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Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke
Band 9
Hans-Georg Gadamer
Hermeneutik im Vollzug
Gadamer, Hans-Georg:
Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Tübingen:
Mohr.
NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung]
Bd. 9. Asthetik und Poetik. -2. Hermeneutik im Vollzug. -1993
ISBN 3-16-146065-0
Der vorliegende Band trägt den Titel )Hermeneutik im Vollzuge. Hier wird
also nicht Literatur als ein Gegenstand zum Thema gemacht, wie etwa der
Forscher seine Beispiele oder Belege unter einer bestimmten Fragestellung
und mit dem ganzen Aufgebot wissenschafdicher Zurüstung behandelt.
Hier ist meine Absicht allein, dem Vollzug zu dienen, durch den Dichtung
zum Partner eines nachdenklichen Gesprächs zu werden vermag. Was das
meint und warum das nottut, bedarf selbstverständlich philosophischer
Rechtfertigung. Meine theoretischen Versuche hierzu werden im 8. Band
meiner Gesammelten Werke vorgelegt. In diesem 9. Band soll die Stimme
der Wissenschaft nicht als solche sprechen.
Damit will· ich nicht sagen, daß es nicht für jeden Leser von Dichtung
des Wissens bedarf, des sprachlichen wie des sachlichen Wissens. Das gilt
vollends für einen Leser, der wie ich davon überzeugt ist, daß zwischen
der Sprache der Dichtung und der Sprachfindung des philosophischen Ge-
dankens eigentümliche Fäden hin und her laufen. An Dichtung teilhaben
bleibt aber etwas anderes als Dichtung zum Gegenstand wissenschaftlicher
Forschung machen. So ist der Titel )Hermeneutik im Vollzuge zu verste-
hen.
Erst seit ich den Versuch einer hermeneutischen Philosophie in Arbeit
genommen hatte, begann ich gelegentlich meinen eigenen Umgang mit
Dichtung schriftlich zu fixieren. Die äußeren Anlässe dazu boten die aufrei-
benden Jahre, in denen ich nach dem Kriege als Rektor der Universität
Leipzig die Erfahrung machen mußte, daß auch freie Wochenenden keine
kontinuierliche Weiterarbeit an meiner philosophischen Arbeit erlaubten.
Als Liebhaber der Dichtung kam ich in dieser Zeit darauf, die Erfahrung
eines besinnlichen Lesers von dichterischem Wort anderen zugute kommen
zu lassen, auch wenn dieser Leser eigentlich nichts anderes will als recht lesen
und sich allenfalls noch Gedanken darüber machen, warum er eigentlich
dem Wort der Dichtung so anhängt. So entstanden die ersten Sammlungen
meiner literarischen Essays, wie ich solche nie zuvor geschrieben hatte. Im
Insel-Verlag wurden sie erstmals unter dem Titel )Poeticae und später in
erweiterter Form unter dem Titel )Gedicht und Gespräch< vorgelegt. Andere
finden sich in dem zweiten Band meiner Kleinen Schriften, der den Titel
)Interpretationene trug.
VI Vorwort
All das ist jetzt in diesem Bande meiner Gesammelten Werke vereinigt.
Dazu gehört auch mein kleines Buch über Paul Celans >Atemkristall(, das in
der Bibliothek Suhrkamp den Titel )Wer bin Ich und wer bist Du?( trägt.
Dies Büchlein enthält einen Leseversuch von besonders schwer verständli-
cher Dichtung. Durch sie sieht sich der Leser vor die unausweichliche Frage
gestellt: Was muß der Leser wissen? Auf diese Frage kennt die Wissenschaft
keine Antwort. Sie folgt ihrem eig~en Gesetz. Ohne Frage wird bei einem
solchen besonders schwer verständlichen Text jeder Leser immer wieder an
Lücken seines Wissens kommen, und auch ich mußte der literaturwissen-
schaftlichen Forschung viele Aufgaben überlassen. Dennoch verteidigt hier
ein Leser seine eigene Hoheit, wenn es ihm nicht um Wissenschaft geht,
sondern um Teilhabe an Dichtung. Auch diese folgt ihrem eigenen Gesetz.
HGG
Inhalt
22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983) 258
36. Wer bin Ich und wer bist Du? (1986) 383
Namenregister 477
1. Hölderlin und die Antike
(1943)
Es ist die Auszeichnung der Antike in ihrer Wirkung auf die deutsche
Kultur, daß sie mit dem Wandel unserer geistigen Geschicke auf geheimnis-
volle Weise Schritt zu halten vermag. Wandelt sich sonst mit dem wechseln-
den Geiste der Zeit unser Geschichtsbild und die innere Wertordnung, die es
setzt,so behält die Antike für unser geistiges Leben in beständiger Verwand-
lung dennoch den gleichen Rang einer uns übertreffenden Möglichkeit
unsrer selbst. Es gibt heute wohl keine schärfere Probe auf die Wahrheit
dieses Satzes, als die Frage nach dem Verhältnis Hälderlins zur Antike zu
stellen. Denn es ist ein wahrhaftes, noch nicht abgeschlossenes Ereignis
unseres geistigen Lebens, das mit der Erweckung des dichterischen Werkes
Hölderlins in unserem Jahrhundert begann. Dieser Zeitgenosse Schillers
und Goethes erweist sich immer mehr als der Zeitgenosse unserer eigenen
Zukunft, dem insbesondere unsere Jugend, soweit sie Dichterwort zu hören
weiß, mit leidenschaftlicher Vorbehaltlosigkeit folgt - ein schlechterdings
einzigartiger Vorgang in der geistigen Geschichte der Neuzeit. Es ist die
Geschichte eines um ein Jahrhundert aufgesparten Werkes. Schien schon der
Wandel des Griechenbildes von Winckelmann bis zu Nietzsche die äußerste
Spannweite des griechischen Wesens auszumessen - kein Zweifel, daß nach
dem humanistischen und dem politischen Griechenbild unser Bild der Anti-
ke durch das Eindringen in die Welt Hölderlins erneut umgestal tet wird. Die
Götter Griechenlands bekommen ein neues Gewicht.
Ihre eigentliche Zuspitzung hat aber die Frage )Hölderlin und die Antike<
darin, daß die dichterische Existenz Hälderlins mit einer Ausschließlichkeit,
die ihn auch im Zeitalter des deutschen Klassizismus auszeichnet, von sei-
nem Verhältnis zur Antike bestimmt ist. Sein dichterisches Werk so gut wie
seine kunsttheoretischen Reflexionen sind als Ganzes gleichermaßen Stellen
und schicksalvolles Austragen dieser Frage. Es ist also nicht ein beliebiger
Bezug, einer unter anderen, so wie im Falle Goethes oder Schillers oder
Kleists oder Jean Pauls, wenn man Hälderlins Bezug zur Antike untersucht.
Man fragt damit nach dem Grunde seines Wesens und dem Ganzen seines
Werks. Daher bliebe auch eine lediglich literarästhetische Untersuchung
unangemessen, die dem Einfluß der antiken Dichter und Denker auf Höl-
2 Hölderlin und die Antike
~erlin, auf sein Weltbild, seine Dichtersprache, seinen Stil, seine Stoffwelt
nachginge. Gewiß ist Pindars Hymnendichtung eine wesentliche Vorausset-
zung der späten Hymnendichtung Hölderlins, ebenso wie der dauernde
Umgang mit der antiken Tragödie wesentlich ist für sein ganzes eigenes
Werk. Dennoch aber ist Hölderlins Dichtung nicht von dem aus zu begrei-
fen, was als antike Bildungsüberlieferung auf ihn einwirkt. Eben das zeich-
net ihn vor dem klassischen Weimar aus, daß ihm die antike Welt nicht als
Bildungsstoff, sondern mit der Gewalt eines ausschließlichen Anspruchs
begegnet. Zwischen Griechischem und Vaterländischem, zwischen, den an-
tiken Göttern und Christus als dem Meister des hesperisch-germanischen
Zeitalters besteht das standhafte Herz des Dichters Hölderlin.
Es ist eine heutige Denkgewohnheit, uns übertreffende Spannweiten
geistigen Seins in Phasen geistiger Entwicklung zu verkehren, die als solche
unserm Verstehen erreichbar werden. Es muß daher als ein großes Glück
bezeichnet werden, daß der Schöpfer der ersten großen Ausgabe, Norbert
von Hellingrath, bereits der Auffassung entgegengetreten ist, die die vater-
ländischen Gesänge Hölderlins als eine Abkehr vom griechischen Vorbild
verstehen wollte, als eine »hesperische Wendung«, die der Abkehr der
deutschen Romantik vom klassizistischen Ideal ent~prächel. Hellingrath hat
damit dem dichterischen Wesen Hölderlins seine wahre Spannweite erhalten
- oder besser, er hat die Spannung zwischen Hellenischem und Vaterländi-
schem als Ausdruck von Hölderlins eigenstern Wesen erkannt und als das
Geheimnis seiner antik anmutenden Größe. Es wird daher angemessen sein,
den Blick auf den eigentlichen Höhepunkt dieser Spannung zu lenken, auf
die große Hymnendichtung der letzten Schaffensjahre des Dichters. Den
Berichten nach scheint Hölderlin noch in den erstenjahren der Umnachtung
unter der Gewalt dieser Spannung nachzuzittern. Der Hyperion-Roman
umgekehrt, der ganz in Griechenland spielt, spiegelt die vaterländische
Sehnsucht des Dichters in fremdem Gewande und in der fruchtbaren Ver-
kehrung, die in der großen Scheltrede auf die Deutschen Gestalt gewonnen
hat. Im großen Hymnenwerk der Spätzeit dagegen findet diese Spannung
ihren dichterischen Ausdruck und im ständig erneuerten Versuch der dichte-
rischen Verschmelzung aller lebendig erfahrenen Gewalten ihren Ausgleich.
Innerhalb dieses dichterischen Spätwerks ist eine Hymne geradezu die
Ausgestaltung dieses Zwiespalts, die Hymne .Der Einzige(:Z.
IIn der Vorrede des von ihm besorgten vierten Bandes seiner Ausgabe, S. XII.
2Mir lag bei Abfassung dieses Beitrages im Jahre 1943 nur die HEu.INGRATHsche
Ausgabe vor, nach deren erster Auflage im folgenden zitiert wird (inzwischen ist stets die
Große Stuttgarter Ausgabe von BElssNER zu vergleichen). Sowohl die spätere Entdeckung
der .Friedensfeier. wie die dreifache Version der Ausführung des >Einzigen< waren nur in
der Hellingrathschen Materialsammlung teilhaft enthalten. Mittlerweile sind diese Dinge
viel untersucht worden. Man kann wohl kaum sagen, daß das Interesse an dieser Gruppe
Hölderlin und die Antike 3
Was ist es, das
An die alten seligen Küsten
Mich fesselt, daß ich mehr noch
Sie liebe, als mein Vaterland?
[... )
Wenn wir diese sogenannte Christushymne hören, so stellt sie uns offenbar
ein Rätsel: Nicht die übermäßige Liebe zu den alten Göttern, die der Dichter
eingangs bekennt (und dieses Bekenntnis wiederholt er in zahlreichen ande-
ren seiner Gedichte), ist die Ursache des Fernbleibens Christi, sondern im
Gegenteil: Schuld ist die übergroße Liebe zu Christus (v. 48ff.). Nicht, daß
die Himmlischen einander eifersüchtig ausschlössen - der Hang des eigenen
Herzens des Dichters, seine Liebe zu dem Einzigen ist der Fehl, der der
Vereinigung Christi mit den alten Göttern entgegensteht. »Nie treff ich, wie
ich wünsche, das Maas« (v. 77).
In der Tat, dies ist es, was Hölderlin tiefer als irgendein anderer der großen
Hellasfahrer der deutschen Seele erkannt und gestaltet hat: Nicht die Uner-
rullbarkeit ihrer Vorliebe rur das klassische Griechenland ist das Problem der
deutschen Klassik, sondern umgekehrt, daß sich diese Vorliebe nicht ver-
von Gedichten der Spätzeit Hölderlins uns Leser - ich spreche nicht von den Literaturfor-
schern, zu denen ich auch nicht gehöre - etwa nicht beschäftigt hätte. Die ganze Literatur
nach 1914 ist in weitem Umfange von der Wirkung dieses groBen Hymnenwerks Hölder-
lins beherrscht. Das sollte man nicht vergessen. Inzwischen hat die historische Forschung,
nicht zuletzt in dem hochgelehrten Kommentar von JOCHEN SCHMIDT (Hölderlins gc-
schichtsphilosophische Hymnen .Friedensfeier. - .Der Einzige< - .Patmos<. Darmstadt
1990), die reichen theologischen Quellen namhaft gemacht, auf denen die Theologie
dieser Hymnen aufruht. - Ich wurde auf die neue Buchveröffentlichung von jochen
Schmidt aufmerksam gemacht, weil darin auch eine kritische Anmerkung zu meinem
eigenen wiederabgedruckten Aufsatz von 1943 zu finden ist. Diese Anmerkung las ich
allerdings mit Verblüffung. Zwar habe ich an der hochgelehrten Untersuchung jeden
Hinweis daraufvermißt, wie aus so viel Theologie ein großes Gedicht entstehen konnte.
Aber das war ja auch nicht der Anspruch von jochen Schmidts Untersuchung. Dagegen
war ich verwundert, daß er meine 1943 entstandene Untersuchung offenbar unter dem
Vorzeichen gelesen hat, daß hier doch irgend welche Spuren des nationalistisch überhitz-
ten ideologischen Klimas dieses Augenblicks zu fmden sein müßten. Es tut mir leid,
davon nichts, aber auch gar nichts fmden zu können. Nicht ich bin dafiir verantwortlich,
daß die Einleitung des .Einzigen. die Küsten Griechenlands und unser Vaterland in
Gegensatz setzt. Aber meine Interpretation liegt durchaus und immer wieder ausdrück-
lich in der Zurückweisung des Gegensatzes von Klassisch und Vaterländisch und zielt sehr
ähnlich wie in dem Sinne des Kommentars von jochen Schmidt auf den Gegensatz von
Weltlichem und Pneumatischem. Freilich kann ich ihm nicht zustimmen, wenn er glaubt,
daß der Hymnus einen Ausgleich zwischen diesen heiden spannungsvollen Gegensätzen
zum Ausdruck bringen will. Das Gegenteil ist richtig. Dieser Ausgleich kann nicht
gelingen. Das ist die leidvolle Erkenntnis, die der Dichter über die ihm durch sein
Handwerk des Dichtens gesetzten Grenzen sich eingesteht. Ich hoffe, in anderem Zusam-
menhang auf die vonjochen Schmidt mit großer Sorgfalt interpretierte zweite reinschrift-
liche Fassung des .Einzigen. meinerseits zurückkommen zu können.
4 Hölderlin und die Antike
einigen lassen will mit dem Hang des Herzens, das seine abendländisch-
christliche und vaterländische Art an den »seligen Küsten loniens« nicht zu
vollenden vermag. Wir wollen versuchen, am Leitfaden dieses Gedichtes
Hölderlins Erkenntnissen nachzudenken, und so Hölderlins Stellung zur
Antike wie unsere eigene Stellung besser begreifen lernen. Im Hinblick auf
den bruchstückhaften Charakter der Hymne werden wir Motive der späte-
ren Fassung (IV 231 ff.), die ganz Entwurf geblieben ist, zur Erklärung mit
verwenden.
Der Dichter beginnt mit seiner Philosophie, was ihm das griechische
Leben gegenüber dem Leben in seinem Vaterlande auszeichnet: daß dort die
Götter unter den Menschen erscheinen, mit ihnen sich vermählen, daß
Gottes Bild »lebet unter den Menschen« (v. 27). Die Klage um das Ende
dieses göttlich erfullten Tages der Griechen ist uns der vertrauteste Klang der
Hölderlinschen Dichtung, ein Klang, der den Hyperion-Roman durchtönt
und die herrlichen Sehnsuchtsbilder der großen Elegien, wie )Archipelagus<
und )Brot und Wein<, hervorgezaubert hat. Aber auch die unablässige philo-
sophische Selbstbesinnung des Dichters sagt deutlich, was er am griechi-
schen Leben und warum er es so liebt: daß dort jeder »mit Sinn und Seele der
Welt angehörte« und daß gerade daraus eine eigene Innigkeit in die Charak-
tere und Verhältnisse kam, während bei den modernen Völkern eine »Ge-
fühllosigkeit für gemeinschaftliche Ehre und gemeinschaftliches Eigen-
thum« herrscht, eine »Beschränktheit«, die sie alle - und vor allem die
Deutschen - auch innerlich lähmt (III 366). Von dieser allgemeinen Einsicht
her gewinnt Hölderlin ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Philo-
sophie seiner Zeit. Er sieht nämlich das Amt des Kantisch-Fichteschen
Idealismus und seiner Weckung der »großen Selbstthätigkeit der Menschen-
natur« in der Erziehung zur Allgemeinheit - und erblickt darin eine freilich
einseitige, aber als »Philosophie der Zeit« die richtige Einflußnahme (I1I
367). Allerdings sei von dieser Allgemeinheit, die zu Pflicht und Recht
zusammenknüpft, noch ein gewaltiger Schritt bis zur Lebensweise der Al-
ten. »Aber wie viel ist dann zur Menschenharmonie noch übrig?« (I1I 370).
Die Alten bedurften dessen nicht, was den Heutigen die Philosophie leisten
muß. Bei ihnen war der Kreis des Lebens, worin sie mitwirkend und,
mitleidend sich fühlten, weit genug, daß ein jeder daraus Zuwachs seines
Lebens empfmg. Hölderlin erläutert dies durch einen Vergleich mit dem
Krieger, der, »wenn er mit dem Heere zusammenwirkt, muthiger und
mächtiger sich fühlt, und es in der That ist« (I1I 368). Dies den Einzelnen
nicht nur in seinem Gefühl, sondern als wirkliche Seinsmacht übertreffen-
de, als Sphäre, in der alle Menschen zugleich leben, ist ihre» gemeinschaftli-
che Gottheit« (III 263f.). So sagt eine Randschrift zu einer Dichtung gerade-
zu: »Die Sphäre, die höher ist als die des Menschen, diese ist der Gott« (IV
355). Es ist ja eine allgemeine Erkenntnis, daß bei den Griechen alle Verhält- .
Hölderlin und die Antike 5
nisse religiös waren, alle jene »feinem, unendlichen Beziehungen des Le-
bens«, wie Hölderlin sagt. die wir in unserer aufgeklärten Moral oder
Etikette mit unseren »eisernen Begriffen« regeln (I1I 262f.). Was hier •• reli-
giöse« Verhältnisse heißt. nennt Hölderlin »solche. die man nicht so wohl an
und für sich als aus dem Geiste betrachten müsse. der in der Sphäre herrsche,
in der jene Verhältnisse stattfinden«. Dieses der Anwesenheit göttlicher
Mächte ausgesetzte und in ihrem Namen ausgelegte Leben, wie es die
Griechen lebten, ist nun, nach Hölderlin, gegenüber dem modernen
•• Schneckenleben« des auf Ordnung und Sicherheit Bedachten im Recht,
d. h., es ist die eigentlichere Erfahrung der Lebendigkeit des Lebens.
Nun nennt der Dichter diese Liebe zum griechischen Göttertag in der
Hymne .Der Einzige< ein Gebücktsein (oder Verkauftsein) in eine »himmli-
sche Gefangenschaft«. Gefangenschaft aber ist ein Erleiden der Fremde. Was
ist das für ein Leiden? Wieder bietet uns eine theoretische Studie Hölderlins
ihre Hilfe an, die überschrieben ist: .Der Gesichtspunct, aus dem wir das
Altertum anzusehen haben< (I1I 257-259). Dort ist von der •• Knechtschaft«
die Rede, »womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum«, eine
Knechtschaft, die so umfassend und erdrückend sei, daß alle unsere Rede
von Bildung und Frömmigkeit, von Originalität und Selbständigkeit nur
ein Träumen sei, bloße Reaktion, •• gleichsam eine milde Rache gegen die
Knechtschaft<l. Hölderlin schreibt einmal an seinen Bruder mit einem gro-
tesken Bilde: »Auch ich mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun
und Denken diesen einzigen Menschen in der Welt nur nach, und bin in dem,
was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil
ich, wie die Gänse mit platten Füssen im modernen Wasser stehe, und
unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle« (III 371). Er gibt dabei
für das Drückende dieser Knechtschaft eine tiefe Begründung aus der ideali-
stischen Philosophie. D,er menschliche Bildungstrieb nämlich, der, in der
Neuzeit meist ohnehin schon schwach, nur in den Gemütern der .Selbstden-
ker< (ein Ausdruck Fichtes) lebendig zum Vorschein komme, finde in dem
gebildeten Stoffe des Altertums allzuviel vorgebildet. Die »fast gränzenlose
Vorwelt. die wir entweder durch Unterricht [oder] durch Erfahrung inne-
werden«. sei eine drückende Last. die uns ebenso mit Untergang bedrohe.
wie die positiven Formen. der »Luxus, den ihre Väter hervorgebracht
hatten«. früheren Völkern den Untergang gebracht hätten. - Es ist mit aller
Klarheit das Gespenst des Klassizismus. des bloßen Bildungshumanismus
und des fremden Stilzwanges. was Hölderlin hier beschreibt.
Aber er sieht in dieser erhöhten. durch die historische Bewußtheit gestei-
gerten Gefahr zugleich einen günstigen Umstand, durch Erkenntnis der
wesentlichen Richtungen des Bildungstriebs überhaupt •• unsere eigene
Richtung uns vorsetzen« zu können. Denken wir dieser bei Hölderlin nur
angedeuteten Wendung nach, so erkennen wir mit einem Male in ihr das Ziel
6 Hölderlin und die Amike
und den Sinn aller kunsttheoretischen Bemühungen, die wir in seinen Prosa-
entwürfen, seinen sogenannten philosophischen Schriften, finden. Diese am
antiken Vorbild erarbeiteten Versuche betreffen fast alle den gleichen Ge-
genstand, den Unterschied der Dichtungsarten, bekanntlich ein von den
Alten mit Strenge innegehaltenes Prinzip. Eben diese Strenge der alten
Dichter aber ist es, von der sich der Dichter rur sich selbst Segen erhofft3. In
ihren praktischen Verfahrungsweisen sind ihm die alten Dichter vorbildlich.
Bezeichnend heißt es in der Vorrede seiner Sophokles-übersetzung, sie sei
ein Geschäft, das »in fremden, aber festen und historischen Gesezen gebun-
den« sei (V 91)4. Die )Anmerkungen zum Odipus( beginnen geradezu mit
der Forderung einer Poetik nach griechischem Muster (V 175). In einem
Brief an einen jungen Dichter klingt dies an, wenn er sagt: D Und darum ehr'
ich den freien, vorurtheilslosen, gründlichen Kunstverstand immer mehr,
weil ich ihn für die heilige Aegide halte, die den Genius vor der Vergänglich-
keit bewahrt« (III 466).
Diese Vorbildnahme Hölderlins am griechischen Kunstverstand ist aber
keineswegs ein Bekenntnis zum Klassizismus. Im Gegenteil, gerade im
Studium der Alten ist ihm die Erkenntnis gekommen, wie er in dem be-
rühmten Brief an Boehlendorffvom 4. Dezember 1801 (V 314ff.) schreibt,
•• dass ausser dem, was bei den Griechen und uns das höchste sein muss,
nemlich dem lebendigen Verhältniss und Geschik, wir nicht wohl etwas
gleich mit ihnen haben dürfen. Aber das Eigene muss so gut gelernt seyn wie
das Fremde. Desswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden
wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil
[... ] der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist«. Es ist wohl deutlich:
Die Kunsttheorie ist mehr, als sie scheint, sie ist die wesentliche Form der
Selbstbefreiung des Dichters aus der Knechtschaft der Alten. Dasselbe sagt
uns der letzte Brief an Schiller, wo er vom Studium der griechischen Litera-
tur sagt, er habe es fortgesetzt, »bis es mir die Freiheit, die es zu Anfang so
leicht nimmt, wiedergegeben hatte« (V 311). Das Befreien »vom Dienste
des griechischen Buchstabens «, dessen er sich am Ende rühmt, führt zu einer
grundsätzlichen Unterordnung des Griechischen unter das Vaterländische,
die in den )Anmerkungen zur Antigonä( in tiefsinniger Gegenüberstellung
behauptet wird (V 257ff.).
Vgl. etwa III 463.
3
Vgl. V 331. Diese Stelle habe ich im Erstdruck dieser Arbeit zu Unrecht als Beleg für
4
die Vorbildnahme am griechischen Kunstverstand zitiert. BEISsNERs Deutung des »ge-
gen. (Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 21%1, S. 168) hätte ich
folgen sollen. Nicht nur der Sprachgebrauch verlangt, daß mit »gegen. die Richtung
gemeint ist, auch inhaltlich bestätigt die Briefstelle, daß Hölderlin die griechische Einfalt
gerade dadurch erreicht zu haben glaubt, daß er die rechte Freiheit vom griechischen
Buchstaben gewonnen hat. Das Ziel will er mit »gegen die exzentrische Begeisterung.
angeben.
Hölderlin und die Antike 7
Dieser Weg der Kunstreflexion Hölderlins ist also in der Tat ein Weg der
Befreiung aus der Knechtschaft der Alten. Aber ist diese Knechtschaft und
. diese Befreiung die gleiche, von der unsere Hymne spricht? Ist nicht die
Brechung des Stilzwanges einer klassizistischen Asthetik etwas anderes als
die überwindung jener allzu großen Liebe zum gotterfüllten Leben der
Griechen? Nun war freilich auch von Bildung und Frömmigkeit oben die
Rede (III 257). Und wenn der Verstand als die »heilige Aegide« bezeichnet
wird, so ist damit nicht nur die poetische Reflexion gemeint. Das dichteri-
sche Wort ist das Wort überhaupt, und das Wort ist die Wirkung und
Erfahrung des Göttlichen selbst, wie es gefaßt und »ausgeteilt« wird. Bin-
dung des Geistes an die Erde ist nicht nur des Dichters Aufgabe, zu der ihm
der Kunstverstand hilft, indem er »Junonische Nüchternheit« mit der Begei-
sterung vereinigt. Stets bedarf das begeisterte Ungestüm des Herzens der
heiligen Ägide des ruhigen Verstandes, um sich vor den »Belaidigungen der
Menschen« zu bewahren (111364). So kann Hölderlin angesichts des »heißen
Reichtums« des menschlichen Herzens vom Menschen überhaupt sagen:
»Dass er bewahre den Geist, wie die Priesterin die himmlische Flamme, diss
ist sein Verstand« (IV 246). Aber jene übergroße Liebe zu Griechenland, die
der Dichter dichterisch bekennt, soll sie überhaupt überwunden werden? Sie
ist ja nicht eine Beugung unter klassizistisches Maß, sie ist vielmehr selbst
schon Ausdruck der erworbenen dichterischen Freiheit. Die Klage, die sich
nach Griechenland zurücksehnt und die entschwundenen Götter besingt,
trägt in sich einen dichterisch verwandelten Sinn. Gerade indem sie sich
verwehrt, die entschwundenen Götter zurückzurufen und Totes neu zu
beleben s, wird offenbar, worin Götter noch gegenwärtig sind:
Des Göttlichen aber empfiengen wir
Doch viel. Es ward die Flamm uns
In die Hände gegeben und Boden und Meeresfluth
(.Versöhnender< v. 63 ff.).
das Positive der Satzung, in der der eigentliche Geist nicht mehr lebt -
bekanntlich das Hauptthema von Hegels >Theologischen Jugendschriften<.
Hier wird das so ausgeführt, daß »das Beständige« des lebendigen Geistes
vom "Geschäfftigen« überwachsen wird, und damit die "Kenntnisse« un-
verständlich werden. Auch das aber ist das Amt eines jeden dieser religiösen
Helden, Feuer und Leben neu zu spenden, wenn »ausgeathmet das heilige
Feuer« (>Versöhnender< v. 78). So heißt es auch hier:
Nemlich immer jauchzet die Welt
Hinweg von dieser Erde, dass sie die
Entblösset; wo das Menschliche sie nicht hält (v. 72ff.).
So zu halten und zu binden sind sie alle gekommen, insbesondere eben die
Bringer einer neuen Ordnung wie Herakles und Dionysos. Daher heißt es:
»So sind jene sich gleich.« Der Dichter zeigt ähnlich im Vorentwurf der
späteren Fassung, daß er diese Gleichheit Christi mit den anderen gegen den
christlichen Anspruch festhält: Auch Christus »hatja auch Eines gehabt, das
ihn hinweggerissen ... «. »Jeder nemlich hat ein Schicksal, das ist« (ist's?)
(IV 388).
Nun wird in dunkler Art mit dieser Lehre von den Bringern und Bewah-
rern des Feuers die Versuchungs geschichte (Matth. 4) verbunden. Offenbar
ist es die Wüste, die des Göttlichen entblößte Erde, die die christliche
Versuchungsgeschichte hier heraufruft, und wieder nicht zur Unterschei-
dung, sondern, um ihn mit den anderen Ordnern der chaotischen Erde, mit
Herakles und Dionysos, gleichzusetzen. Es ist auch in götterloser Zeit
immer noch »eine Spur doch eines Wortes« geblieben. So weiß Christus die
Versuchung durch den Teufel zu bestehen, weil für ihn noch nicht verlo-
schen ist, was geschrieben stehe. Er ist ein Mann, der in der Wüste des
erstarrten religiösen Lebens, in der er auftritt, die Spur eines Wortes noch zu
erhaschen weiß und eben damit den Versucher abweist und das Amt des
leidenden Erlösers annimmt 8 •
Auch in der Folge bemüht sich der Dichter, Christus in seiner Vergleich-
barkeit mit den anderen zu zeigen. Indem er ihn nicht etwa mit Apoll oder
Zeus, sondern mit den Vergleichbaren, mit Herakles und Dionysos ver-
gleicht, die auch schon anders sind als »andere Helden«, folgt er einem
echten religionsgeschichtlichen Zusammenhang. Insbesondere Dionysos ist
ihm eine wahrhaft brüderliche Erscheinung zu Christus, wie er denn schon
in >Brot und Wein< (Str. 8 und 9) die dichterische Verschmelzung der beiden
syrischen Freudenbringer und Weinspender gewagt hat. In der Tat scheinen
diese drei sich gleich, »ein Kleeblatt«. Im Unterschied zu den anderen
7 Vgl. das dreimalige .. Es steht geschrieben« im Text des Evangeliums.
8 Zu .Spuren« vgl. auch die »Spuren der alten Zucht« im ersten Pindarfragment (V
271).
10 Hölderlin und die Antike
Das will sagen: Sie alle drei sind, was sie sind, mit einer sich selbst nicht
zurückbehaltenden Hingabe an ihren Auftrag (»Jäger derJagdcc). Sie alle drei
leiden, bestehen also gerade nicht auf sich und sind dadurch Gott: Man denke
an Herakles' Mühen und an sein Ende; Dionysos ist der leidende und
sterbende Gott des antiken Kultus. Dies vor allem verbindet die beiden mit
Christus, der »siegend blickend« starb (,Patmos( v. 89). So sagt der Dichter
jetzt: »Wie Fürsten ist Herkules. Gemeingeist Bacchus. Christus aber ist das
Endecc; d. h. er »erfUllet, was noch an Gegenwart der Himmlischen gefehlet
an den andern«.
Dennoch aber kommt ihm beim Vergleich immer wieder das Ungleiche
zum Bewußtsein: liDer Streit ist aber, der mich versuchet ... « - das ist eben
jene» Schaam «, die ihn an wandel t, wenn er Christus den anderen angleichen
will. Sie beruht offenbar darauf, daß Christus nicht im gleichen Sinne
Gegenwart ist wiejene weltlichen Männer. Jene nämlich haben »aus Noth
als Söhne Gottes die Zeichen [... ] an sich«.
Denn es hat noch anders, räthlich,
Gesorget der Donnerer. Christus aber bescheidet sich selbst (v. 91 f.).
Christi Wesen erschöpft sich offenbar nicht darin, den "himmlischen Chore(
nur zu beschließen (,Brot und Weine Str. 8), d. h. in der Folge der als
Gegenwart wirkenden Götter eben der letzte, den andern Wesensgleiche zu
sein. Was ihn auszeichnet, ist, daß er sich selbst bescheidet. Jene anderen
sind, was sie sind, als Wender einer gegenwärtigen Not - der Donnerer hat
immer noch anders gesorgt: d. h. sie erfüllen nur ihren begrenzten Gegen-
wartsauftrag. Christus dagegen, der sich selbst bescheidet, reicht eben da-
durch über diese seine Gegenwart hinaus. Er wußte auch das noch, was er
IIverschwieg« (,Versöhnender< v. 86ff.), und eben weil er das Sterben, zu
dem er gesandt war, nicht einfach erleidet, sondern freiwillig aufsich nimmt
(und man darf wohl daran denken, daß das der unterscheidende Sinn der
Versuchungsgeschichte ist), ist er »das Ende«. D. h. aber, er waltet über die
ganze Folgezeit (für die nun nicht mehr anders zu sorgen war). Er ist der
Gott, dessen Verkündigung und Verheißung der Wiederkehr als eine stille
Wirk1ichkeit das ganze abendliche Weltalter beherrscht. So setzt sich immer
durch, daß er IInoch andre Natur« ist.
Aber bedeutet das nicht doch ein Sichausschließen der Gottheiten selbst
Hölderlin urtd die Antike 11
und nicht einen Fehl des Dichters? Anders gewendet: Schlägt der eigentlich
christliche Anspruch, der Einzige zu sein, nicht alle Versöhnungsversuche
des Dichters nieder? Wird hier nicht gerade die religiöse Mächtigkeit des
Christentums über den Dichter mächtig? Dem Versuch einer solchen christ-
lich gesinnten Interpretation9 widerspricht aber das Ganze der Hölderlin-
schen Gottesvorstellung von Grund aus. Hölderlin gibt diesem christlichen
Anspruch auf Einzigkeit niemals statt. In unserer Hymne heißt es über den
obersten Gott, daß er nicht einen, sondern zahlreiche Mittler hat:
Denn nimmer herrscht er allein.
Und weiss nicht alles. Immer stehet irgend
Eins zwischen Menschen und ihm (v. 65f.).
Und
Der hohen Gedanken
Sind nemlich viel
Entsprungen des Vaters Haupt [... ] (v. 13f.).
Die Hymne )Patmos(, dem christlichen Landgrafen von Homburg gewid-
met, muß geradezu dessen christliche Frömmigkeit vor dem göttererfullten
Gemüt des Dichters rechtfertigen: »Denn noch lebt Jesus.« Des Dichters
eigene sichere Gewißheit aber sagt, daß er gerade nicht der Einzige ist:
Es sind aber die Helden, seine Söhne
Gekommen all, und heilige Schriften
Von ihm. Und den schnellen Bliz erklären
Die Thaten der Erd, ein Wettlauf, unaufhaltsam [... ]
(.Patmos< v. 204ff.).
