heißen kann - er mahnt uns, des Hierseins ganz
und bedingungslos innezusein.
So etwa läßt sich in Worte fassen, was die Doppelbotschaft vom wirkli-
chen Liebenkönnen und vom Sterbenmüssen uns ausrichtet. Nichts, was
wir nicht wüßten, nichts, worin wir uns nicht wiedererkennen müßten - ein
Wort der bloßen Aufrichtigkeit, nichts als das. Es ist das schwerste. Kein
Wunder, daß viele es nicht hören wollen - hoffend halb, daß sie durch Tat
und Wagnis auch das Unveränderliche und Unabänderliche meistern oder
vergessen könnten, und halb skeptischer Ernüchterung hir!gegeben, die sich
auf nichts wirklich einlassen mag, auch nicht auf das, was sie weiß. Dichtung
hat Zeit. Rilkes Dichtung hatte ihre Zeit, in der kein ästhetisches Raffine-
ment, kein hochgezüchteter Manierismus, keine Emphase und keine herme-
tische Esoterik hindern konnte, daß sie von einer wachsenden Leserschaft
des In- und Auslandes wie auf Händen getragen wurde. Diese Zeit der
unmittelbaren Hingabe ist vorüber. Aber Dichtung hat Zeit, und Dichtung,
die ein halbes Jahrhundert solchen Widerhall zu wecken wußte, bleibt ein
Angebot. Was einst wie hermetisch verschlossen und magisch bewirkend
schien, mag heute fast überdeutlich geworden sein. Wir sind alle in diese Art
von Sonnenferne getreten. Aber es ist eine Sonne. Wo Sprache zu Gebilde
und Gefüge wurde, das in sich derart Bestand und Dauer gewann wie Rilkes
Elegienwerk und was sich um es ordnet, ist ihr immer wieder, in allem
Wechsel von Erblassen und Erglühen, neue Auferstehung gesichert, die ein
betroffener Leser ihr bereitet.
Niemand kann voraussehen, welche Rolle Dichtung überhaupt in der
Gesellschaft der Zukunft spielen wird, niemand, welche die Religion - das
Christentum wie auch andere in Sitte, Recht und Gesetz eingekörperte
Weltreligionen - im Zeitalter des Massen-Atheismus und der Religion der
Rainer Maria Rilkenach fünfzig Jahren 319

Weltwirtschaft spielen wird. Aber die Botschaft der Aufrichtigkeit, in der
das dichterische Werk Rainer Maria Rilkes seinen durchgehaltenen Klang
und bleibenden Ausklang fand, bleibt wahr - wie die großen anderen
Botschaften der Weltliteratur, von Homers lachenden Göttern und weinen-
den Rossen an. Wir sind zu Flüchtige, um mehr wissen und sagen zu
können. Aber zu dem, was Rilkes Dichtung aus den Jahrtausenden unseres
Fühlens beschwor, »Säulen, Pylone, der Sphinx, das strebende Stemmen,
grau aus vergehender Stadt oder aus fremder, des Doms«. wird auch dies
Werk selber zählen, und auch von ihm wird gelten:
So haben wir dennoch
nicht die Räume versäumt. diese gewährenden. diese
unseren Räume.
27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung 11
(1966)

Lange wurdest du um die türelosen


Mauem der Stadt gejagt.
Du fliehst und streust
die verwirrten Namen der Dinge
hinter dich.
Vertrauen, dieses schwerste
ABC.
Ich mache ein kleines Zeichen
in die Luft,
unsichtbar.
wo die neue Stadt beginnt,
Jerusalem,
die goldene.
aus Nichts.
Kein Wort ist einzeln. Kein Wort beginnt mit sich selbst. Man hat immer
schon zugehört. Man hat immer schon etwas gesagt. Man hat immer noch
etwas zu sagen. Auch die Worte eines Gedichts sind nicht eine reine Informa-
tion. die zur Aufzeichnung gelangt ist. Sie sind wie Zeichen und Winke. die
ins Weite deuten. Wenn die knappen Zeilen. die wir hier lesen. nicht von
anderen •• Liedern zur Ermutigung« begleitet wären - sie kämen dennoch
nicht allein. Sje gehören in einen Zusammenhang von Sinn. der fast so etwas
wie ein einheitliches Thema hat. Freilich ist es ein dichterischer Zusammen-
hang. Bildhaftes, Gebärdenhaftes, Metaphern (was wir so nennen) sind
nebeneinandergesetzt. als ob sie auseinander folgten. In Wahrheit gravitie-
ren sie gegeneinander und bilden das Feld einer Erfahrung. Die Zeile, die
diese Erfahnmg nennt. steht in der Mitte des Gedichts: »Vertrauen, dieses
schwerste ABC. «
Man fragt ~ofort: Muß man Vertrauen erst lernen? Kann man es lernen.
wie man schreiben lernt? Als ob einer ohne Vertrauen überhaupt leben
könnte. Ist nicht a11 unser Sprechen von Vertrauen getragen: in den anderen,
der einen versteht, in die Worte, die allekennen, in die Welt. die in ihnen da
ist? Und doch, hier wird Vertrauen als etwas genannt, das man lernen muß.
Hilde Domin. Lied zur Ermutigung 11 321
ganz von Anfang an. Wie muß es verlorengegangen sein, dies Einfachste,
das allem Bleiben im Leben, aller bleibenden Rede zugrunde liegt, das ABC.
Kann man es einfach wieder lernen? Wie etwas noch nicht Gekanntes oder
wie etwas Verlerntes? Sind nicht die Mauern, die entlang man sucht, ohne
Türen? In der Tat: Es ist das schwerste ABC - das man immer wieder
vergißt, das man immer wieder verliert. Wie soll man es lernen?
Den Verlust des Vertrauens beschreibt der erste Teil des Gedichts. Den
Beginn der Rückkehr des Vertrauens der zweite Teil. Der erste Teil ge-
braucht die Du-Form, der zweite Teil die Ich-Form - sicher nicht zufällig. Es
ist dasselbe lyrische Ich, das erst sich selbst anredet wie einen anderen - ist es
denn nicht ein anderer als ich, immer, dem das Vertrauen zum Leben
verlorengeht? -, und das sich dann selber etwas -leise - gesteht und damit
beginnt, wieder mit sich selbst einig zu sein.
Das Bild, das das Gedicht eingangs evoziert, das Gejagtsein (bei dem man
noch nicht recht weiß, von wem), weckt eine der großen furchtbaren Szenen
der !lias, wie Achill den von Todesangst gepackten Hektor um Trojas
Mauem herumjagt, und kein rettendes Tor nimmt ihn auf. Die verzweifelte
Flucht dieses Tapfersten ist in den Eingangsversen da, aber sogleich verwan-
delt und gesteigert. Das erste Stutzen kommt einem bei der Wendung von
den »türelosen Mauernll!. Es sind nicht Mauern, deren Tore unerreichbar
verschlossen bleiben, sondern Mauern, die entlang du Türen suchst und
nicht findest, dich ein- und ausgehen zu lassen in der »Stadt des VertrauenslI,
in der vertrauten Welt. Und ein zweites: Hier tritt kein hilfreich scheinender
Freund dem Fliehenden zur Seite. so daß er seiner Angst Herr wird und sich
zum Kampfe stellt - hier ist kein sichtbarer Feind, den man stellen und dem
man sich stellen kann: Wer hier flieht, hat alle Waffen von sich geworfen.
Denn er hat die Namen der Dinge hinter sich geworfen, weil sie »verwirrt ..
sind und nicht mehr taugen. Das gibt dem ganzen Bild der Flucht erst seinen
radikalen Sinn. Die Verwirrung der Namen der Dinge bedeutet die größte
Gefahr und die äußerste Wehrlosigkeit. Wir wissen nicht nur von Laotse,
daß er mit der Richtigstellung der Namen beginnen wollte, wenn er zu
herrschen hätte, und nicht nur, daß Thukydides die Zersetzung, die das von
der Pest heimgesuchte Athen befiel, an dem Bedeutungswandel von Worten
beschreibt. Wir kennen die ungeheuerliche Verfälschung der Begriffe, die
die VolksverfUhrer aller Zeiten bewirken. Und vielleicht ist das noch zu
partikular gesehen. Daß sich die Namen der Dinge verwirren, daß die Worte
ohnmächtig werden, die ehedem galten, ist wohl immer die Erfahrung, die
den Zusammenbruch eines Vertrauens begleitet. Der versteht die Welt nicht
mehr, den die Schutzwehr der vertrauten Worte nicht mehr umgibt.
Das ist der Sinn der homerischen Metapher dieser Verse: Die Stadt des

1 Siehe dazu auch unten, S. 332f.


322 Hilde Domin, Lied zur Ermutigung Il

Vertrauens, in der es sich allein bleiben und leben läßt, ist unzugänglich
geworden - ja. gibt es sie überhaupt noch hinter den Mauern der Zurück.-
weisung, um die wir gejagt werden?
Man schenkt dem Wechsel des Tempus Beachtung. Die Jagd erscheint in
Vergangenheitsform, eingeleitet durch ))Lange«, das l7lAavy&( np60T1Jßov des
Gedichts, das sogleich auf die Wandlung deutet, die sich anbahnt. Und doch
geht es im Präsens weiter, das Fliehen und Wegwerfen der Namen. Nicht
nur, meine ich. um die verzweifelte Jagd ganz gegenwärtig erscheinen zu
lassen, sondern weil diese Fluchtbewegung des Lebens, diese Jagd von
Enttäuschung zu Enttäuschung. nicht mit einem Schlage zu Ende ist. Sie
dauert fort, wo immer Verständigung und Vertrauen mißlingt.
Umgekehrt darf man nicht fragen. wie das Gedicht plötzlich auf das
Lernen von Vertrauen kommt. Es kommt nicht plötzlich darauf. Vertrauen
ist immer da, immer notwendig. Selbst wo es zerrüttet ist, ist es da, als das,
was man neu zu lernen versuchen muß. Ebenso gilt aber auch: Das Wieder-
erlernen von Vertrauen ist kein unschuldig-zuversichtlicher Neuanfang, der
schrittweise Buchstaben des Vertrauens zu lernen beginnt. nachdem alle
Enttäuschungen erfahren. alle Verzweiflung ausgekostet ist - Vertrauen ist
ein Wagnis. heimlich. unmerklich. uneingestanden. Es gilt, Vertrauen zu
fassen. Diese Wendung unserer Sprache enthält alles, was das Gedicht
sinnlich evoziert. Was einem beständig vergeht, worin man sich ständig
getäuscht sieht, wobei man immer wieder versagt - leise kehrt es dennoch
wieder. Es gibt niemals Beweise, auf die sich Vertrauen berufen kann. Es ist
nicht ein bekannter Buchstabe und eine Folge von Buchstaben, die al~e
kennen, womit das Wiedererlernen von Vertrauen beginnt. Es sind ))zei-
chen in der Luft«, niemand anderem kenntlich, nicht vorzeigbar, kaum
einem selbst bewußt - und doch sind diese ins Flüchtigste gewagten Zeichen
voller Bezug, voller Beginn, voll ersten Bleibens.
Daß die neue Stadt des Vertrauens ))aus Nichts« gebaut ist, versteht sich;
wenn anders Vertrauen Vertrauen sein soll und nicht wohlbegründete Si-
cherheit. Daß sie im »goldenenc( Schimmer einer ewigen Erwartung glänzt,
ein himmlisches Jerusalem, gibt der Wahrheit, die in diesen Versen liegt, ihr
letztes Siegel. Man kann nicht leben ohne Vertrauen, ohne Vertrautheit
ringsum und ohnejene letzte Vertraulichkeit mit sich selbst, die einen "ichc(
sagen und Ich sein läßt.
28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr
(1971)

Wozu Lyrik heute? - Diese Frage braucht dort nicht gestellt zu werden, wo
das Gedicht das Ohr der andern gefunden hat. Die Verleihung des Droste-
Preises an Hilde Domin spricht für sich selbst. Hier wird ein dichterisches
Werk ausgezeichnet, das sich beständig gegen die bange Frage 11 Wozu Lyrik
heute? .. seine eigene Antwort verbürgt. Diese Verse, die heute in einigen
schmalen Gedichtbänden vorliegen (und denen Prosaarbeiten und literaräs-
thetische Studien der Dichterin zur Seite stehen), haben einen unverwechsel-
baren Ton, einen Ton, der wie Atem verhaucht.
Bereits aus dem Umschlag des ersten Bändchens erfährt man, daß diese
Gedichte - bis auf wenige Ausnahmen - erst nach der Rückkehr nach
Deutschland entstanden sind, Schöpfungen eines durch ein Wanderschicksal
gereiften Lebens. Das scheint mir von symbolischer Wahrheit. Hilde Domin
ist die Dichterin der Rückkehr.
Bedenken wir, was das heißt. Es heißt nicht, daß hier ein privates Ge-
schick der Vertreibung und der Heimkehr seine Darstellung im Wort suchte
und fand. Es heißt auch nicht, daß hier ein allgemeines deutsches Schicksal.
das uns zerriß. dessen Wunden sichtbare Narben hinterließen und das nicht
zu schließende Risse verursacht hat, dichterische Bewältigung erfuhr. Man
möge mir verzeihen - aber was die dichterische Gültigkeit dieser Schöpfun-
gen ausmacht, ist nicht von der Art politischer Lyrik, selbst dort nicht. wo
die unvertilgbaren Spuren politischen Geschehens. »silence« und »exile .. ,
Rückblick aufgraueJahre und erneute Angst um die Freiheit, sichtbar zutage
treten. Auch dann nicht, wenn man realisiert. daß der leise Atem dieser
Verse in beständigem Zuspruch dazu ermutigt, an Rückkehr zu glauben.
Das alles ist da, und doch auch noch mehr. Rückkehr ist noch anderes als
das Wagnis und Unterfangen eines ehedem ins Exil Gegangenen. und die
Bilanz dieses Lebensschicksals ist noch anderes als die Summe der Erfahrun-
gen von Verlust und Abschied, Fremde und Ferne, Wanderschaft, Freund-
schaft. Liebe und wie immer man die Reihe der Erfahrungen fortsetzen mag.
die hier anklingen. Es sind Dichtungen. Sie reden von uns allen. Wir alle
wissen oder müssen lernen, was Rückkehr ist. So begegnen wir uns in diesen
Versen selbst, indem wir lernen, was wir wissen.
324 Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr

HUde Domins Verse lassen uns darüber hinaus auf eine neue Weise verste-
hen. was Dichtung ist. Wer mit ihr realisiert, was Rückkehr ist, weiß mit
einem Male. daß Dichtung immer Rückkehr ist - Rückkehr zur Sprache.
Darin liegt die doppelte Symbolkraft ihrer dichterischen Aussage.
Was ist Rückkehr? Rückkehr ist nicht bloß Wieder-da-Sein. Rückkehr ist
doppelter Abschied. Wer - nach langem Femsein - zurückkehrt, muß von
etwas lassen. das sein zu werden begann. Folgen wir nachdenkend einigen
Versen. DaheiBtes:
Ein Reh tritt aus dem Wald,
und eine kleine Kirche auf einem Hügel
mit einem einsamen Kirchhof
winkt dir zu.
Du wägst ihren Gruß
wie eine Einladung,
die man eines Tages
-nochungewiß, wann-
vielleicht gerne
annehmen möchte.
Und daran erkennst du,
daß du
hier ein wenig mehr
als an andern Stätten
zuhaus bist.

Wenn einer das zu spüren beginnt und es nun doch wieder lassen soll. so
macht ihm das neu bewußt. was er einst lassen mußte. So ist Rückkehr ein
zweideutiges Geschenk. Sie ist nicht ein Zurückbekommen dessen, was man
verloren hatte. sondern zugleich neuer Verlust. Und was ist ihr Gewinn? Die
Rückkehr bfSchenkt mit Wiedererkennen. jedoch im gleichen Atemzug
erschreckt sie durch Nichtwiedererkennen:
Meine Füße wunderten sich
daß neben ihnen Füße gingen
die sich nicht wunderten.

Es ist nicht nur so. daß alles andere anders geworden ist, als es war. sondern
vor allem so. daß wir selber anders geworden sind. als wir waren. Es gibt
kein Zurück. Und auf einmal weiß man: Was wie das besondere Los des
heimatlos Gewordenen klingt,
Unsere Sprache sprichst du
sagen sie überall
mit Verwundern.
Ich bin der Fremde,
der ihre Sprache spricht.
Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr 325
ist in Wahrheit ein allgemeines Los. Immer gehen wir aus, und überall ist
Verwundern und kein leichtes Verstehen. Weil das überall so ist, ist Rück-
kehr niemals reiner Gewinn. Mehr noch: sie ist ein neuer Abschied - der
dritte Abschied. Denn jetzt erst ist das, wovon man Abschied nehmen
mußte, ganz von einem geschieden, seit auch die Rückkehr nichts mehr
zurückbringt.
Das heißt nicht, daß Rückkehr schlichte Enttäuschung ist. Rückkehr ist
Erkenntnis. Gewiß, alle Erkenntnis ist Abschied. Aber was im Abschied
reift, ist selber Erkenntnis. Ein neuer Abstand ist gewonnen. Das Atemlose
der Erwartung wird still. Nicht länger werden Ziele planvoll verfolgt.
Vieles entgleitet wie Träume, und unerwartet ist, wohin man kommt. Ein
Gedicht, das ich besonders liebe, spricht aus, was nicht nur von der Traum-
fahrt gilt.
Treulose Kahnfahrt
Aber der Traum ist ein Kahn
zu dem falschen Ufer.
Du steigst ein
an dem schimmernden Holzsteg des Gestern.
Du bist eingeladen
zu einer Fahrt über rosa Wolken
unter rosa Wolken,
wolkengleich.
Ein Hauch der Luft,
du bist so leicht,
der Kahn so steuerlos,
das Wasser so spiegelglatt.
So sanft verlierst du die Richtung:
du bist noch unterwegs nach der Wiese im Licht,
wenn der Sand schon unter dem Kiel knirscht
im Schatten der Weiden.

So wird Rückkehr zur Einkehr. Denn von wo man zurückkehrt - das Exil
läßt man nicht irgendwo da draußen:
Unverlierbares Exil
du trägst es bei dir
du schlüpfst hinein
gefaltetes Labyrinth
Wüste
einsteckbar.

Man irrt in der Wüste sein Leben lang und weiß, daß die fruchtbringende
Oase, in der alles glücklich endet, nie sein wird. Die Dichterin wird in einer
ihrer persönlichsten Gebärden kenntlich, wenn man liest:
326 Hilde Domin. Dichter,!" der Rückkehr

!m,-ner den Kopf geneigt


eine: S:imme entgegen
von eier ich schon weiß
ic!! \\"i:rde sie nie
hören.

Und doch hört dies Lauschen »Lieder der Ermutigung«. Woraus wachsen
sie der Lauschenden zu?
Hier erhebt sich die dichterische Erfahrung in das Allgemeine der Erfah-
rung, die wir alle teilen: die Erfahrung des Wortes. Zunächst freilich scheint
es die ausgezeichnete, uns alle vertretende Erfahrung des Dichtens:
Angst
meIne
unsere
und das Dennochjedes Buchstabens.

Das ist es: Für uns alle besteht der feste Buchstabe. Das Wort verbürgt sich
selbst - und doch, weIch Wagnis ist ein Wort:
Losgelöst
treibt ein Wort
auf dem Wasser der Zeit
und dreht sich
und wird getragen
oder geht unter.

Das Wort, das nicht untergeht, das ist - wie ein atemberaubender Glücks-
fall- das sich ereignende Gedicht. In ihm kommt das Flüchtige zum Bleiben,
und die Atemreise des Wortes gelangt an ihr Ziel.
Meine Hand greift nach einem Halt
und findet nur eine Rose als Srutze:

Man denkt an die Blume des Mundes, wie Hölderlin die Mutter-Sprache,
die die Sprache des Dichtens ist, nennt. Und nun begreift man in einem,
warum der Dichter an unser aller Stelle steht. Das Verhalten des Dichters zur
Sprache ist für uns alle Rückkehr zur Sprache, Abschied und Erkenntnis
zugleich. Denn nie sind Worte sich gleich. Der Dichter ist immer aus dem
Selbstverständlichen ausgewandert. In dem Atem der Atemlosigkeit. die
ihn überall ein Verwundern erregen läßt, wird das Gedicht geboren. Das ist
ein Äußerstes der Vereinzelung. Aber ist es nicht auch Rückkehr in das allen
Gemeinsame? Nicht nur so, daß der Dichter aufgenommen wird von der
Sprache, die alle sprechen. Auch so, daß wir mit ihm mitgegangen sind in
Abschiede und Erkenntnisse. Auch so, daß wir selber immer wieder aus
dem Selbstverständlichen auswandern - wir nennen das Denken - und
Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr 327
zurückkehren in ein Andersgewordenes - wir nennen das Erkenntnis. Nur
weil wir selber so gehen, gehen wir auch mit dem Dichter mit.
Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
daß der Wind
hindurchfährt.
Wer es kann, ist das Gedicht. Das Nächstgegebene wird durchlässig. Es ist
nicht länger das Vertraute und Bekannte. Und doch ist es nicht fremd
schlechthin. sondern auf eine rätselhafte Weise urvertraut. Es ist in Hilde
Domins Versen noch etwas von der Gegenwart des Kindes:
Da stand ein Stein.
ein grauer Stein.
auf einem Hügel im Feld .
•Lieber Stein«, sagte ich •
• nimm mich an.
als seist du ein kleiner niedriger Stuhl
vor einem Herdfeuer
an dem ein Topf Milch steht
bei dir will ich bleiben.
Ich will auspacken
und wie ein Kind
seine Taschen umdreht
und seine Murmeln
und einen zerdrückten Maikäfer
auf dem Boden ausbreitet.
will ich das Meine um dich legen.«
Das ist mehr als ein vergleichendes I) Wiell. Man erkennt sich selbst an dem,
was man im Kinde sieht, nicht nur, daß man auch so war, ganz so. sondern
daß man noch immer so ist. Der zerdrückte Maikäfer, über den die Großen
lächeln -lächeln wir nicht über uns selbst? Daß man mitnehmen mußte,
wovon man sich nicht trennen konnte, auch wenn es einem nichts mehr sein
kann - unzerstörlieh bleibt der Drang in einem jeden von uns, alles das
Meine um sich auszubreiten. Das allen Gemeinsame baut sich so zum
Gedicht auf-aus a11 unseren Vereinzelungen und Erkenntnissen:
sie treffen sich
werden zusammen gebogen
die Botschaften
jeder redet furjeden
gefiltert
die tonlosen Worte
und umgewandelt
in das Wort
328 Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr

Es ist Wandlung ins Gebilde, was geschehen muß, damit das Wort zur
Bürgschaft für das Ding wird. Im Gleichgewicht von Klang und Bedeutung
und in der Spannung zwischen Klang und Bedeutung, in der sich alles
Sprechen suchend und findend bewegt, ist Dichtung ein Höchstes von
Gegenwart. Kein Abstand mehr ist zwischen Meinen und Sein, kein An-
hauch von Draußen, der frösteln macht. Im Gedicht erreicht die Spra<:he die
volle Hautnähe von Wort und Ding:
Wort und Ding
lagen eng aufeinander
die gleiche Körperwärme
bei Ding und Wort

So ist die Rückkehr und Einkehr zur Sprache, die der Dichter voll,bringt,
nicht nur seine eigene Rückkehr, in der er sich wiederfindet, weil er alles
verlor. Es ist unser aller Rückkehr zu uns selbst, in der wir uns finden I.
Denn wir essen Brot
aber wir leben vom Glanz.

, Zum Thema Dichtung im Exil siehe jetzt auch .Heimat und Sprache< in Ges. Werke
Bd.8.
29. Die Höhe erreichen
Hilde Domins Frankfurter Poetik-Vorlesungen
(1988)

Die Frankfurter Poetik-Vorlesungen haben eine bemerkenswert starke Re-


sonanz gefunden. Man versteht es, daß es für viele, und gerade für die
musisch anrührbare studentische Jugend, etwas besonders Verlockendes
hat, wenn Dichter, deren Namen man kennt und deren Schöpfungen man
bewundert, vor einen treten, um einem etwas von dem rätselhaften Zauber
zu erzählen, den Dichtung auszuüben vermag. Und von den Schöpfern
solcher Zauberwirkung unmittelbar zu hören, wie sie es machen. Unter der
nun seit vielenjahren im Gang befindlichen Reihe haben offenbar die Poetik-
Vorlesungen von Hilde Domin einen besonderen Höhepunkt dargestellt.
Sie liegenjetzt in einem Band gedruckt vor l .

Lesung und Vorlesung


Es war offenbar eine fruchtbare Idee, Dichter aufs Katheder zu bitten. Man
darf vielleicht sogar sagen, daß die ubliche Dichterlesung, die in unserem
Bildungsleben durchaus verbreitet ist, durch diese neue Institution übertrof-
fen wird. Denn hier gehen Lesung und Vorlesung eine neue Verbindung ein,
die offenkundig neuen Gewinn erbringt. Die Dichterlesung als eine erste
Begegnung oder Wiederbegegnung mit zeitgenössischer Literatur, in der
der Dichter seine eigenen Dichtungen selbst zum Vortrag bringt, ist eine
wertvolle Erfahrung, ohne Zweifel. Aber sie entspricht nicht ganz dem, was
in unseren Zeiten Literatur ist, und Dichtung ist Literatur. Wie das Wort
schon sagt, ist das Lesen und nicht das Hören und Zuhören die authentische
Begegnung mit literarischen Schöpfungen.
Das gilt im besonderen Maße für die lyrische Poesie. Sie will ja im letzten
Sinne gesungen werden, mitgesungen werden. Wer ein Gedicht liest, hört
sich selber zu. Man will es nicht nur hören, man möchte es selber >machen<,
im Melos mitgehen, im Melos aufgehen. Die rhetorische oder didaktische
1 HILDE DOMIN. Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorle-
sungen. München 1988.
330 Die Höhe erreichen

Artikulation, die ein Vortragender oder Vorlesender an Akzentuierung


aufbringt, um das Ganze eingängig zu machen, muß man selber leisten,
wenn man liest. Auch der Schöpfer von Dichtungen kann wohl selber nicht
vermeiden, wenn er eine Lesung macht, auch die rhetorische Seite dieses
Tretens vor ein Publikum auszufüllen. Das bedeutet, er wird immer anders
lesen. Er muß dem dialogischen Gesetz des Austausches zwischen Spre-
chendem und Hörendem gehorsam sein. Wenn ein Dichter wirklich immer
genau gleich läse, wäre uns das wie eine falsche, erstarrte Reproduktion -
wie das Aufsagen, das man bei einem schlechten Schauspieler erlebt oder bei
einem Kind, das nicht versteht, was es da auswendig gelernt hat.
Dabei hat jede Dichtung ihren eigenen Stil. und wer sie liest oder spricht,
wird bei aller Variabilität, die der Vollzug des Lesens oder Sprechens er-
laubt, diesen Stil einhalten müssen. Es ist ein Stil, der selber in keiner
Wiedergabe voll getroffen wird, aber jeder Wiedergabe das Maß setzt.
Welches Maß? Extreme deuten auf die Mitte. Bach unter den Meisterhänden
des Brahms-Interpreten Furtwängler ließ Bach vermissen. Straube und
Ramin waren zwar sehr verschiedene Interpreten, aber es war Bach. .
Jeder Leser kennt das. Man liest den gleichen Text nicht immer genau so.
Wer liest, tut es ganz für sich selbst. Jeder öffentlich vorgelesene Text
erreicht selten genug das» So ist es«, das dem Leser immer vorschwebt. Alles
ist da fremd, die Stimme, die Modulation des Textes, Tempo, Lautstärke,
kurz, der Gestus. All das sind Zutaten zum Text, auch dann, wenn man am
Ende sagt: »So war es richtig.«
Damit meint man das Gedicht, und man hat gelernt, das Gedicht selber,
ganz ohne Zutaten, besser zu hören. Eine Vorlesung ist dagegen nicht eine
Lesung. Selbst wenn ein wirklicher Schriftsteller einen wohlvorbereiteten
Text vorliest, ist es nicht, wie wenn er unmittelbar aus seinem dichterischen
Werk liest. Es ist eine rhetorische und didaktische Komponente dabei, die
alles mitträgt.
Wenn man aus der Publikation schließen darf, so.hat Hilde Domin die
Forderung der Rolle des Katheders wohl ausgefüllt. Sie hat die Distanz
festgehalten, die zum Katheder gehört und doch eine Gleichstellung des
Sprechers und der Angesprochenen einschließt, wie sie kritische Wissen-
schaft verbreitet. Gleich die erste Vorlesung Hilde Domins schafft diesen
festen Boden. Sie stellt sich der durch Adorno formulierten Herausforde-
rung, daß nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden könn-
ten. So bietet sie eine Art historischer EinfUhrung in die Nachkriegslyrik. Es
ist die Geschichte einer langsamen überwindung, in der die deutsche Dich-
tersprache in den fünfziger Jahren zu erwachen begann, nachdem es ihr die
Sprache verschlagen hatte. Damals verstand sich Adornos Verdikt furjeder-
mann fast von selbst. Wer konnte noch singen?
Die Höhe erreichen 331

Einstimmung ins Lied


Das lyrische Gedicht bleibt ja doch ein Lied, in das man muß einstimmen
können und mit dem man mitgeht. Hilde Domin wurde von dem fernen
Exil aus, das sie mit ihrem Mann, Erwin Walter Palm, gefunden hatte.
Zeuge dieses ersten Erwachens. Sie schildert es so, daß man selber Zeuge
wird, wie einem da etwas zugeteilt wurde, einzelne deutsche Gedichte. die
herüberkamen. Günther Eich. Paul Celan, Ingeborg Bachmann. Man ahnt.
was es bedeutete. Auch wenn die im Exil Lebenden nach wie vor in der
deutschen Sprache daheim waren, und das heißt ja, im Ganzen der deutschen
Dichtung, und wenn in diesem Falle noch das Spanische sie umgab, das eben
damals zu einem neuen Siglo d'oro im Aufstieg war - Gedichte in deutscher
Sprache, die damals herüberkamen. müssen wie ein Weckruf erschollen
sein. Die vieler Sprachen kundige Hilde Domin, die sich das Handwerks-
zeug aller Dichtung im übersetzen seit Jahren erarbeitet hatte, schildert. wie
ungewollt, ungerufen das erste eigene Gedicht, wie man wohl sagen darf,
erwachte. ein natürliches Geschehen, und wie die geheimnisvolle Heilung
einer Lebenskrise eine Rose als Stütze fand.
Es ist das Kapitel einer Lebensgeschichte. die zur Rückkehr nach Deutsch-
land führte. So wurde Hilde Domin zunächst bei uns eine Dichterin der
Rückkehr. So nannte ich sie, als ich im Jahre 1971 die Ehre hatte, ihr
dichterisches Werk anläßlich der Verleihung des Droste-Preises an sie in
Meersburg zu würdigen2 • Aber was war damals Rückkehr? Es war Rück-
kehr in eine veränderte Welt, in ein Deutschland. das kein gesundes Tradi-
tions- und Nationalbewußtsein haben konnte. In den ersten zögernden
Schritten des eigenen neuen Gangs wurde es dann von immer neuen Wellen
der industriellen Revolution gepeitscht, um langsam zu einer Art» Verfas-
sungspatriotismus« heranzureifen. Was war da noch Heimat? Schließlich
gab es eine Art Seßhaftigkeit in Heidelberg mit Erwin Walter Palm, der in
der mittelamerikanischen Erfahrungswelt des Exils ein Kenner und Erfor-
scher der präkolumbischen Kunst geworden war.
Für den Dichter ist das Gedicht wohl immer so etwas wie Rückkehr, aus
der Vielfalt und Fremdheit der Sprachfluten, die einen umbrausen, in eine
Sti1le hinein und zu einer Einkehr, die eine lange Reihe der Lieder der
Ermutigung braucht. Hilde Domin hat diese sich selbst und uns, den an sich
zweifelnden Geschlechtern, zugesungen. Besonders in der deutschen Jugend
hat Hilde Domin damals Antwort erfahren. Frauenlyrik? Mit Recht fLihrte
sie aus. daß sie kein Kapitel, das man llDame Dichterin« beschreiben könnte,
kennt, wie überhaupt alles Private und Persönliche hinter der objektiven
Gewah des sprachlichen Kunstwerkes zurücktreten muß.

2 Vgl. jetzt in diesem Band .Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr<. S. 323ff.
332 Die Höhe erreichen

Unspezifische Genauigkeit
Man fragt sich, woher diese Wirkungsmacht des Gedichteten kommt und
sich in Scmeibpraxis und Lesepraxis bewährt. Die dritte und die vierte
Vorlesung versuchen, vom Schreibenden wie vom Lesenden aus Winke für
die Beantwortung dieser Frage zu geben. Das Kennwort, das Hilde Domin
einfUhrt, lautet: Es ist die unspezifische Genauigkeit, die den einzigartigen
Gebrauchsartikel, der das Gedicht ist, auszeichnet. In der heutigen Literatur-
ästhetik werden Erklärungen dafiir angeboten, worauf diese unspezifische
Genauigkeit beruht. Synonyme, diese Popanze der Grammatik, sind ja für
jeden Denkenden ein Ärgernis. Als ob es das geben könnte, wo doch jedes
Wort in einem Spannungsfeld steht, durch das es sich beständig neu defi-
niert, und, aus diesem Felde gelöst, zur hohlen Hülse verkommt, die im
Lexikon steht. Hilde Domin schreibt: Lyrik,
das Nicht-Wort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort.

In der Tat, die Grammatik kommt da zu Schaden, wo es um das Gedicht


geht. So wie die Logik zu Schaden kommt, wenn einer den spekulativen
Satz, in dem sich Philosophie ausspricht, in seinem Sinn an die Tafel schrei-
ben möchte; und wenn das nicht geht, möchten manche allen Sinn des
Gesagten leugnen. Hier erlahrt man in Wahrheit eine tiefe geheime Gemein-
samkeit zwischen dem Gedanken und dem Gedicht. Beide müssen aller
Regelung widerstehen. Nein, mehr noch. Beide müssen aller Regelung die
Luft nehmen, so daß sie kein Wort mehr sagen kann.
Bleiben wir bei dem Gedicht und dem, was Hilde Domin die Virulenz des
Wortes nennt. Wenn das Gedicht gelingt, weiß man plötzlich, was da richtig
ist, was die unspezifische Genauigkeit besitzt. Man könnte es auch die
spezifische Ungenauigkeit des dichterischen Wortes nennen, das (mit Kant
zu reden) »viel Unnennbares hinzuzudenken « gestattet. Jedenfalls spielt sich
diese Genauigkeit nicht nur zwischen den Bedeutungen der Worte ab,
sondern auch zwischen den Klängen, nicht nur in dem Sinn der Sätze,
sondern ebenso in ihrer Musik. Hilde Domin gibt ein hübsches Beispiel. wie
man dem vom ohr her gerecht zu werden und gerecht zu bleiben hat. Sie
sucht damr dann die Gründe, die nie ganz vollständig gefunden werden
können. Das Beispiellautet3: »Lange wurdest du um die türelosen Mauern
der Stadt gejagt. «
Das Ohr der Dichterin war seiner Sache sicher. Aber Mauern haben doch
keine Türen, sondern nur Tore? Ihr Ohr protestierte. Es muß t)türelose«
3 Siehe oben meine Interpretation .Hilde Domin, Lied zur Ermutigung He, S. 320f.
Die Höhe erreichen 333
heißen. Nun versucht der Verstand sich zu helfen, daß in den großen Toren
einer Stadtmauer immer auch Türen sind »und daß es also realistisch war«.
Die Hauptsache bleibt freilich, daß dem Ohr Genüge geschah. Ja, ist es
wirklich nur das Ohr? Ist es nicht auch immer schon der Verstand, freilich
kein realistischer, dem Genüge geschieht? Durch Tore zieht man gemächlich
ein oder aus, wenn sie einem geöffuet werden. Türen sucht man und öffnet
sie, um einzutreten oder um zu entkommen (und sei es durch die bloße
Hintertüre der verständigen Ausflucht, die die Tür im Tor vorschützt). So
deutet in Wahrheit das Ohr, und so hört unser Denken.
Man folgt dem reichen Anschauungsschatz der Dichterin mit Spannung,
wenn sie in solcher Weise auspackt, wie man schreibt und wie man liest,
ohne Kontrolle durch Regeln.
»Es ist dies ,Dennoch< diese aus dem Nichts aufsteigende Zuversicht - der Augen-
blick von Freiheit, wie ich es nannte -, den das Gedicht dem Schreibenden und dem
Lesenden gibt, von immer zu immer. «

Ein letztes Kapitel gilt Sisyphus. Er ist wie ein Heiliger in der modernen
Welt und ihrer aufgeklärten Verzweiflung. Sie sieht in ihm das »Dennoch«
verkörpert. Jeder Kenner Homers kennt das, so gut wie der Kenner von
Albert Camus und seinem Heroismus der Absurdität. Hilde Domin geht in
ihrer letzten Vorlesung dem Symbol gehalt der Sisyphus-Gestalt nach und
ihrer Aufnahme bei Goethe und vor allem bei Enzensberger und Jüngeren.

Aufnahme eines Mythos


Merkwürdig und vielsagend ist die Aufnahme der Sisyphus-Gestalt in der
Modeme: Diese aus der Odyssee bekannte Büßergestalt im Hades, die
ständig immer wieder den Felsblock den Berg hinaufrollt - und im letzten
Augenblick donnert er wieder zu Tale. Das ist ein schon in der frühen
Vasenkunst beliebtes Motiv. In der Neuzeit wird die Figur des Sisyphus aus
einer Büßergestalt zum Symbol für den Heroismus des Absurden. Hilde
Domin schreibt: »Warum war Sisyphus dazu verurteilt? Das interessiert
eigentlich nicht.« Wirklich nicht? Lernen wir eigentlich nicht immer daraus,
wenn wir auf die Weisheit des Mythos zu hören versuchen? Wissen wir es
wirklich besser?
Sisyphus, das Wort heißt eigentlich: ,der überkluge<. Er wird als eine Art
mythischer Vater des Lügenmeisters Odysseus in Anspruch genommen,
aber meist nicht gerade im freundlichen Sinne. Da werden ihm allerhand
Vergehen gegen Zeus und die Götter überhaupt angehängt. Homer
schweigt über das Vergehen des Sisyphus ganz, wofür er im Hades zu
solchem absurden Tun verurteilt ist. Es ist vielsagend, daß Homer darüber
334 Die Höhe erreichen

schweigt: Das wußten alle. Der Sache nach ist es doch wohl eindeutig, wie
wir aus Theognis etwa belegen können. Die Hadesstrafe geht darauf zurück,
daß Sisyphus mit Klugheit und List selbst den Tod zu überlisten verstanden
hat. Den Tod umgehen. ihn fesseln oder betrügen. das wird hier durch die
Bußarbeit im Hades geahndet. Sie soll nicht etwas besonders Grausames
sein, sondern etwas besonders Aussagekräftiges. Diese Sisyphusarbeit wie-
derholt symbolhaft, was es heißt, den Tod nicht wahrhaben zu wollen. Im
Zeitalter der technischen Lebens- und Sterbensverlängerung, in das wir
eintreten, gewinnt der Sisyphus-Mythos an Stimme. Nein, es gibt ein
anderes »Dennoch«. Das Gedicht ist der Felsblock. der nicht wie der tücki-
sche Marmor entrollt. Es erreicht die Höhe.
30. Gedicht und Gespräch
Überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meisters
(1988)

Nicht, daß ich eine Interpretation des Werkes von Ernst Meister im Ganzen
des lyrischen Schaffens der Gegenwart geben will. Ich möchte mein Thema
am Beispiel einiger seiner Gedichte lediglich illustrieren. Zu etwas anderem
hätte ich wirklich keine Kompetenz. Ist es doch ein verwirrendes Kaleido-
skop, das die gegenwärtigen lyrischen Versuche darstellen. Al$ alter Mann
denke ich daran, was in der eigenen Jugend galt. Da zieht vieles an einem
vorüber. Da war das Experiment der expressionistischen Lyrik. vor und
während der Kriegszeit des Ersten Weltkrieges, was damals in die Welt trat.
Doch war das eine Welt, in der sich neben vielem Vergänglichen eine Reihe
von wenigen ganz Großen herausgehoben hat - der junge HofmannsthaI,
der Dichter Stefan George, Rainer Maria Rilke und, als der fast einzige aus
der expressionistischen Dichtergeneration, der noch heute zu allen spricht,
Georg Trakl. All das verband sich mit dem einzigartigen Phänomen, das die
Wiederentdeckung des späten Hölderlin in den Jahren meiner Jugend dar-
stellte. Später schloß sich daran, vor allem nach dem zweiten Kriege, der
dichterische Eigenton eines Gottfried Benn und die versiegelte Botschaft
eines Paul Celan. Das waren die zeitgenössischen Dichter, die mich zu
meiner eigenen Lebenszeit wirklich begleiteten. Und wenn mich auch
manch anderes Gedicht berührt hat, erlaubt mir das sicherlich nicht. als ein
Kenner der modernen lyrischen Dichtung aufzutreten. Ich muß mich anders
legitimieren. Ich möchte darauf hinweisen, daß das bedeutendste deutsch-
sprachige Buch zur philosophischen Ästhetik unbestreitbar die dritte >Kri-
tik( Immanuel Kants ist, die >Kritik der Urteilskraft<. Indessen, der rechte
Kunstrichter scheint er doch nicht gewesen zu sein, wenn er dort als ein
lyrisches Beispiel bringt: »Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend
quillt. « Abgesehen davon, daß Kant falsch zitiert, in dem Originalgedicht
von Withof, einem Nachfolger Hallers, heißt es: »wie Ruh aus Güte quillt«,
kann man doch wohl nicht sagen, daß dies der Harfenklang echtester Poesie
ist. Und doch hat Kant dank seiner Begriffskraft wahrhaft öffnend und
befreiend gewirkt und mit diesem Buch, der dritten >Kritik(, der großen
336 Gedicht und Gespräch

Epoche deutscher Literatur die philosophischen Grundlagen ihres Selbstver-


ständnlsses bereitet.
Man sieht an dem Beispiel: Was den Philosophen oder den, der versucht,
philosophische Gedanken wieder zu denken, auszeichnet, ist etwas anderes
als eine ausgebreitete kritische Kennerschaft. Es ist eher aus dem Abstand,
aus der Distanz zu dem, was gerade gegenwärtig ist, daß wir das sehen
lernen, was immer ist. Und gilt das nicht insbesondere für die Kunst, daß sie
uns wirklich zu zeigen vermag, was immer ist? So ist doch unser aller
Verhältnis zu dem, was heute ist, daß wir immer zugleich unter dem
gewaltigen Nachhall unserer geschichtlichen Herkunft stehen. Sie ist unsere
Gegenwart, und zu ihr gehört nicht nur unsere eigene Geschichte, sondern
das gesamte Leben und Schaffen der Menschheit auf diesem Planeten. Das
schließt ein, daß wir stets mit den Augen der Kunst aller Zeiten die sehen, die
wir kennen. Was dagegen fiir die Kritik, also rur den Kunstrichter, entschei-
dend ist, ist noch mehr und verlangt ein anderes Können. Der Kritiker ist
vor die Aufgabe gestellt, im zeitgenössischen Schaffen das Originale, das
Dichte, das wirklich Produktive au~ einer großen Fülle von formgerechten
modischen Nachahmungen herauszukennen. Der gute Kritiker kann das in
gewissem Grade, und vielleicht auch mancher Künstler. Ich selbst beanspru-
che solches Können nicht. Ich reflektiere darüber, was die Sinnkraft des
dichterischen Wortes bedeutet, wo immer es für mich· zum Sprechen
kommt!. Auf dieser Grundlage mächte ich über Gedicht und Gespräch
nachdenken. Das sind beides Weisen, wie uns etwas zu verstehen gegeben
wird. Wie können sie das vollbringen, daß wir verstehen müssen, auch
wenn wir uns sträuben? Man kann das Nachdenken darüber wohl Herme-
neutik nennen, das heißt Theorie des Verstehens. Aber eine solche ist im
Grunde genommen nur die Selbstbewußtwerdung dessen, was eigentlich
geschieht, wenn einem etwas zu verstehen gegeben wird und wenn man
versteht. So möchte ich von Gedicht und Gespräch sprechen und die innere
Nähe zwischen diesen beiden Formen von Weisung durch Sprache sowie die
innere Spannung zwischen ihnen bewußt zu machen versuchen.
Auch wenn ich mir der Spannung bewußt bin, die zwischen Gedicht und
Gespräch besteht, so ist doch ein gemeinsamer Zug ganz offenkundig.
Gedicht und Gespräch sind Extremfälle innerhalb des großen Bereiches der
Formen von Sprache. Das eine, das Gedicht, ist Aussage. Was denn sonst in
der Welt ist so sehr Aussage wie das lyrische Gedicht - eine Aussage, die wie
keine zweite rur sich selber zeugt, auch ohne gerichtliches Siegel. Demge-
genüber ist das Gespräch zwar das, wodurch Sprache als Sprache eigentlich

1 Zur Nähe von Gedicht und Gedanke vgl. ,Philosophie und Poesie. in Bd. 8 der Ges.
Werke und die übrigen dort gesammelten programmatischen Beiträge zum Thema
,Dichten und Deutene und zum Verhältnis von Philosophie und Literatur.
Gedicht und Gespräch 337
lebt und worin sie ihre ganze Bildungsgeschichte durchläuft. Nur dadurch,
daß Menschen miteinander sprechen, gibt es ja Sprache. Gleichwohl aber
erscheint hier die Sprache nicht wie ein gegebener, greifbarer Werkstoff.
Wenn ein Gespräch sich mit Sinn erfiillt oder auch seinen Sinn verfehlt, so
begegnet in Sprache nichts anderes als Zeitigung von Sinn. Zeitigung von
Sinn zu sein, scheint mir die kürzeste Formulierung des Wunders und
Rätsels Sprache, dieses Knochens, von demJohann Georg Hamann gesagt
hat, daß er sein Leben lang an ihm herumnage. Hamann sieht sich hier wie
einen Hund, der seinen Knochen nicht losläßt, auch wenn kein Fetzen
Fleisch mehr davon loskommt. Wenn dergestalt Sprache immer Zeitigung
von Sinn ist - wie anders ist doch die Sprache des Gesprächs, wie anders die
kristallinische Erscheinungsform von Sprache im Gedicht. Dort geschieht
nicht nur Zeitigung von dauerndem Sinn im verhauchenden Wort, sondern
da ist die sinnliche Gegenwart des Wortes zur Dauer gekommen. Was läßt
Sprache hier zu solcher Gegenwart werden, daß sie selber Bestand und
Dauer gewinnt? Ein wenig herausfordernd möchte ich sagen, die Tragkraft
des lyrischen Gedichts liegt im Ton .• Ton< meine ich im Sinne von r6vot;,
)Spannung<, wie die der gespannten Saite, aus der der Wohlklang tönt. Daß
Verse einen .Ton< haben, das ist die unvergleichliche Auszeichnung des
wirklichen Gedichtes. Dieser Begriffvon )Ton< ist vor allem von Hölderlin
für das, was ein Gedicht zum Gedicht macht, gebraucht worden. Es ist Ton,
der sich durchhält, was das Wunder zustande bringt, daß das Gedicht )steht<,
mit Hölderlin zu reden: in der flüchtigen Weile einiges Haltbare ist. Weil das
Gedicht dies vermag, so Bestand zu sein, ist solches Wort mehr als alles
andere ein Text, das heißt, es ist etwas, an dem nichts geändert werden darf
und kann, weshalb es sich gegen übersetzung in fremde Sprachen so grau-
sam sperrt.
Das Wort .Text< ist im eigentlichen Sinn Ausdruck für ein Gewebe. Da
wird aus lauter einzelnen Fäden ein untrennbares Ganzes. So ist auch in
einem Gedicht aus vielen Worten und Lauten eine solche Einheit des Ganzen
geworden, die sich eben durch die Einheitlichkeit des Tones auszeichnet.
Wir kennen das wohl alle, wie der Nicht-Dichter Verse macht, die gefallen
mögen, aber keinen eigenen Ton haben, und wir kennen es etwa auch alls
dem Reiz und der Problematik des Vorlesens von Gedichten2 . Da gilt es, den
Ton zu treffen, den das Gedicht hat, und ihn richtig zu Gehör zu bringen.
Eigentlich muß dieser Ton schon im Ohr aller sein, damit der Sprecher
gleichsam nur das heraussagt und vorspricht. was alle innerlich mithören.
Denn das ist ein Gedicht: der Refrain der Seele. Refrain ist, worin alle
einstimmen. Der Refrain der Seele ist freilich kein bloßes Einstimmen in

1 Ausführlicher da2U .Stimme und Sprache< in Ges. Werke Bd. 8 und die anderen
Aufsätze dort zur Beziehung von Hören und Lesen zum Wort der Dichtung.
338 Gedicht und Gespräc:h

einen schon erklingenden Text oder seine Melodie. so wie im Singen eines
Liedes der Refrain von allen spontan wiederholt wird. Es ist vielmehr von
Anbeginn an ein Mitgehen mit dem ganzen Gesang, zu dem das Gedieht
einlädt und das sich nur im Mittun ganz erflillt. Es ist wie beim festlichen
Lied. bei dem ein jeder mitsingt und wir alle leine Seele( sind.
Dagegen macht auf der anderen Seite gerade der Tausch von Wort und
Antwort das Gespräch aus. Auch gehört Unwiederholbarkeit der sich steI-
lenden Fragen, der gegebenen Antworten zum Gespräch. Ein Gespräch ist in
dem Moment um sein Leben gebracht, in dem der andere nicht folgt und
statt zu antworten, fragen muß: Kannst du das noch einmal sagen? Schon ist
es mit dem eigentümlichen, fast tänzerisch leichten Geiste vorbei, in dem ein
Gespräch sich von selbst bewegt. wenn ihm ein guter Wind weht. Wohin
weht er? Wir wissen es: auf Einverständnis hin, auf das wir, wie es scheint.
als denkende Wesen angelegt sind. Verständigung mit dem andern - und
Verständigung mit uns selbst, so, wie die nichtdenkenden Lebewesen von
jeher mit sich einig sind. Worüber wir Einverständnis suchen und fmden. ist
aber kein Text, der uns vorgegeben wäre oder nachgereicht würde. Der
Gang eines Gespräches ist vielmehr ein Geschehen. das seinem eigenen
Wesen nach sich nicht dazu eignet. in einem Protokoll registriert zu werden.
Wir kennen das aus mancher Erfahrung. Das ist auch eine literarische
Erfahrung. Nichts ist so schwer, scheint es, als Dialoge zu schreiben oder
Gespräche zu berichten, in denen nichts geschieht als ein Austausch von
Worten und das Vorbringen von Gründen. die die rechte Antwort auf eine
Frage vorbereiten. Außer Plato sind in der philosophischen Literatur fast alle
Philosophen bei dem Versuch gescheitert, solche Gp.spräche zu schreiben.
Daß sie es immer wieder versuchen, versteht man gleichwohl. Es ist offen-
bar die Natur der Bewegung des Geistes, daß wir in Wort und Gegenwort
denken. So konnte Denken von Plato geradezu als das Gespräch der Seele
mit sich selbst bezeichnet werden. Da machen wir uns selber in jedem
Gespräch mit uns selbst Angebote. nehmen sie an oder verwerfen sie, und
ebenso im Gespräch mit dem anderen, bis so etwas wie ein gemeinsamer
Boden gewonnen, eine gemeinsame Sprache gefunden ist und Verständi-
gung (wenn es auch nicht immer Einverständnis sein kann). So etwas zu
schreiben. niederzuschreiben, oder gar, es zu erfinden und zu erdichten, ist
schwer. Es ist fast unvermeidlich, daß da ein roter Argumentationsfaden
sich nach vorne drängt und die Partner des Gesprächs zu bloß einander
abwechselnden Sprechern herabstilisiert. Sonst kann das Erzählen gewiß
alles, wld vollends der Theaterdichter kann ein Gespräch und muß ein
Gespräch gestalten können. Er hat dabei nicht nur den Zauber der Bühne.
auf den er vertrauen kann, so daß sich alles in Handlung und Geschehen
verwandelt. Auch ohne das ist ein solches Gespräch, das ein Geschehen
zwischen Handelnden ist, als Rede und Gegenrede in dieses Geschehen
Gedicht und Gespräch 339
eingebettet. Wo dagegen die Worte flir bloße Argumente stehen und das
Gespräch allein darauf geht, aus Rede und Gegenrede Sinn zu zeitigen, gibt
es eigentlich keinen Text. Wie fern sind wir da dem, was ein Gedicht ist.
,Gedicht, heißt ,Diktat<. Auch sprachlich heißt das Wort nichts anderes. Es
schreibt sozusagen durch seine Fixierbarkeit oder auch seine Wiederholbar-
keit, wenn man es aus dem Gedächtnis herausgreift, den genauen Text vor,
den zu hören und im Ohr zu haben gefordert ist. Das ist offenbar die volle
Umkehrung des Verhältnisses, das sonst zwischen Sprache und Schrift
besteht. Schrift ist im allgemeinen die nachträgliche Fixierung lebendigen
Sprechens. Im Fall des Gedichts ist dagegen alles wirkliche Sprechen dassel-
be, ein mehr oder minder unvollkommener Versuch, den Text so zum
Sprechen zu bringen, wie wir ihn als Lesende im Ohr haben. So stehen sich
Gedicht und Gespräch wie Extreme gegenüber. Das Gedicht gewinnt dann
als ,Literatur<, das Gespräch lebt von der Gunst des Augenblicks. Aber in
bei den geschieht das gleiche: Zeitigung von Sinn.
Bevor wir nun das Gespräch mit den Gedichten, wie sie uns Ernst Meister
hinterlassen hat, versuchen, sollten wir über die Lage der Lyrik in der Welt
von heute ein paar Erwägungen anstellen. Ich setze es wie eine These hin:
Wir leben in der Epoche der semantischen Poesie. Wir leben nicht mehr in
einer Welt, in der eine gemeinsame Sage, Mythos oder Heilsgeschichte oder
gewachsene überlieferung. als allen gemeinsames Gedächtnis uns unseren
Horizont mit Bildern umstellt, die wir im Wort wiedererkennen. Mit der
Gemeinsamkeit der Inhalte, an die man nur anzuspielen brauchte. ist auch
die Sprache der Rhetorik mit ihren bekannten Formeln und Floskeln aus
dem Gedicht gewichen. So bleiben semantische Einheiten, die sich nicht von
selbst einen, vielmehr auseinanderstreben. vielsinnig und gestreut, wie sie
sind. Derrida hat das dissemination. ,Streuung<. genannt. Das gibt dem Vers
eine Spannung eigener Art. Es ist, als ob Verfremdung der Sprache der
zunehmenden Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen Welt
entsprechen müsse [Motorendonner dringt betäubend durch die Fenster:
Ah. die Kirchenglocken der Industriewelt?J. Doch wenn wir uns darüber
verständigen wollen. was ein lyrisches Gedicht ist. dann müssen wir. meine
ich, nach dem Gemeinsamen im Wandel fragen. Das ist, wie immer, das
leitende Vorurteil der Philosophie, das sie in Wahrheit mit allen Menschen
teilt, daß am Ende doch das Denken und die gemeinsame Grundausstauung
des Menschen mit Vernunft und Sprache uns zusammenbindet. Kein Zwei-
fel, daß wir in einer Welt der Fragmente und einer zersplitterten Sprachge-
genwart leben und es dem Dichter aufgegeben ist, dennoch die Einheit einer
Sage - seiner Sage - zu Worte zu bringen. Ein Gedicht ist und bleibt eine
Versammlung von Sinn. auch wenn es nur eine Versammlung von Sinn-
fragmenten ist. Die Frage nach der Einheit des Sinnes bleibt als eine letzte
Sinnfrage gestellt und erfährt im Gedicht ihre Antwort. Wenn wir von
340 Gedicht und Gespräch

dieser ersten Voraussetzung ausgehen, dann sehen wir mit einem Mal einen
inneren Bezug des Gedichts auf das Gespräch. Das Gedicht eint alle auf
seinen Sinn. Auch das Gespräch ist der Versuch, zwischen divergierenden
Partnern in Rede und Gegenrede, Wort und Antwort, zu einem Gemeinsa-
men hinzufinden - selbst gegen den Donner der Motorräder. Auch ein
solcher Vortrag ist ein Versuch, mit sich selbst und mit den Zuhörern ins
Gespräch zu kommen. Nun wird man einwenden: Kann man so überhaupt
noch reden? Ist solche Erwartung von Sinn, über den man sich verständigt,
heute überhaupt noch sinnvoll? Heutige Theoretiker dulden es nicht, daß
man so redet. Die nicht mehr schönen Künste sind nicht mehr schön, und
nach dem Sinn zu fragen heißt, daß man einer Metaphysik der Präsenz
verfällt, über die die Zeit und das Denken hinweggegangen sind.
Nun, sofern ich fortfahre zu reden, bin ich wohl verpflichtet, in dem, was
ich sage, Sinn vorauszusetzen - und dem andem zuzumuten. Aber wieder
wird man einwenden: Hat das Sinn? Fragen wir: Was ist denn Sinn? Sinn ist
eben nichtjbnes verfUgbare Ganze, über das wir immer schon alle einig sind,
eine Welt des Sinnes jenseits der Wirklichkeit, eine platonische Hinterwelt,
die es seit Nietzsehe nicht mehr geben soll. Sinn ist, wie uns die Sprache
lehren kann, Richmngssinn. Man sieht in eine Richtung, so wie der Uhrzei-
ger, der sich in einern bestimmten Sinne dreht. So nehmen wir alle, immer,
wenn uns etwas gesagt wird, die Richtung auf Sinn. Formensolcher Sinnah-
me sind das Gedicht, das wir verstehen und dessen Aussage nie ausgeschöpft
ist, und das Gespräch, in dem wir sind und das als das unendliche Gespräch
der Seele mit sich selbst nie zu Ende ist.
Ich möchte nun diese Überlegungen an ausgewählten Versen von Ernst
Meister auf die Probe stellen. Ich beginne mit einer Strophe aus einem
Gedicht, die lautet:
Spiel ruhig mit Worten.
Das raten sie dir, die
listigen Töchter, sie,
jenseits von Zeugung,
die Vogelgestimmten.

In diesen Versen ermutigt sich gleichsam der Dichter zu seinen semantischen


Freiheiten. Diese Verse sagen, daß in den Worten eine überlegene Listigkeit
steckt, ein Wissen, dem man folgen soll. Worte sind einfach da, nicht von
jemandem gezeugt. Gerade darin sind sie wie eine große Einladung, ihnen
zu folgen. Sie' sind wie Vogelstimmen. Eine unlösbare Einheit von Sinn und
Klang bietet sich in ihnen an, und wie der Gesang der Vögel seinem eigenen
Jubel folgt, ist das Gedicht jenseits von allem Machen und Meinen. Und
doch sagen sie etwas aus, diese Worte, die wie Vogelstimmen sind.
Hören wir ein anderes Gedicht:
Gedicht und Gespräch 341

Immer noch
laß ich mich glauben,
es gebe
ein Recht des Gewölbes,
die krumme Wahrheit
des Raums.
Vom Auge gebogen,
Unendlichkeit,
himmlisch,
sie biegt das Eisen,
den Willen, sterblich
ein Gott zu sein.