Was also bedeutet es, daß des Dichters Liebe zu sehr an dem Einen hängt? Er
heißt der .. Meister und He[[(, er heißt der »Lehrer« (.Der Einzige( v. 36),
d. h. des Dichters und des abendländischen Zeitalters, dem der Dichter
zugehört. Diese Gebundenheit des Dichters an sein Zeitalter also ist es, die
dem ersehnten Ausgleich im Wege steht. Für dieses christlich-abendländi-
sche Weltalter gilt, daß Christus gerade als der Unsichtbar-Abwesende sein
Gott' ist. Mit wunderbarer Eindringlichkeit hat Hölderlin in der Patmos-
Hymne (v. 113ff.) das neue Wesen der christlichen Frömmigkeit beschrie-
ben:
[... ] Es erlosch
Die Freude der Augen mit ihm.
Denn Freude war es
Von nun an,
Zu wohnen in liebender Nacht und zu halten
9 Vg!. ROMANO GUARDINI, Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit. Leipzig 1939, S.
557f.
12 Hölderlin und die Antike
Einfliltigen Sinns
Abgründe der Weisheit [." .. ].
Das niedergeschlagene Auge und die innere Erleuchtetheit sind die neuen
Formen der Andacht, wo,
[... ] Züchtig blikend
Von'schwellenden Augenbraunen nur
Still leuchtende Kraft iallt [ ... ] (,Patmos< v. 192f.)10.
Es ist also der eigenen religiösen Wirklichkeit Christi entgegen, daß es der
Dichter mit dem Reichtum seiner Schätze versucht,
Ein Bild zu bilden und ähnlich
Zu schaun, wie er gewesen, den Christ [... ] (ebd. v. 164f.).
Hier liegt die Antwort, die der Dichter sich gibt: Nicht, daß die Himmli-
schen selbst, die alle füreinander Gegenwart sind, sich eifersüchtig aus-
schlössen, aber der Dichter vermag den Ausgleich ihres göttlichen Seins
nicht zu treffen, weil Christus noch andere Natur ist als Gegenwart. Eben
diese andere Wirklichkeit Christi beherrscht aber die Weltsrunde des Dich-
ters derart, daß er ihn nicht nach Art der griechischen Götter als welthafte
Gegenwart der »Natur« zu feiern vermag. Was sich der Dichter zunächst als
Schuld eingesteht: »Ich weiss es aber, eigene Schuld ist's« (>Der Einzige< v.
48), was er als gutzumachenden »Fehl« beklagt: »Nie treff ich, wie ich
wünsche, das Maas« (ebd. v. 77), das erkennt er am Ende als des Dichters
Form, ein Schicksal zu haben.
So handelt der Schluß der Hymne (ebd. v. 78-93) von der Gefangenschaft
des Geistes in seine menschlich-geschichtliche Lage. Nur »ein Gott weiss
aber, wenn kommet, was ich wünsche das Beste«. Einjeder andere hat ein
Schicksal, in das seine Seele gefangen ist. Auch Christus war ein solcher auf
Erden Gefangener und »sehr betrübt«, bis er zu seiner unirdisch-geistigen
Bestimmung frei wurde, »bis er gen Himmel fuhr in den Lüften, dem gleich
ist gefangen die Seele der Helden«. Auch die Unbedingtheit des heldischen
Geistes leidet das Schicksal der Gefangenschaft in die »Zeitn. Auch sie sind
nicht frei, sind nicht Meister ihres Geschicks. Und nun wird diesen, die alle
IIgeistign und doch gefangen sind, in der alles beschließenden Schluß wen-
dung zugestellt:
Die Dichter müssen auch
Die geistigen weltlich seyn.
Die Dichter sind sich »geistig«, d. h., sie sind der Gegenwart des Göttlichen
insgesamt, allen Himmlischen zugleich, zugeordnet. Auch sie aber leiden
10 Vgl. MAle KOMMBRBLL, Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt 1940. S. 287.
Hölderlin und die Antike 13
eine unaufhebbare Gefangenschaft in die Zeit. Das hat der Dichter eben an
sich seIbst erfahren: auch sie können »das Beste«, was sie wünschen, nicht
nach ihrem Willen herbeizwingeIl - es bleibt »einem Gott« anheimgestellt.
Die Dichter müssen also weltlich sein, weil sie nur die Gegenwart, in die
sie gefangen sind, singen können. Hölderlins Gegenwart gehört zu, daß sich
Christus der dichterischen Gestaltung versagt. Die griechischen Götter sind
Gegenwart der Sage, die sich dem Dichter im Lichte der »allgegenwärtigen«
Natur neu deutet - Christus dagegen ist der im Glauben Lebende, dessen
Anbetung "im Geist« geschieht. "Denn noch lebt Christus«. Der Dichter
weiß, welch Vergehen es wäre, wenn er erzwingen will, was ihm versagt ist:
»Wenn aber einer spornte sich seIbst [... ]« (.Patmos< v. 166ff.) oder:
Zum Traume wirds ihm, will es Einer
Beschleichen und straft den, der
Ihm gleichen will mit Gewalt (.Die Wanderung, v. 113ff.).
11 Diesem Deutungsversuch der Ungleichheit des Einzigen und der weltlichen Götter
scheint eine Stelle der anderen Christushymne •Versöhnender< zu widersprechen, wo es
zwar auch in Anwendung auf Christus, aber doch in allgemeiner Wendung heißt: »Und
immer grösser, denn sein Feld, wie der Götter Gott I Er selbst, muss einer der anderen
auch seyn« (v. 89f.). Dies, so allgemein gesagt, scheint den Vorrang des Einzigen
aufzuheben. Es fragt sich nur, ob es nicht gerade die christliche Verheißung ist, die, im
Dank bewahrt, diesen Satz auch für die anderen Götter erst wahr macht. Vgl. die Rolle des
Trösters in .Brot und Wein< und hier im Vorentwurf: »keiner, wie du, gilt statt der
übrigen alle« (IV 355). F. BEISSNER, Friedensfeier. Stuttgart 1954, S. 36, weist daraufhin,
daß eine Variante zu dieser Stelle »übrigen alle«: »Menschen« lautete. Gerade das bestätigt
Christi Auszeichnung - wohlverstanden: innerhalb der Göttlichkeit aller.
Inzwischen hat die Hymne durch die Auffindung der .Friedensfeier< eine höchst wichti-
ge Parallele gefunden, sofern auch dort die Gestalt Christi besonders betont und bei aller
Heraushebung dennoch gerade in die allgemeine Anrufung der Götter eingegliedert wird.
(Daß nicht Christus in der .Friedensfeier< als der» Fürst des Festes« zu verstehen ist, dürfte
heute anerkannt sein.)
14 Hölderlin und die Antike
Die erwartete Zukunft deutet sich ihm als »Frucht von Hesperien« (.Brot
und Wein~ v. 150). Das lang Verborgene und Verschwiegene gerade, das,
wofur das Wort fehlte, weil der allgemeine Sinn dafür nicht da war, wird die
Wahrheit eines neuen Tages sein. Denn »es wächst schlafend des Wortes
Gewalt« (ebd. v. 68). Der Dichter aber hat eben mit dieser Einsicht sein Amt
und sein Geschick auf sich genommen: er muß allein sein, weil er zuerst das
allen gemeinsame Göttliche in seinem Wort zu nennen und herbeizurufen
hat, wie das Vorspiel der Orgel den Gesang der Gemeinde, den Choral
einleitet (.Am Quell der Donau( Str. 1, .Der Mutter Erde( Str. 1).
Die Umwendung des Gedächtnisses in den Anruf des Kommenden, wie
sie im Liede des Dichters gelingt, ist das Nennen einer ganz eigenen Gegen-
wart: nicht der der alten, namentlich bekannten Götter, auch nicht des über
aller Abwesenheit waltenden Genius Christi - es ist Anruf und Deutung von
lauter Zeichen und Winken, der bedeutenden Figuren der heimatlichen
Berge und Ströme vor allem, die als Runen der Geschichte Antike und
Abendland zusammenschließen. Man denke an die Symbolik des Laufs der
Donau. Natur wird hier Geschichte. Der Lauf des Stromes, in dem sich
Himmel und Erde vermählen, wird zum Sinnbild der Zeit und des abendlän-
dischen Geschichtslaufes. Vor der Gegenwart solcher zukunftsvollen Chiff-
ren wird die Sage von den entschwundenen Göttern zur Kündung ihrer
neuen Wiederkehr. Die Gegenwart der Erwartung ist das Medium, in dem
sich der vermißte Ausgleich alles Göttlichen nunmehr vollziehen kann.
Erwartung ist, wie Gedächtnis, Gegenwart des Abwesenden. In ihr darf
auch der Gott des Abendlandes, der Versöhnende, versöhnt heißen (.Ver-
söhnender< v. 74). Denn keines Gottes Wirklichkeit ist so sehr wie die seinige
die Gegenwart der Verheißung und der Erwartung. Nun kann der Dichter
sagen, daß er schon immer - unwissend - der Mutter Erde und dem
Sonnenlichte gedient hat (.Patmos( Schluß). Denn was er tat, was sein Lied
über die Anrufubg klassischer Schemen in eine neue Zukunft hinaustrug,
war eben, daß sein Gesang Gegenwärtiges ersah.
C• • ·1 der Vater aber liebt
Der über allen waltet
Am meisten, dass gepfleger werde
Der veste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
HölderIin und die Antike 17
Der Buchstabe und das Bestehende sind nicht etwa Lehre und Übung des
Christentums allein, es sind Ildie Sprachen des Himmels« (I Unter den Alpen
gesungen< v. 27), die dem Dichter zur Deutung aufgegeben sind. "Manche
sind von Menschen geschrieben. Die andern schrieb die Natur« (,Am Quell
der Donau<, Prosaentw. IV 344).
Der hesperische Dichter kann nun, weil auch er eine Gegenwart singt -
wenngleich nicht die der Fülle und des allen gemeinsamen Tages -, die
antike Form der Feier der gegenwärtigen Götter, den Hymnus, in der Form,
die ihm Pindar gegeben hat, aufnehmen. Dennoch ist es eine ganz andere
Sprache, die Sprache Luthers, und ein ganz anderer Geist, was diese antiken
Formen verwandelt und erfüllt. Es ist die Gegenwart der drängenden Er-
wartung, nicht die des kunstvoll sicher verflochtenen Besitzes Pindarischer
Frömmigkeit. Es ist die Gegenwart des Offenen, in die sich die alten Götter-
bilder verwandeln und der sich auch der christliche Gott nicht vorenthält,
der mehr als alle anderen der »kommende Gott« ist (IBrot und Wein< v. 54).
auch hier klar gewesen sein. Auch das lyrische Wort der vaterländischen
Hymne ist unmittelbarer als das Pindarische, dessen Bezug im Vorgegebe-
nen liegt, in Geschlecht und Verdienst des zu feiernden Siegers und in einer
festen religiösen Wirklichkeits ordnung. Zwar hält auch davon Hölderlin
gern etwas fest, indem er Anrede oder Widmung in seine Verse verflicht,
aber gerade solches Siegel der Widmung macht es bewußt, daß der in ihnen
Angeredete einer anderen dichterischen Seins ordnung zugehört. Sieht man
auf den religiösen Bezug des Wortes, so wird vollends deutlich, warum
Hölderlin die griechische Kunstform der vaterländischen unterordnet. Denn
Pindars Wort vom Göttlichen hat Bezug auf eine feste religiöse Gegenwart,
deren reine Pflege des Dichters Amt ist, Hölderlins Wort dagegen ist dem
Andrang so unversöhnter Gewalten wie der griechischen Weltlichkeit und
der abendländischen Innerlichkeit ausgesetzt. Auch bei den Alten, bei Pin-
dar, wird im Hymnus nur sparsam aus der Fülle des Sagwürdigen gewählt.
Wenn aber Hölderlin sagt: »Vieles wäre zu sagen davon« (,Patmos( v.88)
oder» Viel ist die Ansicht« (,Der Einzige<, spät. Fassung v. 78), welch ein
Reichtum, nicht des Unausgesprochenen, sondern des Unaussprechlichen,
wird darin laut!
Die Klage des ,Einzigen<: »Nie treff ich, wie ich wünsche, das Maas« hat
damit ihre Bedeutung für das Ganze der Hölderlinschen Dichterhaltung
erwiesen. Sie ist nicht das Eingeständnis einer unbewältigten Aufgabe und
eines Versagens, das der sonstigen Meisterschaft des Dichters an einer Stelle
ihre Grenze setzte - im Gegenteil ist dies an seiner äußersten Grenze Stehen
das Geheimnis von Hölderlins ans Prophetentum gemahnender dichteri-
scher Kraft. )Das Maß nicht treffen< ist der beständige Ausdruck seiner
einzigen Inständigkeit. »Singen wollt ich leichten Gesang, doch nimmer
gelingt mirs« (IV 315). Es ist die »Fülle des Glücks«, die »Last der Freude«
()Der Rhein< v. 158), was diese innige Unmittelbarkeit in Hölderlins letzten
Ton bringt, ein »thörig-göttliches« Reden (ebd. v. 145), das im Verstum-
men noch fortsingt:
Und nun erinnere man sich der Gegenüberstellung der griechischen und
vaterländischen Vorstellungsarten, die Hölderlin in den )Anmerkungen zur
Antigonä( vornimmt. Dort (V 258) sagt er von den Griechen: »Ihre Haupt-
tendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, da hingegen
die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu
Hölderlin und die Antike 19
14 HEGEL, Phänomenologie, Vorrede S. 30 (Lasson). Vgl. dazu auch meine Studie .Hege!
und die :.ntike Dialektik., in Bd. 3 der Ges. Werke, S. 3-28.
IS Vgl. Hölderlins Wort über Homer, daß er dem Apolloreich die »Junonische Nüch-
ternheit. hinzugewonnen habe (V 315).
2. Hälderlin und das Zukünftige
(1947)
Das Jahr 1943 brachte die hundertjährige Wiederkehr des Todes von
Friedrich Hölderlin. Aus diesem Anlaß wurde er Gegenstand einer öffentli-
chen Anteilnahme, wie sie nur ganz tief im Herzen der Nation lebende
Vorbilder zu finden vermögen. Ja, diese Anteilnahme hatte etwas ganz
Eigenes, etwas, worin eifersüchtige Abwehr lag. Was dieser Gedenktag ins
allgemeine Bewußtsein herausrief, war nicht ein vergessener Ruhm, den es
zu erneuern, auch nicht ein immer gegenwärtiger Stolz, den es zu bestätigen
galt - es war ein noch ganz junger Ruhm, der einem Dichter zugesprochen
wurde, der nicht wie ein seit hundert Jahren Toter, sondern wie ein noch
heute Lebender von einer leidenschaftlichen Jugend geliebt wird. Einjeder
möchte ihn fiir sich zurückbehalten, der Schwabe nur den Schwaben, d~r
Deutsche nur den Deutschen. Und doch gehört dieser Dichter heute der
jungen Elite aller Länder als ihr neuer, unverhoffter Besitz. Noch wissen wir
nicht recht, was wir in ihm haben - auch darin ist er wie ein Dichter unserer
Gegenwart. Unser Verhältnis zu Schiller, ja auch das zu Goethe - wie fügt
sich ihm diese neue, leidenschaftliche Vorliebe ein? Das Bild, das frühere
Generationen von dem Dichter Hölderlin hatten, ist ungültig geworden.
Aber wie ist er überhaupt zu messen, er, an dem sich alle Maßstäbe derart zu
verwirren drohen, daß nichts, auch die höchste Wertung nicht, eine Ver-
messenheit scheint? Er selbst war von einem glühenden Ehrgeiz verzehrt, es
den Größten, es Schiller und Goethe gleichzutun. Heute, hundert Jahre nach
seinem Tode, scheint sich dieser vermessene Ehrgeiz erfüllt zu haben. Selbst
die deutsche Bühne wirbt um diesen bühnenfremdesten von allen wie um
eine neue Hoffnung, und unübersehbar wird das Werben der Deuter um sein
tief verrätseltes Werk.
Um diesen Vorgang zu verstehen, muß man sich die Geschichte seines
Werks und seiner Wirkung vor Augen halten. Als ihn die Schatten des
Wahnsinns verdunkelten, in dessen Nacht er noch vierzig Jahre lang leben
sollte, war sein Werk nicht zu einer in sich vollendeten Gestalt gelangt. Nur
weniges war in Buchform erschienen, das große lyrische Hauptwerk der
letzten Jahre vor der Umnachtung war teils überhaupt unbekannt, teils war
es in Almanache und Taschenbücher verstreut. So blieb er in seinem eigenen
Hölderlin und das Zukünftige 21
Wesen unkenntlich. Man nahm ihn auf und nahm ihn an, soweit er sich einer
schon vertrauten Vorstellungswelt einfügen ließ. Man sah in ihm einen
edlen Ausdruck romantischen Dichtergeistes. Seine Dichtungen ehrte man,
wie die des Novalis, als die Dokumente eines Frühvollendeten, in denen sich
ein ähnliches, christlich-germanisches Geschichtsempfinden dichterisch
aussprach. Das Neue, Einzigartige, das Hölderlin erst zu dem großen Dich-
ter macht, den wir heute in ihm verehren, die Kraft seiner Sprache und die
Fügung seiner WeIt, blieb unsichtbar und unverstanden. Was sich dem
Verständnis der Zeitgenossen versperrte, konnte überdies stets der Wahn-
sinn des Dichters verschuldet haben. So hat weniger das lyrische Hauptwerk
Hölderlins als sein Hyperion-Roman das allgemeine Bild des Dichters be-
stimmt, dieses Epos von einem in Begeisterung und Verzweiflung unbe-
dingten Willen zum Vollkommenen, der an der niedrigen Wirklichkeit
tragisch zum Scheitern kommt. Gewiß gab es eine stille Schar geheimer
Freunde des Dichters im ganzen Jahrhundert. Zu diesen gehörte etwa der
junge Friedrich Nietzsche. Aber das allgemeine Bewußtsein nahm ihn nicht
auf. Wenn sich dann auch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts unser
Besitz an Hölderlinschen Dichtungen durch den Eifer der philologischen
Forschung zu mehren begann, so war es doch die Entdeckung eines neuen
Dichters, als kurz vor dem Ersten Weltkrieg Norbert von Hellingrath das
lyrische Hauptwerk Hölderlins großenteils aus den Handschriften herstellte.
Es geschah mit einem für das Dichterische neu aufgeschlossenen Sinn. Es
war der Dichter Stefan George, aus dessen Nähe der junge Philologe kam 1 ,
dem wir die große Werkausgabe Hölderlins verdanken. Seitdem hat Höl-
derlin einen ständig wachsenden Einfluß auf die deutsche Jugend geübt; und
so ist es gekommen, daß er hundert Jahre nach seinem Tode zu den Größten
unter den Großen gerechnet wird. Eine neue große Ausgabe seiner Werke
begann im Jahre 1943 zu erscheinen.
Was hier vor sich ging, ist ein in der neueren Geistesgeschichte einzigar-
tiger Vorgang - es ist die Geschichte eines um einjahrhundert aufgesparten
Werkes. In Zeiten kärglicher überlieferung, wie wir sie aus der antiken
Literaturgeschichte kennen, wäre hieran nichts Sonderbares - dies aber
vollzog sich in einer Zeit, der das Bewahren und überliefern eine Lieblings-
betätigung ihrer historischen Neigung war. Wie um uns zu belehren: es ist
nicht die Historie, die über Schlaf und Erweckung der Geister waltet.
Wirklich war es eine echte Erweckung, die dem Werke Hölderlins wider-
fuhr. Es war und ist keine Literatenmache oder Philologenentdeckung, auch
keine bloße Sache der Mode (die nichts verschont und auch dieses nicht
verschont hat), noch auch des bloßen Selbstgefühls der Bildung. Das gerade
ist das Erstaunliche, daß die großen Dichter unserer Zeit, daß George und
1 VgJ. dazu auch ,Hölderlin und George<, in diesem Band, S. 229 ff.
22 Hälderlin und das Zukünftige
Rilke (von den geringeren Lebenden ganz zu schweigen) uns bereits histo-
risch anzumuten beginnen, während Hölderlins Dichtung - unbegreiflich
genug - absolute Gegenwart ist.
Wir stellen die Frage: Wie ist das möglich? und treten mit dieser Frage in
eine philosophische Besinnung ein. Denn wir fragen: Was ist uns unsere
Gegenwart und was ist uns Hölderlin, daß sich uns beides so in eins setzt?
Bestimmen wir Gegenwart als die weltgeschichtliche Einheit der letzten
Jahrzehnte, und bedenken wir, daß es eben diese sind, in denen sich Hölder-
lins Aufstieg vollzog, so können wir hoffen, daß sich das eine durch das
andere erhellen wird. Daß insbesondere, was uns Gegenwart ist, an dem
sichtbar wird, was Hölderlin uns ist.
Eines freilich weiß diese Gegenwart von sich: daß sie das Ende eines
Zeitalters ist, und - wie es zum Wesen des geschichtlichen Werdens gehört-
damit auch der Beginn eines neuen. Man kann dieses Zeitalter, das da
kommt, verschieden charakterisieren: als das sozialistische Zeitalter, als das
Zeitalter der sich zu sich selbst bekennenden Macht, als das Zeitalter des
Kam pfes um die Erdherrschaft oder auch das Zeitalter der Weltkriege - oder
man kann den Beginn dieses Zeitalters bestimmen durch den Zusammen-
bruch des Idealismus - das will sagen, durch das Ende des Glaubens an die
ursprüngliche und selbständige Mächtigkeit der Vernunft, oder man kann es
charakterisieren durch das Ende der Bildung als der eigentlich bürgerlichen
Gestalt des Geistes - in jedem Falle entbehrt das Selbstbewußtsein der
Gegenwart des gesicherten Gefüges, in dem sich frühere Generationen
verstanden. Eine neue Unsicherheit, eine neue Unmittelbarkeit zu dem
Schicksal, das uns trifft, ein freies Ausgesetztsein ins Ungewisse ist in der
Welt, gerade auch da, wo das Pathos eines jeden Heroismus, selbst das eines
heroischen Nihilismus, verschmäht wird.
Fragt man sich, was diesem Gegenwartsbewußtsein im dichterischen
Wesen Hölderlins entgegenkommt, so wird die historische Besinnung ver-
wandte Züge im allgemeinen Zeitbewußtsein feststellen wollen. Sie wird
sich erinnern, daß auch das Zeitalter Hölderlins eine Zeit der Wende, der
Auflösung und der Erwartung war. Die Französische Revolution brachte
eine gewaltige Erschütterung der europäischen Gesellschaftsordnung. Sie
war der Anfang eines Jahrhunderts der Revolutionen, das bis in unsere
Gegenwart hineinreicht. Mit ihr entstand zuerst, maßlos in Erwartung wie
im Schrecken, das Bewußtsein, an der Schwelle einer neuen Epoche zu
stehen. Das Bewußtsein unserer Gegenwart scheint fast so etwas wie die
Vollendung dieses Bewußtseins zu sein.
Allein, solche Bezüge im allgemeinen Zeitbewußtsein können die beson-
dere Wirkungskraft Hölderlins in unserer Zeit noch nicht erklären. Er teilt
sie ja nicht mit seinen großen Zeitgenossen. Gerade der klassischen Geltung
Schillers und Goethes gegenüber bedeutet die Wirkungs geschichte Hölder-
Hölderlin und das Zukünftige 23
lins fast so etwas wie eine Verschiebung auf unserer geistigen Ahnentafel.
Hölderlin ist zwar auch heute weniger als unsere klassischen Dichter ein
Inhalt unserer nationalen Bildung. aber eben dadurch ist er fast mehr. Er
redet uns auf eine andere. unvergleichbare Weise an. Die Vorstellung etwa.
er könnte zu dem Zitatenschatz unserer Bildung ähnlich beisteuern wie
Schiller und Goethe. hat etwas in sich Unmögliches. Es gibt keine mögliche
Lebenslage. zu der die dichterische Begleitung und Beleuchtung aus Hölder-
lins Werk genommen werden könnte. Er vermag uns in nichts zu bestätigen
oder zu sichern. er zwingt uns vielmehr ins Offene. Gegenüber der bildneri-
schen Selbstgenügsamkeit Goethes oder dem wortgewaltigen Enthusias-
mus Schillers ist sein Werk und Wesen unverwechselbar bezeichnet durch
die Unmittelbarkeit. mit der es den Gewalten ausgesetzt ist. von denen es
kündet. Daß unter diesen Gewalten die Liebe zum Vaterland dem Dichter als
eine letzte und höchste dichterische Erfahrung zuteil ward. sichert ihm einen
besonderen Widerhall im Bewußtsein einer Generation. der die alten frohge-
muten Formen patriotischen Empfindens und Bekennens über einem neuen
Schicksalsbewußtsein vergangen sind.
Hölderlins Unmittelbarkeit ist eine Unmittelbarkeit zur Zeit. Der Grund
seines Wesens ist bestimmt durch sein Geschichtsbewußtsein. Nicht als ob
er vonjenem geschichtlichen Bewußtsein ergriffen wäre. das wir das histori-
sche nennen und in dem sich das Bewußtsein. Erbe der Vergangenheit zu
sein, mit dem anderen Bewußtsein verbindet. selbst nur Glied der endlosen
Kette geschichtlicher Entwicklung. selbst nur untergehend da zu sein. Höl-
derlins Geschichtsbewußtsein ist vielmehr Bewußtsein der Gegenwart und
der sich in ihr bezeugenden Zukunft. Das Vergangene. Zeiten wie Männer.
ist ihm Zeichen für das Geschehen des uns bestimmten Schicksals. Kein
anderer unserer Dichter ist so wie er gleichsam aufgesogen von der Gegen-
wart der Zukunft. Sie ist seine Gegenwart, das. was er sieht und dichterisch
verkündet.
Es ist dafür bezeichnend, daß ihm die Nacht zum dichterischen Ausdruck
seines Geschichtsbewußtseins wird. Denn die Nacht hat eine tiefe Zweideu-
tigkeit in sich. Zwar ist ihr Kommen das Ende des geschäftigen Tages. Das
Dunkel entzieht. nimmt die gegliederte Ordnung aus den Dingen, die uns
umgeben. und verhüllt den Weg. Aber indem sie so die Gegenwart der Welt
einhüllt, öffnet sie zugleich den Sinn des Menschen für solches, was im Licht
und im Lärm des Tages verborgen blieb: fernes Saitenspiel, Geläut von
Glocken, das Rauschen der Brunnen, das Duften der Blumenbeete. und mit
all dem bewegt sie »die hoffende Seele der Menschen«. So ~childert in
unvergänglichen Versen die erste Strophe von IBrot und Wein< das offenba-
rende Aufziehen der Nacht:
24 Hölderlin und das Zukünftige
Durch ihre lyrische Stimmungs kraft haben diese Verse schon die Bewun-
derung der Zeitgenossen erregt und wurden unter der überschrift IDie
Nacht< damals (1807) in einem Musenalmanach gedruckt. In Wahrheit
gehören sie aber nicht in den Zusammenhangjener schwärmerischen Begei-
sterung für die alles in mystisches Geheimnis auflösende Nacht, wie sie
Herder und die Romantiker hegten. Diese Verse sind die erste Strophe eines
großen und tiefsinnigen Gedichtes, ein Aufklang, der die Nacht ehrt, weil
sie Symbol für die weltgeschichtliche Lage des abendländischen Menschen
ist. Die Ehrung der Nacht meint die IGeschichtsnacht<, das nächtliche
Schicksal des Abendlandes, fern von der göttlich erfüllten Welt des Alter-
tums in einer götterlosen Zeit zu leben. In ähnlicher Weise hat auch Novalis
in seinen IHymnen an die Nacht< der Nacht einen geschichtlichen Klang
gegeben. Aber setn christliches Denken sieht in der Nacht die höhere Wahr-
heit gegenüber dem heiteren Anschein des Tages. So wie er sie ehrt, weil in
ihr alles Wesenlose absinkt und die reinen Geister sich unbehindert miteinan-
der vermählen, so ist auch ihr geschichtlicher Sinn, in Christus die überwin-
dung des Todes gebracht zu haben, an dem die heitere Götterwelt der
Griechen versagte. Dagegen bezeichnet der Gegensatz zwischen Tag und
Nacht das Geschichtsbewußtsein Hölderlins im negativen Sinne, als die Not
der Götterferne, und am Gegenbild des griechischen Lebens als des vom
Göttlichen erfiillten Tages. Es sind ganz eindeutige Erfahrungen, die Höl-
derlin in diesem Bild und Gegenbild gestaltet. Die Götterlosigkeit der
Neueren meint jene »Gefühllosigkeit für gemeinschaftliche Ehre und ge.:.
meinschaftliches Eigentum«, jene Beschränktheit in eine enge Lebenssphä-
re, jene» bornierte Häuslichkeit« insbesondere. die Hölderlin im deutschen
Hölderlin und das Zukünftige 25
Volkscharakter erkennt, einen Geist der knechtischen Sorge, die stetS nur
ihren Vorteil sucht und im Mißtrauen alle von allen vereinzelt. Dagegen weiß
der Dichter: »Die Sphäre, die höher ist als die des Menschen, diese ist der
Gott. « Die Himmlischen sind die begeisternden Kräfte, die den einzelnen als
eine ihn übertreffende Gemeinsamkeit beseelen. In unseren Tagen, ))da die
knechtischejetzt alles die Sorge zwingt«, ist allein noch die Liebe ein Zeichen
der schöneren Zeit. Nur in der Seele der Liebenden ist noch die Gemeinschaft
des Lebens wahrhaftig lebendig. Ihnen ist die Welt noch göttlich. Sie nehmen
alles Begegnende als eine Gunst entgegen, die so wunderbar ist, wie sie selber
einander ein Wunder sind. So ftihlt sich der Dichter durch Diotima verwan-
deltundgeheilt: »Denn göttlich stille ehren lernt'ich/daDiotima den Sinn mir
heilte«. Wo aber die Sorge herrscht und ehernen Dienst fordert, wo Tag für
Tag »der Gebrauch«, das ist das stetige Bedachtsein auf das Brauchbar-
Nützliche, »uns die Seele ablistet«, dort ist das Leben unmenschlich gewor-
den, so daß das Göttliche sich ganz entzieht. Es ist die Nacht der Götterferne.
Von dort bestimmt sich der Sinn des Göttertages )) bei Hellas blühenden
Kindern« als ein Leben, das ganz und gar aus der Anwesenheit göttlicher
Mächte verstanden wird, das im Ehren der Götter die Ordnungen des eigenen
Lebens aufrichtet, die wir als die herrlichen Tempel und Städte, als die Feste
und Theater des klassischen Griechenland lieben und bewundern. ))Gegen-
wart der Himmlischen« in all den feineren unendlichen Beziehungen des
Lebens, die wir mit unseren »eisernen Begriffen« aufgeklärt, das heißt
moralisch, verstehen. Das durchherrschende religiöse Lebensverständnis der
Griechen ist in Wahrheit eine ))höhere Aufklärung«. Sie besteht nicht in der
abstrakten Allgemeinheit einer verständigen Moral, sondern in der konkre-
ten Allgemeinheit einer gemeinsam erlebten Wirklichkeit, eines gemeinsa-
men Geistes. Die dichterische Verklärung dieses Göttertages in Tragödie und
Hymnik der Griechen ist kein zufalIiger Vorzug eines poetisch begabten
Volkes, sondern bezeichnet die Vollendung der Erfahrung des Göttlichen
selbst. ,)Nun, nun müssen daflir Worte. wie Blumen, entstehen. «
Die Nacht istaber nicht nur diese Zeit der Götterferne, der Not, in der alles
Haltbare aus dem Leben entwichen ist. Sie ist zugleich die Nacht des bewah-
renden Gedächtnisses an den Tag und die Erwartung seiner Wiederkehr.
»Denn wenn es aus ist und der Tag erloschen«, ist zwar das Göttliche und sein
Bild unsichtbar geworden:
26 Hölderlin und das Zukünftige
Aber diese Zeit der Trennung von Göttern und Menschen bewahrt den-
noch ein Gedächtnis ihrer Vereinigung. Auch in unserer götterlosen Welt
fehlt es nicht ganz an Wissen um Göttlichkeit. Brot und Wein, die Unter-
pfänder der christlichen Verheißung, deuten sich dem Dichter als Gaben der
Götter, für die ))stille noch einiger Dank lebt(c. Ihr Gesegnetsein vom Ein-
klang der Erde und Sonne, ihr sichtbares Abhängen von uns übertreffenden
Mächten, den Elementen, die im Wetter sind, läßt sie als Unterpfand einer
Form der Welterfahrung erscheinen, die den Heutigen sonst unverständlich
geworden ist. Es ist die Erfahrung der Welt in der Freude. ))Denn zur
Freude, mit Geist, wurde das Größre zu groß / unter den Menschen. ce Es ist
das Wesen der Freude, daß sie »Geist« ist. Das bedeutet zunächst, daß sie
gemeinsam ist und Gemeinsamkeit schafft. Sie ist nicht erst Freude und will
sich dann auch mitteilen, sondern sie wird gerade im Sichmitteilen erst
Freude:
[... Jes ertrug keiner das Leben allein;
Ausgeteilet erfreuet solch Gut und getauschet mit Fremden
Wird's einjubel [... ]
Sie ist aber zweitens nicht ein blindes Zumutesein, sondern steht in der
Offenheit des Empfangens. Sich im gemeinsamen Besitz sehend und wis-
send ist sie »Freude mit Geistcc. Diese Welterfahrung des antiken Daseins, die
im Gut die Gabe erkennt und ehrt, ist nicht mehr unter den Menschen. Nur
Brot und Wein, meint der Dichter, bewahren etwas von ihr. Sonst aber sind
die Menschen gewohnt, alles stets nur auf ihren Nutzen zu beziehen. Der
Geist des Nutzens aber vereinzelt. Die ängstliche Sorge um den eigenen
Vorteil macht unfrei und einsam. Es ist der »Nachtgeist« des abendlichen
Zeitalters. Eben aus dieser Lage entspringt das Amt des hesperischen Dich-
ters, die Kunde vom Göttlichen zu bewahren und weiterzugeben. Gewiß ist
es schwer, Dichter in dürftiger Zeit zu sein, und Hölderlin klagt: »zu ahnen
ist süß, aber ein Leiden auch<c Ihm blühen nicht die Worte entgegen, in
denen ein Volk sich und seine Welt weiß. »Schweigen müssen wir oft; es
fehlen heilige Namen, / Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?«
Eben deshalb aber ist sein einsames Werk kein müßiges Tun.
Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,
Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.
Das ist des Dichters Mission: Er ist der Vorsänger der Zeit. Er singt, was sein
wird. Das Gedächtnis wandelt sich in Erwartung, die Bewahrung in Verhei-
ßung.
Hölderlin und "das ZukQnftige 27
Damit gewinnt die Nacht einen weiteren neuen Sinn. Sie ist nicht nur die
Dämmerung, in der sich noch einiges vom gewesenen Tage bewahrt, sie ist
auch die Dämmerung, in deren Schatten sich der Geist erholt, die Verhül-
lung, in der sich eine neue Zukunft vorbereitet. Die hesperische Nacht ist
eine Nacht der Schonung und der Sammlung. Die Götter leben jetzt fern
von uns, »droben in anderer Welt«.
[" " .) So sehr schonen die Himmlischen uns.
Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,
Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.
Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsal
Hilft, wie Schlummer, und stark machet die Noth und die Nacht.
Das ist die Einsicht, zu der sich der nächtlich-kühne Geist des Dichters
erhebt: Dieses abendländische Weltalter ist eine heilige Nacht, die auf die
sichere Wiederkehr der Götter deutet.
Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt,
Siehe! wir sind es, wir: Frucht von Hesperien ist's!
er aus. Er »liebt« Kolonie, das heißt, er sucht sich mit tapferem Vergessen
des alten Glückes eine neu zu gründende Heimat, die Stätte neuen Zuhause-
seins und Bleibens3 • Und wunderbarerweise sind es unsere Blumen und die
Schatten unserer Wälder, die den schier Verschmachteten erfreuen. Der
Dämmer des Nordens und der von ihm beherrschten Zeiten ist der neue,
bisher nur verborgene Wohnsitz des Geistes.
Es ist eine Sinngebung der abendländischen Geschichte, die sich in dieser
Umdeutung der Nacht vollzieht, und der Dichter, der dies weiß und ver-
kündet, ist ein in den Sinn der Geschichte Eingeweihter, sei es, daß ihn eine
Entrückung geheimnisvoll an den Anfang der abendländischen Geschichte
versetzt und über ihren Gang nachdenken läßt (>Patmos<), sei es, daß er als
ein Wissender, den »der Wandlungen viele bewegen«, dem Weg des Wortes
aus Osten, dem Flug des Adlers folgt,
[... ] der vom Indus kömmt
Und über des Pamassos
Beschneite Gipfel fliegt, hoch über den Opferhügeln Italias [... ],
beginnt der >Gesang der Deutschen<. Und in der anderen Ode >An die
Deutschen< siegt ebenfalls über den Unmut dessen, der die Seinen »tatenarm
und gedankenvoll« schilt, die Zuversicht in den »Genius unseres Volks«.
So wird endlich das Auge des in der Nacht der dürftigen Zeit vereinsam-
ten Dichters rur eine neue Gegenwart geöffnet, die Gegenwart des Zukünfti-
gen. Er. der litt, weil er von sich sagen mußte:
Nur was blühet, erkenn ich.
3 F. BEiSSNER weist die obige Deutung wiederholt zurück: St.A. 112. S. 621 und S. 825,
sowie Friedensfeier (Stuttgart 1954), S. 41. Aber mit was fiir Gründen! Welche hermeneu-
tische Naivität, sich auf den Boehlendorflbcief zu berufen, statt den Zusammenhang des
Gedichts als erste Instanz anzuerkennen! .Orkus, Elysium ist's« muß als genaue Parallele
zu .Frucht von Hespecien ist's« verstanden werden. Das steht fest. So ergibt sich, in
welcher Blickrichtung hier gesehen wird: vom Anfang. von der Quelle. von Griechen-
land aus. Und welches unpoetische Mißverständnis von .Kolonie., offenbar unter den
Assoziationen von Hitze. Durst und Tropenhelm. Friedensfeier, S.4O und St.A. 112,
S. 825 scheint BEiSSNER sogar »im Anfang« als .anfangs« mißzuverstehen!
Hölderlin Wld das Zukünftige 29
und deshalb in den Ton der Klage um die entschwundene Herrlichkeit
gebannt war, wird zum hymnischen Sänger, der die Zeichen entziffert, in
denen das Zukünftige sich ankündigt.
[... ] Der Vater aberliebt,
Der über allen waltet,
Am meisten, daß gepfleget werde
Der veste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.
In diesem Schluß von >Patmos< ist die neue Aufgabe genau bezeichnet. Auf
Deutung des Bestehenden kommt es an, so daß es zum Zeichen des Zukünf-
tigen, zur bedeutungsvollen Schrift wird. Diese Aufgabe meint der Dichter,
wenn er sich vorsetzt, vonjetzt an die »Engel des Vaterlandes« zu singen. Sie
sind die Zeugen und Boten des Göttlichen, die der Dichter erkennt - vor
allem in der großen Urschrift des elementaren Naturlebens:
[... ] Des Göttlichen aber empfiengen wir
Doch viel. Es ward die Flamm uns
In die Hände gegeben und Boden und Meeresfluth.
Denn menschlicher Weise nimmermehr
Sind jene mit uns, die fremden Kräfte, vertraut.
Das Hinausgehen über die menschliche Weise der Vertrautheit - bei allem
nahen Umgang des Nutzens und Brauchens -, das die Elemente auszeichnet,
ist ihre Göttlichkeit, und insofern sind sie uns, gerade weil sie »vor Augen
dir« sind, zur Lehre. Sie lassen in der Gegenwart des Täglichen an das
Göttliche denken und mahnen zum rechten Dank.
[... ] Es rauschen die Wasser am Fels
Und Wetter im Wald und bei dem Namen derselben
Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder.
Noch bedeutender aber sind uns die bestimmten Gestalten der heimatli-
chen Landschaft, insbesondere ihre Ströme und ihre Gebirge. Denn der Lauf
der Ströme und der Zug der Gebirge sind wie über uns ergangene Entschei-
dungen des Schicksals. Sie formen den geschichtlichen Raum unseres Da-
seins, und bedeutungsvoller noch weisen sie über ihn hinaus in andere
Sinnsphären der Herkunft und der Bestimmung. So, wenn die Donau
gleichsam den Weg unseres geschichtlichen Erinnerns voraneilend nach
Osten strebt, so, wenn der Rhein im gleichen Drang nach dem Ursprungs-
lande gehemmt »still wandelnd sich im deutschen Lande begnügt« und sich
und uns »ein wohlbeschiedenes Schicksal« findet. »Sie sollen nämlich zur
Sprache sein.« Offenbar meint Hölderlin nicht eine bloße vage Symbolik.
Gebirgszüge und Flußläufe lassen uns fdhlen, wie wenig unser menschliches
Tun und Lassen angesichts dieser Runen der Erdgeschichte bedeuten. Das
30 Hölderlin und das Zukünfrige
sagen sie uns. Die Fugen und Furchen von Himmel und Erde sind uns
Schicksalszeichen. Die menschliche Geschichte, die des einzelnen wie die der
Völker, ist nicht nur jenen in die Natur eingestalteten Schicksalszügen
zugeordnet, sie ist selbst ein solches Schicksal, wie eine Begegnung von
Menschen und Göttern, ein Stück Geschichte der Götter. Ebenso fand
Hölderlin auch in den großen Männern der abendländischen Geschichte
solche Bedeutung. Er sah in ihnen Schicksalsmänner, die, sich selbst erfül-
lend, den einen Sinn der Geschichte bilden, eine )) Himmelsleiter«.
[... ] Wo nämlich
Die Himmlischen eines Zaunes oder Merkmals,
Das ihren Weg
Anzeige, oder eine Bades
Bedürfen, reget es wie Feuer
. In der Brust der Männer sich.
Doch damit ist eine letzte, alles vollendende Stufe in der Neudeutung der
Nacht erreicht. Sie ist nicht bloße Zeit der Not, nicht bloße Zeit der
Bewahrung und Bereitung, die auf das Zukünftige deutet. Sie ist zugleich
auch der bleibende Grund und das beständige Mitdasein mit dem gestalteten
Tage und dem gegenwärtigen Göttlichen.
Es ist der Mythos von den Titanen, in dessen Lichte sich dem Dichter die
Deutung der Geschichte aus dem Zukünftigen vollendet. Ihm sind mehrere
fragmentarisch gebliebene Hymnenentwürfe gewidmet. Er steht aber auch
im Hintergrunde mancher anderer seiner großen Dichtungen der Spätzeit.
Die Titanen sind die Götterfeinde der griechischen Mythologie, die Gegner
der Olympier, die in der gewaltigen Götterschlacht in Thessalien, die uns
Hesiod erzählt, besiegt und in den Tartaros, den lichtlosen Abgrund, ver-
bannt wurden. Zu den Titanen gehört aber auch im besonderen4 Prometheus,
der Menschenfreund, der den Sterblichen das Feuer verschaffte und so ihre
Herrschaft über die Natur begründete. Aufstand der überwundenen Titanen
ist von da aus jede neue Bedrohung der göttlich regierten Weltordnung, auch
die durch den maßlosen und widergöttlichen Herrschaftswillen der Men-
schen. Das etwa sind die gängigen Züge der antiken mythologischen Überlie-
ferung, die Hölderlin vom Ursprung seiner Erfahrung aus belebt.
Wie sieht der Dichter das Titanische? Offenbar im Vergessen des Ur-
sprungs und dem daraus entspringenden Trachten, »den Göttern gleich zu
werden«. Der Rhein ist anders. Er ist ein Göttersohn, der seines Ursprungs
nicht vergiBt, als er das stille Schicksal seines langsamen und segenspenden-
den Ganges durch die deutschen Lande annimmt. Damit weckt er das
Gegenbild des Titanischen, dessen, das sich vermißt.
4 Nach K. RI!INHARDT (Tradition und Geist. Gättingen 1%0, S. 207f.) eine Erfindung
erst des Aischylos.
Hölderlin und das Zukünftige 31
Wenn einer, wie sie, sein will und nicht
Ungleiches dulden, der Schwärmer,
so trifft ihn das göttliche Gericht,
[... J daß sein eigenes Haus
Zerbreche der und das Liebste
Wie den Feind schelt und sich Vater und Kind
Begrabe unter den Trümmern [... )
Hier mag Mythologisches, die vom Wahnsinn gestraften Heroen Bellero-
phon, Herkules, dem Dichter vorschweben. Die belebende Erfahrung aber
ist wiederum eine gegenwärtige: die Selbstzerstörung des maßlos auf sich
selbst Bestehenden.
Wer war es, der zuerst
Die Liebesbande verderbt
Und Stricke von ihnen gemacht hat?
fragt der Dichter und will doch keine Antwort aus der mythischen Vorzeit
hören,' sondern sagen, was diese mythische Auflehnung gegen die Götter
immer und als eine immer bleibende Versuchung im Grunde ist: Vergessen-
heit, eine wahre Gottvergessenheit, Verkehrung des wahren Verhältnisses
von Göttern und Menschen. Sie wirkt sich in der Verkehrung unseres Seins
zu den Dingen aus. Liebesbande und Stricke sind die Art unmerklicher
Führung und Leitung, die in liebender Verbundenheit geübt wird (»in
leichtem Umfangen(!) gegenüber dem Gezwungen- und Gezogensein durch
ausgeübte Gewalt. Dies soll den Wandel im Sein zur Natur beschreiben, der
sich durch die Entfesselung des menschlichen Herrschaftswillens vollzogen
hat. Die Gaben der Natur werden nicht mehr so, wie sie sich bieten,
hingenommen und genutzt, sondern gewaltsam zu Leistungen gezwungen.
Das ist selbst noch mythologisch geredet. Gemeint ist die Verwandlung alles
Seinsverhaltens in Berechnung, die das Schicksal der Neuzeit bezeichnet.
So, wenn die Menschen in der segenspendenden Fülle der Natur, etwa im
Laufe des großen Stromes, nicht mehr erkennen, was sie lieben, die unvor-
denkliche Vertrautheit der Heimat. sondern nur noch einen Rechnungsfak-
tor in' ihrem wirtschaftlichen Fieber, eine Wasserstraße von so und so
)auszulastender. verkehrs technischer Potenz. Das kennzeichnet die Gegen-
wart, daß in ihr »der Geist zu Diensten« gebraucht wird:
Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon.
Und alle Himmelskräfte verscherzt. verbraucht.
Die Gütigen, zur Lust danklos ein
Schlaues Geschlecht [... )
32 Hölderlin und das Zukünftige
Der Stab des Gesanges, 'das alte Rhapsodenzeichen, soll die Toten aufwek-
ken, »die noch gefangen nicht vom Rohen sind«. Darin liegt ein Doppeltes,
Der Gesang ist nur Wink, das heiß t, er weckt und erliest nicht jeden - 11 denn
nichts ist gemein«. Aber er hat diese weckende Kraft, weil er löst und bindet.
Er löst aus der Fessel des Rohen, aus den barbarischen Sorgen, und er bindet,
weil er in die Gemeins:amkeit des Wortes herausruft und in ihr für alle
bewaht,t·und--wirklich macht, was: die »verschwiegene Brust« weniger ein-
zelner erfüllte. Schon für die Göttlichkeit des Weines war es dem Dichter ein
Unterpfand, daß die ihm geltenden Gesänge I)im Ernst« gesungen waren, -
das heißt: nicht aus einer gelehrten Mythologie, sondern als eine lebendige,
lösende und begeisternde.Macht den Wein priesen.
Warum aber - wird man sich fragen - ist das Gelingen des Gesanges
Unterpfand des Seins und der kommenden Rückkehr der Götter? Gewiß,
das Gelingen ist nicht das Resultat einer berechnenden Bemühung des
Dichters, sondern erscheint als die Verfiigung eines Höheren über ihn. Aber
wieso hat dies die Bedeutung eines Unterpfandes für die Wandlung aller?
Offenbar ist die Sprache, der gemeinsame Besitz von Welt, in ihrer eigentli-
chen Möglichkeit, wenn sie nicht Ausdruck der Meinungen einzelner ist,
sondern in ihrem dichterischen Gefügtsein in sich selbst besteht und von sich
a\'fs·,·ctas"Aufgetaßtwerden bestinihi't·, Als solChes Gefüge von Dichtung, in
der Abgelöstheit von den Meinungen, ist die dichterische Sprache eine den
einzelnen, auch ihren Schöpfer übertreffende Seinswirklichkeit, kein bloßer
Zauber, sondern die Erscheinung einer verwandelten Welt. Diese Verwand-
lung der Welt in eine das einzelne menschliche Bewußtsein übersteigende
Seinsordnung ist aber ebenjene Rückkehr der verlorenen Verbindung und
Bindung von Göttern und Menschen, von der die Dichtung Hölderlins
spricht. So ist der Gesang nicht in dem Sinne ein Zeichen, daß er hinzeigt auf
ein Anderes, Kommendes, Gemeintes - in ihm selbst geschieht das Kom-
mende. .
Ein spätes Bruchstück kann diese Zusammenhänge verdeutlichen. Es
lautet:
...... L: ,J eifen die Fenster des Himfu'e1s~"
Und freigelassen der Nachtgeist
Der himmelstürmende, der hat unser Land
Beschwätzet, mit'Sprachen viel, undichtrischen, und
Den Schutt gewälzet
Bis diese Stunde.
Doch kommt das, was'ich will,
Wenn! ... }
34 Hölderlin und das Zukünftige
Offenbar hat der Dichter hier zwei mythische Motive verschmolzen: den
griechischen Mythos von den Titanen und die Geschichte vom babyloni-
schen Turmbau und der ihm folgenden Sprachverwirrung. Das Be-
schwätztsein von undichterischen Sprachen, diese Entstellung des sprachli-
chen Kosmos, erscheint zugleich als eine Verwirrung der göttlichen Ord-
nungen. Undichterisch heißt, nichts vom Göttlichen wissen zu wollen. Und
so bedeutet ein Undichterischsein der von den Menschen gesprochenen
Sprachen in der Tat den titanischen Aufstand. .
Umgekehrt besteht offenbar eine klare Entsprechung zwischen der allen
gemeinsamen Sprache, die der Dichter führt, und dem allen gemeinsamen
Tage. Das Wort des Dichters gibt der Erfahrung des Göttlichen Halt und
Bindung. Haltbarkeit, Bindung an feste Wege des Wandels kennzeichnet.
auch den Tag, im Unterschied zum Rohen, zur Wildnis, zum Dämmer, zur
Verwirrung der Nacht. Tag und Nacht werden aber nicht nur als ein.
Gegensatz erfahren, sondern gerade in ihrem inneren Bezug. Die· Worte
müssen •• wie Blumen« entstehen, ebenso mühelos, aber ebenso wohlvorbe-
reitet im Wurzelboden der Erde (»tragen muß er, zuvor«); ebenso ist das
Sein des Tages auf das Nächtliche bezogen, wenn .>es fieberhaft und ange-
kettet das/ Lebendige scheint«; wenn •• rein das Licht und trunken/ die
Himmlischen sind/ vom Wahren, daß ein jedes/ ist wie es ist?« Diese
Eindeutigkeit der gestalthaften Welt und ihrer göttlichen Ordnungen be-
wahrt den Bezug auf das Ungestaltete:
Ihr ruhlet aber
Auch andere Art. Denn unter dem Maße
Des Rohen brauchet es auch,
Damit das Reine sich kenne.
Im Mythos ist dies die Gebundenheit der Titanen durch die Macht des Zeus,
der die gewaltigen Berge über sie getürmt hat. Es sieht der Dichter das
ungestalte Wesen der titanischen Kräfte ständig am Werk, auch innerhalb der
göttlichen Ordnungen, aber als das Angekettete. Die göttliche Ordnurig ist
eine Bindung des Chaos. Die eigentliche Botschaft des Dichters aber ist die
Unzerstörbarkeit dieser Herrschaft der ordnenden Geister. Titanenaufstand,
Lossagung vom Göttlichen, ist das wesenhaft Ohnmächtige. Daß die Macht
der Himmlischenjemals schwach würde, ist nur ein Schein. Auch noch über
der Entgötterung der Welt waltet das Gesetz und behält sie ein. Man denke an
den Schluß der Rheinhymne, wo Gott erkannt wird:
Bei Tage, wenn
Es fieberhaft und angekettet das
Lebendige scheinet oder auch
Bei Nacht, wenn alles gemischt
Ist ordnungslos und wiederkehrt
Uralte Verwirrung.
Hölderlin und 'das Zukünftige 35
Bei der großen und übertllschenden festigkeit, die Hölderlins mythische
Welt aufweist, darf man mit diesem Titanenmotiv wohl das andere ver-
knüpfen, das der Dichter (in etwas früherer Zeit) in dem Gedicht INatur und
Kunst oder Saturn undJupiter( gestaltet hat:
Du waltest hoch am Tag und es blühet dein
Gesetz, du hältst die Waage, Satumus' Sohn!
Und theilst die Los' und ruhest froh im
Ruhm der unsterblichen HerrscherkÜIlSte.
Doch in den Abgrund, sagen die Sänger sich,
Habst du den alten Vater, den eignen, einst
Verwiesen und es jammre drunten,
Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind,
Schuldlos der Gott der goldenen Zeit schon längst;
Einst mühelos und größer, wie du, wenn schon
Er kein Gebot aussprach und ihn der
Sterblichen keiner mit Namen nannte.
Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht!
Und willst du bleiben, diene dem Alteren
Und gönn' es ihm, daß ihn vor allen,
Göttern und Menschen, der Sänger nenne!
Denn, wie aus dem Gewölke dein Blitz, so kömmt
Von ihm, was dein ist, siehe! so zeugt von ihm,
Was du gebeutst, und aus den alten
Freuden ist jegliche Macht erwachsen.
Und hab' ich erst am Herzen Lebendiges
GefUhit und dämmert, was du gestaltetest,
Und war in ihrer Wiege mir, in
Wonne die wandelnde Zeit entschlafen,
Dann hör' ich dich, Kronion! und kenne dich,
Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn
Der Zeit, Gesetze gibt und, was die
Heilige Dämmerung birgt, verkündet.
Der mythologische Befund, auf dem Hölderlin hier aufbaut, schließt an den
Titanenmythos an. Er betrifft das Verhältnis des neuen Herrschers des
Olymp, Jupiter, zu Saturn, dem von ihm gestürzten und verbannten Vater.
»Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind« - dort im Abgrund, der die
Titanen birgt, sei der Gott der goldenen Zeit »schuldlos«. Ihn von dort zu
befreien und ihm die ihm gebührende Ehre zu erweisen, wird Jupiter ge-
mahnt. Man wird an Aischylos' Prometheus erinnert, der auch dem jungen
Herrscher des Olymp Maß und Versöhnlichkeit zu lernen aufgibts. Hier ist
5 Vgl. meine Studie ,Prometheus und die Tragödie der Kultur., in diesem Band,
S.lS0ff.
36 Hölderlin und das Zukünftige
Die Versöhnung Von Saturn und Jupiter, von Natur und Kunst, drückt in
älterer Sprache.9,ie gleiche Überwindung des Gegensatzes von Nacht und
Tag aus, die wir ·in HÖlderlinsEntWicklung des Titanenmotivs fanden. Die
Ordnung des Tages kann nicht dem bloßen Übermut des siegreichen Got-
tes entspringen. Dann hätte sie keinen wahren Bestand. Der »Verstand«
muß vielmehr hinzukommen, das heißt aber, das Wissen um die Natur,
um die Abhängigkeit und Herkunft aus dem Dämmer der Zeit. Die Tita-
nen sind mit Recht in den Abgrund verbannt, denn sie sind »Wilde«, die
der Tag nicht duldet. Saturn aber ist kein Widergott. er ist die Natur und
damit die wahrhaft göttliche Ordnung aller Dinge. Die Kunst, bei all ihrer
Herrlichkeit, zeugt nur von ihr. Und das Gedicht will sagen, daß nur der
zu dieser Weisheit gelangte Herrscher durch jedes Aufbegehren des Ab-
grundes unangefochten bleibt. - Vielleicht muß man geradezu so weiter-
denken: Weil er die Titanen ruhig aufbegehren läßt und erst auf dem Höhe-
punkte dt!1: A.\l.{l~~~g.. 0rcin~!i.h,!\lI:a~(~~ht,. i~t .er der unaJlgr.eifbare Herr-
scher. Er hält nicht abstrakt eine durch ihn begründete Ordnung der Dinge
(und der Menschen) fest. sondern sein »Verstand« ist eben, einverstanden
zu sein mit dem Willen der »reifenden Zeit« und den ungeschriebenen
Gesetzen, nach denen die »Natur« waltet und ihren Ausgleich trifft. Des-
halb läßt er der Gegenwart ihren heillos scheinenden Lauf.
Es braucht nun kaum noch ausgesprochen zu werden, wie sich diese
mythologische Deutung der Dinge durch den Dichter in das Bewußtsein
der von ihm Angesprochenen umsetzt. Auch ist es ja nicht so, daß die
versteckten Züge dieser Symbolik in einem ausdrücklichen Begreifen des
Verstandes vereJugt und angeeignet werden müßten, um ihre Sinn wir-
kung zu tun. Sie stellen nur die mythische Gestaltung dessen dar, was an
Hölderlins letzter dichterischer Eigenart Von jedem erfahren wird und was
seine geheiinilisvoUeGegeriwäriigkeit ·begrünaet. Hölderlin ist so sehr auf
Hölderlin und das Zukünftige 37
das Zukünftige gerichtet, von dem er sieht und zeugt, daß er dem Dichter
etwas von der antiken Würde des Sehers zurückgegeben hat.
Der antike Seher - und der Dichter, der sich im Amt des lvates< weiß - ist
nicht ein·Wundermaim, dem durch eine Art Zauber die Erkundung der
Zukunft gelingt, sondern er ist ein Wissender. Er versucht die Zeichen des
Kommenden zu lesen, weil er weiß, was gewesen ist - und wie es immer ist.
Aber während sich der antike Seher und Dichter mit seiner Rede, ob sie nun
warnt oder mahnt, flucht oder weiht, als Sprecher des Gottes weiß, der alles
Sein und alles Tun sichtbar durchwaltet, ist die Lage des abendländischen
Dichters eine andere, und noch das Ähnlichste stellt sich anders zusammen.
Auch Hölderlins Wort ist das Wort eines Wissenden, eines Eingeweihten.
Aus der bewahrenden Innigkeit des »Dankes«, in dem das Vergangen-
Göttliche fortlebt, deutet sich ihm die kommende Stunde. ))Doch Vergange-
nes ist wie Künftiges heilig den Sängern.« Auch er also weiß, weil er weiß,
was gewesen ist und was sein kann. Gleich dem antiken Seher steht auch er
unter dem Andrang_~iner göttlichen. Fülle, derer kein anderer gewahr wird,
es sei denn ein Erblindeter. Gleich ihm trägt er die gefährliche Einsamkeit
dessen, der unter einer Berufung steht.
Gleichwohl ist alles ganz anders, und gerade dies Anderssein fUgt den
Dichter Hölderlin in die einmalige Figur seines Schicksals. Er weiß nicht,
wie der antike Seher, um Zukunft und Vergangenheit, weil das außeror-
dentliche Wissen des Sehers alles Seiende umschließt. Es ist die Kraft seines
Herzens, die das Vergangene in das Künftige wendet. Das Symbol der
Nacht, des Dämmers zwischen gewesenem und kommendem Tage, meint
diese geschichtliche Lage des Dichters, die für ihn Mangel und Fülle zugleich
ist. Er liest nicht, als der vom Gott her Wissende, die Zeichen irgendeiner
Zukunft, die den anderen verhüllt ist und doch zu wissen not. Das Zukünfti-
ge, das er sieht, ist nicht das noch verborgene Geschehen einer ausstehenden
Zeit. Es wäre ein Mißverständnis, wollte man seine dichterische Botschaft
als' )Erkundung der Zukunft< verstehen und beherzigen. Das Zukünftige,
das er kündet, ist überhaupt nicht ein von den Göttern Gesandtes, Gutes
oder Schlimmes, sondern es ist die Wiederkehr der Götter selbst, die in
nichts anderem als in diesem Ruf des Dichters (und seinem Widerklang im
Herzen des Volkes) geschieht.
Damit ist der Seher mitsamt seinem Wissen in die äußerste Ungewißheit
ausgesetzt ..~ein Lied singt nicht nur von Zukünftigem, sondern ist selbst das
wesentliche Geschehen, in dem sich das Zukünftige zeitigen muß. Was der
subjektiven Reflexion als ein Vorgang der dichterischen Eingebung und
Empfängnis sich darstellt, ist Erscheinung des göttlichen Seins und hat an
aller Gewißheit und Ungewißheit des Kommenden teil.
38 Hölderlin und das Zukünftige
So steht das Seherwort des hesperischen Dichters ganz auf sich selber und
bleibt seiner selbst gewärtig. Sich selbst zukünftig ist es das ins Ungewisse
der Zeit ausgesetzte Unterpfand eines bleibenden Seins.
Deshalb zielen alle schnellen Anwendungen seiner dichterischen Rede auf
die Gegenwart und ihre Erwartungen zu kurz. Auch wenn der Dichter in
einem Gedicht von so erschütternder Kraft und Eindringlichkeit, wie es das
Bruchstück )Der Frieden< ist, geradezu die Erfahrungen des eigenen kampf-
und leiderfahrenen Geschlechts auszusprechen scheint, meint sein dichteri-
sches Wort vom Frieden doch nicht ein zu erwartendes Ereignis der Zu-
kunft. Er spricht als ein in alle Zukunft Eingeweihter und in allem menschli-
chen Geschick Erfahrener sein bleibendes Wort:
Der Frieden
Als ich die ersten Verse Hölderlins las, war das noch eine Ausgabe von Marie
Joachimi-Dege, in der nur wenige der späten Gedichte in vollem Wortlaut
auftraten - ich bin nicht einmal sicher, ob IBrot und Weine schon in der
vollen Fassung dort aufgenommen war. Bekanntlich ist ja von den Roman-
tikern nur die erste Strophe dieses großen Gedichtes in die Öffentlichkeit
gegeben worden.
Das große Ereignis, das mich und andere in einen neuen Hölderlin einge-
wiesen hat, war die Hellingrathsche Ausgabe der späten Gedichte, die 1916
im Druck erschien und 1914 vor Ausbruch des Krieges im Manuskript von
Hellingrath abgeschlossen war.
Man weiß, daß der Dichter Stefan George in einem mit Recht berühmten,
wahrhaft epochalen kurzen Wort die Entdeckung dieses uns bisher verbor-
genen Dichters verkündet hat und daß es eben die Hellingrathsche Entziffe-
rung und Erweckung des Hymnenwerks war, aufgrund deren der Dichter
dieses Neue ankündigen konnte.
Aber es war ja mehr als ein Kreis von eingeweihten Freunden eines
Dichters vom Range Stefan Georges, was diese plötzliche Gegenwart eines
neuen großen Dichters ermöglichte. Man fragt sich doch auch, und wir alle
fragen uns, wir Älteren, die wir eine lange Zeit die Wellenschläge des Echos
dieser Dichtung erlebt haben, und die Jüngeren fragen sich gewiß auch, wie
dieses gedankenvolle Brandungsgeräusch in unserem industriellen und tech-
nischen Getöse weiterschallen wird oder ob es verstummt. So sind wir
sicherlich alle gemeinsam vor die Frage gestellt: Was hat neben dem glühen-
den Atem Schillerschen Freiheitspathos und seiner dichterischen Rhetorik,
und 'neben der für uns alle und immer wieder unfaßlichen Gelassenheit des
dichterischen Genius von Goethe - was hat diesen dritten großen Dichter
deutscher Sprache fast auf dieselbe Stufe von Gegenwärtigkeit gehoben?
Was ist das so anders, daß einer sagen kann, er ist ein' von Hölderlin Getroffe-
ner gewesen? Was begegnete uns in diesem Dichter aus der schwäbischen
Enge -, was ist es, das ihn fUr Zugereiste meines Schlages und für die ganze
deutsche und europäische, die ganze französische, englische, amerikanische
und darüber hinaus die italienische und spanische Sprachwelt auszeichnet -
40 Die Gegenwärtigkeit Hölderlins
und ich weiß nicht, wie weit das Jenseits der Sprachen reicht, die ich selber zu
lesen vermag. Was ist es, daß überall Hölderlin als ein Dichter unseres
Jahrhunderts erscheinen kann?
Wenn ich diese Frage stelle, so glaube ich sagen zu dürfen, daß hier ein
Geheimnis des'Wortes, das, was wir das Leiden am Suchen des Ausdrucks
nennen könnten, im Spiele ist. Keiner unserer großen Dichter sonst hat so
das Wort immer wieder fast stammelnd gesucht und die Suche immer
wieder verzweifelt abgebrochen. Keiner von allen unseren Dichtem sonst
war so wie er durchdrungen von der Unfähigkeit, der Unmöglichkeit, das
zu sagen, was zu sagen ihm vorschwebte. Vielleicht ist es das, was am Wort
dieses Dichters auch den Zeitgeist in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg,
injener Epoche, die dann für die deutsche Geschichte so unselig enden sollte,
uns alle zutiefst anrührte. Es war ja die Zeit, in der auch in anderen Sphären
die Kunst der Erbmasse eingeübter Formen und Gestaltungsweisen eigent-
lich nicht mehr folgen konnte, sondern suchend, gepreßt, gesteigert, defor-
mierend und doch immer wieder ganz besessen von dem eigenen Aus-
drucksverlangen, neue Gestaltungen unennüdlich versuchte. So mag es
wohl damit zusammengehangen haben, daß wir, lange bevor durch eine
politische Instrumentierung dieser Hölderlinpflege die Dinge ins Zwielicht
kamen, alle Hölderlin lasen, über Hölderlin nachdachten wie über einen, der
über die Zeitenfeme unserer klassischen Dichter weit hinaus zu uns selber
gehörte. Für Rillte, Trakl, fiirGottfried Benn, für alle Kommenden - ich
wage gar nicht, die jüngeren Namen überhaupt zu nennen - war es eine
Selbstverständlichkeit, dieser Dichtweise zuzuhören, dieser Weise eines
Dichters, die keine vertraute Weise, die keinen sozusagen ererbten und
weiterentwickelten Ton aussingt, sondern ihr eigenes gepreßtes Unvermö-
gen zu immer neuen Visionen ins Wort zu bannen versucht - und das
vermag.
Er war für uns auch der Vorläufer von Nietzsches Entdeckung des diony-
sischen Untergrundes der apollinischen Heiterkeit in der griechischen Kul-
tur. Er war rur uns insofern eine beständige, fordernde Aufgabe, die mit uns
gegangen ist. Trotzdem war er nicht eine Bezugsfigur konstanter Art. Ich
sprach von dem Rhythmus der Wellenschläge, in denen uns alle die Hölder-
linsche Dichtung erreicht. Sehr verschiedenartig wirkte etwa die Hyperion-
Phase auf uns; -öder wie eigentümlich war unser Schwanken zwischen der
Bevorzugung der prophetisch klingenden Hymnen oder der gelassenen und
doch auch wieder aufs kühnste gebrochenen Form, in der die strengen
antiken Maße zum Ausdruck von HölderIins gedrängtem und bedrängtem
Sehnen wurden. In den letzten Jahrzehnten konnten sogar die Gedichte der
spätesten Zeit, der Zeit der Umnachtung, wie man sie nannte und nennen
darf. eine neue - ich weiß nicht, was filr eine - Gegenwärtigkeit erreichen,
als das Ausklingen einer ermatteten und gepreßten Seele in unvergleichli-
Die Gegenwärtigkeit Hölderlins 41
Das Thema )Dichten und Denken< ist jedermann dank der schicksalhaften
Nähe Hölderlins und HegeIs, des unglücklichen großen Dichters und des
imperialen Denkers der gleichen Epoche, nahe. Selbst die Wahl des Ge-
dichtes )Andenken< zur Diskussion eines so grundsätzlichen Themas kann
nicht gerade überraschen. Schließlich hat Heidegger im Jahre 1943 eine
umfangreiche Auslegung des Gedichts vorgelegt l . Er war offenkundig von
der inneren Gewißheit erfüllt, daß die Grundhaltung des späten Hölderlin
mit seinem eigenen Denkschicksal, das i~ in seine philosophische Arbeit
genötigt hatte, nahe übereinstimmt und eine überwältigende Aktualität
aufweist.
Nun verfolgen alle Hölderlin-Beiträge Heideggers das gleiche Ziel. Er
möchte Hölderlin aus der Nachbarschaft mit dem deutschen Idealismus, mit
dem er zeitgenössisch war, ganz herausrücken und in seiner Einzigkeit
sichtbar machen. Wie Stefan George in den späten Hymnen Höderlins den
Seher der eigenen Zukunft unseres Volkes gesehen hat und das schon vor
dem Ersten Weltkrieg aussprach, als er die durch Hellingrath geleistete
Entzifferung des Hölderlinschen Spätwerkes kennengelernt hatte. Martin
Heidegger hat in vergleichbarer Weise Hölderlin und seine einzigartige
symbolische Vorläuferschaft für sein denkerisches Anliegen in Anspruch
genommen, und das war, die Frage nach dem Sein neu fragen zu lernen.