Schon die ersten Worte dieses Gedichtes: »Immer noch« rufen die ganze
bedrängte Situation des Menschen ins Bewußtsein. der in einer Welt lebt.
die nur den geraden Weg auf die geplanten Ziele hin für den rechten Gang
der Dinge zu halten wähnt. Das strömt gleichsam aus dem ganzen Fluß der
Informationen auf uns ein. Im täglichen Gebrauch unserer Sprache schlägt
es sich nieder. so gut wie in der maschinellen Form, in der Sprache heute
auf uns eindringt. Ein jeder ist der Versuchung ausgesetzt, die von da
ausgeht, in diesen Glauben an die eigene Geradlinigkeit des Willens zu
verfallen. Dies ist nicht nur die Versuchung des Dichters, so zu denken.
Das Ich. das redet. will dagegen festhalten, allen Einwänden zum Trotz,
daß es doch so etwas wie eine ))krumme Wahrheit« des Raumes gibt. Das
Gedicht nennt das auch das »Recht des Gewölbes«. und man kann kaum
anders als an die Gewölbe der Gotteshäuser mitdenken, die trotz allem
recht behalten sollen. Die zweite Strophe führt das aus. I) Vom Auge gebo-
gen ... ce: das Auge, das mit dem Gewölbe sozusagen mitgeht und sich mit
ihm biegt. rührt an die Unendlichkeit der Rundung des Kreises. Das ist
keine von einem Anfang zu festem Ende führende Bewegung. Der Kreis
verbildlicht seit alters die anfangs- und endlose Bewegung, wie sie die
kreisenden Gestirne am Himmel vollführen. Von dieser Erfahrung der sich
rundenden Unendlichkeit heißt es: »Sie biegt das Eisen, den Willencc. Die
auf sich bestehende Geradlinigkeit des Willens, die so hart wie Eisen ist,
muß sic.h doch biegen lassen. Es ist die Erinnerung an die Vermeintlichkeit
der eigenen Göttlichkeit, die dem Sterblichen am Kreislauf der ))krummen
Wahrheit« des Raumes immer wieder kommt.
Wir kommen langsam ins Gespräch mit dem Gedicht. Das verlangt Zeit.
Denn freilich ist es wahr, daß man ein Gedicht nicht verstehen kann, wenn
man es nur einmal gehört oder gelesen hat. Wer so etwas glaubt, hat
überhaupt noch nicht erfahren, was ein Gedicht ist. Es lädt einen zu einem
langen Hören und zu einer Wechselrede ein, in der sich Verstehen voll-
zieht. Es ist die Kompetenz des Lesers. aus der ich das sage. Das Gedicht
342 Gedicht und Gespräch

muß mit dem Leser ein Gespräch führen. Aber nicht nur ist das Gedicht mit
dem Leser im Gespräch, das Gedicht ist selbst ein Gespräch, ein Selbstge-
spräch.
Das möchte ich wiederum anhand eines Gedichtes von Ernst Meister
bewußt machen. Die Gedichte, aus denen ich zitiere. sind fast alle aus dem
letzten Jahrzehnt Ernst Meisters. In ihnen herrscht das Motiv des randlosen
Raumes, der Unendlichkeit des Raumes, in dem der Lebenden und der
Toten Stätte wie verloren ist. Es ist ein Leitmotiv der dichterischen Schöp-
fungen dieses Dichters. Hören wir:
Aufgebrochen mit der Haut
und dem Haar aus
dem Wald und der Lust,
wessen sorgt es, das Tier
mit dem Geist als dem Zwiegehöm?
Dieses ist wahr: es
sorgt seiner Wege,
Sprache sprechend gewiß,
wenn es stößt
an die Ecken
der waltenden Luft, seines
Todes Vorsprung.
An diesem Gedicht ist deutlich - und ich entschuldige mich dafür -, daß
philosophischer Unterricht auch an einem Dichter Spuren hinterläßt. Man
spürt, wie in diesen Versen aus der gemeinsamen Erfahrung des philo-
sophischen Katheders und seines Zuhörers gesprochen wird. Da ist der
Mensch als »das Tier mit dem Geist als dem Zwiegehörn« angesprochen,
und wie es gleichsam aus der Welt des tierischen Lebens aufgebrochen ist,
und zwar ganz und gar mit Haut und Haar. Wie hier eine Redensart zu neuer
sinnlicher Kraft erwacht! Da ist er, der Mensch. Das Haarkleid bedeckt ihn
nicht mehr und die Haut liegt bloß. Den Wald der sicheren Zuflucht und die
Lust, die ihn fraglos beherrscht, hat er verlassen, um in Sorge zu leben. Was
fUr ein Tausch unu wofUr? Es ist die Frage des Gedichtes. eine nahezu
verzweifelte Frage. Die Antwort ist nicht gerade zuversichtlich. Die zweite
Strophe sagt es, was diese Sorge und die sorgende Lage des Menschen ist,
herausgerückt aus allen Naturbahnen von Wald und Lust. Diese Ausgesetzt-
heit im Offenen hat die Struktur des Fragens, das immer auch die Zwiefalt
des Zweifels in sich hat. Daher das »Zwiegehöm«, das das Tier mit dem
Geist trägt. Es vermag Dinge als mögliche vor uns hinzustellen, in einen
offenen Raum der Entscheidung, für und wider, für richtig und falsch, für
Brauch und Mißbrauch. Wir sind ständig dieser Lage ausgesetzt, die Sorgen
heißt. Daß wir so sind, indem wir sprechen, verstehen wir sofort. Denn das
ist Sprache, dieses Vor-uns-Stellen des Möglichen, dies Vorstellen des
Gedicht und Gespräch 343
Kommenden, auf das hin wir wollend und wählend unterwegs sind. Darin
liegt unsere Auszeichnung im Sein. Aber wunderbar dieses »gewiß«. wie es
ein Zugeständnis ist. das zurückgenommen werden muß. Denn in allem
Voraus blick in den offenen Raum seiner Zukunft. der wie »waltende« Luft
ringsum frei und offen liegt, stößt er ständig an die »Ecken«. mit; denen der
Tod in diesen Raum hineinsteht und das ist, woran er sich stößt. Nicht nur
ein Vorsprung, der den freien Raum beengt, ist der Tod fur ihn, vielmehr ist
er selbst, wie Heidegger sagte, das Vorlaufen zum Tode. Das sind nicht zwei
Dinge, sondern eines, seines Wegs sorgen, den offenen Raum mit Vorausse-
hen, Vorausplanen, »Sprache sprechend« besetzen, und sich ständig an den
Ecken des Endes, am Tode, stoßen. Es sind die beiden Aspekte menschlicher
Endlichkeit.
Bevor ich zum Schluß noch ein Gedicht zitiere, möchte ich ein paar
Bemerkungen vorausschicken. Bei all seiner Endgültigkeit steht ein Gedicht
nicht anders als auch sonst ein denkendes Wort im Horizont des Ungesag-
ten. Was es auszeichnet, ist, daß es sogar immer im Horizont des Unsagba-
ren steht. Immer ist es ja das Ganze, was man verstehen möchte, so wie der
Ton eines Gedichtes es uns sagt und wir als Denkende es niemals ganz zu
sagen vermögen. So ist ein Gedicht stets ein Gespräch, weil es diesen Dialog,
dieses Zwiegespräch mit sich selbst, ständig führt. Da mag man ein Wort
nehmen - ich möchte nicht sagen: )es wählen(. obwohl ich durchaus keine
romantischen Vorstellungen über das Machen eines Gedichtes stützen will.
Vielmehr glaube ich, daß die Worte )einem kommen(. Sie sind früher da, als
wir sie in bewußter Besinnung vor uns stellen, auch wenn wir ~agen: )das
gewählte Wort(. Im Gedicht haben wir keine Wahl. da nehmen wir das dem
Gedicht kommende und gekommene Wort. Sosehr das gekommene Wort
ein Bruchteil und Fragment dessen ist, was das Gedicht ist. stellt es an uns
bereits die strenge Forderung, im Fortgang das Gleichgewicht des Ganzen
wiederherzustellen. Paul Valery hat einmal gesagt, der erste Vers eines
Gedichtes sei das Schwierige, er entscheide über alles. In der Tat scheint ein
Gedicht wie ein Gespräch. Es entfaltet sich, es bricht gleichsam das ständige.
schweigende Hören und setzt sich dem aus, daß ein anderer ins Wort fällt.
daß ein anderes Wort flillt, wie eine Antwort. Das kennen wir im Denken als
den Einfall, auf dem im Grunde die ganze Spannung einer Aussage beruht.
die sich darauf aufbaut.
Das Gedicht fäUt auch nicht vom Himmel, als ein in sich Rundes. weder
dem Dichter noch dem Leser in den Schoß. Es ist wie ein Gespräch. und
unser Verhältnis zum Gedicht muß wie ein Gespräch Sinn zeitigen, indem es
Teilnahme an dem Gespräch leistet. Den heutigen Dichtern, die sich so oft in
das Autobiographische zurückziehen, möge es gesagt sein. daß im dichteri-
schen Wort Autobiographie überhaupt nur Sinn hat, wenn wir in ihr alle
mitgezählt sind, miterzählt werden. Nur dann können wir mitgehen.
344 Gedicht und Gespräch

Das ist der große Vorzug des Gesprächs, daß es dieses Mitgehen aus-
drücklich fordert und sich desselben versichert. Darum hat Plato in einer
manchmal fast ermüdenden Weise seinen Sokrates durch die Antworten
dessen, der da >Ja{ sagt oder >Nein{ sagt oder >Vielleicht{, immer wieder
unterbrechen lassen, wenn Sokrates nicht gerade wie ein Inspirierter seine
Mythen erzählt, die über alles Wißbare hinauslenken. Solange Sokrates dem
Logos des Gedankens folgt, bietet im Gespräch mit dem anderen zu sein,
durch das bloße Mitgehen des anderen, einen unvergleichlichen Anhalt für
einen jeden, sich nicht zu versteigen und zu verlieren. Der andere ist selber,
im Mitgehen, wie der andere unser selbst. Mitgehen zu gewinnen, das ist es,
was der Dichter ebenso sucht wie jeder sonst Sprechende. Er sucht es gewiß
vor allem als ein Mitgehen mit sich selber, Hinhören auf sich selber, auf das
Wort, das kommen muß. Wie man nur mit dem ein Gespräch führen kann,
der nicht alles schon weiß, sondern hinhört, was dem anderen kommt und
was von dem anderen kommt, so ist es auch bei dem Gedicht und dem
Gespräch mit dem Gedicht. Auch der Interpret muß in solchem Gespräch
sein. Es ist eine verrückte Theorie, daß das mitgehende Verstehen, auf das
alle Interpretation zielt, so etwas sein möchte wie eine Konstruktion des
Sinnes, der angeblich im Gedichte liegt. Wenn das möglich wäre, brauchten
wir das Gedicht nicht mehr. Das Gedicht weist uns vielmehr wie ein sich
fortentwickelndes Gespräch in die Richtung auf einen nie ganz einzuholen-
den Sinn hinein. Da ist keine Rekonstruktion eines verfügbaren Sinnes, gar
Reduktion auf das, was der Dichter >im Sinne{ gehabt hätte. Es gilt, in dem
inneren Gespräch mit der Sprache selber mitzugehen - so wie man es eben
tut, wenn man im Gespräch ist. Man sucht Winke zu empfangen, wohin
man zu sehen hat. Daher gibt es kein einziges anderes Kriterium fUr die
richtige Interpretation eines Gedichtes im ganzen, als daß die Interpretation
absolut zu verschwinden weiß, wenn man das Gedicht erneut vollzieht. Eine
Interpretation, die einem immer noch als eine solche gegenwärtig ist, wenn
man das Gedicht neu liest" oder spricht, bleibt äußerlich und fremd. Stets war
etwas überbelichtet, etwas überhellt, und es gelang nicht, das zurückzuneh-
men, was vom Interpreten dazukam. So wird jede Interpretation eines
Gedichtes daran gemessen, ob sie das Gedicht selbst wieder sprechen zu
lassen weiß. Das Gedicht ist der Refrain der Seele, die zwischen Ich und Du
immer dieselbe Seele ist.
Zum Abschluß möchte ich eines der Gedichte Ernst Meisters zitieren, die
mich am meisten bewegen. Es ist ein Gedicht, das eigentlich ganz pro-
blemlos scheint - und vielleicht gerade deshalb fragt man sich bei ihm,
warum es eigentlich ein Gedicht ist, zu dem man immer zurückkehrt und das
man eigentlich erst >hat{, wie man überhaupt Gedichte hat: Erst wenn man es
auswendig kann, läßt man sich von den Worten Winke geben, immer neue,
die in die Richtung des Sinnes weisen.
Gedieh! und Gespräch 345

Die alte Sonne


rührt sich nicht
von der Stelle.
Wir
indem
dämmrigen Umschwung
leben
die Furcht oder
die schwere Freude.
Liebe-
Verlaß und
Verlassen,
von ihr
haben wir gewußt
auf dem Trabanten,
eh alles
vorbei.

Es sind einfache Worte, die fast so etwas wie eine kosmische Vision vor uns
aufleuchten lassen - Pascal hat sie beschworen: das neue Universum mit dem
Sonnen-Zentrum und der unendlichen Kleinheit des Irdischen. Das ist ge-
wiß nicht das neue Universum von heute. Astronauten und Astrophysiker
und die allgemeine Bildung. die ihnen folgt, sehen in unserem Sonnensy-
stem wieder nur ein rührendes kleines Wink elchen im Ganzen. Etwas von
Rührung zittert auch in dem Wort, mit dem das Gedicht einsetzt: I) Die alte
Sonne«. Wer wird wohl die Sonne die »alte Sonne« nennen? Vielleicht
jemand, der an diese unendlichen Weiten der astrischen Systeme denkt, die
unser heutiges Bild des Universums füllen. Doch liegt auch so etwas wie
Vertrautheit in dem Wort »die alte Sonne«, etwas von Zärtlichkeit - und fast
von Trauer.
Schon in diesem ersten Worte klingt etwas von der Flüchtigkeit unseres
eigenen Daseins an. Der uns vertraute Sonnenlauf vom Morgen bis zum
Abend. über den Sommer und Winter hin. ist gar nicht. Was ist, ist der
Umschwung, in dem wir uns befinden. Es ist ein »dämmriger Um-
schwung«. So wird er genannt im Vergleich zu der dauernd strömenden
Lichtquelle und Wärmequelle, die die Sonne ist. In den kosmischen Maßen
jenes kopernikanischen Weltbildes schon liegt die Erfahrung der menschli-
chen Begrenztheit: Es ist ein riesiger Unterschied der Dimensionen zwi-
schen dem System der Sonne, in dem wir leben, und diesem Trabanten, der
der Sonne folgt, auf dem wir leben, und all unsere Furcht lind Freude leben.
Hier gewinnt das Beiwort zu "Freude«, "schwere« Freude zu leben, ein
ungeheueres Gewicht. Natürlicherweise erwartet man bei Freude das Leich-
346 Gedicht und Gespräch

te und das Erleichternde, das im Erfahren von Freude liegt. Die kosmischen
Maße, in denen hier das Menschsein gesehen ist, lassen aber die Freude nicht
nur ein Leichtes sein, sondern ebenso auch ein Schweres. Der Fortgang
macht das sichtbar: "Liebe - Verlaß und Verlassen. (e Hier kann man die
semantische Produktivität eines solchen Gedichtes besonders gut erfassen.
Wie sich hier zwei Bedeutungen wie "Verlaß« und» Verlassen« ineinander-
fügen und zugleich auseinandergehen - im Rhythmus und Gesang dieses
Gedichtes hat das eine umfassende Bedeutung. Da ist all das darin, was uns
Menschen, in unserer Winzigkeit, in der Ausgesetztheit in die Leere des
unendlichen Raumes, dennoch eingeräumt ist. Da ist Verlaß, der in der
Erfahrung der Liebe ist, und da ist Verlassen, das Erfahrung der Liebe ist,
und das Dauern von Liebe über Verlaß und Verlassen hinaus. Es klingt fast
wie ein Gegengewicht zu einem fehlenden Gleichgewicht, daß auf diesem
winzigen Beiläufer des kreisenden Universums solche Erfahrungsmöglich-
keiten von Einzigkeit bestehen. Sie sind das Unsrige, "eh alles vorbei«. -
Geht alles vorbei? Der Vorsprung des Todes, das Hineinstehen des Todes in
alle vermeintliche Dauer und Gegenwart - wieviel wiegt diese Gewißheit
gegenüber Verlaß und Verlassen? Auf diese Frage ist die Antwort dieses
Gedicht. Vielleicht hat die kurze Vorstellung solcher Gedichte ein konkretes
Beispiel dafür gegeben, wie zwischen Gedicht und Gespräch vieles unseres
Menschseins ausgespart ist, und man ahnt, daß das unendliche Gespräch des
Denkens in den unendlichen Gesprächen, die es mit Gedichten fuhrt, immer
wieder seinen Partner findet.
31. Ernst Meister, Gedenken V
(1977)

Grün nun
des ersten Frühlings:
ein Blatt
scheidet die Lippen ...
Wer ist tot, wer
lebt von uns zweien?

Einer ist da,


einer kommt.
Das Blatt zwischen uns,
Wie es duftet!
Grün ist das Schwarze
der langwährenden Zeit,
schwarz ist das Grüne.
Auf singender
wie verwesender Zunge
schläft
des Lebens Warum.

Das letzte Gedicht einer Folge, die dem Gedenken an jemanden gewidmet
wird, der dahingegangen ist. Ein Abschluß - vielleicht eine Bilanz? Ein Ende
und Anfang? Wie jedes Ende ein Anfang?
Gewiß auch ein Anfang. Denn das erste Wort dieses Gedichts ist DGrün",
das Grün des ersten Frühlings. Doch zeigt sich, daß dieses Gedicht etwas
ganz anderes sagen will. Das Grün spricht nicht wie ein erstes Versprechen.
Es ist mehr wie eine Frage: Was nun? Wie soll das »Nuncc der Zukunft
bestanden werden, die als das erste Entfalten eines Blattes sich öffnet? Es
»scheidet die Lippen«. Das erste Grün ist wie ein Öffnen der Lippen für ein
Wort, das mir etwas sagen will. Aber nun ist die ganze Antwort des
Gedichtes: ,Nein< - es gibt nicht einfach nur den überlebenden. »Wer ist tot,
wer lebt von uns zweien?c( Die einfältige Eindeutigkeit des Am-Leben-Seins
hält fiir den Zurückgebliebenen vor der Frage des neuen Hoffnungsgriins
nicht stand. Gewiß, man ist am Leben. Aber woran ist der, der am Leben ist?
Ist er nicht einfach Idranc, ohne zu wollen, ohne ja zu sagen?
Ernst Meister. Gedenken V

So scheint es zu sein. Die zweite Strophe spricht es aus: »Einer ist da, einer
kommt.« Es heißt nicht: Einer ging, einer kommt. Es ist eine Aussage, die
uns alle umfaßt, uns allen gemäß ist. Beides, Dasein und Kommen, meint
das »Da«. Aber was ist das Da? Ist es wirklich das, wovon der, der gegangen
ist, ganz und gar abgeschieden ist, wie durch das erste Wort des Frühlings,
das den Dahingegangenen nicht mehr erreicht?
Was so die Lippen scheidet, das Blatt zwischen uns, ist jetzt anders
gesehen. Es ist zwischen uns da. Mochte das »einer - einer« einen jeden von
uns, uns alle, uns Menschen überhaupt meinen: ))das Blatt zwischen uns«
meint mich und dich. Es ist nicht länger nur das die Lippen scheidende, das
sich entfaltende Blatt, das nur uns meint und nicht dich. ·Es ist da als Duft,
und der Duft ist nicht des Blattes allein. Er ist in das »Da« verteilt, verbin-
dend und nicht scheidend. Dieser Duft ist so sehr da, daß er alles verbindet
und einhüllt, selbst das, das nicht mehr da ist. Eine intime Affinität verbindet
Duft und Spur, Duft und Gedächtnis. Duft, das Flüchtigste, das uns entge-
genweht und so rasch verweht ist wie wir selber, ist in das Da verteilt.
So kehrt die letzte Strophe die Frage zur Antwort um. Das Grün ist nicht
länger das Dieshier des neu sich entfaltenden Blattes, das das Schwarzgrau
der winterlichen Äste belebt, und ist nicht das Grün der Hoffnung, das
sachte das Schwarz der Trauer überwächst. Der Beginn der Strophe mit dem
gleichen Wort »Grün«, mit dem die erste anhob, ist wie der Anfang einer
Berichtigung. Es ist nicht länger das Grün, das über das Schwarz siegt. Grün
und Schwarz sind, wie tot oder lebendig, Hoffuung oder Trauer, Sein und
Nichts, ineinandergespiegelt und ununterscheidbar.
Das »Schwarze / der langwährenden Zeit« ist die Zukunft, in ·der auf
nichts gehofft wird, in der sich nichts als Grün der Hoffnung abhebt, ein
dichtes, unartikuliertes Schwarz. Sie ist selber grün, aber nicht grün, wie
alles Grüne ist. Denn ))schwarz ist das Grüne«. Der Rhythmus dieser speku-
lativen Identität von Grün und Schwarz läßt die Antithese ganz und gar
hinter sich. »Da« ist nicht länger das Da dessen, der da ist, dessen, der sich
weiß und im Da hält. Keiner weiß sich. Auch die singende Zunge, die von
der »verwesenden Zunge«, der zum Lob des Da nicht mehr tahigen Zunge,
ganz geschieden scheint, weiß nicht, weiß keine Antwort auf sein Dasein,
auf lIdes Lebens Warum«.
Warum das ein gutes Gedicht ist? Oh, vielleicht, weil es soviel wegläßt
und doch eindeutig ist. Oder vielleicht, weil es das fast erschreckend Ab-
strakte des letzten Wortes, das »Warum«, so einfach hinsagen darf und· so,
daß man versteht: Es heißt »Warum« und nicht ))Wozu«. Man muß all die
vielen Warumfragen mithören, die die Kinder fragen. Auch auf die Frage
nach des Lebens Warum, diese Frage aller Fragen, kann keine Antwort
genügen.
32. Denken im Gedicht
(1990)

Der Kopj
Der Kopf, zu sehr
im Dunkeln über sich verwundert,
beneidet viel:
den Fels ... die Pinie absolut ...
o Schlummer dieses Wachen,
Wachsenden und sich Vermindernden!
Wer macht den Hauch
von einer Sichel
über Meer und Eiland
erst vorhanden?
Gesetzt.
ich fragte so
und gäbe Antwort:
Ich!
Des Abgrunds wär ich
immer nicht
enthoben
meines Wunderns.
{Ernst Meister, Pythiusa (1958])

Wenn man solche Verse liest, möchte man sich manchmal fragen, ob das ein
Gedicht ist oder eher ein Gedankenspiel. Hier kommt das Wort »absolut"
vor. Es kann doch nichts anderes als ein Gedankenwerk sein, was dieses
geläufige Wort plötzlich zu einem alleinstehenden Wort macht. Es ist wie ein
Begriff zu lesen und bleibt damit die Spur eines Gedankens. Was meint es?
Offenbar hängt es damit zusammen, daß der Kopf Fels und Pinie beneidet.
Wenn es von diesen beiden »absolut« heißt, meint das offenbar, sie sind
fraglos und bedingungslos da. Der Fels ist da und die Pinie ist schlummernd
wach, wachsend und sich vermindernd - aber auch das meint »seiend«. Der
Kopf dagegen ist »verwundert«. Er kennt Fragloses nicht. So muß der Kopf
sich hier über sich verwundern und darüber, daß es fragloses Sein gibt, das er
350 Denken im Gedicht

nur beneiden kann. Der Kopf ist sehr im »Dunkeln« und sehr über sich
verwundert. Das sagt nicht, daß ihn etwa die Schönheit der Natur überwäl-
tigt. Im Grunde ist hier keine Landschaft evoziert, auch nicht etwa eine
abendliche Stunde auf dieser südlichen Insel, die vom Rauschen der Wogen
umtönt ist. Was für ein Kopfist das dann? Einesjeden Kopfist es, so sehr im
Dunkeln über sich zu sein und all das zu beneiden, was einfach ist, was es ist,
ohne zu fragen.
Der Kopf fragt aber weiter, nicht nur wegen des beneidenswerten Seins,
des schlummernden Wachseins von Fels oder Pinie. Er wundert sich weiter-
hin über sich, daß ihm, diesem zweifelnd Fragenden, schier keine Grenze
gesetzt scheint. Da in der ferne ist die Mondsichel über Meer und Eiland zu
sehen. Gewiß ist es nicht dunkle Nacht. Es heißt ja von der Mondsichel, sie
sei ein »Hauch«, ist also fast nicht sichtbar, ein silberweißer Strich, ein
Beinahe-Nichts. Mehr nur ein Phantom, kaum )Sein(. Es ist ein Beinahe-
Nichts, das nicht wie Fels oder Pinie wachend oder schlummernd da ist.
Nein, es scheint erst vorhanden, weil ich bin. Das ist doch unglaublich. Es ist
nicht von ungefähr, daß man sich dessen bei diesem Fernstenblick bewußt
wird. Der erste Anblick der Mondsichel am noch hellen Himmel steht in
manchem Völkerglauben für einen Wunsch gut. Daß ich es sehe, soll etwas
ausmachen. Ob man an den Volksglauben denkt oder nicht, auf alle Fälle ist
man gegenüber diesem Hauch des Beinahe-Nichts der Überlegene. Daß ich
es sehe, soll es machen, daß dieser Hauch von Sein vorhanden ist?
Das scheint ein allzu verwegener Gedanke. Es ist auch gar kein Gedanke
über etwas Wirkliches. Es heißt ja nur ,>Gesetzt«. Es ist nur ein Gedanken-
spiel. Und doch, auch dann tut sich der Abgrund auf, der uns von Fels und
Pinie trennt. Gesetzt, daß ich so fragen würde. Aber wer IIGesetzt« sagt, ist
schon Fragender. Der Abgrund meines Wunderns bliebe. Ich wäre dessen
»nicht enthoben«, nicht darüber hinausgehoben. Es bliebe das Dunkel, das
zu sehr Verwundertsein. Es bleibt der Abgrund des Nichtseins. Der Fragen-
de reißt ihn auf. Er kann ihn nicht ergründen und kann sich von ihm nicht
losreißen. Das ist die lockende Tiefe des IIAbgrunds«(. Das heißt aber zu-
gleich, sich selber kann er nicht lIabsolut« setzen, und daher sind Fels und
Pinie, in all ihrem Daher und Dahin von Wachsen und Sichmindern, zu
beneiden, weil sie sind.
So mag man es verzeichnen, daß alles dem Dichter der Todeslyrik immer
leise zu ihm spricht. IIErbaut sich nicht in mir ein Kloster?« ... »Wenn die
letzte Schindel gedeckt ist ... « Das Gedicht gehört einem Zyklus, der
,Pythiusa< an. Es ist ein alter hermeneutischer Grundsatz, daß man nur aus
dem Ganzen die Teile verstehen kann. liEs gehen vorüber die Nächte der
Sichel.« Ich könnte fast jedes Gedicht aus diesem Zyklus zitieren. Darunter
ist ein Gedicht, mit dem Tite111Höhle«, das ich ganz zitieren möchte:
Denken im Gedicht 351

Jetzt ist es Grauen,


nun ist es Liebe.
Die Woge durchgreift
Deines Inneren Höhle.
Es läßt dieb los,
du mußt dich lösen.
Von Schmerz ein Tau
beschlägt die Höhle.
Und dieser mundet
wdchem Winde und Diebe?
Jetzt ist es Grauen,
nun ist es Liebe.
Man kann ein solches Gedicht nicht ganz aus seinem Zusammenhang lösen,
nicht ganz von der Frage lösen: Wer? Wo? Wie? Einer weilt auf einer Insel,
nach der die Wogen zu greifen scheinen. Was für eine Höhle ist es, wo »die
Woge durchgreift« - ins Unerreichbare? Wo ist die Insel? Welche Höhle? Es
ist eines Inneren Höhle.
M:m fragt sich, ob hier überhaupt eine Insel da ist, eine Höhle. eine Woge.
Aber eines steht fest: »Jetzt ist es Grauen, nun ist es Liebe.« Liegt in solchen
Fragen eine Antwort? Variieren sie nur oder wiederholen sie sich? Man
könnte das Ganze so lesen, als ob der Reisende, der hier auf seiner Insel allein
ist. das Grauen der Einsamkeit in Abschiedsschmerz und Liebe sich wandeln
sieht. Aber in Wahrheit ist doch wohl jedermann in dieser Einsamkeit. Auf
allem liegt der leichte Tau des Abschiedsschmerzes, das Grauen vorm Tod.
Man sucht in den letzten Versen eine Antwort. Darf man lesen, daß es erst
Grauen ist und dann Liebe? Das Gedicht sagt aber »jetzt« und »nun«. Beide
Male wird dieser Vers ganz gleichlautend wiederholt. Er steht am Anfang
wie am Schluß des Gedichts. Das kann nur heißen, daß Grauen und Liebe
voneinander untrennbar sind. Wenn auch das »Jetzt« und das »Nun« einen
I
Wechsel anzeigt, so doch einen unaufhörlichen. Man sucht nach einem Vor-
Zeichen. Der Vokalklang scheint aus dem Abgrund des Grauens auf Liebe
hinauf zu weisen. Aber eine Abwandlung in der Wiederholung des Rätse1-
paares von Grauen und Liebe findet man nicht. Immer greift die Woge nach
dir. - Oder ist da doch ein Zeichen? In der Wiederholung wird Liebe zu
einem Reimwort. Es ist mehr als eine bloße Wiederholung. Jetzt ist es der
Refrain des Daseins. Das Leben lebt sein Aufund Ab, und doch hat es seinen
Anhalt und damit sein Zeichen gefunden. Es reimt sich. Freilich, der Ab-
schiedsschmerz reimt sich auf das Flüchtige. auf »Winde« und »Diebe«.
Aber ist nicht gerade das die Antwort?
Der Kopf ist die Höhle. in die die Wellen hineinschlagen und aus der sie
zurücklaufen. Nichts läßt sich halten. Da ist der Abgrund, an dem der
Fragende steht. Er kennt kein fragloses Sein. Er weiß vom Ende. Weiß der
352 Denken im Gedicht

Dichter, was er schrieb? »Hin und wieder I den Abgrund versteh ich.« -
Weiß es der Leser? Wer weiß, was er versteht? Verse können auf vielerlei
Weise verstanden werden. Jedoch, es bleiben die gleichen Verse. Es ist ein
guter hermeneutischer Grundsatz, wo man Hilfe sucht, in einem größeren
Ganzen, im Werk des Dichters zu blättern. Das folgende Gedicht aus späten
Jahren (I Wandloser Raum() mag man als Antwort lesen. Abermals ist es ein
Denken im Gedicht - oder ist es das Gedicht, in dem der Augenblick ist?

Das Gedicht lautet:

Lange hast du, scheint es,


gewartet, um ins
Flüchtige zu gelangen,
denn erst jetzt bist du da.
Nun fragst du,
was es war,
das im Augenblick
ist.
33. Kafka und Kramm
(1991)

Der Kafka-Zyklus des Malers Willibald Kramm gehört schon seit langem zu
den Dingen, die mich beschäftigt haben. Das gleiche gilt erst recht für das
dichterische Werk von Kafka, der ja erst langsam im deutschen Sprachraum
als ein wirklicher Dichter von Weltrang durch· die Untergrundlektüre des
Dritten Reichs in das literarische Bewußtsein der Deutschen eindrang. Für
mich selbst hatte die Bekanntschaft bereits am Anfang der 30er Jahre einge-
setzt. So kann ich kaum anders, als von den Zeitdifferenzen auszugehen, die
zwischen Kafkas langsam bekanntwerdendem dichterischen Werk und dem
Werk des Malers bestehen, und über unser heutiges Verhältnis zu beiden
Abständen nachzudenken. Es ist ja bekannt, daß Kafkas Werk nur in einem
sehr einzigartigen Sinne ein Werk ist. In Wahrheit ist es eine Hinterlassen-
schaft, deren Vernichtung durch das Testament des Dichters selber angeord-
net worden war. Des Dichters nächster Freund, Max Brod, dem wir die
Herausgabe dieses Werkes verdanken, hat sich erst in langen Gewissens-
kämpfen dazu entschließen können, den letzten Willen seines engsten Freun-
des nicht auszufti.hren. Wir wissen, wie Wünsche über den Tod hinaus in
eine unauflösliche Zweideutigkeit übergehen. So hat auch der Dichter Max
Brod sicherlich mit vollem Recht den langen Gewissenskampf, den er
gekämpft haben mag, bestanden. Er sieht sich dadurch gerechtfertigt, daß er
mit der ihm übertragenen Vollmacht nach seinen Kräften aus den Fragmen-
ten dieser literarischen Hinterlassenschaft einige Werke von weltliterari-
schem Rang der Weltöffentlichkeit dargebracht hat.
Ich bin in der Kafka-Forschung durchaus kein Fachmann und nehme den
Text, wie er in Max Brods Redaktion vorliegt. Wir lesen ja bis heute den
Roman IDer Prozeß( in einer Ausgabe, welche keine wirkliche literarische
Dokumentation ist: Wir lesen die von Max Brod redigierte Fassung, die
selbstverständlich auch für den Maler Willibald Kramm die einzige Grundla-
ge war. Wer Willibald Kramm gekannt hat, der weiß überdies, was für ein
im Grunde genommen einfacher, in literarischen Dingen durchaus nichc
vielseitig versierter Mann er war. Er h~t diesen Roman mit Maleraugen
gelesen. Was für ein Gegensatz zwis~hen diesem urwüchsigen Sonderling,
der Willibald Kramm war, und auf der anderen Seite dem in Prag aufge-
354 Kafka und Kramm

wachsenen jüdisch-deutschen Schriftsteller, der sich in dem hochgezüchte-


ten literarischen Milieu von Prag bewegte. Freilich war er ein von Zweifeln
Zerfressener und an seinem eigenen Leben unendlich leidender Mann. Kafka
war ein unauffalliger Angestellter in einem unscheinbaren Beruf, von dem
kein Mensch erwartete, es könne ein großer Dichter in ihm verborgen sein.
Man kann kaum ermessen, was für Abstlinde zwischen dem Dichter und
diesem Maler zu überwinden nötig waren. Wie sehr seine damalige Lektüre
von 1950, also etwa 30 Jahre nach der Niederschrift dieser Romanfragmente,
bei Kramm einschlug, davon zeugt der Zyklus dieser Gouachen. Was ihm in
diesem Roman entgegenkam, war eine fast surrealistische Welt, die Welt
eines gespensterhaft unwirklichen Alltags, in dem sich die schreckliche
Leidensgeschichte des JosefK. abspielt. Was für eine Umsetzung vom einen
ins andere war hier gefordert! Dieser Maler will offensichtlich nicht seiner-
seits erzählen, was dem Josef K. an seltsamen und llihmenden Erlebnissen
zustößt und was er alles durchleidet. Was diese Bilderfolge zu erzählen weiß,
ist weit eher die Geschichte innerer Erfahrungen, die ein Leser macht und die
er ins Bildhafte übertragen will. So ist es eine ganz neue Schöpfung, die da
vor uns steht, und nicht etwa eine Folge von Illustrationen.
Es wäre abwegig, diese Blätter mit der Kunst der Illustration zu verglei-
chen. Die große Leistung vor allem der englischen Illustratoren des 19.
Jahrhunderts ist berühmt, und es ist fast unmöglich, von ihr abzusehen,
wenn man Dickens liest oder Thackeray oder irgendeinen anderen der
großen englischen Romanciers der Epoche. Diese Illustratoren der ersten
Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts haben es fertiggebracht, die Leser-
phantasie durch eine tänzerische Leichtigkeit der genialen Zeichnung nicht
zu beengen, sondern eher noch anzuregen.
Wenn wir vor die Bilder von Willibald Kramm gestellt sind, geht es um
etwas ganz anderes. Gewiß ist es keine beiläufige Beziehung oder Anspie-
lung an Kafkas Roman. Es handelte sich nicht um eine äußerliche Benen-
nung einer malerischen Schöpfung, wie sie etwa ein heutiger Maler sucht,
wenn er ein Werk geschaffen hat und darüber nachzudenken anfängt, wie er
dies ganz Bezuglose wohl benennen sollte, und am Schluß vielleicht als
Benennung wählt: >Nr. 3(. Hier bei Kramm handelt es sich um eine wirkli-
che Antwort auf die Erfahrung, die die Lektüre des Buches von Kafka
diesem Leser am Anfang der SOer Jahre bereitet hat. Darüber hinaus ist es als
eine Schöpfung dieser Jahre die Antwort auf ein Stück Lebensgeschichte und
Weltgeschichte. Etwas war damals zu Ende, das wir alle wie befreit hinter
uns sahen, und wie aus einem bösen Traum erwachte einjeder mit der Frage,
ob sich neue Wege öffnen würden. Das malerische Werk von Willibald
Kramm ist das Resultat einer solchen neuen Öffnung. Wer einmal die frühen
Arbeiten von Willibald Kramm gesehen hat, die vor allem im märkischen
Raum Aufnahme gefunden hatten und die der epochalen Wendung seines
Kalka und Kramm 355
I
eigenen Lebens und unser aller Schicksals vorauslagen, mag ahnen, was
für ein fruchtbarer Moment es war, in dem sich im Maler Willibald
Kramm die seltsame Welt Kafkas auftat. Sicherlich war in Kramms
künstlerischem Leben eine innere Kontinuität über alle Umbrüche hinweg
am Werke. Alle unsere Umbrüche sind ja am Ende immer Formen einer
vertieften Kontinuität mit uns selber.
Wenn ich von solchen Überlegungen ausgehe, dann konnte meine eige-
ne Vorbereitung für einführende Worte in den Zyklus von Willibald
Kramm im wesentlichen nur darin bestehen, auch meinerseits über den
Abstand von Jahrzehnten nachzudenken, der meine Erstlektüre des Kaf-
kaschen Romans im Jahre 1930 und die inzwischen, etwa 1950, wieder-
holte Lektüre von meiner jetzigen Lek~üre trennt, wie ich sie mit dem
Blick auf den Krammschen Zyklus in diesen Tagen erneut getrieben habe.
Dazwischen lag bereits seit langen Jahren mein kleiner Essay über diesen
Zyklus, der wiederholt gedruckt worden ist1 • Die Folge solcher Wieder-
begegnungen mit dem gleichen Werk ist bedeutsam. Es gibt für uns
Marksteine in der Weltliteratur, an denen sich das Wachsen und Werden
eines Menschen und seine geistige und menschliche Formung gleichsam
bemißt. So war es für meine Generation schon in den zwanziger Jahren
etwa mit Dostojewskij und den .Brüder Karamasow<, die ich in meinem
Leben wiederholt wie zu eigener Vermessung gelesen habe. Wem ein län-
geres Leben beschieden war, dem werden auch an einem Werke wie dem
von Kafka die eigenen Stufen des Reifens und das eigene Mitgehen ables-
bar. Als jetzt das große Interesse der Italiener an der deutschen Philo-
sophie auch ästhetische Arbeiten von mir in neuem Gewande, d. h. in
italienischer Sprache, in Italien. bekanntmachte - das war vor allem ein
Verdienst von Professor Dottori -, geschah es, daß bei dieser Gelegenheit
in Rom der Kafka-Zyklus WiIlibald Kramms aus dem Besitz von Frau
Wawe Speer endlich einmal wieder in die größere Öffentlichkeit gelangen
konnte. Daß es jetzt und heute auch in Heidelberg durch unsere Initiative
möglich wurde, danken wir dem Orte, dem .Sole d'Oro(, an dem das
Erbe und das Gedenken an WilIibald Kramm seit langem liebevoll ge-
pflegt wird.
Als ich in diesen Tagen das Ganze des Werkes hier an den Wänden
erblickte, war ich zunächst von der außerordentlichen Wirkung fast be-
troffen, welche die etwas dunkler getönten Wände in diesem Raum dem
Zyklus bereiteten. Gerade auch gegenüber den - an sich vortreffiichen -
kleinformatigen Reproduktionen zu meinem früheren Versuch lernt man
1 Zuerst im Katalog der Gedächtnisausstellung .Willibald Kramm: 1891-1969. Ge-
mälde und Zeichnungen aus 35 Jahren' (Ausstellung vom 4.Juli-15. August 1971).
Heidelberg 1971, S.25-27. Wiederabgedruckt in: H. ROTJfE (Hrsg.), Kafka in der
Kunst. Stuttgart 1979, S. 120-122.
356 Kafka und Kramm

hier, was das originale Format fiir ein Werk der bildenden Kunst bedeutet,
eine Lehre, die im Zeitalter der Reproduktion gar nicht genug eingeschärft
werden kanh.
Wer je Kafkas Roman IDer Prozeß< gelesen hat, der hat das Grundgesche-
hen, das er beschreibt, in gewissem Sinne ständig vor Augen. Es ist ein
unheimliches Buch, weil es darin auf die natürlichste Weise so unnatürlich
zugeht wie vielleicht nirgends in einem anderen erzählenden Werk der
Weltliteratur. Man hat das Gefiihl, daß da etwas ganz Gewöhnliches ge-
schleht, und selbst Ungewöhnliches und Unerwartetes läuft immer wieder
auf die gewöhnlichsten Folgen hlnaus. Die ganze Welt scheint so verläßlich
wie immer - bis es am Schluß der Folge dieser Fragmente auf das Ende
zugeht, noch immer leise, noch immer wie gewöhnlich, bis wir zum Schluß
vor einer ausweglosen Schrecklichkeit stehen. Insbesondere die große Szene
im Dom läßt uns unüberhörbar alle die letzten Fragen an unser Ohr dringen,
die uns je erreicht haben. Der Roman bereitet dem Leser eine Erfahrung von
wahrhaft quälerischer und selbstquälerischer Art. Kein Wort, glaube ich,
kommt so häufig darin vor und leitet einen neuen Satz und eine neue
Wendung des Gedankens ein, wie das Wort 'Allerdings<. Immer wenn etwas
klar gesagt schien und für einen Augenblick etwas Festes und Unumstößli-
ches hingesetzt schien, und wenn man daraufhin so etwas wie Führung für
die Handlung, für das Geschehen und die Gedanken des geschilderten lei-
denden Helden gewonnen zu haben glaubt, wendet sich der Gedanke in ein
neues ,Allerdings< um. Dies ,Allerdings< leitet dann meist nicht irgendein
Argument ein, das ein neues Schlaglicht von großer Helligkeit wirft, das
alles endgültig erklärt. Es ist vielmehr wiederum etwas von erstickender
Trivialität, die alle Klarheit widerruft und aufs neue aufschiebt.
Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mich daran zu erinnern, als bei einer
Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Kommission
gewählt werden mußte und der Leiter der Veranstaltung sagte, es sei aller-
dings eine vorläufige Kommission. Kafkas Echo dröhnte mir in den Ohx:en.
In der Tat, das ist Kafka. Beim Lesen von Kafka befinden wir uns ständig in
einer unheimlichen Weise zwischen Grauen und Anwandlung zum Lachen.
Beides gilt nicht nur dem Josef K. selbst mit seinen Erlebnissen, sondern
ebenso für den Leser, der diese Geschichte, die Kafka erzählt, liest. Es ist
Humor darin, aber ein so schwarzer Humor, daß man manchmal geradezu
wie vom Ersticken beengt wird. Es ist eine miese, stickige, kleinbürgerliche
und verkommene Umwelt, in der dieser Josef K. herumirrt. Es hat etwas
Verwirrendes, wie die Suche nach dem hohen Gericht in den Hintertreppen
der Gewöhnlichkeit und der kleinlichsten Alltäglichkeit von dem besorgten
JosefK. unternommen wird. Nicht nur, daß man sich bei diesem gewissen-
haften, pünktlichen und durchschnittlichen Bankbeamten, der JosefK. ist,
überhaupt nicht vorstellen kann, daß ihn ein Gericht belangen und er einer
Kafka und·Kramm 357
Anklage unterworfen werden könnte. Nichts spricht dafl.ir, so etwas ernst
zu nehmen. Und so ist es nun auch mit der Leidensgeschichte dieses JosefK.
selber. Sie kann einen nicht unbedingt mit Sympathie fl.ir diesen Helden
erfüllen. Es scheint nicht die Absicht des Dichters gewesen zu sein, hier
einen Schuldlosen zu schildern, der in eine unverdiente und schreckliche
Verstrickung gerät. JosefK. ist durchaus kein ungewöhnlicher Mensch. Er
ist ein harmloser Kleinbürger mit einem bürgerlich guten Gewissen, und
doch irgendwo unsicher, und wird immer tiefer in seine Unsicherheit ver-
strickt. Gewiß sieht er sich als einen Schuldlosen an. Mit der Gewissenhaf-
tigkeit und dem leicht anmaßenden Selbstgefühl eines Beamten benimmt er
sich angesichts dieses Gerichtsverfahrens mit einer wenig sympathischen
kritischen überheblichkeit gegen das Gericht und alle näheren Umstände.
Aber auf der anderen Seite ist er von der Unantastbarkeit und der Hoheit des
Gerichtes zutiefst überzeugt. So ist er zwar ein Schuldloser, aber einer, der
sich von seiner eigenen Schuldlosigkeit immer wieder - und nicht immer auf
überzeugende Weise-zu überzeugen sucht und sich darein so vertieft, daß er
am Ende an seine Schuld zu glauben beginnt.
Das ist doch wohl die Geschichte, die uns da vonJosefK. erzählt wird. Sie
wird von jemandem mit einem bloßen Anfangsbuchstaben berichtet, wie
das in den Zeitungen bei Gerichtsverhandlungen üblich ist. Vielleicht ist sein
Vorname noch eher sprechend: Josef - einer, der sich mit Recht schuldig-
unschuldig fühlt. Das K, der große Anfangsbuchstabe - wer ist das? Oder
besser: Wer ist nicht K.? Wer ist nicht in der gleichen menschlichen U rsitua-
tion, daß einem, auf allen Wegen guten Willens und allen Wegen versuchten
RichtighandeIns, ein sicheres Bewußtsein der eigenen Schuldlosigkeit nicht
gewährt ist? Als Kafka dies alles schrieb, es war wohl zwischen 1914 und
1920, spricht aus ihm die Generation, die in der Rezeption Kierkegaards den
Verfasser von )Sein und Zeit( die Worte vom Schuldigsein des Daseins als
solchem schreiben ließ. Darin ist nichts mehr von dem bürgerlichen Klas-
senklang. in dem Schopenhauer die Schuld der Einzelheit, die Schuld des
Daseins. die Schuld der Individualität überhaupt lehrte. Hier winkt kein
versöhnliches Eingehen in das Nirwana und keine Erlösung aus dem Rad der
Geburten im Stile des spätbürgerlichen Pessimismus. in dem man sich mit
der Schuld des Daseins abfand. Zwischen der Absurdität einer unbekannten
Beschuldigung und Schuldhaftigkeit und der Ahnung ihrer schicksalhaften
Unausweichlichkeit schwankt der gequälte Leser hin und her. Ein Rätsel
fast. wie diese Folge von Bruchstücken. die noch heute in ihrer geplanten
Abfolge strittig sind. den Leser mit einer verstörten Spannung in ihren Bann
zieht. Noch die Ausgabe von Max Brod, die wir lesen, läßt es offen. ob nicht
überhaupt nach der Verhaftung bereits die zweite Szene die Prügelszene
war, eine höchst seltsame. unvorbereitete und in sich geschlossene Ge-
schichte. die überhaupt nicht in den Fortgang der Handlung verflochten
358 Kafka und Kramm

scheint. Trägt sie damit am Ende einen besonderen Akzent? Und das gilt
von fast allen diesen Kapiteln. Man kann zweifeln, wieweit eigentlich eine
Dechiffrierung des Ganges der Handlung möglich ist. So hat es eine ganze
Kafka-Theologie gegeben, wenn ich mich so ausdrücken darf. Elemente der
jüdischen Mystik und der ältesten jüdischen Theologie scheinen anzuklm-
gen. Dann wieder klingt vieles nach christlichen Elementen, nach dem
Dogma von der Erbsünde. So hat man sogar behauptet, daß Kafka an eine
Konversion gedacht habe. Kann aber hier etwas wie die christliche Botschaft
am Ende stehen, eine Verheißung? Oder nicht eher die Enttäuschung der
Verheißung?
So gibt es Deutungen allegorischer Art, die bis in die Einzelheiten der
Handlung hinein die Kafka-Deutung beherrschen. Wir brauchen da nicht
nachzufragen. Ohne Zweifel hat den Maler Willibald Kramm in seiner
schlichten und tief erschütterten Seele nichts von solchem Schrifttum er-
reicht. Vermutlich hat er nur Kafka selbst gelesen und nichts über den
Roman und die Deutungsversuche gewußt. Wie hat er also von sich aus
gelesen? Was hat er aus dem Roman herausgelesen, das nun in seinen
Blättern ist?
Um mit dem Äußerlichsten zu beginnen: Man kennt Willibald Kramm als
einen genialen Zeichner, der auch in diesen farbigen Blättern, wie auch in
manchen anderen späteren großen malerischen Schöpfungen, die sichere
Hand des großen Zeichners zeigt. An diesem Zyklus wird die Würde der
Zeichnung auf eine neue überzeugende Weise sichtbar. In jeder Zeichnung
liegt eine besondere Abstraktion. Sie stellt dem denkenden Betrachter eine
konstruktive Aufgabe. Hier werden sehr diskrete Farbkontraste aufgebaut,
aber so, daß monochrome Flächenstücke die eindringliche Zeichnung des
Ganzen ergeben. Da ist nicht eigentlich etwas von Raum und Raumatmo-
sphäre darin, auch nichts von der Hintertreppenromantik und dem Dach-
kammerspuk des hohen Gerichts, die dem Leser des Romans den Atem
benehmen. Es ist alles fast kahl in diesen Blättern. Manchmal ordnet sich das
im Roman befremdlich Geschilderte in Kramms Bildern zu einem schönen
Bild. So etwa die Wartenden, diese Girlanden der Vergeblichkeit. Wenn
man Kafka selber liest, so sehen diese Warteräume nicht gefällig aus. In
Kramms Blatt ist es fast wie ein heraldisches Wappen. Bei Kafka ist es eine
finstere Lokalität, in der man nie recht weiß, ob man nicht jemandem auf die
Füße tritt, eine Stickluft der Verirrung - und das soll der Weg zum hohen
Gericht sein? Wenn man am Ende wirklich zu einem Richter gelangt, der da
sitzt, wird einem schleunigst versichert, daß es allerdings nur ein Unterrich-
ter sei. Alle die Randfiguren, die dem seinen Weg zum Gericht und zum
Urteil suchendenJosefK. begegnen, sind wie zufällig, bezuglos und sche-
menhaft. Aber gerade dadurch wird, wie mir scheint, auf eigene Weise
eindringlich verstärkt, was das alleinige Thema ist, um das es im ganzen
Kafka und Kramm 359

geht. Da sind diese beteuernden Gesten der Unschuld, mit denen der Ver-
haftete die Arme auseinanderbreitet. Es ist sozusagen wie ein erster Einsatz
einer noch nicht begonnenen Handlung. Am Anfang stehen diese Un-
schuldsgebärden. Die Handlung selbst wird etwas anderes sein als ein bloßer
Aufschrei der verfolgten Unschuld. Die Handlung wird sein, wie der
Schuldlose auf eine rätselhafte, undeutliche und doch zwingende Art sein
Schuldbewußtsein zu finden lernt. Man sehe nur einmal auf das äußerste
Ende des Ganzen, auf die Hinrichtungsszene, auf den Ausdruck dieses
Gesichtes und auf die Gebärde, mit der JosefK. flehend den Arm ausstreckt
und doch sein Schicksal schon fast angenommen hatl. So wird in der
Komposition des Ganzen, das durch labyrinthhafte Gänge und ein Gestrüpp
der absurdesten Seltsamkeiten führt, die Schuldgeschichte vonJosefK. von
dem Maler Kramm gedeutet. Mit einer erstaunlich einfachen Sicherheit
wird im Krammschen Werk die Dialektik von Schuldlosigkeit und Schuld-
haftigkeit, die Dialektik der überlegenen Verdrängung aller Schuldmöglich-
keit bis hin zu der unausgesprochenen Hirmahme des ihm Zugeteilten
sichtbar.
Man könnte im einzelnen an manchem Blatt Kramms wohl auch noch
manchen Bezug auf den Kafkaschen Roman auffm.den oder auch auf eigen-
willige Antworten, die der Maler dem erzählten Text entgegensetzt. Es muß
schon etwas bedeuten, wie hier eine bestimmte Phase expressionistischen
Stilgebarens in dem Maler und an seinem Gegenstand zu einer neuen Intensi-
tät der Abstraktion gesteigert wird. Die zwei sich ausstreckenden Arme, mit
denen auf den erwachenden schuldlosen Schuldigen gedeutet wird, das ist
nicht die Illustration einer Szene. Die Erwachensszene ist bei Kafka ganz
anders geschildert als hier in diesem Blatt. Gleichwohl ist Kramms Erwa-
chensszene und die auf den schuldlos Schuldigen deutenden Eindringlinge
so unzweideutig, daß in dem Kontrast dieses Blattes die ganze Zweideutig-
keit festgehalten wird, in der Josef K. seine Verhaftung erlebt und seine
Schuldlosigkeit festzuhalten sucht. Für ihn scheint das Ganze anfangs eine
lächerliche Geschichte, ein Irrtum, ein Mißgriff, irgendetwas. das ihn nicht
treffen kann. In dem Kafkaschen Roman nimmt nun die Geschichte einer
immer vergeblicher werdenden Selbstbestätigung und verzweifelter Selbst-
beruhigung ihren Lauf - gerade durch die ständigen Abirrungen ins Ge-
wohnte und Triviale. Das bot dem Maler bewegte Szenen, wie die Affäre mit
Fräulein Bürstner oder mit Leni. Aber diese erotischen Zwischedspiele sollen
wie im Roman Kafkas auch hier eher etwas von der Egozentrik inJosefK. -
oder im Menschenwesen - zeigen. Das ist nicht so sehr ein Sittenbild

2 Siehe auch meine Deutung dieses Schlußbildes: ,Wir alle sind Josef K.: Willibald
Kramm, Die Hinrichtung •. In: F.J. R.~DDATZ (Hrsg.), Zeit-Museum der 100 Bilder.
Frankfurt 1989.
360 Kafka und Kramm

von Prager kleinbürgerlichen Pensionen, Dachkammern und Hinterhöfen.


Auch in den Liebesszenen ist eigentlich kein Zueinander gemeint. Es ist
immer nur die eigene Bedürftigkeit und nichts anderes. Der andere, der
jeweils in die Bewegung verstrickt wird, hat sozusagen keine volle Realität.
Alle diese Frauengestalten, so trivial und so real sie anmuten, sind wie ohne
eigenen Personkern. Gerade dadurch wird die einzige Geschichte, die Lei-
densgeschichte von Schuldlosigkeit und Schuldhaftigkeit, in ihrer Dring-
lichkeit und universalen Gültigkeit sichtbar. Eine Einzelheit: Noch auf dem
Wege zur Hinrichtung, als der Arme offenbar sein Schicksal bereits ange-
nommen hat, begegnet er dem Fräulein Bürstner noch einmal, und er folgt
ihren Schritten - willenlos und ohne sie einholen zu wollen ...
So sieht es aus, meine ich, wenn man mit den Augen des Malers das Werk
des Dichters liest. Man sollte darin gewiß nicht eine letztverbindliche Aussa-
ge sehen. Wo Dichtung im Spiel ist, sind unsere Antworten, die Antworten
der Leser, stets von unseren eigenen Fragen mitbestimmt. Niemand versteht
Antworten als Antworten, wenn er sie nicht als Antworten auf eigene
Fragen versteht.
Das gilt auch für die Antwort eines Künstlers, der in seiner eigenen
künstlerischen Schöpfung auf das Werk eines anderen Bezug nimmt. So
verdoppelt sich die Vielfalt der Zugänge, die Kafkas überlegene Reflexions-
spiele fiir deutende Antworten bereithalten. Des Malers Kramm künstleri-
sche Antwort bietet selber wieder eine Vielfalt möglichen Verstehens. Da-
her stehen die Worte des Interpreten, die die Dichtung Kafkas oder den
Bilderzyklus Kramms betreffen, nicht einfach auf sich. Es sind Vorschläge.
Sie wollen nicht so sehr geprüft sein, sie wollen vor allem versucht werden.
Was das Wort an Deutungshilfe leisten kann, muß dem Dichterischen wie
dem Malwerk gegenüber vor allem Seh-hilfe sein. Nicht nur dem Dichter
und Maler, auch jedem Interpreten stellt sich das gleiche Werk oft in wech-
selndem Lichte und recht verschieden dar. Das ist nicht ein Mangel des
Beschauers oder des Lesers, sondern bedeutet gegenüber der Distanz wis-
senschaftlicher Objektivität einen überlegenen Anspruch. Der Künstler hat
sein eigenes'Recht, wenn er seine Leseerlebnisse in seine malerische Schöp-
fung umsetzt. Solch eine eigene Schöpfung ist die Blätterfolge Willibald
Kramms, in der er als das Thema des Kafkaschen Romans von Anfang bis
zum Ende die Dialektik von schuldiger Schuldlosigkeit und von Sühne
durcharbeitet.
Daß der Maler Kafkas Werk im großen richtig verstanden hat, bestätigt
sich in meinen Augen gerade durch die gewichtigste Szene des Kafkaschen
Romans: »Im Dom«. Auch diese Szene ist, wie all die anderen, höchst
unscheinbar eingeleitet und setzt die triviale Alltäglichkeit, die alle diese
Romanszenen begleitet, folgerichtig fort. Immer mehr spürt man, wie es
dem Josef K. schwer wird, seinen Alltag noch zu bewältigen. Es wird
Kafka und Kramm 361

sozusagen immer bedrohlicher. »]a, sie hetzen mich.« Doch ist es nichts
anderes als ein alltäglicher Auftrag, die Begleitung eines italienischen Kunst-
freundes und Geschäftsfreundes der Bank, was die große Szene im Dom
einleitet. Es hat etwas Unheimliches, wenn]osefK. eifrig italienische Voka-
beln rekapituliert, für ein nie kommendes Gespräch. 1m Dom wandelt sich
die Szene bald ins Schicksalsvolle. Welche unsichtbare Hand hat statt des
kunstbeflissenen Geschäftsfreundes den Gefängniskaplan in den Dom kom-
men lassen? Was im Zusammentreffen dieser beiden vor sich geht, läßt
keinen Zweifel. Aus der dunklen Höhle dieses Doms findet der Angeklagte
]osefK. keinen Ausgang mehr. Sucht er ihn oder flieht er ihn? Wenn er, ein
letztes Mal, das Gericht herabzusetzen versucht, hält es nicht mehr stand.
Einer, der ohne Vorurteile ist, dieser Kaplan, hilft dem Armen keine seiner
Fragen lösen und läßt jede seiner Antworten in eine neue Fraglichkeit
münden. Auch das ist so quälend wie so vieles in diesem Buch! Mit überlege-
ner Beharrlichkeit hebt der junge Geistliche das Gericht aus allen menschli-
chen Belangen heraus, und das, ohne ihm irgendeine souveräne Allmacht
oder gar Absicht zuzusprechen. »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt
dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.« Wir
strengen diesen Prozeß gegen uns selbst an. »Du mißverstehst die Tatsa-
chen, [... ] das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht
allmählich ins Urteil über.«
Weiß jemand das besser? Ich denke, wir brauchen jetzt nicht für jeden
einzelnen von uns seine Anwendung zu suchen. Wir brauchen auch nicht
darüber zu reden, wie etwa das]ahr 1951, in dem diese Blätter entstanden
sind, uns Anlaß gab, über die vielfältige Problematik von Schuldhaftigkeit
und Schuldlosigkeit nachzudenken, sei es in unserer eigenen deutschen
Geschichte, sei es in der eigenen Lebensbilanz, die ein jeder ständig dieser
Frage gegenüber aufstellt. Ohne Zweifel hat das auch Kafka gemacht, wenn
er sich, während er an diesen Seiten schrieb, »in die Niedrigkeiten des
Lebens verirrt« hatte. So nannte Kafka die Entwürfe zu diesem Roman. Wie
er, so sucht ein jeder Antwort auf diese Frage, auch wenn er, wie es hier ein
Maler tat, in der Aufnahme des Kafka-Romans seine Frage und seine Ant-
wort zu neuer Schöpfung gestaltet hat. Kunst ist immer, in allen Formen, so,
daß sie Selbstbegegnung ist und zur Selbstbegegnung nötigt. Aussagen der
Kunst in endgültige Worte zu fassen und auf den Begriff zu bringen, kann
sich vernünftigerweise niemand als Aufgabe stellen. So möchte ich auch
meine einführenden Worte in solchem Sinne verstehen: Wir müssen selbst
die Augen öffnen,... und die Herzen.
34. Verstummen die Dichter?
(1970)

In unserer zunehmend von anonymen Apparaturen beherrschten Gesell-


schaft. in der das Wort nicht mehr unmittelbare Kommunikation stiftet.
erhebt sich die Frage, welche Macht und welche Möglichkeiten noch die
Kunst des Wortes. die Dichtung. haben kann. Von den vergehenden For-
JIlen des Sprechens. die sonst das kommunikative Geschehen tragen, unter-
scheidet sich das dichterische Wort grundsätzlich. Das Besondere all dieser
Formen des Sprechens ist die Selbstvergessenheit im Worte selber. Immer
verschwindet das Wort als solches gegenüber dem, was das Wort heraufruft.
Der Dichter Paul Valery hat für den Unterschied der Worte. die wir in der
Kommunikation sprechen, von dem dichterischen Wort eine glänzende
Metapher formuliert. Das Wort. das wir so sprechen. ist wie die Scheide-
münze. Das heißt, es bedeutet etwas. das es nicht ist. Das Goldstück von
ehedem dagegen war zugleich das wert, was es bedeutete, da das frühere
Goldstück in seinem Metallwert seinem Münzwert entsprach. So war es
selbst zugleich das, was es bedeutete. Genau das ist offenbar die Auszeich-
nung des dichterischen Wortes, daß es nicht auf etwas nur hinweist. so daß
man von ihm weggewiesen wird, um woanders hinzugelangen, wie von der
Scheidemünze oder dem Geldschein. der seine Deckung braucht. Vielmehr
wird man hier, indem man von ihm weggewiesen wird. nur zugleich auf es
selbst zurückgewiesen. Es ist das Wort selbst, das das, wovon es redet.
zugleich verbürgt. Das ist die Erfahrung, die wir alle am dichterischen Wort
machen. Je vertrauter einem eine dichterische Fügung wird, desto bedeu-
tungsreicher, desto präsenter wird die Aussage. In der Form. in der das
dichterische Wort sich selbst präsentiert, indem es etwas präsentiert, liegt
seine eigentümliche Auszeichnung.
Ich möchte an unsere Zeit und an die Literatur unserer Zeit die Frage
stellen: Gibt es noch eine Aufgabe des Dichters in unserer Zivilisation? Gibt
es noch eine Stunde der Kunst in einer Zeit, in der gesellschaftliche Unruhe,
das Unbehagen an der anonymen Massenhaftigkeit unseres gesellschaftli-
chen Lebens, von allen Seiten empfunden wird und die Forderung des
Wiederfindens oder des Neubegründens echter Solidaritäten immer wieder
sich erheben läßt? Ist es nicht ein Ausweichen, wenn man Kunst oder
Verstummen·die Dichter? 363

Dichtung noch weiterhin für ein integrales Moment des Menschseins hält?
Muß nicht alle litterature jetzt litterature engagee sein? Und wie alle litterature
engagee schnell veralten? Gibt es noch das bestandhafte Gefüge von WOrt-
kunst, wenn immer wechselnde Inhalte in ihrer Unbeständigkeit den wah-
ren Legitimationskern von littirarure überhaupt bilden sollen? Wo das Be-
wußtsein von nichts als )science< erfüllt ist, d. h. von der Idolatrie des
wissenschaftlichen Fortschritts, gibt es da noch solche Fügung {ron Worten,
daß jeder sich in ihnen zu Hause findet?
Ohne Zweifel wird das Wort des Dichters in solcher Stunde anders sein
müssen. Es wird mit der Reportage, mit der Beiläufigkeit, mit der Unter-
kühltheit des technischen Sprechens eine Verwandtschaft haben müssen.
Aber ist das dichterische Wort deshalb wirklich Reportage? Oder läßt sich
zeigen, daß auch heute noch aus Worten ein bestandhaftes Gefüge aufgebaut
werden kann, das nicht von gestern, sondern von heute und von jeher ist?
Das also noch immer )gemeinsamen Geist« enden läßt im Gedicht? Viel-
leicht ist die beste allgemeine Charakteristik dessen, was heute Lyrik aus-
zeichnet, ein Wort, das Rilke einmal geschrieben hat. Er sagt in einem Brief
an Ilse Jahr vom 22.2. 1923 über sein Verhältnis zu Gott: »Es ist eine
unbeschreibliche Diskretion zwischen uns. (, In der Tat kommt in seinen
späteren Dichtungen, etwa in den Duineser Elegien, Gott überhaupt nicht
mehr vor. Da ist allein vom Engel die Rede, der vielleicht mehr ein Sendbote
der Menschen als Gottes ist!. Rilkes Wort von der unbeschreiblichen Dis-
kretion beschreibt, wie mir scheint, aufs genaueste den Ton des heutigen
lyrischen Gedichts, für den es das Ohr zu schärfen gilt, zum Beispiel für die
Gedichte von PauI Celan. Nicht, daß die Dichter verstummen, sondern ob
unser Ohr noch fein genug ist zu hören, ist die Frage.
Um die Forderungen solcher Diskretion an uns zu verdeutlichen, wähle
ich ein Gedicht von]ohannes Bobrowski. Es heißt »Das Wort Mensch«:
Das WOrt Mensch, als Vokabel
eingeordnet, wohin sie gehört,
im Duden:
zwischen Mensa und Menschengedenken.