Hölderlins dichterische Werke sollten ihm für sein Bemühen hilfreich wer-
den, die Metaphysik zu »überwinden«.
Heidegger hat in seinem Umgang mit dem Hölderlintext vieles neu zum
Klingen gebracht. Er folgte sachlichen Zusammenhängen, wenn er das
Gedicht )Andenken< mit. Entschlossenheit in die Reihe der großen späten
1 Veröffentlicht zusammen mit meiner Interpretation von Hölderlins Hymne IDer
Einzige. Getzt in diesem Band. Nr. 1) in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todes-'
tag. Herausgegeben von PAUL KLUCKHOHN. Tübingen 1943. S.267-324 Getzt in der
HElDEGGERschen Gesamtausgabe Bd.4, S.79-151). Inzwischen ist außer dem Aufsatz
Heideggers auch die weitausgreifende Vorlesung aus den Jahren 1941/42 als Band 52 der
Gesamtausgabe zugänglich, die das Gedicht interpretiert hat. In den Bänden 4, 39 und 53
sind weitere seiner Arbeiten über Hölderlin enthalten.
Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken< 43
Hymnen einordnete und aus'diesem Zusammenhang interpretierte. Er hat
sich mit dieser Anordnung gegen die Einreihung Hellillgraths entschieden.
Hellingrath hatte - nicht ohne das zu begründen - )Andenken( der Reihe der
»lyrischen« Gedichte eingefügt2. Dagegen war es Heideggers Art, daß er
Hölderlins denkerisches Werk als eine einheitliche geschichtsphilosophische
und geschichtspoetische Vision verstand. Man kann daher viel über die
innere Folgerichtigkeit lernen, die zu der sogenannten vaterländischen Wen-
dung Hölderlins und der Wendung zur Heimat geführt hat. In dem Gedicht
)Andenken( gibt es aber nur eine ausdrückliche Anspielung auf das, was
Hölderlin sonst oft in die Mitte seiner hymnischen Schöpfungen gestellt hat.
Nur im letzten Vers seines )Andenkens( spielt er an den Beruf des Dichters
an. Von dieser Schlußwendung »Was bleibet aber, stiften die Dichtecc< läßt
sich Heidegger leiten, indem er überall in dem Gedicht die Dichter gemeint
finden will, sowohl in den Schiffern, welchen der Nordost günstige Fahrt
verheißt, als auch in den entschwundenen Freunden, nach denen sich der
Dichter sehnt. Heidegger nimmt damit gleichsam voraus, was erst am Ende
ausdrücklich wird. Immerhin wird der Schluß vers wie ein wahrer Schluß
aus dem Ganzen gezogen.
Beim Lesen des Gedichts kann ich Heidegger aber nicht ganz folgen. Das
Gedicht hat nicht sogleich das Thema, das wir aus den Hymnen kennen.
Hier ist von Heimat oder von Rückkehr ins Eigene überhaupt nicht die
Rede, so oft auch sonst bei Hölderlin Wanderung, Heimkunft, Heimat im
Blick stehen. Im Gedicht )Andenkenl ist es offenkundig ein Heimgekehrter
aus Bordeaux, den das Andenken an den fernen Süden überkommt und der
sich jetzt allein weiß. Diese Evidenz war es wohl, die Hellingrath veranlaßt
hat, .Andenkenl den »im engeren Sinne lyrischen Gedichten« einzuordnen.
Darin stimme ich der Grundthese des Beitrages von Dieter Henrich durch-
aus zu, die sich schon im Titel seines Buches ausspricht: •• Der Gang des
Andenkens«3.
Henrich nimmt allerdings einen eigenartigen Weg für seine Untersu-
chung dieses Ganges. Mit größter Sorgfalt und Mühe hat er für die Kultur-
geschichte allerhand Interessantes zutage gebracht. Aufgrund seiner Nach-
forschung hat er das Bordeaux der Tage Hölderlins, wie es damals wirklich
war, rekonstruiert, und sucht von da aus, soweit möglich, das in dem
Gedicht Ausgesagte und seinen Gang des Andenkens aus den Lokalitäten zu
verdeutlichen. Das macht mir methodische Schwierigkeiten. Ob eine noch
Wieder habe ich nicht das leiseste Interesse daran, welche genaue Stelle
dort gemeint sein soll, wo an der »luftigen Spitz'« die Dordogne herab-
braust. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist nicht ein Punkt in der
LandschaJt, sondern der Punkt des Abschieds, welcher immer es gewesen
sein mag, und das ist der betonte Punkt des Andenkens. Wenn auch ich den
Gang des Gedichtes zwischen zwei verschiedenen Punkten der Garonne
mitgehe und damit die Rede von den Schiffern und dann die von den
Dichtern wörtlich nehme, dann kann man gewiß nicht, wie Heidegger (und
sogar Binder) taten, die Schiffer als die Dichter. verstehen. Ich möchte es
jedoch ganz offen lassen, ob die neuen Erkenntnisse über die Örtlichkeiten,
die Henrich mit stupender Gelehrsamkeit vorgelegt hat, die Grundfrage, die
Henrich an Heidegger stellt, wirklich zur Entscheidung bringen kann. Hen-
rich will. wie in manchen anderen Studien, Hölderlin aus seinen Beziehun-
gen zum deutschen Idealismus, zu Fichte und zu Heget verstehen. Mir
scheint das Gedicht ,Andenken< nicht geeignet. zu dieser kontroversen Frage
einen Beitrag zu leisten.
Cyrus Hamlin hatte als Veranstalter des Kolloquiums 1987 in Yale selber
eine größere Arbeit über das Gedicht ,Andenken< vorgelegts . Sie stellt in
meinen Augen ein anderes methodisches Extrem der Deutung dieses Textes
dar. Zwar stimme ich mit ihm - gegen Henrich - überein, daß der Wirklich-
keitsbezug, den Henrich geprüft hat, für die Interpretation des Gedichtes
nichts austrägt. Hamlin geht seinerseits den ganz anderen methodischen
Weg. daß er IIpoetisch-intertextuelle« Bezüge aufsucht. Da wird es mir
manchmal auch schwer. zu folgen. Gewiß bestreite ich nicht. daß es solche
Bezüge bei Hölderlin wie in aller Dichtung gibt. für die man sich als
Literaturforscher interessieren kann. Sie mögen sogar mitunter beitragen,
das dichterische Volumen solcher Verse, wie esjeder spürt, in seinen verbor-
genen Dimensionen ein paar Schritte weit aufzuklären - wenn man das
wissen will. Das scheint mir aber nicht das Verständnis des gegebenen
Gedichtes zu fördern. wie es der Leser, wenn er versteht, mehr oder minder
bewußt sucht und erreicht. Da gibt es gewiß Untertöne und Anklänge, die
vielleicht irgendwo mitschwingen. So kann man etwa bei dem Trunk, den
hier der Sprechende sich erbittet, an andere Hölderlinsche Gedichte erin-
nern, also etwa an ,Brot und Wein< und dessen vielschichtige Anklänge an
das Herrenmahl und an die Heiligkeit von Erde und Licht. Aber der Becher
in ,Andenken< hat nichts davon. Es ist in meinen Augen überhaupt unhalt-
bar, worin Henrich und Hamlin beinahe einig scheinen, die dritte Strophe,
mit der Bitte nach dem Trunk. in die Szenerie des Frühlingsfestes zu verset-
zen, die in der zweiten Strophe evoziert wird.
, CYRUS HAMLIN, Die Poetik des Gedächtnisses. Aus einem Gespräch über Hölderlins
,Andenken<. In: Hölderlin-Jahrbuch Bd. 24 (1984/85), S. 119-138.
46 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken<
Tod verstehen will. Es gibt sich.!!rlich gute Gründe, bei Hölderlin den
Symbolgehalt von »Ausgang« zu beachten. Aber mit dem vorliegenden
Gedicht hat das wiederum nichts zu tun. Selbst die Gefahr. das Risiko, das
die ausfahrenden Seefahrer in Kauf nehmen und das natürlich als die Sorge
um ihre Rückkehr und im Gedanken an den Tod die Zurückbleibenden
erfüllt, ist in dieser Abschieds-Szene von >Andenken< nicht der entscheiden-
de Punkt. Die Strophe meint nicht so sehr die Gefährdung der Seefahrer, als
die Gefahrdung des Gedächtnisses, wie es die See nimmt und gibt und das
über aller Trennung, und für beide Teile, waltet.
Die beiden Beispiele mögen genügen, welche grundsätzliche Frage hier
zur Diskussion steht. Es gilt beim Verstehen von Dichtung zwar die Viel-
stelligkeit des dichterischen Wortes wahrzuhaben. Aber Intertextualität
muß vom Texte geboten werden, und nicht von einem allzu gelehrten Leser.
Hier trifft mein Einwand die extremen Formen des heute modernen Dekon-
struktivismus. Ich bestreite nicht, daß es Tiefendimensionen gibt und auch
daß sie wie eine mögliche Psychoanalyse an Literatur freigelegt werden
können. Aber ich bestreite, daß dies die Weise ist. wie ein Leser die Gedichte
versteht, die er liebt. Hier spielt eine noch viel weiterreichende Frage hinein.
Ob es wirklich so ist, daß die tiefenpsychologische Dimension zur Aufhe-
bung aller Kommunikation führt und zu den extremen Ausfolgerungen von
Nietzsches Theorie des Willens zur Macht nötigt? Wäre man konsequent.
würde damit eine wahre Anti-Hermeneutik etabliert. In Wahrheit aber wird
doch wohl auch seitens derer, die diese theoretische Interessennahme vertre-
ten. Verständigung von Menschen mit Menschen gesucht. Das gilt für
jeden, der zu einem andem spricht, und auch für jeden Vertreter einer
Theorie.
Man möge mir erlauben, hier das Recht des Lesers zu verteidigen. der ein
Gedicht liest und sich zu eigen macht. In einem solchen Falle ist Verstehen
genauso strukturiert wie im täglichen Gespräch zwischen Menschen. Ob
einem etwas ins Gesicht gesagt wird oder in einem Gedicht gesagt wird - als
der Andere versucht man, die Sinn-Einheit dieses Gesagten zu vollziehen.
Man ist der Partner. der mitgeht und antwortet, oder ist der Leser eines
Gedichtes. der mit dem Gedicht mitgeht und der am Ende mitsingt. Es
bleibt die erste Aufgabe einer Interpretation, dieses Mitgehen zu fördern.
Dichten und Denken im Spiegel von Hölder1ins .Andenken( 47
Die Sinnfragmente, die eine dekonstruktivistische Hinterfragung jeder
Sinnintention aufsuchen mag, mögen allerhand Interesse verdienen, aber sie
vermögen nicht das Verständnis eines Gedichtes als einer Sinn-Einheit zu
ersetzen. Wer etwas Gesagtes verstehen will, will das Ganze verstehen, was
einem gesagt wird. Darüber sollte doch Einverständnis erreichbar sein. So
stelle ich mir im vorliegenden Falle im Mitgehen mit dem Gedicht .Anden-
ken( die Aufgabe, das Recht des Lesers zu verteidigen. Es geht um die
Einheit der ,Aussage(. Andernfalls bliebe Dekonstruktivismus aller Na-
mensversichetung zum Trotz destruktiv.
Vielleichdst es nützlich, es an einem Beispiel vorzuruhren. wieweit die
intertextuene Interpretationstendenz reicht und wie sie ihre Grenze an der
Einheit der Aussage findet. Man möge sich dafiir an die besonderen Fälle
erinnern. in denen es Dichtern wie T. S. EHot und Ezra Pound auf zwingen-
de Weise gelungen ist. Zitate geradezu in das wunderbare Melos ihrer
Dichtungen einzufügen. in welchem alles Fragmentarische zum Ganzen
wird. Gewiß ist der Dichter nicht ein Interpret. Aber der Interpret sollte
doch dem Leser nahe bleiben und dem Leser erlauben, Interpretation in sein
Lesen einzufügen. Man hat mir nun berichtet. daß in Yale seineizeit zu dem
Vers» Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum 11 der Feigenbaum wie ein Zitat
behandelt worden ist. Die Kenner der Barock-Poesie haben da gewiß viel
gefunden, und vielleicht würden sie auch ihre .Anatomie( zum Beispiel auf
die Silberpappeln ausdehnen können. Wenn man hier den Feigenbaum
thematisiert. wird man gewiß vieles finden. Nicht gerade Rilke (aus Grün-
den der Chronologie nicht): »Feigenbaum, 0 wie lange schon ists mir
bedeutsam '" « Aber woran jeder denken muß, ist doch im johannes-
Evangelium (Joh. 2) jene dramatische Szene, in der Jesus den Nathanael mit
den Worten empfängt: »Siehe da. ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist
... als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. ce Mit dieser Antwort ist
in N athanael alles Zweifeln zu Ende. - Daß Hölderlin, derTübinger Stiftler.
die Szene mit dem Feigenbaum im Sinn haben konnte, wird niemand
bezweifeln. Aber - gehört das in die Aussage des Gedichts? Wer dem Gang
des Andenkens im Gedicht wirklich folgt, wird doch sofort verstehen
müssen. was dieses »aber« meint. Das vom Gedicht beschworene Land-
schaftsbild. mit dem Ufer der Garonne und dem Ulmen wald und der
Mühle. - das könnte irgendwo nördlich der Alpen auch sein. Der Feigen-
baum aber steht rur den Süden. In Schwaben kannte man gewiß Feigen. aber
nur getrocknete. »Ein Feigenbaum«, der da ))wächsetl<. ist wie ein Wahrzei-
chen des Südens. In dem Gedicht leitet er den Gang des Andenkens weiter zu
den braunen Frauen und dem seidnen Boden und zu der Märzenzeit ...
Das ist mein Punkt. So ist es eine Aussage. In der Klage. mit der der sich
einsam Fühlende an die Hyperionwelt denkt, an diese auch südliche. wenn
auch nur geträumte Welt. kommt ihm auch die Erinnerung an die südliche
48 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken'
Das deutet auf den wahren Gedankengang des Andenkens: von den dichte-
risch beschworenen Freunden zu der gelebten Wirklichkeit bewunderter
Männer. So folgt die Wendung auf den eigensten Auftrag des Dichters llnd
bildet den Schluß.
Das ist die Pointe des Ganzen, daß diese Erinnerungen an die Hyperion-
Welt und an die Wirklichkeitswelt von Bordeaux miteinander verknüpft
sind. Immer geht es um überwindung von Feme und Festhalten von Nähe.
Sehen wir uns die Schlußstrophe daraufhin an. Sie schildert die Stelle an
der Mündung der Garonne in die See. Von da an wird sie Gironde genannt.
Es ist die Stelle, bis zu der bei der Ausfahrt die Angehörigen und Freunde der
ausfahrenden Schiffer dieselben begleiteten. Das ist die luftige Spitze, an der
die Dordogne herabbraust und in die Garonne einmündet und den Ausgang
in die See nimmt. Welcher genaue Ort es auch immer war - es war der Ort
des Abschieds, an dem die Zurückbleibenden mit fleißigen Augen der Liebe
dem verschwindenden Schiffe nachschauen und die Ausfahrenden ebenso zu
den Zurückbleibenden hinüberblicken. Es ist eine Kraft des Menschen, die
hier beschworen wird. Es ist die Kraft, Ferne zu überwinden, Andenken zu
bewahren und Nähe festzuhalten. Deswegen heißt das Gedicht .Andenken•.
Und man findet es am Ende natürlich, daß diese Kraft des Menschen sich im
Gedicht - worin denn sonst? -, in Bleibendem, vollendet. Das berühmte
»aber(C am Schluß: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.c, will also nicht
sagen, daß der Dichter etwa eine höhere Einweihung in das Wahre hat als die
anderen, wohl aber, daß er die in allen lebende Kraft des Festhaltens des
Abwesenden, im Geben und Nehmen des Gedächtnisses, das das .Dac
gewährt, zu Bleibendem zu erheben vermag. Das ist der Auftrag des Dich-
ters. Er ist wahrlich nicht der, dem die »Worte wie Blumen entstehen(C. Er
ist der Vorsänger in dürftiger Zeit, auch wenn er die Rückkehr der Götter
singt .
•Andenken. ist die nie zu vollendende überwindung von Ferne - und
doch zugleich die Gewähr, die in dem ständigen Wagen von Abschied und
Andenken und fleißigem Heften der Augen der Liebe liegt.
Das Gedicht hat in seinem Gange das Andenken beschworen, das rur das
dichterische Selbstbewußtsein die bleibende Erfahrung seines Aufenthaltes
in Bordeaux war. Fragen wir noch einmal: Was bedeutet sie rur den Dichter?
Was hat er gelernt, so daß er am Schluß des Ganzen wie ein Belehrter
schließt: »Was bleibet aber, stiften die Dichter«? Wie es seine Hyperionhel-
den am Ende in die Ferne verschlagen hat, lernt er nun an den ganz anderen,
an den Seefahrern, daß die Wege und Umwege des Geschicks nicht nur ein
Leben in hohen dichterischen Träumen sind. Der sich vereinsamt fühlende
Dichter erkennt daran sein eigenes Geschick und seinen Beruf.
So erklärt sich die überraschende gnomische Wendung des Schlusses, an
der das Verständnis des ganzen Gedichtes hängt. Der im Andenken Versin-
Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins .Andenken< 53
kende faßt sich. Er hat sich gefragt: wo ist Bleiben, wo ist seliger Genuß der
Feiertage, ist seelenvolles Gespräch? Und er erfährt, wie Trennung und
Aufbruch in ungewisse Femen ist, die der Verlockung des Meeres folgt und
Andenken bewahrt. Das dichtende Ich erfährt sich selbst darin. »Mancher
trägt Scheue, an die Quelle zu gehn(d Hier ist es wie ein Vorbild von
Trennung und Treue, Aufbruch in die Feme und Heimkehr. die im Anden-
ken verbunden sind. Sie wagen alles und halten zugleich fest, auch wenn
keine Rückkehr und Wiedervereinigung den Liebenden gegönnt sein sollte-
das Andenken bleibt. Das ist der große Atem der See, dessen Botschaft der
Dichter vernimmt. »Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See.« Im
Andenken an Bordeaux erfährt der Dichter, was Andenken ist und daß
Dichter. Andenken ist.
Wenn also auch dieses Gedicht nicht (wie )Der Einzige( und manche
andere der Hymnen Hölderlins) über das Versagen der Worte klagt, weil er
nie das rechte Wort findet, so tritt der Dichter am Ende doch ganz an die
Seite der Helden und der Wagenden, die in die Ferne gehen und Schönes
zurückbringen: »Nemlich zu Hauß ist der Geist ... nicht an der Quell.«
Damit fUhrt uns das Verständnis des Gedichtes auf den entscheidenden
Vers zurück: »Mancher trägt Scheue, an die Quelle zu gehn.« Hier hat, wie
mir scheint, Heidegger die treffende Auslegung gegeben und den gnomi-
schen Sinn dieses »Mancher« richtig herausgehört. Manche, und zwar gera-
de die geträumten Helden oder die wagenden Seefahrer oder die Dichter
gehören zu denen, die hier »Mancher« heißen. Es ist eine Auszeichnung,
diese Scheue zu tragen, die gewag~en Wege und Umwege zu gehen, und des
Dichters besondere Auszeichnung ist, daß er Bleibendes stiftet. Er ist Dich-
ter, weil ihn Scheue hindert. Das ist es, was jenseits seiner eigenen nennen-
den Kraft zu liegen scheint. Gerade das Unnennbare. das die dichterische
Kunst so gut wie die Begriffe des Denkens übersteigt, ist das, was es
beständig zu wagen und festzuhalten gilt. Heidegger hat nicht ohne Recht
später und gerade in der Kritik am .kalkulierenden< Denken. das alles in den
Griff nehmen und sich aneignen will, vom )Andenken( gesprochen.
Fragen wir erneut, wie sich die Schluß zeile an das Vorangegangene an-
schließt. Man pflegt hier von eirier Trias gnomischer Sätze zu sprechen, die
den Schluß bilden soll. Das scheint mir nicht ganz angemessen. In den
beiden Vordersätzen »Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See« und in
dem anderen Satz »Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen« haben wir
zwar gnomisch klingende Sätze vor uns, aber sie sind genaue Beschreibung
der Erfahrung, der das Gedicht Ausdruck gibt. Sie beschreiben das Auf und
Ab des Gedenkens und des Gedächtnisses, und zwar in beiden, den Ausfah-
renden wie den Zurückbleibenden. Dem Dichter war aus der Erinnerung an
das leichte, beseelte südliche Leben, das eingangs geschildert ist, diese andere
Erinnerung gekommen, eben die an die heldenhaften Männer, die alle
54 Dichten und Denken im Spiegel von Hälderlins ,Andenken<
Gefahren in Kauf nehmen, und an die nicht minder heldenhaften Frauen, die
sich beide einander im »Gedenken<c zu bewahren suchen. Hierist dem Dichter
in der Wirklichkeit begegnet, was ihm auch in seinen dichterischen Träumen
als Dichter der Hyperionwelt begegnet war. Diesen Männern der Hyperion-
welt, die schließlich in die Ferne gingen, folgt wie den Seefahrern Sehnsucht
und Gedenken, und bei den Zurückbleibenden Liebe, die fleißig den am
Horizont Verschwindenden nach blickt und nachsinnt und die vermißte
Gegenwart festhält. Deswegen heftet die Liebe hier das Auge - es harrt einer
ungewissen Rückkehr entgegen. Aber ungewiß und gefahrvoll ist die Fahrt
und die Trennung nicht nur im äußeren Sinne: »Es nehmet aber und giebt
Gedächtniß die See.« Was die kühnen Seefahrer von der Heimat und den
festlichen Freuden der Liebe weg nach Indien treibt, ist die gleiche »Scheue«.
die jeden Menschen und den Dichter im steten Versuch immer wieder befällt
und beirrt. »an die Quelle zu gehn (C und das Göttliche zu erfassen. Der Kenner
Hölderlinscher Dichtung kennt das Klagen über das Mißlingen des Gesanges.
und ebenso die standhafte Festigkeit. mit der der Dichter sich in dürftiger Zeit
bewährt. So muß der Schlußsatz bei des zwammenfassen. wie es die Schluß-
strophe als Ganzes tut.
Die Lesarten, die zu der letzten Strophe inzwischen bekannt sind, ergeben
rur das poetische Verfahren des Dichters und, was wichtiger ist, für den Sinn
des Gedichtes eigentlich nichts Neues. Die Ferne, die sich in diesen Entwürfen
vordrängt (fernsten/fern), meint in jedem Falle nicht die Entfernung vom
Hafen von Bordeaux bis zu der »luftigen Spitz'«. Das ist nicht die Ferne. die
sich im Andenken des Dichters ins Wort drängt. Es ist vielmehr die Ferne, die
sich in der Weite des Weltmeers auftut. Wir wissen. daß es Hölderlins
dichterisches Verfahren war. in seinen Leitworten immer weit vorzugreifen
und sich selbst vorweg zu sein. So wird er gezwungen zu streichen. Was er
will. ist, die volle Konkretion dieser Szene von Trennung, Abschied und
Gedächtnis zu leibhafter dichterischer Anschauung zu erheben. Dieser über-
gang vom Denken an das traumhaft genossene Leben zu der Erinnerung an die
große Erfahrung, die Bordeaux für ihn bedeutete, läßt den Gedenkenden sich
selbst wieder begegnen und macht die Bedeutung des Gedichtes aus.
Das »Nun aber«, mit dem die letzte Strophe einsetzt, faßt die Freunde und
die Männer, denen der Dichter huldigt, zusammen - im Abschied und im
Gedenken, im Nehmen wie im Geben. Der große Atem des Ozeans, der wie
der Atem der Seele ist, vereinigt in sich Gedenken des Entbehrens, des
Fehlenden, und das Festhalten. Es is t wie der Wechsel von Ebbe und Flut. Der
Wellenschlag der Seele leistet beides, »tapfer Vergessene< und das Festhalten
der Liebe. Der einsame Dichter, dem die guten Gespräche fehlen. die ihn einst
erfUUten, beschwört die Macht des Gedenkens. Sie gewinnt in der fünften.
Strophe anschauliche Gegenwart, indem sie an die Stelle des Abschieds
versetzt, wo die Ausreisenden in der Ferne verschwinden.
Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins ,Andenken. 55
Man versteht das Gedicht in seinem Melos nur, und man versteht den
Gang des Andenkens im Gedicht auch nur, wenn man im Abschied die tiefe
Gemeinsamkeit von Trennung und Gedenken im Auge behält. Vermissen
und Festhalten, das ist der Bereich des Gedächtnisses. Es ging dem Dichter,
als er von Bordeaux zurückgekehrt war, auf. An der Entbehrung und dem
Vermissen der Freunde leidet er, und so gewinnt die Erinnerung über ihn
Macht. Nun zieht er den Schluß auf das eigene Tun, das Tun des Dichters.
Abschied und Gedenken durchwalten wie das Auf und Ab des Atems der See
das Leben der Menschen. Darin erkennt er sein eigenes Schicksal als seinen
Auftrag, im Wort festzuhalten, was bleibt. So gewinnt das Gedicht etwas
von dem Stiften einer Wahrheit und etwas vonjener Sakralität, die von jeher
den Dichter und den Seher auszeichnen.
Das Gedicht sagt kaum etwas, was nun das Bleibende ist. Es ist das
Andenken selber, das der neuen Wende von Hölderlins letzten Dichterjah-
rm, den großen Hymnen, ihr eschatologisches Pathos verleiht. »Des Götdi-
chen aber empfiengen wir doch viel. CI 7 So konnte Heidegger seinerseits in
diesem Gedicht sein eigenes Schicksal, sein Andenken und seine Erwar-
tungstheologie wiedererkennen. In der Inständigkeit des Harrens und des
Beharrens auf seiner eigenen Frage war sein Auftrag, die Frage nach dem
Sein und der Überwindung der Metaphysik festzuhalten, an der Nietzsehe
zerbrochen war.
7 S[.A. II 1, S.136 (,Versöhnender<, Dritte Fassung, v. 19f.) und St.A. 111, S.535
(,Friedensfeier<, v. 64f.).
5. Goethe und die Philosophie
(1947)
nicht aufhört, Geschichte zu sein und Geschichte zu machen, bleibt auch die
philosophische Besinnung auf Goethes Verhältnis zur Philosophie eine stets
sich erneuernde Aufgabe.
Nun ist es bei der Lage der Dinge. klar, daß jede Neubestimmung dieses
Verhältnisses dem Gang der Goetheschen Entwicklung folgen muß. Ande-
rerseits kann ein bloßes Abtasten und Aufnehmen der in dieser Entwicklung
Goethes anzutreffenden Spuren philosophischer Lektüre und Auseinander-
setzung nicht viel erbringen. Denn nicht nur die Außerungen, die Goethe
jeweils zur Sache tut, sind gelegentlich und schwankend, so daß sich in
dieser Sache fast alles, was sich beweisen läßt, auch widerlegen läßt, auch
seine Beschäftigung mit den Werken der großen Philosophen, mit Spinoza
oder Kant, mit Fichte oder Hege!, ist fragmentarisch und unmethodisch.
Aber was bei anderen ein Zuwenig wäre, das ist bei Goethe Ausdruck seines
eigenen reichen Wesens. Er sagt einmal, daß er stets »wie spielend« gelernt
habe. Damit ist nicht gemeint, daß ihm alles so leicht fiel und er sich alles so
leicht werden ließ, sondern daß sich ihm das Lernen als ein spontanes,
eigenes Tätigsein und Bilden vollzog. Spiel ist ja eine äußerste Form solchen
Tätigseins, selbstvergessen und im Umgang mit einem widerstandslosen
Stoff. Deshalb gerade bedeutet es solchen Auftrieb des Lebensgefühls. Goe-
thes Lernen war ein spielendes Lernen, weil es stets alle Kräfte seines Wesens
spielen ließ. Anläßlich der Lektüre von Kants >Anthropologie< schreibt
Goethe an Schiller am 19. Dezember 1798: »übrigens ist mir alles verhaßt,
was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittel-
bar zu beleben. « Die beiläufige Art, in der Goethe philosophische Studien
trieb, besagt also nichts gegen ihren sachlichen Ernst. In den Begegnungen
mit Philosophischem sucht er, was er im Grunde in allen Erfahrungen der
Welt überhaupt sucht - Vermehrung seiner Tätigkeit, Seinszuwachs in der
Erfahrung der eigenen bildenden und gestaltenden Lebendigkeit.
Man könnte zweifeln, ob ihm solcher Seinsgewinn von der Philosophie
überhaupt zuteil werden konnte. Antwortet er doch aufdie erste Berührung
mit philosophischen Lehren mit der Behauptung, eine abgesonderte Philo-
sophie sei nicht nötig, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkom-
men enthalten sei. Als ihm sein Lehrer zu beweisen sucht, daß diese ja erst
durch jene begründet werden müßten, versagt er sich solcher Reflexion
offenbar ganz. Die dichterische und religiöse Unmittelbarkeit ist ihm das
fraglos Grundlegende gegenüber der Vermittlung des Begriffs. Und die
Wirkung seiner ersten philosophischen Erfahrungen (an der »tristen atheisti-
schen Halbnachtee der französischen Aufklärungsphilosophie) war eine Ver-
grämung gegen alle Philosophie, besonders aber gegen die Metaphysik. Wir
werden also fragen müssen, wie dieser Abwehr zum Trotz der Zug zur
Philosophie in Goethe seinen Weg findet.
Dabei sehen wir ganz davon ab, wie Goethe zum Nachdenken über seine
Goerhe und die Philosophie 59
Kunst geruhrt wurde. Die philosophische Reflexion auf die Bedingungen
poetischer und bildnerischer Technik fmdet sichja auch sonst bei Künstlern,
die zu den zentralen Problemen der Philosophie, insbesondere zur Metaphy-
sik, kein Verhältnis besitzen. In Goethe aber lebt ein echter Zug zur Meta-
physik. Offenbar ist es der Gegensatz zur Metaphysik der Aufklärung, der
sein eigenes Denken anspannt. Die Lehre von den Endursachen, jene vom
Zweck her denkende, alles auf die menschliche Nützlichjceit beziehende
Naturbehandlung ist es, die ihn beleidigt. Er setzt hier die eigene große
Anschauung von der gestaltenden und zerstörenden, um menschliche
Zwecke stets unbekümmerten Naturkraft entgegen. »Natur. Wir sind von
ihr umgeben und umschlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und
unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen.« Das also ist das Entscheiden-
de in seiner Anschauung: Der Mensch steht nicht als der salbstherrliche
Endzweck der Natur, die er auf sich bezieht, gegenüber - er ist von ihr
umschlungen, er ist selbst Natur. Auch das ihm innewohnende dichterische
Talent betrachtet Goethe ganz als Natur, so wie ihm die Natur in diesem
(wahrscheinlich nicht von seiner Hand, aber aus seinem Geiste stammenden)
Prosafragment ))die einzige Künstlerin« heißt. In spätester Zeit, im Jahre
1828, als Goethe das Fragment zu Gesicht bekommt und für das seinige hält,
charakterisiert er es so: »Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheis-
mus, in dem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes,
humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht
ist.« In der Tat ist es - gegenüber dem Verstandesoptimismus der Schulphi-
losophie - die Uncrforschlichkeit der Natur für das selber beschränkte,
teilhafte Menschenwesen, was Goethe hier als Pantheisten erscheinen läßt.
Die Natur und Gott sind ihm das Unerforschliche, und an der Zusammen-
gehörigkeit von Natur und Gott hat er stets festgehalten, im besonderen
auch gegen die christliche Glaubensphilosophie seines Freundes Jacobi. Ei-
nen Gott, lider nur von außen stieße«, kann er mit seiner Anschauung des
inneren Lebens der Natur nicht vereinigen. Dennoch wehrt er sich mit der
für ihn charakteristischen Liberalität gegen jede dogmatische Festlegung,
auch gegen die auf einen Pantheismus.
Goethe findet nun vor allem in Spinoza, den er mit Herders Augen sehen
lernt. Bestätigung seines Naturgedankens und im besonderen seiner Abnei-
gung gegen die Endursachen. Aber im Grunde sind die überzeugungen
vom Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen der Natur, die er sich am Spinoza
entwickelt, der notwendige Gegenhalt, nach dem seine unbändige Lebens-
kraft und titanische Bildnerlust rufen. Ihm, dessen Kräfte in allen Richtun-
gen des Daseins lebhaft spielend ansetzen und auf jeden Reiz mit intensiver
schöpferischer Gegenwirkung antworten, so daß seinem Können schier
keine Grenze gesetzt scheint, ist der Ruf zur Entsagung im ganzen, die in der
Anerkennung ~es Notwendigen liegt, offenbar urvertraut. Er fühlt sich
60 Goethe und die Philosophie
durch Spinoza über das Spiel der Leidenschaften erhoben, in denen sonst der
Mensch rür sein Geschick mühsam gebändigt wird. In diesem Sinne deutet
der weise gewordene Goethe, der sich selbst zur Erinnerung gewordene,
tiefsinnig das Bedürfnis, das ihn damals im Philosophieren leitete. Nun
können wir, wenn auch erst aus einem Aufsatz der achtziger Jahre, die
Richtigkeit dieser Selbstauslegung bestätigen und dieselbe ergänzen. Es
handelt sich um den Aufsatz, den Wilhelm Dilthey zuerst in der Abhandlung
lAus der Zeit der Spinozastudien Goethes< interpretiert hat. Bestätigung ist
uns, wie dort der Begriff von Dasein und Vollkommenheit, in dem wir das
Unendliche denken, das Sein der beschränkten Existenzen mitbestimmt, so
daß sie, die Dinge in Gott, doch gerade ihr Dasein in sich selbst haben, als
lebendige Wesen durch nichts gemessen werden können, was außer ihnen
ist, ein eigenes unzertrennliches Verhältnis von Teilen und Ganzem darstel-
len, kurz, an der Unendlichkeit des Ungeheuren, Ganzen teilhaben. So
denkt hier Goethe, wenn auch mit den Denkmitteln Spinozas, eine ganz
eigene Anschauung vom Wesen des Lebendigen und seiner Bildungskraft.
die uns an die Entelechie des Aristoteles und an Leibnizens Monadenlehre
zurückdenken läßt. Die ganze Idee einer morphologischen Naturforschung
ist hier angelegt. Die Bedingtheit alles Lebendigen tut der Urkraft der Natur
keinen Abbruch, im Gegenteil: Wie würdig ist es der Natur. ruft Goethe aus,
daß sie sich immer derselben Mittel bedienen muß, um ein Geschöpfhervor-
zubringen und zu ernähren.
Nun ergänzt Goethe diesen Aspekt dadurch, daß er das erkennende Wesen
in die gleiche Betrachtung einbezieht. Die Seele breitet sich erkennend aus,
indem sie beschränkt: »Wir müssen alle Existenz und Vollkommenheit in
unserer Seele dergestalt beschränken, daß sie unserer Natur und unserer Art
zu denken und zu empfinden angemessen werden, dann sagen wir erst, daß
wir eine Sache begreifen oder sie genießen.« Wie Bedingtheit durch spezifi-
sche Verhältnisse rur alles Lebendige seine eigentliche Lebensvoraussetzung
ist, der Fisch nur im Wasser, der Vogel nur in der Luft lebt, so erkennt
Goethe auch fiir das menschliche Leben und seine Natur die Notwendigkeit,
die es beschränkt und eben damit erhält. In den ,Sprüchen in Prosa< (261)
steht: »Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz
aufgeben, um zu existieren.« - »Unser physisches sowohl als geselliges
Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so
manches zufallige Ereignis, alles ruft uns zu, daß wir entsagen sollen. « Diese
Sätze des alt und weise gewordenen Goethe sind nur die Entfaltung dessen,
was dem jungen Titanen im philosophischen Gedanken der Natur aufging.
Es begreift sich nun die Allseitigkeit, mit der Goethe forschend, beobach-
tend und gestaltend in die Welt ausgreift. Nicht mystisches Aufgehen im
Unendlichen, sondern »im Endlichen nach allen Seiten gehen« ist die sehr
unspinozistische Lehre, die Goethe aus seinen Spinozastudien zieht. Er fiihlt
Goethe und die Philosophie 61
sich - um sein eigenes Wort zu gebrauchen - mit der Physik gesegnet. Sie ist
ihm das unendlich-endliche Feld echter Anschauungen, in denen sich, als
Wirkung und Gegenwirkung, die Seele des Erkennenden entfaltet. Der
vergleichende Naturforscher und der gestaltende Dichter sind also Manife-
stationen desselben p,oetischen Bildungstriebes, der - wie es in der erwähn-
ten Selbstcharakteristik von 1797 heißt - den Mittelpunkt und die Basis
seiner Existenz ausmacht.
Zweierlei mußte sonach seinem weiteren philosophischen Schicksal vor-
gezeichnet sein, zweierlei mußte ihm in seiner Stellung zwischen Dichter
und Forscher zum Problem werden: einmal die allgemeine Frage des Ver-
hältnisses von Selbst und Welt, insbesondere des Anteils des subjektiven,
gestaltenden Tuns an der Erfahrung der Welt, und dann die besondere Frage
des Verhältnisses von Natur und Kunst. Beide Probleme sollten ihm in der
damals durchdringenden Kantischen Philosophie begegnen, ohne doch an-
ders in seinem Leben Epoche zu machen als in der leidenschaftlichen Anre-
gung zum Fortschreiten auf seinen eigensten Wegen. Wie er selbst uns
schildert, fand, was er sich von der Kantischen Philosophie aus Lektüre und
Gespräch zugeeignet hatte, bei den Kantianern wenig Anklang. »Mehr als
einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Verwun-
derung zugestand, es sei freilich ein Analogon Kantischer Vorstellungsart,
aber ein seltsames.«
Da war zunächst das Analogon zwischen Goethes »naturgemäßer Metho-
de« allseitiger Beobachtung der Gegenstände und Kants Nachweis, wieviel
unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitra-
ge. Goethe war hier bereit, obwohl er selbst beides niemals gesondert habe,
»sich auf die Kantische Seite zu stellen, als auf diejenige, welche dem
Menschen am meisten Ehre macht«, und glaubte sich in seinem eigenen,
bald dichtend-synthetischen, bald beobachtend-analytischen Verfahren
auch sonst mit Kants Erkenntnislehre einig.
Vollends aber fohlte er sich durch die >Kritik der Urteilskraft( gefördert,
weil sie eine Entsprechung und tiefe Verwandtschaft zwischen Natur und
Kunst lehrte: innere Zweckmäßigkeit sehen wir in der Natur, innere
Zweckmäßigkeit erfahren wir im Geschmackserlebnis des Schönen und in
der Produktion des Genies. In einem Brief an Zelter, vom 29.Januar 1830,
schreibt Goethe ähnlich: »Es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten
Kant um die Welt, und ich darf sagen, auch um mic/l, daß er in seiner Kritik
der Urteilskraft Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht
zugesteht, aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln ... Natur und Kunst
sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und haben es auch nicht nötig,
denn Bezüge gibt's überall, und Bezüge sind das Leben.« Was er in der
>Kritik der Urteilskraft< ausgesprochen sah, war mithin das innere Leben der
Kunst sowie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus. Für
62 Goeme und die Philosophie
diese Entsprechung war Goethe bereit, seit er in Italien Kunst und das
gesetzliche Vorgehen der Natur und das aus beiden gewebte Leben der
menschlichen Gesellschaft studiert hatte. Doch muß es auffallen, wie wenig
sich Goethe von dem eigentlich kritischen Gedanken Kants, von der Ein-
schränkung des teleologischen Gedankens auf ein bloßes Verfahren der
Urteilskraft, also vom Verzicht auf gegenständliche Geltung des Zweckge-
dankens beunruhigt zeigt. Es bleibt das ganze Studium der Kantischen
Philosophie »auf den Hausgebrauch« beschränkt.
Nun tritt aber mit Schiller die Kantische Philosophie in ihrem echten
sittlichen Freiheitspathos in Goethes Leben ein und übt damit eine Gewalt,
die in ihrer Wirkung wie in der Gegenwirkung Goethes weit in das philo-
sophische Gebiet hineinführt. Goethe hatte anfangs in Schiller das zerstöre-
risch Wilde und Revolutionäre seines Genies, wie es die Räubertragödie
zeigte, gehaßt und sich deshalb von Schiller ferngehalten, als dieser nachjena
übergesiedelt war. Dann aber kam die Verständigung, das denkwürdige
Gespräch über die Urpflanze, das Goethe selbst erzählt hat; und indem
Goethe die Freundschaft und ständige Nähe Schillers annimmt, übergibt er
sich. rur ein im übrigen höchst fruchtbares Jahrzehnt seines Lebens, der
Deutung. die Schiller für ihn bereitet. Wir stehen damit an der ror unsere
Fragestellung entscheidenden Stelle im philosophischen Schicksalswege
Goethes: Lernt er sich ganz mit den Augen Schillers und der Philosophie
sehen. so muß ihm die Philosophie als die endliche und lang verzögerte
Selbstaufklärung seines naiven Weltglaubens erscheinen, und dann enthält
der Idealismus der deutschen Philosophie einen legitimen Zugang zu dem
Lebensrätsel, das Goethe sich und uns war.
Doch bevor wir diese weittragenden Fragen zur Entscheidung stellen,
müssen wir uns erst mit der Begegnung Goethes und Schillers Wld mit
Schillers Goethedeutung vertraut machen. Schiller war in der Zeit ihrer
nachbarlichen Beziehung zueinander in die Kantische Philosophie vertieft
und hatte sich ganz mit dem höchsten Gefühl der Freiheit und Selbstbestim-
mung erfüllt. das in Kants praktischer Philosophie lebt. Das war ein äußer-
ster Gegensatz zu Goethes Streben. die Natur in ihrer gesetzlichen Bildung
zu betrachten Und auch noch in sich selber das Naturbedingte zu bejahen. So
warf ihm Goethe Undankbarkeit »gegen die große Mutter, die ihn gewiß
nicht stiefmütterlich behandelte«. vor, und in seinem Freiheitspathos sah er
die ihm widrige Unnatur und Unwirklichkeit eines ethischen Selbstzwan-
ges.
Nun aber führte sie der Heimweg nach einer Sitzung der Naturforschen-
den Gesellschaft in Jena im Jahre 1794 zusammen. Schiller tadelte die Art des
Vortrages. den sie soeben gehört hatten. und nannte dies eine zerstückelte
Art, die Natur zu behandeln. Da öffnete sich ihm Goethe, der, selbst von
einer anderen, einheitlichen Gesamtanschauung der Natur errollt, genau so
Goethe und die Philosophie 63
empfunden hatte. Vor Schillers Wohnung reden sie sich fest, schließlich
folgt ihm Goethe hinein. mitten in der Nacht, und trägt ihm seine Metamor-
phose der Pflanze vor, durch die das Pflanzenreich zu einer großen. in seiner
Bildung verständlichen Einheit zusammengeschlossen wurde. Schiller - so
erzählt Goethe - »vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit
entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und
sagte: IDas ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.( Ich stutzte, verdrießlich
einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste
bezeichnet; .. Der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusam-
men und versetzte: Das kann mir sehr lieh sein, daß ich Ideen habe ohne es zu
wissen, und sie sogar mit Augen sehe. CI - Für den Kenner der Kantischen
Philosophie (der Goethe aber nicht war) ist diese Mißhelligkeit leicht als
Mißverständnis aufzulösen. Der Kantische Gegensatz von Idee und Erfah-
rung (bzw. Erscheinung) ist an dem engen Sinne von raum-zeitlich indivi-
duieIter Erfahrung gewonnen, den die mathematische Naturwissenschaft-
vor allem in Gestalt der klassischen Mechanik - darstellt. Idee ist umgekehrt
nicht bloß eine subjektive Eingebung, sondern die regelnde Einheit der
Erfahrung se1bst, die eben deshalb mit der Erfahrung gar nicht kongruieren
kann, weil sie aller Erfahrung die Regel gibt. So ungefähr wird Schiller. der
»gebildete Kantianer«, sich geäußert haben. Goethe hält - nach seinem
eigenen Bericht - an seinem »hartnäckigen Realismus« fest, aber es hat sich
doch 'in diesem Gegensatz ein Gemeinsames gebildet, und so begründet sich
der Bund dieser beiden großen Männer. wie Goethe selbst dargestellt hat.
auf den »größten. vielleicht nie ganz zu schlichtenden Wettkampf zwischen
Objekt und Subjekt«, In ihrem Briefwechsel liegt das gemeinsam gelebte
Stück dieses Wettkampfes uns vor Augen.
Di~ser Briefwechsel beginnt mit einem großartigen Versuch Schillers,
sein und der Philosophie Verhältnis zu Goethes Geist zu bestimmen2 : »In
Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger. was die Analysis
mühsam sucht. und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr
eigener Reichtum verborgen. denn leider wissen wir nur das. was wir
scheiden. Geister Ihrer Art wissen daher selten, wie weit sie gedrungen sind,
und wie wenig Ursache sie haben. von der Philosophie zu borgen, die nur
von ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern. was ihr gegeben wird,
aber das Geben selbst ist nicht Sache des Analytikers, sondern des Genies.
welches unter dem dunklen aber sicheren Einfluß reiner Vernunft nach
objektiven Gesetzen verbindet.« Meinung und Absicht dieser Deutung sind
klar: Goethe wisse nur nicht, was er tue. Die Kantische Philosophie sei nichts
als die Selbstaufklärung des seinem Wesen nach bewußtlos schaffenden
Genies. In der Tat kommt Schiller folgerecht zum Schluß, Goethe die
tischen Philosophie, ist sie nicht die gleiche, die das deutsche idealistische
Denken im Zeitalter Goethes seinerseits vollzogen hat?
So kann es in der Tat scheinen. Da ist zunächst die Abhandlung über
,Anschauende Urteilskraft<. Sie knüpft an eine Stelle von Kants ,Kritik der
Urteilskraft< an, an der Kant die Idee eines anschauenden Verstandes ent-
wirft, der von der Anschauung eines Ganzen als eines solchen zum Besonde-
ren gehe. Kant will an diesem Gegenbild eines göttlichen. urbildlichen
Verstandes die Diskursivität, die Bilderbedürftigkeit des menschlichen Ver-
standes erläutern. Goethe aber meint sein eigenes urbildlich gerichtetes
Verfahren darin zu erkennen. Das ist sicher wieder bezeichnend für seine
Kantstudien für den Hausgebrauch. Goethe will damit keineswegs für den
späteren Idealismus der intellektualen Anschauung eintreten. Immerhin
zeigt seine Beziehung und Verwertung Kants eine natürliche Verwandt-
schaft mit der Lehre Schellings. Auch Goethe gehörte zu denen, die mehr an
Natur als an Freiheit glauben. Der Fichteschen Entwicklung der gesamten
Wissenschaftslehre aus dem Freiheitsbewußtsein der absoluten Tathandlung
vermochte Goethe also gewiß nichts abzugewinnen. Mit einem Denker.
dem die Natur nur "Material der Pflichtcc war, konnte er sich nicht vereini-
gen. er, der auch die Freiheit und uns selbst möglichst als Natur zu traktieren
suchte. Für diesen Gegensatz ist bezeichnend, wie Goethe zu Fichtes Wen-
dung: "Die von uns unabhängige Natur (das Nicht-Ich)cc am Rand notiert:
"Aber doch mit uns verbunden, deren lebendige Teile wir sind«. Was
Goethe so von Fichte trennt, eben das verbindet ihn aber mit den späteren
idealistischen Denkern, denn eben dies ist der Einsatzpunkt der von Schel-
ling und Hegel entwickelten Philosophie und der Punkt ihrer härtesten
Differenz mit Fichte: das Wesen der Natur als mit dem des Geistes und des
freien Selbstbewußtseins einig zu begreifen.
Diese Tendenz kommt schon im Namen der Identitätsphilosophie zum
Ausdruck. Identität meint nicht tautologische Selbigkeit. sondern untrenn-
bare Zusammengehörigkeit des Realen und des Idealen, wie sie im Prinzip
der intellektualen Anschauung gedacht ist. Ihre höchste Weise der Objekti-
vierung aber liegt im Kunstwerk vor. das ebenso reell wie ideell, ebenso
objektiv wie subjektiv ist. Und so geht nach Schelling das Philosophieren
mit Notwendigkeit in die Genialität der Kunst über. Schon das ist Goethe
nahe, der ja auch nie Subjekt und Objekt voneinander trennen wollte und
mit Natur stets die Subjektives und Objektives übergreifende Lebenseinheit
meinte. Ja, selbst der große Lebensplan der allseitigen Goetheschen Natur-
forschung, den Schiller beschreibt: "Von der einfachen Organisation steigen
Sie. Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die
verwickeltste von allen, den Menschen genetisch aus den Materialien des
ganzen Naturgebäudes zu erbauencc. selbst dieser Goethesche Leitgedanke
hat seine Entsprechung in der Schelling wie Hegelleitenden Aufgabe, aus
Goethe und die Philosophie 67
dem Realen der Natur das Ideale des Geistes und der Freiheit hervorgehen zu
lassen. Schelling nannte das seinen I)physikalischen Beweis des Idealismus«,
wie die bildende Natur sich von Potenz zu Potenz steigert. bis schließlich in
ihrer höchsten Potenz der Blitzschlag der Freiheit einschlägt und damit diese
höchste Ersteigerung der Natur aus ihr heraustritt, so daß im Lichte dieser
Freiheit das Selbstbewußtsein alles Seiende sich gegenüber hat. Damit ver-
söhnt sich der Standpunkt der Freiheit mit dem Standpunkt der Natur, der
objektive mit dem subjektiven Standpunkt, Goethe mit der kritischen Philo-
sophie.
Während der unruhige Schelling über dieses Ergebnis hinaus in die theo~
sophischen Hintergrunde des Freiheitsproblems sich verliert (wohin ihm
Goethe nicht mehr folgt), vermag Goethe in Hegels Philosophie die gedie-
gene Ausarbeitung der ihm so verwandten Identität von Realem und Idea-
lem zu finden. »Wo Objekt und Subjekt sich beruhren, da ist Leben; wenn
Hegel seine Identitätsphilosophie mitten zwischen Objekt und Subjekt hin-
einstellt und diesen Platz behauptet. so wollen wir ihn loben.« Hegel selbst
hat es als seine Aufgabe formuliert, diese Vermittlung zu vollziehen. die
Substanz zum Subjekt zu erheben und so das Subjekt substantiell zu machen.
Insbesondere hat er es unternommen, die ganze substantieKe Breite des
geschichtlichen Lebens in das Subjekt aufzunehmen. Es ist bezeichnend. daß
ihm auf dem Wege zu diesem Ziel, in der Erhebung des WeItbewußtseins
zum Selbstbewußtsein, Goethes Art der Naturforschung als höchste Weise
dieses Weltbewußtseins erschien. Sie überragt die mathematische Gesetzes-
wissenschaft der Physik an innerer Konkretion, denn sie erfaßt »die Gestalt,
die lebend sich entwickelt«. Ober das Reich des Unwandelbaren, die Geset-
ze der mechanischen Natur hinaus geht hier die echte Unendlichkeit des
Lebens auf. Indem sich diese zum Selbstbewußtsein erhebt, »schreitet der
Geist in das einheimische Reich der Wahrheit ein«.
So hat Hegel in der Tat Goethe philosophisch in sich aufgehoben, und es
besagt nichts dagegen. wenn Goethe sich seinerseits im ganzen auf Hegels
Philosophie nicht einläßt: »Ich mag nichts Näheres von der Hegeischen
Philosophie wissen ... «, auch wohl gelegentlich ungeduldige Mißverständ-
nisse begeht, wie seine Empörung über die Hegeische Formulierung in der
,Phänomenologie des Geistes(, daß die Blüte die Knospe und die Frucht die
Blüte "widerlege«. Die radikale Beweisenergie der Hegeischen Dialektik
mußte ihm verdächtig sein. Aber das kann lediglich die Zurückhaltung
seines philosophischen Instinktes sein, in dem Sinne, in dem Schiller ihn sich
selbst gedeutet hat. In der Tat hat Hegel es so gesehen. d. h. aber, er hat
Schillers Goethedeutung wiederholt, wenn er an Goethe schreibt (am
24. April 1825): "Denn wenn ich den Gang meiner geistigen Entwicklung
übersehe, sehe ich Sie überall darein verflochten und mag mich einen Ihrer
Söhne nennen; mein Inneres hat gegen die Abstraktion Nahrung zu wider-
68 Goerhe und die Philosophie
haltender Stärke von Ihnen erhalten und an Ihren Gebilden wie an Fanalen
seinen Lauf zurechtgerichtet.« Goethes dynamisch-ganzheitliche Betrach-
tungsweise ist genauso über das trennende Verstandesdenken hinaus wie
Hegels spekulatives Denken und sein konkreter Begriff. So kann Hegel in
dem bildnerischen Gestalten Goethes die echte Konkretion des Geistes er-
blicken, die philosophisch, d. h. in Begriffen auszulegen, die Aufgabe seines
Lebens war. Auch er behauptet damit seine eigene Wahrheit des spekulativ
Vernünftigen und stellt über die Unmittelbarkeit des lebendigen Anschau-
ens die unendliche Vermittlung des Begriffes, über Dichtung und Religion,
als die höchste Welse des Geistes, die sich selbst begreifende Philosophie.
Das also scheint das Ergebnis unseres biographischen Mitgehens rp,it
Goethes geistigem Gange. Goethes oft und oft betonte und betätigte Zu-
rückhaltung gegen die Philosophie erwies sich noch nicht einmal als die
halbe Wahrheit. Im Gegenteil erscheint seine philosophische Geschichte wie
das dichterische Vorbild dessen, was die Denker seines Zeitalters, was erst
Schiller, später Schelling und Hegel dachten. Haben wir also - so müssen
wir fragen - in dieser Philosophie des deutschen Idealismus, insbesondere in
der Erhebung vom subjektiven zum objektiven und absoluten Idealismus,
die wahre Philosophie Goethes?
Mit dieser entscheidenden Frage gewinnt unsere Betrachtung nochmals
eine ganz neue Richtung, die wir abschließend anzuzeigen haben. Wir
trennen uns nicht nur von dem Bestreben, das unseren Vätern so wichtig
war, Goethe und Kant in übereinstimmung zu setzen; wir halten es auch
nicht rur genug, Goethes Philosophie in ihrer tatsächlichen Verwandtschaft
mit dem objektiven Idealismus Schellings und Hegels zu erkennen; wir
fragen jetzt vielmehr, ob es wirklich ein zufälliges und äußerliches Faktum
ist, daß Goethe, der doch aller übereinstimmung so gerne froh war, den-
noch mit der philosophischen Spekulation seiner Zeitgenossen nicht recht
mitg~ng. Ist das wirklich nichts als der Ausdruck seiner eigenen dichterisch
bestimmten Art, die aus Liebe zur sinnlichen Anschauung den Gang der
Begriffe scheute - oder liegt vielleicht in dieser seiner eigenen Art eine
philosophische Wahrheit, die über den Kreis des idealistischen Denkens,
nicht nur über das Kantische, sondern auch über das Hegeische Denken,
hinausragt? Ist Goethe vielleicht nicht nur der Zeitgenosse und das dichteri-
sche Vorbild des Idealismus - ist er vielleicht ihr erster Kritiker?
Für diese Frage sind wir durch ein ganzes Jahrhundert der Kritik am
Idealismus vorbereitet, und insbesondere, seit Nietzsches Angriff auf den
Platonismus, d. h. aber auf das Ganze des griechisch-christlichen Ideenden-
kens und der Metaphysik, in das das allgemeine philosophische Bewußtsein
eingedrungen ist. Wir sind dadurch in den Stand gesetzt, Goethes Abkehr
von der Metaphysik, ja seine ganze Zurückhaltung gegen die spekulative·
Philosophie mit anderen Augen anzusehen. Wir sehen darin nicht mehr den
Goerhe und die Philosophie 69
um die Unschuld seiner bildnerischeri Kräfte besorgten Künstler, der sich
die Reflexion vom Leibe hält. Wir sehen in dem, was ihn zurückhält,
vielmehr geradezu die volle andere Hälfte der Wahrheit. Wir erkennen in
ihm -lange vor Nietzsehe - einen Kritiker des Begriffs der philosophischen
bzw. metaphysischen Wahrheit.
Die erste Einsicht, die uns dahin leitet, ist die, daß Goethe selbst in seinem
bildnerischen Grundverhalten zur Welt nicht die Besonderheit seiner dichte-
rischen Individualität sah, sondern das Allgemeine des menschlichen Da-
seins überhaupt. Der Künstler ist nur die gesteigerte Erscheinung des Men-
schen. Der Mensch ist. was er ist, in beständiger Wirkung auf die ,Welt und
im beständigen Erfahren der Gegenwirkung der Welt auf ihn. Nicht in der
abgelösten Freiheit des Gegenüberseins, sondern im täglichen Bezug auf die
Welt, im Sicheinlassen in ihre Bedingnisse gewinnt der Mensch sich selbst.
~r gewinnt damit auch erst die rechte Stellung des Erkennens. Es ist der
Schüler Herders. der unser Erkennen der Welt nicht als ein Haben und
Wissen, sondern als ein Erfahren und Genießen sieht, d. h. aber als eine
produktive Antwort des Menschen auf die Welt aus der Totalität der
menschlichen Natur.
Damit hängt ein Zweites zusammen. Wenn sich Goethe vor den Gewagt-
heiten der philosophischen Spekulation bewahre, so folgt er damit nicht nur
einem Instinkt für das seiner eigenen Art Angemessene - er sieht darin das
menschlich Richtige und dem Menschen Gebotene schlechthin. Darin aber
liegt, daß er einen eigenen Anspruch auf Wahrheit dem Ganzen der philo-
sophischen Tradition und ihrem Begriff der Wahrheit entgegenstellt. In
einer seltsam gelassenen Vorläuferschaft weist Goethe hier wiederum in die
Richtung, in der Nietzsehe die Kritik des Platonismus gesteigert hat, und
gerät in die gleiche Nähe zu den Anfängen der Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen, die Nietzsche empfand. Auch er sah, was Nietzsehe
sah, daß die plastische Natur der alten Denker. ihre geschlossene überein-
stimmung von Leben und Lehre, im modernen Zeitalter unbekannt ist, und
er begründet darauf seine eigene bewußte Stellung zur Philosophie. In einem
von Falk berichteten Gespräche sagt er: »Die Philosophen können uns
ihrerseits nichts als Lebensformen darbieten. Wie diese nun für uns passen,
ob wir, unserer Natur und unseren Anlagen nach, ihnen den erforderlichen
Gehalt zu geben imstande sind, das ist unsere Sache. Wir müssen uns prüfen
und alles, was wir von außen in uns hereinnehmen, wie Nahrungsmittel, auf
das sorgsamste untersuchen; sonst gehen entweder wir an der Philosophie
oder die Philosophie geht an uns zugrunde. "
Diese Außerung ist sehr aufschlußreich. Sie zeigt, nlit welcher Bewußt-
heit Goethe sich gegenüber der einseitigen Verstandesbildung der neueren
Jahrhunderte verhält. Es sind ja eben die protestantischen Jahrhunderte der
Sorge um den rechten Glauben und die rechte Lehre, die auch der philo-
70 Goethc und die Philosophie
Wer Goethe liebt, der liebt auch die deutsche Sprache. Und wem ist Goethe
nicht gleichwohl der Inbegriff einer Menschheitskultur, die inmitten einer
Welt heillosrr Entzweiungen ihren geheimen Gang geht!
Indessen, wer ist es, der Goethe liebt und in Goethe etwas alle Einendes?
Wir können uns nicht verbergen, daß die selbstverständliche Anteilnahme
an Goethe, alles Echte und Wahrhafte, was in ihr laut wird, von der älteren
Generation der heute Lebenden getragen wird. Die Jugend, sowie sie über
die bildungs mäßige Beflissenheit ihres noch unselbständigen Daseins hin-
auswachsend ihre Sterne wählt, wendet sich anderen Vorbildern zu und geht
an Goethe mit zunehmender Gleichgültigkeit vorbei.
~ugend ohne Goethe<, so hieß der Titel einer bedeutenden Rede, die der so
früh dahingegangene Max Kommerell1930 veröffentlichte. Diese Formel
ist heute genauso gültig wie vor Jahrzehnten, wenn auch ihr positiver Inhalt
sich gewandelt hat. Nicht mehr eine ausschließliche Hingabe an die Dich-
tung Stefan Georges, wie sie Kommerell damals - und schon damals kaum
noch mit vollem Recht - zu erkennen meinte, ja nicht einmal die Hingabe an
die Dichtung Hölderlins und Rilkes scheint inzwischen das Herz der dichte-
risch empfänglichen Jugend zu erfüllen. Selbst diese äußerste Inständigkeit
des dichterischen Menschentums ist wie unter Fluchtverdacht geraten. Alles
.Poetische< erscheint vor der Wucht der Realitäten, die uns in unserer vom
Geiste des technischen Könnens inspirierten Gesellschaft umringen, nur
noch als eine edle Ohnmacht. Goethe vollends kommt der suchenden Ju-
gend von heute wie der Urheber und Kronzeuge einer kunstvollen Ver-
schleierung der Entscheidungen vor, um die es wahrhaft geht. .
Es ist nicht das erste Mal, daß Goethe so mit Leidenschaft bestritten wird.
Schon die Zeitgenossen und dann das Junge Deutschland, jene literarische
Bewegung, die nach der französischen Juli-Revolution von 1830 den sozia-
len und ästhetischen Tendenzen des beginnenden Liberalismus ihre Stimme
lieh, haben mit dem Angriff auf den .Olympier< Goethe das Stichwort
gegeben, das seither mehrfach wiederholt wurde. Es war viel unproduktiv~s
Ressentiment in dieser feindseligen Haltung zu Goethe. Die Kritiker Wolf-
gang Mentzel und Ludwig Börne, die Wortfdhrer des Streites, sahen in der
Goethe und die sittliche Welt 73
anscheinenden Unberührtheit, mit der der alternde Geheimrat Goethe auf
den stürmischen Radikalismus der Jugend herabsah, Blindheit gegen die
echten und zukunftsvollen Kräfte der Zeit. Der Kult, den die höhere Gesell-
schaft mit ihrem Abgott trieb, reizte sie zu maßloser Ungerechtigkeit. Und
am Ende war es nicht nur ein revolutionärer Elan, der gegen die selbstzufrie-
dene Sicherheit der bestehenden Ordnung, mit der Goethe sich eingelassen
hatte, gerichtet war, sondern ein echter Haß gegen die mühelose Gelassen-
heit dieser genialen Produktivität, d. h. aber unerfullte Liebe, die etwa das
zwiespältige Verhältnis Heinrich Heines zu Weimar und zu Goethe be-
stimmte. Was Goethe ehedem schon gegen den revolutionären Radikalis-
mus des jungen Schiller eingenommen hatte. was ihn gegen den Anspruch
so genialer Naturen wie Kleist und Hölderlin taub machte, erschien nun als
eine wirkliche Grenze in dem Riesenmaß seiner Persönlichkeit. Sein ausge-
wogenes Gleichmaß war den radikalen Forderungen einer jungen Genera-
tion ein zu billiger Friede mit den Mächten des Bestehenden und zuletzt ein
Mangel an Radikalität und Entscheidungskraft.
Seither hat eine drängende jugend diesen Angriff mehrfach wiederholt.
Mit der Saturierung des Besitzbürgertums im industriellen Anstieg Preu-
ßens und des deutschen Reichs war das erste Kampfgeschrei verstummt und
einem neuen Bildungskult gewichen. Der Anprall des sozialen Pathos der
naturalistischen Bewegung der 80er jahre gab ihm neue Nahrung, und
vollends der Zusammenbruch des Bildungsidealismus in den Schützengrä-
ben des Ersten Weltkrieges rief die revolutionären Kräfte der Literatur und
der Politik erneut in die gleiche Front.
Inzwischen aber nimmt ,die innere Auseinandersetzung mit Goethe eine
immer schweigendere und dadurch immer ernstere Form an. Sie hat nicht
mehr die militante Gestalt einer literarischen und politischen Fehde, nicht
mehr den heißen Atem einer anderswolIenden Ungerechtigkeit, die angreift
und verwirft, um dem eigenen Stil des künstlerischen oder politischen
HandeIns den Weg zu bahnen. Sie läßt es nicht einmal mehr an gerechter
Anerkennung fehlen - und eben dami t bekundet sie ihren gesteigerten Ernst.
Sie fragt jetzt nach Goethes Legitimation, weil sie an der Legitimität des
Poetischen in unserer Welt überhaupt zweifelt. Und sie fragt grundsätzlich.
mit der Gewissenhaftigkeit, die sich von Goethes Persönlichkeit und Werk
halb versucht und bewogen fiihlt, nach Goethes Stellung zur sittlichen Welt.
Sie spielt nicht mehr den jungen Goethe oder sonst eine Phase seines Schaf-
fens gegen den älteren aus, sondern sucht ihn als Ganzen und richtet ihre
Gewissensfrage an das Ganze seiner Existenz und seiner geistigen Wirklich-
keit.
Kar! jaspers hat in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Goethe-
Preises der Stadt Frankfurt 1947 die beunruhigende Frage gestellt, was es
bedeute, daß Goethe uns nahe ist und unserem Leben unentbehrlich und
74 Goethe und die sittliche Welt
doch kein Vorbild mehr für unsere eigene Existenz. Er hat insbesondere die
Kritik ins Licht gestellt, die Kierkegaard an Goethe geübt hat, daß ihm die
Existenz selber zur Dichtung geworden sei. Goethes Mangel sei, daß er kein
Pathos habe. Aus allen Situationen, in denen ein unbedingter Anspruch an
ihn ergehe, so oft ihm ein Lebensverhältnis übermächtig werde - bekannt ist
das ja vor allem von seinen Liebesedebnissen -, dichte er sich davon frei.
)Dichtung und Wahrheit<, diese großartigste Selbstbiographie der deutschen
Sprache, verschleiere mit ihrer Poetisierung seines Lebens gerade die Ver-
bindlichkeit der Existenz. Man ist versucht, zu fragen: Muß etwa von
Goethe selbst gelten, was er einst gegen eine falsche Werthemachfolge
gesagt hat: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach!«?
Es genügt nicht, die Berechtigung dieser Kritik zu prüfen, sie anzuneh-
men oder zu verwerfen, und daneben das dichterische Werk Goethes unbe-
schädigt festhalten zu wollen. Denn die Poetisierung seines Lebens, die ihm
diese Kritik vorwirft, ist ja selbst das Lebensgesetz seiner Poesie. Sein
dichterisches Werk ist der reinste Ausdruck dessen, was man )Erlebnisdich-
tung( nennt. Nicht als ob sein )wertes Ich< der Schlüssel aller seiner Dichtun-
gen sei und nur von seiner Lebensgeschichte her seine Dichtungen Leben
und Bedeutung hätten. Was sich in seinen Werken, diesen »Bruchstücken
einer großen Konfession«, wie er selbst sie genannt hat, ausspricht, ist nicht
das einmalig historische Ich ihres Schöpfers. Vielmehr macht es gerade das
sittliche Problem so brennend, daß er sein Leben )gedichtet< hat, d. h. aber
sein faktisch gelebtes Leben wie einen Stoff behandelt, der wie aller Stoff der
Kunst für sich nichts ist, sondern ganz in das Gebilde eingegangen ist, das
uns allgemein und bedeutend anspricht. Ist selbst das größte Ich, ein Ich von
reichster Welthaltigkeit, überhaupt stoffbedeutend genug für den Auftrag
der Poesie? Das ist die andere Frage. die sich mit der ethischen zugleich
ergibt, die Frage an Goethes Kunst und Dichtertum. Calderon oder Dante
oder die griechischen Tragiker, die wie namenlose Mittler einer allumfas-
senden Weltschau schier ohne Persönlichkeit scheinen, geben dieser Frage
kein geringes Gewicht. Sie steht neben der anderen, die die Unbedingtheit
der sittlichen Existenz an Goethe vermißt. Ja. sie hat vor jener den Vorrang.
Denn nicht Goethes Existenz ist uns gegeben und zugänglich, wohl aber der
vielfache Zauber seines dichterischen Werkes. »Wie es in Goethes Existenz
war, wird niemals jemand ergründen«. sagt Jaspers angesichts der Kierke-
gaardschen Kritik mit Recht. Aber was seine Dichtung in unserer Existenz
ist, können und müssen wir ergründen.