Die Stadt
alt und neu,
schön belebt, mit Bäumen
auch
und Fahrzeugen, hier

hör ich das Wort, die Vokabel


hör ich hier häufig, ich kann
1 Vgl. dazu >Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien., in diesem
Band. S. 289ff.
364 Verstummen die Dichter?

aufzählen von wem, ich kann


anfangen damit.

Wo Liebe nicht ist,


sprich das Wort nicht aus.

Auch dieses Gedicht empfindet man als beinahe hermetisch. Was sagt es
eigentlich? Was rur eine Einheit einer Aussage steckt denn darin? Und genau
das ist es ja, was sO viele vom Verstummen der Dichter reden läßt, daß sie,
wenn ich so sagen darf, auf das Diskrete nicht mehr zu hören vermögen.
Beginnen wir mit der Auslegung dort, wo jede Auslegung beginnen muß,
nämlich dort, wo es uns zuerst hell wird. Das ist hier ohne Zweifel die
Schluß strophe. Sie sagt etwas ganz Deutliches: »Wo Liebe nicht ist. sprich
das Wort nicht aus.« Das bedeutet - und muß vorher gegenwärtig geworden
sein -, daß überall dort, wo der Sprechende das Wort »Mensch« gehört hat,
keine Liebe war. So wird alles klar. Die erste Strophe ist voll bitterem
Sarkasmus und von fast ätzender Schärfe. Es mag stimmen, daß die Vokabel
»Mensch« zwischen »Mensa« und ))Menschengedenken« steht und daß der
Dichter das beim Gebrauch des Lexikons einmal zufällig bemerkt hat. daß
das Nachbarwort nach vorne »Mensa« war und nach hinten »Menschenge-
denken«. Aber wenn er das im Gedicht sagt, ist es gezielt. Da ist zunächst
»Mensa«, dieses für junge Leute sehr vertraute Wort, das eine Sache meint,
an der man die Anonymität des Lebens und die Beziehungslosigkeit nach
dem Verlassen der Familie wohl am stärksten empfindet. Die Mensa hält
irgendwie in ständiger Erinnerung, was Familie ist, sozusagen in der F9rm
der Privation. Und nach der anderen Seite folgt »Menschengedenken«, ein
Wort, das wir nur in einer einzigen Wendung noch gebrauchen: »seit Men-
schengedenken«. Was diese Wendung evoziert, ist wie etwas schon gar nicht
mehr Wahres - seit Menschengedenken ist das so. Man hat keine Rechen-
schaftsmöglichkeit darüber. Wenn man sagt: das ist seit Menschengedenken
so, wird das als etwas völlig selbstverständlich Gewordenes behandelt. Auf
der einen Seite haben wir also das Anonyme, auf der anderen Seite das
selbstverständlich Gewordene, und zwischen diesen beiden Extremen ist die
Vokabel »Mensch« wie eingeklemmt.
Die zweite Strophe spricht von der Stadt, »alt und neu«. Wer hinhört,
weiB sofort: das ist nach dem Kriege geschrieben, der unsere Städte in
Trümmer gelegt hat. »Alt und neuee meint offensichtlich die Spannung. die
das Gesicht unserer Städte durchzieht. »Alt und neu« ist vielleicht noch
allgemeiner gemeint und ruft nicht nur das Wiederbelebte nach seiner Ver-
ödung und Zertrümmerung herauf. Denn der dritte Vers »schön belebt, mit
Bäumen« leitet über zu dem wunderbar einsilbigen »auch« , das einen ganzen
Vers füllt und dadurch ein seltsames Gewicht erhält. Was wie ein zusätzli-
cher Reichtum klingt: »auch Bäume«, beschwört den ganzen Jammer des
Verstummen. die Dichter? 365

Städterturns herauf. Bäume sind freilich auch da, aber was die Stadt aUs-
macht, ist ihr Verkehr, die Fahrzeuge. So wird dies »auch« zum rührenden
Ausdruck für die weggehastete Natur, die wir in den Straßen unserer Städte
erleben. Dies »auch« ist ein nachdrückliches Beispiel echter dichterischer
Diskretion.
Und dann, in der Wortfolge »hier I hör ich das Wort«, erhält auch das
»hier« einen besonderen Akzent. Es steht nicht nur am Ende eines Verses,
sondern einer ganzen Strophe und stellt daher ein s~genanntes Enjambe-
ment dar. Die Rede geht weiter, aber der Strophenschluß wird nicht etwa
durch das Enjambement verschliffen und die Verse ihrerseits unhörbar, wie
der Laie zu meinen pflegt. Solcher falsche Schein entsteht lediglich durch die
Sucht, die Verse als Verse zu verleugnen. Das freilich klingt wie die trivialste
Prosa, wenn man liest lIhier hör ich das Wort«, d. h. hier in der Stadt. Aber
das »hier« muß man ganz fur sich allein hören! Das Enjambement macht den
Vers und Strophenbruch gerade erst recht sichtbar. Indem der Satz weiter-
geht und metrisch dort doch der Bruch ist, erhält das »hier. gleichsam ein
rhythmisches Ausrufezeichen. »Hier« heißt dann: ausgerechnet dort, wo es
von vornherein schon unglaubhaft ist, daß man noch als Mensch zu Mensch
miteinander reden und miteinander umgehen kann. Oft hört man das Wort
- um das Unwirkliche solchen Redens vom Menschen unverkennbar zu
machen, fährt der Text wie in einer Berichtigung fort: »die Vokabel hör ich
hier häufig«. Der Wechsel des Ausdrucks von» Wort« zu 1I Vokabel« deutet
an, daß es sich bei solchem Wortgebrauch nicht um die Sache handelt,
sondern um ein bloßes Wort, das aus dem wirklichen Gebrauch gerissen ist
und kein Leben mehr hat. So häufig es auch erklingt, es ist eine leere
Vokabel.
Nun kommt die Stelle des ganzen Gedichtes, die mir am schwierigsten ist:
»Ich kann I aufzählen von wem, ich kann I anfangen damit.« Das erste ist
ganz einfach. Man hört's überall, und so kann ich aufzählen von wem: Hier,
hier, hier - jeder sagt es immerfort, ich höre es immerfort. Aber was heißt
die Fortsetzung: »ich kann anfangen damit«? Das ist seltsam. Wenn ich
aufzählen kann, von wem, dann kann ich natürlich anfangen damit. Was will
der Vers denn sagen? •• Ich kann anfangen damit« scheint eine ähnliche
Einschränkung zu bedeuten wie oben das »auch«. Alle führen die Vokabel
im Munde. Es ist sinnlos, alle herzuzählen. Ich bliebe stecken - das liegt in
dem einschränkenden »ich kann anfangen damit«. Aber nicht deshalb allein
bliebe ich stecken, weil es zu viele sind, sondern weil mir alsbald bewußt
würde, daß es keinen Sinn hat zu zählen, wie viele das tote Wort im Munde
fuhren, ohne daß es lebendig würde.
Daß das richtig interpretiert ist und daß an diesem Glied sozusagen die
Drehung des Ganzen geschieht, zeigt die SChlußstrophe. Denn nun heißt es
ausdrücklich, wie im Scheitern der zählenden Suche und wie ein Verweis:
366 Verstummen die Dichter?

»Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.« Das besiegelt gleichsam den
Sinn des Ganzen: Das Wort »Mensch(( soll keine bloße Vokabel sein. Es ist
kein Ausrufezeichen nach diesem Gedicht. Die Interpunktion der Schule
wird es vermissen, denn es ist doch ein Imperativ! Aber genau das ist die
Diskretion, mit der die heutigen Dichter sprechen.
Dieses Beispiel möchte deutlich gemacht haben, warum ich glaube, daß es
ein falscher Schein ist, daß die Dichter verstummen. Sie sind notwendig leise
geworden. Wie diskrete Mitteilungen leise gesagt werden, damit kein Un-
berufener sie hört, so ist auch das Sprechen des Dichters geworden. Er teilt
dem etwas mit, der dafür das Ohr hat und sich ihm zuneigt. Er flüstert ihm
gleichsam etwas ins Ohr, und der Leser, der ganz Ohr ist, nickt schließlich.
Er hat verstanden. So glaube ich, daß man den Hölderlinschen Satz »Des
gemeinsamen Geistes Gedanken sind still endend in der Seele des Dichters((
an Dichtung unserer Zeit genauso verifizieren kann wie eh und je. Wer sich
von ihrem Wort erreichen läßt, leistet damit eine Verifikation, und man
begreift wohl, daß in einem Zeitalter der elektrisch verstärkten Stimme nur
das leiseste Wort noch die Gemeinsamkeit von Ich und Du im Wort findet
und damit das Menschsein beschwört. Wessen es für das leise Wort bedarf,
fUr den Sprechenden wie rur den Hörenden. wissen wir. Es ist wie mit den
langsamen Sätzen in einer Symphonie - an ihnen zeigt sich erst die wahre
Meisterschaft des Komponisten und des Dirigenten. Wer wili ermessen.
welche Erfahrungen der Könnerschaft aus dem technischen Zivilisationsle-
ben in diese Wort bauten hineinreichen und in ihnen eingefangen sirid. so daß
wir die mächtige Fremdheit der modernen Welt plötzlich wie etwas Ver-
trautes in unserem Hause antreffen und begrüßen.
35. Im Schatten des Nihilismus
(1990)

Wenn ich zwei deutsche Dichter, Dichter deutscher Sprache, unter dieses
Thema stelle, Gottfried Benn und Paul Celan, so stellt das eigentlich keine
Wahl dar. Wenn man aus der deutschen Literatur nach dem Zweiten Kriege
Namen nennen will, die wirklich etwas von der seelischen, geistigen und
religiösen Grundsituation der Zeit abzubilden vermögen, wird man sich
unter den lyrischen Dichtern umsehen. Wir Deutsche sind nicht ein Volk der
großen Erzähler. Selbst Namen wie Hermann Hesse, Thomas Mann oder
Robert Musil sind viel zu sehr an die eigentümlichen Verfeinerungen manie-
ristischer Erzähltechnik gebunden, als daß sie den großen Atem eines natur-
haften Erzählerturns besäßen. Gewiß hat uns Hermann Hesses )Glasperlen-
spiel<, das uns nach dem Kriege erreichte, und mehr noch die ebenso tiefsin-
nige wie künstlich verschlüsselte Auseinandersetzung Thomas Manns mit
der deutschen Tragödie - und - vielleicht am dauerhaftesten - die geniale
Retrospektive des )Mannes ohne Eigenschaften< tief berührt. Gewiß hat
etwa Heinrich Bölls Knappheit und Günter Grass' wogende Uferlosigkeit
des Erzählens auch außerhalb Deutschlands Widerhall gefunden. Aber kön-
nen diese wie jene mit den großen Erzählern Englands, Rußlands, Frank-
reichs, mitJoyce, mit Proust, mit den )Dämonen< oder den )Karamasows<
oder )Anna Karenina< konkurrieren, die uns alle, gestern und heute und
morgen, ansprechen? Dagegen darf man wohl sagen, daß die deutsche
lyrische Poesie seit hundert Jahren ein adäquater Ausdruck deutschen Gei-
stes ist, der immer auch mit den großen wissenschaftlichen und philo-
sophischen Erfahrungen und Leistungen der deutschen Kultur verbunden
war. Ich nenne nur den Namen Stefan George, der sicherlich der bedeutend-
ste Sprachkünstler deutscher Zunge in den letzten hundert Jahren war. Ich
nenne Hugo von Hofmannsthai, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl.
Gewiß, die meisten von ihnen sind, politisch gesehen, nicht Bundesdeut-
sche. Aber die Res publica litteraria kennt keine Grenzen, die nicht durch die
Sprache aufgerichtet sind, und selbst die Grenzen der Sprache zu überbrük-
ken sind wir alle bemüht, wenn wir in fremde Länder reisen oder wenn man
fremde Gäste in deren Sprache hört. I
Innerhalb der deutschen Nachkriegslyrik war keine Wahl. Gottfried Benn
,,)00 Im Schatten des Nihilismus

und Paul Cdan sind die beiden großen Dichter, die in der Zeit nach dem
Zweiten Kriege etwas vom deutschen Lebensgefühl, dem deutschen Schick-
sal, dem ungewissen Stand zwischen Glauben und Unglauben, zwischen
Hoffnung und Verzweiflung, im Gedicht zu gültigem Ausdruck gebracht
haben. Beicle sind auch dem Ausland bekannte Namen. Sie sind in viele
Sprachen übersetzt worden. Aber wer weiß, was lyrische Poesie ist, weiß,
daß übersetzungen nur Annäherungen sind und kaum eine Ahnung dessen
wecken können, was in der Originalsprache spricht.
Zunächst ein paar Worte über Gottfriecl Benn. Er war Arzt, hat in Berlin
gelebt, hat nach 1933 eine Zeitlang falsche Erwartungen in das damalige
Geschehen gesetzt, hat sich dann, wie viele seinesgleichen, in die Armee
geflüchtet, um auf anständige Weise durchzukommen. Das war die Form, in
der ein Gefährdeter im Dritten Reich am ehesten politischen Verfolgungen
entgehen konnte. Er war als Militärarzt Soldat. Als Dichter hat er sofort
nach dem Zweiten Weltkrieg seine Stimme wieder erhoben, und ich muß
sagen, wir haben ihn eigentlich erst dann in seiner ganzen Bedeutung er-
kannt. Es half uns dabei, daß ihm ein eigentümlicher Altersstil vergönnt
worden ist, der das Provokatorische seiner frühen Poesie stark milderte und
ein wunderbares Melos über seine Verse ausgoB. Die Verse, die ich vorlege,
sind erst aus dem Nachlaß bekannt geworden:

Dann gliederten sich die Laute,


erst war nur Chaos und Schrei,
fremde Sprachen, uralte,
vergangene Stimmen dabei.
Die eine sagte: gelitten,
die zweite sagte: geweint,
die dritte: keine Bitten
nützen, der Gott verneint.
eine gellende: in Räuschen
aus Kraut, aus Säften, aus Wein-:
vergessen, vergessen, täuschen
dich selbst und jeden, der dein.
eine andere: keine Zeichen,
keine Weisung und kein Sinn-,
im Wechsel Blüten und Leichen
und Geier drüber hin.
eine andere: Müdigkeiten,
eine Schwäche ohne Maß -
und nur laute Hunde, die streiten,
erhalten Knochen und Fraß.
Im Schatten des Nihilismus 369

Doch dann in zögernder Wende


und die Stimmen hielten sich an -,
sprach eine: ich sehe am Ende
einen großen sch weigenden Mann.
Der weiß, daß keinen Bitten
jemals ein Gott erscheint,
er hat es ausgelitten,
er weiß, der Gott verneint.
Er sieht den Menschen vergehen
im Raub- und Rassenraum.
er läßt die Welt geschehen
und bildet seinen Traum.
Das Gedicht ist nicht schwer zu verstehen. Aber um die Machart, die
Sangart des Dichters deutlich zu machen, bedarf es doch vielleicht einiger
Bemerkungen. Zunächst möchte ich einige - vielleicht pedantische - Be-
merkungen zur lyrischen Semantik machen, und dann ein paar andere zur
lyrischen Syntax diese Gedichtes. Mit )Iyrischer Semandk, meine ich natür-
lich nicht die übliche Lehre von den Wortbedeutungen - ich meine das
Spezifische der lyrischen Semantik, die Weise, wie hier ein Dichter nicht nur
Klänge, Tonfiguren, komponiert. sondern bedeutungstragende Klänge.
also Worte, zusammenfUgt und dadurch neue semantische und Klang-
Einheiten erzeugt. Das ist im Falle Gottfried Benns so klar, daß ich nur eine
Zeile von Gottfried Benn zu hören brauche. um zu wissen: das ist Benn. An
ein paar Beispielen, die teils diesem Gedicht, teils anderen Gedichten ent-
nommen sind. möchte ich die lyrische Semantik von Benn kennzeichnen.
Sie besteht vor allem darin, daß sie in seiner Bedeutung Kontrastierendes
klanglich zusammenbindet und auf diese Weise zu einer neuen semantischen
Einheit zusammenschweißt. Ich wähle beliebige Beispiele:
Ob Sinn, ob Sucht. ob Sage...
Oder: Ob Rose. ob Schnee. ob Mähre ...
Oder: Die Fluten. die Flammen. die Fragen ...

Die Klangmittel sind klar: Alliteration, Assonanzen, melodische Fügung


lassen so Disparates wie Fluten und Flammen mit etwas ganz anderem. den
alles in die Schwebe bringenden Fragen. zu einer umfassenden Sinngebärde
zusammengehen. Das ist die lyrische Grammatik von Gottfried Benn. daß
er Auseinanderstrebendes, semantisch ganz Entferntes. in eins zusammen-
faßt und auf diese Weise eine Art kosmische Weite und Ferne aufreißt. Auch
in dem Gedicht. das wir vor uns haben, finden sich Beispiele solcher um-
spannenden Zusammenfassung wie etwa in dem schönen Vers: »aus Kraut.
aus Säften, aus Wein -: vergessen. vergessen ... «. Offenkundig ist es die
dionysische Komponente aller Religion. )Kraut, Säfte. Wein', die hier -
370 Im Schatten des Nihilismus

allerdings in noch relativer Einheitlichkeit des Bedeutungsfeldes - evozie::~


wird. Andere Beispiele, die ich nannte, haben auch diese relative Einheit
nicht. Etwa: >Sinn, Sucht, Sage< - wie das plötzlich zusammengeht, wie die
Klangverbindung hier als eine einheitliche Figur und, wie man wohl sagen
muß, in unmittelbarer Aussagekraft die ganze Distanz durchmißt, von
sinnhafter Rede über die suchthafte Besessenheit zu der Ferne der im Un-
verifizierbaren verdämmernden Sage reicht, das ist in der Tat die unver-
kennbar originale lyrische Semantik von Gottfried Benn und keinem ande-
ren. Einheit einer dichterischen Bildwelt ist überhaupt nicht angestrebt,
sondern eine Bedeutungseinheit hinter Kontrasten, die eine unbestimmte
und zugleich allumfassende Evokationskraft ausübt. Das Auseinanderlie-
gende fließt zu einem neuen, einheitlichen Melos zusammen.
Die Syntax, die Fügung der Sätze, hat gleichfalls einen originalen Stil. Das
Gedicht beginnt mit einem sehr dichterischen Einsatz. Er ruft den Anfang
herauf, indem er nicht mit dem Anfang beginnt. »Dann gliederten sich die
Laute, zuerst war nur Chaos und Schrei«: dieses Zurückgreifen beschwört
die Anfangslosigkeit des Anfangs, das Sich-Verlieren des Anfangs, der kein
erster Augenblick ist, im Dämmer kosmischer FrUhzeit und menschheitli-
cher Urgeschichte. So springt es uns in diesen Zeilen entgegen, und dann
sagt das Gedicht uns, daß, als sich die Laute gliederten und Sprache war, die
etwas zu sagen weiß, diese Sprache für die Menschen Klage war. Das ist die
Syntax des Gedichtes: ein einziger großer Satz, mit klarer Steigerung vom
Schrei zur Klage und von der leise gewordenen Klage zur Vision dessen, der
weiß und nicht mehr klagt. Da ist zunächst ein unartikulierter Schrei, dann
!)gelitten ... geweint«, dann Gellen, Vergessen, Rausch, schließlich Ver-
zweiflung, Müdigkeit, und dann halten die Stimmen an - und das heißt, sie
alle hören zu und eine >spricht<, eine, die nicht mehr seiber etwas sagt,
sondern wie einen richtenden Spruch spricht: »ich sehe arn Ende ... « - So
beschwört diese letzte Stimme die Vision eines Mannes, der nicht etwa Gott
leugnet, sondern der weiß: »der Gott verneint«. Eine, wie mir scheint,
großartige und sehr symbolstarke Aussage aus der Theologie des Deus
absconditus. Es ist der Gott, der sich verbirgt. Insofern ist das ein sympto-
matisches Gedicht im Zeitalter der Nietzscheschen Botschaft vom Tode
Gottes und des heraufdämmernden Nihilismus - und zugleich ein guter und
sprechender dichterischer Beweis fiir die Kraft des lyrischen Wortes, eine
Wahrheit nicht nur zu sagen, sondern durch das eigene Sein zu dokumentie-
ren.

Weit schwieriger sind die hermetisch verschlüsselten Verse zu verstehen, die


ich von Paul Celan ausgewählt habe.
Paul Celan ist ein in der Bukowina, also im fernen Osten, in Czernowitz
aufgewachsenerjüdischer Dichter deutscher Zunge, der nach vielen Schick-
Im Sc!:;:ten des Nihilismus 371

salen in Paris Lektor für deutsche Sp:rache ;;;;1d Literatur wurde. E::- war mit
einer Französin verheiratet und hat fast nur auf deutsch gedichtet - .;::r,e ganz
eigentümliche Tatsache. Mir ist kein französisches Gedicht von Celan be-
kannt, während ich französische Gedichte Von George oder Rilke durchaus
kenne. Celan war offenbar an die deutsche Sprachheimat, die ihm keine
Heimat bot, tiefer gebunden, als jene anderen Dichter waren, die sich
gelegentlich auch in einer anderen Sprache noch versucht haben. Ich wähle
ein Gedicht aus der spätesten Phase dieses Dichters, der 1970 freiwillig in den
Tod gegangen ist, ein Gedicht, dessen thematische Zugehörigkeit zu dem
zitierten Gedicht Benns, nach einiger Erklärung, jedem in die Augen sprin-
gen wird. Es ist freilich ein kryptisches Gebilde, ein hermetisches Gedicht.
Es spiegelt die groBe Wende zum Weglassen, zum Konzentrieren, I
und damit
auch zum Verdichten, die wir ähnlich etwa aus der modemen Musik seit
Schönberg und Webern kennen. Das hat die deutsche Nachkriegslyrik in
besonders starkem Maße geprägt - nicht zuletzt deshalb, weil die deutsche
Lyrik in einer Sprache spricht, deren Freiheit der Wortstellung meines
Wissens nur noch vom klassischen Griechisch erreicht worden ist. Auf ihr
beruht die besondere Konzentrationsmäglichkeit des lyrischen Verses. Die
syntaktischen Funktionsausdrücke der Rede, die prosaisch-rhetorischen
Mittel, mit denen wir sonst die logische Einheitsbildung der Rede bewerk-
stelligen, sind fast ganz eliminiert. Das Gedicht vertraut sich lediglich der
Gravitationskraft der Worte an:
Wirk nicht voraus,
sende nicht aus,
steh
herein:
durchgrondet vom Nichts,
ledig allen
Gebets,
feinfUgig, nach
der Vor-Schrift.
unüberholbar,
nehm ich dich auf,
statt aller
Ruhe.

Man muß das so lesen, daß die drei Strophen und die Zeilenbrüche erraten
werden können. Es sind eben Verse. Das heißt: auch ein Einwortvers hat die
Länge der anderen Verse, eine Länge, die sich in unSerem inneren Ohr
dehnt, wenn wir das rhythmische Sprachgebilde, hörend und verstehend, in
uns erstellen. Dies Schlußgedicht. so schwer es scheint, ist nicht schwerer als
viele andere Gedichte des späten Celan. Er ist in diesen Gedichten in einem
372 1m Schatten des Nihilismus

tieferen Sinne dem Verstummen nahegekommen als andere Dichter, die


abbrechen. wenn ihnen der Atem ausgeht. Die Semantik dieses Gedichtes ist
zunächst an ein paar Beispielen vorzustellen. Wieder handelt es sich um eine
Sprache, die ihre eigene dichterische Semantik entwickelt hat. Wenn bei
Gottfried Benn die besondere Fügung seiner Worte wesentlich darauf be-
ruht, daß er das Nichtzusammenhängende aneinanderreiht und zusammen-
bindet, haben wir hier in gewissem Sinne ein umgekehrtes Prinzip dichteri-
scher Semantik. Etwas, was ein Wort scheint, zerspringt gleichsam und
evoziert in seinem Zersprungensein in bedeutungsdifferente Wortsplitter
eine neue Bedeutungseinheit.
»Wirk nicht voraus« - die Sinnsphäre, die in dem Wort> Vorauswirken<
anklingt, dürfte am ehesten die der Vorbestimmung sein und das christliche,
besonders kalvinistische Dogma von der Prädestination ins Spiel bringen.
Freilich, ob mit »Wirk nicht voraus« Gott angeredet wird oder nicht. ist eine
Frage rur sich, die man beim Lesen zunächst offenlassen wird. Beim näch-
sten Vers dagegen ist die Bedeutungssphäre Ilsende nicht aus« bereits ein-
deutig. Das spielt ohne Zweifel auf die Aussendung der Apostel an, auf den
Missionsauftrag, der die christliche Kirche begründet hat. Das muß man
hören und wird man hören, solange einige Bibelkenntnis besteht. Schwieri-
ger ist das dem >Aussenden< entgegengesetzte »steh hereinl(. Das Wort
>Hereinstehen< gibt es im Osterreichischen auch in aktiver Bedeutung. Man
kann, wie mir gesagt wurde, zu jemandem sagen ,Steh herein!(, das heißt
>Komm herein!(. Aber das hat der hier Redende zunächst nicht als erstes im
Sinn. Ein >komm herein( wäre ein schlechter Gegensatz zur Aussendung.
Auch hat das Gedicht dieses »steh herein« auf zwei Verse verteilt, »steh« ist
ein Einwortvers, »herein« ist ein Einwortvers. Also muß man das >Stehen<
erst fur sich hören, bevor es sich in ein >Hereinstehenl wandelt und vollen-
det. Damit kommt die andere, intransitive Bedeutung des Wortes ins Spie\.
>Etwas steht herein< heißt: es steht im Wege, so daß man nicht an ihm
vorbeikommen kann. Das muß man hören. Dieses »steh herein« heißt nicht
so sehr >komm<, als >sei so da, daß ich nicht an dir vorbei karin<.
Hier endet eine Strophe, und die nächste beginnt abermals mit einer
kühnen Wortzertrümmerung. »Durchgründet vom Nichts« läßt zwei ganz
unvereinbare Bedeutungen verschmelzen, >gegründet auf etwas< und
>durchwaltet vom Nichts< sind hier plötzlich in eins zusammengeschoben
wie in einer Phrase von Webern. Statt auf etwas gegründet zu sein, das
verläßlich ist in seinem Sein, soll es das Nichts sein, das hier nicht alles
Seiende auflöst, sondern festen Grund bildet. Und wieder geht es weiter:
»ledig allen Gebets«. Wer hört »ledig allen ... (1, wird sofort etwas ganz
anderes erwarten. Nicht gerade ,ledig allen Gepäcks< -aber doch >ledig aller
Last<. ledig alles Belastenden. so daß man leicht geworden ist. Nun tritt
dafiir »Gebet« ein. Das heißt natürlich, daß das Gebet selber eine >Last< war.
Im Schatten des Nihilismus 373

Ledig vom Belastetsein meint eine Art Freisein. Und wieder geht es weiter:
»feinfügig,< - das Wort gibt es auch nicht. Es gibt Igefügig<, das heißt
'gehorchend<, und es gibt ,feingeftigt<, das heißt 'sich fein ineinanderfü-
gend<. Wieder ist beides in »feinfügig« zu hören - ,fein, und ,sich fügend,.
Und vollends »nach der Vor-Schrift« - hier haben wir sozusagen den
Schriftbeweis für Celans semantische Praxis. Das Wort' Vorschrift, ist im
Text mit einem Bindestrich geschrieben: »Vor-Schrift«. Man soll nicht
überhören, daß hier die Heilige Schrift gemeint ist und auf das >nach der
Schrift< angespielt wird. Das aber sagt: Worein ich mich so fein füge, ist
gerade nicht >nach der Schrift" sondern nach der Vor-Schrift, nach etwas,
was noch älter ist als die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes, um
mich mit Herder auszudrücken. Es ist eine Erfahrung. die dem noch voraus-
liegt. was die Heilige Schrift vorschreibt, und die doch auch bindet, wie eine
Vorschrift. Die Vor-schrift heißt »unüberholbar« - sie wird nie widerrufen,
wie Vorschriften sonst oder wie das Alte Testament durch das Neue Testa-
ment überholt sein soll. Dieses Ich also, das durchgründet ist vom Nichts,
sagt von sich: »nehm ich dich auf, statt aller Ruhe«. Das ist vielleicht weniger
semantisch als inhaltlich äußerst verblüffend. daß hier am Ende nicht Ruhe,
die friedvolle Annahme der Botschaft der ,Schrift< steht. Was hier aufge-
nommen wird, verheißt nicht Ruhe, sondern es ist beständige Unruhe, die
du bringst - indem du hereinstehst.
Nach diesen einleitenden semantischen Erläuterungen beginnt die Inter-
pretation mit der Syntax der Sache, dem eigentlichen Inhalt des Gedichtes,
der Aussage, die hier gemacht wird. Man kann bei Celan nie recht sagen -
und im Grunde wohl bei keinem wirklichen lyrischen Dichter - wer gemeint
ist. wenn das Gedicht »ich« sagt. Daß der Dichter nicht bloß sich selbst
meint, deswegen ist es ein Gedicht. Ich als Leser kann mich von ihm als
Sprecher gar nicht unterscheiden. Es ist ein Gedicht. weil dies Ich wir alle
sind. Was ist nun das Du zu diesem Ich, das von diesem Ich mit einem "du«
angeredet wird? Es ist ein Imperativ: »Wirk nicht voraus«. Wer ist dieses
Du? Gewiß. wir sind gewöhnt, auch zu uns selbst "du« zu sagen, und es
wäre rein grammatisch und syntaktisch nicht unmöglich, das Ganze als ein
hermetisches Selbstgespräch zu lesen. Jemand wird angeredet und jemand
antwortet, und die beiden könnten ein und dieselbe Person sein. Zunächst ist
diese Frage offen. Wenn man eine Anrede an sich selber darin sehen möchte,
wird man in seinem Vorverständnis dem stoischen Grundsatz des ei~' iavlov
folgen und sich selber von allem Wirkungswillen und Geltungswillen zu-
rückrufen. Das liegt durchaus nahe. Aber das Hereinstehen - in welcher
Bedeutung des Wortes immer - erfüllt dieses Verständnis nicht. Es ist etwas
von außen, was hereinstehen, dasein oder kommen soll.
Offen scheint zunächst auch der Bezug des in der zweiten Strophe Gesag-
ten. Geht es auf dich - wer immer es sei - oder auf mich? Der Doppelpunkt,
374 Im Schatten des Nihilismus

der die erste Strophe abschließt, spricht dafür, daß alles folgende zusammen-
gehört und die Aufforderung des Hereinstehens gleichsam begründet. Dann
ist es also nicht das angeredete Du, sondern das redende Ich, das im folgen-
den in seiner Bereitschaft, das Du aufzunehmen, ausgesagt ist. Das ist die
sich ergebende Syntax, die die zweite und dritte Strophe zusammenschließt.
Eine kleine Schwierigkeit bildet der letzte Vers der zweiten Strophe,
»unüberholbar«. Dies Attribut paßt nicht auf die Beschreibung dieses Ich.
Hier geht der Bedeutungsbezug weit eher auf» Vor-Schrift«. Viele Vor-
schriften gelten nicht mehr, sind überholt. Diese allem vorausliegende Vor-
Schrift kann nie überholt sein. So ist dieser letzte Vers grammatisch eine
attributive Apposition zu »Vor-Schrift« und nicht ein Attribut des Ich, wie
es das »feinfügig« zweifellos ist. Allenfalls könnte man eine indirekte Ver-
strebung der Bedeutungen annehmen: Weil ich mich der unüberholbaren
Vor-Schrift füge, kann ich sdber »unüberholbar« genannt werden. Das mag
mitschwingen. Aber die Beziehung auf» Vor-Schrift« bleibt tragend.
Außer diesen Gründen der lyrischen Grammatik gibt es aber auch noch
einen anderen, >hermeneutischen< Grund, in dem Angeredeten das Du des
ganz Anderen, Gottes, zu verstehen. Das ist der Platz, den der Dichter selber
diesem Gedicht in diesem letzten von ihm komponierten Gedichtband ange-·
wiesen hat. Man folgt damit dem bekannten hermeneutischen Grundsatz,
den schon Schleiermacher formuliert hat, daß eine Sinneinheit auch von
ihrer Funktion im Zusammenhang einer größeren Sinneinheit mitbestimmt
wird.
Das unseren Versen vorausgehende Gedicht, das berühmte Gedicht >Du
sei wie du<, legt den religiösen Zusammenhang offen... Es spricht von dem
Leiden eines, den sein Bruch mit der jüdischen Gemeinde und dem Glauben
der Väter quält. »Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin« mag biogra-
phisch darauf anspielen, daß Celan eine katholische Ehe in Paris eingegangen
ist. Aber wieder soll man kein besonderes privates Wissen einbringen. Der
Bruch mit dem Glauben der Väter meint am Ende wohl einen jeden. Es ist
das Leiden der Gottsuche, jenes Jenseits irgendeiner bestimmten religiösen
Zugehörigkeit, das der Gottesfrage und insofern der Erfahrung des Göttli-
chen doch nicht ausweichen kann. Es >steht herein<. So ist klar, der Angere-
dete ist ein anderer, ist der >ganz Andere<, ist Gott. Aber nichts von rdigiö-
sem Heilsversprechen ist damit verbunden - kein Glaube an eine Vorsehung
und nichts von der Frohen Botschaft, mit der Jesus seine Jünger aussendet in
die ganze Welt. Gott soll gar nichts tun - nur so hereinstehen, daß ich nicht
an >dir( vorbei kann. Aber eben das ist sein Dasein, und so kommt die
andere, transitive Bedeutung von >Hereinstehen< zum Tragen. Er soll nur
hereinstehen, ich will ihn aufnehmen - und es soll nicht so sein wie im
Johannes-Prolog, wo die Wdt den Logos nicht aufgenommen hat. Die
ganze Folge der Verse nach dem Doppelpunkt stellt also den begründenden
Im Scharren des Nihilismus 375

Nachsatz zu der Aufforderung des »steh herein« dar. Gerade weil ich so
"durchgründet vom Nichts« bin und keine bestimmte religiöse Erwartung
oder Verheißung hege. "Ledig allen Gebets« - das bin ich. Gebet ist wie
etwas, das ich nicht mehr tragen kann, und doch und gerade als ein solcher
bin ich nicht frei, sondern weiß, daß ich mich zu fUgen habe, nicht einer
Offenbarung folgend, mach der Schriftc, sondern einer Vor-Schrift, die
noch viel ursprünglicher und unüberholbarer ist als jede mögliche Religion
undjede mögliche kirchliche Glaubensgemeinschaft. Das Ich, das redet, will
gar nicht an >dirc vorbei. >Duc sollst hereinstehen wie etwas, an dem man
nicht vorbeikommt. »Statt aller Ruhe« - nicht, daß ich mich irgendeinem
neuen Glauben anvertraue und darin Ruhe suche und finde, sondern daß ich
keinem schon vorliegenden und mich bindenden Glauben folgen kann,
gerade diese Unruhe, die mich nicht an dir vorbeikommen läßt, ist es, der
ich mich nicht verschließen kann.
Wenn man Gottfried Benns Gedicht eine Art negativen Hymnus nennen
könnte, eine Preisung dessen, der dazu gereift ist, alle Klage zu unterlassen,
könnte man dieses Gedicht ein hermetisches Zwiegespräch nennen. Es ist
ein Gedicht, das tUr uns alle aussagt, daß die Erfahrung des Göttlichen
unausweichlich ist, auch wenn der Gott verneint und sich versagt. Vielen
mag die Erfahrung des Göttlichen weiterhin Bindung und Trost und Heils-
versprechen vermitteln - das Ich, das hier tur uns spricht, erwartet nichts,
sondern bekennt sich zu der Unruhe des Herzens: inquietum cor nostrum.
"Der Gott verneint.« Celans Schluß gedicht steht in innerer übereinstim-
mung mit den Versen Benns.

In ,Lichtzwangc steht ein Gedicht, das Celan nach dem Besuch bei Martin
Heidegger im Schwarzwald geschrieben und ihm auch geschickt hat, und
das er in seinen Gedichtband aufgenommen hat.

Todtnauberg
Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Stern würfel drauf.
inder
Hütte,

die in das Buch


- wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? -,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
376 1m Schatten des Nihilismus

kommendes
Wort
im Herzen,
Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,
Krudes, später, im Fahren,
deutlich,
der uns fährt, der Mensch,
der's mit anhört,
die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,
Feuchtes,
viel.

Man hat darüber verbreitet, daß es einen unglücklichen Verlauf des Besu-
ches dokumentiert. Das mag der Weisheit der Biographen - selbst falls es
den Autobiographen. den Dichter selber. einschließen sollte - überantwor-
tet bleiben. Das Gedicht weiß da von nichts - und weiß es besser.
Ich kenne'diese Hütte selber aus vielen Aufenthalten. Es ist dort so: Man
kommt da im Hochschwarzwald zu diesen Wasen, diesen Hochmooren.
Oben, nah dem Waldrand des Stübenwasen, steht ein ganz kleines Hütt-
chen. das sich eng an den Hang anschmiegt, ganz mit Schindeln gedeckt,
sehr einfach. Es hat keine Wasserleitung. Vor der Hütte ist ein kleiner
Brunnen, ähnlich wie die Tränke, die man dort im Schwarzwald für das
Vieh einrichtet. Eine leise tröpfelnde Quelle führt immer frisches Wasser zu.
Ich habe mich oft an diesem Brunnen mit dem laufenden Wasser zusammen
mit Heidegger rasiert. Auf dem Brunnenpfahl ist ein holzgeschnitzter Ku-
bus, in den ein sternfOrmiges Ornament eingeritzt ist. Das muß man natür-
lich nicht wissen. wohl aber soll man etwas Bedeutungsvolles, von Schick-
salsstemen und vom Wurf des Schicksals, wie ein gutes Zeichen, in diesem
Umstand erkennen. Wie das ganze kleine Anwesen ist es ein »Augentrost«.
Das Gedicht ruft dieses Geruhl herauf, indem es mit dem Namen >Arnika(,
deutsch >Augentrost(, eine im Hochgebirge heimische Heilpflanze am Ein-
gang des Gedichtes anruft. In der Hütte das Buch. Das war Heidcggers
Gewohnheit, alle Gäste der Hütte hatten sich da einzuschreiben.
Celan ist offenbar hingekommen, hat sich auch in das Buch einschreiben
sollen. und er hat es getan l . Jedenfalls ist deutlich, welche Erwartung oder
vielleicht Nichterwartung. welche Frage den Dichter bewegte: ob ein Den-
1 Ein deutsch-amerikanischer Philologe hat inzwischen vergeblich versucht helauszu-
bekommen, was Celan eingeschrieben hat. Es gibt auch diesen Weg, sich einem Gedicht
zunähem.
Im Schatten des Nihilismus 377

kender wie dieser vielleicht ein Wort, ein "kommendes Wort« hätte, ein
Wort ))von einer Hoffnung, heute(e, Von dieser geheimen Hoffnung im
Herzen erfüllt hat der Dichter seine Zeile geschrieben.
Dann ist die Szene offenkundig ein Spaziergang, über den Stübenwasen,
))Waldwasen, uneingeebnet, Orchis und Orchis, einzeln«. Uneingeebnet: so
sind diese Wasenflächen in der Tat. Aber wieder soll man nicht zu Land-
schaftsstudien in den Schwarzwald fahren, um das Gedicht besser zu verste-
hen. Man soll verstehen, daß es für die Denkenden, für uns Denkende, keine
geebneten Wege gibt. Orchis ist eine kleine Hochgebirgsorchidee, aber
natürlich sagt der Vers ))Orchis und Orchis, einzeln« nicht primär etwas
über die Vegetation auf dem Stübenwasen, sondern etwas über die Einzel-
heit der bei den Spaziergänger, die da zusammengingen und doch jeder
einzeln blieben, wie die Blumen, an denen sie vorbeikamen.
Die nächste Szene ist die Heimfahrt des Besuchers im Wagen. Jemand
fährt ihn da, und er selbst ist begleitet von irgendeinem anderen, mit dem er
redet. Sie reden miteinander, und erst jetzt, während sie miteinander reden,
wird ihm ))Krudes« deutlich. Was Heidegger gesagt und was Celan zuerst
nicht verstanden hatte: die Worte Heideggers bekommen plötzlich Sinn, für
ihn und für den anderen - nicht für den, lIder uns fährt«. Damit ist die
Erzählung von diesem Besuch gleichsam zu ihrem Ende gekommen. Die
erste Strophe galt dem trostreichen Anblick des bescheidenen Anwesens, die
zweite spielt in der Hütte, die Bedeutung des besuchten Mannes und die
geheime Erwartung des Besuchers schildernd; die dritte Strophe ist der
Spaziergang, dies Nebeneinander einzelner, und dann die Rückfahrt, auf der
die Eindrücke besprochen wurden. Was folgt, ist nicht mehr )Handlung(,
sondern so etwas wie ein Fazit, das in dem Gespräch der Zurückfahrenden
gezogen wurde: die Gewagtheit dieses Geh-Versuchs im Ungangbaren.
))Feuchtes, viel. «
Da sind die ))halb-beschrittenen Knüppelpfade im Hochmoor«. Das ist
nun tatsächlich im Hochgebirge so. Die feuchten Wege am Moor macht
man durch Knüppel einigermaßen überschreitbar. Hier sind es halbbeschrit-
tene Knüppelpfade, das heißt, man kommt nicht durch und muß umkehren.
Sie sind wie )Holzwege(. Es ist eine Anspielung daran, daß Heidegger nicht
beansprucht und nicht vermocht hat, ein "kommendes Wort« zu sagen, eine
))Hoffnung, heute« zu haben - er hat auf einem gewagten Wege ein paar
Schritte versucht. Ein gewagter Weg ist es. Jeder, der danebentritt, tritt in
das Moor und ihm droht das Versinken im Feuchten. Es ist die Beschreibung
der gewagten Denkwege dieses Denkers - und wiederum eine Situation, in
der wir als Menschen alle heute mehr oder weniger bewußt stehen und die
unser Denken nötigt, gewagte Wege zu gehen.
So mag es schon sein, daß der verdunkelte Dichter keine Wandlung in
Hoffnung und Helle bei diesem Besuch erfuhr. Es wurde ein Gedicht, weil
378 Im Schatten des Nihilismus

das Erfahrene ihn und uns alle aussagt. Das Gedicht ist als Schilderung des
wirklich geschehenen Besuches nicht einzigartig im Celanschen Werk. Er
hat sehr viele sozusagen situationsgebundene Gedichte geschrieben. In sei-
ner Büchner-Preis-Rede hat er seine eigenen Gedichte gerade durch diesen
>existentiellen< Bezug von der symbolistischen Poetik Mallarmes unter-
schieden. Das ist aber keine Einladung zu biographischer Forschung. Auch
diese Situationsgebundenheit, die dem Gedicht etwas Okkasionelles verleiht
und Ausfüllung durch das Wissen um die bestimmte Gelegenheit zu verlan-
gen scheint, ist in Wahrheit in eine Sphäre des Bedeutungsvollen und Wah-
ren heraufgehoben, die es zu einem echten Gedicht hat werden lassen. Es
spricht uns alle aus.

Wir sind also bereits einen Schritt weiter, als ihn die allgemeine Metho-
dentheorie der Hermeneutik zu verzeichnen wußte - ich meine die Vielheit
der möglichen Interpretationshinsichten betreffend. August Boeckh hat in
der Nachfolge von Schleiermacher vier solcher Hinsichten unterschieden:
die grammatische Interpretation, die generische Interpretation, die histori-
sche Interpretation und die psychologische Interpretation. Zwar bin ich der
Meinung, daß diese vier Interpretationshinsichten durchaus der Erweite-
rung fähig sind, und glaube zum Beispiel, daß der Strukturalismus eine
solche Erweiterung darstellt, sei es für die mythischen Inhalte der griechi-
schen Tragödie, sei es für das Verständnis der dichterischen Sprachgestal-
tung. Auch ich selber habe mich bemüht, in methodischem Vorgehen mit
der Semantik einzusetzen und die Syntax gleichsam erst daraus hervorgehen
zu lassen. Ein Wort strahlt aus, es entwickelt grammatisch-semantische
Kräfte. Eine Wortgruppe strahlt aus und entwickelt syntaktische Kräfte.
Will man das Prinzip benennen, mit dem hier gearbeitet wird, wenn man die
besondere Einheit des Ganzen erfassen will, so könnte es das Prinzip der
harmonischen Dissonanz heißen. Im Gegensatz zu gewohnteren älteren
Formen der Poesie, die viel von Glätte und Glanz des Rhetorischen enthal-
ten, reichen hier wohl die Dissonanzen bis in die kompositorischen Elemen-
te hinein und lösen noch Worteinheiten auf. In ein und demselben Wort
>klingt es auseinander<. Wir sahen es etwa bei Celans Schlußgedicht, bei
»steh herein«, bei »feinfügig«, bei »nach der Vor-Schrift«, bei »unüberhol-
bar«. Auseinanderklingen heißt Dissonanz. Wie in der musikalischen Kom-
position die Konsonanz gerade durch die Auflösung von Dissonanzen mög-
lich wird, ist es auch hier. Je härter die Dissonanz, desto stärker wird die
Aussage. Man denke etwa an das mitschwingende >Gepäck< bei »Gebet«.
Welch ein ungeheurer Mißklang, und eben dieser Mißklang führt dazu, daß
sich das Ganze zu einem bedeutungsvolleren Sinn klang zusammenschließt.
»Ledig allen Gebets« - auf einmal sieht man etwas von der Art, sich durch
überirdische Verheißung Trost zu holen, damit es einem leichter wird. Dem
!m Schatten des Nihilismu5 379
stellt das Gedicht die Frömmigkeit dessen entgegen, der es sich schwer
macht. In diesem Sinne ist das von mir gewählte Schluß gedicht, wie mir
scheint, ebenso wesentlich wie jenes andere, ITenebrae<, in dem trotz der
Bitterkeit des Todes, die alles umdunkelt. doch Anruf und Gesang wird2 •
Ich darf an ein Wort Heraklits erinnern: »Die Harmonie, die nicht offen-
kundig ist, ist stärker als die offenkundige.• 3 Das trifft nicht nur für dichteri-
sche Gebilde zu. Die Wahrheit dieses Satzes von Heraklit haben wir in
unserem Jahrhundert wahrlich zu lernen gehabt. Celans Gedichte, seine
Botschaft, wenn man so sagen darf, steht nicht allein. leh folge nochmals
dem hermeneutischen Grundsatz, daß das, was man zu verstehen sucht, in
einem größeren Zusammenhange seine Aufklärung finden kann. Ich richte
den Blick über Celans Werk hinaus und schränke ihn auch nicht nur auf die
sogenannte Literatur ein, sondern richte ihn auch auf andere Formen der
Kunst. Sie können uns die Entstehung der Modeme und ihrer inneren
Spannungen manchmal noch deutlicher vor Augen fUhren als die Literatur,
in der die Interferenz mit der Prosa des Gedankens, der überall mit seiner
Reflexion eindringt, die Dinge oft verschleiert. Was Celans Botschaft aus-
drückt, hat seine eigentliche Schwere und gewiß auch seine, dramatische
Zuspitzung in den Furchtbarkeiten der im Zweiten Weltkrieg begangenen
Verbrechen. Aber es hat, formgeschichtlich und kunstphilosophisch gese-
hen, gleichwohl seine Vorbereitung bereits seit dem Anfang dieses Jahrhun-
derts.
Was ist in diesem ersten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg nicht schon
geschehen! Da haben wir die große Revolution der modernen Malerei, die
selber schon ihre Vorläufer hatte, z. B. in Hans von Marees oder in Paul
Cezanne, in denen die Bildfläche neu entdeckt wurde und der Tiefenraum
des Bildes wie in die Fläche geklappt erscheint. Wir haben in der Musik
ähnliche revolutionäre Findungen in Theorie und Praxis. Vom Formge-
sichtspunkt der Tradition aus gesehen scheinen es zersplitterte Maße, die
sich hier zu neuen, intensiv-sprechenden Gebärden vereinen, die selber wie
Texte sind. Man muß die hermetischen Texte, wie wir sie bei Celan lesen
lernen, am Beispiel solcher Texte erfassen, mit denen wir schon längeren
Umgang im Lesenlernen pflegen. Man erinnere sich der malerischen Revo-
lution, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der kubistischen
Formzertrümmerung auftrat, etwa in den Portraits von Picasso. Da ist es
eine Masse, die wie in tausend Splitter zersprungen ist und die unser auf
Gestalt und Form gerichtetes Sehen erst langsam aus a11 den Sinnfragmenten
2 Vgl. dazu ,Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan., in die5em Band, S. 452 ff.
3 Heraklit fr. 54: app.o~irz cirpavI}( lfKlVep;z( xptioOflW. In der Regel überKtzt man: .Die
verborgene Harmonie ist stärker als die offene .• Aber im Griecbiscben ist es derselbe
Wortstamm, der einmal in .verborgen. und ein andermal in lIlicbtverborgen. erscheine.
Vgl. im übrigen meine Heraklit-Studien in Ges. Werke Bd. 7, S. 43-82.
380 Im Schatten des Nihilismus

den Sinn des Ganzen erkennen läßt. So langsam, wie wir es eben in unseren
Gedichten lernten, in den eigentümlich gravitierenden Worteinheiten die
Anklänge zu realisieren, aus denen der Text besteht.
Wie da in den Imperativen des Beginns unseres Gedichts, so sind in einem
Portrait Picassos plötzlich Sinnfragmente erkennbar, ein Stück Na$e oder
ein paar Lippen oder ein Auge, und dann fängt man an, die verschiedenen
Schichten dieses zersplitterten Ganzen förmlich aufzublättern, bis man ein in
sich strukturiertes Ganzes und durch seine Strukturierung monumental
geformtes Ganzes vor Augen hat. Die kubistische Malweise war selbst nur
ein Versuch unter vielen, der nur wenige Jahre angehalten hat. Aber das
Verfahren der modemen Malerei ist nicht auf diese eine Manier beschränkt.
Wir fmden bei vielen großen Malern den gleichen entschlossenen Versuch,
bedeutungsträchtige Elemente, die sich von der Abbildbarkeit her deuten
lassen, immer mehr zu bloßen Sinnfragmenten herabzusetzen, die erst in
einer größeren Komposition sinnvoll mitzusprechen vermögen. Damit
wird dem Betrachter von solchen Bildern eine neue Aktivität zugemutet.
Wir können nicht mehr aus dem dichten Geflecht von Bedeutungsfulle des
Dargestellten und harmonischer Gestaltung die Aussage des durch Mal-
kunst Gesagten aufschließen4 •
Die gleiche Erfahrung bietet uns die modeme Musik in den gleichen
Jahren. Was mit Schönberg oder mit Anton von Webern begonnen hat, war
etwas nicht minder provozierend Neues. Plötzlich bekam man Stücke von
außerordentlicher Kürze vorgesetzt, die in ihrer komprimierten Gestalt eine
eigene machtvolle Ausstrahlung besitzen. Da ist es wie ein Dickicht von
Dissonanzen, von denen kaum noch zu erwarten scheint, daß Harmonie
daraus gebildet werden soll. Es ist auch wirklich keine Harmonie mehr, die
so leicht und sicher versprechlich auf uns wartet, wie die musikalischen
Auflösungen, von denen die Wiener Klassik weiß.
Und wie war es in der Literatur? Ich will nicht auf die tiefen Traditions-
brüche verweisen, die dem Roman seinen Helden und eine Handlung vorzu-
enthalten begannen oder dem Drama die Einheit der Charakterzeichnung.
Selbst in der Poesie, der lyrischen Gattung, die uns um Celans willen am
Herzen liegt, findet sich eine verbreitete Wandlung, die sich vom Naturalis-
mus und seinem deskriptiven Pathos grundsätzlich und radikal trennt. Ich
denke etwa an die großen poetischen Schöpfungen eines Mallarme und
seiner Nachfolger im Französischen, eines Stefan George im Deutschen. Ich
denke da vor allem an die Eliminierung der Rhetorik aus der Poesie. Poeti-
sche Bilder, aufgesetzte Glanzlichter oder Metaphern, die sich aus dem
kolloquialen Fluß der Rede als rhetorische Höhepunkte herausheben und die

4 Siehe dazu ,Begriffene Malerei?c, .Kunst und Nachahmung. und, Vom Verstummen
des Bildes. in Ges. Werke Bd. 8.
Im Schatten de~ Nihilismus 381

wir eben deswegen gerne Metaphern nennen, weil sie sich nicht in den
direkten Mitteilungsgehalt von Rede einfügen, sondern in eine andere Sphä-
re hinüberspielen, sind rhetorische Elemente, die aus der Dichtung ver-
schwinden. Sie kennt kaum noch Metaphern, sie ist in sich selbst Metapher.
Sie ist in sich selbst so, daß die Redebasis der alltäglichen Sprache ganz
verlassen scheint und ebenso die Basis gemeinsamer, sozusagen mythischer,
d. h. unbefragt bedeutungsträchtiger Inhalte, die aus der Tradition älterer
Jahrhunderte noch bis zu uns hinüberreichen. Wie sehr in der lyrischen
Poesie etwa der Reim im Verschwinden ist, wurde an den Celan-Gedichten
schon bemerkt. Das gehört mit in diesen Wandel, der auch anderen Formen
von Literatur ein neues Gesicht verliehen hat.
Zieht man die Summe aller Beobachtungen, so wird man den Intensitäts-
gewinn nicht verkennen können, der auf diese neue Weise entstanden ist.
Jeder, der einmal in einem der großen Museen war, in denen klassische
~unst und moderne Malerei in getrennten Sälen gezeigt werden, und der
sich nach dem Durchgang durch die klassischen Säle länger bei der neuen
Malerei verweilt und sich in sie eingelassen hat, dem wird, wenn er zurück-
geht, auf einmal die ganze vertraute, harmoniereiche Malerei der Renaissan-
ce und des Barock blasser vorkommen als bei dem ersten bewundernden
Durchgehen. Den gleichen Intensitätsgewinn erfahren wir an der neuen
Musik, wobei es gar nicht einmal wesentlich auf den Halt des Zwölftonsy-
stems ankommt. Die extreme Funktion der Dissonanz als solche ist das
offenkundig Neue gegenüber der klassischen Musik. Auch bei manchen
Erfahrungen, die wir an der Sprachkunst machen, hat sich - mit wesent-
lichen Anderungen freilich - das gleiche zeigen lassen.
Das ist der erste Bruch, an den wir uns bereits gewöhnt haben. Es war,
wie ich meine, der Bruch mit dem Bildungsbewußtsein des Historismus und
seiner Nachahmungsseligkeit. Wenn es auch Werke von Qualität, ja von
klassischer Art sind und wenn es auch schöne Bilder und schöne Gedichte
sind, an denen wir festhalten und die uns weiter begleiten, so ist doch die
Entwicklung des 20.Jahrhundem in die Richtung gegangen, daß diese
Formen trostreicher Versöhnung des Verderbens (um einen Hegeischen
Ausdruck zu gebrauchen), die uns die Kunst verhieß, im Schaffen heutiger
Kunst nicht mehr zu finden sind.
Hieran schließt sich der zweite Bruch, von dem Celan in seiner Büchner-
Preis-Rede besonders eindringlich gesprochen hat, der aber in unser aller
Bewußtsein wach ist. Es ist nicht nur die Abnutzung unserer mythischen
Vorstellungsinhalte durch das Bildungsbewußtsein einer zu Ende gehenden
bürgerlichen Epoche, das so tiefe Veränderungen heraufgerufen hat. Dar-
über hinaus ist es ein Erschrecken über die Unkraft dieser Bildungswelt. Das
hat uns angesichts der neuen Barbarei des 20. Jahrhunderts förmlich überfal-
len. Damit ist auch in das dichterische Sprechen eine neue Art von Intensität
382 Im Schatten des Nihilismus

gekommen, vergleichbar der gesteigerten Intensität der Farben und Farb-


kontraste, der Töne und Tondissonanzen. Zwar bleibt in allen Gestalten von
Kunst immer etwas von Zeugenschaft rur eine heile Welt, aber doch auch
etwas wie Mißtrauen gegen zu leichte Versöhnungen, eine Art Glaubensun-
willigkeit. Das scheint mir der eigentliche Hintergrund in Celans poeti-
schem Schaffen und findet in dem Schlußgedicht, von dem wir ausgingen,
geradezu wörtlichen Ausdruck. Das Harmoniepostulat, das wir bisher in
allen begegnenden Sinnverhüllungen als sichere Sinnerwartung aufrechter-
hielten, hat sich entzogen. Sinnverhüllung wird in einem Zustande von
Erwartung bejaht, in dem Auflösung solcher Verhüllung, Enden in einer
neuen Harmonie, nicht mehr vorausgesetzt wird. Es ist ein Zusammen-
bruch von Sinnerwartung, der ein Standhalten ohne Vorauswirken und
Glauben an ein Heiles ist. Das hat in dem Gedicht, von dem wir ausgingen,
seinen dichterischen Ausdruck gefunden. Ein solches Gedicht, das oben-
drein an dem ausgezeichneten Punkte von Celans dichterischem Schaffen
steht, den ich angedeutet habe, empfangt seine letzte Aussagekraft am Ende
gerade dadurch, daß es bis an den Rand des Stehens, bis an den Rand des
Nicht-mehr-Standhaltens vorgedrungen ist, an dem der Dichter von uns
gegangen ist.
36. Wer bin Ich und wer bist Du?
Kommentar zu Celans Gedichtfolge )Atemkristall<
(1986)