Es ist etwas Gewaltiges geschehen, als Goethe den Mund auftat und die
deutsche Dichtung zum Range der Weltliteratur erhob. Die gewaltige
Sprachgebärde Schillers, die blockhafte Inständigkeit Hölderlins. auch
Klopstocks stammelnde Kraft und Herders grenzenlos entfesselte Sprach-
fülle, und wen immer man nennen will unter den Künstlern der deutschen
Goethe und die si ttliche Welt 75
Sprache, die in die Weltliteratur eingegangen sind - sie alle übertrifft Goethe
um ein ganz Eigenes: die vollkommene Natürlichkeit seiner Sprache'. Sie
wirkt auf uns fast nur deshalb als ein eigener Stil, weil uns dieser freie
Gebrauch des Eigenen in den Formen der dichterischen Aussage vor Goethe
nicht gegeben war und nachher nicht ohne ihn. Es ist nicht nur die unbefange-
ne Frische seiner frühen dramatischen und epischen Prosaschöpfungen,
denen ein Erdhauch von Mundart anhaftet, es ist gerade auch seine Verskunst,
die von den schlichten Anfängen seiner Liedpoesie bis in die allegorisch
beladenen Strophen seiner spätesten Dichtungen, von der )Pandora( über den
)West-östlichen Divan( bis zum zweiten Teil der Faustdichtung ihr rhythmi-
sches Gefüge wie von der Natur selbst empfängt. Aufleichten Füßen eilt noch
der ausdrucksschwerste, metrisch kunstvollste Vers daher. Der alte Bann, der
auf der durch die antike Metrik gebundenen deutschen (und nicht nur der
deutschen) Verskunst zu
liegen schien, ist wie gelöst und entmachtet. Und
selbst die spätere Prosa Goethes, die gewiß etwas von einem zeremoniösen
Kanzleistil an sich hat, erscheint nicht als geformt und gewollt, sondern als der
selbstverständliche Ausdruck einer dem Dichter und seinem Weltverhältnis
notwendig gewordenen Umständlichkeit. Goethe selbst hat aus seiner pro-
duktiven Frühzeit berichtet. daß ihm seine Verse wie von selbst kamen, oft
des Nachts, bei halber Dunkelheit auf Zettel geschrieben wurden, mehr einer
Eingebung gehorchend als aus einem künstlerischen Wollen entspringend.
Man spürt es seiner Verskunst an und wird nicht verkennen, daß diese
vollkommene Natürlichkeit seiner Sprache nichts Äußerliches und Zufälliges
ist, sondern aufs genaueste der Art entspricht. wie er überhaupt der Welt
begegnet und auf sie antwortet. Es ist wie ein Spiel, und gerado das Spieleri-
sche seiner Poesie ist es, was manchem an der bis zum Prophetenhaften
angespannten Sprachgebärde Hölderlins oder Rilkes Erzogenen wie der
Mißbrauch eines heiligen Gefäßes erscheinen kann.
Man wird den künstlerischen Reiz dieser Sprachbehandlung - die nichts so
wenig ist als eine Behandlung der Sprache - nicht leugnen. man wird sogar
erkennen, daß Goethe in seinem Verhältnis zur Sprache-und vielleicht auch
zur Welt -, in dieser freien Natürlichkeit seines Sichdarlebens. wahrhaft ein
Grieche ist, wie seit den Tagen der Griechen keiner. - und man wird sich doch
fragen. woher Goethe das Recht zu der selbstverständlichen Poetisierung
seines ganzen Lebensstoffes nimmt und ob dies produktive Vermögen.
bildend und gestaltend auf jeden Reiz zu antworten, nicht gerade jene
Unverbindlichkeit bewirkt, die das Reich der dichterischen Einbildungskraft
aus dem Zusammenhang des durch sittliche Normen gebundenen Lebens löst
und die Dichtung in eine Welt der ästhetischen Bildung verweist, die sich in
sich selbst genießt.
I Siehe dazu in diesem Band >Die Natürlichkeit von Goethes Sprache •• S. \28ff.
76 Goethe und die sittliche Welt
Goethes eigene Lebensführung kann diese Frage nur verschärfen. Zwar ist
er keineswegs ein Mann gewesen, der sich der Einordnung in die gesellschaft-
liche Wirklichkeit entzog und ein isoliertes Bildungsdasein pflegte. Als der
junge Goethe vonKarl August von Weimar an seinen Hofberufen wurde, trat
er aktiv in das politische Leben des Weimarer Staates ein. Er war nicht nur
Minister, sondern über seine amtliche Stellung hinaus die maßgebliche und
entscheidende Persönlichkeit, weil er der Mentor des genialisch-ungebärdi-
gen Herzogs war. Mit größter Gewissenhaftigkeit hat er sich in seine Verwal-
tungsaufgaben eingearbeitet und dem kleinen Staatsgebilde unschätzbare
Dienste geleistet. Darüber hinaus nahm er sich viele mit Mühe und Ärger
überhäufte Jahre lang des Weimarer Theaters an. Und doch konnte diese
Situation des Frankfurter Patriziersohnes am Weimarer Hof manchem wie
ein Verrat an der Aufgabe scheinen, die dem revolutionären bürgerlichen
Elemente injener Zeit des niedergehenden Absolutismus gestellt war. Dann,
in demjahrzehnt der napoleonischen Fremdherrschaft über Europa, hielt sich
Goethe, ein persönlicher Bewunderer des großen Korsen, abseits von dem
nationalen Widerstand, der in den Freiheitskriegen triumphierte. Und voll-
ends in denjahren der Restauration stand er ganz auf der Seite der herrschen-
den Gesellschaftsschicht, die ihn aufgenommen hatte. Ein anderer Zug in
Goethes Leben, der viel Kritik und Ablehnung hervorrief, war seine Ehe mit
Christiane Vulpius. Zwar hat er sich mit der Eheschließung äußerlich in die
gesellschaftliche Welt eingefligt, aber wer konnte in der unbedeutenden Frau
die Lebenskameradin erblicken, die der großen Persönlichkeit des Dichters
die rechte Ergänzung bot und den sittlichen Bindungen von Ehe und Familie
die hohe Würde verlieh, die man gerade diesem Liebling hochstehender
Frauen und bedeutender Männer wünschen mußte? Die wahrhaft königliche
Stellung, die sich der alternde Goethe in der gesamten Kulturwelt erworben
und die er mit Behagen gepflegt hat, war doch auch eine Abseitsstellung, die
durch die steigende Autorität seiner Person von Jahr zu Jahr noch verstärkt
wurde. So ist denn auch Goethe selbst sich nicht darüber im unklaren
gewesen, daß das zeitgenössische Publikum seinem Werk und vor allem
seiner sittlichen Persönlichkeit fremd gegenüberstand. Gegen Eckermann
äußert er im März 1830 zu dem Vorwurf, daß er in jener großen Zeit der
Befreiungskriege abseits gestanden sei: »Es versteckt sich hinter jenem
Gerede mehr böser Willen gegen mich, als Sie wissen. Ich flihle darin eine neue
Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir im
stillen beizukommen sucht. Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im
Auge, sie wären mich alle sehr gerne los; und da man nun an meinem Talent
nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz sein,
bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinnenlust
versunken, bald ohne Christentum, und nun endlich gar ohne Liebe zu
meinem Vateflande und meinen lieben Deutschen.«
Goethe und die sittliche Welt 77
Die Zeit hat inzwischen ihr Urteil gesprochen, und Goethe steht heute
über der Parteien Haß und Gunst, die sein Charakterbild in der Geschichte so
lange schwanken ließen. Und vollends ist die Kritik verstummt, die an sein
Werk zu rühren wagt, ihm das echte poetische Genie (wie mancher mär-
chenselige Romantiker meinte) oder auch nur das wahre dramatische Talent
absprach. Sein Werk gehört der Wdtliteratur an, mit einer sdtenen, umfas-
senden Vollständigkeit. Aber freilich ist diese Schätzung Goethes von Maß-
.stäben literarischer Bildung bestimmt, die rur den Zweifel an seiner sittli-
chen Wertbeständigkeit und menschlichen Bedeutung immer wieder Raum
lassen. Was die ,Iphigenie< ist, diese so gar nicht ,griechische< und um so
unmittelbarer menschlich anrührende Umsetzung eines hohen Sagenstoffes
der Antike in das sittliche Empfinden der neueren Zeiten, ist niemandem
mehr zweifelhaft. Aber die problematischen Gestalten Clavigos oder Tas-
sos, Wilhelm Meisters oder Fausts (wie manche andere seiner weiblich-
gefährdeten Heldengestalten) entsprechen dem Idealbedürfnis der Men-
schen wenig. Immer wieder wird der sittliche Enthusiasmus Schillers stär-
kere Resonanz finden als Goethes zwiespältige und von den Abgründen
menschlicher Schwäche und Verwirrbarkeit umwitterte Figuren. Vor allem
aber bleibt ein Zweifel, der nicht zur Ruhe kommen will: Was ist es mit
dieser dichterischen Selbsterlösung, die er in seinem Leben und in seinem
Verhältnis zu seinem Dichten in Anspruch nimmt? Ist sie nicht eine Blasphe-
mie, die religiöse Formeln wahnhaft usurpiert? Ist sie nicht eine gefährliche
Verführung für den auf sittliche Bewährung gewiesenen Willen? Es sind
wundervolle Verse, in denen die tiefe Leidensfähigkeit des Dichters sich
ergreifend ausspricht: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.« Aber ist das nicht der Egozentris-
mus eines isolierten Künstlertums, der sich den lexistentiellen Ernst< des
menschlichen Lebens verbirgt? Im wiegenden Takt des IWest-östlichen
Divan< formuliert Goethe sein Lebensgefühl einmal in den Versen:
Worauf kommt es überall an,
Daß der Mensch gesundet?
Jeder höret gern den Schall an,
Der zum Ton sich rundet.
Was ist das für ein Verhältnis zur sittlichen Welt, das sich hier aussprich"?
Rührt es nicht an die Grundlage unserer durch die christliche Religion
gelehrten und weit über die lebendige Wirklichkeit des Christentums fort-
geltenden menschlichen Sei bsteinschätzung ? Sich-selbst-Versöhnen - ist das
nicht die entschlossenste Zurückweisung des Heiles, das uns durch die
christliche Kirche und ihre Verkündigung geboten ist? Der Titanismus des
jungen Goethe, dessen Bezwingung in den Augen seiner Verteidiger und
Verehrer die große sittliche Leistung seines Lebens ist, scheint insofern noch
immer sein letztes Wort. Denn Titanismus ist das trotzige Auf-sich-selbst-
Bestehen des Menschen gegenüber dem Göttlichen, wie es in Goethes
Vorliebe fur die Gestalt des Prometheus in seiner Jugend revolutionären
Ausdruck fand. Titanismus scheint aber nicht minder die dichterische·
Selbsthilfe, der Goethe sich beständig und bis zuletzt anvertraut. Sind es
nicht die Grenzen der ästhetischen Lebenshaltung überhaupt, an denen
dieser große Künstler zum Scheitern kommt?
Man darf diese Frage nicht leicht nehmen. Man darf ihr auch nicht ihre
Grundlage zu entziehen suchen, etwa, indem man einem Schriftbeweis
einen anderen Schriftbeweis entgegenstellt. Gewiß kann man aus Goethe
alles beweisen und deshalb schließen, daß ein Künstler mit keiner der Gestal-
ten, in denen er lebt, identisch ist, und daß kein wahres Kunstwerk eine
eindeutige Moral abzuleiten gestattet. So argumentieren hieße aber Goethe
verkleinern. Sein Dichtertum geht allerorten in eine Form von Weisheit
über, die unmittelbar anspricht und unmittelbar ihm zuzurechnen ist. Selbst
die >Divan<-Verse, die wir eben zitierten, sind zwar nicht einfache Lehrpoe-
sie, sondern echte poetische Figur, aber die Figur, die sie sind, ist die des
Poeten - und das Poetische war, daran ist kein Zweifel erlaubt, die Basis von
Goethes Existenz.
Jene Verse zeigen indes, daß Goethe einen Gegensatz zwischen der ästheti-
schen Existenz des Dichters und der allgemeinen Existenzform des Men-
schen nicht gelten lassen will. Was für den Dichter gilt, ist nichts anderes, als
was für den Menschen gilt. Die Gesundung des Menschen ist die Gestaltung.
»Jeder höret gern den Schall an, der zum Ton sich rundet.« Das ist keine
ästhetische Lebensanschauung, die sich zu einer ethischen Lebensanschau-
ung in Gegensatz rucken ließe. Der Dichter stellt dar, was des Menschen ist.
Produktiv antworten auf den Anspruch der Dinge ist nicht sein Sondervor-
recht und seine Sondermöglichkeit, die ihn abhebt und in eine geschonte
Unverbindlichkeit freistellt. Es ist eines jeden Seele, durch die der »Erz-
klang« des Lebens dröhnt. »Düster Streben« ist nicht ein Zustand, der nur
dem Dichter widerraten werden soll, sondern der Dichter meint, daß sol-
cher Zustand menschlich unrichtig ist. Er ist darin mit dem strengsten
Moralisten, mit dem >Rigoristen< Kant, in Wahrheit einig. Denn auch. Kant
sagt: »Fragt man nun: welcherlei ist die ästhetische Beschaffenheit, gleichsam
Goethe und die sittliche Welt 79
das Temperament der Tugend: Mutig, mithin fröhlich oder ängstlich gebeugt
und niedergeschlagen? so ist kaum eine Antwort nötig. Die letztere sklavi-
sche Gemütsstimmung kann nie ohne einen verborgenen HqJJ des Gesetzes
stattfinden und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht ... ist ein
Zeichen der Echtheit tugendhafter Gesinnung.« Goethes Parole der dichteri-
schen Selbstversöhnung ist nicht der Ausdruck einer ästhetischen Lebensan-
schauung, der der sittliche Ernst fehlt, sie ist eine sittliche Wahrheit, die
vielleicht nicht einmal über das religiöse Problem der Angewiesenheit des
Menschen auf göttliche Gnade etwas präjudiziert, geschweige denn dem
politischen Eskapismus das Wort redet. Es ist eine Wahrheit, der insbeson-
dere Hegels Kiitik an der Unmoral des Sollens und der Unwahrheit des
abstrakten Räsonnierens Anerkennung verschafft hat. Hegel selbst hatte ein
Bewußtsein davon. daß die spekulative Lehre vom Begriffals dem wahrhaft
Konkreten (Enz. § 164) in Goethes Künstlertum und Persönlichkeit ihre
anschauliche Erfüllung hatte2. Das mit der Wirklichkeit entzweite Bewußt-
sein ist das unglückliche Bewußtsein schlechthin. Der Jugend, deren ab-
strakter Enthusiasmus alle Bedingtheiten überfliegt, mag diese sittliche
Wahrheit nicht leicht eingehen. Aber es gibt nicht die Jugend schlechthin.
Sie ist ein Durchgang. wie alles Menschliche. Der Weg der deutschenjugend
zu Goethe ist nicht der mühsame und zweifelhafte Weg zu etwas Fremdem -
es ist der Weg ihrer eigenen Lebensbewegung und einer jeden Jugend
Zukunft.
2 Vgl. den BriefHegels an Goethe vom 24. April 1825. Dazu auch im Vorhergehenden
.Goethe und die Philosophie<, S. 67 f.
7. Vom geistigen Lauf des Menschen
Studien zu unvollendeten Dichtungen Goethes
(1949)
Einleitung
Die folgenden Studien haben zu ihrem Gegenstand unvollendete dramati-
sche Dichtungen Goethes, die dennoch von Goethe selbst in die Ausgabe
seiner Gesammelten Werke aufgenommen worden sind und dadurch ein
besonderes Gewicht erhalten. Alles Unvollendete weist hinaus auf das Aus-
stehende, das erst den Sinn des Ganzen zu enthüllen vermöchte. Und doch
haben diese dramatischen Fragmente eine innere Abrundung. die ihnen das
Ganze eines Sinnes verleiht. Goethes Abrundung des 1773 entstandenen
Prometheusfragments durch die späte Anfiigung der Prometheus-Ode mag
einigermaßen künstlich und fragwürdig sein. Aber wer vermöchte der
,Pandora( oder der Goetheschen ,Zauberflöte( zu bestreiten. daß sie auf ihre
Weise ein Ganzes sind? Die Entwürfe der Fortsetzungen sind für d1e Leser
dieser Dichtungen durchaus entbehrlich, wenn sie auch fiir den Forscher den
hohen Reiz des Vermutlichen haben und auf der andern Seite fast als Kom-
mentar zu dem Ausgefiihrten dienen.
Was ist das Geheimnis dieser Fragmente? - Ich meine nicht, daß sie
unvollendet blieben, sondern daß sie vollendet sind. Welcher dichterische
Antrieb hat sich in ihnen dergestalt erfiillt, daß sie ihrer eigenen Fortfiihrung
zuvorkamen?
Es sind zufällige Studien, die sich in dieser Frage zusammenfassen. Das
Prometheusproblem, dem Verfasser seit langem Gegenstand eingehender
Forschung, nimmt in Goethes Dichtung allerdings eine bevorzugte Stellung
ein, und die beiden Dichtungen, die wir ihm - aus den 80er Jahren des 18.
Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts - verdanken,
deuten aufeinander hin. ,Der Zauberflöte anderer Teil( dagegen lockte zur
Deutung im Blick auf die Mozartsche Oper. Und doch ist es überraschend,
wie einheitlich sich diese Werke so verschiedener Entstehungszeit und so
verschiedenen Gewichts zueinanderfügen. Sie handeln alle drei von dem
Weg der menschlichen Gesittung, die mythologischen Dramen von der
titanischen Vorwelt und ihrer überwindung, die märchenhafte Oper vom
Vom geistigen buf des Menschen 81
Prometheus . Pandora
Die mythische Figur· des Titanen Prometheus, des großen Menschenfreun-
des, der durch den Diebstahl des Feuers zum Ahnherrn der menschlichen
Kulturarbeit wird und um seiner Liebe zu den Menschen willen von der
Rache des Zeus getroffen in heroischem Duldertum, täglich aufs neue vom
Adler des Zeus zerfleischt, unbequem auf sich selbst besteht, ist von der
griechischen Dichtung, von Hesiod und Aischylos, zur dauernden und
gültigen Gestalt geprägt worden. Sie hat in stetigem Sinnwandel das antike
Denken bis über die Schwelle des Christentums hinaus begleitet'. Denn
selbst das hellenistische Christentum noch konnte in der Tat und den Leiden
des Prometheus eine Präformation der eigenen religiösen Botschaft von der
Erlösung der Menschheit durch stellvertretendes Leiden erkennen, indem es
nach antiker Art den überlieferten Mythos auf sich bezog. Der eigentliche
religiöse Gehalt des von Hesiod und Aischylos gestalteten Mythos freilich
war mit den christlichen Anschauungen von der Ewigkeit und Allmacht
Gottes unvereinbar. Daher ist das besondere Interesse, das seit dem Beginn
der Neuzeit dem antiken Mythos zugewendet wird, ein Zeichen dafür, daß
die Verbindlichkeit des Christentums nachläßt. Der Prometheus-Mythos
wird nun in einer Variante aufgegriffen, die bereits in der späteren Antike
1 Vgl. meinen Aufsatz ,Prometheus und die Tragödie der Kultur •. in diesem Band,
S. 150ff.
82 Vom geistigen Lauf des Menschen
sinnig war ja auch die Wirkung des ,Werther< - und auch hier gebraucht
Goethe in der Rückschau von ,Dichtung und Wahrheit< das gleiche Bild von
dem Zündkraut und der Explosion, die das Buch bewirkte. In beiden Fällen
setzt sich Goethe selbst von diesen Wirkungen ab, indem er den poetischen
Sinn der )Darstellung< dieser Stoffe von ihrer stofflichen Wertung und
dogmatischen Benutzung unterscheidet. So hat das Prometheus-Gedicht.
wenn man aufseine Wirkungen sieht. zweifellos seinen Ort in der Religions-
geschichte. Was es aber für Goethe und in seinem dichterischen Werk
bedeutet. kann nur vom Dichterischen her gefragt werden.
Fr~ilich. die Prometheusfigur hat Goethe nicht nur dies eine Mal beschäf-
tigt. sondern es war ihm. wie er selbst bekennt, »der mythologische Punkt,
wo Prometheus auftritt. immer gegenwärtig und zur belebten Fixidee ge-
worden«. Darin liegt. daß die Prometheusfigur rur Goethe nicht ein dichte-
risches Motiv unter anderen darstellt, sondern eine besondere Identifikation,
deren Tragweite zu bestimmen ist. Wie wir durch Jacobi wissen, hieß der
junge Goethe im Kreise seiner Freunde geradezu Prometheus. Was dieser
Namengebung zugrunde lag, geht aus Goethes Bericht hervor, daß sein
produktives Dichtertalent damals die »sicherste Base« seines Lebensgeruhis
darstellte und sich in der produktiven Selbständigkeit. die Prometheus als
der Bildner der Menschen betätigt. erkannte. Goethe folgt damit jener seit
der Renaissance ins Selbstbewußtsein der Menschheit eindringenden Vor-
stellung, im Künstler einen )zweiten Gott< (alter deus. Scaliger), einen zwei-
ten Schöpfer zu erkennen, eine Vorstellung, die Shaftesbury unter dem
Symbol des Prometheus dem 18. Jahrhundert vermittelt hatte'. Diese Ge-
dankenlinie ist in den modernen Begriff des Schöpferischen eingegangen
und lebt seit dem )Sturm und Drang< in der Form des Kults der Persönlich-
keit und des Genies im allgemeinen Bewußtsein.
Indessen wäre es voreilig. das Prometheusmotiv im Blick auf diese Dinge
lediglich in seiner ästhetischen und kunsttheoretischen Bedeutung für Goe-
the in Anspruch zu nehmen. wie das für die humanistischen Theoretiker des
Geniebegriffs gilt. Vielmehr ist Goethes dichterische und gedankliche Aus-
einandersetzung mit der Prometheusfigur deshalb von einer viel weiter
reichenden Bedeutung, weil ihm das Bewußtsein seines dichterischen Ta-
lents - nach seiner eigenen Darstellung in >Dichtung und Wahrheitl - aus der
Erfahrung des »gemeinen<1 (d. h. allgemeinen) Menschenschicksals er-
wuchs. »an weIchem wir alle zu tragen haben«. Die Einsamkeit des Dich-
ters. der nur in der Isolierung produktiv zu sein vermag. macht nur in
ausgezeichneter Weise sichtbar. was fur alle Menschen gilt: »daß der Mensch
auf sich zurückgewiesen wird« und an der Gottheit keine Stütze in der Not
habe. Wenn es also auch die bildnerische Selbstgenügsamkeit des Titanen
ist, die Goethe an der alten mythologischen Figur des Prometheus auffiel. als
er sein eigenes Dasein in Gedanken auf sein Dichtertum zu gründen suchte.
so verschlingt sich dieses Selbstbewußtsein des Künstlers Goethe doch tief
mit einem religiösen Grundgefuhl, das die Stellung des Menschlichen zum
Göttlichen betrifft. Goethe sonderte sich nach prometheischer Weise nicht
nur von den Menschen, sondern auch von den Göttern ab, aber nicht in der
Weise einer n~iven Selbstvergottung, wie sie in dem modemen Kult des
Schöpferischen ahnungslos geschieht. sondern im vollen Bewußtsein unse-
rer unaufhebbaren Menschlichkeit gegenüber dem Göttlichen. -
Daher vermochte die ganze Fabel von Prometheus in ihm lebendig zu
werden, »das Mißverhältnis, in welches Prometheus zu dem Zeus und den
neuen Göttern gerät, indem er auf eigene Hand Menschen bildet, sie durch
Gunst der Minerva belebt, und eine dritte Dynastie stiftet«. Die näheren
Ausfuhrungen, die Goethe in IDichtung und Wahrheit( zur Erläuterung der
Entstehungsgeschichte der Ode macht, betonen zwar den poetischen Cha-
rakter des Mythos und wollen sich auf philosophische und religiöse Betrach-
tungen nicht einlassen. Aber es wird doch deutlich, daß gerade die mittlere
Stellung des Titanen, Abkömmling der ältesten Dynastie und doch nicht
Mitinhaber des Weltenregiments zu sein, ihn für seine Rolle als Menschen-
schöpfer bedeutsam geeignet macht - bedeutsam, sofern das Menschenge-
schlecht auf diese Weise einen dem obersten Weltherrscher gegenüber selb-
ständigen Ursprung erhält, ein sprechendes Symbol CUr seine tatsächliche
Schicksalslage, »aufsichzurückgewiesen« und doch gänzlich untergeordnet
zu sein. Und so betont denn Goethe ausdrücklich, daß I>der titanisch-
gigantische, himmelstürmende Sinn« seiner Dichtungsart keinen Stoff ver-
liehen habe. »Eher ziem te sich mir, darzustellen jenes friedliche, plastische,
allenfalls duldende Widerstreben, das die Obergewalt anerkannt, aber sich
ihr gleichsetzen möchte. «
All das sind freilich späte Selbstdeutungen Goethes, die nicht allein die
Ode im Auge haben, sondern ebensosehr das im Jahre 1820 wiederaufgefun-
dene zweiaktige Dramenfragment. Und wie fern Goethe damals seinen
11Jünglingsgrillen« stand, geht schon daraus hervor, daß er die Ode fälschlich
fUt die Einleitung zum dritten Akt des Dramas hielt und in den Ausgaben an
dieser Stelle drucken ließ. Es erhebt sich die Frage, ob Goethes Selbstdeu-
tung ebenso unzutreffend ist.
Die Antwor,t ist insofern schwierig. als das Drama ein unabgeschlossenes
Bruchstück ist. überdies dürfte Goethe recht haben. wenn er erzählt, daß er
damals ohne fertigen Plan des Ganzen einfach los gedichtet habe. Es ist also
müßig, sich eine genaue Vorstellung von dem Fortgang der Handlung
machen zu wollen. Nur eines dürfte feststehen: daß Goethe damals wirklich
(wie er es später in der Druckredaktion angibt) eine Vermittlung zwischen
Prometheus und Zeus geplant hatte - und damit eine Sanktionierung des
Vom geistigen Lauf des Menschen 85
Menschengeschlechts durch die Götter. Dafür spricht nicht nur die literari-
sche Tradition des Stoffes (die antike wie die neuere), auch die von Goethe
ausgeführten Szenen lassen das erwarten, die überlegene Sicherheit, mit der
Zeus die Schöpfung der Menschen hinnimmt (224f):
Das Wurm geschlecht vermehrt
Die Anzahl meiner Knechte,
und sich geduldet, die Anerkennung seiner Herrschaft später herbeigeführt
zu sehen. Hier wird der Rahmen der dramatischen Handlung deutlich genug
abgesteckt. Mit der Anerkennung der Götterherrschaft seitens der Men-
schen und des Prometheus wird die Handlung schließen, und nicht ohne
Bedeutung für die dann statthabende Weltverfassung dürfte das Angebot
sein, mit dem Zeus am Anfang des Dramas an Prometheus herantritt,
Prometheus solle auf dem Olympos wohnen und "der Erde herrschen«.
Denn diese Weltverfassung ist ja eben die von Goethe erkannte: Selbsthilfe
durch Arbeit und Tätigkeit ist es, die das menschliche Los auf Erden be-
stimmt. Diese prometheische Wahrheit wird am Ende gelten, auch wenn die
Oberherrschaft der Götter bei den Menschen zur Anerkennung gelangt sein
wird. Selbständigkeit, aber eine begrenzte, abhängige Selbständigkeit ist des
Menschen Teil. Das ist der Rahmen, der um das Ganze sichtbar gespannt ist.
Aber wie sollte er ausgefullt werden? Welche Erfahrung des Lebens wird die
Menschen zur Anerkennung der Gottesherrschaft bringen? Wann werden
sie der Götter bedürfen?
Wenn man sich des antiken Mythos erinnert und insbesondere an das, was
Plato im ,Protagoras( vortragen läßt, so wäre es die gesellschaftliche Exi-
stenz des Menschen, seine Fähigkeit zum staatlichen Leben, die ihm allein
durch Zeus und seine Austeilung von Recht (Ö(,<'T\) und Ehrfurcht (CLLÖWt;)
zuteil wird. [n der Tat ist Zeus bei den Griechen, auch bei Aischylos, der
Genius des Gesetzes, und Goethe war diese Vorstellung, daß erst das Gesetz
den Menschen zum Menschen macht. gewiß nicht fremd. (Tagebuchnotiz
von 1797: »Das Gesetz macht den Menschen, nicht der Mensch das Gesetz«.)
Allein. wenn wir das AusgefUhrte danach befragen, ob Zeus wohl als
Friedensstifter der sich zerfleischenden Menschheit die Versöhnung bringen
sollte. so findet sich dafür keinerlei Stütze. [m Gegenteil. Goethe schildert
die Erfahrungen, die Prometheus mit seinen Geschöpfen macht, durchaus
nicht so, als wären Zwietracht und Selbstzerstörung die ihnen drohende
Gefahr. Der Naturzustand der Menschheit ist vielmehr mit freundlichen
Farben gemalt. Der Einfluß Rousseaus und von Wielands ,Beiträgen zur
geheimen Geschichte der Menschlichen Vernunft( (1770) sind darin spürbar.
Der Begriff des Eigentums wird als ein Naturrecht aus dem tätigen Erwerb
hergeleitet und seine Verletzung als etwas nicht minder Natürliches, das
durch die im menschlichen Zusammenleben wirksame Vernunft niederge-
86 Vom geistigen Lauf des Menschen
halten wird. Als dem einen seine Ziege geraubt wird, tröstet ihn Prome-
theus:
Laß ihn!
Ist seine Hand wider jedermann,
Wird jedermanns Hand sein wider ihn. (308ff.)
Etwas anderes also muß es sein, das nach Goethes Absicht - und daß er auch
ohne einen genauen Plan von der Vorstellung von einem Ganzen geleitet
war, darf man voraussetzen - die Menschen und Prometheus zur Anerken-
nung der Götter fUhren sollte. Ein Eingreifen des Zeus, etwa durch die Gabe
der Pandora, wie bei Wieland in seinem )Traumgespräch mit Prometheus(
oder in seiner >Pandora(, würde schlecht zu Zeus' sicher abwartenden Wor-
ten am Anfang des zweiten Aktes passen, ganz davon abgesehen, daß
Pandora nach Goethe j a ein Geschöpf des Prometheus ist.
So bleibt die Frage, ob es eine andere, im Wesen dieser menschlichen
Geschöpfe und ihres Schöpfers gelegene Schranke ist, die sie zur Anerken-
nung der Götter bekehren sollte. Einen ersten Hinweis mag man in Zeus'
Worten erkennen:
In neugeborner Jugendwonne
Wähnt ihre Seele sich göttergleich. (236f.)
Daß sie keine Götter sind, muß ihnen also am Mysterium des Todes aufge-
hen. Auch mag beachtet werden, daß es in dem Gespräch zwischen Zeus und
Merkur heißt: »Sie werden dich nicht hören, bis sie dein bedürfen.« Also
nicht des Zeus, sondern des Merkur, des Sendboten und Dolmetschen,
werden sie eines Tages bedürfen. In der Tat sind es nach Goethe (v. 201)
nicht die Götter, die den Tod (und das Leben) zuteilen, sondern das Schick-
sal. Das aber ist es: die neugeschaffenen Menschen wissen nicht vom Tode.
Pandora fragt, als Prometheus das Wort Tod ausspricht, »Was ist das?« -
und ob Prometheus wahrhaft weiß, was für die Menschen der Tod ist? Es
könnte sein, daß sie eines höheren, göttlichen Zuspruchs, den Merkur
bringt, bedürfen, um sich mit ihrer Sterblichkeit zu versöhnen.
Doch sehen wir selbst zu, ob nicht schon in dieser Jugenddichtung eine
Grenze sichtbar wird, die der prornetheischen Welt und damit auch seinen
Geschöpfen, den Menschen, gesetzt ist. Man hat schon öfters bemerkt (z. B.
Vom geistigen Lmf des Menschen 87
In der Tat schilden der erste Akt - in formaler Anlehnung an den Prome-
theus des Aischylos - den "Eigensinn« des Titanen, das ihm aus seinem
Schöpfertum erwachsende Selbstgefühl, das Bewußtsein einer völligen
Selbständigkeit gegenüber den Göttern:
Vermögt ihr zu scheiden
Mich von mir selbst? (41 f.)
Denn es ist ganz seine eigene Welt, ein »All«, der »Kreis, den meine Wirk-
samkeit erfüllt«, in bewußter Absonderung von den Göttern. Es ist offen-
kundig, wie richtig sich Goethe in IDichtung und Wahrheit( selbst deutet,
wenn er das Selbstgefühl seines poetischen Talents darin erkennt. Hier ist
freilich keine Grenze der prometheischen Welt sichtbar. Das Selbstgefühl
dieser eigenen produktiven Kraft und Souveränität ist so beherrschend, daß
selbst der Einwand, daß die Schöpfungen, mit denen er seine Welt füllt, von
Leblosigkeit gebunden seien, nicht trägt. Das Geruhl ihres Schöpfers ist so
sehr die einzige und ganze Welt, daß sie in ihm ihre Freiheit haben. So
werden sie denn auch von ihm selbst zum vollen Leben erweckt, indem die
Welt des Geistigen, von Minerva repräsentiert, hier anders als in früheren
Formungen des Stoffes keine fremde Macht ist:
Und du bist meinem Geist,
Was er sich selbst ist. (100f.)
Es ist also keine Grenze seines Schöpfertums, die ihn begrenzt, kein Wider-
spruch zwischen Innenwelt und Welt.
Dagegen ist die Schlußszene zwischen Prometheus und Pandora, seiner
Tochter, die an einer Gespielin zum Zeugen der unheimlichen Macht des
Eros wird und sich von ihrem Vater dies ungekannte Geheimnis erklären
läßt, von einer dichterischen Intensität, die es verbietet, in dieser Szene nur
wie in den zwei vorhergehenden ein weiteres Beispiel von Prometheus '
Erziehertum zu erblicken. Und wenn das Prometheusfragment auch mehr
als manche andere unvollendete Dichtung Goethes ein echtes Bruchstück
ohne volle Rundung ist, so ist es doch ein wirklicher Höhepunkt, an dem die
88 Vom geistigen Lauf des Menschen
Dichtung abbricht. Wir werden annehmen dürfen, daß hier, wenn irgend-
wo, der lebendige Nerv des Dramas berührt wird. Wie Prometheus hier das
Mysterium der Liebe und des Todes miteinander verschlingt, kann nicht
ohne entscheidende Bedeutung fiir das Ganze sein. Die Erfahrung des Todes
ist die eigentliche Grenze der menschlichen Selbständigkeit und damit, wir
vennuteten es schon, die Grenze der prometheischen Welt. Wie sie hier
anklingt, kaum als sie selbst, verwoben in die Erfahrung der äußersten
Liebesleidenschaft, ist dennoch bedeutsam und nicht einfach eine pädago-
gische Verhüllungjener dem Mädchen unheimlichen Macht, eines Unheim-
lichen durch ein anderes. Was sie verschmilzt, ist die Erfahrung der Grenze.
In ungeheuren Versen beschreibt sie Prometheus: .
Die Liebe ist hier als ganze Selbstaufgabe des Menschen und zugleich als die
äußerste Steigerung seines Selbstgefiihls beschrieben. In 11 inner eigenem
GefUhle« umfaßt er eine Welt. So wie Prometheus sich zur Welt erweitert,
die er mit seinen Geschöpfen bevölkert, so ist auch die Liebeserfiillung "im
stürmenden Genuß« ein höchster Augenblick des Selbstbesitzes. Man wird
sich fragen dürfen, ob so, wie hier die Todeserfahrung mit der Liebeserfah-
rung verschmolzen ist, beide Erfahrungen am Ende in einer charakteristi-
schen Begrenzung erscheinen. Als »inner eigenes« Gefiihl. wiederkehrend
im natürlichen Rhythmus von Schlaf und Selbstverjüngung. wie sie hier
begegnen, fehlt ihnen beiden ein Wesentliches. Dem Tod das Unwiderrufli-
che und damit das dunkle Geheimnis des Danach. der Liebe das Du, der
Tausch mit ihm. die Geburt des Wir. Sollte das Drama an diesen Grenzsitua-
tionen des menschlichen Selbstbesitzes die Schranken der prometheischen
Welt bezeichnen und die Überwindung seines »Eigensinns«. die Einord-
nung dieser Welt in eine größere, von götdichen Ordnungsgedanken be-
herrschte vollziehen?
Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, daß Goethes ,Fixierung< an die
Vom geistigen Lauf des Menschen 89
mythische Gestalt des Prometheus, von der auch der Plan einer Befreiung
des Prometheus vom Jahre 1795 zeugt, später tatsächlich in dieser Richtung
zu weiterer Entwicklung geführt hat. ImJahre 1807 entwarf er ein Drama,
)Pandorens Wiederkunft< sollte es heißen, von dem dann zwei Akte ausge-
führt wurden und unter dem Titel IPandora( an bevorzugter Stelle den
Abschluß der Gesammelten Werke bilden. Goethe selbst hat diese Dichtung
»absichtlich« genannt und ihre Bedeutungsschwere durch das Wort »inein-
andergekeilt« bezeichnet. In der Tat gibt das AusgefUhrte zusammen mit
dem Schema der Fortsetzung vollkommenen Aufschluß über die »Idee« der
Dichtung, der hier, ganz anders als in dem Jugenddrama, ein fester Plan
zugrunde lag.
Epimetheus ist ein alter Mann geworden. Pandora, die einst die Seine war,
hat ihm, als sie ihn verließ, eine Tochter zurückgelassen, Epimeleia. Er
selbst kann die entschwundene Pandora nicht vergessen. Seine Tochter
Epimeleia ist die Geliebte des Sohnes des Prometheus, Phileros, der sie
eifersüchtig verfolgt, und als er gegen die vermeintlich Treulose andringt,
von seinem Vater im letzten Augenblicke gehindert und weggewiesen wird.
Er stürzt sich ins Meer, aber auf wunderbare Weise gerettet steigt er wie der
jugendliche Gott Dionysos bejubelt ans Land. Da erscheint (abermals) ein
wunderbarer Kasten, eine K ypsele, und die Fortsetzung sollte schildern, wie
sich abermals zwischen Prometheus und Epimetheus der Streit entspinnt, ob
sie aufzunehmen oder zu zerstören sei. Erst durch Pandoras Erscheinen wird
der Streit schließlich entschieden. Die K ypsele schlägt sich auf, und in ihrem
Innern erblickt man einen Tempel, in dem Dämonen sitzen: Wissenschaft
und Kunst. Ihre feierliche Aufnahme unter den Menschen sollte den Schluß
des Dramas einleiten, an dem Epimetheus in verjüngter Gestalt mit Pandora
emporsteigt.
Die Fabel knüpft also an die ältere Tradition der bei Hesiod überlieferten
Prometheusgeschichte an und nicht, wie das ]ugetlddrama, an die spätere
von dem Menschenschöpfer. Sie dichtet, wie öfters bei Goethe, die Fabel in
die nächste Generation weiter. Die Idee ist offenkundig die, daß die höhere
Kultur auf die überwindung des Gegensatzes zwischen Prometheus und
Epimetheus gegründet sei. Kein Zweifel, der Held dieses Dramas sollte
nicht Prometheus, sondern Epimetheus sein, und es mag nicht ohne Bedeu-
tung sein, daß dem alternden Dichter nur den in die Erinnerung an die
entschwundene Pandora gewandten Epimetheus auszufuhren gegeben war
und nicht seine Verjüngung durch ihre Wiederkehr. Gleichwohl wäre es
töricht, hier biographisch deuten zu wollen. Nicht nur, daß Goethe auch
damals nach seinem eigenen Wort ebenso Prometheus wie Epimetheus war
- er war auch ehedem nicht nur Prometheus, sondern ebenso das ihn
Begrenzende gewesen. Wenn es auch eine ganz andere Fabel ist, in der
Prometheus jetzt auftritt, so bleibt die Frage doch sinnvoll, wie sich die neue
90 Vom geistigen Lauf des Menschen
Gestaltung an die ältere anschließt. Goethe sagte 1830 im Blick auf seine
jugendlichen Fragmente - und das gilt gewiß besonders für das Prometheus-
fragment und dessen Bedeutung für seine eigene Selbstklärung -, sie enthiel-
ten »das Wahre, aber unentwickelt, so daß man es als Irrtum ansprechen
könnte«. So dürfen wir die >Entwicklung( der Prometheusfigur im ausge-
fuhrten Stück des Pandora-Dramas auch rur den Sinn des Jugendentwurfs
mitgelten lassen, dessen ausgeführter Teil freilich nur verborgene Sinnbezü-
ge zu dem geplanten Ganzen erraten ließ.
Deutlich genug ist der eingetretene Wandel. Der Hintergrund neuplatoni-
scher Theologie, den Flitner4 herausgearbeitet hat, ist verschwunden. Pro-
metheus ist nicht mehr der universale Schöpfer, dessen bildnerische Selbst-
genügsamkeit eine innere Welt besitzt und bevölkert, sondern der rastlos
Tätige, der aller rüstig Arbeitenden Vorstand ist. Aber gerade als der Vertre-
ter eines von vornherein begrenzten Prinzips bleibt er im Entscheidenden
der, der er war, der Genius der Selbsthilfe, der entschlossenen Abkehr von
allem göttlichen und dämonischen Wesen. Der veränderten Fabel entspre-
chend ist er es, der sich gegen die Wiederkehr der göttlichen Gabe abermals
sperrt, so wie er ehedem Pandora von sich gewiesen hatte. Er ist der Patron
der Schmiede, die er zu morgendlichem Fleiße ruft. Sie sind sein Anhang,
die Tätigen, die er einst vor der Verführung durch Pandora bewahrt hat
(223). In dramatischen Szenen tritt sein Bereich ins vollste Licht. Dem
unbändig leidenschaftlichen Sohne tritt er als Anwalt und Wahrer des Geset-
zes entgegen, er, der Vollbewußte« (237), verbannt die Macht der leiden-
l)
schaft, das »Element« (445), aus seinem Kreise. Dem Bruder gegenüber
vertritt er ein sich überlegen dünkendes Prinzip: Glück und Schönheit
verführen ihn nicht, denn »Auf Gipfeln weilt so eines wie das andre nicht«
(680). »Dämonen, gottgesendete«, wie sie seinen Bruder in Schmerzen
stürzten (731), nimmt er nicht au( Zufall ist ihm verhaßt (828), aber ebenso
der Rausch des Festes (1043). So ist seine ehemalige wie seine jetzige Abwei-
sung der Gaben der Pandora der eigentliche Kern seines Wesens. Er will
nicht beschenkt sein:
sondern in bewußter Tätigkeit selbst für sich sorgen. Goethe hat mit der
unendlichen Kunst, die er gerade auf die >Pandora( gewendet hat - es ist in
seinem Formenreichtum wie in seiner Gedankenfülle wohl das dichteste
aller seiner Werke -, verstanden, dies nüchterne Ideal poetisch so zu steigern
und zu verklären, daß seine bleibende Wahrheit und echte Größe stets
sichtbar bleibt. Aber sichtbarer noch ist die Begrenztheit dieses Wesens.
4 W. FUTNER, Goethe im Spätwerk. Hamburg 1947, S. 46f.
Vom geistigen Lauf des Menschen 91
Die ganze Handlung ist offenbar darauf angelegt, die alte Fabel der grie-
chischen Mythologie im Entscheidenden umzuwerten. Nicht die überlege-
ne Vorschau und beherrschte Vorsicht des Prometheus. wie bei Hesiod, ist
das wahre Ideal des menschlichen Lebens, - die Schmerzen, die ihm die
Leidenschaft bringt, gehören zu seinem wahren Wesen. In Epimetheus und
seinem leidvollen Geschick hat die Menschheit trotz allem den Weg zu sich
selbst begonnen.
Goethe überbietet die alte griechische Mythenweisheit, indem er die
Geschichte in die nächste Generation weiterdichtet. Der eigene Sohn des
Prometheus offenbart die Schranke der prometheischen Welt. Er erfährt die
Dämonie der Leidenschaft, Liebe und Eifersucht, mit tödlicher Gewalt und
weist dem Vater ihre überlegene Macht:
So glaubest du, Vater, nun sei es getan?
Mit starrer Gesetzlichkeit stürmst du mich an,
Und achtest für nichts die unendliche Macht,
Die mich, den C1ücksel'gen, ins Elend gebracht. (449ff.)
An ihn richtet er die Frage, auf die Prometheus keine Antwort hat:
Nun sage mir, Vater, wer gab der Gestalt
Die einzige furchtbar entschied'ne Gewalt?
So wird an dem Sohn des Vaters Grenze sichtbar. Und wenn der Jüngling,
der sich vom Vater verflucht ins Meer stürzt, wie durch ein Wunder gerettet,
ein' anderer Dionysos, unter dem Jubel der ganzen Natur ans Land zurück-
steigt. so war es nicht des Vaters tätige Energie. die ihn rettete, sondern ein
Höheres, der Götter Wille, eine unser menschliches Wollen und Wähnen
übersteigende Macht, die in ihm wie in allen Wesen siegreiche »Lust zu
leben«:
Deine Klugheit, dein Bestreben
Bringt ihn diesmal nicht zurück:
Diesmal bringt der Götter Wille,
Bringt des Lebens eignes, reines,
Unverwüstliches Bestteben
Neugeboren ihn zurück. (99Off.)
Es ist die Stunde eines neuen festlichen Einklangs aller Dinge. Der Prome-
theus des Jugenddramas hatte solche
Wonne.
Wenn die Götter. du.
r· .. J
Sich a1\ ein innig Ganzes fühlten,
Wissenschaft und Kunst sind es, deren Erwerb und Offenbarung die Men-
schen aus dem Rohen ihrer titanischen Vorzeit erheben. Aber nicht dadurch,
daß sie ein Geheimnis offenbar machen - sie selbst sind das Geheime, worin
sich alle Wahrheit birgt.
Sollte auch Prometheus die überlegene Wirklichkeit anerkennen lernen?
Mußte sie nicht geradezu weit über sein Begreifen die Erfüllung dessen sein,
was er dem Menschengeschlechte gewünscht hatte:
Möchten sie Vergangenes mehr beherz'gen,
Gegenwllrt'ges, formend, mehr sich eignen,
WIlr' es gut fiir alle; solches wünscht' ich. (1074ff.)
Vom geistigen Lauf des Menschen 93
deutsche Theater und seine in der späteren Zeit seines Lebens, nach Schillers
Tode, erfolgende Abwendung vom Theater bezeugen.
Gleichwohl hat Goethe seine Dichtung für würdig befunden, einen Platz
in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke einzunehmen, und in der Tat
kann man angesichts der Anmut und des Tiefsinns des Goetheschen Frag-
mentes nicht anders urteilen, als daß es eine des großen Dichters würdige
produktive Antwort auf das Erlebnis der Mozartschen Oper ist. Diese
Dichtung ist so dichterisch, sie erfüllt den ganzen Sinnraum, den sie ent-
wirft, so völlig mit der sinnlichen Dichtigkeit ihrer sprachlichen Gestaltung.
daß sie von sich aus der musikalischen Weitergestaltung gar keinen Raum
gibt. Goethes ständiger Blick auf den Komponisten, die genialen szenischen
und musikalischen Winke, die er einstreut, können nichts daran ändern, daß
die geschlossene Sinnwelt seiner dichterischen Gestaltung sich ihrer musika-
lischen Umschmelzung widersetzt. Um so mehr aber ist der dichterische
Sinn des Fragmentes und seines Bezugs auf die Mozartsche Oper einer -
bisher noch nicht versuchten - Deutung bedürftigS.
Mozarts herrlicher Oper liegt ein Textbuch zugrunde, das von einem
mittelmäßigen Theaterdichter namens Schikaneder stammt. Dieses Text-
buch ist in neuerer Zeit vielfach der schärfsten Kritik begegnet, und wenn es
nicht durch den Genius der Mozartschen Musik verklärt wäre, würde es
niemandes Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Denn in der Tat ist es
ein ganz in der herkömmlichen Tradition der Zauberoper auf wirksame
Effekte hin zusammengestücktes, aus mancherlei Quellen gespeistes Mach-
werk, nach dessen selbständigem Sinn auch nur zu fragen abwegig scheinen
könnte. Mozart allerdings hat einen Sinn darin erkannt und den ganzen
Reichtum seiner musikalischen Erfindung darüber ausgegossen, die
menschlichen Situationen von Haß und Liebe, Angst und Mut, Trieb und
Geist, Adel und Komik zum Hohen Lied der Humanität entfaltend. Doch
das war Mozarts eigene - eine neue - Schöpfung. Allein auch Goethe
vermochte offenbar dem Textbuch einen eigenen tieferen Sinn abzugewin-
nen. Er spricht es einmal so aus, daß man darauf vertrauen könne, daß den
Eingeweihten der höhere Sinn der Dichtung aufgehen werde.
Man hat diesen Hinweis Goethes zu deuten versucht, indem man von der
S Unabhängig von meiner eigenen Studie sind ungefähr zur gleichen Zeit zwei weitere
Arbeiten der Goetheschen ,Zauberflöte. gewidmet worden: OSKAR SEJDLlN. in: Monats-
hefte 35 (1943), S. 49-61, inzwischen zugänglich in den ,Essays in German and Compara-
tive Literature. (Chapel Hili 1%1), S. 45ff., und in ,Von GoethezuThornas Mann. Zwölf
Versuche. (Göttingen 21%9), S. 38-55, sowie ARTHUR HENKEL. in: Zeitschrift für Deut-
sche Philologie 71 (1951/52), S.64-69. Die Arbeit von Seidlin ordnet Goeches Werkchen
in sein Gesamtwerk ein und verfolgt besonders die Beziehung zu ,Faust 11<. Henkels'
kleiner Beitrag (erweitert jetzt in 'Goethe-Erfahrungen: Studien und Vorträge .. Stuttgart. .
1982, S. 147-161) unterstreicht den antimagischen, sittlich-humanen Zug, den auch ich in,'
Goethes Aufnahme und Fortführung der Schikanederschen Fabel herausgehoben habe.
Vom geistigen I:.auf des Meruchen 95
Bedeutung ausging. die unzweifelhaft die Freimaurerei in Mozarts Oper
und Schikaneders Textbuch besitzt. Wenn Goethe hier von den )Eingeweih-
ten( spreche, so rede er selbst als Maurer und erkenne in der Oper eine
geheime politische Spitze, eine Kritik der dunkelmännerischen Atmosphäre
des Habsburgischen Kulturlebens jener Zeit oder auch eine Rechtfertigung
des idealen Sinnes der Freimaurerei. Ja, man ist so weit gegangen, in der
,Königin der Nacht( die Kaiserin Maria Theresia, in Tamino den jungen
König zu erkennen, auf den sich die Hoffuungen der freiheitlich gesinnten
Menschen in Österreich richteten. Nun ist es richtig: Zeiten einer despotisch
untetdrückten Redefreiheit, wie sie auch für das HabsburgjenerTage gege-
ben waren, lassen das Theater oft in der unerwartetsten Weise zum politi-
schen forum werden, wie überhaupt der Stauungsdruck, den eine strenge
Zensur erzeugt, einen eigenen Scharfsinn und eine unberechenbare Reso-
nanzfreudigkeit des Publikums herausbildet. Man wird daher nicht völlig in
Abrede stellen. daß ein Lobgesang der in politischer Verfolgung befmdli-
chen Freimaurerei politische Untertöne zum Klingen brachte und daß etwa
Sarastros Schlußworten:
Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht
Zernichten der Heuchler erschlichene Macht
eine politische Spitze beigelegt werden konnte. Aber daß Schikaneder es auf
solche Wirkungen angelegt habe, ist angesichts des gesamten Tenors seiner
Dichtung nicht glaublich. Wie hätte er sonst der finsteren Gegenwelt der
Königin der Nacht die solchen politischen Bezug verunklärende Wendung
in den Mund legen können:
Die Frömmler tilgen von der Erd'
Mit Feuersglut und mächtgem Schwert.
eine äußerliche Dublette oder Variation der originalen IZauberflöte(, daß sie
ein echtes Werk seiner eigenen dichterischen Welt ist, bedeutsam in sich und
bedeutsam rur das Ganze seines dichterischen Werkes, insbesondere der
späteren Vollendung der Faustdichtung, ist längst bemerkt worden6 . Wel-
che Beziehung aber zwischen der Goetheschen Fortsetzung und jenem »hö-
heren Sinn der Erscheinungen«, den Goethe in Schikaneders Textbuch
gewahrte, besteht, bedarf der Untersuchung'.
Was ist die besondere Gestaltung, die der Kampf von Bösem und Gutem,
Nacht und Licht, in Schikaneders Dichtung erfahren hat? Ist es wirklich
erlaubt, von einem einheitlichen Gesamtsinn dieses in äußeren Effekten
schwelgenden Librettos zu sprechen? Die Handlung der Oper darf wohl als
bekannt vorausgesetzt werden: jener märchenhafte Anfang, an dem der
flüchtendeJÜDgling Tamino durch die Befreiung von der ihn verfolgenden
Schlange in den Kreis der Königin der Nacht gezogen wird, das Bild ihrer
wunderbar schönen Tochter zu sehen bekommt und nun von der Königin
der Nacht als Befreier ihrer Tochter zu Sarastro, dem Räuber derselben,
entsandt wird, und wie dann in unerwarteter und verwirrender Weise das
Bild sich völlig ändert. Als Tamino in das Reich des bösen Räubers Sarastro
eindringt, sind plötzlich alle Werte umgekehrt. Sarascco ist nicht ein boshaf-
ter und gewalttätiger Räuber, sondern ein edler Mann, der in einer tiefe
Vorsehung spiegelnden Weisheit die Tochter der Mutter geraubt hat und der
nun den jungen Königssohn Tamino in seine Weisheit, wie sie in einem
priesterlichen Bunde gepflegt wird, durch eine Reihe von Unterweisungen
und Prüfungen einführt. Die märchenhafte Handlung der Oper läßt das
Liebespaar - auf komische Weise kontrastiert durch die Figuren Papagenos
und Papagenas - durch allerlei Prüfungen hindurchgehen und ruhrt nach
dem Bestehen derselben die gewaltsam Getrennten einer glücklichen Ver-
einigung zu.
Die textkritische und genetische Analyse hat uns seit langem gelehrt, wie
der seltsame Umbruch der Werte zwischen dem Anfang und Fortgang der
Handlung zustande kam: daß hier aus ganz äußerlichen Theatergründen der
Textdichter Schikaneder den ursprünglichen Entwurf, in dem er einer ande-
ren Quelle gefolgt war, vom zweiten Akt an gänzlich umwandelt und
plötzlich in der feindlichen Gegenmacht Sarastros die tiefe Bedeutung eines
6 Vgl. MAX MORRIS, Goethe-Studien 21. Berlin 1902, S. 310ff.
7 Das Textbuch Schikaneders ist inzwischen auch seitens der Mozart-Forschung in
einem positiveren Lichte gesehen worden. Die Theorie, daß Schikaneder während der
Arbeit an dem Libretto aus reiner Dubletten-Scheu seinen Plan geändert hätte und daß
darauf der Bruch in den Charakteren der Königin.der Nacht und Sarastros zurückgeht, ist
jetzt preisgegeben. Vgl. E. v. KOMORZYNSKI, Die Zauberflöte. Entstehung und Bedeu-
tung des Kunstwerkes (in: Neues Mozart-Jahrbuch I, 1941, S. 147ff.) und Fa. SCHNAPP,
Die Fabel von der Zauberflöte (Musica I, 1947, S. 171 Er.); so kommen die Resultate der
neueren Quellenkritik der obigen Deutung entgegen.
Vom geistigen lauf des Menschen 97
ist nicht vielleicht umgekehrt alle Bekehrung eine solche Verwandlung, die
eine geheimnisvolle Identität verbirgt?
Nun ist gewiß das religions geschichtliche Moment in der ,Zauberflöte<
nicht in seiner religiösen Bedeutung wahrhaft lebendig. Aber es fragt sich,
ob nicht dennoch der Bruch im Textbuch Schikaneders einen tiefen Sinn hat
entstehen lassen, der vom Hörer der Oper - wie wenig explizit immer -
angenommen wird, und welches dieser Sinn ist. Ist es wirklich etwas nur
Äußerliches und im Grunde Sinnloses, daß sich das Verhältnis zwischen den
Personen dieser Operndichtung so grundlegend wandelt, daß sich scheinbar
auch die Charaktere in ihr Gegenteil verkehren? Mutter und Tochter werden
durch den gewaltsamen Vorgang eines Raubes voneinander getrennt - und
nun gewinnt der Räuber und die Welt dieses Räubers in der Dichtung eine
ständig steigende Bedeutung. Der Räuber Sarastro wird zum Beschützer,
zum Vollzieher einer positiven, geistigen, einer lichten Notwendigkeit.
Liegt in diesem Umbruch, so wie ihn die Dichtung gibt, kein eigener und
wesentlicher Sinn? Offenbar wird von jetzt an der Gegensatz der beiden
Welten ins Licht einer gültigen Bedeutung gerückt. Es ist der Gegensatz
zwischen der weiblichen Elementarwelt und der zur männlichen Welt gehö-
renden Geistverfassung des Lebens. Ist solcher Wechsel der Wertung wirk-
lich ein willkürlicher? Spiegelt er nicht ein Wesentliches? Jede Form der
Ablösung der Tochter von der Mutter, jede Auflösung der naturhaft-ele-
mentaren Bindung der Tochter an die Mutter hat doch, wie das Leben lehrt,
eine ihr eigentümliche Härte und Gewaltsamkeit. Sie ist ein Raub. Und
dennoch gehört zur eigentlichen Bestimmung der Frau und zur Struktur der
männlich bestimmten Gesellschaft das Ertragen dieser Härte der Lösung
und Trennung. Das erst begründet das Fundament der neuen Lebenseinheit
der Liebenden, der Ehe und der Familie: die Einführung in die durch die
männliche Welt gefügte Ordnung der Gesellschaft. Ist es nicht vielleicht
dies, was der Hörer der Oper als das eigentliche und beherrschende Motiv in
der Wandlung der Akzente des Textbuches versteht und wodurch sich der
Sinn des Ganzen auf eine vollkommen einheitliche Weise artikuliert?
Wenn wir versuchen, das Schikanedersehe Textbuch auf diese Beobach-
tung hin zu prüfen, so zeigt sich als ein ständiges Motiv der Dichtung die
Einschätzung der Frau auf der einen Seite und die Hervorhebung der männ-
lichen Gegentugenden auf der anderen Seite. Man vergleiche etwa die be-
sonderen Forderungen. die an Tamino gestellt werden, als er in den Bund
der Männer um Sarastro eingeführt und der Prüfung unterworfen wird. Die
drei Knaben reden ihn an:
Zum Ziele fUhrt dich diese Bahn.
Doch mußt du, Jüngling, männlich siegen.
Drum höre unsere Lehre an:
Sei standhaft. duldsam und verschwiegen.
Vom geistigen Lauf des Menschen 99
Demgegenüber fmden wir eine ganze Reihe von Außerungen, in denen
gerade von den Weibern gesagt wird, daß sie schwatzhaft und lügnerisch
seien. Man vergleiche da die Stelle. in der Tamino während seiner Prüfung zu
sich sagt:
Ein Meister prüft und achtet nicht.
Was der gemeine Pöbel spricht,
und als die drei Damen ihm zusetzen, antwortet er:
Geschwätz. von Weibern nachgesagt,
Von Heuchlern aber ausgedacht-,
und weiter, als sich Papageno auf die Königin der Nacht beruft:
Sie ist ein Weib, hat Weibersinn.
Sei still, mein Wort sei dir genug!
- Und an einer anderen Stelle, als Pamina zu ihrer Mutter zurückzukehren die
Kindespflicht fühlt, entgegnet ihr Sarastro:
Du würdest um dein Glück gebracht,
Wenn ich dich ihren Händen ließe.
Es ist also ein im Wesen der menschlichen Dinge gelegener Gegensatz, der
sich in kosmische Symbole kleidet, der Gegensatz zwischen der geistigen
Ordnung der Männer und ihrer Gefährdung durch das elementare Prinzip des
100 Vom geistigen Lauf des Menschen
Taminos Gewinnung für den Kreis der Eingeweihten bedeutet den Sieg
des männlich geistigen Prinzips in ihm. »Dieser Jüngling will seinen nächtli-
chen Schleier von sich reißen und ins Heiligtum des größten Lichtes blik-
ken. CI Und famina besteht auf ihre Weise die gleiche Prüfung und erfährt
mit ihm die Einweihung, weil sie der Liebe sich selbst zu opfern bereit ist (im
verzweifelten Liebesselbstmord):
Zwei Herzen, die von Liebe brennen,
Kann Menschenohnmacht niemals trennen,
Verloren ist der Feinde Müh',
Die Götter selbst beschützen sie.
Es ist also der Gegensatz zweier Welten, durch den die Handlung be-
stimmt ist - die weibliche und die männliche, das Elementarische und das
Geistige, das Naturhafte und das Staatsbildende - der sich in die kosmischen
Symbole einer alten astroreligiösen Vorstellungswelt kleidet: das nächtliche
Mondsymbol (die Königin der Nacht ist mit der Sichel auf dem Haupt
dargestellt) und die Sonne (Sarastro als Repräsentant der Lichtwelt des Tages
trägt den Sonnenkreis auf seiner Brust).
Die Forderungen, die an Tamino bei der Einruhrung in den Kreis der
Eingeweihten gestellt werden, sind insbesondere Verschwiegenheitstorde-
rungen. Man erinnere sich der entzückenden Szenen der Oper, in denen
Tamino im komischen Kontrast zu dem schwatzhaften Papageno die
Schweigepflicht, die ihm auferlegt ist, standhaft wahrt und dies bis zujener
grausamen Härte der Szene durchhält, in der die liebende Pamina ihn an-
fleht, ihr ein Wort der Liebe und Neigung zu sagen, und wie er gleichwohl
auf seiner Härte beharrt und damit dem Gebot des Bundes genügt. Hier ist
etwas von dem Wesen der männlichen Welt getroffen, etwas von jener
Forderung, die die Welt des Männlichen und damit, wie sich versteht, die
durch die männliche Welt bestimmte Ordnung von Staat und Gesellschaft
entscheidend trägt. Verschlossenheit und Schweigsamkeit sind hier nicht
religiöse Pflichten eines in einen Geheimkult Aufzunehmenden, sondern
werden unmittelbar zum Symbol rur die Zugehörigkeit zu einer überper-
sönlichen verpflichtenden Ordnung, vor der das elementarische Prinzip des
Daseins, das auch über den Mann Gewalt hat, zurücktritt.
Vom geistigen Lauf des Men~chen 101
Das sind keine künstlichen Deutungen, sondern hier spricht sich, wenn
auch in einer künstlichen und sekundär tradierten Form, eine Weisheit aus,
die weit in die Urzeit des Menschengeschlechtes und in die Anfänge ihrer
religiösen Schöpfungen zurückreicht und den geheimnisvollen Zauber einer
mutterrechtlichen Gesellschaftsordnung am Rande unserer geschichtlichen
Überlieferung aufleuchten läßt. Es ist ein Spätling der deutschen Romantik,
Bachofen, gewesen, der das Problem des Mutterrechts in einer die gesamte
Vorwelt der Antike beherrschenden Bedeutung entwickelt hat - vielleicht in
einer gewaltigen übertreibung der Universalität dieses frühen Prinzips.
Aber unleugbar ist, daß zur Genüge überzeugende Zeugnisse dafür spre-
chen, daß es eine solche mutterrechtliche Ordnung überhaupt gegeben hat,
eine Ordnung, in der die Thronfolge und grundsätzlich die eigentliche
Rechtsperson der Familie im Gegensatz zu der uns gewohnten vaterrechtli-
chen Ordnung durch die Frau repräsentiert war. Es sind in vereinzelten
mythologischen Nachklängen, die Bachofen gesammelt hat, Züge eines
prähistorischen Hetärismus nachweisbar, der diese frühe Rechtsordnung
geschaffen hat. Es ist auch kein Zweifel, daß es zu der Begründung unserer
geschichtlich überlieferten Kulturwelt gehört, daß solche mutterrechtlichen
Ordnungen durch das Patriarchat überall, wo sie bestanden haben, ver-
drängt worden sind.
Es soll nun nicht behauptet werden, daß die Dichtung der ,Zauberflöte< zu
den Zeugnissen einer solchen prähistorischen Matriarchatsordnung Bezug
hat, wohl aber, daß in ihr - vielleicht auf dem Traditionswege der hellenisti-
schen Religionsgeschichte, die in Schikaneders Quelle eingegangen war -
die ganze Schärfe des vaterrechtlichen Gedankens und damit auch dessen
Gegenwelt lebendig ist und in die aufgeklärte Geistreligion des freimaureri-
schen Männerbundes mit echtem sittlichem Problembewußtsein umge-
formt worden ist. Man beachte, daß in der ,Zauberflöte< die Mutter wie in
alten mutterrechtlich beeinflußten Sagen das Mädchen zum Mord gegen den
Repräsentanten der Männerwelt (wenn auch nicht gegen den Geliebten)
anstiftet, und daß die siegreiche Abwehr des Anschlages nicht einer überle-
genen männlichen Gewalt gelingt, sondern der überlegenheit des eigenen
Prinzips, das in Pamina und Tamino siegt. Sarastro kennt keine Rache:
.Allein du sollst sehen, wie ich mich an deiner Mutter räche. Der
Himmel schenke nur dem holdenjüngling Mut und Standhaftigkeit
in seinem frommen Vorsatz. dann bist du mit ihm glücklich. und
deine Mutter soll beschämt nach ihrer Burg zurückkehren. «
Es gibt keine andere Rache. Der Sieg der Liebe, die Einführung in die Welt
der Eingeweihten. ist selbst die Ohnmacht der Elementarwelt.
den Hintergründe aufgezeigt, die sich hinter dem Märchenzauber der Oper
auftun. Nicht die Freimaurerei als solche, sondern das allgemeinere Problem
der vom Geist bestimmten menschlichen Sittlichkeit ist der höhere Sinn der
Erscheinungen, den Goethe in der Oper erkannt haben wird. Es fragt sich
nun, wie Goethes Fortsetzung zu diesem Sinn der )Zauberflöte( in Bezie-
hung steht, welch eigenen, seinem eigenen dichterischen Wesen angehöri-
gen Sinn er aus ihm entwickelt. Denn die bloße Wiederholung und Steige-
rung der Situationen und Charaktere der Oper, die offen zutage liegt, ist
keine Antwort auf diese den dichterischen Sinn des Ganzen angehende
Frage. Auch scheint es mir nicht möglich, Schwieriges durch Schwierigeres
erklären zu wollen und etwa eine andere Goethesche Dichtung, die vom
Eindruck der )Zauberflöte( mitbestimmt ist. das Märchen aus den )Unter-
haltungen deutscher Ausgewanderten(, zur Hilfe heranzuziehen.
Die Deutung der Goetheschen Dichtung ist aber ungleich schwieriger als
die des Schikanederschen Textbuches, schon deswegen. weil Schikaneder
kein wirklicher Dichter war und deswegen die gedanklichen Motive. die
dem Werk (oder seinen Quellen) zugrunde liegen. oft in reflektierender
Form ausspricht, so daß sie für den nachforschenden Betrachter als solche
deutlich abhebbar werden. Goethes Dichtung dagegen ist durchaus poe-
tisch. Hier ist alles in Handlung und Gebärde umgesetzt. alles in Vorgängen
gestaltetes. kaum je sich selbst gedanklich auslegendes Sinnbild. Bedeutsam
genug - gerade für den späteren Dichter des zweiten Teiles des )Faust(
bedeutsam genug -, daß diese Dichtung ein Opern plan ist. Sinnlinien zu
dem opernhaften Spektakel der ersten Akte der Faustfortsetzung sind deut-
lich erkennbar. Aber es ist nur ein Fragment. Die erhaltenen Pläne der
Fortsetzung geben nur einen ungefähren Rahmen, und am Ende wird man
den Bruchstückcharakter des Ganzen positiv nehmen müssen: Goethe selbst
hat dieses Bruchstück als ein Ganzes in seine Ausgaben aufgenommen. Was
macht es zum Ganzen? Zum Ganzen eines Sinnes?
Die Handlung versetzt uns in den Zeitpunkt. da aus der Ehe zwischen
Tamino und Pamina eben ein Kind geboren worden ist. und beginnt mit der
Erneuerung des Kampfes zwischen der Königin der Nacht und dem von
Sarastros Weisheit geleiteten, von Tamino mit königlicher Hand regierten
Lande. Die sittliche Ordnung, deren Sieg die )Zauberflöte( gefeiert hatte,
wird mit der Geburt des Kindes aufs neue von der Gegenwelt des elementa-
ren nächtlichen Wesens angefallen. Monostatos. der abtrünnige Mohr Sara-
stros, Helfer der Königin der Nacht. kommt mit seinen Dienern zurück, um
der Königin über einen vollzogenen Auftrag Bericht zu erstatten. Sie hatten
das Kind, sowie es auf die Welt kam, rauben sollen - eine Rache der Königin
der Nacht an Sarastro und seinen Schützlingen.
Vom geistigen Lauf des Menschen 103
Erhebet und preiset,
Gef'ährten, unser Glück!
Wir kommen im Triumphe
Zur Göttin zurück.
Wir wirkten verstohlen,
Wir schlichen hinan;
Doch was sie uns befohlen,
Halb ist es getan.
Der Raub des Kindes ist ihnen nur halb gelungen - sie haben das Kind im
Augenblick der Geburt, da der Zauber der Nacht Dunkelheit und Verwir-
rung verbreitete, in den von ihnen mitgebrachten goldenen Sarg gelegt, aber
als sie nun mit diesem Kästchen davonschleichen wollten, wurde es auf
wunderbare Weise so schwer, daß sie es nicht von der Stelle bewegen
konnten. So blieb ihnen nur übrig, das Kästchen durch einen Zauberbann zu
verschließen und sich davonzumachen. Die Rache ist halb gelungen. Noch
ist das Kind nicht geraubt, aber der böse Zauber hat es dennoch den Eltern
entrissen - sie können das Kästchen nicht öffuen, und der Zauber bewirkt
weiterhin, daß die unglücklichen Eltern, sowie sie einander erblicken, von
Wahnsinn gefaßt werden - und daß das Kind von der Parze weggerissen
würde, wenn die Eltern es je erblickten. So weit reicht der Fluch der Königin
der Nacht, die von Goethe in großartiger Weise als die »allgegenwärtige
Macht« der Finsternis, des Schweigens und des Todes gestaltet ist, in die
»heiligen Bezirke« hinein.