Schöpft des Dichters reine Hand,


Wasser wird sich ballen
Goethe

[n seinen späteren Gedichtbänden nähert sich Paul Celan mehr und mehr der
atemlosen Stille des Verstummens im kryptisch gewordenen Wort. Im
folgenden soll eine Gedichtfolge aus dem Gedichtband )Atemwende( be-
trachtet werden. die zuerst 1965 unter dem Titel ,Atemkristall< in einer
bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde. Jedes der Gedichte hat seinen Ort in
einer Folge, und es wächst dem einzelnen Gedicht von da aus gewiß etwas an
Bestimmtheit zu - aber die ganze Folge dieser Gedichte ist hermetisch
verschlüsselt. Wovon ist die Rede? Wer redet?
Gleichwohl ist jedes Gedicht dieser Folge ein Gebilde von eindeutiger
Bestimmtheit, zwar nicht durchsichtig und von unmittelbar sprechender
Klarheit. aber doch nicht so, daß etwa alles verhüllt bliebe oder Beliebiges zu
bedeuten vermöchte. Das ist die Erfahrung des Lesens, die sich dem geduldi-
gen Leser ergibt. Gewiß darf es kein eiliger Leser sein, der hermetische Lyrik
verstehen und entschlüsseln will. Aber es muß keineswegs ein gelehrter oder
besonders belehrter Leser sein - es muß ein Leser sein, der immer wieder zu
hören versucht. .
Die besonderen Belehrungen, die ein Dichter über seine verschlüsselten
Schöpfungen zu geben vermag - auch Paul Celan sagte man nach, daß
solches Verlangen gelegentlich an ihn gerichtet wurde und daß er es freund-
lich zu befriedigen suchte -, haben stets etwas Mißliches. Bedarf es der
Auskunft über das, was ein Dichter sich bei seinem Gedicht gedacht hat? Es
kommt doch wohl allein darauf an, was ein Gedicht wirklich sagt - und
nicht, was sein Verfasser meinte und vielleicht nicht zu sagen verstand.
Gewiß kann der Wink des Verfassers, der auf den unverwandelten Zustand
des ,Stoffes< weist, auch bei einem in sich vollendeten Gedicht von Nutzen
sein und vor Fehlversuchen des Verstehens bewahren. Aber es bleibt eine
gefährliche Hilfe. Wenn der Dichter seine privaten und okkasionellen Moti-
384 Wer bin Ich und wer bist Du?

ve mitteilt, verschiebt er im Grunde das, was sich als dichterisches Gebilde


ausbalanciert hat, nach der Seite des Privaten und Kontingenten - das
jedenfalls nicht dasteht. Sicherlich ist man gegenüber hermetisch verschlüs-
selten Gedichten mit der Aufgabe der Deutung oft in großer Verlegenheit.
Aber auch wenn man in die Irre geht, in wiederholendem Verweilen bei
einem Gedicht wird man seines eigenen Versagens doch immer wieder inne,
und wenn das Verständnis im Ungewissen oder im Ungefähren bleibt, ist es
doch immer noch das Gedicht, das im Ungefähren und im Ungewissen zu
einem spricht, und nicht ein einzelner in der Privatheit seiner Erlebnisse oder
Empfmdungen. Ein Gedicht, das sich verweigert und weitergehende Klar-
heit nicht gewährt, scheint mir immer noch bedeutungsvoller als alle Klar-
heit, die einem durch die bloße Versicherung zuwachsen kann, die ein
Dichter über das, was er meinte, abgibt.
So ist es offenkundig sehr im Ungewissen, wer in diesen Gedichten
Celans Ich und Du sind, und doch soll man nicht den Dichter fragen. Ist es
Liebeslyrik? Ist es religiöse Lyrik? Ist es das Zwiegespräch der Seele mit sich
selbst? Der Dichter weiß das nicht. Eher schon mag man sich durch die
Methoden der vergleichenden Literaturforschung, insbesondere durch die
Heranziehung von gattungsmäßig Verwandtem, Aufklärung versprechen -
aber man wird sie doch nur unter Bedingungen finden: nur dann, wenn kein
sachfremdes Gattungsschema benutzt wird und wenn wirklich Vergleichba-
res verglichen wird. Um dessen sicher zu sein, bedarf es aber gewiß nicht nur
der Beherrschung der Methoden der Literaturforschung. Das gegebene
Gebilde muß in der Polyvalenz seiner Struktur darüber entscheiden, welche
von den Subsumtionsmöglichkeiten, die sich im Vergleichen bieten, ange-
messen ist und ob sie eine - in sich begrenzte - Aufschlußkraft gewährt. So
erwarte ich für die Gedichte Paul Celans im Grunde nicht viel von einer
gattungstheoretischen Zurüstung fiir die hier gestellte Frage, wer hier Ich ist
und wer Du. Alles Verstehen setzt die Antwort auf diese Frage - oder besser:
eine dieser Fragestellung überlegene vorgängige Einsicht - schon voraus.
Wer ein lyrisches Gedicht liest, versteht in gewissem Sinne schon immer,
wer hier Ich ist. Nicht in dem tri,vialen Sinne allein, daß er weiß, daß immer
nur der Dichter spricht und keine von ihm eingeführte sprechende Person,
Er weiß vielmehr darüber hinaus, was das Dichter-Ich eigentlich ist. Denn
das »ich«, das in einem lyrischen Gedicht gesagt wird, läßt sich nicht mit
Ausschließlichkeit auf das Ich des Dichters beziehen, das ein anderes wäre als
das des ichs agenden Lesers. Selbst wenn der Dichter sich »in Gestalten
wiegt« und sich ausdrücklich von der Menge scheidet, die »gleich verhöh-
net«, ist es, als ob er gar nicht mehr sich selbst meinte, sondern den Leser in
seine Ich-Gestalt selbst hineinzöge und von der Menge ebenso schiede, wie
er sich selbst geschieden weiß. Und gar hier bei Celan, wo ganz unvermit-
telt, schattenhaft-unbestimmt und in beständig wechselnder Weise »ich«,
Wer bin Ich und wer bist Du? 385
"du«, "wir<e gesagt wird. Dies Ich ist nicht nur der Dichter, sondern viel eher
"jener Einzelne«, wie ihn Kierkegaard genannt hat, der ein jeder von uns ist.
Enthält diese überlegung nun eine Antwort auf die Frage, wer hier Du ist,
der in fast allen Gedichten dieses Zyklus ebenso unvermittelt und unbe-
stimmt angeredet wird, wie der Redende Ich ist? Du ist der Angeredete
schlechthin. Das ist die allgemeine semantische Funktion von "ichee und
"du«, und man wird sich fragen müssen, wie die Sinnbewegung der dichte-
rischen Rede diese Funktion ausfüllt. Ist die Frage sinnvoll, wer dieses Du
ist? Etwa in dem Sinne: Ist es ein mir naher Mensch? Mein Nächster? Oder
gar der Allernächste und AUerfernste: Gott? Das ist nicht auszumachen. Es
ist deshalb nicht auszumachen, wer jenes Du ist, weil es nicht ausgemacht
ist. Die Anrede zielt, aber sie hat keinen Gegenstand - es sei denn den, der
sich der Anrede stellt, indem er antwortet. Auch bei dem christlichen
Liebesgebot ist es ja nicht ausgemacht, wieweit der Nächste Gott ist oder
Gott der Nächste. Das Du ist so sehr und so wenig ein bestimmtes anderes
Ich, wie das Ich ein bestimmtes Ich ist.
Damit ist nicht etwa gemeint, daß in der Gedichtfolge, die hier »ich" und
»du« sagt, der Unterschied zwischen dem Ich, das spricht, und dem Du, das
angeredet wird, sich verwischte, und auch nicht, daß das Ich nicht eine
gewisse Bestimmtheit im Fortgang der Gedichtfolge erhielte. So ist zum
Beispiel von vierzig Lebensbäumen die Rede und damit auf das Alter des Ich
angespielt. Aber entscheidend bleibt, daß auch dann noch in die Stelle des
Dichter-Ichs jedes Leser-Ich willig eintritt und sich mitgemeint weiß und
daß sich von da ausjeweils das Du mit Bestimmtheit ausfüllt. In der ganzen
Folge scheint nur eine Ausnahme zu bestehen, und das ist in jenen vier
Versen, die der Dichter in Klammern gesetzt hat und die auch metrisch
durch ihre fast epische Diktion herausfallen. Sie scheinen deswegen wie
beiläufig gegeben, weil sie sich nicht, wie die anderen alle. allbereit verallge-
meinern. - So bleibt alles offen, wenn wir jetzt erprobend an die Gedichte
der Celanschen Folge herantreten. Wir wissen nicht vorher und nicht aus
einem distanzierten überblick oder Vorausblick, was "ich« oder "du« hier
meint und ob es das Ich des Dichters ist, der sich selbst meint, oder das eines
jeden von uns. Wir haben es zu lernen.
386 Wer bin Ich und wer bist Du?

Du darfst mich getrost


mit Schnee bewirten:
sooft ich Schulter an Schulter
mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommet,
schrie sein jüngstes
Blatt.

Das ist wie ein Proömium der ganzen Folge. Es ist ein schwieriger Text, der
seltsam unvermittelt beginnt. Das Gedicht ist von einem scharfen Kontrast
beherrscht. Schnee, das Gleichmachende, Kältende, aber auch Stillende,
wird hier nicht nur hingenommen, sondern begrüßt. Denn der Sommer, der
hinter dem Sprechenden liegt, war offenbar in der überfUUe seines Trei-
bens, Knospens und Sich-Entfaltens kaum zu ertragen. Gewiß ist es kein
wirklicher Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, so wenig das angere-
dete Du etwa den Winter meint oder wirklichen Schnee anbietet. Offenbar
war es eine Zeit der überfülle, der gegenüber die karge Armut des Winters
wie eine Wohltat wirkt. Der Sprechende schritt Schulter an Schulter mit
dem unermüdlich treibenden Maulbeerbaum durch den Sommer. Der
Maulbeerbaum ist ohne Zweifel hier der Inbegriff treibender Energie und
immer neuen üppigen Herausbildens neuer Triebe, ein Symbol unstillbaren
Lebensdurstes. Denn anders als anderes Gesträuch treibt er nicht nur im
Frühjahr frische Blätter, sondern den ganzen Sommer hindurch. Es scheint
mir nicht richtig, an die ältere metaphorische Tradition der Barockpoesie zu
denken. Zugegeben, daß Paul Celan auch ein Poeta doctus war - noch mehr
war er ein Mann von ganz erstaunlicher Naturkenntnis. Heidegger hat mir
erzählt, daß Celan im Schwarzwald hoch oben über Pflanzen und Tiere
besser Bescheid wußte als er selber.
Auch hier muß man in erster Näherung so konkret wie möglich verste-
hen. Dabei gilt es freilich, die Sprach bewußtheit des Dichters richtig einzu-
schätzen, der Worte nicht nur in ihrem klaren Gegenstandsbezug nimmt,
sondern beständig mit dem spielt, was in den Worten an Bedeutungen und
Nebenbedeutungen anklingt. So fragt es sich hier, ob der Dichter etwa mit
dem Wortbestandteil »Maul« auf die Maulhelden des Wortes anspielt, deren
Geschrei er nicht mehr erträgt. Selbst wenn das so ist, bleibt aber die
Forderung präziser Kohärenz als erste bestehen und muß zunächst erfüllt
werden. Der Pflanzenname »Maulbeerbaum« ist ganz geläufig, und wenn
man dem dichterischen Zusammenhang folgt, in dem der Name auftritt, so
ist es dort ganz eindeutig, daß das Gedicht nicht auf die Maulbeere oder das
Maul verweist, sondern auf das frischgelbe Grün, das an Maulbeerbäumen
unermüdlich den ganzen Sommer über sprießt. Von da muß auch jede
weitere Transposition ihre Sinnrichtung empfangen. Und wir werden se-
hen, daß diese weitere Transposition des Gesagten am Ende in die Sphäre des
Wer bin Ich und wer bist Du? 387
Schweigens oder des sparsamsten Redens weist. Aber offenkundig wird hier
durch die Parallele mit dem Maulbeerbaum überhaupt nicht auf die Maul-
beere. sondern auf die sprießende Oppigkeit des Laubwerks gewiesen. So
wird der Doppelsinn von »Maul« nicht durch den Kontext getragen. son-
dern es ist der Schrei des Blattes. auf den sich die Sinnbewegung grundet.
Das steht scharf akzentuiert als das letzte Wort des Gedichtes im Text. Es ist
also das Blatt und nicht die Beere, was die Transposition in das eigentlich
Gesagte trägt. In einer Ebene der Obertöne mag man dann von dem Schrei
auf den Wortbestandteil »Maul« zurückgewiesen werden und diesen mit
Rede zusammenbringen. Es gibt ja den Maulhelden. Und das könnte in
unserem Zusammenhang alles eitle und leere Reden und Dichten anklingen
lassen. Das ändert aber nichts daran, daß das Wort »Maulee als selbständige
Sinneinheit überhaupt nicht auftritt, sondern nur als einleitende Bedeutung
von »Maulbeerbaume!. Die Beere des Maules statt der Blume des Mundes,
das scheint mir nicht der Weg, von der ersten Ebene des Sagens in die
Transpositionsbewegung des Besagens überzuleiten, in die ein solches viel-
schichtiges Gedicht versetzt.
Um so mehr ist nun zu fragen, was das ist, was das Gedicht )besagte, das
heißt, worauf der Sinnvollzug des Wortlauts hinauswill. Achten wir auf
einzelnes. »Schulter an Schultere!: Mit dem Maulbeerbaum Schulter an
Schulter schreiten heißt offenbar, nicht hinter ihm zurückbleiben und so
wenig, wie er es mit seinem Wachsen tut, je einhalten - und das wäre hier:
einkehren bei sich selbst. Ferner muß manjedenfalls beachten, daß es »sooft"
heißt. In dieser Betonung wiederholten Weges liegt, daß sich die Hoffnung
des immer aufs neue aufbrechenden Wanderers nie erfüllt, ~uch nur ein
einziges Mal still und stumm vom Maulbeerbaum des Lebens begleitet zu
werden. Immer war neues Treiben, das wie der durstige Schrei des Säug-
lings fordert und nicht zur Ruhe kommen läßt.
Fragen wir weiter, wer mit dem ersten »Du« angeredet ist. Wohl nichts
Bestimmteres als das andere oder der andere, das nach diesem Sommer des
ruhelosen Schreitens einen empfangen soll. Da immer wieder ein neuer
Schrei des Lebensdurstes das Ich begleitete, ist ihm im Kontrast der Schnee
willkommen, dies Einförmige, in dem keinerlei Verlockung und Reiz mehr
ist. Gerade das aber ,soll eine Bewirtung sein, das heißt das WiIlkommenge-
heißene. Wer will das festlegen, was da zwischen Verlangen und Verzicht,
zwischen Sommer und Winter, Leben und Tod, Schrei und Stille, Wort und
Schweigen spielt? Was in diesen Versen steht, ist Bereitschaft, dies andere
anzunehmen, was immer es sei. So scheint es mir durchaus möglich, solche
Bereitschaft am Ende geradezu als Todesbereitschaft zu lesen. das heißt als
die Annahme des letzten, äußersten Gegensatzes zu allzu viel Leben. Es ist ja
unzweifelhaft, daß das Todesthema bei Celan stets. auch in diesem Zyklus,
gegenwärtig ist. Gleichwohl gilt es, sich der besonderen Kontextbestimmt-
388 Wer bin Ich und wer bist Du?

heit zu erinnern, die diesem Gedicht als Proömium eines Zyklus zukommt,
der >Atemkristall< heißt. Das weist einen auf die Sphäre des Atems und damit
auf das von ihm geformte Sprachgeschehen.
So fragen wir erneut: Was heißt hier »Schnee«? Ist es die Erfahrung des
Dichtens, auf die hier angespielt wird? Ist es vielleicht gar das Wort des
Gedichtes selbst, das sich hier aussagt, sofern es in seiner Diskretion.die
winterliche Stille gewährt, die wie eine Gabe dargeboten wird? Oder meint
es uns alle und ist dann jenes Stummsein nach zu vielen Worten. das wir alle
kennen und das uns allen als eine wahre Wohltat erscheinen kann? Die Frage
ist nicht zu beantworten. Das Unterscheiden hier zwischen Ich und Du.
zwischen dem Ich des Dichters und uns allen, die sein Gedicht erreicht.
mißlingt. Das Gedicht sagt es dem Dichter so gut wie uns allen. daß die Stille
willkommen ist. Es ist dieselbe Stille. die bei der Wende des Atems, diesem
leisesten Wiederbeginn des Atemschöpfens, zu hören ist. Denn dies vor
allem ist >Atemwende<, die sinnliche Erfahnmg des lautlosen, reglosen
Augenblicks zwischen Ein- und Ausatmen. Ich will nicht leugnen, daß
Celan diesen Moment des wendenden Atems, den Augenblick, da der Atem
umkehrt, nicht nur mit dem reglosen Ansichhalten verknüpft, sondern die
leise Hoffnung mitklingen läßt, die mit aller Umkehr verbunden ist. So sagt
er in der Meridian-Rede: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.«
Aber schwerlich wird man deshalb die diese Folge beherrschende Bedeu-
tung des >leisen< Atems abschwächen dürfen. Dies Gedicht ist ein wahres
Proömium, das wie in einer musikalischen Komposition mit dem ersten
Ton die Tonlage rur das Ganze angibt. Die Gedichte dieser Folge sind in der
Tat so leise und fast unmerklich wie die Atemwende. Sie geben von einer
letzten Lebensbeklemmung Zeugnis und stellen zugleich auch immer aufs
neue ihre Lösung dar - oder besser: nicht ihre Lösung, aber ihr Aufsteigen
zur festen Sprachgestalt. Man hört sie so, wie man die tiefe Winterstille hört,
die alles einhüllt. Ein Leisestes fällt in Kristall aus, ein Kleinstes, Leichtestes
und zugleich Genauestes: das wahre Wort.
Wer bin Ich und wer bist Du? 389
Von Ungetcäumtem geätzt,
wirft das schlaflos durchwanderte Brotland
den Lebensberg auf.
Aus seiner Krume
knetest du neu unsre Namen,
die ich, ein deinem
gleichendes
Aug anjedem der Finger,
abtaste nach
einer Stelle, durch die ich
mich zu dir heran wachen kann,
die helle
Hungerkerze im Mund.

Ein Maulwurf ist tätig. Man sollte dies als durch primäre semantische
Gegebenheit Evozierte nicht abstreiten. »Aufwerfen« ist eindeutig. Daß das
Subjekt dieses »Aufwerfens« das »Brodand« ist, kann nicht beirren, sondern
nur die erste Transposition einleiten - von dem Maulwurf auf die blinde
Lebensbewegung hin, die wie eine schlaflose Wanderung erscheint, die
durch das »Brocland« geht. Das evoziert Brotarbeit und Broterwerb und
alles, was mit dieser Lebenshypothek impliziert ist. Nun sagt das Gedicht:
Was das rastlos wühlende Wesen treibt, das wir Leben nennen, ist unge-
träumter Traum. Es ist also ein Versäumtes oder ein Verwehrtes, das durch
seine beständige Schärfe immer weitertreibt: es »ätzt«. Atzende Säure, die
von dem ausgeht, das durch seine Verweigerung versehrt, ist eine der
Leitmetaphern des Zyklus, den wir betrachten, und wohl des Menschen-
schicksals, wie es der Dichter sieht. Was durchwandert Wird, ist das Brot-
land, das einen zwar satt zu machen verspricht, aber das Wandern führt
nirgends hin. Dies Wandern und Wühlen geschieht »schlaflos«, d. h., es gibt
keine Einkehr in Schlaf und Traum, und so wird der Hügel mehr und mehr
aufgeworfen. Er wird ein ganzer Lebensberg. Aber hier klingt das so, als ob
das Leben unter seinem immer lastenderen Gewicht begraben wird. Es zieht
seine Spur. so wie der Maulwurf seine Gänge durch sein Aufwerfen der
Hügel erkennen läßt.
In der Tat, der IILebensberg« sind wir, mit dem Ganzen unserer sich
auftürmenden Erfahrung. Das zeigt die Fortsetzung: »Aus seiner Krume
knetest du neu unsre Namen«. Möglich, daß hier bestimmte biblische oder
jüdisch-mystische Anspielungen darinstecken. Aber auch wenn man sie nicht
kennt, sondern nur die Verse der Genesis im Ohr hat und sie zugleich hinter
sich läßt, gewinnt der Celansche Vers einen Sinn. Wenn es die schwere Fracht
des Lebens ist, woraus unsre Namen neu geknetet werden, so muß es doch
wohl das Ganze unserer Welterfahrung sein, was sich aus diesem Erfahrungs-
stoffaufbaut. Das heißt hier »unsre Namen ... Der Name ist ja das, was uns
390 Wer bin Ich und wer bist Du?

anfänglich gegeben wird und das wir noch gar nicht sind. Niemand kann in
der Namensgebung wissen, was der sein wird, den er so tauft. So ist es mit
allen Namen. Sie alle werden erst im Laufe des Lebens das, was sie sind: So wie
wir werden, was wir sind, wird auch erst, was die Welt fUruns ist. Das besagt,
daß die »Namen« beständig neu geknetet werden, oder sie sind mindestens in
einer fortdauernden Formung begriffen. Von wem, wird nicht gesagt. Aber
es ist ein Du. Die Alliteration von »neu« und »Namen« schließt die zweite
Vershälfte so zusammen, daß auf die Mitte der Akzent eines leichten Hiats
fällt, der in der nächsten Zeile nachwirkt. Da vereinzelt sich das allen
Gemeinsame - unsere »Namen« - plötzlich zu einem Ich: »die ich ... ce Mit
dem Ich plötzlich erst gewinnt die Bewegung des Lebens ihre eigentliche
heimliche Richtung, sofern das Ich gegen die beständig wachsende Verdek-
kung anstrebt und DurchIaß ins Freie sucht. Nicht erstickt unter dem
wachsenden Lebenshügel oder Lebensberg, der hier aufgeworfen wird, ist
das Ich immernoch tätig und aufder Suche-nach Sehen und Helle, wenn auch
blind wie der Maulwurf.
Nur das Nächste kann »ich« wahrnehmen mit tastender Hand. Aber
immerhin ist es Wahrnehmen: Unser blindes Auge ist »deinem« gleichend.
Vielleicht spielt der Dichter hier auf die Maulwurfshand an, diese eigentüm-
lich geformten hellen Flächen der Grabehand des Maulwurfs, mit der er seine
Gänge gräbt, die ihn im Dunkeln weiterführen bis hin zu dem Hellen des
Ausgangs. In jedem Falle besteht die Spannung zwischen dem Graben im
Dunkeln und dem Streben nach dem Licht. Der Weg im Dunkeln ist aber
nicht nur der Weg, der ins Helle fUhrt, sondern ist selbst ein Weg der Helle,
selbst ein Hellsein. Man beachte, wie sich in der vorletzten Zeile »die helle«
durch das Fürsichstehen dieses Attributs förmlich ausbreitet. Es ist eine
besondere Helle. Denn es ist die Tätigkeit des Ich, das hier am Werke ist, und
sie ist nichts als Wachen (»heranwachencc). Wachen aber nimmt den Verzicht
aufSchlafund Traum auf, von dem eingangs die Rede war, und ebenso ist in
»Hungerkerzecc Hungern gemeint, d. h. das Verschmähen des sättigenden
Brotes, das den Lebensberg beschwert. So ist dies Beharren auf der Helle und
dem Drang nach Helle wie eine Leistung des Fastens. Das Schlußbild von der
,>Hungerkerze im Mund« legt das durch ein bestimmtes religiöses Ritual aus,
und damit wird das Du, das Gesuchte, als kul tisch Verehrtes gekennzeichnet.
Wie mir Tschizewskij erzählt hat, gibt es auf dem Balkan einen Brauch der
Hungerkerze, der das fromme Fasten vor allen sichtbar macht (an der
Kirchentür) - eine Art Gebets- und Bittfasten, das die Eltern, die auf die
Rückkehr des Sohnes hoffen, auf sich nehmen. Analog ist es ein >Fasten<, das
hier das Streben nach der Helle begleitet. Aber das Besondere dieses Fastens ist
offenbar, daß das ins Helle Strebende die Hungerkerze im Munde hält. Das soll
doch wohl heißen, daß es sich nicht um Fasten handelt, sondern daß das Ich
sich all die reichlich sä ttigenden Worte verbietet, mit denen man sich im Leben
Wer bin Ich und wer bist Du? 391

abfindet-um selber rur das wahre, erleuchtete Wort fähig zu werden. So wird
das Ritual sprechend fur eine Glaubensleistung ganz anderer Art. Es gibt
offenbar kein Ritual der Hungerkerze im Mund! Mit dieser paradoxen Verbin-
dung bricht das Gedicht vielmehr den evozierten Fastenbrauch um. Es ist ein
anderes Fasten, und das, wofür es geschieht, ist auch ein anderes. Wie mir
Milojcic erzählt, kennt er den Brauch der Hungerkerze anders: Wennjemand
verarmt war und ihm seine frühere gesellschaftliche Stellung verbot, betteln
zu gehen, legte er sich verhüllt mit der Hungerkerze an die Kirchentür, um
ungesehen und ohne zu sehen Gaben zu empfangen. Danach wäre es nicht
freiwilliges Fasten. sondern die Not des Hungems selber, was durch die Kerze
angezeigt wird. In jedem Fall heißt es »im Mund« - es geht um das wahre
Wort, nach dem ich hungere oder das ich herbeihungere. Das kann man,
meine ich, auch ohne folkloristische Information erraten, wenn man nur über
die Spannung zwischen ritueller Hungerkerze und dem »im Mund« nach-
denkt. Spielt die Hungerkerze wie alle Kerzen obendrein darauf an, daß
unserem hungernden Streben in die Helle eine Frist gesetzt ist? Vielleicht.
Jedenfalls aber: man läßt nicht ab, nach der Helle zu streben, indem man die
»Namen« abtastet. Die Bewegung des Gedichts ist deutlich eine zweigeteilte:
Die eine Bewegung vollfUhren alle. indem ungeträumte Träume sie treiben
und eine immer längere Lebensspur zeichnen und einen immer schwerer
lastenden Berg aufwerfen. Die andere Bewegung ist die unterirdische des Ich,
das wie ein blinder Maulwurfins Helle drängt. Man denkt anJacob Burck-
hardt: »Der Geist ist ein Wühler.«
Folgen wir der Transpositionsbewegung, in die wir gerieten, noch einmal:
Wer ist hier das Du, das die Namen neu knetet, das ein wahrhaft sehendes
Auge besitzt. das wahrhafte Sättigung und Erhellung verspricht? Wen meint
"ich« und wen »du«? Der übergang zum Ich ist plötzlich und stark akzentu-
iert. Es hebt sich aus dem allen gemeinsamen Geschick heraus. Der Lebens-
berg aller wird beständig aufgeworfen, und aus ihm bildet sich Sinn und
Sinnlosigkeit eines jeden Lebens. So werden unser aller »Namen« geknetet.
A ber es sind nicht alle, es ist das eine Ich, das hier »ich« meint, das diese Namen
abtastet. Das Tun des Dichters klingt an, der es mit den Namen. mit allen
Namen, versuch t. Es bestätigt sich also: »Name« meint nicht nur die Namen
der Menschen. Es meint sicherlich deI) ganzen Berg der Worte, es meint die
Sprache, die über alle Erfahrung des Lebens gelagert ist wie eine deckende
Last. Sie ist es, die »abgetastet«, d. h. auf ihre Durchlässigkeit geprüft wird,
ob sie nicht doch irgendwo den Durchbruch ins Helle gewährt. Mir scheint, es
ist die Entbehrung und die Auszeichnung des Dichters, was hier beschrieben
wird.' Aber ist es nur die des Dichters?
392 Wer bin Ich und wer bist Du?

In die Rillen
der Himmelsmünze im Türspalt
preßt du das Wort,
dem ich entrollte,
als ich mit bebenden Fäusten
das Dach über uns
abtrug, Schiefer um Schiefer,
Silbe um Silbe, dem Kupfer-
schimmer der Bettel-
schale dort oben
zulieb.

Das sind bittere Zeilen. In den Ausgaben liest man statt »Himmelsmünze«
11 Himmelssäure« . Dies wird zu berichtigen sein. Aber die Frage bleibt, wie die

Lesart der Ausgaben zu verstehen war. Denn ohne Zweifel hat man es in
gewissem Umfang verstehen können. Dafür spricht nicht nur das Verhalten
des Dichters als solches, der-nach Berichten- beim Bemerken des Druckfeh-
lers höchst gleichmütig blieb. Die Sinnkohllrenz des Ganzen ist im ganzen
stark genug, damit Einzelteile austauschbar sein könneni. Das hat seinerzeit
schon Walter Benjamin unter dem Begriffldas Gedichtete< beschrieben. Wäre
es nicht so, dann wäre alle Auslegung, die mit unsicheren Vermutungen
arbeiten muß, ohne Wert. Wir erörtern die beiden Lesarten nebeneinander,
um eine jede von beiden im Ganzen des Gedichtes zu orten. -
Zwischen der ätzenden Schärfe der Himmelssäure, von der wir offenbar
durch eine niemals sich öffnende Tür geschieden sind und die rur uns gewiß
auch unerträglich wäre, und der kupfernen Bettelschale »dort oben« spannt
sich der Bogen eines einzigen Satzes. Eine Theologie des sich verweigernden
Himmels liegt zugrunde. Doch die Tür ist undicht. Die Himmelssäure. gegen
die wir durch die Tür abgedichtet sind. hat Rillen in den Türspalt geätzt, und
so kommt etwas hindurch. Was hindurchkommt, ist das Wort. Offenbar
wird die Metapher der ätzenden Säure deshalb vom Himmel gesagt, weil er
sich verweigert. Als der sich verweigernde hat er seine verzehrende Schärfe-
und doch sucht man jeden Tropfen dessen. was da zu uns gelangt - eben» das
Wort~.
Doch nun hat man zur Kenntnis zu nehmen. daß es im Text nicht
»Himmelssäure«. sondern »Himmelsmünze« heißt. Damit ist die Bildvor-
stellung eine gänzlich andere. Der Genitiv lIder Himmelsmünze« ist" auf
»Rillen« natürlich nicht mehr kausativ bezogen, sondern als ein subjektiver
Genitiv zu verstehen: die Münze hat Rillen. Wenn man fragt. wie kommt die
Münze in den Türspalt? - so hat man keine Antwort. Genug, daß sie
darinsteckt. Man stellt sich vor, daß sie dazu dienen sollte, die Tür zu öffnen,
aber diese öffuetsichnicht, gibt keinen wirklichen Eintritt. Statt dessen dringt
1 Vgl. dazu unten, S. 435.
Wer bin Ich und ~c:r bist Du? 393

durch die Tür etwas heraus. Nun ist es offenbar so, daß die Rillen der Münze
die Tür undicht machen. Worauf es anzukommen scheint, das ist, daß nicht
die Münze selbst als legitime Einlaßgebühr für den Himmel (oder als Aus-
gangs- und Durchlaßgebühr aus dem Himmel?) die kleine Durchlässigkeit
schafft, sondern etwas, das an ihr ist und das zwar auf ein blankes, neugepräg-
tes Geldstück weist, aber nichts mit seinem Münzwert zu tun hat. Das ist recht
dunkel. Handelt es sich um ein raffiniertes Symbol für Gnade? Jedenfalls hatte
der Versuch, die Einlaßgebühr zu entrichten, keinen Erfolg. Was aus diesem
sich verweigernden Himmel allein bei uns ist, ist »das Wort«. Ist das so
gemeint? So lutherisch?
Gewiß ist freilich, daß die Himmelsmünze der Bettelschale .. dort oben!f
entspricht. Beides hat auf ein unerreichbar Jenseitiges Bezug. In der Bettel-
schale werden Münzen gesammelt (Himmelsmünzen ? Münzen für den Him-
mel?) - und zu diesem ärmlichen Schatz scheint der hinzustreben, der seine
Bestimmung aus dem •• Wortn herleitet, dem einzigen, das aus dem ganzen
Reichtum des Himmels bei uns ist.
In der Tat, es sind bittere Zeilen, welche der beiden Lesarten man auch
zugrunde legt. Das jedenfalls steht fest, daß nichts aus jenem Himmel
verlautet als das, was »du« - wieder dieses unbekannte Du - durch die
Undichte der versperrenden Tür preßt. Es ist keine strömende Heilsbot-
schaft, sondern ein mühsam erpreßtes Wort, und obendrein scheint es wie
eine seltsam verkehrte Mühe. Denn offenbar sind nicht wir es, die sich
mühen, da hineinzukommen oder da herauszukommen, sondern »das Wort«
soll offenbar heraus. So will es das Du. Meint das, daß wir gegen die Wahrheit
versperrt sind und die Wahrheit uns gar nicht verweigert wird? Halten wir
sozusagen die Tür zu oder finden den Schlüssel nicht, weil wir an die
Gültigkeit unserer Münze glauben? Ich stelle alle diese Fragen in dem Be-
wußtsein, daß jedenfalls die Theologie des Deus absconditus anklingt.
Eine weitere Schwierigkeit: Wenn das Wort heraus und da ist, bin »ich« es,
der ihm »entrollte«. Wer- ich? Bin ich aus dem Wort? Bin ich das Wort, wie
alle Kreatur ein Schöpferwort ist? Ist es das Wort, aus dem ich komme, zu dem
ich nun und immerzu zurückstrebe? Das gäbe auch bei der äußersten Gottes-
ferne Sinn. Denn unter dem Dach der Sprache leben wir alle. Vielleicht gilt
auch von uns allen, daß einjeder von uns das Dach, das uns allen gemeinsamen
Schutz gewährt, weil es den Durchlaß und Ausblick nimmt, gleichwohl
abtragen möchte, um nach oben, ins Freie zu blicken. Vor allen anderen ist es
gewiß der Dichter, der hier von sich sagt, was vielleicht für uns alle gilt. Die
Decke der Worte ist wie ein Dach über uns. Sie sichern das Vertraute. Indem
sie aber uns ganz mit Vertrautheit umschließen, verhindern sie jeden Ausblick
in das Unvertraute. Der Dichter - oder wir alle? - sucht Silbe um Silbe, das
heißt mühsam und unermüdlich, abzutragen, was verdeckt. Offenbar ent-
spricht dieses Abtragen •• Silbe um Silben dem, was im vorigen Gedicht als das
394 Wer bin Ich und wer bist Du?

Abtasten der Namen und das Heranwachen begegnete. Hier wie dort scheint
eine verzweifelte Anstrengung dessen. der ins Helle, nach oben strebt.
beschrieben.
Aber gelangt man je zum Ziele? Die Antwort des Gedichtes ist nieder-
schmetternd. Was hier durch die Arbeit der bebenden Fäuste allenfalls erreicht
wurde. wäre in Wahrheit nichts als die kupferne Bettelschale mit ihrem
jenseitigen Schimmer. Daß eine ganz gewöhnliche Bettelschale auf einer
Pariser Straße den Dichter inspiriert hat. wie mir BoHack erzählt hat. ändert
nichts daran. daß hier von einer ))Bettelschale dort oben« die Rede ist und
damit eine bestimmte Transposition von uns verlangt wird. Das Gedicht
versetzt die Bettelschale in den Zusammenhang von Heiligkeit und Heilsver-
langen. Freilich. mit welcher Tönung? Der Erwartung? Kaum. Eher so: wir
reichen nicht weiter mit unserer Vorstellung von Heil als noch gerade an die
Bettelschale. in der die Opfergaben gesammelt werden -im Kirchenraum das
profanste aller Geräte. Oder auch: wir reichen nur bis an die dürftige
Mildtätigkeit einer )Sammlung<. in der weder Wärme noch Liebe ist. Jeden-
faUs ist es nicht einmal etwas von wahrhaft Heiligem. das auf mich wartet,
wenn ich das schützende Dach abzutragen suche. Es ist kaum der Abglanz des
Heiligen. Oder ist es überhaupt nichts Heiliges, sondern etwas. das vielleicht
wie Heiliges, aber in falschem Schimmer glänzt?Jedenfalls ist der verzweifelt
sich Anstrengende voll von Bitterkeit und sich der Enttäuschung bewußt. die
auf ihn wartet.
Doch lassen wir einmal alle Theologie beiseite und prüfen die einzelnen
Wendungen. Was heißt es, daß ich dem Wort entrollte? Bei der Wendung
lIentrollte« und im Abtragen IISilbe um Silbe« denkt man zunächst an die
Tätigkeit des Entrollens einer Schriftrolle und des Entziffems eines Urtextes,
wie er etwa das dichterische Wort sein könnte. Hier ist aber das Wort
))entrollte« intransitiv gebraucht. 11 Ich entrollte« dem von oben durchsickern-
den Wort. diesem geringsten Tropfen einer jenseitigen himmlischen Sub-
stanz. Das klingt paradox. Nicht ))ich« bin es. der Silbe um Silbe das Wort-
wie eine Schriftrolle - entrollte, sondern ))das Wort« ist es, dem ich selber
entrollte. Es ist offenbar so, daß der Dichter selber aus dem Worte kommt und
daß seine ganze Anstrengung darauf geht. dies Wort wieder zu erreichen, aus
dem er kommt und das er als das Seine weiß. Kein Zweifel, daß dies atemlos
verzweifelte Suchen nach dem Wort über all den Silben und Wörtern dem gilt,
was »das Wort« - das wahre Wort - ist: das Wort, in dem der, der das Wort
sucht, selber darin ist. Das scheißt in der Tat so, daß es der Dichter ist, der hier
von sich "ich« sagt und der ganz im WOrt lebt. Die Aufgabe des Dichters
besteht eben darin, daß er nach dem wahren Wort, das nicht das übliche
schützende Dach aller Tage ist, sondern das von jenseits her ist, wie nach
seiner wahren Heimat strebt und deshalb Silbe um Silbe das Gefüge der
alltäglichen Worte abtragen muß. Er muß gegen die verbrauchte, gewöhnli-
Wer bin Ich und wer bist Du? 395
ehe, verdeckende und alles einebnende Funktion der Sprache ankäm pfen, um
den Blick in den Schimmer dort oben freizulegen. Das ist Dichtung.
Aber es ist noch etwas anderes darin. Es heißtja, der Dichter entrollte dem
Wort, als er in seinem Dichten, Wort um Wort, nach seiner Herkunft aus dem
wahren Wort aufschaut, und kann doch von dem Heiligen nie mehr gewahren
als seinen profansten, ärmlichsten Schimmer - vielleicht sogar: seinen fal-
schen, durch das Betteln entstellten Glanz. Damit gewinnt das Entrollen eine
noch andere, negative Tönung. Mit dem Abtragen des Daches, dem Suchen
der rechten Worte (11 als ich abtrug(!) kehrt er nicht heim, sondern verliert sich
der Dichter gerade. Er »entrollte« dem Wort, das er eigentlich ist, wird
hoffnungslos von ihm geschieden und ist vergeblich - limit bebenden Fäu-
sten« - bemüht, zu ihm zurückzugelangen. »Wir übersetzen, ohne den Urtext
zu haben« (G. Eich). Und wieder fragt man sich: Ist es wirklich nur der
Dichter, d.::m dies widerfährt, daß das eigentliche Wort unerreichbar bleibt,
obwohl es sein eigenstes ist? Oder ist es vielmehr unser aller Erfahrung, von
dem eigentlichen Wort und seiner Wahrheit geschieden zu sein, gerade
dadurch, daß man Worte macht und daß man limit bebenden Fäusten« auf
etwas hin tätig ist, das man haben möchte, das nicht erreichbar ist-und das am
Ende gar nicht einmal so ist, daß es die Mühe lohnt?

In den Flüssen nördlich der Zukunft


werfich das Netz aus, das du
zögernd beschwerst
mit von Steinen geschriebenen
Schatten.

Man muß das Gedicht in seinem Zeilenbruch nicht nur genau lesen, man muß
es so auch hören. Celans meist sehr kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr
genau. Bei breiter strömenden Versen, wie etwa den Duineser Elegien, die
ohnehin viel technischen Zeilenbruch, insbesondere in den der Erstauflage
folgenden Drucken, nicht vermeiden konnten, sind nur sehr ddJtliche Ver-
szäsuren von so siegelhafter Prägnanz wie die Schluß zeilen dieser Gedichte
Celans. In unserem Falle ist der Schlußvers ein einziges Wort: »Schatten« -ein
WOrt, das sO schwer sich senkt wie das, was es bedeutet. Indessen, es ist ein
Schluß, und wie jeder Schluß rückt er die Maße des Ganzen fest. Auch der
evozierten Bedeutung nach: >Schatten fallen( heißt immer auch: sie werden
geworfen. Wo Schatten fallen und verdunkeln, ist immer auch Licht mit da
und das Lichte, und wirklich, es wird hell in diesem Gedicht. Was es evoziert,
ist Klarheit und Kälte eisnahen Gewässers. Die Sonne durchscheint das
Wasser bis aufden Grund. Die Steine, die das Netz beschweren, sind es, die die
Schatten werfen. Das ist alles höchst sin~ich und konkret: Ein Fischer wirft
396 Wer bin leh und wer bist Du?

das Netz aus, und ein anderer hilft ihm dabei, indem er das Netz beschwert.
Wer ist Ich? Und wer ist Du?
Das Ich ist ein Fischer, der das Netz auswirft. Auswerfen des Netzes ist eine
Handlung reiner Erwartung. Wer das Netz ausgeworfen hat, hat alles getan,
was er tun konnte, und muß warten, ob etwas sich fängt. Es wirdnicht gesagt,
wann diese Handlung vollzogen wird. Es ist eine Art gnomischer Gegen wart,
d. h., es geschieht immer wieder. Das wird durch das pluralische »in den
Flüssen« unterstrichen, das nicht wie das naheliegende IGewässern< eine
unbestimmte Orts angabe bedeutet, sondern sehr bestimmte Plätze, die man
aufsucht, weil sie Fang verheißen. Diese Plätze liegen alle »nördlich der
Zukunft«, d. h. noch weiter draußen, außerhalb der gewohnten Wege und
Fahrten, dort, wo keiner sonst fischt. Es ist offenbar eine Aussage über das
Ich, nämlich daß es ein Ich solcher besonderer Erwartung ist. Es erwartet das
Zukünftige dort, wo keine Erwartung der Erfahrung hinreicht. Aber ist nicht
jedes Ich ein Ich solcher Erwartung? Ist nicht injedem Ich etwas, das in eine
Zukunft ausgreift, die hinaus liegt über das, womit man zukünftig rechnen
kann? Das Ich, das so anders ist als die anderen, ist gerade das Ich eines jeden.
Nun beruht der kunstvoll gespannte Bogen dieses Gedichtes, das ein
einziger schlichter Satz ist, darauf, daß das Ich nicht alleine ist und nicht allein
den Fischfang durchführen kann. Es bedarf des Du. Betont steht das »du« am
Ende der zweiten Zeile, wie angehalten, wie eine unbestimmte Frage, die sich
erst durch den Fortgang des dritten Verses - oder besser: der zweiten Hälfte
des Gedichts - mit ihrem Sinn erfüllt. Hier wird ein Tun sehr genau beschrie-
ben. »Zögernd beschwerst« meint nicht ein inneres Zögern der Unentschie-
denheit oder des Zweifels, das das Du, wer es auch sei, die Zuversicht des
fischenden Ich nicht ganz teilen läßt. Es wäre völlig mißverstanden, wenn
man in das »zögernd« diesen Sinn legen würde. Was beschrieben wird, ist
vielmehr das Beschweren des Netzes. Wer das Netz beschwert, darf nicht
zuviel tun und nicht zuwenig; nicht zuviel, damit das Netz nicht absinkt, und
nicht zuwenig. damit es nicht obenhin treibt. Das Netz muß, wie der Fischer
sagt, Istehen<. Von hier bestimmt sich das Zögernde des Beschwerens. Wer
das Netz beschwert, der muß vorsichtig Stein auf Stein hinzutun wie auf eine
Waagschale, in der man das Gewicht von etwas wägt. Denn es kommt darauf
an, den richtigen Augen blick des Gleichgewichts zu treffen. Wer das beim
Beschweren des Netzes tut, hilft, daß der Fang überhaupt möglich wird.
Die sinnliche Konkretion des Vorgangs ist aber kunstvoll ins Imaginäre
und Spint\.lelle gehoben. Schon die erste Zeile nötigte durch die sinnlich
uneinlösbare Fügung »nördlich der Zukunft«, die Aussage in ihrer Allge-
meinheit zu verstehen. Die gleiche Funktion übt in der zweiten Hälfte die
nicht minder uneinlösbare Fügung einer Beschwerung mit Schatten aus, und
gar »mit von Steinen geschriebenen Schatten«, Wie dort der Mensch als das
Wesen der Erwartung in der sinnlichen Gebärde des Fischers sichtbar wurde,
Wer bin Ich und wer bist Du? 397

so bestimmt sich hier, was Erwartung ist und möglich macht, näher. Denn
offenbar sind hier zwei Handlungen in ihrem Zusammenspiel gezeigt: das
Auswerfen und das Beschweren des Netzes. Zwischen ihnen ist eine geheime
Spannung, und doch sind sie das einheitliche Tun, das allein Fang verheißt.
Gerade der geheime Gegensatz zwischen Werfen und Beschweren ist es, auf
den es ankommt. Man würde mißverstehen, wenn man die Beschwerung als
eine Hemmung des reinen Wurfs in die Zukunft verstünde, als eine Trübung
der reinen Erwartung durch die besch werende Einsicht in das, was nach unten
zieht. Der Sinn der Spannung ist vielmehr, daß nur durch sie die Leere des
Erwartens und die Eitelkeit des Hoffens Bestimmtheit von Zukunft gewinnt.
Die kühne Metapher der »geschriebenen Schatten« läßt nicht nur das Imagi-
näre und Spirituelle der ganzen Handlung hervortreten, sondern bezeugt so
etwas wie Sinn. Was »geschriebenee ist, läßt sich entziffern. Es bedeutet etwas
und ist nicht einfach der dumpfe Widerstand des Schweren. Soll man übertra-
gen: Wie der Akt des Fischers nuraussichtsreich ist durch Zusammenspiel von
Wurfund Beschwerung, so ist auch alle Zukünftigkeit, in die das menschliche
Leben hineinlebt, keine bloße unbestimmte Offenheit fur das Kommende,
sondern bestimmt sich durch das, Was war und wie es aufbewahrt ist wie in
einem von Erfahrungen und Enttäuschungen geschriebenen Buch.
Aber wer ist dieses Du? Es klingt fast, als wisse da einer, wieviel er dem Ich
aufladen kann, wieviel das hoffende Herz des Menschen erträgt, ohne daß es
die Hoffnung sinken läßt. Ein unbestimmtes Du, das vielleicht in dem Du des
Nächsten, vielleicht in dem Du des Fernsten seine Konkretion findet, oder gar
in dem Du, das ich mir selbst bin, wenn ich meiner eigenen Zuversichtlichkeit
die Grenzen des Wirklichen fuhlbar mache - injedem Fall ist das Zusammen-
spiel von Ich und Du, das den Fang verheißt, das, was in diesen Versen
eigentlich präsent ist und dem Ich seine Wirklichkeit verleiht.
Was ist es aber nun, was da Fang heißen soll? Der flutende Austausch
zwischen dem Dichter und Ich erlaubt, es in einem besonderen wie in einem
allgemeineren Sinne zu verstehen - oder besser: im besonderen den aligemei-
nen Sinn zu erkennen. Der Fang, der glücken soll, mag das Gedicht selbst sein.
Der Dichter mag sich selbst darin meinen, daß er das Netz dort auswirft, wo
Klarheit und Unberührtheit die Gewässer der Sprache ungetrübt findet und
ihn erwarten läßt, daß das über alles Herkömmliche Hinausgehende seiner
Kühnheit ihm einen Fang gewährt. Daß der Dichter sich selbst meint, wenn er
in dieser Weise sich als ein fischendes Ich darstellt, läßt sich auch durch den
Zusammenhang stützen - nicht nur den großen weltliterarischen Zusam-
menhang, der den dichterischen Fund gern aus dunkler Tiefe- eines Brunnens
oder eines Sees - hervorholen läßt. Man denke an die bekannten Gedichte
Stefan Georges IDer Spiegele und .Das Worte. Auch der besondere Zusam-
menhang der vorliegenden Gedichtfolge läßt das wahre Gedicht, das kein
11Meingedicht«, kein täuschender Schwur der Angeblichkeit ist, gegenüber
398 Wer bin Ich und wer bist Du?

dem eitlen Wort treiben, in dem die Sprache hln- und hergezerrt wird, zur
Abhebung kommen. So ist es durchaus berechtigt, auch in unserem Ge-
dicht das ganze Geschehen vom Dichter und seiner Erwartung des Wortes,
das ihm gelingt, her zu verstehen. Und doch ist das, was hier beschrieben
wird, so, daß es weit über das Besondere des DichterS hinausgeht. Und das
nicht nur hier. Es ist eine der großen Grundmetaphem der gesamten Neu-
zeit, daß das Tun des Dichters wie ein Exempel des Menschseins selber ist.
Das Wort, das dem Dichter gelingt und dem er Bestand verleiht, ist nicht
sein spezielles artistisches Gelingen, sondern ein Inbegriff menschlicher
Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt, der dem Leser erlaubt, das Ich zu
sein, das der Dichter ist. In unseren Versen sind Ich und Du in einer
geheimen Solidarität des Gelingens beschrieben, die nicht nur die des Dich-
ters und seines Genius oder Gottes ist. Da ist nicht ein beschwerendes
Wesen, Mensch oder Gott, das da Wortschatten auflädt, die die Freiheit
beengen. In diesem Gedicht, das ein eigenes Gelingen dichterischer Exi-
stenz meinen mag, kommt in Wahrheit zur Aussage, wer Ich ist, indem
deutlich wird, wer Du ist. Wenn des Dichters Verse uns dieses Zueinander
präsent machen, dann rückt ein jeder von uns in eben den Bezug ein, den
der Dichter als den seinen aussagt. Wer bin ich und wer bist du? Das ist eine
Frage, auf die das Gedicht seine eigene Antwort dadurch gibt, daß es die
Frage offenhält.
O. Pöggeler schlägt vor, das »nördlich der Zukunft« als eine Todesland-
schaft zu verstehen, da von dem )ungreifbaren Abgrund( des Todes her
jede auf uns zukommende Zukunft schon überholt sei - eine Radikalisie-
rung der menschlichen Grunderfahrung, die es nötig machen würde, das
Du als den Todesgedanken zu verstehen, der allem Dasein sein Gewicht
gibt. Es ist wahr, daß so »nördlich der Zukunft« präziser verstanden wür-
de: dort, wo keine Zukunft mehr ist - und das hieße: auch keine Erwar-
tung. Und dennoch: Fischzug. Es lohnt, darüber nachzudenken. Ist es das
Einverständnis mit dem Tode, das neuen Fang verheißt?

Vor dein spätes Gesicht,


allein-
gängerisch zwischen
auch mich verwandelnden Nächten,
kam etwas zu stehn,
das schon einmal bei uns war, un-
berührt von Gedanken.

Dies Gedicht erschien mir lange besonders schwierig. Denn bei aller Ein-
deutigkeit seiner Aussage läßt es einen besonders weiten Raum rur die
Wer bin Ich und wer bist Du? 399
Ausfüllung. Ist es ein Liebesgedicht? Oder spricht es von Mensch und Gott?
Sind es Liebesnächte oder die Nächte des Einsamen, die IImich\( verwandelt
haben?
Es liegt, wie bei sehr kurzzeitigen Gedichten oft, gerade durch die Kürze
und Knappheit seines Baues ein besonders starkes Gewicht auf der letzten
Verszeile. "Berührt von Gedanken« - das ist fast wie ein epigrammatisches"
Siegel. Von hier muß im Grunde das Ganze wie von seiner Verdichtung her
begriffen werden. Die spannungsvolle Trennung lIun-berührt von Gedan-
kenll stellt das Berührtsein von Gedanken für sich. Aber in welchem Sinne? Es
gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen: als eine positive und durch die
Zeilentrennung verstärkte Aussage über die Unberührtheit dessen, was da
"vor dein Gesicht« trat - daß es nämlich nichts ausdrücklich Gewußtes und
Gedachtes ist. Oder aber es ist eine Aussage darüber, daß das, was I>schon
einmal bei uns war«, nun anders, nämlich "berührt von Gedanken«, also
verwandelt ist. Es hieße also gerade nicht: nach wie vor un berührt. Nun ist die
Aussage des Gedichtes durchweg von der Spannung zwischen mach< und
.vor< beherrscht. Es ist von einem »spätenlt Gesicht die Rede, das ein .früher<
heraufruft; es ist von einem »schon einmal« die Rede und ausdrücklich von
»verwandelndenll Nächten. So muß auch in dem »un-berührtlt,das nicht
umsonst Zeilentrennung in sich austrägt, die Spannung zwischen Einst und
Jetzt liegen.
Die Frage geht bis in die letzten Eigenheiten von Rhythmik, Versbau und
Sinnfügung. Es handelt sich um eine Frage letzter Sinnkohärenz - und die
scheint mir für die von mir vorgeschlagene Deutung zu sprechen, daß eine
neue Bewußtheit eingetreten ist. Denn jenes »etwas«, das da zu stehen
kommt, bliebe allzusehr in der Unbestimmtheit, wenn über es überhaupt
nichts ausgesagt würde. Wenn dagegen der Sinn ist, daß die Unberührtheit
von Gedanken durch den Gedanken zerstört wird, dann versteht man immer-
hin, daß "etwas 11 eingetreten ist, nämlich bei aller Unbestimmtheit eine neue,
Alleinsein einschließende Bewußtheit. Wachsende Bewußtheit, Abstand,
Alleinsein: das ist nicht die enttäuschte Feststellung eines verlorenen Zugangs
- wie eine Entfremdung es wäre -, sondern es findet hier gegenseitige
Anerkennung statt: •• auch mich« - also auch dich - »verwandelnd« heißen die
Nächte. Der Abstand, derjetzt bewußt wird, war an sich immer da, als das,
was man Diskretion nenntZ, bis zu jener .unendlichen Diskretion(, mit der
Rilke sein Verhältnis zu Gott beschreibt.
Aber das ist nun die eigentliche Erfahrung, die aus diesen Versen spricht:
Inzwischen ist es anders geworden. Was von Gedanken unberührt war, ist
nicht länger so, und das ein rur alle Mal. Eben die Endgültigkeit dessen, was

2 Zu diesem Begriffund seiner Rolle flir das Verständnis moderner Lyrik vgl. ,Verstum-
men die Dichter?<, in diesem Band, S. 362ff.
400 Wer bin Ich und wer bist Du?

nun eingetreten ist, spricht aus der epigrammatischen Schluß zeile »berührt
von Gedanken«.
Hier scheint die Frage besonders dringlich, wer Ich ist und wer Du. Aber
auch hier ist nicht so zu fragen. Das einzige, worauf es ankommt. ist. daß
zwischen dem Ich. das hier spricht, und dem Du, das es anspricht, die
Geschichte einer innigen Beziehung heraufgerufen wird, deren Beginn länger
zurückliegt. Darauf deutet das Beiwort ))spät«, das dem Gesicht zugespro-
chen wird, und weiter klingt es so, als ob dies Gesicht inzwischen in sich
zurückging und sich stärker in sich verschlossen hat. Denn es heißt »allein-
gängerisch«, und das meint nicht einfach allein-gehend. sondern ein bewußt
gewähltes und festgehaltenes Alleinsein. Wieder ist es die Worttrennung.
welche die Spannung dieses Alleinseins verleiblicht. Sie läßt beides anklingen.
das Alleinsein und den Willen dazu. Das bestätigt sich von der anderen Seite
durch Imein< Eingeständnis. daß auch ich verwandelt bin. Was da »vor dein
spätes Gesicht« tritt. ist aber ausdrücklich nicht als etwas Fremdes anzusehen.
das früher nicht da war. Es warja schon einmal 11 bei uns«. Was inzwischen
anders geworden ist. hebt die Vertrautheit der gegenseitigen Bindung durch-
aus nicht auf. Es ist nicht etwas Fremdes. Man soll nicht fragen, was das ist.
Offenbar weiß der Sprechende es selber nicht zu benennen. Es ist michts<.
Was das Gedicht darüber hergibt. liegt einzig in der Wendung »un-berührt
von Gedanken«. Das besagt, daß man sich inzwischen Gedanken macht und
daß gerade dadurch »etwas zu stehn« gekommen ist. Man achte darauf, daß es
nicht heißt: etwas trat dazwischen. Es ist überhaupt keine besondere Bege-
benheit gemeint, die alles veränderte. sondern eher der Niederschlag der Zeit
selbst. der nicht etwa etwas Neues enthüllt. sondern das. was an sich schon
bekannt ist, weil es »schon einmal bei uns war«, nun für sich stehen läßt. Es
heißt »bei uns« -und nicht: zwischen uns. Was da zum Bewußtsein k~mmt,
ist vielleicht nichts anderes als Alleinsein in wechselseitiger Vertrautheit.
So scheint es kaum nötig zu wissen, wer Ich und wer Du ist. Denn das,
wovon die Rede ist, geschieht beiden. Ich und Du sind beide Verwandelte,
sich Verwandelnde. Es ist die Zeit, die ihnen geschieht. Ob nun dieses Du das
Gesicht des Nächsten trägt oder das ganz andere des Göttlichen - die Aussage
ist, daß bei aller Vertrautheit zwischen beiden ihnen mehr und mehr der
Abstand bewußt wird, der zwischen ihnen bleibt. Injenen Nächten. das heißt
in der Nähe und Innigkeit des Beisammen, die alles andere auszulöschen und
alles Trennende aufzulösen vermag, gerade da verwandelte sich etwas und
kam etwas zu stehen. Ist das überhaupt etwas Trennendes? Es trat »vor dein
Gesicht«. Gewiß liegt darin auch, daß ich keinen so unmittelbaren Zugang
mehr zu dir habe, aber doch auch, daß ich nicht von dir getrennt bin. Es warja
schon vorher» bei uns «. Eher scheint es, als würde in einem 'neuen Wissen der
Abstand bejaht, der immer war, der Abstand zum verborgenen Gott oder die
Ferne des Allernächsten.
Wer bin leh und wer bist Du? 401

Die Schwermutsschnellen hindurch


am blanken
Wundenspiegel vorbei:
da werden die vierzig
entrindeten Lebensbäume geflößt.
Einzige Gegel1-
schwimmerin. du
zählst sie. berührst sie
alle.

Es geht um die Erfahrung der Zeit. An einem Punkte wird es handgreiflich.


worauf das Gedicht anspielt. Jemand denkt an die vierzig Jahre, die er alt ist.
Man wird sagen: der Dichter. Gewiß. und doch ist in dem. was der Dichter
hier von sich selbst sagt, ein Allgemeines da. ein so sehr allen Gemeinsames.
daß diese besonderen vierzig Jahre nicht die des Dichters allein sind. In dem
ganzen Gedicht wird überhaupt nicht )lich« gesagt, so sehr ist im Sprechen des
lyrischen Wortes das Ich da, das wir alle sind. Dieses Ich. das wir alle sind.
denkt an seine vierzigJahre. das heißt an alles. was an ihm. undanalles. WOran
es selbst vorübergekommen ist: Zeiten der Schwermut. Stromschnellen. die
nicht sq sehr durch ihr Dasein als durch die Plötzlichkeit und Unvorherseh-
barkeit ihres Auftretens Gefahr sind. Die Gefährlichkeit dessen. was so
plötzlich über einen kommt. ist in dem einzigen Wort »Schwermutsschnel-
len« beschworen - aber auch, daß das Ich durch alle Anfechtungen hindurch
kam. Jetzt geht es durch ruhigeres Wasser. an dem spiegelnden See vorbei. der
im Kontrast zu den Stromschnellen eine so unbewegte Wasserfläche ist. daß
sich alles in ihm spiegeln kann. So ist in ihm Wissen und Eingedenken. Was
sich in ihm spiegdt, sind die sichtbaren Spuren sichtbarer Verletzungen.
Wunden, deren das dahinrauschende Leben sich schmerzhaft bewußt wird.
Sie vor allem sind es, die in der Lebensbilanz auftreten.
Und doch ist die eigentliche Bewegung des Gedichtes. daß das Leben
weitergeht, vorbei an denjähen Verdüsterungen wie an der Klarsicht offener
Leiden. Die Lebensbäume der Jahre, die da dahintreiben. heißen ihrerseits
llentrindet ... Das kann heißen: Es liegt der Kern bloß (für den sich Erinnern-
den?), dergestalt, daß alles Unwesentliche abgestreift ist. Vielleicht auch: Das
eigentliche Lebendige ist nicht mehr dabei. Die Entrindung läßt den Säfte-
strom des Lebens nicht mehr steigen und sinken. Was da ist, ist nur sein
verholztes Gehäuse. Injedem Falle: sie werden geflößt. Die Kraft der Wasser
trägt sie dahin. talabwärts. Diesem Strom des Vergehens schwimmt jemand
entgegen, für den, als die »einzige Gegensch wimmerin ... all diese Unterschie-
de von jähen Verdüsterungen und spiegelnder Klarheit der Wunden und all
das, was sie an Leben einschließen, überhaupt nicht zu existieren scheinen.
Diese Gegenschwimmerin wird als Du angeredet, bewundernd, besiegelnd.
402 Wer bin Ich und wer bist Du?

Die letzte Verszeile »alle« macht das Allumfassende dieser Gegenbewe-


gung deutlich. Die Gegenschwimmerin zählt alle und berührt alle diese
Bäume des Lebens. Das Gleichmaß und die unbeirrbare Genauigkeit. die hier
am Werke sind, machen es eindeutig. scheint mir. daß die Gegenschwimme-
rin die vergehende Zeit selber ist. Kein menschliches Erinnern oder Gedächt-
nis oder gar die mitgehende Sorge eines anderen vermöchte so beständig und
unverrückt und untrennbar vom ersten Jahre an dabeizusein. Plato lehrt uns:
Die Zeit ist die Zahl, das bewegte Außereinander. Die Gegenschwimmerin
hier ist freilich mehr als nur ein Maß, an dem sich die Bewegung mißt. Sie tut
etwas. indem sie selber der Stromversetzung des Vergehens widersteht.
Dadurch allein ist sie wie ein festes Maß. mit dem sich alles zusammenfassen
und messen läßt und von dem aus sie sich zählend all des Vorüberfließenden
vergewissert, wie mit berührender Hand. Nichts wird dabei weggelassen,
alles gehört dazu. auch all die )ungezählten( Leiden, die hinter sich zu lassen
und zu vergessen leben heißt. Das Gezählte ist also die ganze Summe der
durchlebten Zeit. Nun lehrt uns Aristoteles: Irgendwie ist mit der Zeit die
Seele da. Das »Gegen«, das sich nicht mitreißen läßt und nicht davon abläßt.
dabeizusein und alles zu zählen, ist also nicht so sehr die Zeit selber wie das
stehende und widerstehende Selbst, das Ich, das, worin die Zeit ist. In ihm erst
faßt sich, wie Augustin gezeigt hat, die Lebensgeschichte zu einem Ganzen
zusammen. In ihm erst ist Zeit da. Es ist etwas Rätselhaftes mit der Selbigkeit
des Ich. Es lebt, weil es vergißt - aber es lebt auch nur als Ich, weil alle seine
Tage )für es< gezählt werden und gezählt sind. die unvergeßlichen. Daß
nichts, was ich war, ausgelassen ist, macht das Wesen der Zeit aus. Aber
gewiß ist es nicht das wirkliche Bewußtsein des Vierzigjährigen oder irgend-
eines, der zurückblickt, derart alles zu umfassen. Gerade dieser Unterschied
der alles zählenden Zeit und des Lebensbewußtseins des Ich wird diesem
vielmehr zur Erfahrung. Der Vierzigjährige wird an solchem Gleichmaß der
Zeit und am Gleichmut dieses Bewußtseins, das die Zeit selber denkt, seiner
wie eines höheren Selbst bewußt.
Wer bin Ich und ~er bis! Du? 403
Die Zahlen, im Bund
mit der Bilder Verhängnis
und Gegen-
verhängnis.
Der drübergestülpte
Schädel, an dessen
schlafloser Schläfe ein irr-
lichternder Hammer
all das im Welttakt
besingt.

Auch hi'er geht es um das Erleben der Zeit. "Die Zahlen« nimmt das Zählen
der Zeit auf. Die Zeit erscheint hier als Verhängnis, denn sie steht »im Bund
mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis(l. »Der Bilder Verhängnis«
meint offenbar das, was hinter dem Schädel wach ist, das unvermeidliche
Verhängnis des Bewußtseins, in dem immer etwas sich abbildet. Es kann
nicht fehlen, daß da etwas ist - nicht ein Gerufenes, nicht ein Gewünschtes.
Die Zahlen, das heißt dieses Ablaufender Augenblicke, sindnichtfursich. Sie
sind »im Bund«, d. h. schließen immer zugleich ein, daß als Gegebenheiten
der inneren Erfahrung Bilder da sind. Diese Bilder nun, die so mit den Zahlen
und der Zeit unlösbar mitgehen, sind nicht nur wie die Zeit" Verhängnis«,
d. h. notwendiges, unabänderliches Geschehen, sie haben die Funktion eines
»Gegenverhängnisses«. Das will sagen, daß sie zugleich gegen die Zahlen
stehen, gegen das Einerlei der Folge, das unaufhörlich wie ein Hammer pocht.
Doch diese Bilder sind auch selber Verhängnis. Als Verhängnis der Bilder
erlangt indes das Wort 11 Verhängnis« einen neuen Gegensinn, nämlich daß es
etwas verhängt, so daß das Verhängte nicht mehr in seiner eigentlichen
Gestalt offenliegt und unverhüllt sichtbar ist. Indem das Gegenverhängnis der
Bilder beides zugleich ist, nicht nur Verhängtes, sondern auch Verhängendes,
gewinnt auch das Verhängnis selber etwas von dem Doppelsinn, verhängt
und zugleich verhängend zu sein. Das, wogegen die Bilder das Verhängende
und Verhängte sind, sind die Zahlen, die Zeit, das unabänderliche Vergehen.
Es ist- als im Bunde mit den Bildern - nicht nur ein unaufhörliches Pochen der
Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegen-
wart liegt und den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, der
bunte Teppich der Bilder.
Die Zeit ist der innere Sinn, in dem sich die Sukzession der Vorstellungen
findet. Das hatte schon Kant und im Ansatz schon Aristoteles gelehrt. Man
versteht das Befremdliche, daß diese Unendlichkeit der Folge und der Bilder
wie unter einem Helm eingeschlossen ist. Es ist der Schädel, an dessen Wand
der Äußerlichkeit sich diese innere Unendlichkeit im Hammerschlag des
Zeitpulses manifestiert. Nun heißt es aber Ilim Welttakt besingtli: Daß der
Taktschlag des Zeithammers Welttakt ist, ist klar - er umfaßt alles. Was heißt
404 Wer bin Ich und wer bist Du?

es aber, daß der pochende Hammer diese ganze innere Folge "besingt,(? Aus
solchem Takt des unaufhaltsamen Vorbei wird doch wahrlich keine Musik.
Die kühne Metapher »besingt« bildet einen Endvers und hat dadurch einen
starken Nachdruck, die Emphase des Paradoxen, das sich selbst setzt und
entgegensetzt. Nun meint »besingt" auf alle Fälle: nicht entgegenstehen,
sondern preisen und in der Preisung gegenwärtig machen. Was bedeutet das?
Wieso ist der »irrlichternde Hammer", das Aufzucken des Bewußtseins, das
dem Strom von Zeit undBild nur folgt und mit ihm geht, zugleich das, was zu
ihmja sagt, ihn ganz zum meinigen macht - alsjenes ,Ich denke<, das alle meine
Vorstellungen muß begleiten können?
Oder ist es gerade die Monotonie dieses Hammerschlages der Vergänglich-
keit, die in einem bitteren Oxymoron »singen(, genannt ist? Doch die
semantische Gegebenheit scheint mir eindeutig: im großen Takt der Zeit, die
wie der Pulsschlag ist, ist das Aufleuchten des Bewußtseins wie ein Gegenver-
hängnis. Es sind Bilder, deren Wechselgehalt das Einerlei des Vergehens in
unaufhörlicher Folge irrlichternd belebt. Wie nahe hier - wie überhaupt bei
Celan - ein Wortspiel lauert, zeigt in der zweiten Strophe die Wendung
»schlaflose Schläfe". Wie alle Wortspiele verkörpert auch dieses einen Gedan-
kenbruch - oder besser: eine verborgene Harmonie, die, wie Heraklit wußte,
stärker ist als eine offene3 • In der Tat ist es das Rätsel des Bewußtseins selbst,
wie dies Ineins von Schlafund Schlaflosigkeit, diese Schlaflosigkeit im Schlaf,
sein kann. Wenn man sich seiner selbst bewußt ist, ist man wach. Aber der, der
sich da seiner selbst bewußt wird, ist stets wie ein aus dem Schlaf Erweckter.
So sicher sind wir unserer Selbigkeit im Selbstbewußtsein, daß seine Wach-
heit auch seinen Schlaf, sein Dämmern und Vergessen, fraglos umfaßt. Nun
ist der Hammer, der an die Schläfe pocht, im Einerlei des unerbittlichen
Weitergehens der Zeit, Gesang - oder wie Gesang? - Injedem Falle meint das
etwas, was da zustande und zum Stehen kommt. Das ist die eigentliche
Aussage. Indem der Hammer nicht nur den Welttakt schlägt, sondern im
Takt all das, was in der ganzen Greifbarkeit der Bilder auftaucht, besingt,
wird das Einerlei aufgehoben. Die wechselnden Bilder treten in ein bleibendes
Sein, das dem Vergehen ins Tonlose widersteht und in dem Zustimmung
geschieht.

3 Zur Tragweite dieses Heraklitischen Grundsatzes nicht nur für das Celan-Veqtändnis,
sondern der modernen Kunst im allgemeinen siehe .Im Schatten des Nihilismus<, in diesem
Band, S. 379ff.
Wer bin Ich und wer bist Du? 405

Wege.- im Schatten-Ge.-bräch
deiner Hand.
Aus der Vier-Finger-Furche
wühl ich mir den
versteinerten Segen.

Nach hermeneutischem Grundsatz beginne ich mit der betonten Schlußzeile.


Denn darin liegt offenbar der Kern diese Kurzgedichtes. Es spricht von
»versteinertem Segen«. Segen wird nicht mehr offen und strömend erteilt.
Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so sehr entbehrt
werden, daß Segen nur noch in Versteinerung gegenwärtig ist. Nun sagt das
Gedicht: Dieser Segen der segnenden Hand wird mit der wühlenden, ver-
zweifelnden Inbrunst eines Bedürftigen gesucht. Damit geschieht ein kühner
Umschlag von der segnenden Hand zu der Hand, in der für das Handlesen eine
segensreiche hoffende Botschaft verborgen ist. Was mit dem .. Schatten-
Gebräch" gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Wenn die Hand sich etwas
krümmt und die Falten Schatten werfen, dann werden in dem .. Gebräch" der
Hand, das heißt in dem Geflecht von Brechungen und Faltungen, die Brüche
als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die Sprache des
Schicksals oder des Wesens heraus. Die)) Vier-Finger-Furche« nun ist die
durchgehende Querfalte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem
Daumen in einer Einheit zusammenfaßt.
Wie ist das alles seltsam! Das Ich, wer auch immer es sei, der Dichter oder
wir, sucht den femen und ungreifbar gewordenen Segen aus der Segens hand
heraus zu »wühlen«. Das geschieht aber nicht in einem kundig vertrauten
Entziffern geheimnisvoller Linienspiele. Die Situation des Handlesers, die
hier deutlich heraufbeschworen ist. bildet in Wahrheit und alles in allem eine
Kontrastsituation. Man gestehe es sich ein: Handlesen. wo es im En1st und
nicht zum reinen Scherz geschieht, behält eine merkwürdige Berührungs-
kraft. Die Unenthüllbarkeit der Zukunft erfüllt jede Aussage über solche
Zeichen mit einem lockenden Geheimnis. Aber hier ist es alles ganz anders.
Die Inbrunst und die verzweifelte Not des Suchenden ist so groß. daß er nicht
etwa im kundigen Deuten über der Rätselschrift der Hand und der Zukunft
halb scherzhaft und halb ernsthaft verweilt - im Gewirr der Handlinien sucht
er wie ein Verdurstender nur die größte, tiefste. in Wahrheit geheimnislose
Furche allein, in deren Schatten nichts geschrieben ist. Aber seine Not ist so
groß. daß er selbst noch aus dieser nichts mehr spendenden Handfurche so
etwas wie Segen erfleht.
Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segenshand, die nicht mehr
segnet, etwas anderes als die Hand des verborgenen Gottes zu sehen, dessen
Segensfülle unkenntlich wurde und uns nur noch wie in Versteinerungen
überkommen ist, ob diese nun das erstarrte Zeremoniell der Religionen oder
406 WeT bin Ich und wer bist Du!

die erstarrte Glaubenskraft der Menschtm sein mögen. Aber wieder wird es so
sein, daß das Gedicht darüber nicht entscheidet, wer hier Du ist. Seine
alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der i? »deiner J:iand,,- weSSen
Hand es auch sei - nach Segen sucht. Was er findet, 1st »verstemerter« Segen.
Ist das noch Segen? Ein letztes an Segen? Aus deiner Hand?

Weißgrau aus-
geschachteten steilen
Gefühls.
Landeinwärts, hierher-
verwehter Strandhafer bläst
Sand muster über
den Rauch von Brunnengesängen.
"Bin Ohr, abw,etrennt, lauscht,
Ein Aug, in Streifen geschnitten,
wird an dem gerecht.

Die Kraßheit der Bilder vom abgeschnittenen Ohr und vom in Streifen
geschnittenen Auge gibt diesem Gedicht sein einzigartiges Gepräge. Man
muß und man soll eine Art von Widerwillen gegen die Kraßheiten empfinden,
die einem hier zugemutet werden. um sie durch Begreifen zu überwinden.
Aber was ist daran zu begreifen? Ich denke, dies: Kein den Weltmelodien
geöffnetes Ohr, kein alles umfassender. vom goldenen Oberfluß der Welt
trunkener Blick entsprechen auf gerechte Weise dem. was ist. Angestrengtes
Lauschen - so daß das Ohr wie abgetrennt ist, 19anz Ohr< - und durch
schmalsten Spalt spähendes Auge allein-das scheint mit »in Streifen geschnit-
ten" gemeint - vermögen allein noch das. was ist, zu erfassen. Denn es ist nur
noch Vereinzeltes, kaum Hörbares, kaum Sichtbares, was überhaupt Kunde
gibt (llRauch von Brunnengesängen«).
Dabei ist »311 das « in strengsten Weglassungen dennoch da: die See-denn es
ist von lliandeinwärts« die Rede-, die Kalkfelsen im Weißgrau angebroche-
nen Grundes, und dann, ins Land hinein. von dem nahen Meer entfernt, etwas
ganz anderes, Menschliches: Rauch und Brunnen. Die Steilküste evoziert
Einsamkeit, aber auch das Zutagetreten, das Bloßliegen des sonst Verborge-
nen. Das aber ist hier »steiles Gefühl" (man denke an Rilkes »schlackig
versteinerten Zorn «). Was so bloßgelegt ist. reicht in dieTiefe des Fühlens wie
in einen Abgrund. Das liegt in dem Worte llsteik Aber es ist nicht wie ein
Quell der Gefühle. Es ist weißgrau, ohne Farbe und Leben steht es erstarrt und
ist den Wettern preisgegeben wie ein Steinbruch, der »ausgeschachtet« ist.
Was beginnt eigentlich in der zweiten Strophe, die mit »Landeinwärts«
Wer bin Ich und wer bist Du? 407

einsetzt? Was dort, landeinwärts. ist, ist gewiß etwas Geringeres als die
weißgraue Bruchlinie der Einsamkeit zwischen den großen Elementen Meer
und Land. Aber in »landeinwärts .. klingt es doch wie eine Erwartung, als
könne die kahle Einsamkeit des erschöpften, »ausgeschachteten« Gefühls von
klingenden Tönen des Menschlichen abgelöst werden. Immerhin ändert sich
das Bild: Es sind aus vereinzelten Öffnungen der Tiefe, aus Brunnen, wie
Rauch aufsteigende Gesänge, die man hören soll. »Rauch von Brunnengesän-
gen« weckt ein Vielfaches: rauchende Kamine menschlicher Wohnungen,
dörfliche Brunnen, menschliche Laute. Gesang. - Indes, von der Verlassen-
heit des Strandes sind wir auch hier nicht fern. Ober all das weht der
Strandhafer seine Sandmuster. Das Karge, Dürftige des ins Land hineinkrie-
chenden Dünensandes und seiner einförmigen Muster beschreibt eine uni-
form werdende Welt, in der nichts Menschliches mehr offen zutage tritt und
in der der Gesang der Brunnen fast übertönt wird. Nur dem angestrengtesten
Lauschen bleibt dieser Gesang hörbar, diese Selbstaussage des Menschlichen
in einer versandenden Welt, und nur in augenblickshaften Brechungen blitzt
dem angespanntesten Spähen menschlich Geordnetes auf. Die krasse Grau-
samkeit der Schlußmetapher von Ohr und Auge läßt die beengende Dürftig-
keit der Welt empfinden, in der Gefühl kaum noch etwas vermag.

Mit erdwärts gesungenen Masten


fahren die Himmelwracks.
In dieses Holzlied
beißt du dich fest mit den Zähnen.
Du bist der liedfeste
Wimpel.

In drei kurzen Strophen wird die Szene eines Schiffbruchs geschildert, der
freilich von vornherein ins Unwirkliche verkehrt ist: Es ist ein Schiffbruch am
Himmel. Auch dort bedeutet Schiffbruch jedenfalls, was wir immer in der
Metapher des Schiffbruchs denken und wobei wir vielleicht zu allererst an
Caspar David Friedrichs berühmtes Bild von dem Schiffbruch im Eis der
Ostsee denken: das Scheitern aller Hoffnungen. Die Topik ist altbekannt.
Auch hier sind es die gescheiterten Hoffnungen. die der Dichter heraufbe-
schwört. Aber es ist ein Schiffbruch am Himmel, ein Unglück ganz anderen
Ausmaßes. Die Masten der Wracks weisen auf die Erde hin und nicht nach
oben. Man denkt an das tiefsinnige Wort Celans in der Meridian-Rede: »Wer
auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.«
Nun ist aber deutlich: diese Masten sind »gesungen«. Es sind Lieder, aber
solche, die nicht nach einem Oben und Jenseits tröstend hindeuten. Man
408 Wer bin Ich und wer bist Du?

denkt an die Umkehrung in >Tenebrae(: »Bete zu uns, Herr. «4 Es ist nicht


länger die Hilfe des Himmels, auf die man hofft, sondern die der Erde. Die
Schiffe sind alle gescheitert, aber der Gesang wird weiter gesungen. Das
Lebenslied klingt noch immer, wenn die Mastenjetzt auch erdwärts winken.
Es ist also der Dichter, der sich an dies »Holzlied« festklammert, »mit den
Zähnen«, das heißt mit letzter und äußerster Anstrengung, um nicht ganz
unterzugehen. Was ihn dabei über Wasser hält, ist das Lied. So heißt es
»Holzlied«. Wie ein Untergehender die schwimmende Rettungsplanke als
seinen letzten Halt nicht losläßt und sich wie mit den Zähnen daran festbeißt,
so hält sich das Ich an das Lied. Und in einer vollendeten Umkehrung der
gescheiterten Wirklichkeit, nach dem Schiffbruch des Himmels und aller
seiner Verheißungen, nennt sich der Dichter selbst einen» Wimpel«. Erist am
Liedmast fest, das heißt, er ist von ihm nicht zu trennen. Wie der Wimpel eines
untergehenden Schiffes als letztes noch aus dem Wasser ragt, so ist der Dichter
mit seinem Lied als letzter eine Verkündung und eine Verheißung von Leben,
ein letztes Hochhalten des Hoffens. Er heißt mit Pointierung »liedfest«. Denn
nichts als das Lied ist es, das dauern wird, das nicht untergeht, an das man sich
allein nach dem Schiffbruch aller himmelwärts gerichteten Hoffnungen
festhält.
Auf solche Weise spricht der Dichter hier von seinem Werk. Aber wie die
Metapher des >Lebenslieds(, die sich dem Leser hier aufdrängt, d~s Leben
selbst meint, so meint gewiß auch der »liedfeste Wimpel« nicht nur den
Dichter und seine Beharrlichkeit im Hoffen, sondern das letzte Hoffen aller
Kreatur. Wieder ist keine Grenze zwischen dem Dichter und dem Menschen,
der mit letzter Kraft sein Hoffen hochhält.

Schläfenzange.
von deinem Jochbein beäugt.
Ihr Silberglanz da.
wo sie sich festbiß:
du und der Rest deines Schlafs -
bald
habt ihr Geburtstag.

Es ist klar, daß es sich hier um den Anruf des Alters handelt, auf den der
Dichterantwortet. Die »Schläfenzange« meint die ergrauende Schläfe. die das
herannahende Alter anzeigt, unerbittlich zugreifend wie eine Zange. Der
zweite Vers »von deinem Jochbein beäugt« drückt sich zwar fast anatomisch
nüchtern aus, und doch kommt durch das »beäugt« ein Ton beobachtender
Bangigkeit hinein, und der Fortgang spricht es vollends deutlich aus, wie das
• VgI. dazu ,Sinn und SinnverhaIIung bei Paul Celan(, in diesem Band, S. 452ff.
Wer bin Ich und wer bist Du? 409

Denken an denTod an Stärke gewinnt. Denn dort heißt es: "du und der Rest
deines Schlafs« - ein kühnes Oxymoron, denn es steht ja für den Rest eines
Lebens. Und was meint die zugespitzte Wendung" bald habt ihr Geburtstag«?
Natürlich meint es nicht: Bald werdet ihr geborens . Geburtstag haben ist
nicht Geborenwerden, sondern es ist die Feier der Wiederkehr des Geboren-
werdens. Und gewiß bedeutet die Wiederkehr des Geburtstages für den, der
an den Schläfen bereits grau wird, ein steigendes Bewußtsein von der
Neigung des Lebens und der Kürze des Lebens. Gleichwohl ist in den Versen
nicht eigentlich ein Klageton vernehmbar.
Man fragt sich, wer hier eigentlich angeredet wird. Redet das Ich zu sich
selbst? Aber es klingt sonderbar, daß »du und der Rest deines Schlafs« als ein
»ihr« zusammengefaßt wird, die zusammen Geburtstag haben. So muß man
die Deutung eben dort ansetzen, wo es sonderbar klingt, das heißt an diesem
Schluß. In ihm sind zwei Antithesen verborgen. Die eine ist die Antithese
zwischen dem Du, das sich hier anredet und das sich selber die Wache hält, und
dem Schlaf, wie sein Leben hier genannt wird - mit Heraklit, Pindar,
Euripides, Calderon und vielen anderen. Die zweite Antithese liegt in dem
Widerspruch des erwartungsvoll freudigen Geburtstagsfestes zu dem Vorge-
fühl von Alter und Tod. Die Erwartungsfreude wird hervorgehoben durch
den Einwortvers »bald«, und sie bricht um in den Erwartungsverzicht des
Sprechers, dem das Älterwerden bewußt wird. So sind es zwei Antithesen der
Bitternis, in die sich hier die Erwartungsfreude verkehrt. Ein wunderbares
Beispiel, wie ironische Verkehrung und die schillernde Ungreifbarkeit, die
ihr eigen ist, zur dichterischen Evidenz erhoben wird. Denn was ist das für ein
Geburtstag? Was wird da erinnert und gefeiert? Der Tag der IExistentialfreu-
digkeit( (wie GrafYorck von Warten burg einmal den Geburtstag genannt
hat)? Aber von wessen Existenz? Man wird richtig hören, wenn man versteht:
der sich wissenden, der sich annehmenden, der Existenz, die ihrer Endlichkeit
inne ist. Reif sein ist alles.

, Zur .Schläfenzange« als Geburtszange siehe unten, S. 446f.


410 Wer bin Ich und wer bist Du?

Beim Hagelkorn, im
brandigen Mais-
kolben. daheim,
den späten, den harten
Novembersternen gehorsam:
in den Herzfaden die
Gespräche der Würmer geknüpft-:
eine Sehne, von der
deine Pfeilschrift schwirrt,
Schütze.

Wie das vorangegangene Gedicht die Bewußtheit des Denkens an den Tod
zum Gegenstand nahm, hat auch dieses Gedicht unmittelbar mit dem Tod zu
tun. Daß das letzte Wort »Schütze« eine Metapher des Todes ist, istunzweifel-
haft. Aber auch vieles andere weist offenbar auf diese Sphäre hin: das
Hagelkorn, der Maiskolben, der brandig wird. der späte November. Celan
stammt aus dem Osten, und man spürt, wie ihm dieses langsame Hereinbre-
chen des schweren östlichen Winters ein Wissen um die Vergänglichkeit des
Daseins weckt. das tiefInnerlich in sein Lebensgefuhl eingewebt ist: Todesge-
danken - die Gespräche der Würmer- sind »in den Herzfaden geknüpft«(. Es
ist wie ein inneres Nagen oder gar wie eine im Innersten verständigte
Gewißheit der Endlichkeit und Vergänglichkeit unseres Daseins.
Die Komposition als Ganzes ist von eindeutiger Straffheit. Da sind zwei
Doppelpunkte. Der zweite ist durch einen Gedankenstrich verstärkt. Sie
lassen die Wendung am Ende des Gedichts wie einen Schluß aus zwei
Prämissen folgen. Diese Schlußwendung faßt alles Vorangegangene in die
Wendung von der gespannten Sehne zusammen. von der der Pfeil schwirrt.
Aber es ist nicht der Pfeil. nicht der Tod sei ber, sondern die »Pfeilschrift «, die
von dieser Sehne schwirrt. Wenn der Pfeil Schrift ist. so ist er Botschaft,
Verkündigung. Kein Zweifel, diese Schrift sagt uns etwas Genaues: Es ist die
Botschaft der Vergänglichkeit, die aus allem spricht, was da genannt war.
Aber es ist Botschaft. Man wird daher diejenigen semantischen Teile des
Gedichttextes als die tragenden auszeichnen müssen. die nicht nur die Ver-
gänglichkeit künden, sondern die Botschaft der Vergänglichkeit mit Ent-
schlossenheit annehmen. So ist das »gehorsam". das den einbrechenden
Winter anerkennt, ein tragendes Bedeutungsmoment. In ähnlichem Sinne
wird auch das korrespondierende »daheim« - beim Hagelkorn. im brandigen
Maiskolben - festgelegt. Es meint natürlich nicht im wörtlichen Sinne die
eigentliche östliche Heimat, sondern das Daheimsein in den Boten des
Winters, des Todes, der Vergänglichkeit. So ist es eine doppelte Zustim-
mung, die dem eigentlichen Mittelteil des Gedichtes seine Artikulation
verleiht. Die Zeichen des kommenden Winters und die innerste To~esgewiß-
Wer bin Ich und wer bist Du? 411

heit des Herzens werden bejaht. Daher sind die Gespräche der Würmer »in
den Herzfaden« geknüpft. Das innere Nagen der Vergänglichkeit bleibt nicht
ein Angenagtwerden von außen. sondern ist ganz ins Innerste aufgenommen.
Damit sind die beiden Prämissen. aus denen der Schluß gezogen wird. durch
Zustimmung gesichert. Der Schluß ist gültig: Der Pfeil. der seine Botschaft
sendet. ist die Todesgewißheit. die ihr Ziel nie verfehlt. Aber es ist noch mehr
darin: Es ist eine einzige große Bereitschaft. in die der Schütze Tod sein Wort
schreiben läßt.
Vielleicht soll man noch einen Schritt weitergehen und den »Herzfaden«
zugleich als die Sehne erkennen, von der die Pfeilschrift abgeschnellt wird.
Denn der Herzfaden. an dem die Würmer nagen. ist in. gewisser Weise die
Spannkraft des Lebens selbst - und gerade in ihn sind »die Gespräche der
Würmer geknüpft". Der Schlußsatz folgert nichts Neues - er faßt nur
zusammen. Die tiefinnere Gewißheit der Vergänglichkeit und des Todes ist
nicht wie die Sehne eines tödlichen Bogens. dessen Geschoß einen plötzlich
zerreißt, sondern ist im Gegenteil das. was das Leben selbst spannt. Von dieser
Sehne des Herzens kommt nicht so sehr der Tod als die vertraute Gewißheit
des Todes. die das Leben ist und die einem jeden immer schon- und doch in
der jähen Getroffenheit durch die» Pfeilschrift« - entziffert ist.

Stehen, im Schatten
des Wundenmals in der Luft.
Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt.
rur dich
allein.
Mit allem. was darin Raum hat.
auch ohne
Sprache.

Es ist ein Unsichtbares, ein Unerkanntes. das Wundenmal in der Luft. Es ist
also nichts. was man greifen kann. nichts wie Jesu Male, die selbst den
ungläubigen Thomas überzeugten. Dies Wundenmal ist vielmehr »in der
Luft« - doch von der Art. daß es einen IISchatten« wirft. Aber offenbar nur
über mich, so daß niemand anderes dessen gewahr wird, daß ich in diesem
Schatten stehe. Das ist deutlich gesagt: Wer steht, steht für sich allein. Für sich
allein Stehen heißt Standhalten. Zugleich liegt darin auch. daß der Standhal-
tende dabei nicht eigentlich aufsich besteht. Er steht nicht für etwas oder für
jemanden, er steht sozusagen für sich allein. und daher 11 unerkannt«. Aber das
ist nicht wenig. Stehen und Standhalten heißt: etwas bezeugen. Wenn von
dem. der da steht. gesagt wird: 11 auch ohne Sprache«. so sagt es gewiß. daß er
412 Wer bin Ich und wer bist Du?

so sehr allein ist, daß er sich nich': einmal mehr mitteilt. Aber es sagt auch
umgekehrt, daß dieses Ich, das zu sich »du« sagt, wenn es im Schatten des
unsichtbaren Wundenmals steht, sich gerade ganz und gar mitteilt, »mit
allem, was darin Raum hat«, - daß es sich wie Sprache mitteilt. Ja, wenn der
letzte Vers das eine Wort »Sprache« ist, so wird damit »Sprache« nicht nur
nachdrücklich betont, sondern Igesetzt(. Daher meint das II auch ohne Spra-
che« noch etwas Weiteres. Noch bevor es Sprache ist, noch im stummen
Stehen und Sichhalten an das. woran selbst ein Thomas nicht zweifeln kann,
ist es doch schon Sprache. Worin das Zeugnis des Stehens sich ganz kundtun
wird und kundtun soll. soll sein. Es soll Sprache sein. Und diese Sprache wird,
wie das unerkannte Stehen, das Bir niemanden und nichts steht. wahrhaft
Zeugnis sein. gerade weil es nichts will: I> Bir dich allein«. Es wäre müßig. sich
um die konkrete Ausfüllung dessen Gedanken zu machen. was da bezeugt
wird. Das kann vieles sein. Aber das» Stehn« ist immer ein und dasselbe - Bir
einen jeden.

Dein vom Wachen stößiger Traum.


Mit der zwölfmal schrauben-
fOrmig in sein
Horn gekerbten
Wortspur.
Der letzte Stoß, den er führt.

Die in der senk-


rechten, schmalen
Tagschlucht nach oben
stakende Fähre:
sie setzt
Wundgdesenes über.

Das Gedicht ist streng gebaut. Zwei Strophen, die erste und die dritte. werden
je von einer Kurzstrophe gefolgt. die jeweils eine Art Folgerung zieht. So
zerfällt das Gedicht in zwei Hälften. Es sind durchaus verschiedene Bildsphä-
ren. die in ihnen heraufgerufen werden. Aber sie betreffen ein Gemeinsames:
Schlaf und Traum sowie das Erwachen. Offenbar sind es auch rhythmisch
zwei sehr verschiedene Vorgänge. die hier zusammengebunden sind. Auf der
einen Seite das Drängen des Traumes, der wie ein Bock stößt, und auf der
anderen Seite die mühsam nach oben stakende Fähre. Indessen zielt beides.
wenn auch ganz verschieden gesehen. auf das gleiche~
Das ist ein erster Ausgangspunkt rur die Frage. wie das Ganze zu verstehen
ist. Man muß es vom einzelnen her versuchen. Der Traum ist »stößig«
geworden wie ein Ziegenbock. Dadurch gelangt etwas von dem Dunkel an
Wer bin leh und wer bist Du? 413

den Tag. Nun muß man beachten, daß es nicht etwa ein beim nahenden
Erwachen stößig werdender Traum ist, wie wir das sonst aus dem TraumerIe-
ben Schlafender kennen. Er wird im Gegenteil vom Wachen stößig. Es ist also
ein allzu langer Vorgang des Wachens, der schließlich den Traum so stößig
werden läßt, daß am Ende etwas nach oben übersetzt, »übergesetzt« wird.
Das steht jedenfalls fest, daß das Gedicht nicht etwa den wirklichen Traum im
Schlaf meint, und das wird vollends deutlich und eindeutig durch das
Reizwort im letzten Verse: »Wundgelesenes «. Daraus geht hervor, daß es die
Welt der Worte und des Lesens ist, in der sich der Traum regt. Es entspricht
dem, daß dieser stößige Bock ein Horn hat, auf dem sich, wie man das von
manchen Widderarten kennt, gekerbte Windungen zur Spitze hinziehen, und
daß diese gekerbte Spur» Wortspur« heißt. So wird deutlich, daß es sich um
die lange anstehende, sich lange vorbereitende Geburt des Wortes handelt, die
in dem Gedicht beschrieben wird. Das Horn windet sich in zwölf Windungen
bis in die Spitze herauf, mit der der Bock den letzten Stoß führt. Die Zwölfzahl
deutet auf ein rundes Ganzes von Zeit, zwölf Monate, ein volles Jahr,
jedenfalls eine lange Zeit. Mit anderen Worten: Schon lange hält das Wachen
den Traum nieder, und immer wieder führt der Traum, der sich regt, seine
Stöße. Es ist also wie ein langes »Heranwachen«, um einen Ausdruck des
Gedichts )Von Ungeträumtem< (oben S. 389) zu verwenden. Offenbar will
das Gedicht sagen, daß ein Gedicht nicht ein plötzlicher Einfall ist, sondern
lange Arbeit der Vorbereitung verlangt. Aber die tatsächliche Arbeit an dem
Gedicht, die im zweiten Gleichnis als eine langsam und mühevoll stakende
Fähre erscheint, ist gleichwohl nicht die eigentliche Aussage desselben. Die
eigentliche Aussage ist vielmehr, daß es »Wundgelesenes« ist, das so nach
oben kommt. » Wundgelesenes«, Wundgelaufenes - das meint ein von allzu-
langer Wanderschaft des Lesens Wundgewordenes. Oder ist »Wundgelese-
nes« von noch tieferer Zweideutigkeit und meint nicht nur den Schmerz des
Lesens, des zu vielen, des sinnlosen Lesens, sondern ebenso vielleicht den
Schmerz und die> Wunde des Gelesenen<,das heißt des schmerzhaft Erfahre-
nen überhaupt, das auch >gelesen< heißen kann: zusammengelesen, wie durch
eine Ahrenlese des Leides?
In jedem Falle ist das, was ins Wort »übergesetzt« worden, ins Wort
übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dunkel des Unbewußten mit Hilfe des
Traumes durch eine Art Arbeit des Traumes gewonnene Text.
Muß man noch einzelnes erläutern? Die Bildsphären sind von höchster
Kraft anschaulicher Selbstauslegung: die Stöße des Bocks, die schließlich -
mit dem letzten Stoß - die Wachwelt durchstoßen und den Traum erwecken.
Welch eine Vertauschung von Traum und Wachen! Und dann diese tiefe
»Tagschlucht<<: wie in eine senkrechte schmale Schlucht das Tageslicht
einfallt, so arbeitet sich wie an einer Leiter des Lichts das im Dunkeln
Gesammelte, »Wundgelesene« ans Licht hinauf - auch dies nicht auf einen
414 Wer bin Ich und wer bist Du?

Schlag, sowenig wie der Bock auf einen Stoß den Traum aufweckt. Aber
am Ende erweckt er den Traum. am Ende langt das aus dem Dunkel ans
Licht übergesetzte an - das ist das Gedicht.

Mit den Verfolgten in spätem, un-


verschwiegenem,
strahlendem
Bund.
Das Morgen-Lot, übergoldet,
heftet sich dir an die mit-
schwörende, mit-
schürfende, mit-
schreibende
Ferse.

Die erste Strophe spricht von den Verfolgten. Das läßt sich bei diesem
Dichter und in diesen Jahren kaum anders als in bezug auf die Judenver-
folgungen Hitlers verstehen, und daß es ein Bekenntnis des Dichters ist,
das hier »mit-schreibend« zum Gedicht wurde, scheint deutlicher denn je.
Immerhin, es wurde: zum Gedicht. Auch wenn spätere Generationen diese
Verfolgungen je vergessen sollten, die irgendwann irgendwo waren, wird
das Gedicht seinen genauen Ort des Wissens und Mitwissens bewahren.
Denn dieser sein eigener Ort läßt sich nicht vergessen. Er ist die mensch-
liche Grundsituation als solche, daß da Verfolgte sind. zu denen man sel-
ber nicht mehr ganz gehört (in ))spätem« Bund), zu denen man sich je-
doch ganz bekennt ())un-verschwiegen«), so ganz und gar, daß der Bund
mit ihnen ))strahlend(( heißen kann, und das meint nicht nur: rückhaltlos
und überzeugend, sondern wahre Solidarität darstellend und ausstrahlend
-wie Licht.
Von Licht spricht auch die zweite Strophe, wenn auch in seltsam ver-
stellter Form. Unzweifelhaft soll man an Morgenrot denken, wenn es im
Gedicht »Morgen-Lot« heißt. Und warum heißt dies Morgen-Lot »übergol-
det« (und nicht golden)? »Morgen-Lot« meint offenkundig, daß das Morgen-
rot, mit dem stets Tag und Zukunft anheben. nur dann wahre Zukunft
beginnt, wenn es wie ein Lot erfahren ist, das heißt als ein senkrechtes,
untrügliches Maß fur das Rechte6 • Dieses Lot wiegt schwer. Es heißt »über-
goldet«, das will sagen, daß unter dem goldenen Schimmer von Tag und
Zukunft, die der Morgen verheißt, das Schwere da ist, das Gewicht der
6 Interessant ist hier die Lesart der Vorstufe: .das [unauslotbare1Morgen •. Sie gibt dem
Ganzen eine andere Deutungsrichtung: die Ungewißheit des (nie ganz!) auszulotenden
Morgen, und in .übergoldet. die Fragwürdigkeit des sich im Morgenrot ankündigenden
Tages. Zu den Lesarten siehe unten Anm. 11.
Wer bin Ic:h und wer bist Du? 415

Erfahrung und der Bund mit den Verfolgten, und dieses Gewicht ist selbst
etwas, das einen verfolgt. einen zum Verfolgten werden läßt.
Das liegt unzweifelhaft in der Wendung der zweiten Strophe: es »heftet
sich dir an die [... ] Ferse«. Dies Morgen-Lot ist wie ein Verfolger. Was
meint das? Ist es ein Vorwurf gegen einen selbst, daß man überhaupt den
Morgen erlebt, und statt mitzusterben. Zukunft hat? Aber von Sterben steht
nichts da, wenn man es auch gewiß nur allzu nahe weiß, und es wäre ja auch
kaum angemessen, injedem Falle im überleben ein Unrecht zu sehen. Wohl
aber könnte es eine ständige Mahnung sein, die einen verfolgt und die einen
heißt, die Verfolgten nicht zu vergessen und fur sie und die Zukunft des
Menschen einzustehen.
Der Fortgang des Gedichts macht dies letztere zum beherrschenden Sinn.
Denn von der Ferse, an die sich das Morgen-Lot heftet und die von dem
Morgen-Lot als zur Flucht gewandte Ferse ständig verfolgt wird, heißt es,
sie sei »mit-schwörend, mit-schürfend, mit-schreibend«. Eine genaue Kli-
max innerhalb einer einheitlichen Bedeutungsrichtung: Bezeugen, Aufdek-
ken, Bestätigen. Aber die Frage ist: Mit wem sollst »du« mitschwören (statt
davonzulaufen)? Gewiß meint es im letzten Bezug: mit den Verfolgten und
ihren Leiden, zu denen sich das Du unverschwiegen bekennt. Das Schicksal
ist wie ein Schwur und eine unüberhörbare Kunde, und so heißt »mit-
schwörend« nicht so sehr Bezeugen, daß es so war. Es ist ja das Morgen-Lot,
das Maß rur die Zukunft, das sich an die Ferse heftet. Es meint also den
Schwur auf die Zukunft: daß es nie wieder sein soll.
Nicht minder beziehungsvoll ist offenbar das zweite Attribut der Ferse:
»mit-schürfend«. Schürfen muß man da, wo etwas nicht offenliegt, sondern
aufgedeckt oder aus vid Unedlem zur reinen Gewinnung aufgearbeitet
werden soll. Das wäre etwa der bleibende Gewinn aus erlittenem Unrecht
und Leid. Wenn nun das dritte Glied dieser Klimax »mit-schreibend« ist, so
wirdjeder Leser vor allem an den Dichter denken, der sich zu dem Bund mit
den Verfolgten bekannt hat und sich selbst als einen Verfolgten bekennt, der
von seinem Bund mit ihnen nicht loskommen kann und darf. Die Ferse des
Schreibenden möchte enteilen, in ein Reich freundlicherer Imagination dich-
terischer Welt vielleicht - und er wird wie von einem Bleigewicht an seiner
Aufgabe festgehalten, schreibend den Bund mit den Verfolgten zu bezeu-
gen. Das könnte gemeint sein. So wäre die Klimax verständlich.
Aber einige Fragen bleiben offen. Zunächst: kann man so die Steigerung
dieser Klimax, die es notwendigerweise geben muß, verstehen? Dann müß-
te »mit-schreibend« gegenüber dem Schwören und Schürfen die am meisten
unmittelbare Bezeugung und Fixierung der Botschaft meinen. Aber dem
steht entgegen, daß die dreifache Worttrennung, die dreimal das »mit« für
sich stellt, doch in allen drei Fällen das gleiche meinen muß. Es gibt aber
nicht ebenso ein IMitschwören( oder IMitschürfen<, wie etwa .Mitschreiben<
416 Wer bin Ich und wer bist Du?

das unmittelbare Festhalten des genauen Wortlauts heißen kann. Man wird
also die Klimax anders artikulieren müssen. Der Sprecher will so, wie er mit
den anderen schwört und schürft, auch mit ihnen schreiben. Wenn man sich
sträubt, die offene Steigerung, die im Bekenntnis zum Schreiben, im Be-
kenntnis des Dichtens liegen müßte, als den vollen Sinn des Ganzen anzuer-
kennen, so hilft vielleicht folgende Erwägung weiter: Mit wem sollst »du«
eigentlich schwören und schreiben? Mit den Verfolgten? Gewiß, das kann,
wie oben gezeigt, den Sinn haben, daß deren Leiden selber wie ein Schwur
war und wie eine ein für alle Mal ftxierte Botschaft für alle. Aber nun frage
ich: Muß man das alles ergänzen? Steht es nicht ganz unmittelbar im Text
selber, nämlich als das »Morgen-Lot«? Es verkündet ja wirklich den Tag,
und wenn es ihn allen verkündet und wenn es der Tag des Rechtes sein soll,
des Lot-Rechten, der das geschehene Unrecht allen künder - ist es dann nicht
sehr genau gedacht, daß dieses Morgenrot I Morgen-Lot es ist, das sich dir
an die Ferse heftet, und daß du mit ihm, mit seiner Kunde unP. seiner
Verpflichtung, die es unabweisbar allen auferlegt hat, mit-schwörst,
-schürfst, -schreibst? Dann aber ist das Schreiben des Dichters in der Tat ein
Höchstes, auf das die sich steigernde Rede zielt, weil es nicht nur das Tun des
Dichters meint - es ist ein Mit-tun mit dem, was wir alle zu tun haben, wenn
Zukunft sein soll. Wer bin ich - und wer bist du?

Fadensonnen
über der grauschwarzen Odnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

Es sind gewaltige Räume, die sich in der großen Gebärde dieses kurzen
Gedichtes auftun. Ein meteorologischer Vorgang, den wir alle irgend wann
einmal beobachtet haben, klingt an: wie über der grauschwarzen Odnis einer
von schweren Wolken verhangenen Landschaft an Lichtfäden sich Lichträu-
me und Lichtfernen örmen. Es scheint mir abstrakt und unanschaulich,
wenn man, wie vorgeschlagen worden ist, unter» Fadensonnen« fadendünn
gewordene Sonnen, eine nicht mehr, wie in besseren Tagen, runde Sonne,
verstünde7 • Gewiß ist es eine spirituelle Landschaft (und keine Wetterstim-
mung), deren »grauschwarze Odnis« sich hier öffnet, über der die Faden-
sonnen stehen. Aber soll man dab~i nicht wirklich an die Fäden denken, die
7 Siehe dazu jetzt auch IPhinomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?, in
diesem Band, S. 468 f.
Wer bin Ich und wer bist Du? 417

die von Wolken verdeckte Sonne an den Wolkenrändern zieht? Wir sagen
von der Sonne ja auch, daß sie Wasser zieht. Und hat es nicht etwas für einen
jeden Erhebendes, ist es nicht eine rur einen jeden zugängliche Erfahrung
von Erhabenheit, die ,der Himmel Trauerspiel( vermittelt? Es flillt auf, daß
»Fadensonnen« eine Pluralform ist - ein in die anonyme Weite unendlicher
Welten weisender Plural. Auf seinem Hintergrunde profiliert sich die Ein-
zahl, die Einmaligkeit des Gedankens, der sich erhebt. Denn das ist es
offenbar, was das Gedicht sagt: die ungeheuren Räume, die sich bei solchem
Himmelsschauspiel öffnen, können die trostlose Menschenlandschaft ver-
gessen machen, in der wahrlich nichts Erhabenes mehr sichtbar ist. So ist es
ein »baumhoher Gedanke«, der sich da erhebt, ein Gedanke, der nicht in der
Odnis der Menschenwelt vergeblich suchend herumirrt. sondern der den
Maßen solchen Schauspiels gewachsen ist und wie ein Baum in den Himmel
greift. Er »greift sich den Lichtton«. Der Lichtton, der so gegriffen wird. ist
aber ein Lied-Ton. Der baumhohe Gedanke, der solchen Licht-Ton, wie ihn
das Schauspiel der Fadensonnen rings verschwendet, sich greift, hat Maße,
die alle menschlichen Maße und Nöte überwachsen. wie ein ins Riesige
wachsender Baum.
So ist die eigentliche Aussage des Gedichtes vorbereitet: "Es sind noch
Lieder zu singenjenseits der Menschen. «

Im Schlangenwagen, an
der weißen Zypresse vorbei,
durch die Flut
fuhren sie dich.
Doch in dir. von
Geburt,
schäumte die andre Quelle.
am schwarzen
Strahl Gedächtnis
klommst du zutag.

Das Gedicht zerflillt in zwei Sätze. Sie bilden zwei Strophen. Wieder ist es,
wie so oft in diesen kurzen Gedichten. eine fast epigrammatische Antithese.
die mit einem »Doch« einsetzt und beide Strophen zur Einheit verbindet.
Die erste Strophe beschreibt die Lebenstrunkenheit. Denn was hier mit
dem »Schlangenwagen« evoziert wird, ist Dionysos, der Gott des Rausches.
Es ist die Lebensfahrt. die so beginnt, in der Hingabe an alles, was die Sinne
bieten. Die »weiße Zypresse« - immerhin steht sie, dank der Verstrennung,
fUr sich da. Wenn die Lebensfahrt - zunächst - an der weißen Zypresse
vorbeiführt. so heißt das vielleicht, daß die Trunkenheit des Lebens auch den
Tod noch umfärbt. Das schwarze Todessymbol der Zypresse ragt wie eine
418 Wer bin Ich und wer bist Du?

weiße leuchtende Säule, an der man, ganz von Leben umspült, sorglos
vorbeikommt. Die Fahrt führt durch die Flut, die unaufhörlich anbranden-
den Wogen sinnlicher Erfahrung. Wer der Führer ist, der durch diese Flut
führt, bleibt unbestimmt. Der Plural »sie« macht immerhin eines klar: daß es
nicht ich bin, was die Fahrt lenkt. Der Nominativ »ich« kommt in dem
ganzen Gedicht nicht vor - obwohl ganz gewiß von niemand anderem die
Rede ist als von mir, vonjedem Ich. Aber zunächst ist einjeder eben nicht
Ich, sondern ein Dahingetragenes, und die Erfahrung, die das Gedicht
beschreibt, ist genau diese, wie ich zum Ich werde. Daher der Nachdruck.
der in diesem Gedicht auf dem Einwortvers »Geburt« liegt, diesem ersten
Beginn der Ich-Werdung.
Mit der adversativen Wendung »Doch« wird die Wendung nach innen
genommen. Was geschildert wird, ist, wie das durch die Flut des Lebens
dahingetragene sinnliche Wesen sich zum menschlichen Ich heraufbildet.
Das ist wie eine Gegenbewegung, die gegen die Überflutung durch die
Sinne einsetzt, und daher ist die Rede von der »andre[n] Quelle«. Sie
»schäumte« von Geburt an. Das will sagen, daß es auch, wo wir es nicht
wissen, aus dieser unergründlichen Quelle schäumt. und zwar unaufhörlich.
Aber sie ist wahrhaft als Quelle erfahren und nicht wie die glitzernden und
schimmernden Wellen der sinnlichen Erfahrung als eine blendende Flut, die
einen rings umgibt. Diese »andre Quelle« ist vielmehr etwas, das aus dem
Dunkel kommt. Sie heißt ein »schwarzer Strahk Erstaunlich, wie die
sinnliche Kraft dieser Verse es dem Dichter erlaubt, ein so stark begrifilich
belastetes Wort wie »Gedächtnis« einzubringen, ohne dadurch im gering-
sten lehrhaft zu werden. Gedächtnis ist der schwarze, ansteigende Strahl, es
ist nicht die breite Flut des geistigen Besitzes, die sich angesammelt hat. Und
in der Tat ist es nicht angesammeltes Wissen, sondern dieser aus dem Dunkel
des Unbewußten kommende Strahl, in dem sich das Ich bildet. Ich, das sich
selbst anredet, »klimmt« an ihm zutage, das heißt, das Gedächtnis, das
innere Wissen von sich selbst, steigt nicht einfach an wie die aus der ersten
anderen Lebensquelle breit strömende Flut der Sinne, sondern das Ich arbei-
tet sich mühsam, Schritt vor Schritt, in die Helle des seiner selbst bewußten
Ich empor. Am Ende wird es sich selbst zum Du. Das ist der Anfang des
Selbstbewußtseins. Aber das geschieht nicht, ohne daß der »schwarze Strahl
Gedächtnis« ebenso weiterschäumt, wie die reißende Flut der Sinne weiter
dahinströmt.
Man wird wohl beachten dürfen, wie das» Weiß« des zweiten Verses und
das »Schwarz« des drittletzten Verses aufeinander antworten. Auch die
Zypresse wird in dem schwarzen Strahl Gedächtnis ihre natürliche Farbe,
ihren wahren Symbolsinn wiedergewinnen. Von sich wissen heißt wissen,
was der Tod ist.
Wer bin Ich und wer bist Du? 419

Harnischstriemen, Faltenachsen,
Durchstich-
punkte:
dein Gelände.
An beiden Polen
der Kluftrose, lesbar:
dein geächtetes Wort.
Nordwahr. Südhell.

Zwei Aussagen, gegeneinandergestellt, aber eine der anderen entsprechend:


Gelände und Wort. »Dein Geländeu ist das Gelände »deines" Wortes. So
hängen die bei den Strophen zusammen. - Gegen den ersten Anschein, dem
ich in der ersten Auflage dieses Kommentars selbst erlegen war, wechselt
auch die Bildsphäre nicht. Da ist nicht erst von dem kampfbereiten Fechter
und dann von dem unbeirrbar den Kurs haltenden Steuermann die Rede. Die
ungewohnten Ausdrücke »Harnischstriemenu, »Faltenachsen«, »Durch-
stichpunktec( der ersten Strophe und dann der Ausdruck »Kluftrose« der
zweiten Strophe haben mich in die Irre geflihrt. Sie gehören zusammen und
entstammen dem gleichen semantischen Feld. Es sind alles Fachausdrücke
der Geologie. Die ersten drei Ausdrücke beschreiben - wie man dann sofort
errät und wie ich auch hätte erraten können - Formationen der Erdkruste,
und jedenfalls meinen sie, wie ich richtig sah, den Panzer der Sprache. Das
Gelände ist das Gelände des Wortes. Wie ich jetzt deutlicher sehe, sind es
alles Beschreibungen des Geländes, seiner Verkrustungen und Verwerfun-
gen und der Punkte, an denen eine tiefere Schicht nach oben geraten ist.
Mehr liegt nicht in den seltsamen Ausdrücken. Ich ging zu weit, als ich
folgendes schrieb: »Die erste Welt, die des degenfechtenden Wortes, ist nicht
im Sinne eines Gegenüber zweier Kämpfer, sondern von dem einen her
gesehen. In Wahrheit vom Wort her, das prüft und versucht, einen Panzer zu
durchstoßen. Das Wort ist ein )Degenc, der in der Rüstung zu entdecken
sucht, wo er durchstoßen kann. Wessen Rüstung? Der Rüstung, die aJle
tragen. die reden? Das ist es offenbar, worum es geht: durch den Panzer der
Sprache auf die Wahrheit durchzustoßen. ce
Daß etwas nicht stimmte, zeigte sich daran, daß ich DHarnischstriemen«
nur als vom Harnisch am Körper hervorgerufene Striemen verstehen konn-
te, ))Faltenachsen« sowie »Durchstichpunktec( mußten dagegen den Har-
nisch-Panzer selbst bezeichnen. Inzwischen weiß ich, daß diese kriegerisch
tönende Geländebeschreibung normale Fachwörter aUs dem Gebrauch des
Geologen benutzt. Das Poetische an ihnen hat offenbar den Dichter inspi-
riert. Die Ausdrücke lassen des Dichters - jedes Dichters - Verhältnis zur
Sprache anklingen. Es geht um den Panzer der Sprache und die Erstarrungs-
tendenz, die in Sprache liegt. Die Schwierigkeiten, die ich mit dem Zusam-
420 Wer bin Ich und wer bist Du?

menhang von Harnischstriemen und Faltenachsen hatte, erweisen sich nun-


mehr als gegenstandslos: so besclu;eibt der Geologe die Erdkruste. Es war
also falsch, wenn ich bei ))Durchstichpunkte« an den spähenden Blick des
Fechters dachte, der die feindliche Rüstung zu durchstechen versucht. Auch
dieser Ausdruck war nicht des Dichters barocke Erfindung, s~>ndern eben-
falls in der geologischen Fachsprache vorfmdlich. Immerhin geht es auch in
dieser Sprache darum, die Schichtung und Lagerung der Erdkruste von den
sichtbaren Formationen aus zu beschreiben, an denen alles Eindringen in das
Geheimnis des Erdinnem, das Amt des Geologen, sich zu orientieren sucht.
Orientierung ist das Leitwort, und nichts anderes: Orientierung in den
vorfindlichen Formationen des Geländes, die von der Bildungsgeschichte
unserer Erdoberfläche zeugen - Orientierung also im Gelände der Sprache,
das in seinen Formationen erstarrt ist, in Grammatik, Wongebrauch, Satz-
bau und Meinungsbildung. Für alles gibt es feste Regeln und Konventionen,
und doch gibt es zugleich Punkte, wo das Eindringen in tiefere Schichten
möglich ist. Einem mit den geologischen Fachausdrücken Vertrauten wird
dabei das Bild vom Fechter, der die Rüstung zu durchstoßen sucht, bei
»Durchstich« gar nicht kommen. Aber insofern hatte ich nicht unrecht, als
das Gedicht die Erfahrung beschreibt, die der Dichter mit der Sprache
macht, wenn er die starren Konventionen des Wortgebrauchs - und des
)Geredes< - zu durchbrechen sucht. Den wahren Gewinn brachte mir die
)geologische< Aufklärung aber fur die zweite Strophe. Orientierung im
Gelände bleibt in ihr die beherrschende Bildsphäre. Auch »Kluftrose« ist ein
geologisches Fachwort und bezeiclmet ein Orientierungsinstrument, das,
wie der Kompaß, auf einer Skala anzeigt. Jeder Student der Geologie kennt
das, und so hat wohl auch unser Poeta doctus in diesem Falle kein Lexikon
oder Nachschlagewerk benötigt. Es geht also auch hier um Orientierung,
die das Wort des Dichters braucht. Folgte man der Weisung, die das Gedicht
selber nahelegt, kann man schwerlich bezweifeln, daß durch die Pole Nord
und Süd, von denen im ersten und letzten Vers der Strophe die Rede ist, der
Fahrtenkompaß ins Spiel kommt und damit das Finden und Halten der
rechten Richtung - wenn man auch nicht auf offener See ist. Zwar weiß ich
noch immer nicht, wie der Geologe mit diesem Geländekompaß, den er
»Kluftrose« nennt, im einzelnen arbeitet, aber ich denke, das Gedicht erläßt
uns hier weitere Spezialerkundungen bei dem geologischen Mann. Das
Gedicht lädt uns ja zur Umsetzung ein, und diese Umsetzung fUhrt aus-
drücklich in die Sphäre des Wortes. Das wird hier eindeutig klar. Denn es
heißt: »dein geächtetes Wort«. Das Wort ist geächtet. Das ist nicht nur ein
starker Ausdruck rur mißachtet oder verachtet. Es meint auch: gehaßt und
verfolgt. Jemand ist geächtet. der nirgends Heimatrecht hat. der vogelfrei
ist, weil er in die Acht getan wurde. Nun sagt der Text offenbar, daß dies
Wort zu Unrecht in die Acht getan ist - es ist eben dieses Wort, das die gerade
Wer bin Ich und wer bist Du? 421

Richtung hält und durch nichts von der rechten Richtung, der Richtung auf
das Rechte hin, abzubringen ist. Es folgt unverrückbar klar und unbestech-
lich der Richtung, die die Kluftrose anzeigt.
Nun heißt es in der Strophe: diese Kluftrose soll an beiden Polen lesbar
sein, an Nord wie an Süd. Das Wort muß gleichsam die gesamte Skala
möglicher Abweichungen kennen, von denen es bedroht ist. An beiden
Polen soll dies vogelfreie Wort lesbar sein, das selber ungeschützt ist. Damit
erhält das Wort »geächtet« hier einen genauen Sinn: Das Wort ist auf sich
allein angewiesen - es wird von allen abgewiesen, von allen Seiten als
unbequem empfunden, wegen der Geradlinigkeit der Wahrheit, die es sagt.
Das heißt in einem, daß das Wort wahr ist: Nordwahr, und daß es hell ist:
Südhell. Nun heißt dies Wort hier »dein« Wort. Wer ist hier angeredet? Es
gibt gewiß keinen festen Grundsatz, unter dem man die Frage) Wer bin ich
und wer bist du?< in Celans Gedichten (oder in Gedichten überhaupt?) zur
Auflösung bringen kann. Ich glaube nicht, daß man immer nur dann an ein
Du in diesen Gedichten denken soll, wenn von einem Du die Rede ist, und an
den Dichter nur dann denken soll, wenn er auch »ich« sagt. Beides scheint
mir falsch. Will man ausschließen, daß ein Ich zu sich selbst »du« sagt? Und
wer ist Ich? Ich ist nie nur der Dichter. Es ist immer auch der Leser.
Ichvergessenheit hat Celan in der Meridian-Rede mit Recht als den Charak-
ter eines Gedichtes hervorgehoben. Wessen Wort ist es also? Des Dichters?
Des Gedichtes? Oder ein Wort, das das Gedicht nur wiederholt und verkün-
det? Oder gar ein Wort, das wir alle kennen? Was hier »dein« und damit »du«
heißt, steht gewiß nicht von vornherein fest. Es muß nicht einmal, wie ich
zunächst verstand, in einer Art Selbstanrede der Dichter oder das Gedicht
sein, was im Gelände der Sprache Orientierung gibt. Es kann auch etwa das
Wort Gottes sein, das vielleicht an den rechten Durchstich-Punkten im
Erdpanzer hervorbricht - als Offenbarung. »Dein geächtetes Wort« könnte
sogar auf die zehn Gebote des Alten Testaments gehen, die als Nord-Süd-
Achse die sichere Orientierung geben sollten. Oder auf welches wahre Wort
immer. So mag man am Ende keinen Anlaß haben, zwischen dem Wort des
wahren Gottes und dem Wort des wahren Dichters und dem wahren Wort
überhaupt zu scheiden.
Celan hat uns hierzu in seiner Meridian-Rede so etwas wie eine Legitima-
tion erteilt. Dort zählt er zu den Hoffnungen des Gedichtes, "in eines Anderen
Sache zu sprechen - wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache«.
Ausdrücklich wiederholt Celan die Anspielung auf das »ganz Andere«, den
religionsgeschichtlichen Terminus von Rudolf Otto rur das Heilige. So
kann auch das Gedicht das wahre Wort und zugleich das geächtete Wort
sein. Es kennt die Durchstichpunkte durch die Krusten des Geredes - erst
dann gelingt es als Gedicht, und der Dichter mag sein Wort durchaus
geächtet nennen, auch noch, nachdem er durch die Verleihung des Büchner-
422 Wer bin Ich und wer bist Du?

Preises ausgezeichnet war. Wir brauchen uns nicht zu fragen: Wer bin ich
und wer bist du? Das Gedicht sagt zu jeder Antwort ja. - Nun schließen sich
die beiden Strophen zu einer klaren Einheit zusammen. Es geht um Orien-
tierung im Gelände der Sprache. Wie der Geologe an den Formationen des
an die Oberfläche Getretenen die Erdtiefe mehr errät als erreicht, so sucht
auch das Wort des Gedichts in eine verborgene Tiefe einzudringen, indem
es, auf sich selbst gestellt, seinem wahren Kompaß folgt.

Wortaufschüttung, vulkanisch,
meerüberrauscht.
Oben
der flutende Mob
der Gegengeschöpfe: er
flaggte - Abbild und Nachbild
kreuzen eitel zeithin.
Bis du den Wortmond hinaus-
schleuderst, von dem her
das Wunder Ebbe geschieht
und der herz-
förmige Krater
nackt für die Anfange zeugt,
die Königs-
geburten.

Den Schluß der Gedichtfolge bilden zwei Gedichte: I Wortaufschüttung' und


)Weggebeizt<. Sie schließen einen in Klammem gesetzten Vierzeiler ein, vier
Verse, die sich durch das konventionelle Metrum und den konventionellen
Reim-Stil herausheben und wohl gerade durch diese Stilmittel einen eigenen
Charakter gewinnen.
Wie viele Gedichte dieser Folge ist auch) Wortaufschüttung( von einem
einfachen Gegensatz beherrscht. Es spricht von dem Ereignis des Wortes
wie von einer vulkanischen Explosion, die es gegen das alltägliche Treiben
des Sprechens abhebt.
Gleich der Eingang beschreibt die volle Landschaft: Die Wortaufschüt-
tung ist Gestein aus vulkanischem Ursprung, das aus der Tiefe kommt und,
erkaltet, wie ein Meeresgebirge, das heißt vom Wasser des Meeres über-
rauscht, daliegt. So ist Sprache da: als versteinertes Gebilde früherer Lebens-
ausbrüche und als Schöpfung, die es war, verdeckt von dem alles verzehren-
den, alles vergleichenden, eintönig flutenden Meer. Denn das eigentliche
Gestein der Sprache ragt überhaupt nicht mehr aus den schäumenden Was-
sern heraus. Was als Sprache sichtbar wird, heißt vielmehr »Gegengeschöp-
fe«, ein flutender Mob. das heißt ohne Namen und Herkunft und Heimat.
Wer bin Ich und wer bist Du? 423

Der Mob »flaggt~, das heißt schmückt sich mit etwas, auf das er stolz ist und
das doch nicht in Wahrheit seines ist, sondern so willkürlich gewählt und
aufgezogen wie die Wimpel der Sonntagssegler. Die Gegengeschöpfe kreu-
zen auf der Oberfläche der Sprache DZeithin«, das heißt ohne Richtung und
Ziel, aber doch so sehr von der Zeit getrieben, daß keine Dauer in ihnen ist.
Sie sind »Abbild und Nachbild« des echten Wortes, das heißt: sie tönen bloß
nachahmend oder im Nachklange echter Schöpfungen, ein eitles Treiben,
das fort und fort geht, bis-
Auf dieses »Bis« zielt alles hin. Durch das Ereignis des neuen Ausbruchs
wird das oberflächliche Treiben in seiner ganzen Eitelkeit und Scheinbild-
haftigkeit aufgedeckt. Es ist eine großartige kosmische Metapher, die das
Ereignis echter Sprachwerdung beschreibt: »du~ -jenes namenlose Du, das
nur der kennt und erkennt, für den es Du ist - »schleuderst« den Wortmond
»hinaus«.
Man muß sehr genau hinhören. Gewiß möchte man zunächst das Bild von
der Ausschleuderung des Mondes aus der Erde (eine Meinung über die
Entstehung des Mondes, die ja noch bis vor kurzem weit verbreitet war)
unmittelbar mit der» Wortaufschüttung« zusammenbringen, die unter dem
flutenden Meer der Reden der verborgene Grund der Sprache ist. Indessen
scheint in kühner Hyperbolik dieser» Wortmond« mehr MOlld als Wort.
Nicht das runde, leuchtende und immer wieder neu und rund aufleuchtende
Wort selbst, etwa das des neuen Dichters, kann »der Mond« sein, der da
hinausgeschleudert wird. Die Wendung »der Wortmond« - und nicht: »ein
Wortmond« -läßt sich allein deuten in dem Sinne, daß der Herr der Zeiten-
und Erdenstürme sich immer wieder des gleichen Mittels bedient, um die
Anfänge rur ein echtes neues Sprachgeschehen freizulegen. Denn es ist ja nun
von der neuen Schwerewirkung die Rede, die von diesem Mond ausgeht
und die das verborgene Gebirge der Sprache trocken fallen und so den
wahren Ursprung sichtbar werden läßt. Der ganze sprachkonventionelle
Wust verläuft sich wie Brackwasser. Das» Wunder Ebbe« geschieht, näm-
lich das Wunder, daß dort, wo unbetretbares Element des Schwankens
schien. festes Land auftaucht, das Halt und Stand zu gewähren vermag. Nun
heißt es, was da trocken fällt. lege den »herzrormigen Kraterl< frei. der rur die
Anfänge zeugt. Das will sagen: an dem, was neu sichtbar wird, erkennt man
endlich die Gewalt von Stauung und Entladung wieder, aus der von jeher
das Dichterwort seine Spannungskraft und seine Dauer gewinnt. Wenn es
weiter heißt, daß es »Königsgeburten« sind, die hier bezeugt werden, das
heißt Gründer von Dynastien, so ist es ja wirklich eine ganze Dynastie der
Sprache. unter der wir sprechend stehen und die uns in den großen Schöp-
fungen der Dichtung. die in dieser Sprache gelangen, regiert.
Oder nehme ich den Dichter hier allzu wörtlich - oder nicht wörtlich
genug? Jener Wortmond. den »du«, wie es scheint, von Zeit zu Zeit aus der
424 Wer bin Ich und wer bist Du?

durch das Gerede verdeckten Tiefe hinausschleuderst und der dem eiden
Scheintreiben von Reden und Gedichten ein Ende macht, ist am Ende doch
selber Wort, und eben doch rundes, echtes, vom Lichte widerleuchtendes
Gestein. Die Schwerewirkung, die er im Schaffen der Gezeiten ausübt, ist
die des Wortes allein. Denn nur das Wort selber legt frei und kann freilegen,
was echtes Wortgestein ist, und läßt so nicht nur alle die IIAnfänge«, die als
Schöpfungen der Dichtung unser Sprechen regieren und die über dem eitlen
Kreuzen des hin- und hertreibenden Redens verschwunden waren, sichtbar
werden, sondern auch sich selbst. Versteht man so, dann ist der Wortmond
der Inbegriff des vollen Mondwortes, in dem alle neuen Eruptionen aus dem
vulkanischen Grunde in sich zusammengefaßt sind. So ist der Mond das
Wort selber. Und in der Tat ist es so, daß wir nicht nur die neue Sprach-
schöpfung, die dem Dichter gelingt, erfahren, sondern unter ihrem Ein-
druck alle königlichen Gestalten unserer Sprache neu entdecken. Das sind
die »Königsgeburten « - etwas, was lang zuvor geschah, Herrschaft begrün-
dend, und was neu in seiner herrschaftlichen Gültigkeit wirksam wird durch
das neue Gedicht. Jedes wahre Gedicht rührt an die verborgenen Tiefen des
Sprachgrundes und seine schöpferischen Gestaltungen. Es erkennt Herr-
schaft und stiftet neue Herrschaft unter der eigenen Dynastie.
Injedem Falle, es ist eine Metapher, die in wunderbarer Weise das wahre
dichterische Wort wie ein kosmisches Ereignis beschreibt, aber nicht nur als
etwas, das nichts zerstört, was wahr ist, und das Wahre aufdeckt, sondern
vor allem als ein Wort, von dem keiner, auch der Dichter nicht, sagen kann:
Es ist mein Wort. Der Dichter hißt keine Flagge.

(Ich kenne dich, du bist die tiefGebeugte~


ich, der Durchbohrte, bin dir untenan.
Wo flammt ein Wort, das fUr uns beide zeugte?
Du - ganz, ganz wirklich. Ich - ganz Wahn.)

Das Ich, das hier spricht und das am Ende von sich gt:steht, daß es »ganz
Wahn« sei, verwandelt sich in diesen Versen nicht injenes allpräsente Ich, in
dem sonst im lyrischen Gedicht Dichter und Leser in eins verschmolzen
sind. Die Klammer klammert es auf die Partikularität des Ich-Sagenden ein
und von der Allgemeinheit aus, die das lyrische Ich sonst besitzt - und sie
klaminert damit auch das angeredete Du ein, so daß das Ganze etwas von
dem Charakter einer diskreten Widmung oder der Signatur eines Gemäldes
empfängt, und das so, daß die Verse in ihren Motiven mit denen der Pieta
spielen (Tiefgebeugte/Durchbohrter).
Die Aussage dieser vier Verse selber behält aber ihren festen Bezug auf die
Gedichtfolge, in die sie eingefiigt sind - freilich mit einer Gebärde des
Wer bin Ich und wer bist Du? 425

Rückzugs. Der Dichter, der hier von sich - und nicht von uns allen - »ichcc
sagt, ist gleichsam vor dem Anspruch erschrocken, in seinem Wort Wirk-
lichkeit sein zu sollen und die Wirklichkeit derer mit auszusagen, die so ganz
anders wirklich ist als er. 11 Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?cc
klingt wie ein Verzicht, dessen sich der Dichter bewußt ist, auch im wahr-
sten Wort nicht an das zu reichen, was 11 ganz, ganz wirklich« ist.
Indessen, gerade diese Gebärde von Eingeständnis und Verzicht, die hier
wie zwischengeschoben wirkt, schließt in Wahrheit die beiden Gedichte, die
den Schluß des Zyklus IAtemkrista111 bilden, besonders zusammen. Es sind
zwei Gedichte über die Sprache, und im besonderen über die wahre Sprache,
die die Sprache des wahren Dichters ist.

Weggebeizt vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten - das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.
Aus-
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaitigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.
Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.

Das Gedicht ist klar in drei Strophen gegliedert, die aber von ungleicher
Verszahl sind. Es ist wie ein zweiter Akt des dramatischen Geschehens, das
in )Wortaufschüttungl evoziert worden war. Nach dem Ereignis, das das
falsche Scheinen von Sprache zerstört hat, setzt dieses Gedicht ein. Nur so
bestimmt sich, was mit dem »Strahlenwind deiner Sprache« gemeint ist: ein
Wind, der aus kosmischen Femen hereinbricht und durch die Helle und
Schärfe seiner elementaren Kraft das »Gerede des Anerlebten« wegbeizt wie
einen trübenden Beschlag. Das aber sind a11 die Scheingedichte, die hier das
"bunte Gerede« heißen. Das Gerede ist bunt, weil die Sprache solcher
426 Wer bin Ich und wer bist Du?

Scheinschöpfungen beliebig ist, vom bloßen Bedürfuis der Schmuckwir-


kung, des Ornatus, motiviert und daher ohne eigene Farbe und ohne eigene
Zunge - Scheinschöpfungen der Sprache, die eben, weil sie so beliebig sind,
in hundert Zungen reden, das heißt aber: in Wirklichkeit gar nichts bezeugen
- sozusagen falsches Zeugnis ablegen. Das ist das »Mein-gedicht«8, das
falschen Eid leistet und ein •• Genicht« ist, das heißt nichtig trotz allem
Anschein eines Gebildes.
Die Rede vom »Strahlenwind deiner Sprache« spricht in der kosmischen
Grundmetapher weiter, in der das Gedicht )Wortaufschüttung( sich be-
wegte. »Deine Sprache« ist die Sprache des den Wortmond hinausschleu-
dernden Du, also nicht so sehr die eines Dichters, dieses Dichters als solchen,
sondern die Erscheinung der Sprache selber, der wahren, leuchtenden und
runden Sprache. Sie beizt alles falsche Zeugnis weg, das heißt, sie entfernt es
so, daß keine Spur von ihm nachbleibt. Dabei mag »Strahlenwind« die
kosmischen Dimensionen dieses Ausbruchs heraufrufen, aber gewiß auch
und vor allem die Reinheit und strahlende Helligkeit, die wahre Geistigkeit
der Sprache, die nicht nachgemachte und nachempfundene Aussagen vor-
täuscht, sondern alle solchen entlarvt.
Aber nun erst, wenn der »Wind deiner Sprache« in seiner strahlenden
Reinheit hereingebraust ist, beginnt der Weg zum Gedicht, zum »Atemkri-
stall«, das nichts als das reine, von strengster Geometrie strukturierte und
aus dem leisen Nichts des Hauchs ausfallende Gebilde ist. Der Weg ist jetzt
frei. Das eine Wort »frei« dehnt sich über die ganze Länge einer Verszeile, so
wie die Silbe »Aus-« eine ganze Verszeile einnahm. In der Tat, der Weg, der
frei ist, ist als Weg sichtbar geworden, nachdem der Strahlenwind den alles
verdeckenden und alles gleichmachenden Schnee »ausgewirbelt« hat. Der
Weg ist wie der eines Pilgers, der in eisige Höhen führt. Der Pilger durch-
schreitet den »Büßerschnee«9, das ist das Unwirtliche, Abweisende, Kalte,
Entsagungfordernde und Eintönig-Gleiche, das der büßende Pilger sich
zumutet zu überstehen. Ohne Zweifel muß man dies Visuelle in die Sphäre
des Sprachlichen umsetzen: Denn es ist menschengestaltiger Schnee, was zu
durchschreiten ist. Es sind die Menschen mit ihrem Gerede, das alles be-
deckt. Aber wohin führt der Weg dieser Wanderung? Offenbar ist es kein
Pilgerheiligtum, sondern die Gletscherwelt selber mit ihrer hellen, klaren
Luft, die wie eine Gaststätte den ausdauernden Pilger aufnimmt. »Gastlich«
heißt diese Welt des ewigen Eises, weil nur Anstrengung und Ausdauer
hinführten und daher dort kein wahlloses menschliches Schneetreiben mehr
herrscht. Der Weg dieser Wanderung ist so am Ende der Weg der Reinigung

8 Vgl. dazu unten, S.435f. und .Phänomenologischer und semantischer Zugang zu


Celan?" in diesem Band, S. 464f.
9 Vgl. dazu unten, S. 445f.
Wer bin Ich und Wer bist Du? 427
des Wortes, das sich allen vielfach sich andrängenden Aktualitäten und
Sprachmustern versagt und im Schweigen und Wägen geübt hat. Es fuhrt
die Höhenwanderung im winterlich unbetretenen Gebirge zu einer gastli-
chen Stätte. Wo man fern genug von den Aktualitäten des menschlichen
Treibens ist, ist man dem Ziel nahe. dem Ziel, das das wahre Wort ist.
Das, was auf einen dort wartet, liegt auchjetzt noch tief verborgen: Tiefin
der Zeitenschrunde. Es klingt wie eine Spalte, die sich im Gletschereis
unauslotbar auftut. Aber es ist eine »Zeitenschrunde«. ein Riß im gleichmä-
ßigen Fluß der Zeit. an einem Orte, da die Zeit nicht mehr fließt, weil auch
sie. wie alles, in starrer Ewigkeit steht. Dort, »beim Wabeneis« - auch das ist
von bezwingender optischer und klanglicher Anschaulichkeit: Eis, das wie
Waben in einem Bienenstock geschichtet und gebaut ist, ist von unveränder-
lichem Bau, das heißt von allen Einflüssen der ,reißenden Zeit< abgeschirmt
- und dort »wartet« das Gedicht, der Atem-Kristall. Gewiß soll man dabei
den Kontrast empfmden, der zwischen den ringsum aufgebauten Wänden
von Eis und dem winzigen Kristall des Atems besteht, diesem flüchtigsten
Dasein eines geometrischen Wunders. wie es die feingezeichnete Schnee-
flocke ist, die an einem kalten Wintertage einsam durch die Luft wirbelt.
Dies Einzelne, Kleine, ist dennoch Zeugnis. Es heißt »unumstößliches
Zeugnis«, offenbar im klaren Gegensatz zu den meineidigen Zeugenaussa-
gen 'gemachter( Gedichte. Woflir es zeugt (»dein« Zeugnis), ist ein Du - das
vertraute, unbekannte Du, das dem Ich. das hier das Ich des Dichters wie des
Lesers ist, sein Du ist, »ganz, ganz wirklich«.

1. Das Recht des Lesers


Wenn man die literaturwissenschaftliche und literaturkritische Resonanz auf
das Werk von Paul Celan, wie sie mittlerweile .vorliegt, mustert. empfindet
der Liebhaber Celanscher Verse vielfach eine gewisse Enttäuschung. Was da
von Kennern und Kundigen über dieselben gesagt wird. oft mit viel Subtili-
tät, manchmal mit wirklicher Penetrationskraft, macht doch alles, gewollt
oder ungewollt. die Voraussetzung, man verstünde die Verse und urteile
aufgrund dieses Verständnisses, etwa wenn man das beklemmende Schei-
tern des Dichters im kryptisch werdenden Wort oder sein jähes Verstum-
men feststellt. Für das Verständnis des noch nicht verstummten Wortes
dagegen scheint mir bisher zu wenig getan. Für den Celan-Leser bleibt eine
der dringendsten Aufgaben noch weitgehend unerf'üllt. Wessen er bedarf. ist
nicht eine kritische Beurteilung. die feststellt. daß man nicht mehr versteht,
sondern dort anzusetzen. wo man zum Verständnis vorzudringen vermag.
und dann zu sagen. wie man versteht. In guten alten Zeiten nannte man das
ganz schlicht ,Realinterpretation(. Man sollte deren Recht und Möglichkeit
428 Wer bin Ich und wer bist Du?

nicht leichtfertig preisgeben. am allerwenigsten bei einem so traditionsbe-


wußten Dichter. wie Celan war. Es geht dabei nicht darum. die Eindeutig-
keit des vom Dichter Gemeinten zu ermitteln. Das schon gar nicht. Auch
nicht darum geht es, die Eindeutigkeit des >Sinnes< festzulegen, den die
Verse aussprechen. Eher schon geht es um den Sinn des Vieldeutigen und
Unbestimmten, den das Gedicht aufgerührt hat und der kein Freiraum der
Willkür und des Beliebens des Lesers ist, sondern der Gegenstand der
hermeneutischen Anstrengung, die diese Verse verlangen. Wer die Schwie-
rigkeit dieser Aufgabenstellung kennt, weiß, daß es sich nicht darum han-
deln kann, alle Konnotationen namhaft zu machen, die das >Verständnis<
dichterischer Gebilde anklingen läßt, sondern darum, die Sinn-Einheit, die
einem solch~n Text als einer sprachlichen Einheit zukommt, so weit sichtbar
zu machen, daß die sich an ihn anschließenden unüberschaubaren Konnota-
tionen ihren Sinn-Halt finden. Das ist bei einem Dichter, der die Verfrem-
dung natürlichen Sprechens so hochgezüchtet hat wie Celan, stets voller
Risiken und bedarf der kritischen Kontrolle. Einem Versuch, in dem gewiß
viele Irrtümer stecken werden, der aber als Aufgabe durch nichts abgelöst
oder ersetzt werden kann, ist dieser Kommentar gewidmet 10.
Daß gerade die Folge >Atemkristall<, die ehedem gesondert veröffentlicht
worden ist und den Band >Atemwende< einleitet, hier behandelt wird, hat
zunächst keinen anderen Grund, als daß ich diese Gedichte einigermaßen
verstanden zu haben glaube. Es ist aber ein alter hermeneutischer Grundsatz,
daß man bei der Interpretation von schwierigen Texten dort.einsetzen muß,
wo man ein erstes, halbwegs sicheres Verständnis besitzt. Ob die Folge
>Atemkristall<, wie mir scheinen will, obendrein einen Höhepunkt der Ce-
lanschen Kunst darstellt und es insofern mehr als zufalüg ist, daß ich diese
Gedichte gerade noch zu verstehen: glaube, weil sie mir weniger als manche
seiner späteren Gedichte ins UnentzifIerbare versinken, mag dahingestellt
bleiben.
Ich bin mir bewußt, daß die Welt Paul Celans von der überlieferungs-
welt, in der ich selber - wie die meisten seiner Leser - aufgewachsen bin,
weit abliegende Ursprünge besitzt. Mir fehlt originale Kennerschaft der
jüdischen Mystik, der Chassidim (die auch Celan wohl nur aus Buber
kannte), und vor allem der östlich-jüdischen Volksbräuche, die für Celan
den selbstverständlichen Grund bildeten, aus dem heraus er sprach. Mir fehlt
auch die erstaunlich detaillierte Naturkenntnis des Dichters, und oft wäre
man für Belehrung in der einen oder anderen Richtung im Grunde dankbar.
10 Die vorangehenden Bemerkungen beziehen sich auf die Beiträge in dem Sammel-
band von DI&TLIND MEINECKE (Ober Paul Celan. Frankfurt 1970, erw. Auf!. 1973). Die
reiche spätere Forschung bringt gewiß vieles Wissenswenes, aber muß sich doch dem
Maßstab unterwerfen, den ein Leser hat, der die Sinn-Einheit dieser Gedichte sucht, die er
liest.
Wer bin Ich und wer bist Du? 429

Aber solche Belehrung hätte auch ihr Bedenkliches. Man geriete in eine
gewisse Gefahrenzone: es könnte geschehen, daß man Kenntnisse aufböte,
die der Dichter vielleicht selber nicht besaß. Celan hat gelegentlich vor
solchem Wissenseifer gewarnt. Selbst wo uns Kenntnisse oder gar vom
Dichter selber stammende Informationen helfen - noch die Legitimität
solcher Hilfe entscheidet sich am Ende an der Dichtung selbst. Die Hilfe
kann ,falsch( sein - und sie ist ,falsch(, wenn die Dichtung sie nicht voll
einlöst. Eine gewisse Einübung verlangt freilich jeder Dichter, und so ist
auch hier die ,Sprache( des Dichters aus dem Kontext seines Werkes nicht
abgelöst. Vielleicht werden uns die erhaltenen Vorstufen der Celanschen
Gedichte weitere Hilfe bringen - selbst diese wäre aber keine eindeutige, wie
das Beispiel Hölderlins uns gelehrt hat. Alles in allem scheint mir der
Grundsatz gesund, Dichtung nicht als gelehrtes Kryptogramm für Gelehrte
anzusehen, sondern als für die Angehörigen einer durch Sprach gemeinschaft
gemeinsamen Welt bestimmt, in der der Dichter ebenso zu Hause ist wie
sein Hörer oder Leser. Wenn es dem Dichter gelungen ist und wo es ihm
gelungen ist, sprachliche Gebilde zu gestalten, die in sich stehen, sollte es
dem dichterischen Ohr möglich sein, das Gültige auch unabhängig von
solchem Einzelwissen und jenseits von ihm zu einiger Klarheit zu erheben
und damit der Präzision nahezukommen, die das offene Geheimnis dieser
kryptischen Poesie ist.
Freilich, das Verfahren, ein Gedicht zu verstehen, verläuft nicht auf einer
einzigen Ebene. Zwar ist es zunächst nur eine einzige Ebene, in der es
vorliegt: die der Worte. Die Worte verstehen ist daher das allererste. Ohne-
hin ist jeder der betreffenden Sprache Unkundige ausgeschlossen, und da die
Worte eines Gedichts die Einheit einer Rede, eines Atems, einer Stimme
sind, sind es auch durchaus nicht nur die einzelnen Wörter, deren Bedeutung
man verstehen muß. Vielmehr legt sich die genaue Bedeutung eines Wortes
erst durch die Einheit einer Sinnfigur fest, die die Rede bildet. Das kann eine
noch so dunkle, spannungsvolle, rissige, zersprungene und brüchige Einheit
sein, die die Sinnfigur dichterischer Rede besitzt - die Polyvalenz der Wörter
legt sich im Vollzug des Redesinnes fest und läßt die eine Bedeutung sich
ausschwingen, andere nur mitschwingen. Darin ist Eindeutigkeit, die allem
Sprechen mit Notwendigkeit eignet, auch dem der poesie pure. Das sollte
selbstverständlich sein, und es scheint mir durchaus irrig, zu leugnen, daß
nicht jedes Wort erst einmal in der genauen Konkretion seiner Bedeutung in
der Rede erfaßt werden muß und daß diese allererste Ebene des Verstehens
nicht übersprungen werden darf. Das gilt vollends für Paul Celan, bei dem
das einzelne Wort sehr konkret und präzise gesagt ist. Man kann gar nicht
genau genug erwägen und ermitteln, was die Rede 'zunächst< sagt, wenn
sich auch die eigentliche Präzision des Gesagtseins, die die Rede ein Gedicht
sein läßt, auf dieser ersten Ebene der Wörter, ihrer Bedeutungs- und Benen-
430 Wer bin Ich und wer bist Du?

nungsfunktion und der Redeeinheit, die sie bilden, hicht erfüllt. In Wahrheit
kann man sich in ihr gar nicht halten. Denn immer schon sind verschiedene
Ebenen ineinandergeschoben. Das macht die Aufgabe des Verstehens so
schwer.
Aber was heißt hier überhaupt ,verstehen<? Es gibt sehr verschiedene
Formen von> Verstehen<, die sich in einer gewissen Unabhängigkeit vonein-
ander zu vollziehen vermögen. Doch ist schon in der älteren hermeneuti-
schen Theorie die Verflechtung der verschiedenen Interpretationsarten mit-
einander immer betont worden, auch wenn man, wie insbesondere F. A.
Boeckh in seiner Methodenlehre der Interpretation, sich bemüht, die ver,.
schiedenen Interpretationsmethoden scharf voneinander getrennt zu halten.
Das gilt insbesondere von der älteren Lehre von dem vierfachen Schriftsinn,
daß sie nur eine Beschreibung der Dimensionen des Verstehens ist. Was ist
bei Celan >sensus allegoricus<! Bekanntlich hat Celan nichts davon wissen
wollen, daß es bei ihm Metaphern gebe, und wenn man Metaphern als
Redeteile und Redemittel versteht, die sich aus dem eigentlich Gesagten
herausheben bzw. in es eingliedern, so versteht man diese Abwehr recht
wohl. Wo alles Metapher ist, ist nichts Metapher. Wo der schlichte und
genaue Wortlaut das, wovon da die Rede ist, nicht als ein ,Positives< im
HegeIschen Sinne, als eine vorgegebene Welt von Sinn und Form >meint<,
sondern im einen das andere, im Gesagten gar nicht es und im >Nicht es<
gleichwohl nichts anderes >meint<, sind nicht nur verschiedene Ebenen des
Sagens unterschieden, sondern gerade auch in ihrer Verschiedenheit in eins
gebunden. Da gibt es keine Allegorien. Alles ist es selbst.
Das dichterische Wort ist in dem Sinne >es selbst<, daß nichts anderes,
Vorgegebenes, da ist, an dem es sich mißt- und doch gibt es kein Wort, das
nicht außer ihm selbst - und das heißt: außer seiner vielschichtigen Bedeu-
tung und dem mit dieser Bedeutung in ihren verschiedenen Ebenen Benann-
ten - nicht auch noch sein eigenes Gesagtsein wäre. Das aber heißt, daß es
Antwort ist. Antwort schließt Fragen ein und schließt Fragen ab, d. h. aber,
das Gesagte ist nicht aus sich selbst allein, auch wenn nichts sonst vorzeigbar
ist als seine Sprachwirklichkeit.
Das ändert nichts an dem unbegreiflich Verbindlichen eines Gedichts, daß
es in sich selbst steht, daß keines seiner Worte in der Weise für etwas steht,
für das etwa auch ein anderes Wort stehen könnte. »Als die eigentliche
Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen«
(G. Eich). Doch impliziert die Einzigkeit des Wie seines Gesagtseins immer
noch etwas anderes. Auch das Gedicht hat - wiejedes Wort des Gesprächs-
den Charakter des Gegenwortes, das mithören läßt. was gerade nicht gesagt
wird. was aber als Sinnerwartung vorausgesetzt ist, ja, durch das Gedicht
geweckt wird - vielleicht nur, um als Erwartung gebrochen zu werden. Das
scheint insbesondere für heutige Lyrik wie die Celans zu beachten. Das ist
Wer bin Ich und wer bist Du? 431
nicht Barocklyrik, die ihre Aussagen innerhalb eines einheitlichen Bezugs-
rahmens hält und mythologisch-ikonographisch-semancisch eine gemeinsa-
me Vorgegebenheit besitzt. Celans Wortentscheidungen wagen sich in ein
Geflecht sprachlicher Konnotationen, dessen verborgene Syntax von nir-
gends anderswoher erlernbar ist als aus den Gedichten selbst. Das schreibt
der Interpretation ihren Weg vor: Man wird nicht vom Text auf eine in ihrer
Kohärenz vertraute Sinnwelt verwiesen. Sinnfragmente sind wie ineinan-
dergekeilt, man kann nicht den Weg der Transposition von einer Ebene
schlichten Gemeintseins zu einer zweiten Ebene des eigentlich Gesagtseins
gehen - das eigentlich Gesagte ist vielmehr auf eine schwer beschreibbare
Weise noch immer dasselbe, das die Rede meinte. Was im Verstehen ge-
schieht, ist nicht so sehr eine Transposition als die beständige Aktualisierung
der Transponierbarkeit, d. h. die Aufhebung aller ,Positivitätl jener ersten
Ebene, die man dadurch gerade im pOSitiven Sinne 'aufhebt, und erhält.
Das ist für die Celan-Interpretation - und nicht nur für sie - ganz entschei-
dend. Denn von da aus bestimmt sich der so überaus umstrittene Stellenwert
der Informationen, die nicht aus dem Gedicht selbst stammen, sondern aus
Mitteilungen des Dichters und seiner Freunde gewonnen werden und den
,biographischen, Anlaß, das biographisch lokalisierte Motiv, die konkrete
und bestimmte Situation eines Gedichts betreffen. Man weiß, nicht zuletzt
aus Celans eigenem Munde in der Büchner-Preis-Rede, daß es für Celan
gerade auch gegenüber dem Kunstbegriff Mallarmes und seiner Nachfolger
charakteristisch ist, daß seine Dichtung eine Art Wortschöpfung und Wort-
findung ist, diejeweils wie ein Bekenntnis aus einer genauen Lebenssituation
aufsteigt. Diese ist freilich nicht in allen ihren Einzelbestimmtheiten aus dem
Gedichttext allein faßbar. Man nehme ein Gedicht wie ,Blumel, das inzwi-
schen durch eine Arbeit von Rolf Bücher in seinen Textstufen überschaut
werden kann.
Man erinnere sich der endgültigen Fassung des Gedichts:

Blume
Der Stein.
Der Stein in der Luft, dem ich folgte.
Dein Aug. so blind wie der Stein.
432 Wer bin Ich und wer bist Du?

Wir waren
Hände,
wir schöpften die Finsternis leer, wir fanden
das Wort, das den Sommer heraufkam:
Blume.
Blume - ein Blindenwort.
Dein Aug und mein Aug:
sie sorgen
fUrWasser.
Wachstum.
Herzwand um Herzwand
blä ttert hinzu.
Ein Wort noch, wie dies, und die Hämmer
schwingen im Freien.

Es ist eitler Wahn, sich einzubilden, daß man bei diesem Gedicht hätte erraten
können, daß es sich hier um den kleinen Sohn Celans handelt, der das Wort
,Blume( eines Tages als Wort erwarb, wie eine Verheißung. Daß sich in
diesem Gedicht an das Wort ,Blume< - und nicht nur wie bei Hölderlin an die
Blume des Wortes, das als Wort ,die Sprache( meint - die Geschichte eines
Wachstums und einer Öffnung schließt, das freilich steht in dem Gedicht.
Aber daß es Vater und Sohn sind, die hier zueinanderwachsen, das muß man
wissen. Aber nein - das braucht man nicht zu wissen: Zu der Folge der
Transpositionsebenen dieses Gedichts gehört gerade auch, daß am Ende das
bestimmte Einzelne des Anlasses in das bestimmte Allgemeine übergegangen
ist. das ganz und gar und für jedermann in diesen Zeilen steht. Zueinander-
Wachsen kann in sehr verschiedenen Konstellationen stattfinden: in der
Spiritualität eines Gedenkens, das das Tote zum Leben erweckt, in der
Aktualität einer Liebesbegegnung, die das tote Auge, das wie ein Meteor nur
flüchtig aufglühte, zum strahlenden Blühen bringt, Stein und Stern und
Blume, oder auch in der, wie es scheint, vom Dichter >gemeinten( wachsen-
den Zuwendung von Vater und Sohn, gleichsam als das Erwachen des Kindes
aus seiner mineralischen Existenz, in der das Auge noch wie Stein ist, in die des
Blickens und des Blicketausehens und der wachsenden Wortwelt. Wer wollte
sich anmaßen, nur dies letztere und nichts anderes in diesem Gedicht finden zu
können. Ja, mehr noch: Auch wer >weißt, woran der Dichter gedacht hat,
weiß er dadurch schon, was das Gedicht sagt? Mag er es vielleicht gar als einen
Vorzug empfinden, daß ernur an das >Richtige{ denkt und an nichts anderes-
er wäre nach meiner überzeugung in einem schrecklichen Irrtum befangen,
den am allerwenigsten Celan selbst unterstützt hätte. Er hat daraufbestanden,
daß ein Gedicht in sein eigenes Dasein gestellt und von seinem Schöpfer
abgelöst ist.,Wer nicht noch mehr versteht als das, was der Dichter auch ohne
zu dichten sagen kann, versteht nicht genug.
Wer bin Ich und wer bist Du? 433

Freilich sind solche Informationen, die von außen kommen, oft auch
kostbar. Sie bewahren vor dem völligen Verfehlen des Richtigen, wenn man
es selber mit der Interpretation versucht. Sie erleichtern, wenigstens auf
einer ersten Ebene alles richtig zu verstehen, das heißt in einheidicher
Kohärenz. Aber Celans Gedichte sind nicht als Gedichte verstanden, solange
man auf der einen oder anderen Ebene allein verbleibt. Celan soll einmal
gesagt haben, daß es in seinen Gedichten keine Brüche gebe, wohl aber
verschiedene mögliche Anfange. Er meinte damit offenbar, daß dasselbe
Gedicht auf verschiedenen Transpositionsebenen kohärent und präzise voll-
zieh bar wäre. So scheint mir das Gedicht IBlume( auf verschiedenen Ebenen
vollziehbar. Und denkt man etwa an die Frage, die ich aus Anlaß der
Gedichtfolge IAtemkristall< stelle: Wer bin ich und wer bist du? - wer will sie
beantworten? Ich muß dabei bleiben: Die Figur dieses Du ist sie selbst und
nicht dieser oder jener, ein geliebter Mensch, ein anderer oder das ganz
Andere.
Was hier versucht wird: ohne jede Information besonderer Art einen
Zyklus Celanscher Gedichte auszulegen, bleibt gewiß riskant. Aber ich
wiederhole die Wendung Ibesonderer Art<, denn an sich ist die Informa-
tionsmasse, die ein jeder Leser von sich aus mitbringt, in vielfacher Hinsicht
bereits Ibesondert<. Der eine hat etwas noch erlebt, was der andere nur aus
Büchern kennt. Der eine kennt etwa den deutsch-slawischen Osten oder gar
denjüdischen Kult oder auch die kabbalistische Mystik, der andere muß sich
daraus vielleicht aus dem Lexikon orientieren oder durch mühsame Lektüre.
Ebenso steht es mit dem gegenwörtlichen Bezug auf schon Gesagtes. Der
eine hat George und Rilke so im Ohr, wie vielleicht der Dichter, oder gar die
französische Sprache und Dichtung so im Ohr, wie vielleicht der Dichter-
der andere nicht. Der eine kennt einen vom Dichter gebrauchten Fachaus-
druck aus seinem eigenen Sprachgebrauch, der andere muß ihn mühsam zur
Kenntnis nehmen. Solche Besonderungen sind stets im Spiel. Insofern ist
auch die besondere Besonderung, die die private Information von der Seite
des Dichters darstellt, gar nicht etwas so ganz Besonderes. Es gibt bei
keinem Leser ein Verstehen ohne Besonderungen, und es gibt doch bei
einem jeden nur Verstehen, wenn sich die Besonderung der Okkasion in die
Allgemeinheit der Okkasionalität aufhebt. Das will sagen: Nicht die be-
stimmte einmalige Begebenheit, die man als Zeuge oder als direkt vom
Dichter Belehrter kennen kann, kommt im Gedicht zur Sprache, wohl aber
ist es so, daß ein jeder Leser in das durch den Sprachgestus Heraufbeschwo-
rene wie auf ein Angebot einzugehen vermag. Was ein jeder Leser an dem
Gedicht wahrzunehmen vermag, hat er aus seiner eigenen Erfahrung aufzu-
füllen. Das erst heißt: ein Gedicht verstehen.
Aber wenn man etwa im Falle des oben erwähnten Gedichts ,Blume<
sieht, wie aufschlußreich die Textstufen sind, die wir von diesem Gedicht
434 Wer bin Ich und wer bist Du?

aus Celans Nachlaß kennen, muß man nicht überall diese Textstufen ken-
nen, um sich zu kontrollieren, und wagt man nicht etwas Unzulässiges,
wenn man einstweilen auf eigene Faust Iversteht(? Ich bin weit davon
entfernt, die Hilfe solcher Textstufen geringzuachten l l . Indessen, auch de-
ren rechte Benutzung setzt Vorgriff und Vorverständnis und redlich prü-
fende Meditation des Textes selber voraus. Obendrein muß man jedem
Dichter die Freiheit zubilligen, seine Textstufen nicht konsequent durch-
laufen zu haben. Der Interpretationswert von Textstufen hat sich am ferti-
gen Text zu bewähren. Ein Interesse rur die Textstufen als solche mag
historisch berechtigt sein, aber ist kein Interpretationsweg für das fertige
Gedicht. Das Bild, das uns die mitgeteilte Probe der Textstufen von IBlu-
me< bietet, läßt einem den Werdegang des Gedichts als den einer immer
weiter getriebenen Verdichtung, Verkürzung, Weglassung sichtbar wer-
den. Das erinnert an Mallarme, der einmal gesagt hat, bei wirklicher Dich-
tung bestünde die Hauptaufgabe darin, wegzulassen und am Anfang und
am Schluß jedes Gedankens so viel wie möglich zu streichen, damit man
dem Leser das Vergnügen bereite, die Ergänzung zum Ganzen selber fin-
den zu dürfen. Ich halte das für keine richtige Selbstbeschreibung der Mal-
larmeschen Dichtungsweise und bin überhaupt nicht geneigt, Dichtern ein
Privileg der Selbstinterpretation zuzuerkennen. Denn offenbar handelt es
sich nicht so sehr um Weglassen als um Verdichten. Auch die Textstufen
von )Blume< zeigen nicht bloße Weglassungen, sondern ebenso Intensivie-
rung und Ballung. Es ist. als ob die Unverbundenheit der Worte und
Satzglieder die Potenz der Redeteile auflüde, so daß sie mehr sagen, nach
mehr Richtungen ausstrahlen, als sie in fester syntaktischer Einbindung
vermöchten. Was an Mallarmes Bemerkung über die» Weglassung« richtig
ist, ist also dies, daß sich ein Gedicht kraft seiner sprachlichen Verdichtung
selber zu ergänzen vermag und daß durch seinen dichterischen Bau und
seine motivische Führung mehr zum Verständnis gelangt, als was es in
seinen bloßen Worten auszusagen scheint. Was ein gutes Gedicht von ei-
nem noch so geheimnisvollen Zauberkunststück unterscheidet, das ist, daß
man um so mehr von seiner Genauigkeit überzeugt wird, je tiefer man in
seinen Aufbau und die Technik seiner Wirkung eindringt. Je genauer man
versteht, desto beziehungsvoller und sinnreicher wird die dichterische
Schöpfung. Darin hat die strukturalistische Analyse Richtiges beobachtet.
Doch indem sie sich auf die Lautgestalt beschränkte, hat sie unterlassen, die
im Spannungsgefüge von Sinn und Klang aufgewiesene IStruktur< mit der
einheitlichen Sinnmeinung des Textes zu vermitteln. Es sind das freilich
11 Dank der. Hilfe BEDA ALLEMANNS konnte ich die sachlich wichtigen Lesarten zu
,Atemkristall< in der revidierten Auflage von ,Wer bin Ich und wer bist Du?< (BIBLIO-
THEK SUHRKAMP Bd. 352. Frankfurt 1986) mitteilen. Der interessierte Leser sei auf die
Seiten 142-150 dort verwiesen.
Wer bin Ich und wer bist Du? 435
Aufgaben, die eine höchste Sensibilität des Ohres und zugleich alle Schärfe
des Verstandes fordern.
Sehr viel schlimmer wird die Sache, wenn sich die Textgrundlage des
fertigen Textes, wie ihn die Drucke bieten, als falsch erweist. Ausgerechnet
bei der von mir gewählten Folge ist das einmal auf fatale Weise der Fall
(S. 392). Bei der Durchsicht des Privatdrucks von IAtemkristall< entdeckte
ich plötzlich, daß im dritten Gedicht im zweiten Vers nicht ))Himmelssäu-
re«, sondern IIHimmelsmünze« steht, und man hat mir bestätigt, daß die
bekannte Textgestalt von Celan selber als ein Übermittlungsfehler, der sich
in den späteren Drucken eingeschlichen hat, anerkannt und auch von ihm
erst spät erkannt und berichtigt worden ist - übrigens ohne Aufregung. Die
falsche Textgegebenheit unterstellt natürlich dem Interpreten falsche Bezü-
ge. So ging es mir, und ich mußte nun die richtigen auf der neuen Grundlage
neu suchen. Sicher ein interessanter Tatbestand, der zeigt. wie es mit dem
Gewißheitsgrad präziser Kohärenzen, die man gefunden zu haben meint,
steht. Wieweit aber das Gesamtverständnis des Gedichts durch derartiges
modifiziert wird, wäre gleichwohl zu fragen. Man wird wohl im allgemei-
nen sagen dürfen, daß das Kohärenzgefüge eines Gedichtes von so vielen
Stützen getragen wird, daß das Gefuge als Ganzes durch die Auswechslung
einzelner Stützen nicht völlig zum Einsturz kommt. Das muß sichjeweils an
der Praxis entscheiden. Auf alle Fälle scheint mir das Risiko solcher Unsi-
cherheiten bezüglich der Textgrundlage noch harmlos im Vergleich zu dem
Risiko. das jede Deutung als solche zu tragen hat. Und doch ist auch dies
kein Einwand. nicht das Mögliche zu versuchen. Die Gedichte sind da. Man
wird sich als Leser für den Versuch, sie zu verstehen, nicht auf die kritische
Ausgabe oder die Ergebnisse der ,Forschung( vertrösten lassen, sondern das
Ihalbe. Verstehen. auf dem die Anziehungskraft der Gedichte für einen jeden
Leser beruht. zu ergänzen trachten. .
Noch eine andere, hermeneutisch ähnlich aufschlußreiche Streitfrage be-
gegnet in dem von mir ausgelegten Zyklus (S. 425). Da ist das Wort »Mein-
gedichtIC . Sehr ernsthafte Leser haben dies als das im bloßen Meinen stecken-
bleibende und insofern privat bleibende Gedicht verstanden. Tatsächlich
kommt auch bei dieser Annahme eine ausgezeichnete und von der Irichtigen.
gar nicht sehr verschiedene Sinnkohärenz heraus. Nun höre ich. daß Celan
diese Fehldeutung von ))MeingedichtIC, die es ohne Zweifel ist. selber zu-
rückgewiesen hat. Aber nehmen wir einmal an, er hätte jene andere Deu-
tung, die ja auch ganz gut ,möglich( scheint, ausdrücklich akzeptiert. Hätte
dann seine Stimme den Ausschlag gegeben? Ich denke, nein. Denn man
kann die Gründe nennen, warum ))Meingedicht« hier als ,falsches Zeugnis<
verstanden werden muß. wie ,Meineid<. Das Gedicht gewinnt dadurch
einen höheren Kohärenzgrad, eine gesteigerte Präzision. »Meingedicht«
kontrastiert alsdann auf das genaueste mit dem lIunumstößliche[n] Zeug-
436 Wer bin Ich und wer bist Du?

nis<!, mit dem das Gedicht endet. Natürlich war ich nicht überrascht, daß
Celan sein Gedicht richtig verstanden hat. Nur sind nicht alle Fälle so klar,
und gerade dann werden sie es oft nicht sein, wenn, ähnlich wie in diesem
Fall, keine ernste Kohärenzstörung des Ganzen durch das )falsche! Verständ-
nis eintritt, sondern allenfalls eine Verminderung der Präzision. Es ist durch-
aus ein Fall qenkbar, wo der Dichter sich selber nicht richtig versteht, das
heißt einer Auslegung - ob von anderen oder von ihm selbst vorgeschlagen,
spielt dabei keine Rolle - folgt, die ähnlich möglich ist und doch ebenso
evident unrichtig ist wiejene Fehldeutung von »Meingedicht«. Dann behiel-
te am Ende der Text gegen den Dichter recht. Das ist gar nicht so ungeheuer-
lich, wie es klingt. Man denke etwa an den berühmten Irrtum des alten
Goethe, der noch gar nicht so schrecklich alt war, als er sein Prometheus-
Gedicht rur ein Stück seines fragmentarischen Prometheus-Dramas hielt12•
Da ich rur den hier interpretierten Zyklus Celans keinerlei private Informa-
tionen kannte, bleibt diese Erwägung im Augenblick rein theoretisch. Aber
sie macht wohl klar, in welchem Sinne ein Gedicht von sep,em Schöpfer
losgelöst ist - so sehr, daß sein Schöpfer hinter ihm zurückbleiben kann, ja
vielleicht auf die Dauer zurückbleiben muß. »Mein Wort ist nicht mehr
mein.«

Wir lasen aus Peter Szondis Nachlaß seine Arbeit über das Gedicht aus
Celans )Schneepartc, das auf die Ermordung Karl Liebknechts und der Rosa
Luxemburg anspielt 13 • Hier teilt Szondi unvergleichlich genaue biographi-
sche Details mit, die das Gedicht )entschlüsseln<, und verwahrt sich zugleich
gegen jeden Rekurs auf dies reale Erlebnismaterial: »Nichts indessen wäre
größerer Verrat am Gedicht und an seinem Autor.« Und dann versucht
Szondi, die Logik des Gedichts selber zu rekonstruieren. Leider blieb uns
von ihm nur dies unvollendete Bruchstück.
Indessen hat er die Fragen scharfgestellt und lädt dadurch zu einer Fortset-
zung ein, zu einem Gespräch mit ihm - auch jetzt noch. Wenn er Jakobson
zitiert und - mit Recht - eine Art »vom Sprachmaterial bereitgestelltes
Ineinander« dem Nacheinander der Satzaussage entgegenstellt, kann er doch
zugleich diesem Nacheinander und seinem Sinn-Anspruch sich nicht versa-
gen. Aber wieweit ist dessen Einlösung unabhängig von Informationen?
Vielleicht bedarf es nicht besonderer Informationen, wie sie Szondi besaß
und uns mitgeteilt hat. Aber wie weit reichen die Verständnismöglichkeiten
ohne sie? Zuallererst muß man sich klarmachen: Kein Leser ist ganz ohne
Informationen. Der fiktive Nullpunkt der Uninformiertheit oder auch die
12 Zur tieferen Problematik, die hinter dieser Selbstdeutung steht, siehe )Vom geisti-
gen Lauf des Menschen(, in diesem Band, S. 84f.
13 PiTBR SZOND1, Celan-Studien. Frankfurt 1972. S. 113ff. Wiederabdr. in: Schriften
II. Frankfurt 1978. S.390«'
Wer bin Ich und wer bist Du? 437

allgemeine Zugänglichkeit von Informationen ist kein sinnvoller Maßstab für


das Gedicht und seinen Leser - offenbar so wenig wie das biographische
Spezial wissen Szondis. Wieviel also muß man wissen? Stellen wir konkrete
Fragen an Celans Gedicht:

Du liegst im großen Ge1ausche,


umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden-
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden -
Der Mann ward ZUm Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
rür sich, (Ur keinen, für jeden -
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.

Daß es sich um Berlin handelt, kann jeder an Spree und Havel erkennen.
Gewiß weiß, wer Berlin kennt, auch, daß es in Berlin den Landwehrkanal
gibt. oder wenn er es nicht weiß, kann er es leicht feststellen. Aber das ist auch
alles. Schwerlich wird ein allgemeines Informationsmittel unter dem Stich-
WOrt »Lalldwehrkanal« jenen schrecklichen politischen Mord vom Januar
1919 verzeichnen. Wie kommt ein Leser weiter? Da ist das Reizwort »die
Sau«, und der Zusammenhang mit dem Landwehrkanal macht das Gesche-
hen eindeutig: Mord. und von da aus wird ebenso klar, was es meint, daß der
Mann zum Sieb wurde. Ein Mann und eine Frau sind da erschossen und die
Frau in den Kanal geworfen worden. Daß »die Sau« eine Jüdin meint, ist
wahrlich nicht, wie eifrige junge Philologen von heute vielleicht meinen,
vom Charakter eines Zitates (so wenig wie das» Sieb«, obwohl Celan bei des
in dem Prozeßbericht gefilnden hat), sondern das ist - wenigstens für ältere
Leser - ein Schimpfwort und in antisemitischer Anwendung sogleich ver-
standen. Jedenfalls wird es von Ce!an als verständlich - und nicht als literari-
scher Bezug - gemeint. So weit, so gut. Wer nicht mehr als dies weiß, wird
freilich noch immer allzu wenig verstehen. Auch wenn die Roheit und der
Haß der Mörder in den Worten erkennbar sind - wem sie gelten, muß man
wissen oder - als zu Wissendes - suchen. Dazu ist man geradezu aufgefordert.
Denn es ist vollkommen klar und wird durch den Schluß» Der Landwehrka-
nal wird nicht rauschen« scharf akzentuiert, daß es sich um ein einmaliges
schreckliches Geschehen handeln muß. Aber wie weiter?
438 Wer bin Ich und wer bist Du?

Was erfährt man noch aus dem Gedicht selbst? 11 Umbuscht« und lIum-
flockt« wird man wohl auf das winterliche Berlin beziehen - aber gewiß
nicht auf den Blick aus dem Fenster, den Celan bei seinem Besuch vom Bett
aus hatte. Eher wird man in Busch und Flocke Schutz (»um-buscht, um-
flockt«) und nach innen lauschende Stille (daher: »im großen Gelausehe«)
verstehen.
Und wird man die Vorweihnachtsstimmung aus »Es kommt der Tisch
mit den Gaben« heraushören? Schwerlich. Man wird es allgemeiner verste-
hen. Immerhin so, daß es Kontrast und Widerspruch zu dem Entsetzlichen
einschließt, das im folgenden heraufgerufen wird. Dazu verhilft vor allem
die kühne Wendung: Iler biegt um ein Eden«. Wer? Der Tisch? Die Advents-
freude? Wiederum wird man weder das alte noch das neue Hotel Eden damit
verbinden können, bevor man den konkreten Bezug durch weitere Informa-
tion gewonnen hat. Gleichwohl läßt die Fortsetzung des »er biegt um ein
Eden« in jedem Falle den bitteren Widerspruch zu einem reichen Gabentisch
empfinden. Was für ein Eden immer - das gabenreiche Fest selber? -, es ist
nicht das Ziel dieser Fahrt oder dieser kommenden Gaben. ,Um ein Eden
biegen< ist ein Weg, der vom Glück wegführt und nicht zu ihm hin. Das -
und nicht die Autofahrt des Dichters am neuen Hotel Eden vorbei - steht im
Gedicht.
Die Kontrastspannung ist damit zum Bestimmenden des Gedichtes aufge-
stiegen. Wird man sie aber auch (so wie der durch Szondi Informierte es tut)
aus den vorhergehenden Versen herauslauschen? Gewiß, IIFleischerhaken«
und »rote Äppelstaken aus Schweden« ist injedem Falle ein Kontrast. Das
Rot, das mit Äpfeln und - vielleicht errät man das - ihrer Darbietung auf
einem Staken auftritt, tritt in einen blutigen Kontrast mit 'IFleischerhaken«.
Aber bis zu den Schilderungen der Schreckenskammer von Plötzensee an
der Havel gelangt man von dort aus noch nicht. Wird man das überhaupt
erraten? Wie man aus Szondis Bericht erf'ahrt, ist der Dichter selbst I'zur
Havel« und zu den Fleischerhaken von Plötzensee gegangen. Wir sind uns
aber einig: Das soll man nicht als biographisches Faktum einsetzen. Es
bestätigt sich dies durch die imperativische Form »Geh«. Da wird ein jeder
aufgefordert, das alles zu sehen. Aber was das eigentlich ist, was man da
sehen soll- weiß man das? Is t nicht alles im Gedicht verständlich, ohne von
Plötzensee, Liebknecht und Rosa Luxemburg zu wissen?
Wirklich?
Wir waren uns einig, daß die rohe Mordszene, die am Schluß geschildert
wird, den Leser auf ein einmaliges Ereignis weist, und wer es nicht, auf-
grund von Wissen und Information, errät, was hier gemeint ist, der weiß
eben im Sinne des Gedichtes nicht genug. Das Gedicht will, daß man das
weiß. Es will es so sehr, daß die letzten beiden Verse, die letzten beiden
Worte des Gedichts, »Nichts« und »stockt«, die schreckliche Spannung, die
Wer bin Ich und wer bist Du? 439

das Gedicht beherrscht, noch einmal zusammenballen, so daß sie aUe Gren-
zen sprengt. »Nichts stockt« muß man nach dem Vorhergehenden aufs erste
so hören; Alles geht weiter seinen Lauf, wie das ruhige Dahinströmen des
Landwehrkanals. Niemand hält sich über dies Ungeheure auf. - Aber dann
spürt man auf einmal den Zeilenbruch und die selbständige Dynamik, die
das »stockt« daraus gewinnt - und man stockt selber. Ist am Ende gemeint,
daß das Nichts-als-Weitergehen angesichts des Ungeheuren ins Stocken
kommt - oder zum Stocken kommen sollte? Meint nicht der Schluß: So soll
es nicht sein, daß alles so weitergeht?
Dann aber hat sich der Dichter wahrhaft mitgeteilt - nicht als dieser
Zufällige, der in die winterliche Nacht von Berlin hinauslauscht und den die
Eindrücke des Tages umringen: Plötzensee und der festliche Weihnachts-
markt des heutigen Berlin, die Lektüre des Berichts über den Mord an
Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Erinnerung eines Hotels Eden an ein
anderes und seine Zeugenschaft des Schreckens. Oie Folge der Imperative:
»Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken« ist nicht nur
eine Aufforderung an einen jeden, das alles zu sehen und zu wissen, es ist
mehr noch die Aufforderung darin, sich bewußt zu machen, wie Entgegen-
gesetztes da beisammen ist: die Spree und der durch Schrecklichkeiten
geisterhaft bevölkerte Havelsee, die Fleischerhaken der Grausamkeit und die
bunte Freude auf Weihnachten, das Luxushotel an dem Ort einer Tragödie-
das alles "gibt es zugleich. Das alles gibt es, Grauen und Freude, Eden und
Eden. Nichts stockt - wirklich nichts? Hier scheint mir die Antwort auf die
von Szondi mit Bravour gestellte Frage verborgen zu liegen.
Man muß nichts Privates und Ephemeres wissen. Man muß sogar, wenn
man es weiß, von ihm wegdenken und nur das denken, was das Gedicht
weiß. Aber das Gedicht will seinerseits, daß man alles das weiß, erfährt,
lernt, was es weiß - und all das fortan nie vergißt.
Man sollte also zur Frage des Informationsgehaltes grundsätzlich feststel-
len: Die Spannung zwischen besonderer Information und solcher, die man
aus dem Gedicht selbst schöpfen kann, ist nicht nur, wie oben gezeigt, eine
relative. Sie ist wohl auch eine veränderliche von der Art, daß diese Span-
nung sich im Laufe der Wirkungsgeschichte eines Werkes mehr und mehr
abschwächt. Vieles wird am Ende selbstverständlich bekannt sein, so daß
jeder es weiß. Man denke etwa an den Anlaß von Goethes Sesenheimer
Friederike-Liedern. Aber auch noch anders. Vielleicht wird uns manches
Gedicht Celans erst dann aufgehen, wenn uns neue Informationen zugeflos-
sen sind, zum Beispiel aus den Textstufen des Nachlasses. aus der Kenntnis
von Freunden. aus den Funden gezielter Nachforschung. Wir sind da noch
am Anfang eines Weges. auf dem auch früher schon gelegentlich ein Dichter
seinem Leser vorangegangen ist, indem er eine Erläuterung beigibt. Man
440 Wer bin Ich und wer bist Du?

denke an Rilkes »Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns«14.


Ein Dichter geht in das Gemeinbewußtsein des Lesers nach und nach ein, je
mehr sich sein eigener T.on uns ins Ohr singt und seine Welt zu unserer Welt
wird. Das ist durchaus möglich und im Falle Celans sogar zu erwarten. Aber
es erlaubt nicht, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun, und der erste
Schritt bleibt, verstehen zu wollen, was uns da anspricht.
Es gibt auch noch eine andere Motivation, und das ist die hier vorliegende:
Was jeder wissen sollte, wird durch das von Szondi vorgelegte Gedicht so
eingemahnt, daß es am Endejeder Leser weiß. Durch sein Gedicht stiftet der
Dichter Gedächtnis.
Wir sind hier an einem für alle Auslegungskunst entscheidenden Punkte,
der den hermeneutischen Beitrag der Wissenschaft betrifft. Die Sache ver-
langt äußerste Klarheit. Man muß hier verschiedene Dinge auseinanderhal-
ren.
Es ist nicht,widerspruchsvoll, wenn man - im einen Falle - verschiedene
mögliche Interpretationen, die alle in der Sprachgebärde des Gedichtes zum
Klingen kommen, nebeneinander gelten läßt und wenn man - im anderen
Falle - die eine Interpretation präziser findet und deswegen für die >richtige(
halten muß. Es handelt sich da um verschiedene Dinge, den Annäherungs-
prozeß in der Richtung auf >das Richtige<, den jede Interpretation anstrebt,
und die Konvergenz und Aquivalenz von Verständnisebenen, die alle >rich-
tig< sind. Die Präzision autobiographischen Verstehens etwa ist nicht als
solche größer als eine stärker abgelöste und abstrakte. Denn die reichere
Einzelbestimmtheit, die dem Leser aus privaten biographischen oder priva-
ten exegetischen Mitteilungen zufließt, steigert nicht als solche die Präzision
des Gedichts. Präzision ist scharfe Anmessung an ein zu Messendes. Letzte-
res gibt das Maß der Anmessung, und es ist keine Frage, daß die Ebene des
Gedichts, über die der Autor private Mitteilungen macht, nicht die ist, in der
das Gedicht selbst als Maß gesetzt ist. So kann ein mit solchen Informationen
ausgerüsteter Leser zwar dieselben auf präzise Weise im Gedicht wiederer-
kennen. Aber das ist nicht das Verstehen des Gedichts und braucht nicht
dazu zu führen. Die Präzision im Verstehen des Gedichts, die der ideale Leser
aus nichts als aus dem Gedicht selbst und aus den Kenntnissen, die er besitzt,
erreicht, wäre ganz gewiß der eigentliche Maßstab. Nur wenn die autobio-
graphisch belehrte Verstehensweise diese Präzision voll einholt, können die
verschiedenen Ebenen des Verstehens miteinander da sein; das hatte Szondi
mit Recht im Auge. Nur dieser Maßstab schützt vor dem Verrat ans Private.
Es scheint mir auch ganz irrig, zu meinen, der Präzisionsforderung sol-
chen Verstehens müsse und dürfe man sich versagen, weil einen die Wissen-
schaft dabei nicht trage und man doch nur in unverbindliche Impressionen

14 Sonette an Orpheus, 2. Teil, XI.


Wer bin Ich und· wer bist Du? 441

verfiele. Es ist richtig: Impressionen sind überhaupt keine Interpretationen


und stellen die Beirrung einer jeden Interpretation dar. Man muß zugeben,
daß die Syntax der Konnotationen, die hier mitspielt, sich oft nur in vagen
Assoziationen meldet und daß die präzise Realisierung oft nicht gelingt. Das
ist jedoch bei den sogenannten wissenschaftlichen Hilfen, etwa dem Ver-
gleich oder der Heranziehung von Parallelen, nicht besser. Versagen gibt es
bei jeder Interpretationsweise. Die gemeinsame Quelle eines jeden Versa-
gens dürfte sein, daß man sich das Gedicht dadurch verstellt, daß man von
außen, von anderem her oder gar von seiner eigenen subjektiven Impression
her zu verstehen trachtet. Solche Art von Verstehen bleibt im Subjektiven
stecken. Ihr Anspruch, Verständnis zu sein, ist hybrid, ob das nun der auf
subjektive Impression oder der auf private Information gegründete ist. Auch
die letztere bleibt gefahrlieh genug, wenn sie zum Vollwert genommen
wird. Das Eingeständnis des Nichtverstehens ist Celans Werk gegenüber in
den meisten Fällen ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit.
So soll man sich nicht durch das Mißlingen abschrecken lassen, sondern zu
sagen versuchen, wie man versteht - mit dem Risiko, daß man manchmal
m~ßversteht und manchmal in der Vagheit von Impressionen steckenbleibt,
die einen desavouieren. Nur so ergibt sich die Chance, daß andere davon
Gewinn haben. Solcher Gewinn besteht nicht so sehr darin, daß die Einsei-
tigkeit des eigenen Versuchs eine Gegen-Einseitigkeit provoziert, als viel-
mehr darin, daß der Resonanzraum des Textes sich im ganzen erweitert und
bereichert.
Die Logik der Konnotationen hat ihre eigene Strenge. Gewiß hat sie nichts
von der Eindeutigkeit von Schlußprozessen oder deduktiven Systemen,
aber auch nichts VOn der Willkür privater Assoziationen. Man spürt sie, wo
Verständnis gelingt. Alles strafft sich im Text, der Kohärenzgrad steigt
unübersehbar an und die allgemeine Verbindlichkeit der Interpretation
ebenso. Solange das Ganze eines gegebenen Textes noch nicht voll durch
Kohärenz gedeckt ist, kann aber noch alles verkehrt sein. Doch sowie die
Einheit der Rede als ganze vollziehbar wird, ist ein gewisses Kriterium für
die Richtigkeit gewonnen. Ohne Zweifel ist auch beim dichterischen Gebil-
de Kohärenz eine oberste Bedingung. Freilich, was Kohärenz eines Gebildes
ist, här.gt nicht von vorgefaßten Vorstellungen der Symmetrie oder der
Regelgerechtigkeit ab, und durchaus ist die Kohärenzforderung nicht von
strenger Eindeutigkeit. Der Text kann sich immer noch, wie oben gezeigt,
in verschiedenen Verständnisebenen auseinanderfalten. Aber diese haben
dann alle ihre volle Gültigkeit. Ein offenkundiges Liebesgedicht darf als
metaphysische Kommunion verstanden werden, ein Du als Frau oder als
Kind oder als Gott. Ja, die geschlossene Sinneinheit eines Gedichtes ist sogar
so streng, daß sie sich kaum aus größerem Zusammenhang umdefinieren
läßt, wie das sonst bei Redeeinheiten der Fall sein kann, daß der Kontext erst
442 Wer bin Ich und wer bist Du?

ihren wahren Sinn ergibt. Zwar kann man gewiß auch bei einem Gedicht
den größeren Kontext ins Auge fassen, den eine Gedichtfolge darstellt, und
dort eine weiter gespannte Kohärenz suchen. Das ist aus der Hermeneutik
wohlbekannt, und man kann auf den jeweils größeren Kontext übergehen:
den Kontext, den ein vom Autor komponierter Gedichtband darstellt; den
Kontext eines Gesamtwerkes oder mindestens den bestimmter Phasen im
Werkschaffen des Autors; den Kontext gar eines Zeitalters. Das ist alles
richtig und längst mindestens seit Schleiermacher aus der Theorie des her-
meneutischen Zirkels bekannt, über die sich unsere heutigen Wissenschafts-
theoretiker so hübsch aufregen. Indessen erleidet der Begriff der Kohärenz
dadurch keine Abschwächung seines Sinnes.
Die Strenge der Kohärenzforderung nimmt in dieser Skala mit guten
Gründen ab. So ist es etwa in der vorliegenden Folge deutlich zu spüren, wie
Celan .komponiert< hat. Die vorbereitenden Gedichte, die Hinfuhrung auf
das Hauptthema und die Zusammenfassung des Ganzen im Finale gleichen
dem Aufbau einer musikalischen Komposition, und doch wäre es meines
Erachtens irrig, diese Einheit überzubewerten. Sie ist vorhanden, aber nur
aufgrund der in sich stehenden Einzelgebilde der Gedichte und nur in der
Weise einer losen, sekundären Einheitsfugung. Das gilt erst recht von dem
Gesamtwerk. Auch dieses ist die Stimme eines Menschen, gewiß - unver-
kennbar und einzig: ein Stil, der noch bei Nachahmem - nun freilich auf
peinliche Weise - kenntlich zu werden vermag. Auch in der Vielheit seiner
Formen und Farben und Motive hat der Dichter eine einheitliche Palette.
Und doch ist es selbst mit den Motiven eine eigene Sache. Wenn Celan
einmal, wie erzählt wird, Leuten, die beim Interpretieren eines seiner Ge-
dichte vom .lyrischen Ich< redeten, mahnend sagte: »Aber nicht wahr, das
lyrische Ich dieses Gedichts!«, so möchte ich auch fur alle Motivforschung
zwar anerkennen, daß sie das Auge schärfen kann, so daß man das einzelne
besser sieht, etwa was bei Celan »Stein« heißt - aber nicht wahr: der Stein
dieses Gedichts. Dann muß gegenüber der legitimen Aufgabe, das dichteri-
sche Vokabular Celans als solches zu studieren, beständig erinnert werden.
Etwas anderes ist es, wie oben betont, wenn das Gedicht sich ausdrücklich
auf früher Gesagtes zurückbezieht. Das kann ein wichtiges Interpreta-
tionsmoment bilden, unbestritten, und ist bei Celan beispielsweise bei allen
ausdrücklichen Zitaten - etwa aus Hölderlin - oder bei namentlich gekenn-
zeichneten Anspielungen - etwa aufBrecht - offenkundig. Nun läßt es sich
nicht leugnen, daß es ständig auch unterschwellige Anspielungen solcher
Art gibt, die man mit mehr oder minder großer Sicherheit bewußtmachen
kann und soll. Die Grenzen zur bloßen Vermutung und zu privat bleibenden
Assoziationen sind freilich fließend, und die Aufgabe unendlich. Zuletzt ist
es eine Frage des Taktes, der größten Tugend des rechten Interpreten, daß
die Ausarbeitung und Bewußtmachung der mannigfaltigen Syntax der
Wer bin Ich uni:! wer bist Du? 443

Konnotationen. zu denen ja auch solche Anspielungen gehören. die Sinnfi-


gur der Rede und die Einheit der Transpositionsbewegung, die das Verste-
hen darstellt, nicht zerredet oder zersetzt.
Muß zum Schluß noch gesagt werden, wie eng sich der Anspruch einer
jeden Interpretation begrenzt? Es kann überhaupt keine Intecpretation ge-
ben, die Endgültigkeit besitzt. Einejede will nur Annäherung sein und wäre
nicht, was sie sein kann, wenn sie nicht selber ihren wirkungsgeschichtli-
chen Ort einnähme und damit in das Wirkungsgeschehen des Werkes ein-
rückte. Gewiß soll keine Interpretation all das, was die Wissenschaft an
hilfreicher Erkenntnis beizutragen vermag, verschmähen, aber ebenso si-
cher wird sie sich nicht auf solches beschränken, was auf diese Weise )er-
kannte wird, und auf das eigentliche Wagnis der Interpretation verzichten
dürfen - und das besteht darin, zu sagen, wie man versteht. Auch wird keine
wiSSehschaftliche Hilfe für das Verstehen erwartet werden können, wenn
nicht die Interpretations- und Verstehensbemühung auch der wissenschaft-
lichen Fragestellung selber schon vorangeht. Verstehen steht nicht nur am
Ende der literaturwissenschaftlichen Erforschung, sondern auch an ihrem
Anfang und durchherrscht das Ganze.
Freilich, jede Interpretation muß so sein, daß sie sich zurückzunehmen
bestrebt ist. So wie das Gedicht ein einmalig Gesagtes ist, ein unvergleichli-
ches, unübersetzbares Gleichgewicht von Sinn und Klang, an dem sich das
Lesen aufbaut. so ist auch das interpretierende Wort noch ein einmalig
Gesagtes. Auch sein Vollzug kann nicht gelingen, ohne daß das innere Ohr
dabei jedes Wort des interpretierten Textes )hört< und sich unser Mitdenken
und Vollziehen der Sprachbewegung des Gedichts immer aufs neue zurück-
holt aus dem vielen )Unnennbaren<, das das interpretierende Denken hinzu-
denkt und das der )in Anschlag gebrachte Begriff< (Kant) fassen möchte. Der
vorliegende Versuch setzt das Spiel von Einbildungskraft und Verstand, als
das Kant die ästhetische Erfahrung (das Geschmacksurteil) beschrieben hat,
einige Runden weiter fort, indem er zu sagen sucht, was er versteht, und zu
zeigen sucht, am genauen Text selber, daß die Auslegung nicht an Beliebiges
anknüpft, sondern so genau wie möglich zu sagen sucht, was, wie sie meint,
dasteht.

2. Was muß der Leser wissen?


Paul Celan war ein Poeta doctus. Obwohl er ein ungewöhnliches Fachwis-
sen auf vielen Feldern besaß, verschmähte er nicht den Gebrauch des Lexi-
kons. Jedenfalls scheute er sich nicht, wie ich aus persönlichem Gespräch
weiß, mißverstehenden Interpreten vorzuwerfen, daß sie doch einfach im
Lexikon hätten nachsehen können. Das ist nun freilich keine allgemeine
444 Wer bin Ich und wer bist Du?
,
Gewohnheit dessen, der Gedichte liest, mit dem Lexikon zu arbeiten. Gewiß
war es des Dichters wahre Meinung auch eher, man könne und solle das
eigentlich alles wissen, was zu dem Verständnis seiner Gedichte nötig sei.
Auf Befragen hat er, wie wir wissen, oft einen einzigen Ratschlag gegeben:
Man solle die Gedichte nur immer wieder lesen und lesen - dann werde das
Verständnis schon kommen.
Diesem Verfahren war ich von Anfang an gefolgt, als ich mich in den
Gedichtzyklus ,Atem kristall< vertiefte, und im ganzen nicht ohne Erfolg.
Bei zahlreichen Gedichten Celans, wohl bei den meisten seiner späteren
Zeit, hätte ich freilich mein Wissen auch erst durch gelehrte Hilfsmittel
erweitern müssen. Das gilt für mich insbesondere, wenn es sich um Bil-
dungs gut aus derjüdischen religiösen Tradition und der Mystik der Kabbala
handelt, von denen ich allzu wenig weiß. In solchen Gedichten signalisieren
manchmal hebräische oder offenk.~dig theologisch-jüdische Spracheie-
mente, was der Unkundige zu tun hat. Aber selbst in der Fortsetzung von
,Atemkristall<, in der ,Atemwende<, bedürfte es wohl mancher Ergänzung
meines Wissens, wenn ich auch nur durch die allererste, die semantische
Ebene mit Erfolg durchkommen wollte. Es war die besondere Gunst meiner
Wahl von ,Atemkristall<, daß ich mich hier ohne jedes gelehrte Hilfsmittel
einigermaßen zurechtfand. Ich hatte kein Lexikon zur Hand. Ich lag in einer
Sandkuhle in den holländischen Dünen und wog die Verse hin und ·her,
,lauschend ernst im feuchten Wind<, bis ich sie zu verstehen meinte. Eine
ganz andere Frage ist es natürlich, wieweit man eine solche Begegnung mit
Dichtung durch auslegende Worte zur Darstellung bringen kann und wie-
weit man sie dabei ausschöpft. Wer offene Ohren hat und wer auch die
Augen nicht zumacht und das Denken nicht schlafen läßt, den wird eine
dichterische Aussage mehr oder minder immer erreichen, auch wenn er
nicht explizit weiß, wie sich die Aussage im einzelnen aufbaut. Der Ausleger
muß sich freilich darum bemühen, ins einzelne einzudringen und sein be-
lehrtes Verständnis mit den Vorstellungen des. Lesers zu vermitteln.
Im Grunde glaube ich mich mit dem Dichter völlig einig, daß alles im
Text steht und daß alle biographisch-okkasionellen Momente der Privat-
sphäre vorbehalten sind. Weil sie nicht im Texte stehen, gehören sie eben
nicht dazu. Das begrenzt den Wert aller Informationen, die von woanders
her kommen, etwa derjenigen, die Freunde des Dichters geben können,
denen er etwas erzählt hat. Gewiß kann im einzelnen Falle eine solche
Information den Fehler korrigieren, den man beim dichterischen Verständ-
nis beging - freilich einen, den man hätte vermeiden sollen und hätte
vermeiden können. Wenn man den Text mißverstand, war das weder der
Fehler des Dichters noch gar seine Absicht. Wer ein Gedicht richtig verste-
hen will, muß injedem Falle das Private und Okkasionelle, das der Informa-
tion anhaftet, wieder vallig vergessen. Es steht ja nicht im Text. Worauf es
Wer bin Ich und wer bist Du? 445

allein ankommt, ist, das zu verstehen, was der Text selber sagt, unbeschadet
aller Anleitung, die aus Informationen von außen zu kommen vermag.
Ich darf es am Beispiel eines bekannten Textes erläutern: )) Wer, wenn ich
schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?« Es ist der berühmte
Anfang der Duineser Elegien. Da hat jemand herausgefunden, daß Rilke
dieser Anfang gekommen sei, als er an einem Sturm tage am Steilhang von
Duino stand und in das aufgepeitschte Meer hinaussah und hinaushorchte.
Wenn diese Information richtig ist, muß man sie schleunigst wieder verges-
sen, wenn man verstehen will, was dieser Anruf an die )Engel( in Rilkes
Dichtung wirklich sagt.
Dagegen wird jeder Leser, und erst recht jeder Ausleger, durchaus dank-
bar sein, wenn ihm durch Leute, die etwas wissen, was man wissen sollte
und wissen könnte, Berichtigungen zuteil werden. Dann handelt es sich
nicht um Privates und Beiläufiges, sondern um die Bausteine der dichteri-
schen Rede selbst. Auch an mich ist inzwischen allerhand Berichtigendes
gelangt, einiges nütz~ich, einiges mehr als das, nämlich wesentlich, weil
ungenügend Verstandenes zurechtrückend. So war es mir nützlich, als ich
durch die alpinistische Informationsquelle, für die ich A. Nypels zu Dank
verpflichtet bin, den fachsprachlichen Sinn von "Büßerschnee(( erfuhr 1s .
Der vorangehende Ausdruck )mensche!1gestaltiger Schnee« wurde dadurch
schlagend erläutert. Auch daß »Wabeneis« keine dichterische Wortfindung
ist, sondern ebenfalls ein präziser Fachausdruck, ist nützlich und befriedi-
gend zu wissen. Oder daß man bei» Schläfenzange« auch an die Geburtszan-
ge der Arzte denken soll. All das sind primäre semantische Textbefunde, die
genau zu kennen gut ist. Sie geben durchaus noch keine volle Interpretation,
aber sie steuern ein Element grammatisch-semantischer Art rur eine solche
bei. Ob sie in die Interpretation - das heißt: in die eigentliche Aussage des
Gedichtes - einwirken, steht im Einzelfalle dahin.
Prüfen wir die Beispiele: Ich frage mich etwa, ob bei dem Schluß gedicht
(S. 426) das wirklich ganz hinfällig wird, was ich dort in der Vorstellung von
einem büßenden Pilger anklingen ließ, der den freigelegten Weg durchwan-
dert. Gewiß ist das Landschaftsbild, wie ich aus den alpinistischen Informa-
tionen inzwischen weiß, nicht nur dichterisch herbeigezaubert, sondern
auch sehr genau bezeichnet, wenn da von »Büßerschnee« die Rede ist.
Trotzdem darf man sich doch fragen, warum der Dichter diesen eigentümli-
chen Fachausdruck hier wählt. Wer den Ausdruck kennt, wird dadurch
genauer verstehen, warum es davor »menschengestaltiger Schnee« heißt.
Aber ist es nur das? Man wird doch nicht abstreiten können, daß die
Erklärung von »Büßerschnee« durch »menschengestaltiger Schnee(( oder

15 Paul Celan: Ademkristal gedichten. Übertr. v. A. NVPELs. Verlag L.}. C. Boucher


1978.
446 Wer bin Ich und wer bist Du?

die Erklärung von IImenschengestaltiger Schnee« durch IIBüßerschnee«


noch etwas mehr bedeutet. Es wird damit ein Ganzes sichtbar, nämlich daß
der Weg zum Atemkristall durch eine tote Gleichgültigkeit von Menschen-
schnee fuhrt. Vielleicht darf man sich dann auch noch fragen, ob es nicht für
den Sprechenden ein Weg der Bußfertigkeit ist, ein Weg, der durch Bußfer-
tigkeit hindurchgeht, der hier gegangen wird. Buße ist bewußter Verzicht,
und es scheint mir deutlich, was hier an Verzicht verlangt wird. Es geht um
die Sünde der Eitelkeit, die das lIAnerIebte« zu einem Scheinzeugnis auf-
spreizt. Nur wer auf die banalen Effekte verzichten kann, die einem das
Gerede aufdrängt, und wer noch über alle anderen, die so bußfertig sind wie
er selbst, hinauswandert, wird am Ende zu den gastlichen Tischen gelangen.
Muß man es vielleicht so verstehen?
Oder warum steht sonst IIBüßerschnee« da? Man komme mir nicht mit
vergleichender Topik. Daß »Schnee« ein vielsagendes Symbolwort ist, das
einen ganzen )Schneepart( zu bilden vermochte und gerade auch diesen
Zyklus )Atemkristall( rahmt - das erste Gedicht redet vom Schnee wie das
letzte -, das weiß ich auch. Nichts gegen Topos-Forschung. Aber jedes
Gedicht ist ein eigener Topos, was sage ich: eine eigene Welt, die sich nie
wiederholt, ist einmalig wie die Welt selbst. Auch dieser Büßerschnee ist nur
hier, was er hier ist. Darin weiß ich mich obendrein mit dem Ce!an der
Meridian-Rede einig.
So nehme ich das Gelernte gern auf, und doch finde ich in diesem Falle
nicht, daß das nützlich Gelernte auf das, was das Gedicht eigentlich sagt,
Einwirkung hat.
Ahnlich geht es mir mit der IISchläfenzange« (S.408). Pöggeler hat in
einem interessanten Aufsatz 16 die These aufgestellt, das Du und der Rest
seines Schlafs stehe für die Schechina und ihre Geburt. Davon steht kein
Wort in dem Gedicht. Wohl aber ist seine Erinnerung an die Geburtszange
durchaus richtig. Sie betrifft indes nur die äußerste semantische Schicht. Ic:h
hätte daran denken sollen - aber zu korrigieren hätte ich nur etwas, wenn das
wirklich mehr leistete als eine bloße Verstärkung des von mir im Gedicht
Verstandenen. Wie ist es? Von welcher Geburt ist denn hier die Rede? Wird
je die Geburtszange, die man bei einer Geburt gebraucht, von dem Jochbein
des Neugeborenen beäugt? So aber steht es im Text. Dieser Zusatz zwingt,
»Schläfenzange« sogleich so umzusetzen, wie ich es tat, und die ergrauenden
Schläfen darunter zu verstehen. Man wird vom Text genötigt, den Blick in
den Spiegel zu verstehen, das Erschrecken vor den ersten Anzeichen des
Alterns. Damit gewinnt der Schluß, »habt ihr Geburtstag«, seinen wahren,
seinen bitteren Sinn. Weiß Gott, das ist keine Geburtstagsfreude: Alter und

16 Orro PÖGGELER, Mystische Elemente im Denken Heideggers und im Dichten


Celans. In: Zeitwende 53 (1982), S. 65-92.
Wer bin Ich und wer bist Du? 447
Tod, der Rest deines Schlafes, haben Geburtstag! Die Geburtszange, die
hinter der »Schläfenzange« anklingt, deutet auf diese Pointe voraus, wie ich
jetzt klar sehe.
Das dritte Beispiel (5.419), das in dem Aufsatz von Pöggeler gestreift
wird und das mit »Harnischstriemen« beginnt, liegt nun freilich ganz an-
ders. Hier treffen die erhaltenen Berichtigungen einen wesentlichen Punkt.
Als ich sie vorjahren erfuhr, hat mich das sofort überzeugt. Hier möchte ich
einen wesentlichen Gewinn rur mein Verständnis des Gedichtes erkennen.
Daher habe· ich eine bessere Deutung gesucht als die anfangs von mir
ve1'suchte und habe diese jetzt in den Text eingesetzt. Daß das Gedicht
zwischen Erdkruste und Sprachkruste spielt, bleibt zwar wahr. Aber mir ist
inzwischen klar geworden, daß ich den Vers »dein Gelände« in der ersten
Strophe hätte wörtlich nehmen müssen. Hier war mein Wissen unzurei-
chend, und ich hätte des Rates des Lexikons bedurft, falls man dort den
richtigen Rat findet, oder hätte anderswoher die richtige Aufklärung gewin-
nen müssen, wie ich sie etwa rur die »Hungerkerze« (5. 390) von Freunden
erhielt.

3. Hermeneutische Methode?
Eine hermeneutische Methode gibt es nicht. Alle Methoden, die die Wissen-
schaft gefunden hat, können hermeneutischen Gewinn bringen - wenn man
sie richtig nutzt und wenn man darüber nicht vergiBt, daß ein Gedicht kein
Befund ist, den man als Fall von etwas Allgemeinerem zu erklären vermöch-
te, wie den experimentellen Befund als den Fall einer Naturgesetzlichkeit.
Ein Gedicht ist auch nicht durch eine Maschine herzustellen. Daß ein
Computer Gedichte elektronisch zu fabrizieren vermag, wie das etwa Max
Bense gezeigt hat, ist nur scheinbar ein Ein wand. Daß das, was nach unzähli-
gen Kombinationen von Buchstaben irgend wann zustandekommt, ein Ge-
dicht ist, mag wahr sein. Aber entscheidend ist, daß es als Gedicht aus a11
dem Computermüll nur herauskommt, wenn es herausgelesen wird - und
das geschieht nicht wieder durch einen Computer. Er sondert es nicht als
Gedicht aus, sondern bestenfalls als eine grammatisch richtige Rede.
Hermeneutik meint nicht so sehr ein Verfahren als das Verhalten des
Menschen, der einen anderen verstehen will oder als Hörer oder Leser eine
sprachliche Äußerung verstehen will. Das ist dann immer: diesen einen
Menschen, diesen einen Text verstehen. Ein Interpret, der ane Methoden
der Wissenschaft wirklich beherrscht, wird sie nur anwenden, um die Erfah-
rung des Gedichtes durch besseres Verstehen möglich zu machen. Er wird
nicht den Text blindlings gebrauchen, um Methoden anzuwenden.
Gleichwohl hat es nicht an Einreden gefehlt, die meinen Deutungsversuch
448 Wer bin Ich und wer bist Du?

als Ihermeneutisch< oder sonstwie charakterisieren wollen. Wer zum Bei-


spiel sagt, die ganze Dichtung Celans sei, wie sein ganzes leidvolles Leben,
ein einziges Bekenntnis und Entsetzen über den Holocaust, der wird im
letzten Grunde wohl damit recht haben. In der Meridian-Rede finden sich
dafür Bestätigungen, auch Anspielung an Adomos entsprechende Außerun-
gen. Es wird damÜ. begründet, daß das Gedicht heute eine starke Neigung
zum Verstummen zeigt - oder auch, daß es nicht mehr genügt, Mallarme
konsequent zu Ende zu denken. Die Stellung am Rande, die Celan dem
Gedicht von heute zuweist, ist gewiß im höchsten Maße bedenkens wert.
Aber zu einem Prinzip, seine Gedichte besser zu verstehen, führt das nicht.
Das gilt selbst fiir diejenigen seiner Gedichte, die wie die ,Todesfuge( aus-
drücklich und unzweideutig das Thema des Holocaust haben. Poesie ist
immer noch mehr - und mehr noch, als der engagierteste Leser vorher weiß.
Sonst wäre sie überflüssig.
Eine andere Einrede ist, daß der Dichter wohl stärker an den Spielen der
Worte seine Orientierung genommen habe, als ich wahrhaben will, und daß
deswegen mein Verfahren zu phänomenologisch sei (das hat mir J. BoHack
vorgehalten). Es wird mir schwer, darin einen kritischen Sinn zu finden.
Was soll denn der Gegensatz zu Iphänomenologisch( sein? Daß Worte nur
Worte sind? Daß man sich bei Worten nichts denken soll? Oder daß man sich
nur bei einzelnen Worten etwas denken darf, aber nicht bei der Sinneinheit
eines Gedichtes? Dem wäre zu antworten, daß Worte niemals für sich Sinn
haben und erst durch ihre vielleicht vielstellige Bedeutung den einen Sinn
aufbauen, der in vielen Verschlingungen von mitschwingenden Sinnlinien
dennoch die Einheit des Text- und Redeganzen bewahrt 1'. Oder soll es
heißen, daß man beim Verstehen solcher Texte sich nichts anschaulich
vorstellen soll? Als ob nicht Worte ebenso wie Begriffe ohne Anschauung
leer wären. Kein Wort hat Sinn ohne seinen Zusammenhang. Selbst einzelne
Worte, die für ~ich stehen - wie das Titelwort IAtemwende( -, haben erst in
ihrem Zusammenhang ihren Sinn. Da muß hier ausdrücklich bemerkt wer-
den, daß IAtemwende< als Titel dieses Gedichtbandes den lautlosen, den
hauchartigen übergang und Umschlag zwischen Ausatmen und Einatmen
bezeichnet - wenn der Atemkristall des Gedichts' wie eine vereinzelte
Schneeflocke in reine Gestalt ausfällt. Das scheint mir der Zusammenhang 18
von IAtemkristall( und vor allem das Schlußgedicht zu lehren. In der Büch-
ner-Preis-Rede dagegen meint IAtemwende( zunächst eine andere Seite der
Wortbedeutung, nämlich die Umkehr, die zwischen Ein- und Ausatmen
statthat, und nicht primär das Wunder ihrer Unmerklichkeit. Doch möchte

17 Ausfllhrlicher dazu u.a .•Sprache und Verstehen. in Ges. Werke Bd. 2, bes. S. 196ff.,
sowie .Text und Interpretation(, ebd. S.353fF.
18 Siehe dazu schon oben, S. 388.
Wer bin Ich und wer bist Du? 449

ich fragen, ob hier nicht ein Zusammenhang zwischen beiden Akzentu-


ierungen des Wortes .Atemwende, besteht. Ist es nicht so, daß wirkliche
Umkehr niemals ein spektakuläres Geschehen ist, sondern aus tausend
lautlosen Unmerklichkeiten besteht? Das würde zu einer Stelle in der Meri-
dian-Rede bestens passen, wo es heißt: »Dichtung: das kann eine Atemwen-
de bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg - auch den
Weg der Kunst - um einer solchen Atemwende willen zurück?«
Eine andere Einrede ist die von Pöggeler formulierte, wenn er fragt 19 , ob
mein Versuch, IICelans Bilder wie die Symbole Goethes auf allgemeinver-
ständliche Erfahrungen zurückzuführen, nicht jene Allegorik verkennt, die
sich aus dem Nichtverstehen geschichtlich und künstlich langsam aufbaut
als gewagtes neues Verstehen. « In der schönen Formulierung erkenne ich
mein eigenes Bemühen wieder! Nur würde ich es nicht gerne auf den
Gegensatz von Symbol und Allegorie zuspitzen, der zwar von Goethe
gebilligt, aber ganz gewiß nicht praktiziert worden ist. Pöggeler spielt in
dem Zusammenhang sogar darauf an, daß ich selber - in der Nachfolge
Benjamins - zu der Ehrenrettung der Allegorie beigetragen habe. Ich weiß
aber nicht, warum Pöggeler hier den Gegensatz von Symbol und Allegorie
bemüht. Ich würde in der Beschreibung des Wagnisses unseres Verstehens
zunächst nichts anderes sehen, als daß wir alle lange nicht genug wissen. Das
ist vor allem mein eigener Mangel. Ich wollte, ich wäre so gelehrt wie
Pöggeler, und Pöggeler wollte gewiß, er wäre so gelehrt wie Celan. Und
Celan? Nun, er wollte gewiß, daß ihm das Gedicht gelänge, nichts sonst.
Es wird mir schwer, hier den Begriff der Allegorie überhaupt zuzulassen.
Ich glaube, Celan hätte das ebensowenig gebilligt wie den Begriff der
Metapher. Wenn im Zeitalter des Barock die Lesegesellschaft Antike und
Christentum in sich integriert hatte, so gilt dies heute nicht mehr. Jedenfalls
gibt es die Bildungsgesellschaft nicht, die Celans enormes Wissen immer
schon hätte. Es ist gewiß nicht der Sinn seiner Dichtung, eine solche Bil-
dungsgesellschaft heraufzurufen, die nun von Homer über die Bibel bis zur
Kabbala reichte. Er will gehört werden und nimmt in Kauf, daß in dem
Getöse des modernen Lebens die stille Stimme des Kaumverständlichen
nötig ist, zum geduldigen Hinhören einzuladen und am Ende die ,Daten, ins
Bewußtsein zu heben, die wir nicht vergessen sollten. In diesem Sinne will
das Gedicht, das man heute schreiben dürfte, ein »unumstößliches Zeugnis«
sein - aber es will es als Gedicht sein. Daß wir immerfort und überall
Wissenslücken empfinden und auszufüllen haben, das ist keine Frage. Meine
Frage ist, wie man, nachdem einem die Lücken zu füllen hier und da
gelungen ist, versteht, was der Text selber sagt. Und da meine ich, Celan
war ein wirklicher Dichter, der mühsam und entbehrungsvoll, ja vielleicht

19 A.a.O. [5. Anm. 16], S. 90.


450 Wer bin Ich und wer bist Du?

bußfertig den Weg zum Atemkristall gewandert ist. Jedenfalls ist es das allen
gemeinsame Wort, das er zu finden suchte. Nicht umsonst hat er das oben
schon zitierte Wort gesagt: »Lesen Sie, lesen Sie immer wieder. dann wird
das Verständnis schon kommen!« Er rechnete offenbar darauf, . daß die
allgemeine menschliche Erfahrung, in die die Furchtbarkeiten unserer Epo-
che eingegangen sind. und das Wissen. das mehr oder minder von allen
erworben wird, die sich solchen Dingen nicht überhaupt verschließen, seine
Gedichte aufschließen. Ob ohne Methode oder mit allen Methoden - das
hätte ihn schwerlich beunruhigt. Es ist ja auch eine unleugbare Erfahrung,
daß dieser hermetische Dichter, von dem kein vernünftiger Mensch behaup-
ten wird, daß man alle seine Gedichte verstehe - so wie man heute etwa
Goethes Gedichte versteht -, trotzdem von Tausenden gelesen wird, weil sie
es als Dichtung empfinden. Das genauere Verständnis mag vage und be-
schränkt sein, man versteht es auch dann als Dichtung. Nein, Allegorik setzt
einen selbstverständlichen Konsensus voraus, der als solcher heute nicht
mehr besteht. Heutige Dichtung setzt einen Konsensus voraus, der erst
entstehen so1120 • Was ich in meinen eigenen Untersuchungen zu dieser Frage
unternahm, ging gerade darauf, die künstliche Auseinanderreißung von
Allegorie und Symbol fraglich zu machen21 • Ich folge auch im FalleCelans,
wie ich meine, meinen eigenen Einsichten.
Und nun zum Schluß nochmals: Was muß der Leser wissen? Daß der
Leser und daß der Ausleger, der in diesem Falle ich bin, so viel wie möglich
wissen sollte und leider nicht genug weiß, scheint mir unstreitig. Das ist mit
dem Grundsatz der Wissenschaft aufs engste verknüpft, daß sie sich keine
Grenzen setzen kann. So muß sie selbstverständlich alle ihre Methoden, auch
neu zu entwickelnde, einsetzen. Aber die Frage) Was muß der Leser wissen?(
ist damit nicht beantwortet, auch bei Celans Gedichten nicht. Schließlich
werden Gedichte nicht für die Wissenschaft geschrieben, auch wenn der
Leser, für den sie geschrieben werden, aus den Hilfen, die ihm die Wissen-
schaft gewähren kann, Nutzen ziehen wird. Er wird, wenn er nicht weiß,
auch Lexika gebrauchen - aber das sind nur die faulen Früchte der Wissen-
schaft. Dagegen gibt es eine andere, präzise und verbindliche, nur freilich
nicht kontrollierbare und fixierbare Antwort auf die Frage: Was muß der
Leser wissen? Sie lautet: Er muß so viel wissen, wie er braucht und wie er
verkraften kann. Er muß so viel wissen, wie er in sein Lesen des Gedichts, in
sein Hören auf das Gedicht wirklich einbringen kann und muß. Nur so viel,
wie sein dichterisches Ohr verträgt, ohne zu ertauben. Das wird oft recht
wenig sein - und bleibt dann immer noch mehr, als wenn es zuviel ist.

20 Siehe dazu auch ,Dichten und Deuten. Getzt in Ges. Werke Bd. 8), mit dem Hinweis
aufKafka.
21 Vgl. ,Wahrheit und Methode. (Ges. Werke Bd. 1), S. 77 ff.
Wer bin Ich und wer bist Du? 451

Es ist eine sokratische Weisheit, die ich hier auf das Gold der Wissenschaft
anwenden möchte. Am Schlusse des .Phaidrosl erbittet Sokrates in einem
Gebet an Pan, der über der sommerlichen Stunde des Gesprächs gewaltet
hatte, unter anderem: »Von Golde so viel, wie ein Mensch von gesunder
Vernunft tragen und mit sich führen kann.« Das Gold der Wissenschaft ist
auch Gold. Wie alles Gold verlangt es seine rechte AnwenduJ1g. Das gilt erst
recht in der Anwendung der Wissenschaft auf die Erfahrung der Kunst. Als
hermeneutischer Grundsatz heißt das: eine Interpretation ist nur dann rich-
tig, wenn sie am Ende ganz zu verschwinden vermag, weil sie ganz in neue
Erfahrung des Gedichts eingegangen ist. An diesem Ende sind wir bei Celan
vorerst nur in seltenen Fällen.
37. Sinn und Sinnverl?-üllung bei Paul Celan
(1975)

Sinn und Sinnverhüllung im dichterischen Werk von Paul Celan - mit


diesem Thema machen wir nicht eigentlich einen besonderen Gesichtspunkt
geltend, der die Interpretation Celanscher Kunst leiten soll, sondern fassen
nur in Worte, was jeder erfahrt, wenn er sich mit der Dichtung Celans
bekannt macht. Man fUhlt die Attraktion eines gen auen Sinnes und .hat
zugleich das Bewußtsein, daß dieser Sinn sich zurückhält, wenn nicht gar
kunstvoll verhüllt ist. Wir werden uns fragen müssen, was hinter dieser ja
schließlich nicht von Celan allein, sondern von einer ganzen Generation
repräsentierten Dichtart steht und wie wir das unsererseits zu bewältigen
haben. Fürs erste aber ist die Aufgabe nicht so sehr, theoretische überlegun-
gen anzustellen, sondern es mit dem Lesen zu versuchen. '
Vielleicht genügt eine allgemeine Vorbemerkung. Offenbar ist es das
Bestreben heutiger Lyrik, die Gravitationskraft der Worte sich voll auswir-
ken zu lassen, ohne sie durch syntaktische und logische Mittel einzuengen.
Dieses blockhafte Sprechen, in dem Einzelworte, die Vorstellungen wek-
ken, nebeneinander stehen, bedeutet nicht, daß sie nicht in die Ejnheit einer
Sinnintention zu verschmelzen sind. Aber das zu vermögen ist eine Forde-
rung, die dem Leser einzulösen überlassen bleibt. Es ist durchaus nicht so,
daß der Dichter willkürlich die Sinneinheit verdunkelt und verhüllt. Der
Dichter will gerade auf diese Weise etwas offenbar machen. Er gibt durch die
blockhafte Fügung die Vieldimensionalität von Sinnbezügen frei, die in der
logisch beherrschten, eindimensionalen Alltagsrede durch die praktische
Einheit der Rede-Intention niedergehalten werden. Es ist ein Irrtum, zu
meinen, im Gedicht sei deshalb nichts zu verstehen, weil es keine Eindeutig-
keit der Sinnbezüge gibt. Und es ist ein Irrtum, zu meinen, es fehle die
Einheit der Rede-Intention. Sie erst macht das Gedicht.
Das Gedicht lautet:

Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Sinn und Sinnverhüllilng bei Paul Cclan 453

Gegriffen schon. Herr.


ineinander verkrallt. als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib. Herr.
Bete. Herr,
bete zu uns.
wir sind nah.
Windschief gingen wir hin.
gingen wir hin. uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut. es war•
.was du vergossen. Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen. Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer. Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr.
Wir sind nah.
Durch die überschrift» Tenebraecc wird. wie immer durch eine Überschrift.
die eine so bestimmte Bedeutung hat. ein Vorverständnis geweckt. Man
muß selbstverständlich wissen. daß »Tenebrae« nicht nur Verfinsterung
heißt, sondern eine bestimmte Verfinsterung meint. die, dem Evangelium
zufolge. eintrat. als Jesus am Kreuz seinen letzten Atemzug aushauchte. Im
katholischen Kultus wird das als Passionsmette, als Karfreitagsmette, so
gefeiert, daß das Ereignis der Verfinsterung des Himmels im Augenblick
von Jesu Sterben kultisch wiederholt wird. Dieser Kult der Passionsmette
enthält ferner die Lesung der Klagelieder Jeremiae. Das WortJesu am Kreuz:
»Mein Gott, mein Gott. warum hast du mich verlassen« ist selbst ein Zitat
aus dem Alten Testament. So fügt schon der christliche Kult die Gottverlas-
senheit, die das Schicksal des jüdischen Volkes in seiner babylonischen
Gefangenschaft war, mit der GottverlassenheitJesu am Kreuz zusammen.
Aber die Beschwörung dieser Himmelsfinsternis durch den heutigen Dich-
ter. reicht sie nicht noch viel weiter? Ob man an das Leiden und Sterben der
Juden in den Vernichtungslagern Hitlers denken soll? Oder am Ende an die
Todesangst aller Menschen? An Gottes Zorn, wie er in der jüdischen Ge-
schichte des Alten Testaments sein auserwähltes Volk straft? Oder an die
Gottesferne, die über unserer Zeit des Erlahmens der christlichen Glaubens-
traditionen heraufgezogen ist? Das alles klingt in dem einen Wort» Tene-
brae« an und läßt uns lauschen.
454 Sinn und Sinnverhüllung bei Paul CeIan

Die Frage, die damit gestellt ist, ist nun, in welchem Sinne das Gedicht an
diese »Tenebrae« anschließt. Jedenfalls heißt es »Tenebrae«, nicht ohne die
ganze Tradition der Passionsgeschlchte - von den alttestamentlichen Klage-
liedern über die Passionsgeschichte bis zu der Passion des Menschseins unter
dem verdunkelten Himmel unserer Gegenwart - zu erwecken. Das ist eine
Vororientierung, die durch das Gedicht selber ihre nähere Ausführung
erfahren muß.
Das Gedicht ist eine Herausforderung. Wie soll man es verstehen? Ein
blasphemisches Gedicht oder ein christliches Gedicht? Ist es nicht blasphe-
misch, wenn das Gedicht mit klaren Worten zu dem sterbendenJesus sagt:
Nicht zu Gott, der dich verlassen hat, solltest du beten, sondern zu uns!
Diese Entgegensetzung läßt sofort einen unüberhörbaren Sinn erraten: Weil
Gott den Tod nicht kennt, ist er in der Todesstunde nicht erreichbar. Wir
dagegen kennen den Tod, wissen um ihn und seine Unausweichlichkeit und
verstehen deshalb diesen letzten Seufzer der Verlassenheit zutiefst. Offen-
kundig wollten diese letzten Worte Jesu nicht Zweifel an seinem Gott
ausdrücken, sondern die Obergewalt des Leidens und des Todes besiegeln.
Darin liegt eine letzte Gemeinsamkeit zwischen dem Menschensohn und
den Menschenkindern, daß sie den Tod erleiden.
Was aber heißt es, daß Jesus lieber zu uns beten soll? Ist das eine äußerste
Verspottung und Verwerfung des Glaubens an Gott und Betens zu Gott,
mithin eine kühne, gottferne Umdeutung der ganzen Passionsgeschichte
und der Verlassenheit Jesu am Kreuze? - Aber ist diese letzte Verlassenheit
nicht ein Wesensmoment des christlichen Inkarnationsgedankens selber, so
daß der Dichter hier gleichsam einen Schritt weit wiedererweckt, was die
christliche Lehre mit dem Gedanken des stellvertretenden Leidens und Ster-
bens Jesu eigentlich meint? Ich will diese Frage nicht zu beantworten suchen.
Sie läßt sich gar nicht beantworten. Es kommt auch nicht auf die Meinung
des Dichters an, sondern auf das, was im Gedicht zur Sprache kommt. Der
Dichter hat es offengelassen, was das ist. Wie in allen Sprachgebilden, die ein
Dichter schafft, sind wir genötigt, das selber zu entscheiden. Wir können
uns nicht auf ihn berufen.
Immerhin, Jesus wird aufgefordert, zu uns zu beten. Was heißt hier
»beten«? Was heißt Beten? Das Gedicht setzt unzweideutig mit der Heraus-
forderung: » Bete zu uns, Herr« ein. Damit ist aufJ esu letzte Worte am Kreuz
angespielt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Ist das
überhaupt ein Gebet? Gewiß ist es ein Anruf an Gott. Und vielleicht muß
man wirklich sagen, daß eben darin der einzig mögliche Inhalt eines Gebetes
überhaupt besteht, solchen Anruf zu tun. Denn »wir wissen nicht, was wir
beten sollen« (wie es im Römerbrief und in der bekannten Bach-Motette
heißt).
Tatsächlich kann Beten nicht heißen etwas erbitten. Als ob wir von uns
Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan 455

aus wüßten, was fiir uns das Rechte ist. Erhörung des Gebetes scheint
vielmehr aller Erfüllung möglicher Wünsche vorauszugehen. Erhörung des
Gebetes ist das Gehärt-Werden des Gebetes selber, das Dasein dessen. zu
dem man im Gebet ruft. Daß er hört und daß man eben nicht verlassen ist.
das ist die Erhörung. So verstanden ist der Inhalt der letzten WorteJesu das
Gebet schlechthin. der letzte Seufzer. der fleht. bei mir zu sein. mich nicht
allein zu lassen.
Nun ist die Todesstunde. dies letzte Autbäumen der Natur in uns, fiir
einen jeden die Stunde seiner äußersten Verlassenheit. Die kühne Wendung,
die das Gedicht nimmt, besteht darin, daß es sich dabei gewiß nicht nur um
die Verlassenheit von Gott handelt, sondern gerade auch von allen anderen
Menschen. Was soll »beten zu« diesen Menschen heißen? Als ob Menschen
da helfen könnten! Jedoch, wenn Beten rufen heißt. daß der andere höre.
entsteht ein tiefer Sinn: Da die Menschen den Tod kennen, unter dem Gesetz
des Todes stehen, sind sie mit dem. der stirbt, auf einzigartige Weise
solidarisch. Dessen soll der Sterbende sich im Beten zu uns vergewissern,
dieser letzten Gemeinsamkeit.
Es ist diese Gemeinsamkeit. die am Eingang des Gedichtes hingestellt
wird. Im Beginn und am Schluß des Eingangs steht wie am Schluß des
Ganzen: Wir sind nah. »Nah sind wir, Herr, nahe und greitbar.« Mir
scheint, daß ein leichter Ton auf dem »wir« liegt. Nicht du bist nah, sondern
wir. Das ist alles andere als eine Hälderlin-Imitation. Der ähnliche Klang,
mit dem die Patmos-Hymne angeht: »Nah ist und schwer zu fassen der
Gott«, weist in die genaue Gegenrichtung. Nicht der Gott ist ja hier rur uns
nah, sondern wir sind nahe fiir den Herrn. Der Übergang von »greitbar« in
»gegriffen schon« eröffnet eine Klimax. die zu »ineinander verkrallt« fiihrt.
Sie hebt den Abstand zwischen dem Greifenden und Gegriffenen, die Ge-
schiedenheit des Sterbenden von den noch Lebenden, auf.
Denn wovon sind wir selber »gegriffen«? Doch gewiß nicht von dir,
Herr, für den wir »greitbar« genannt sind. Das, wovon wir ergriffen sind,
kann nur der labsolute Herr< sein, der Tod, dem die Menschen gehören. Er
ist so sehr unser Herr, daß wir vor ihm alle gleich sind. »Ineinander ver-
krallt« halten wir uns wie im Todeskampf um sich Greifende. Diese Ver-
zweiflung ist offenbar so sehr die eigentliche Gemeinsamkeit. daß die Men-
schen, ineinander verkrallt, injedem anderen Hilfe und Heil suchen - »als
wär der Leib einesjeden von uns dein Leib. Herr«.
Es wird im Fortgang völlig klar, daß es der Leib des sterbenden und
gestorbenenJesus ist, der hier eindeutig als lIdein Leib« gemeint ist. Es liegt
aber in dieser Wendung noch etwas anderes. Es scheint mir wichtig. daß es
lIder Leib eines jeden von uns« heißt und nicht: »unser Leib«, der Leib von
uns allen. Jeder von uns ist fiir jeden von uns der Nächste, den er doch nicht
erreicht. Denn im Sterben ist jeder von uns so allein und verlassen wie der
456 Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan

sterbende Jesus am Kreuz. Die Erfahrung des Todes vereinzelt, so wie


Heidegger es in der Wendung von der >Jemeinigkeit< des Todes formuliert
hat oder wie Rilke es in bekan:lten Gedichten sagt. Die Aussage ist offenbar
die, daß das so furchtbar vereinzelnde Sterben nicht nur jeden mit jedem
anderen, sondern gerade auch mit dem sterbenden Jesus in eine eigene
Verbundenheit versetzt. Es ist das Verkralltsein in die Unausweichlichkeit
des Todes selbst. Das ist jedenfalls die klare Folgerung, die im Gedicht
ausgesprochen ist: »Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah.« Mit dir in der
Jemeinigkeit des Sterbens eins, stellt dieses Einssein auch noch in der höch-
sten Verlassenheit N3he und Verbundenheit dar.
Nun wird diese Gemeinsamkeit zwischen Jesus und uns, daß wir des
Todes sind, nicht einfach ausgesprochen. Vielmehr wird das als eine Ge-
schichte erzählt, und wenn ich recht sehe, steht an deren Ende nicht nur die
Einsicht in die Unausweichlichkeit des Todes, sondern ein Annehmen des
Todes. Nichts freilich deutet dabei auf die christliche überwindung des
Todes durch die Auferstehung und den Glauben an sie. Davon ist kein Wort
hier. Das Annehmen des Todes geschieht vielmehr im Trinken deines Blutes
und des »Bild[s), das im Blut war«. Das ist eine wieder ganz unchristliche
Kommunion. Das klingt so, als w3re er uns vor-gestorben, so daß wir,
wenn wir ihm nach-sterben, die gleiche Verlassenheit annehmen. die gleiche
Gottesfinsternis. In diesem Sinne scheint er für uns gestorben.
Das Gedicht ent&ltet den Sinn dieser angstvollen N3he und paradoxen
Verbundenheit, indem es offenbar in der Zeit zurückgeht - nicht in eine
geschichtliche Zeit, sondern in eine sich ewig wiederholende Zeit, die die
des jeweiligen menschlichen Daseins ist. Diese Geschichte berichtet, wie wir
solcher Verbundenheit mit dem sterbenden Jesus inne wurden. Das Imper-
fekt zeigt bereits an, daß gleichsam unsere Vorgeschichte erz3hlt wird, die
schon immer hinter uns liegt. »Windschief gingen wir hin. « Im Ausdruck
»windschief« liegt Orientierungslosigkeit, Richtungslosigkeit. Die Aus-
weglosigkeit menschlichen Lebens, dessen Weg das Vl!f1neiden des Sterbens
sein möchte, ist darin in einem einzigen Wort zusammengeballt. »Wind-
schief gingen wir hin, gingen wir hin, uns zu bücken nach Mulde und
Maar.« Die Wiederholung »gingen wir hin« macht die Dauer, die z3he
Beharrlichkeit derer, die da gehen, das heißt die Z3higkeit unseres Lebens-
willens, deutlich. »Mulde und Maar« evoziert natürlich Feuchtigkeit, Was-
ser, das den Durst löschen könnte, der uns treibt, und evoziert damit den
Durst selbst. Stillung des Lebensdurstes scheint so etwas wie die Struktur-
form des Lebens als solchen. So sind wohl die Worte »Zur Tränke gingen
wir, Herr« zu verstehen. Es ist das Tierisch-Naturhafte unseres LebensWil-
lens, das uns wie die Tiere - und daher »zur Tränke« - treibt. Aber die
Bedeutung dieser Worte bricht zugleich in einer paradoxen Weise um.
Denn was ist hier beschrieben? Am Ende doch der Weg, in dem Lebende
Sinn und Sinn verhüllung bei Paul Celan 457

vom Tode wegzuleben suchen. Das Paradox besteht darin, daß der einzige
Trank, den wir finden, •• Blut« ist, und das heißt, der Weg läßt das, wovon es
uns wegtrieb, den Tod, gerade erst recht begegnen. Wieder wird ein Mittel
emphatischen Sagens gebraucht: »Es war Blut, es war ... « stellt zunächst
das Erschrecken für sich. Statt Wasser ist es Blut - und doch wird das zur
»Tränke«, wenn wir am KreuzestodJesu die Unausweichlichkeit des Todes
zu erkennen und anzuerkennen gelernt haben.
Den ersten Schritt zu dieser Erkenntnis sagte der Vers: "Es war, was du
vergossen, Herr. Es glänzte.« Ein Vers von einer gewaltigen sinnlichen
Kraft. Er evoziert den eigentümlichen Glanz, den vergossenes Blut hat, in
dem etwas Schauerliches ist. Es ist nichts vom Glanz der Verklärung darin.
Bemerkenswert bleibt vielmehr, daß keinerlei Verheißung damit verbunden
ist und nicht »für uns vergossen« gesagt wird. Freilich, was in solcher Art
nicht gesagt wird, ist nicht einfach nicht da. Es klingt an und gewinnt
dadurch eine neue Gegenwart: die des Entzugs und der Verweigerung. So
,meint( es uns, aber offenbar in einem ganz anderen Sinne als in dem des
stellvertretenden Leidens. Denn in diesem Blute spiegelt sich nichts als der
Tod selbst, der Leichnam Jesu. Deswegen verstärkt das Gedicht noch die
erschreckende Wirklichkeit, die der Tote für den hat, den der Lebensdurst
treibt: »Es warfuns dein Bild in die Augen, Herr. Augen und Mund stehn so
offen und leer, Herr.« Es ist die ganze Unheimlichkeit des Todes, diese
entsetzliche Fremdheit, die den Gestorbenen für die Lebenden ganz und gar
ins Abseits scheidet, die hier denen begegnet, die, vom Lebensdurst getrie-
ben, auf der Suche nach dem Trank sind. Das Motiv der Pieta klingt an.
Aber daß dies Bild »im Blut« ist, über das wir uns beugen, besagt noch
mehr. Was uns als der Gekreuzigte, der sich im Blut spiegelt, begegnet, ist ja
unser eigenes Gezeichnetsein vom Tode. Wir begegnen in ihm uns selber,
schrecken aus unserer Selbstvergessenheit auf, erschrecken vor uns selber.
»Als wär der Leib einesjeden von uns dein Leib, Herr.« Ja, dies Blut und das
Bild, das in ihm ist; ist der Trank selbst. Das ist die große affirmative
Konklusion, mit der das Gedicht sein Argument vollendet: »Wir haben
getrunken, Herr. Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.« Das heißt:
obwohl es Blut war und das Blut, in dem der tote Leib Jesu sich spiegelte,
haben wir es getrunken. Wir haben es angenommen und nicht schaudernd
zurückgewiesen. Wir haben es angenommen, daß wir sterben müssen. Das
ist es, was uns berechtigt zu sagen: "Bete, Herr. Wir sind nah.«
So schließt sich das Ganze. Uns selbst in unserer Todesbestimmtheit
gewahrend, erfahren wir eine letzte Einung mit dem sich von Gott verlassen
fühlenden sterbenden Jesus. Man muß also abschließend abermals feststel-
len: In der Überlieferung der Evangelien will der Ausruf der Verlassenheit
Jesu gewiß nicht eine Abschwächung seiner Opferbereitschaft sein oder gar
einen Zweifel an seinem Gott ausdrücken. Das »Nicht wie ich will, sondern
458 Sinn und Sinn verhüllung bei Paul Celan

wie du willst« wird durch diesen letzten Ausruf keineswegs widerrufen. Im


Gegenteil. Das erst vollendet die Menschwerdung Gottes, daß der sterbende
Jesus sich von Gott verlassen f'ühlt. Das gerade ist menschlich. Und es
bezeugt: für ihn ist das Sterben in keiner Weise leichter. Auch wenn der
Christ glaubt, daß Jesus Gott ist, heißt das nicht, daß er nicht wirklich den
Tod erlitten hat. Der biblische Bericht will vielmehr sagen, daß Jesus bis
zum letzten Augenblick das Martyrium des Sterbens auf sich genommen
hat, und genau dieses Martyrium des Sterbens ist es, auf dem unsere Ver-
bundenheit mit ihm und unsere Nähe zu ihm beruht.
Nun stelle ich erneut die Frage des Anfangs. Ist das Blasphemie? Auch
weJUl man sich hüten muß, einer dichterischen Aussage eine falsche Eindeu-
tigkeit zuzumuten, muß man doch wohl sagen, daß der Aspekt des Blasphe-
mischen, den das Ganze bietet, wieder fast in sein Gegenteil verkehrt wird.
Zwar ist es wirklich eine entschiedene Abkehr von der christlichen Tradi-
tion, wenn es nicht heißt: »Bete zu Gott«, sondern: »Bete zu uns«. Aber es
bleibt ein Akt von Frömmigkeit, beten zu sollen, zu dem Jesus aufgefordert
wird. Es bleibt ein Eingeständnis der Hilf- und Rettungslosigkeit des Men-
schen gegenüber der Unbegreiflichkeit des Todes, was sich im Gedicht
aussagt. So klingen Elemente des Christlichen noch im Entzug und im
Ausbleiben an. Im immer sich wiederholenden »Herr« erkeJUlt der für uns
Sprechende förmlich an, daß der am Kreuz gestorbene Jesus unser Herr
bleibt, als der Leidende und Verlassene - wenn auch nicht als der Christus
der Auferstehung.
So ist Celans Beschwörung der »Tenebrae« zwar keine Wiederholung
oder Annahme der christlichen Botschaft, aber noch weniger eine Verhöh-
nung oder Verspottung des Glaubens. Es ist ein Bestehen auf der Not.
Indem der Tod als menschliches Schicksal ernstgenommen und angenom-
men wird, ohne allen Trost oder Hoffnung, nähert sich das Gedicht der
letzten Intention der christlichen Inkarnationslehre, durch die sich das Chri-
stentum über alle sonst bekannten Weltreligionen erhebt: Kein Gott, der
nicht Mensch ist, kein Gott, der nicht das Sterben auf sich nimmt, kann fur
den Glaubenden eine Verheißung oder Erlösung bedeuten. Es ist nicht die
überwindung des Todes, wie sie das Christentum verheißt, die im Gedicht
zu Worte kommt, und doch bleibt Jesus, der den Tod auf sich 'nimmt, der
»Herr«.
Am Ende dieses Versuchs einer Sinndeutung mag es möglich sein, die in
solcher Poesie liegende Sinnverhüllung in ihrem Wesen näher zu bestim-
men. Daß sie keine beabsichtigte Verhüllung und Verbergung eines Sinnes
ist, den man klar und eindeutig sagen könnte, hat die Auslegung des Ge-
dichts ergeben. Der Dichter ist hier in eine Sphäre eingetreten, die ihre
eigenen bestimmenden Konstellationen hat. Der äußerste Augenblick im
»Leiden und Sterben unseres HerrnJesu«, sein letzter Atemzug am Kreuz,
Sinn und SiMverhOllung bei PauJ CeJan 459
schmilzt mit der Todesfurcht und Todesgewißheit, die in jedem von uns
eine ebenso gegenwärtige wie verdeckte Macht ist, zusammen, und dies
rätselhafte Ineins bezeugt das Gedicht durch seinen eigenen, zwingenden
Bestand 1 •
Freilich. das Gefiige dieser Verse, die solche Spannungen auszutragen
haben. kann nicht von einem dichterischen Stilideal her gesehen werden, das
unsere literarische Tradition seit Goethe bestimmt: Goethes ,Natürlichkeit<.
Es ist eine unvergleichliche Natürlichkeit und Mühelosigkeit, in der Goe-
thesche Reime und Verge sich wie von selbst ordnen. Sie sprühen hervor wie
kunstvolles Geschmeide und wirken zugleich ganz ungesucht. Das zum
Maßstab dichterischen Könnens und dichterischer Kunst zu machen, ist die
Versuchung, in der wir immer schon stehen, aber es verkennt, daß Goethe
eine ganz andere Situation der deutschen Sprache vorfand. Damals mußte
das Deutsche seine Geschmeidigkeit und seine Aussagefähigkeit erst den
Widerstandsblöcken lateinisch-humanistischer Künstlichkeit 'und franzö-
sisch geselliger Sprachnorm abgewinnen. Die ungeheure Wirkung des Ju-
gendwerks Goethes beruht darauf, daß ihm dies mit einer fiir uns unbegreif-
lichen Leichtigkeit gelungen ist. Für damals v,.:ar es aber oft erstaunliche
dichterische Kühnheit, was Goethe wagte. und insbesondere Werke wie
)Pandoras Wiederkehr< oder selbst der ,West-östliche Divan< fanden durch-
aus nicht sofortige Zustimmung.
Noch vielsagender ist in dieser seiben Richtung das Beispiel Hölderlins,
der eine ganz neue Sangart für eine ganz neue Aussage fand. Er steht am
Anfang der Dichtung des 20. Jahrhunderts, erst damals erkannt. Seine
großen Hymnen sind zu seiner Zeit überhaupt nicht als dichterische Schöp-
fungen eines bei Vernunft seienden Menschen angesehen worden. sondern
als Produkte des Wahnsinns. dem er später verfiel. Die romantischen Freun-
de wagten nur Teile dieser Handschriften überhaupt zu drucken, doch wohl.
weil sie sich selbst zu solcher Kühnheit dichterischen Sagens nie vorgewagt
hatten. So sind die Gedichte Hölderlins damals überhaupt nur in verstüm-
melter Form yor den zeitgenössischen Leser gekommen. und das ging bis in
unser Jahrhundert so. 1914 ist der entscheidende Band der Hölderlin-Ausga-
be von Hellingrath erschienen. in dem erstmalig die späten Hymnen Höl-
derlins so weit entziffert und kritisch rezensiert in die Öffentlichkeit traten.
daß plötzlich die Zeitgenossen erkannten, daß das große Dichtung war. Es
hat Geschichte gemacht, daß das Spätwerk Hölderlins in unseremJahrhun-
dert entdeckt wurde. so daß im Fortgang dieses Jahrhunderts dann Sprach-
schöpfungen und dichterische Wagnisse in der Art Trakls. des späten Rilke
oder des hier vor uns stehenden Celan möglich wurden. Denn nun erwies

I Siehe dazu auch die Deutung des Gedichts im Rahmen meines Beitrags >Der Tod als
Fragee (Ges. Werke Bd. 4, S. 161-172).
460 Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Ce1an

sich die Spätpoesie Hölderlins. dieses blockhafte Sprechen in Anlehnung an


Pindars Hymnenstil. plötzlich als eine großartig kalkulierte. bewußte und
gekonnte dichterische Form. Sie der Sprachzerstärung. die Hölderlins
Wahnsinn gebracht hat. zuzuordnen. war ein uns heute unbegreiflicher
Irrtum. und selbst unter den spätesten Gedichten der Wahnsinnszeit sehen
wir heutzutage eine Gattung von unbeschreiblicher Schänheit2 • Das beweist
nur. daß dichterische Sprache oft schwere Zumutungen stellt. Auch sind
nicht zu allen Zeiten alle Redeweisen dichterisch möglich.
Es gibt ja auch heute die Erfahrung. daß Dichtung nicht mehr )ankomm.t<.
weil die Sprachgewohnheiten unserer Zeit andere Reizmittel verlangen. Das
gilt es für die Würdigung des dichterischen Stils unserer Zeit zu beherzigen.
Wie schon die russischen Formalisten erkannt haben. gibt es Gesetze der
Reizabstumpfung wie der Reizsteigerung durch Kontrast. So hat gewiß die
neue Massenrhetorik. die durch die Massenmedien in unsere Zivilisati~n
eingebrochen ist. an der Einigelung der dichterischen und insbesondere
lyrischen Sprache ins Hermetische. die unsere Epoche bestimmt, einen·
entscheidenden Anteil. Wie soll man heute Sprachgebilde in sich zum Stehen
bringen, so daß man zu ihnen zurückkehrt und sie. je öfter man zu ihnen
zurückkehrt, desto vielsagender werden und auf unsere Fragen antworten?
Um heute Sprachgebilde in sich zum Stehen zu bringen, so daß sie nicht in
die Fluten des informatorischen Geredes eingeschmolzen werden, das über
uns hinwegschwemmt. dazu bedarf es offenb~r ganz anderer. schärferer
Widerstandsbildungen und Herausforderungen, als es etwa in der Zeit Goe-
thes erforderlich war. So mag die Sinnverhüllung hermetischer Poesie wie
eine künsdiche )Verschwierigung< wirken. Aber sie ist zugleich eine Befesti-
gung gegen die Auflösung in den sanften Wellenschlag des temperierten
Radiosprechers. Es gilt etwas aufzubieten. um das dichterische Gebilde in
seiner Forderung zu zeigen und der alles einebnenden Prosaisierung zu
entziehen.
Celan hat sein Äußerstes gegeben. So verlangt er ein Äußerstes und oft
mehr. als wir aufbringen.

2 Siehe meine Laudatio auf Roman Jakobson: R. JAKOBSON/H.-G. GADAMER/E. Ho-


LBNSTEIN. Das Erbe Hege!s. 11. Frankfurt 1984.
38. Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?
(1991)

Als Teilnehmer an dem Heidelberger Celan-Kolloquium 1987 befand ich


mich in der Rolle des Lesers und Liebhabers. Im Kreise von Germanisten.
die ihre wissenschaftlichen Methoden anwandten. um dem schwierigen
Dichter beizukommen. blieb ich der Außenseiter. der freilich nichts anderes
anstrebt. als Gedichte. die ihn anrühren und die ihm etwas sagen. am Text
immer wieder vollziehbar zu machen. Das ist keine Aufgabe der wissen-
schaftlichen Analyse. aber es bleibt am Ende der letzte Akt nach aller
wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kunst. Nun muß man sagen. daß das
Spätwerk Paul Celans. dem der Gedichtzyklus IAtemkristall< angehört.
durch seine kunstvollen Dunkelheiten und den Facettenreichtum seiner
Anspielungen und Andeutungen geradezu danach verlangt. durch Einsatz
wissenschaftlicher Methoden und Kenntnisse und minutiöses Vorgehen der
Schwierigkeit dieser Texte Herr zu werden.
Indessen sollte man nicht vergessen. daß der Leser das Gedicht. diesen
Text. meint. den er vor sich hat. Das gilt für jedermanns Umgang mit dem
Werk auch dieses Dichters. Insofern befolge ich hier nicht etwa eine Iherme-
neutische Methode<. Ich weiß gar nicht. was so etwas sein soll. Ich suche nur
das bewußt zu machen. was jeder Leser im Grunde tut. Ich bevorzuge auch
nicht etwa vor einer semantischen eine phänomenologische Methode. Ge-
wiß ist die semantische Seite eines Celan-Textes von besonderer Bedeutung.
Das kann man gar nicht leugnen. Paul Celan hat selber einmal auf diese
Vielstelligkeit im Gebrauch seines dichterischen Vokabulars ausdrücklich
hingewiesen: Die ))Mehrdeutigkeit« des Ausdrucks trägt Ildem Umstand
Rechnung. daß wir anjedem Ding Schlifffiächen beobachten. die das Ding
aus mehreren Sichtwinkeln zeigen. in mehreren ,Brechungen< und IZerle-
gungen<. die keineswegs nur ISchein< sind. Ich trachte sprachlich wenigstens
Ausschnitte aus der Spektral-Analyse der Dinge wiederzugeben. sie gleich-
zeitig in mehreren Aspekten und Durchdringungen mit anderen Dingen zu
zeigen: mit nachbarlichen. nächstfolgenden. gegenteiligen. Weil ich leider
außerstande bin. die Dinge allseitig zu zeigen.« 1
I Mitgeteilt bei HUGO HUPPERT (.Spirituelk Ein Gespräch mit Paul Celan) in: W.
HAMACHER/W. MENNlNGHAUS (Hrsg.). Paul Celan. Frankfutt 1988. S. 321.
462 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? •

Hier muß ich freilich fragen: Wirklich nicht? Ist es nicht gerade das, was
der Dichter in ihm vermag? Das Gedicht selbst vereinigt immer wieder das
Ganze. Es fUhrt trotz all seinen vielfältigen Bezügen - nein, gerade mit ihrer
Hilfe - zu der Allseitigkeit einer dichterischen Gegenwart. Daß Celan dabei
einer vielstelIigen, gebrochenen Semantik bedarf, kühner Synkretismen und
wortspielhafter Fügungen, ist klar. Es gilt, den einstelligen Pragmatismus
einer vernutzten Alltagsrede hinter sich zu lassen und obendrein - um der
Verdichtung willen - mancherlei Rhetorik aufzugeben. Das macht die neue
Dichtweise aus, die IAtemkristall< auszeichnet. Es geht eben um die Bemü-
hung, daß es ein Gedicht und nicht ein »Genicht« sein soll.
Noch weniger hat es Sinn, hier dem Leser oder Deuter, der versteht, eine
phänomenologische Methode zuzusprechen. Was man so nennt, ist in
Wahrheit nichts anderes, als daß man als Leser der Sprache folgt, die hier
geführt wird und die etwas zur Erscheinung bringt. Eben dieses, was sie
zeigt und sehen läßt, die IPhänomene<, gilt es in sich aufzubauen. Die
semantischen Mittel, mit denen dieses Zeigen erfolgt, muß man als Deuter
gewiß isolieren, aber nur, um sie dann wieder in die Einheit der Rede
zurückzuversetzen. Auch die sogenannte Vielstelligkeit der Worte bestimmt
sichja, wie alle Bedeutung von Worten, aus der Sinneinheit, die das Ganze
der Rede trägt. Auf ihr beruht die Einheit eines Gedichts. Hierfür kann ich
mich abermals auf Celan selbst berufen, wenn er etwa in seiner Meridian-
Rede der Topik mit Bedenken gegenübersteht und ausdrücklich sagt, daß es
sich nicht um den Topos des Steins handeln könne, sondern immer nur
dieses Steins in diesem Gedicht. So bleibt die letzte Aufgabe jedes Lesers,
einen Text wieder zum Sprechen zu bringen. Man meine ja nicht, daß der
sehr differenzierte und nachdenkliche Sinn von Poesie, den Celan in der
Meridian-Rede als sein eigenstes Ziel zu kennzeichnen versucht hat, diese
Aufgabe etwa gegenstandslos oder gar unmöglich machte. Lesen heißt
immer etwas sprechen lassen. Die bloßen stummen Zeichen bedürfen ihrer
Artikulation und Intonation, um das zu sagen, was sie sagen wollen. Man
darf sich hier nicht dadurch beirren lasse11, daß Jacques Derrida in seiner
,Grammatologie< die ecriture zum Modell unbestimmter Vieldeutigkeit er-
hoben hat. Bei Paul Celan ist es die Vieldeutigkeit der Worte selbst, dieser
Stimm-Spuren von Sinn. Lesen bedeutet immer, den Klang und Sinn des
Textes erstehen zu lassen. An diesem Grundphänomen des Sprechenlassens
von Text, an der Grundstruktur der Sinneinheit von Rede, ist auf keine
Weise vorbeizukommen.
Daher ist jeder Aufgliederung semantischer Vielstelligkeit die Aufgabe
gestellt, die Unterordnung der semantischen Bezüge in die Einheitsnorm
des >Hörens< zusammenzufügen. Um es an einem bekannten Beispiel zu
zeigen: Das erste Gedicht von IAtemkristaU< läßt sich in einer semantischen
Analyse so nehmen - da ist von dem Maulbeerbaum die Rede und am Ende,
Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Cclan? 463

daß das jüngste Blatt an diesem Maulbeerbaum »schrie«. Da kann man das
Wort »Maulbeerbaum« von vornherein als eine bloße allegorische Benen-
nung des großmäuligen Geschreis nehmen, das die Stille des lauschenden
Hörens stört und übertönt. Damit sieht man aber an der sinnlichen Erschei-
nung vorbei, die das Gedicht selber mit seinen Worten hervorzuzaubern
weiß, nämlich diesen unermüdlich sprießenden Maulbeerbaum - übrigens
keine künstliche Wortfiigung Celans, sondern als deutsche Bezeichnung
ganz normal und geläufig. Dieser Maulbeerbaum also symbolisiert in der
Tat eine nicht zu bändigende, unermüdliche Triebkraft. Das ist es, was man
sehen muß und was das Gedicht evoziert, um dann sich sagen zu lassen, im
Gang des Gedichts, was dieses Entlangschreiten an Maulbeerbäumen hier
sagen will. Erst muß man sehen, um dann zu verstehen, das heißt die
Transposition vorzunehmen, die am Ende durch Immer-wieder-Lesen sich
als Verstehen des Lobs der Stille vollzieht.
An dieser Vollzugsweise hängt das, was man die Sangbarkeit eines Ge-
dichtes nennen darf. Es ist kein wirkliches Singen. Es ist eher ein Meditieren,
aber auch dies ist wie Gesang. Gesang kann man nur im Mitsingen wirklich
vollziehen. So kann man auch ein Gedicht nur so erfahren, daß es auf seine
Weise ein Lied ist und daß man den Mitvollzug seines Sprechens sich
aussprechen läßt. Es ist ein Mißverständnis, wenn man diese Forderung
etwa dadurch eingeschränkt sehen möchte, daß die seltsam verworfenen
Fügungen Celanscher Texte in diesem Sinn keinen Sinn haben, weil lauter
Spannungen, Widersprüchlichkeiten, Brüche und Kohärenzmängel im Text
selber'erscheinen. Das ist zwar wahr, aber eben das gilt es zu vollziehen und
so zu verstehen, was das Gedicht sagen will. Dieser Sinn ist nicht das Ziel
eines begrifflichen Fazits, wohl aber die unabdingbare Forderung tur alles
Geschriebene, daß es überhaupt Sinn hat, und erst recht gilt es tur einen
Text. der eine dichterische Aussage sein will.
Doch will ich hier keine eigenen Deutungsversuche wiederholen, noch
kann ich auf die einzelnen Beiträge des Kolloquiums eingehen2 • Das steht
mir nicht zu - wenn man mir nur die allgemeine Forderung abnimmt, daß
ein Dichter seine dichterische Welt durch seine Kunst sehen läßt. Die wissen-
schaftliche Analyse mag dann die Kunstmittel selber zum Thema machen
und wird das durch Isolierung und Vergleichung und mit allen möglichen
Methoden und Kenntnissen und Resonanzen zu tun haben. Aber alles dies
doch. um es in einem höheren Artikulationsgrad des Verstehens wiederher-
zustellen.
Es wäre eine ganz andere Aufgabe, nun etwa in die Poetologie der Meri-
dian-Rede einzutreten, wie sie inzwischen in einer die Auseinandersetzung

2 Sie sindjet2t abgedruckt in dem Sammelband von G. BUHR/R. REUSS (Hrsg.), Paul
Celan: »Atemwende •. Materialien. Würzburg 1991.
464 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?

lohnenden Arbeit von Gerhard Buhr vorgelegt worden ist3 , aus der man viel
lernen kann. Aber es wäre ein Irrtum, zu meinen, daß eine so elementare
Wahrheit wie die, daß man Texte zum Reden bringen muß, wenn man sie
verstehen will, von der Thematik der Meridian-Rede irgendwie betroffen
wäre. Gewiß ist die Meridian-Rede im ganzen eine Ästhetik des lyrischen
Gedichts, das Fragen nach dem Verhältnis des Dichters Paul Celan zu seinen
großen Vorgängern ins Spiel bringt. Aber ob man nun einen Text von-
Goethe oder Hölderlin, Mallarme oder Celan liest, die Aufgabe des Lesens
bleibt die gleiche. Das ist der Grund, warum ich selber gestehen muß, daß
ich nur an ausgewählten Beispielen des Celanschen Werkes der Spätzeit in
der Lage bin, sie zu verstehen, das heißt, so in sie einzudringen, daß man sie
in ihrer natürlichen Bedeutungseinheitlichkeit vollzieht.
Ich denke da mit aller Vorsicht an die Erfahrung, die man mit Rilkes
Duineser Elegien machte, die seinerzeit etwas so Ungewohntes waren, daß
sie unzähligen verzerrten Auffassungen ausgesetzt wurden und als dunkel
und unverständlich galten. Da hat uns Kippenberg erzählt, daß Rilke einmal
in Leipzig eine solche Elegie so vorgelesen hat, daß alle Anwesenden sie
einfach und kla: und völlig verständlich fanden. Richtig lesen können ist
schwer. Es verlangt, daß man das richtige Verständnis gewonnen hat.
Aber was hier ,richtig< heißt, ist immer relativ. Auch ein Dichter wird
seine eigenen Gedichte, falls er diese Fähigkeit überhaupt besitzt, immer
wieder anders lesen. Richtig lesen heißt nur, daß der Text in seiner eigenen
Komposition und Bedeutungsdichte in jedem einzelnen seiner Züge voll-
ziehbar wird. Ich möchte nur zu Beispielszwecken nochmals einen Fall aus
IAtemkristall< heranziehen. um den Sinn von lrichtig< zu illustrieren, sowohl
den eindeutigen Sinn des Kriteriums, das da gilt, als auch den relativen
Charakter dieses Kriteriums. Ich wähle das schon öfters auch von mir
behandelte Gedicht 4 , wo der Ausdruck »das Mein-gedicht« vorkommt.
Manche Deuter glauben noch immer, daß hier nicht eine Analogiebildung
zu ,Meineid< gemeint sei, sondern die Nichtigkeit des bloß im privaten
Meinen verbleibenden Gedichts. Nun wird man wohl zugeben, daß nur,
wenn man die Analogie zu ,Meineid< hört, dann der Schluß des Gedichtes,
»unumstößliches Zeugnis«, wirklich ,sitzt<, indem es auf das falsc~~ Zeugnis
solchen »Genichts« zurückweist. Nun darf man sich aber nicht mit der
Vielstelligkeitstheorie trösten, bei des könnte gemeint sein, und sich etwa
gar noch darauf berufen, daß die Verstrennung, die das »Mein-« von »ge-
dicht« trennt, als Zeichen dafür zu nehmen sei, daß das »Mein« auch im Sinn
3 GERHAJU) BUHR, Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst in Celans Rede ,Der
Meridian<. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988), S. 169-208. Dort auch der Hinweis auf das Celan-
wortbeiHuppERT[s. Anm.1J.
4 Vgl. ,Wer bin Ich und wer bist Du?, in diesem Band, S. 42SfF. und die Bemerkungen
dazu S. 464f.
Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? 465

von Privatheit mitgemeint sein sollte. Ich war zufällig bei Paul Celan in
Paris, als ihm diese Fehldeutung. ich glaube aus einer englischen Veröffentli-
chung. den größten Ärger bereitete. Er berief sich natürlich sofort auf
»unumstößliches Zeugnis«.
Das Beispiel habe ich mit Bedacht gewählt. Hier sieht man. daß das
Gedicht seine Aussage behielte, auch wenn man falsch versteht. was hier
»Mein-gedicht« heißt. Aber es wäre ein schlechteres Gedicht. Man könnte
vielleicht noch sagen, es wäre doch im Stile Celans, ein solches Wortspiel
anzubringen. Die Ausrede hilft nicht. Der monumentale Schluß »unum-
stößliches Zeugnis« wäre ohne den inneren Halt. wenn das als falsches
Zeugnis am Anfang stehende »Mein-gedicht« nicht den Halt böte. Die
Einheit der Aussage wäre geschwächt. Das ist das Kriterium, das es bei
dichterischer Rede allein gibt - ein relatives. gewiß, ein variables. wie jede
Intonationsvariation schon zeigt. Bei Celan konnten sogar die im Druck
abgesetzten Versgliederungen variabel sein. wenn er vortrug. Offenbar
kann der Vollzug der Sinneinheit der Rede im Wiedersprechen es verlangen
oder erlauben. Wenn man mir da einwendet: IWas soll das für ein Kriterium
sein? Das hat doch gar keine Beweiskraft( - dann antworte ich: In der Tat.
Gedichte sind keine Rechenaufgabe. Am Ende kann nur der Vollzug des
Sinnes und der sich bewährende Vollzug des Sinnes - für einen selbst wie für
jeden anderen, der es damit versucht - überzeugen. Zu jeder Diskussion
über mögliche Interpretationen gehört daher. daß man es mit der Meinung
des anderen versucht, um am Ende das, was im Text steht, das unumstößli-
che Zeugnis. zu hören.

Nach dem langen Zeitraum seit der Heidelberger Tagung über Celans
IAtemwende( kann ich nicht mehr im einzelnen an das anknüpfen. was ich
damals selber beitrug. Das war ganz aus der Situation entstanden und für sie
bestimmt. Inzwischen liegt ein überwältigendes Material der damals vorge-
legten Studien vor. Mir fehlt die Unbefangenheit. mir darüber Rechenschaft
abzulegen. was die gewaltige Konzentration von Arbeit und gelehrter For-
schung für mich als heutigen Leser bedeutet. Das gilt für mich um so mehr.
als die Konzentration aufdie Gedichtfolge IAtemkristall. auf meinen eigenen
Deutungsversuch vor zwei Jahrzehnten zurückweist. Es liegt in der Natur
der Sache. daß mein eigener Deutungsversuch von damals eine jüngere
Generation dazu herausfordert. ihrerseits an der Deutung dieser verschlüs-
selten Dichtung zu arbeiten und meinen ersten Versuch zum Anlaß zu
nehmen, eine Art Bilanz zu ziehen. Inzwischen ist ja ein reiches Schrifttum
wissenschaftlicher Beiträge zum Verständnis der Dichtungen von Paul Ce-
lan vorhanden. und ihnen gegenüber gilt gewiß vor allem sich zu fragen,
was da geleistet worden ist und was hier geleistet worden ist. Sie alle haben
auf ihren Wegen Schlüssel gesucht und glauben Schlüssel gefunden zu
466 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?

haben. wie dies oder jenes Celansche Gedicht aufzuschließen ist. Da kommt
man sich als einer der ersten Leser und Deuter etwas seltsam vor. Mein
Büchlein war wirklich der Kommentar eines Lesers. der beim Lesen helfen
wollte. und erhob keine wissenschaftlichen Ansprüche.
Im Umgang mit Kunst und vor allem mit Dichtung haben wir es freilich
fast immer mit einem Zwischen von wissenschaftlicher Untersuchung und
unmittelbarer verstehender Reaktion zu tun. Nicht umsonst hat in anderen
Ländern die Literaturwissenschaft den Namen >Wissenschaft( überhaupt
gemieden und sich begnügt. sich >Criticism( oder >Lettres( zu nennen. Das
will gewiß nicht besagen. daß nicht auch Dichtung unter den Maßstab von
Richtigkeit der Deutung gestellt werden muß. Freilich wird man sich nicht
auf einen geradlinigen Fortschritt auf eine letzten Endes richtige Deutung
hin einigen können. Aber immerhin können jüngere Forscher gar nicht
anders. als Fortschritte ihrer Wissenschaft in Anspruch zu nehmen. und
tatsächlich gibt es eine wahre Hochflut .von Forschungsmethoden und For-
schungsresultaten. auf die man sich heute berufen kann. wenn es um Celan
geht. Doch ist es nicht in erster Linie diese Perspektive. unter der die
Deutungsgeschichte eines solchen dichterischen Werkes steht. Der Maßstab
der Fortschritte der Forschung ist nicht der wichtigste in diesem Betracht.
Was man heute Rezeptionsästhetik nennt. wiegt schwerer. Da geht es um
den Wandel der Erfahrungsweise selber. den Niederschlag der inzwischen
erworbenen Welterfahrung und Kunsterfahrung. um den Wechsel der Sen-
sibilität und des Fragenpotentials. die sich im Aufnehmenden auswirken.
Nicht zuletzt tritt dazu - gerade auch im Falle Celans - der eigene Stilwandel
des Dichters. in dem sich seine tragische Lebenskurve spiegelt. wofür kürz-
lich Giuseppe Bevilacqua einen einleuchtenden Beitrag geliefert hats.
>Atemkristall( eröffnet einen neuen Stil. Sehr kurz gehaltene Gedichte und
eine dem Kryptischen sich nähernde Dichtweise: das fand damals manchen
bisherigen Celan-Leser hilflos. Manchen an das Melos der frühen Versbände
gewohnten Leser ließ dieses Büchlein das Melos vermissen. das die Einheit
der dichterischen Aussage zum Sprechen brächte. Meinerseits folgte ich
damals dem Weg. zu dem. wie ich später sah. der Dichter selber immer
wieder geraten hat: »Nur lesen. immer wieder lesen. (( Das kann nicht ganz
wörtlich gemeint sein. Celan hat sich oft genug. wenn er Mißdeutungen
begegnete, darüber beklagt, warum man sich nicht im Lexikon Auskunft
geholt habe. Offenbar unterschied Celan bewußt zwischen dem. was man
durch das Hören auf das Gedicht erfahren kann. so wie ich es damals lange
Sonnentage hindurch in den holländischen Dünen meditierend versucht
habe - und auf der anderen Seite steht das, was man wissen kann und was
man wissen muß. Ein Poeta doctus wie Celan weiß nun kaum. was man

.s GIUSEPPE BEVllACQUA, Celans Orphismu5. In: Celan-Jahrbuch 1 (1987), S. 127-139.


Phänomenologischer und semamischer Zugang zu Celan? 467
wohl bei ,einem Leser voraussetzen kann und was nicht. Deswegen ist der
Griff zum Lexikon verständlich.
Indessen muß man sich doch auch fragen, wieviel eigentlich darauf an-
kommt. Vielleicht nicht ganz so viel, wie man von unserer wissenschaftli-
chen Erziehung aus denken möchte. Bei all den unzähligen Bereicherungen
unseres Wissens, die wir neuen Erkenntnissen verdanken, gewinnen wir in
solchem Falle vielleicht oft nicht allzu viel. Ich berufe mich auf meine eigenen
Erfahrungen. Es ist mir in einigen Fällen ganz fraglos, daß ich Wichtiges
nicht wußte, so daß ich in der zweiten Auflage meines Kommentars mich in
zwei Fällen berichtigen mußte. In dem einen Fall war es nicht einmal meine
eigene Schuld, sondern vielleicht die des Setzers oder Druckers, dessen
Fehler Celan selber erst später entdeckte und mit Seelenruhe hinnahm.
Wenn dort lIHimmelssäure« zu lesen stand und »Himmelsmünze« gemeint
war, so scheint dies ein unglaublicher Unterschied. Und doch ist es vielleicht
noch nicht einmal ein Druckfehler gewesen, sondern eine echte Variante im
Text selber6 • So ganz falsch war jedenfalls das Verständnis des Gedichtes
nicht geworden, bei der einen wie bei der anderen Lesart.
Ein anderer Fall ist der, wo mir selbst aus Unkenntnis eine Mißdeutung
unterlaufen war. Ich kannte den Sinn von »Harnischstriemen« nicht als
einen geologischen Fachausdruck. So mußte ich mich später korrigieren.
Aber für die Deutung des Gedichts im ganzen folgte auch in diesem Falle
kein totales Umle~nen7. So wird es wohl im allgemeinen so sein, wenn man
das eine oder das andere falsch versteht, aber hingehört hat, dann hat man
vielleicht doch mehr verstanden, als wenn einer das genaueste Wissen mit-
bringt und an dem Ganzen vorbeihört. Es stellt sich immer wieder die Frage:
Was muß der Leser wissen?
Ich will mich nicht wiederholen und verweise auch hier auf meinen
Kommentar, wo ich aus Anlaß eines nachgelassenen Aufsatzes von Peter
Szondi zur Sache gesprochen habeR. Sicherlich ist nicht die Frage: Was muß
der Leser alles wissen? Es versteht sich von selbst, daß dem, was man wissen
kann, die Wissenschaft nachgehen wird. Die Frage ist aber, ob, um ein
Gedicht zu verstehen, es als Gedicht zu erfahren, man bei manchem schei-
tert, weil man etwas nicht weiß. Das gilt im besonderen Ausmaß überall
dort, wenn - wie bei einem Dichter wie Paul Celan - der gemeinsame
Hintergrund europäischer Bildungskultur ein wesentliches Element ganz
vermissen läßt. Das ist im Falle Celans die Präsenz der jüdischen Mystik und

6 Vgl. in diesem Band, S. 392ff. Siehe dazu auch S. 144ff. der revidierten und ergänz-
ten Ausgabe in der BIBLIoTHEl( SUHRI(AMP Bd. 352 (Frankfurt 1986). In der ersten Auflage
(1973) ließ ich damals sogar heide Texte nebeneinander drucken. weil der fehlerhafte Text
mit IlHimmelssäure. vielen Lesern der einzig bekannte war.
1 Siehe meinen Kommentar. in diesem Band. S. 419ff.
8 In diesem Band. S. 436ff.
468 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Cdan?

des osteuropäischenJudentums überhaupt. Beides hat Paul Celans poetische


Imagination zweifellos belebt. Gewiß kann man manches durch eigene
Lektüre erwerben, und so habe auch ich Scholem gelesen. Aber da sind mir
andere Interpreten an Wissen sicher weit voraus - insbesondere ein so
kenntnisreicher Leser wie Otto Pöggeler, der diesen Schlüssel der jüdischen
Tradition besonders oft in die Hand nimmt. Im Fall der ,Atemwendec als
Ganzes kann ich ihm aber kaum je folgen, wenn er aus diesem Bereich
Wissen ins Spiel bringt. Es scheint mir doch etwas zu besagen, daß ich, ~ie
mancher andere Leser, den Gedichtzyklus >Atemkristall( gut zu verstehen
glaubte, ohne von da aus etwas zu wissen oder zu vermissen. Ich könnte
Gründe angeben, warum das besonders in dieser Gedichtfolge so sein kann.
Ich erinnere nur an das Widmungsgedicht, das in Klammern steht.
Pöggelers Unterscheidung von Goethescher Symbolik und Celanscher
Allegorik schafft meines Erachtens keinen wirklich überzeugenden Gegen-
satz9 • Es hängt von der Art der Texte ab, was man wissen muß und was man
nur auch wissen kann. Man soll gewiß nicht übertreiben, aber bei einem
wirklichen Gedicht, das seine Gestalt als Ganzes hat, wird Klanggestalt und
Sinngehalt von Resultaten wissenschaftlicher Erkenntnis mehr oder minder
unabhängig bleiben. Man denke nur an die Grade von Verstehen, die etwa
Mozarts >Zauberflötec für das Textverständnis erlaubt1o, oder auch an die
,Textbücher< der griechischen Tragödie.
Darf ich zum Schluß zur Illustration einen Beitrag heranziehen, in dem
von den "Fadensonnen« die Rede ist? Mir schien es als Leser völlig klar, daß
das Gedicht das große Himmelsschauspiel beschreibt, wenn die Sonne durch
eine Wolkenwand hindurchscheint, so daß, wie die Leute sagen, die Sonne
,Fäden zieht( (ähnlich wie wenn umgekehrt es ,Bindfäden regnet(). Der
gelehrte Beitragl l bringt nun ein Instrument zur Kenntnis, den )Fadenson-
nenzeiger(. Der Autor vermag damit den Sinn des Wortes "Fadensonne«
literarisch zu belegen. Er hat ihn also nicht vom Blick auf den Himmel oder
dem Volksmunde abgelesen. Immerhin, die Parallele zeigt. daß die früher
geäußerten sonderbaren allegorischen Erklärungen von der abgemagerten
Sonne durch den beigebrachten Beleg auch wissenschafdich abweisbar ge-
worden sind. Aber daß der Dichter an diesen Zeiger gedacht haben soll, oder
gar. daß der Leser daran denken soll - das scheint mir völlig abwegig.
So möchte ich unter Ausdruck des Dankes rur das viele. was ich auf der
Tagung in Heidelberg lernen konnte, zugleich auch den Wunsch ausspre-

9 Vgl. dazu auch die Nachbemerkung zu meinem Kommentar, .Hermeneutische


Methode?, in diesem Band, S. 449f.
10 Näheres dazu in ,Vom geistigen Lauf des Menschen(, Teil2. in diesem Band.
s. SOff., sowie in .Goethe und Mozart - das Problem Open, S. 112ff.
11 PITliR KÖNIG. Der Fadensonnenzeiger. Zu Paul Celans Gedicht .Fadensonnen •. In:
BUHR/REuss [so Anm.2]. S. 35-51.
Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? 469

ehen, man möchte aus dem schönen Beitrag, den Peter Horst Neumann zum
Liedbegriff auf der Tagung geliefert hat l2 , in der Deutungspraxis recht viel
Gebrauch machen. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß im Spätwerk Celans
das Liedhafte nicht mehr so dominant scheint. Aber heißt das, daß man
Kreuzworträtsel zu lösen hat? Mir jedenfalls ist bei den wenigen Gedichten
der Spätzeit, die ich wirklich ganz verstehe, die Einheit des Melos wiederum
unverkennbar, das das Gedicht im ganzen durchtönt. Ob wir alle noch zu
sehr Anfänger im Hören dieser Dichtung sind? Sollte man nicht auf anderes
einen Schluß ziehen und wie Sokrates über Heraklit urteilen: •• Was ich
verstanden habe, ist vortreffiich, und so wird es wohl mit dem anderen auch
so sein. Freilich bedarf es eines Meistertauchers, den Schatz ans Licht ZU
bringen.«

12 Vgl. jetzt PETER HORST NEUMANN, Lieder jenseits der Menschen: das Motiv des
Singens bei Celan und in neuerer deutscher Poesie. In: H. DANuSER u. a. (Hrsg.), Das
musikalische Kunstwerk (FS earl Dalhaus). Laaber 1988, S. 767-776.
Bibliographische Nachweise
Genannt sind nur die Erstveröffentlichungen. Die Beiträge selbst erscheinen in überarbei-
teterForm.

1. Hölderlin und die Antike.


Erstdruck in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag. Hrsg. von Paul
Kluckhohn. VerlagJ. C. B. Mohr (paul Siebeck) Tübingen 1943, S. 50-69.

2. Hölderlin und das Zukünftige.


Vortrag 1943 an der Teclmischen Hochschule in Darmstadt. Die rur die Zeitschrift
.Die Antike< vorgesehene Veröffentlichung war wegen der den Schluß bildenden
Verse nicht mehr möglich. Erstdruck in: Beiträge zur geistigen Oberlieferung.
Verlag Helmut Küpper Bad Godesberg 1947, S. 53-85.

3. Die Gegenwärtigkeit Hölderlins.


Erstdruck in: Hölderlin-Jahrbuch Bd. 23 (1982/83), S. 178-181.

4. Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken<.


Beruht aufTeilen eines Vortrags anläßlich der zweiten Tagung der Martin-Heideg-
ger-Gesellschaft in Meßkirch am 26. September 1987. Erstdruck unter dem Titel
•Von der Wahrheit des Wortes. in: Denken und Dichten bei Martin Heidegger
(Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1988). Privatdruck Meßkirch 1988.
S.7-22. Den Rahmen bildet ein bisher unveröffentlichter Beitrag, der für das
Hölderlin-Kolloquium 1987 in Yale gedacht war.

5. Goethe und die Philosophie.


Vortrag vor der Goethe-Gesellschaft Leipzig im November 1942 im Rahmen der
Goethe-Woche. Zuerst veröffentlicht als Nr.3 der Humboldt-Bücherei im Volk
und Buch Verlag Leipzig 1947 (33 S.).

6. Goethe und die sittliche Welt.


Nach dem Text eines Rundfunkvortrags von 1949. Erstdruck in: Kleine Schriften
Bd.lI: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1967,
S.97-104.

7. Vom geistigen Lauf des Menschen - Studien zu unvollendeten Dichtun-


gen Goethes.
Die Studie über .Prometheus. und .Pandora. wurde 1948 Kurt Steinmeyer zum
60. Geburtstag überreicht. Ihr liegt ein Leipziger Vortrag von 1944 zugrunde. Die
Studie über die .Zauberflöte< geht auf einen Leipziger Vortrag 1947 zurück. Zuerst
472 Bibliographische Nachweise

als eigenständige Veröffentlichung erschienen im Verlag Helmut Küpper Bad Go-


desberg 1949 (56 S.).

8. Goethe und Mozart - das Problem Oper.


Vortrag in der Alten Aula der Universität Heidelberg am 10. Juli 1991. Erstdruck in:
Mozarts Opernfiguren. Grasse Herren, rasende Weiber - gefahrliche Liebschaften.
Hrsg. von Dieter Borchmeyer (Facetten deutscher Literatur. St. Galler Studien
Bd. 3). Paul Haupt-Verlag BernlStuttgartlWien 1992, S. 233-245.

9. Das Türmerlied in Goethes )Faust(.


Erstveröffentlichung unter dem Titel )Zwischen Ferne und Nähe - Goethe lesen< in:
Neue Zürcher Zeitung, 203.Jg., Nr.64 (Fern ausgabe) vom 19. März 1982,
S.35-36.

10. Die Natürlichkeit von Goethes Sprache - ein Kongreßbeitrag.


Vortrag auf dem Einladungssymposium, das am 25./26. März 1982 in der Aula der
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main stattfand. Erstdruck
in: Allerhand Goethe - seine wissenschaftliche Sendung. Aus Anlaß des 150. Todes-
tages und des 50. Namenstages derJohann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frank-
furt am Main. Hrsg. von Dieter Kimpel und Jörg Pompetzki. Verlag Peter Lang
Frankfurt/Bern/NewYork 1985, S. 45-57.

11. Bach und Weimar.


Rede, gehalten bei den vom Kulturamt der Stadt Weimar veranstalteten Bach-Tagen
im März 1946. Zuerst erschienen als eigenständige Ver5ffendichung im Verlag
Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar 1946 (155.).

12. Prometheus und die Tragödie der Kultur.


Vortrag vor der Dante-Gesellschaft in Dresden 1944.
Zuerst erschienen mit leichten Kürzungen in: Die Wandlung 1 (1946), 5.600-611.
Vollstilndige Fassung dann in der Festschrift RudolfBultmann zum 65. Geburtstag.
Kohlhammer-Verlag Stuttgart/Köln 1949, S. 74-83.

13. Der Gott des innersten GefiihIs.


Erstdruck in: Neue Rundschau 72 (1961), S.34O-349 mit der Widmung: Gustav
RudolfSellner zum Abs~hied von Darmstadt.

14. Vergänglichkeit.
Geschrieben für das Programmheft (S. 11-16) der Hamburgischen Staatsoper anläß-
lieh der UraufRihrung) Vergänglichkeit( - Musik von Dieter Schnebel, Theater- und
Bildversionen von Achim Freyer - am 12. Mai 1991.

15. Karl Immermanns )Chiliastische Sonette(.


Erstdruck in: Neue Rundschau 60 (1949), S. 487-502.
Bibliographische Nach weise 473
16. Zu Immermanns Epigonen-Roman.
Entstanden 1947. Erstdruck in: Auf gespaltenem Pfad. Festschrift für Margarete
Susman. Hrsg. von Manfred Schlösser. Erato-Presse Darmstadt 1964, S. 254-273.

17. Gesang Weylas.


Erstdruck in: Ver.lust und Ursprung. Festschrift f'lir Wemer Weber. Mit Beiträgen
zum Thema »Et in Arcadia ego •. Hrsg. von Angelika Maass und Bernhard Heinser.
Ammann Verlag Zürich 1989, S.169-173.

18. Der Dichter Stefan George.


Gedenkrede zum 100. Geburtstag von Stefan George am 12.Juli 1968 an der Univer-
sität Heidelberg. Erstdruck in: Ruperto-Carola, 2O.Jg., Bd.45 (Dezember 1968),
S. 102-111. Sowie in: Duitse Kroniek 20 (1968), Nr. 4, S. 126-148.

19. Hölderlin und George.


Vortrag am 8.Juni 1968 auf der Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in
Düsseldorf. Erstdruck in: Hölderlin-Jahrbuch Bd. 15 (1967/68), S.75-91. Eine er-
weitene Fassung ist aufgrund eines Vortrags auf dem Kölner George-Kolloquiul1l
vom 30. September bis 6. Oktober 1968 zuerst erschienen in: Stefan George Kollo-
quium. Hrsg. von Eckhard Heftrich/Paul Gerhard KlussmannlHans-Joachim
Schrimpf. Wienand Verlag Köln 1971, S. 118-132 (mit Diskussion S. 133-137).

20. Ich und du die selbe seele.


Entstanden 1972. Erstdruck in: Poetica. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1977, S. 69-76.

21. Der Vers und das Ganze.


Festvortrag zur Eröffnung des George-Seminars in der Stadthalle Bingen am 7.Juli
1978. Erstdruck in: Das Stefan-George-Seminar 1978 in Bingen am Rhein. Eine
Dokumentation, herausgegeben von der Gesellschaft zur Förderung der Stefan-
George-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e. V. Hrsg. von Peter
Lutz Lehmann und Robert Wolfr. Lothar Stiehm Verlag Heidelberg 1979, S. 32-39.

22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft.


Vortrag auf einem von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist.
Klasse, am 3. Dezember 1983 veranstalteten Symposium anläßlich des 50. Todesta-
ges von Stefan George. Erstdruck unter dem Titel ,Stefan George (1868-1933), in:
Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Hrsg. \'on
Hans-Joachim Zimmermann (Supplemente zu den Sitzungsberichten der HeideI-
berger Akad. d. Wiss., Phil.-hist. KI.,Jg. 1984, Bd. 4). Carl Winter Universitätsver-
lag Heidelberg 1985, S. 39-49.

23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins - zu dem Buch von Romano
Guardini.
Rezension zu: Romano Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine
Interpretation der Duineser Elegien. München 1953. In: Philosophische Rundschau
2 (1954/55), Heft 112, S. 82-92.
474 Bibliographische Nachweise

24. Poesie Und Interpunktion.


Erstveröffentlichung in: Neue Rundschau 72 (1961), S. 143-149.

25. Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien.


Vortrag auf einem Mainzer theologischen Ferienseminar, Oktober 1966. Erstdruck·
in: Kleine Schriften Bd. II: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
Tübingen 1967, S. 194-209.

26. Rainer Maria Rilke nach 50 Jahren.


Vortrag anläßlich der Feier des 100. Geburtstags von Rainer Maria Rilke am 6. De-
zember 1975 im Saal der Deutschen Bank zu Frankfurt am Main. Erstdruck in: Insel-
Almanach auf das Jahr 1977: Rainer Maria Rilk.: 1875 bis 1975. Eine Dokumenta-
tion. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1976, S. 61-78.

27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung H.


Erstdruck innerhalb des Beitrags ,Das Gedicht zwischen Autor und Leser: Zwei
Doppelinterpretationen, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken,
2O.Jg., Heft 5 (Mai 1966), S. 440-442. Und in: Doppelinterpretationen. Das zeitge-
nössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser. Hrsg. u. einge!. von Hilde
Domin. Athenäum-Verlag Frankfurt/M. 1966, S. 195-197.

28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr.


Laudatio anläßlich der Verleihung des Droste-Preises an Hilde Domin in Meers-
burg, Mai 1971. Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung, 192.Jg., Nr. 215 (Fernausga-
be) vom 18. August 1971, S. 37-38.

29. Die Höhe erreichen - Hilde Domins Frankfurter Poetik-Vorlesungen.


Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung, 209.Jg., Nr.281 (Femausgabe) vom 2. De-
zember 1988, S. 45-46.

30. Gedicht und Gespräch - überlegungen zu einer Textprobe Ernst Mei-


sters.
Vortrag beim vierten Lyrikertteffen in Münster, 1985. Erstdruck in: Lyrik - Erleb-
nis und Kritik. Hrsg. von Lothar Jordan/Axel Marquardt/Winfried Woesler. S.
Fischer Verlag Frankfurt/M. 1988, S. 314-326.

31. Ernst Meister, Gedenken V.


Erstdruck unter dem Titel ,Das Blatt zwischen uns, in: Bilder und Zeiten. Beilage
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Februar 1977, S. 4. Dann aufgenom-
men in den 3. Band der Frankfurter Anthologie: Gedichte und Interpretationen.
Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1978, S. 203-206.

32. Denken im Gedicht.


Erstdruck in: Franz Bemhard, Der Kopf· Zeichnungen. Mit Beiträgen von Hans-
Georg Gadamer und Erich Thies. Hrsg. von Erich Thies. Edition Cantz Stuttgart
1990, S. 7-11.
Bibliographische Nachweise 475

33. Kafka und Kramm.


Vortrag anläßlich einer erneuten Ausstellung von Kramms Kafka-Zyklus 1988 im
.Sole d'Oro. in Heidelberg. Erstveröffentlichung im Ausstellungskatalog: Willibald
Kramm, Kafka und die 50er Jahre. Hrsg. von Riccardo Dottori. Verlag Mazzotta
Milano 1991, S.26-32.

34. Verstummen die Dichter?


Erstdruck in: Zeitwende 41 (1970), S.344-352. Der vorliegende Wiederabdruck ist
um die Celan-Interpretation gekürzt worden, diejetzt als Teil von Nr. 36 erscheint.

35. Im Schatten des Nihilismus.


Erstdruck teilweise in: Cultural Hermeneutics of Modem Art. Essays in Honor of
Jan Aler. Hrsg. von Hubert Dethier und Eldert Willems. Rodopi-Verlag Amster-
dam 1989, S.233-244. Erweitert um die Interpretation von Celans .Schlußgedicht.,
als Beitrag zum Celan-Symposium in Seattle, Oktober 1984, zuerst erschienen in:
Argumentum e Silentio. Internationales Paul-Celan-Symposium. Hrsg. von Amy
D. Colin. Verlag Walter de Gruyter Berlin/New York 1987, S.58-71. Erstveröf-
fentlichung der erweiterten Fassung in der vorliegenden Form in: Gedicht und
Gespräch. Insel-Verlag Frankfurt/M. 1990, S. 91-tt4.

36. Wer bin Ich und wer bist Du? - Kommentar zu Ce1ans Gedichtfolge
.Atemkristallc.
Zuerst erschienen als Band 352 der Bibliothek Suhrkamp Frankfurt/M. 1973
(134S.). Revidierte und ergänzte Auflage 1986 (156S.). In den vorliegenden Band
sind die Vorworte und der Abschnitt .Lesarten. der revidierten und ergänzten
Auflage nicht mit aufgenommen worden. Interpretationen einzelner Gedichte des
Zyklus .Atemkristall. sind schon vorab erschienen, so in der Festschrift rur Heinrich
Schlier, hrsg. von Günther Bornkamm und Karl Rahner, Herder-Verlag Freiburg
1970, S.306-312; in: Zeitwende 41 (1970), S.346-349; in der Neuen Zürcher
Zeitung, 192.Jg., Nr. 15 (Femausgabe) vom 17.Januar 1971, S.49-50. Die Stel-
lungnahme zu Peter Szondis Cdan-Interpretation .Eden. ist zuerst ers1chienen in der
Neuen Zürcher Zeitung, 193.Jg., Nr.304 (Femausgabe) vom 5. November 1972,
S.53.

37. Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan.


Erstdruck in: Zeitwende 46 (1975), S. 321-329.

38. Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?


Beitrag zum Symposium ,Paul Celan: .Atemwende. - In-Frage-Stellung der Inter-
pretationen., das vom 16.-19. September 1987 im Internationalen Wissenschaftsfo-
rum der Universität Heidelberg stattfand. Nachträgliche Fassung flir den Erstdruck
in: Paul Cdan: .Atemwende•. Materialien. Hrsg. von Gerhard Buhr und Roland
Reuß. Verlag Königshausen & Neumann Wurzburg 1991, S. 3tt -317.
Namen

Bei häufig behandelten Autoren sind in kursiver Schrift die Ticel der imerpretierten Werke
beigegeben; die Titel einzelner Gedichte sind in Anführungen gesem.

Adomo 330, 448 Buhr,G.464


Aischylos30, 35, 81, 85, 87,150,155-158, Bultmann, R. 122,294
172,278 Burckhardc,]. 261, 391
Allemann, B. 434 Busch, F. 112
Andreae214 Byron 152
Ariscoceles 60, 135, 252, 255, 402 f.
Auguscin254, 375, 402 Calder6n 74,116,272,409
Ca mus, A. 333
Bach 142-149, 249,330, 454 Carove 184 f.
Bachmann, 1. 331 Cassirer, E. 82, 241
Bachofen 101 Celan, P. 216, 331, 335,363,367 f.,
Balzacl93,195 370-382,383-451,452-460,461-469
Bang, H. 309 - Atemkrista//383-427, 433, 435, 444-450,
Beckecc, S. 309 461-469
B'eethoven 124, 144, 146,249 - .Blume,431-434
Beißner, F. 2, 6,13.17,27,28,43,230,243 - .D" liegst im gO'oßen Gel<ll<sche, 436-440
Benjamin, W. 392, 449 - •Tenebrae, 379, 408, 452-459
Benn, G. 40, 216, 335, 367-370, 371 f., 375 - .Todtnauberg,375-378
Bense, M. 447 - •Wirk nicht "oraus' 371-375, 378 f., 382
Bergscraesser 214 - Der Meridial1378, 381,388,407,421 f.,
Bercaux, P. 41 431,446, 448 f. , 462, 464
Bertram, E. 214, 259, 263 Cervames 196
Bevilacqua, G. 466 Cezanne, P. 315, 379
Binder, W. 45 Curcius, E. R. 127,260
Blumenthal214
Bobrowski 363-366 Dame 74, 144, 190,239,252,267
Boccaccio 82 Derrida,]. 339, 462
Boeckh, F. A. 378, 430 Dickens 193, 195, 204, 354
Böhm, K.1l2 Dilchey60, 129, 196, 259, 264f,
Boehringer, R. 214, 220 Dionys v. Halikamass 230,239
Böll,H.367 Dionysos 8 ff. , 40, 89, 91, 97,191,231,
Bollack 394, 448 294,369,417
Börne72 Domin, H. 320-322, 323-328,329-334
Bovillus82,241 Dostojewskij 193, 355, 367
Brechc442 Doccori, R. 355
Bröcker, W. 286
Brod,M.353,357 Eich, G. 331, 395, 430
Bruckner, A. 146 Eichendorff220
Bücher, R. 431 Elioc, T. S. 47
478 Namen

Engels, F. 204 - WilhchnMeister77,I04,139,182,194f.,


Enzensberger 333 1%,198,200
Euripides 409 - Faust75, 77, %,102, 105f., 110f., 119,
122-127,135, 139f., 188
Feuerbach 199 - West-östlicher Divan 75, 77 f., 128, 253,
Fichte 4f., 45, 56, 58, 66,133, 186ff. 306,383,459
Fiedler, K. 232 Gogol193
Flaubert193,195 Gorki193
Flimer, W. 90 Grass, G. 367
Fontane 193 Grillparzer 197
Freiligrath 206 Guardini, R. 11, 163,271-281,289,291,
Freycag,G.182,195 313
Friedemann, H. 268 Gundolf, F. 212, 214, 217, 220f., 224, 251,
Friedländer, P. ISO, 261, 268f. 259,268
Friedrich, C. D. 44, 407
Furtwängler, W. 330 Haller, A. v. 335
Hamann,j. G. 337
George, Sc. 21, 39, 42, 72,122, 128f., Hamlin, C. 45f.
131f.,I83,186,191,211-228,229-244, Hauptmann, G. 125
245-248,249-257,258-270,284,308, Hebbel,F.186,197,253
335,367,371,380,398,433;G.und Hebel,]. P. 178 .
Maximin212, 225f., 231 f., 235f., 251, Hegel9, 19,42,45,56,58, 66ff., 79, 127,
253 144, 148f., 185ff., 188,19Of., 196,199,
- Blätterfiirdie Kunst 211 f., 218, 231, 243, 206, 252f., 255, 257, 265, 281, 306, 381,
250,256 430
- Algabal223 Heidegger 42 ff. , 48ff., 53, 55, 122, 131,
- DasJahrder Seele 222, 224, 237, 241, 262,306,343,357, 375 ff. , 386, '456
345 ff., 264 f. Heine 73, 197
- Der Teppich des Lebens 218, 222, 224, Hellingrath, N. v. 2, 21, 39, 42f., 130, 221,
237,265 229-234,239f.,262,459
- Der Siebente Ring214, 226f., 230, 235, Henkel, A. 94, 139f., 162, 262
243 Henrich, D. 43ff.
- Der Stern des Bundes 220, 225f., 235, 237, Heraklit 379,404,409, 469
250f.,264 Herder24, 59, 69f., 74,131 f., 229f.,
- Das Neue Reich 227 f., 234, 343 373
Georgiades, Th. 113ff., 124 Herodot153
Gide, A.160 Hesiod3O, 81, 89, 91,150,152-156,254
Goethe I, 20, 22f., 39, 56-71, 72-79, Hesse, H. 367
80-111,112-121,122-127,128-141, Hildebrand, A. v. 232
143ff.,148f., 159f.,178, 182,188,190, Hildebrandt, K. 214, 268 f.
193-197,199,215,219, 229 f. , 238, 241, Hildeshc::imer, W. 138
249,253,258,262 f., 306, 333, 439, Hofmannsthai, H. v. 131, 178 f., 211 f.,
449 f., 459 f., 464, 468 220,335,367
- Dichtung und Wahrheit 57,74, 83f., 87, Hölderlin 1-19, 20-38, 39ff., 42-55,
197 72-75,114,122, 13Of., 137, 162f., 170,
- PrQmetheus (Ode) 80-84, 159, 436 175,186,19O,210,220ff.,227,229-244,
- Prometheus (Drama) 80,84-88, 9Of., 140, 249, 252f., 262, 271, 294, 308, 326, 335,
436 337,366,429,432,442,455, 459f., 464;
- Pandora 75, SO, 86, 89-93, 160, 459 H. und Diotima 233 ff.
- Der ZauberjIöteanderer Teil 80,93-96, - ,Saturn undJupitert 35
101-111,112-121 - Hypcrion2,4,21,4O,48ff., 54,234
Na\1len 479
- ,Bro/und Wein< 4, 9f., 13-17,23-28,39, Landmann, P. 214
45,242,252 Laotse231
- ,DerEir!zige<2ff.,8ff., 14, 18,42,53, Leibniz60, 147f.
175,190 Lepsius, S. 216
- ,Versöhnendm7, 9, 10,13,16,17,29,55 Leskow193
- ,Pa/mos, lOff., 16, 18, 28f., 175,455 Lessing82, 134, 143
- ,Der Rheind8, 3Off. Lukacs, G. 265, 307
- ,Am Quel/der Donau' 16ff., 240 LutherI7,136,143f..220.258
- Boehlendorffbrief6, 28 Lykurg254
- ,Andenken< 42-55
- ,Der Muller Erde' 16, 210, 241 ff. Mallarme 212,219,230,308,378,380,
~oßlerI9, 144, 153,202,231,254,258, 431,434,448,464
294, 319, 321f., 333, 449 Mann, Th. 131, 162, 193,367
Horaz 132, 219, 239, 246f. Marees, H.v. 232,379
Marx,K.199
Mayer, H. 193
Ißlmennann 180-192,193-206,209, Meinecke, F. 128
253 Meister, E. 179,335-346,347-348,
- ,Chilias/is,heSonel/etlSO-186, 188f., 349-352
19Of.,197
Mendelssohn, F. 145
- Die Epigonen 182, 185, 196-206 Mendelssohn, M. 82
- Mün,hhausenI82,197,199f.,203,205 Memzel, W. 72
- ,Merlin< 186-190,197,209 Milojcic 391
Milton252
Jacobi, F.~. 59, 82f. Moissi, A. 122ff.
Jacobsen,J.P.309 Molierc 162-166,170
Jahn,0.116 Momeverdi 113
Jakobson, R. 436, 460 Morenz, S. 97
Jaspers 73f., 127, 139 Mörike 186, 207-210,253
JesusChristus3. 8-16, 24, 47, 174ff., Moritz, K. Ph. 133f.,137
183f..189,228,244,252,314,374.411, MozanSO, 93-101 (Zauberjlö/eJ, 103,
453-458 108f.,II1,112-121,468
Joachim-Dege. M. 39 Müller, A. 162
Joyce,J.193,309,367 Musil, R. 131,367

Natorp214
Kafka 353-361, 450 Neumann, P. ~. 469
Kaiser, G. 207 ff. Nietzsehe I, 21, 40, 46, 55, 68ff., 150, 160,
Kant4, 56, 58. 61-66,68, 78f., 133f., 136, 186,191.214,231, 253f., 261,263,
247,307,314,332, 335.403f.,443 266ff.• 294,309.314.340,370
Kantorowicz, E. 214. 267f. Novalis 21.24. 174, 186
Kassner. R. 274, 312 Nypels. A. 445
Keller. G. 193ff.
Kierkegaard 74, 127, 139, 175,357,385 Otto. R. 421
Kippenberg 311,464 Otto, W. F. 261, 294
Kleist,~. v. 1.73, 162-170 (A",phi/ryoIIJ,
177,253.283 Palm. E. W. 129.262.331
Klingner, F. 261 Parmenides 173
Klopstock 74.230,232,233 Pascal 345
KommereII, M. 12,72. 162,215,262 Jean Paull, 194.206
Kramm. W. 353-361 Petersen 213 f.
480 Namen

Picasso 379f. Scholem, G. 468


Pindar2, 9, 17f., 51,173, 221, 229f., Sch6nberg, A. 371, 380
233f., 239,246, 262, 273,409, 460 Schopenhauer357
Platen, A. v. 183 Schuben,F.120,124
Plato44,70, 85, 158,252,254,257,261, Schubert, G. H.185
267ff., 270,279,338,340,344 Schürer, O. 44, 260
Plautus 163 Schütz:, H. 144
PniQwer, O. 87 Scott, W.206
Pöggeler, 0.398, 446f., 449, 468 Seidlin, O. 94
Pound,E.47 Shaftesbury 83, 159,241
Prometheus 30, 35 f., 78, 81-93, 140, Shakespeare115f.,I44, 202, 218, 229, 248
150-161,172,24Of. Shelley159
Proust,M.193,198,309,367 Simmel, G. 265
Singer, K. 214, 268
Raffael263, 267 Sisyphus 333 f.
Reichardt 124 Sokrates70f., 254, 269,344,451,469
Reinhardt, K. 30, 150,261,268 Solon254
Reuter, F. 194 Sophokles6,17,114,l44,157,202
Riezler, K. 261 Spielhagen, F. 182,195
Rilke22, 40, 47, 72, 75, 131,149,211,215, Spinoz:a 58 ff., 187 f.
241,271-281,282-288,289-305, Spitzer, L. 185
306-319,335,363,367,371,400,406, Staiger, E.138, 141,290
433,440,445,456,459,464 Stauffenberg, C. v. 129, 214f.
- Das Stunden-Buch 308f., 314 Steiner,]. 289ff., 301
- MAlle276,287,299,309,313f. Steiner. R. 137
- Duineser Elegien 215, 271 -281,283, Stendhal193,195
287f.,289-305,308-319,336,445,464 Stifter, A. 193ff., 197
- .Cegen-Slrophen' 291 ff., 311 ff., 315 Straube, K. 142f., 330
- Sonette An Otpheus215, 272, 282-287, Susrnan,M.193,265
291,302,308,310,440 Sz:ondi,P.162,436-440,467
Rodin315
Rohde, G. 261 Tantalos32
Rousseau 85, 131,258 Thackeray, W. 195,354
Ruge,A.I99 Theognis 154,334
Thukydides 321
Saint-Simon, C. de 181, 184ff., 191,193 Tieck, L. 187, 189
Salin, E. 214, 232 Toistoi 193, 297, 367
Scaliger83 Trakl, G. 40, 122,335,367,459
Schaaf,}. 117 Troeltsch, E. 129
Schadewaldt, W.137 Tschlz:ewskij, D. 390
Schefold, K. 214 Turgenjew 193
Schelling 56, 66 ff., 186, 188
Schikaneder,E. 94-102, 111,113,115f., Uechtri~, F. v. 186f.
119f. Uxkull, W. v. 214
Schiller I, 6, 20, 22f., 39, 57f., 62-68, 72,
74,77,94,111,128,131 ff.,137,143f., Valery, P. 343, 362
182,234,249,262 Verdi249
Schlegel, F. 190, 195 Vergi1219
Schleiermacher, F. 374, 378, 442 Verwey, A. 256
Schmidt,1- 3 VondcrLeycn, F. 230
Schmoller, G. 213, 260 Vulpius, C. 76
Namen 481

Wagner, R. 186,249,253 Wolters, F. 213 ff.. 217, 237, 260f.


Weber,~. 176,213,258,270
Webern, A. v. 371 f., 380 Yorck v. Wartenburg, P. 409
Wieland, C. M. 85f.. 194
Wilamowitz 261 Zarathustra253,314
Winckelmann 1,190,263,267 Zelter, K. F. 61, 124f., 148
Withof335 Zola 193,195
Wolf, H. 207, 253

Das könnte Ihnen auch gefallen