Die zweite Szene schildert den Königshof, an dem Tamino inzwischen die
Herrschaft angetreten hat. Frauen tragen unter klagenden Gesängen den
goldenen Sarg, in dem das Kind eingeschlossen liegt, unausges~tzt dahin:
So wandelt fort und stehet niemals stille,
Das ist der weisen Männer Wille;
Vertraut auf sie, gehorchet blind;
So lang ihr wandelt, lebt das Kind.
Tamino und die Frauen vereinigen sich in ihren Klagen über das Unheil, in
das sich das Glück der Geburt des Sohnes gewandelt hat, aber die Hoffnung
vereinigt sie, daß der Fluch gebannt werden wird:
Bald rettet uns mit heil ger Weihe
Sarastros lösend Götterwort
und daß das ersehnte Glück der Vereinigung des Kindes mit seinen Eltern
eintreten wird. Die Szene ist von hoher poetischer Kraft, Plage, Sorge und
Zuversicht wunderbar verschlingend.
Dann folgt eine Szene zwischen Papageno und Papagena, die in komi-
schem Kontrast die beiden inmitten ihres märchenhaften Idylls unglücklich
104 Vom geistigen Lauf des Menschen
zeigt, weil ihnen bisher Kinder versagt sind, und froh getröstet, als ihnen
Kinder verheißen werden - eine reizende Variation der berühmten Papage-
noszenen der Mozartschen Oper.
Die vierte Szene führt in das Heiligtum des Tempels und in das Leben der
Eingeweihten. Goethe fügt hier dem Bild dieses Ordens einen neuen, für ihn
überaus charakteristischen Zug ein: die Bestimmung des Ordens erfüllt sich
nicht in der bloßen Absonderung ihres Lebens von der Welt. Alljährlich
muß - durch das Los bestimmt - einer aus dem Orden als Pilger durch die
Welt wandern: die Erforschung des Innersten muß durch die Wanderung
»auf den weiten Gefilden der Erde« ergänzt werden. Nur so, als Wanderer,
lernt der Mensch »die erhabene Sprache der Natur, die Töne der bedürftigen
Menschheit« kennen - ein Zug, der ganz der Welt des ,Wilhelm Meister(
entspricht. Auch hier ist die Pilgerschaft zugleich als eine Prüfung gemeint,
ob die reine Gesinnung des Bundes den Anfechtungen der Welt gegenüber
sich bewährt und rein erhalten hat. Der Augenblick ist gerade gekommen.
Der zurückkehrende Pilger erweist sich an dem Prüfstein des Kristalls als
rein und wird in den Kreis wieder aufgenommen. Die Neuwahl des Pilgers
trifft Sarastro selbst. Er muß aus dem Kreise seiner Getreuen scheiden,
gerade in dem Augenblick, in dem der Kampf mit dem nächtlich bösen
Reich der Königin der Nacht aufs neue entbrannt ist. So ist es diesmal eine
Prüfung besonderer Art, da nun der weise Schirmherr des ganzen Bundes
fehlen wird und der Kampf zwischen Nacht und Licht ohne ihn bestanden
werden muß.
Dann folgen zwei unausgefiihrte Szenen: ein abermaliger Anschlag der
Königin der Nacht läßt den im Sonnentempel dargebrachten Sarg des Kin-
des vor Paminas Augen in das Dunkel der Erde versinken. Und eine weitere
Szene: aus goldenen Eiern, die Papageno und Papagena in ihrer Hütte
fanden, erstehen drei Kinder. Sarastro kommt zu ihnen, »Einige Worte über
Erziehung«, und berichtet dann über das erneute große Unglück am Kö-
nigshofe. Zur Erheiterung des unseligen Königspaares entsendet er Papage-
no mit der Flöte an den Hof.
Die nächste Szene ist wieder ausgeführt und schildert das Eintreffen
Papagenos am Hofe. Der leichtfertige Optimismus und der hohle Eigennutz
der höfischen Welt werden sichtbar: wie sich der Hof mit Gerüchten von der
baldigen Rückkehr Sarastros (der doch in Wahrheit seine lange Pilgerfahrt
angetreten hat) tröstet und mit der falschen Nachricht, daß das Kind gefun-
den sei und bald alles in Glück und Frieden sein werde. Papageno wird auf
Grund der Kunde von den goldenen Eiern, die er in seiner Hütte fand, von
den besitzgierigen Höflingen umschmeichelt, bis er schließlich zur Enttäu-
schung der Weltleute seine goldenen Eier vorzeigt, die er in Gestalt der aus
ihnen ausgekrochenen bunten Vögel mitführt. Das Ganze eine Kritik des
höfischen Lebens aus der großen Seelenkenntnis des Dichters.
Vom geistigen Lauf des Menschen 105
Dann eine der reizvollsten, des dramatischen Genius des Dichters beson-
ders würdige Szene: das Königspaar ist durch den Zauberfluch in periodi-
schen Schlaf versenkt - wenn sie erwachen und einander erblicken, überfällt
sie Wahnsinn und Verzweiflung. Papageno bläst die Flöte, und solange er
bläst, weichen Wahnsinn und Verzweiflung. Sie sehen alles hell und freudig.
Aber sobald er mit Blasen aussetzt, kehrt die alte Pein und Verzweiflung
zurück. Die Beschwörungskraft der Töne und die Grenze ihrer Macht,
sobald Papageno der Atem ausgeht - eine unvergeßliche, opern gerechte und
zugleich unmittelbar bedeutende Szene, Macht und Ohnmacht der künstle-
rischen Verzauberung des Lebens symbolisierend.
Dann kommt eine Botschaft. Die Priester haben das Versteck, wo der
Knabe, in seinem Sarg vom Verschmachten bedroht, liegt, gefunden. Die
Szene verwandelt sich in das unterirdische Gewölbe, in dessen Mitte der
versunkene Altar mit dem Sarg steht, von geharnischten und angeketteten
Löwen bewacht. Ein geheimnisvoll tiefsinniger Zwiegesang der Wächter
folgt, und dann dringen Tamino und Pamina - ganz wie im Schlußakt der
lZauberflöte< - durch Wassers- und Feuersgefahren siegreich hindurch, um
ihr Kind zu retten. Die Königin der Nacht feuert die Wächter zum Wider-
stand an - umsonst, und als sie nun durch die Löwen den Sarg verschlingen
lassen will, begibt sich das Wunder: das Kind im Sarge erwacht beim Klang
der elterlichen Stimmen und entsteigt als Genius dem goldenen Kasten. Als
die Wächter das Königspaar zurückdrängen und das Kind mit ihren Spießen
bedrohen, fliegt der Genius davon - eine Szene, die auf die Euphorion-Szene
im lFaust 11< vordeutet.
Damit schließt das Fragment, der Handlung nach eine echte Zauberoper,
fraglos und unbekümmert wie ein Märchen - und doch die Frage nach einem
Sinn bergend, der die Einzelmotive verknüpft und in ein Sinnganzes
schließt. Wir können uns fragen, was die geplante Fortsetzung, die Goethe
in Stichworten notiert hat, über das ausgeführte Stück hinaus lehren kann.
Es ist nicht eben viel: eine Szene »Sarastro und Kinder« mag die» Worte über
Erziehung« der ersten Kinderszene fortgesetzt haben, eine Szene »Genius
Pamina Tamino« scheint, wenn wir die als >Paralipomenon 3< abgedruckten
Verse hier einsetzen dürfen, den flüchtig vorübereilenden Genius seinen
Eltern begegnend gezeigt zu haben. Die Verse lauten:
Weiter läßt sich aus dem Szenarium erraten, daß der Genius sich den Kindern
Papagenos und Papagenas gesellt und dort durch Monostatos gefangen
wird. Eine große Schlacht in einer »Nachtszene mit Meteoren«, offenbar
unter Eingreifen Sarastros, bringt Tamino den Sieg (eine Kontrastszene:
IIPapageno gerüstet'" zu der die Verse Paralip. 4 passen, gehört dazu). Dann
folgt eine große Siegesfeier, die nochmals durch Monostatos' Brandstiftung
gestört wird. Als Schluß ist notiert: "Zeughaus. Die überwundenen Prie-
ster« (was mit Recht verbessert worden ist in: »Die überwundenen. Prie-
ster«). Der Fortgang der Handlung hat also den Kampf der beiden Welten
von Licht und Nacht in großartiger Steigerung bis zu dem endgültigen Siege
des Lichtes und der Wiedervereinigung der Eltern mit dem Sohne darstellen
sollen.
Es muß nun versucht werden, den Sinnfaden, der die einzelnen Glieder
der Handlung zusammenhält und das Ganze zu einheitlicher Bedeutung
zusammenschließt, freizulegen, so wieja auch die Handlung der >Zauberflö-
te< ein bedeutsames Sinnganzes darstellte. Denn gerade auch der l>höhere
Sinn der Erscheinungen«, den Goethe in der IZauberflöte< erkannte, hat ihn
zu seiner Fortsetzung derselben inspiriert. Das heißt natürlich nicht, daß
seiner eigenen Dichtung der gleiche Sinn zugrunde läge, den er in der Oper
fand. Der Gegensatz von Mutterrecht und Männerbund, der in der Oper den
Sinn des Kampfes von Nacht und Licht ausmachte, kann in der veränderten
Situation der Fortsetzung, die den Liebesbund von Tamino und Pamina
voraussetzt und das Glück und den Segen der Familie zum Gegenstand hat,
nicht mehr bestimmend sein. Das neue Aufbegehren des nächtlichen Ele-
mentes, sein vorübergehender Triumph und seine endliche überwindung
müssen aus dieser veränderten Thematik der Goetheschen Dichtung ver-
standen werden.
Bevor wir uns der eigentlichen Handlung zuwenden, wird daher zu
untersuchen sein, wieweit sich das Verhältnis der beiden feindlichen Welten
in Goethes Dichtung neu gestaltet hat und dadurch der Kampf des Lichtes
mit der Finsternis einen veränderten Sinn empfing. In der Tat ist das Grund-
schema der sittlichen Aufklärung, das die freimaurerischen Klänge der Oper
bestimmt, nicht das Goethesche. Kein geradliniger Aufstieg von der Nacht
zum Licht, vom elementaren Triebdasein zur geistigen Ordnung der Weis-
Vom geistigen Lauf des Menschen 107
heit ist hier da, und die Bahn des Menschen ist nicht durch diesen Aufstieg
eindeutig vorgezeichnet. Die Grundsituation alles Menschlichen. auch der
im heiligen Bunde zum freudigen Genuß des Lichtes Zusammengeschlosse-
nen, ist die Bedrohung. Der Kampf des Guten mit dem Bösen ist ein niemals
endender. Auch der heilige Orden - in der Pilgerschaft, aber sel bst in seinem
eigenen Bestande - ist der Prüfung ausgesetzt und muß sich im Kampf mit
dem Bösen bewähren. Die Stimme der Finsternis, verkörpert in dem ge-
heimnisvoll unbeweglichen Wächterpaar in der Grotte, spricht es selbst aus,
was d::s eigentliche Geheimnis des Lebens ist: die Zeit.
Wird es Tag?
Vielleicht ja.
Kommt die Nacht?
Sie ist da.
Die Zeit vergeht.
Aber wie?
Schlägt die Stunde wohl?
Uns nie.
Und nun folgt - von diesem ewigen Wissen um die Zeit und ihren unauflös-
baren Wechsel her gesehen - die tiefsinnige Charakteristik des menschlichen
Strebens:
Vergebens bemühet
Ihr euch da droben so viel.
Es rennt der Mensch. es f1iehet
Vor ihm das bewegliche Ziel.
Er zieht und zerrt vergebens
Am Vorhang. der schwer auf des Lebens
Geheimnis. auf Tagen und Nächten ruht.
In der ersten Fassung dieser Stelle ist es geradezu »das Geheimnis der Tage
und Nächte« - also das Geheimnis des Wechsels von Tag und Nacht. das
alles menschliche Streben ins Helle zum Wahne werden läßt. So unvermeid-
lich wie Tag und Nacht miteinander wechseln. ist auch das menschliche
Streben. indem es den Wechsel nicht wahrhaben will. in Wahn verstrickt.
Dies Mitdasein der nächtlichen Gegenmächte mit dem »geistigen Laufe« des
menschlichen Daseins ist offenbar die neue Prägung. die der gnostisch-auf-
klärerische Gegensatz von Nacht und Licht in Goethes Dichtung erfährt.
Was sich so im Munde der Wächter ausspricht. ist auch dem weisen
Sarastro nicht verborgen. In seiner Abschiedsrede vor seinen Freunden sagt
er, daß die Kräfte feindseliger Mächte geradejetzt wirksamer werden. Und
in der ursprünglichen Fassung dieser Stelle, die Goethe später gestrichen hat,
offenbar. weil sie ihm schon zu sehr Reflexionsform hatte. den Sinn des
Ganzen zu unmittelbar angab, hieß es gar: nWir aber sind dem Schicksal
108 Vom geistigen Lauf des Menschen
unterworfen, und das Schicksal, die ewige Weisheit selbst darf den Tag
nicht zur Nacht verwandeln, die Nacht nicht in den Tag. Doch den Wech-
sel von beiden zu bestimmen, das vermag sie. Der Augenblick ist da, in
welchem das Licht der Weisheit sich einen Augenblick verbergen und die
feindlichen Mächte ihren Einfluß ausüben sollen. Der Vorteil ist unser.
Denn wir werden geprüft.« Wenn eine wahrhaft Goethesche Grundvor-
stellung hier sichtbar wird, so ist es diese, daß es selbst der höchsten Weis-
heit unmöglich ist, eine Welt des dauernden Tages zu begründen. So wie
im Walten der Natur der ständige Wechsel von Tag und Nacht beiden in
gleicher Weise bestimmt ist, so ist auch das menschliche Leben nicht von
der Bedrohung durch das »in sich selbst verschlossene« Element der Fin-
sternis, durch die dämonische Macht des Abgrundes, des Schweigens, des
Todes je ganz abzulösen. Es gibt keine Welt des Geistes und des Guten, die
ungefahrdet und unbewegt in sich selbst bestünde. Die Prüfung, die den
Mitgliedern des >Heiligen Bundes< in Goethes Dichtung auferlegt wird: das
Hinausgehen in die Welt, die Reinheit des Herzens in ihr zu bewähren,
bedeutet nicht eine gelegendiche oder vorsorgliche Einschränkung eines an
sich himmlischen Glücks durch ein mißgünstiges Schicksal: »Der Vorteil ist
unser. Denn wir werden geprüft.« Leiden und Prüfung sind nicht nur die
unabdingbare Mitgift des menschlichen Lebens - sie bewähren erst seine
Wahrheit.
So ist selbst die Form, in der das Leiden der Trennung vom Bundesleben
und die Prüfung des Wanderjahres den Eingeweihten auferlegt wird, die
Form des Loses nämlich, von symbolhafter Bedeutung für das menschliche
Leben insgemein. Der tiefsinnige Eingangschor, der nach dem Vorbild der
Mozartschen Oper die Versammlung der Priester eröffnet, begründet die
Zufallsbefragung, die den zum Leiden der Wanderschaft bestimmten Pilger
erliest, aus der Begrenztheit des menschlichen Wissens und Wahlvermö-
gens. Es ist die bedrohliche Schwebe des menschlichen Wesens, die im
Bundesritual ihren angemessenen Ausdruck findet:
Schauen kann der Mann und wählen!
Doch was hilft ihm oft die Wahl.
Kluge schwanken, Weise fehlen,
Doppelt ist dann ihre Qual.
Recht zu handeln,
Grad zu wandeln,
Sei des edlen Mannes Wahl.
Soll er leiden,
Nicht entscheiden,
Spreche Zufall auch einmal.
Vom geistigen Lauf des Menschen 109
Die höchste Weisheit, die mit dem Schicksal einig ist, vermag den Wechsel
zu bestimmen, d. h. anzunehmen - das abstrakte »düstere Streben« dagegen
führt von Wahn zu Wahn, d. h. ist selbst ein unweises Verfallen an die Macht
der Irre und der Dunkelheit.
Es entspricht dieser anderen Artikulation des aus Mozarts Oper bekann-
ten Gegensatzes von Nacht und Licht, Bösem und Gutem, daß in Goethes
Dichtung das weibliche Prinzip in einem neuen Lichte erscheint. Die Köni-
gin der N acht, der Repräsentant der feindlichen Gegenrnacht, die kosmische
Potenz des elementaren, in sich verschlossenen Dunkelwesens, hat keinen
der die Oper beherrschenden Züge der beleidigten Mutter und des herrsch-
gierigen Weibes mehr. Dagegen ist es jetzt die Mutterliebe. die in Pamina
den siegreichen Gegenzauber darstellt. Wie Tamino die Prüfungen. die ihm
Sarastro und die Priester auferlegen, durch das standhafte Festhalten an dem
Geheiß des Bundes besteht und die Geliebte, die sich ihm unterwirft, durch
die Wassers- und Feuersgefahren unangefochten hindurchführt. so ist es in
Goethes Dichtung, wie ausdrücklich gesagt wird, die Mutterliebe. die durch
den feindlichen Widerstand der Elemente und der Gegengewalten der nächt-
lichen Wesen hindurchgeleitet und das Kind, den Genius. befreit. Auch hier
bieten die Paralipomena einige Verdeutlichungen, die die tragende Bedeu-
tung dieses sittlichen Prinzips betonen:
Und Menschenlieb und Menschenkräfte
Sind mehr als alle Zauberei.
Und ferner:
Nein, durch keine Zaubereien
Darf die Liebe sich entweihen.
Und mein Talismann ist hier.
Wir wissen nicht. wie diese Verse in die Handlung gehören, aber daß Goethe
hier mit Bewußtsein das Zauberwesen - auch die wunderbare Bannkraft der
Zauberflöte - durch ein höheres, sittliches Wesen, den in der menschlichen
Liebe gelegenen Zauber, überbietet. ist zweifellos eine jener >Steigerungen<
des in der Mozartschen Oper Angelegten, von denen Goethe im Blick auf
seine Dichtung spricht. Hier wird die Mutterliebe als ein neues, sittliches
Moment sichtbar, das die elementarische Sphäre des Weiblichen hinter sich
läßt.
Stellen wir nun VOn diesen Feststellungen aus die Frage nach dem Sinn der
~anzen Handlung. Was bedeutet die Verzauberung des Kindes. das merk-
würdige Herumtragen des goldenen Sarges. schließlich die Befreiung durch
die elterliche Liebe und das Entweichen des Kindes als Genius? Wir dürfen
aus der weiteren Handlung hinzufügen, daß dieser Genius an den Eltern wie
ein flüchtiges Vögelchen vorbeieilt. daß er bei Kindern verweilt und. aber-
110 Vom geistigen Lauf des Menschen
vielleicht ein jeder etwas von dem sprachlichen überschuß empfunden, den
die dichterischen Worte Goethes enthalten und der sich der Musik entzieht?
Goethe wollte zwar ein Libretto schreiben, aber konnte er den Dichter in
sich dieser Aufgabe unterordnen?
Was ist ein Libretto im Vergleich mit einem rein dichterischen Text? Das
eine ist eben ein Textbuch ror Musik, das durch diese seinen Sinn erhält, und
das andere ist ein Text, der seine Aufgabe in sich selber als Dichtung erfiillt.
Hier darf ich eine semantische Bemerkung einfügen. Das Wort >Dichtung,
heißt eigentlich >Diktatl, es ist von )dicerel, von >dictarel abgeleitet, und das
meint, daß damit etwas unverbrüchlich festgelegt ist, woran man nichts
ändern soll, weder Silbe noch Ton. Daher können lyrische Gedichte in
fremde Sprachen nicht übersetzt werden, wie wir alle wissen. Es kann sich
nur um mehr oder minder gute Nachdichtungen handeln. Wenn die über-
setzer aber wahre Dichter sind, dann sind die Nachdichtungen ihrerseits
originale Werke des nachdichtenden Dichters. Der Sprachklang einer dich-
terischen Schöpfung muß aus dem Sprachklang der Muttersprache kom-
men, wenn er dichterischen Anspruch erheben will. Als Hölderlin Sopho-
kIes zu übertragen unternahm, entstand Dichtung - aber ein Werk Hölder-
lins und kaum noch ein Werk des Sophokles.
Die von uns allen gesprochene Sprache gewinnt im Akt des Sprechens so
etwas wie Leibhaftigkeit. Erst als dichterische Sprache erhält diese Leibhaf-
tigkeit aber Bestand. Sonst sind wir im Sprechen immer schon über den
Sprachklang hinaus, bei dem, was wir dem anderen mitteilen wollen oder
was uns von dem anderen mitgeteilt wird. Wie kommt es, daß in der
dichterischen Sprache die Sprache selber )Leibl gewinnt und zu eigenem
Gewicht gelangt? Das ist ein Thema, das vor allem den Philosophen angeht,
der es mit der Hermeneutik zu tun hat. Die Bedeutungshaftigkeit der Worte
und die Klangmusik der Sprache sind im dichterischen Wort so eng ineinan-
dergefUgt, daß, wer das Gedicht haben will, die Einheit von beidem haben
muß. Er muß die Musik der Sprache hören und gleichzeitig die Bedeutun-
gen und den Redesinn des Ganzen mitvollziehen. Ein Libretto dagegen will
gar nicht in der gleichen Weise als Sprache wahrgenommen werden. Sein
Sinn läßt sich erst im Hören der gesungenen und gespielten Musik vollzie-
hen. Es sind ja Texte, die auf eine Vertonung, das heißt auf Erfüllung ihrer
Aufgabe jenseits ihrer selbst, warten. Gewiß warteten auch die Texte der
griechischen Tragödien auf ihre Aufführung auf der Bühne, und auch das
mit den Mitteln der Musik. Aber in der Oper ist die Verteilung der Gewichte
zwischen Wortkunst und Tonkunst doch eine ganz andere als in der griechi-
schen Tragödie. Georgiades hat in seinem Nachlaßwerk über Nennen und
Erklingen die beiden Seiten, die Nennkraft der Worte und das Erklingen der
Sprache, zu analysieren unternommen und im besonderen untersucht, wie
Goethe und Mourt - das Problem Oper 115
I THRASYBOULOS G. GEORGJADES, Nennen und Erklingen: die Zeit als Logos. Aus d.
Nachlaß hrsg. v. IRMGARD BENGEN. Mit e. Geleitwort v. H.-G. GADAMER. Göttingen
1985.
116 Goethe und Mozart - das Problem Oper
I
die Affekte und Leidenschaften als solche, die uns Menschen bewegen, zu
einer zwingenden Präsenz und Wirkung zu fUhren. Im Sprechtheater gelten
andere Gesetze. So sehr etwa auch die Schauspiele Calderons vom Form-
prinzip der Rhetorik bestimmt sind - bei Shakespeare muß sich das Drama
doch aus den Charakteren der auftretenden Personen der Handlung entwik-
keln. Da geht es nicht so sehr um die Emotionen, die in dem Handlungsge-
schehen zum Ausbruch kommen, als um das Sein dieser Menschen, ihren
Charakter, der ihnen zum Schicksal wird. Ein Charakter ist ein sich in allen
Emotionen äußernder Habitus, eine ,Hexis<, eine sich durchhaltende Identi-
tät, die sich in den wechselnden ,Pathemata<, den Passionen, zur Darstellung
bringt. Der Darsteller im Drama Shakespeares ist ein Menschengestalter,
der gewiß nicht mehr eine starre Maske tragen kann. Dagegen sind es die der
Rolle zugewiesenen und durch die Musik gestalteten 'Pathemata<, die Lei-
denschaften, welche das Formgesetz der Oper bilden. Deswegen hat die
Arie in ihr eine bevorzugte Stellung und ist nicht - wie meist der Monolog
im Drama - eine Art Zwischenspiel. Es ist die Meisterschaft von Mozart
gewesen, den hergebrachten Opernformen doch so viel innere musik;llische
Kohärenz zu verleihen, daß die verschiedenen Nummern durch Mozarts
Ensemble-Kunst zu einem einheitlichen Seelengeschehen zusammenklin-
gen. Man geht daher auch bei ihm fehl, wenn man Charakterentwicklungen
sucht, wo die Spielfreude der Bühne ihr Reich hat. Wir werden sehen. wie
etwa die Rolle des Sarastro den Psychologen da in die Irre lockt.
In der ,Zauberflöte< haben wir es mit einem Märchenspiel zu tun. Die
eigentümlich kontrastreiche, von Goethe gerade wegen dieser Kontraste
gerühmte Handlung ist eine Zauberposse des volkstümlichen Genres, die
doch in hoch spirituelle Sphären gehoben wird - bis zur Einweihung ~es
hohen Paares in den Tempel der Weisheit -, aber zugleich in Kontrastbeglei-
tung durch das volkstümliche Element. Ich möchte später zeigen,· wie
Goethe dieses Textbuch, das Schikaneder in Zusammenarbeit mit Mozart
verfaßt hat, in seinem eigenen Fragment weitergedacht hat. Zunächst aber
wollen wir auf den Text der klassischen Mozartschen Oper blicken.
Der Mozart-Forscher Otto Jahn, ein bedeutender klassischer Philologe
um die Mitte des 19. Jahrhunderts, meinte nachweisen zu können, daß das
Textbuch der ,Zauberflöte< aus äußeren Gründen, die wir hier nicht noch
einmal wiedergeben wollen, einen Bruch aufweise. daß sich also zwischen
dem ersten und zweiten Akt eine totale Programmänderung ereigne. Diese
kühne und natürlich gut durchgearbeitete Beweisführung fand damals über-
all Anerkennung. Sie entsprach einer Tendenz der Philologie jener Zeit. in
Texten überall Oberschichtungen. Spätredaktionen und Montagen zu se-
hen. wie man sie in der Tat in Textbüchern fürs Theater. aber auch im
Schrifttum der Spiltantike oft entdecken kann. Er nahm also an, daß auch das
Textbuch Schikaneders mit diesen Mitteln fabriziert wurde. Heute ist man
Goethe und Mozart ~ das Problem Oper 117
von dieser einstmals herrschenden Meinung abgerückt. Auch ich habe sie
schon in meinem Aufsatz zur )Zauberflöte< aus dem Jahre 1947 bezweifelt. 2
Die Handlung beginnt bekanntlich damit, daß der junge Fürstensohn
Tamino sich auf der jagd verirrt, von einer Schlange verfolgt und durch drei
Damen gerettet wird, weiche die Schlange töten. Es stellt sich heraus, daß es
die Königin der Nacht ist, welche ihn beschützt hat. Mir scheint - auch wenn
es mir bisher nie in Auffuhrungsinterpretationen begegnet ist -, daß es der
Einbruch der Nacht selber ist, der als das Rettende in mythischer Gestalt
erscheint, und daß die drei Damen mit ihren silbernen Pfeilen das erste
Funkeln der Sterne sind, die dem Bedrängten den rettenden Schutz der
Nacht anzeigen. Ich könnte mir denken, daß sich das auch szenisch verwirk-
lichen ließe: durch Verdunkelung, Erscheinenlassen der ersten Sterne und
schließlich des ganzen Sternenhimmels. (Die Inszenierung von Johannes
Schaaf in Salzburg ist dem sehr eindrucksvoll nahegekommen, wenn er die
Königin der Nacht in einem geradezu gleißenden Mondlichte erscheinen
läßt.)
Die Handlung ist in Wahrheit eine Abfolge von Unwahrscheinlichkeiten.
Im ersten Akt erscheint die Königin der Nacht als die durch eine fremde
GegenII).acht erbitterte Frau. Ihr Gegner Sarastro hat ihre Tochter Pamina
geraubt. Der böse Räuber erscheint später jedoch als der edle väterliche
Beschützer Paminas, und er ist der Führer der Eingeweihten in den Tempel
der Weisheit. Dieser Wechsel in der Wertung Sarastros innerhalb der Hand-
lung hat die sonderbarsten Konstruktionen von seiten der Interpreten her-
aufbeschworen. Sarastro wird da als der abgewiesene Liebhaber Paminas
ausgegeben, der schließlich zum Verzicht reift und das junge Paar in seinen
geheimen Kreis der Eingeweihten einführt. Pamina wird in anderer Sicht als
ein um seine Befreiung kämpfendes junges Mädchen gedeutet, das durch
eben diesen bösen Sarastro und seinen )Schutz< an der wirklichen Befreiung
des Weiblichen vom Druck der männlichen Welt gehindert wird und am
Ende klein beigibt.
Wie sind die Widersprüche des Librettos zusammenzubringen? Es handelt
sich eben um ein Märchenspiel. Die Logik des Märchens aber ist die Ver-
wandlung. Und da scheinen doch einige recht verständliche Verwandlun-
gen ineinanderzugreifen. In der Mitte der Handlung wird deutlich, daß die
Königin der Nacht eine Art Erbstreitigkeit mit dem sterbenden König der
Sonnenwelt hatte. Sie hatte über das Ganze der Welt herrschen wollen,
während der König seine Tochter und die Herrschaft über die Sonnenwelt,
den )Sonnenkreis<, Sarastro und seinen Freunden durch letzten Willen über-
geben hat. Also kein Raub eigentlich, sondern Ausführung eines Vermächt-
nisses.
Zweifelhafter ist, ob hinter dem )Raube Sarastros noch ein anderes Motiv
lauert - daß er hoffte, die Liebe Paminas zu erringen; als er dabei scheitert,
scheint er freiwillig zu verzichten. Es gibt eine Stelle im Textbuch, die sich
so deuten läßt ("Zur Liebe will ich dich nicht zwingenee). Sicher lag esjedoch
nicht im Interesse des Textdichters und des Komponisten, Prozesse des
Reifens an einzelnen Personen zu schildern. Es sind vielmehr die Stufen der
Liebe selbst, es ist die menschliche Passionsgeschichte, die den eigentlichen
Faden der Handlung bildet. Und so steht am Anfang die Mutterliebe und die
elementare Liebe der Tochter zur Mutter. Sodann wird uns sowohl die
Verwandlung und Umkehr Paminas als auch die Taminos geschildert.
Beiden werden gleichsam die Augen geöffuet, und offenbar ist es die kei-
mende Liebe zwischen den bei den, die mit der berühmten Porträt-Arie des
Anfangs einsetzt und sich schließlich mit der Prüfung und Aufnahme in den
Kreis der Eingeweihten vollenden wird. Stufen der Liebe, Erwachen der
Liebe, Verwandlung der Welt durch das Wissen, geliebt zu sein. Gewiß sind
es Märchenmittel, mit denen sich diese Logik darstellt. Schließlich versteht
man die Prüfung der Verschwiegenheit als Vorbereitung für die Aufgaben
des Mannes in der Gesellschaft, und man bewundert Paminas unbeirrte
Treue als Beweis der sittlichen Bindungskraft der Liebe, die zur Gründung
der Familie führt - wir werden sehen, daß genau an diesem Punkte Goethe
weitergedacht hat.
Wie alle Märchen in der Häufung ihrer Unwamscheinlichkeiten eine
verborgene Sprache der Weisheit reden, so ist es auch in der )Zauberflötee.
Wenn wir die nicht eben kunstvoll, aber sehr theatergerecht geführte Hand-
lung verfolgen, dann sehen wir doch, wie die Zeichen für die Liebesge-
schichte der beiden oder besser für die Geschichte der Liebe gesetzt sind. Wir
sehen, wie das junge Mädchen zunächst durchaus noch elementar zur Mut-
ter zurückstrebt. Sie ist offenbar noch nicht wirklich von dem verwandeln-
den Funken der Liebe erleuchtet. Aber als das geschehen ist, da zeigt sich
plötzlich alles in einem neuen Licht. Sarastro, als Repräsentant der Geistes-
ordnung gegenüber der elementaren Mutterbindung, erscheint nun in seiner
beschützenden und führenden Rolle und in überlegener Würde. Er wird das
Liebespaar durch alle Prüfungen führen und in den Kreis der Eingeweihten
erheben.
Elementare Zuneigung muß sich zu sittlicher Bindung erheben, das ist der
Sinn der Prüfungen des jungen Paars. So versteht man Paminas Szene mit
dem Dolch und der letzten überwindung des nur Elementaren in der
Todesbereitschaft. Pamina wird geprüft, ob sie entschlossen ist, lieber nicht
zu leben, als sich trennen zu lassen von dem, den sie liebt. Auch das dürfte
nicht nur in Märchen vorkommen. Ahnliches gilt für die Prüfungen von
Tamino, in denen sich männliche Entschlossenheit als staatserhaltende Kraft
bewähren soll.
Goethe und Mozart"'" das Problem Oper 119
Goethe hat den in der ,Zauberflöte< dargestellten Stufen weg der Liebe um
eine neue Phase weitergedacht. Auch in seiner Fortsetzung erscheint die
Königin der Nacht als eine der Grundpotenzen im seelischen Erfahrungsbe-
reich der Menschheit: das Dunkel, sein Geheimnis, seine Gefahr und sein
Reichtum, und auf der anderen Seite die durch Sarastro verkörperte Hellig-
keit des Gedankens und des Geistes. Goethe wollte diese beiden Potenzen
noch einmal im Kam pfsich zeigen lassen, in dem Moment, da die Familie ihr
Dasein begonnen hat. Die Königin der Nacht will das Kind rauben, das aus
der Ehe hervorgegangen ist. Zwar bleibt es den Eltern erhalten, aber es ist in
einem Kasten verschlossen, den man nicht öffnen kann. Der Kasten muß
immer bewegt werden, damit das Kind am Leben bleibt: .. Solang ihr wan-
delt,lebt das Kind.« Nun wahrlich, jedes neue Lebewesen, das plötzlich zum
Ziel aller Sorge und Fürsorge durch seine Eltern wird, ist ein in sich ver-
schlossenes Geheimnis. Das so pflanzenhaft verschlossene Kleinkind ist eine
ganz neue, andere Sorge, als was in den Schwingungen der Liebe zwischen
den Liebenden hin und her webt ... Solang ihr wandelt, lebt das Kind«.
Goeth'e schildert, wie am Ende des langen Kampfes zwischen Dunkelheit
und Helle die elementare Macht, welche die menschliche Natur beherrscht,
im Wunder der Sprache und im Tausch der Worte zu einer neuen Freiheit
aufsteigt. Das Kind hebt beim ersten Wechsel der Worte mit seinen Eltern
alle Feme auf-und steht zu neuen Fernen auf. Am Ende erhebt sich aus dem
Dunkel des Naturseins die Offnung des Geistes, ähnlich wie in Goethes
,Faust 11< Euphorion gen Himmel fliegt.
Ein neuer Kampf setzt ein, nochmals trennt sich in den Stufen der Liebe
das geliebte Kind von den liebenden Eltern. So hat in grober Linie Goethe
die Handlung weitergedacht. Nochmals wird in Goethes Erfindung das
Wesen der Prüfungen deutlich, wenn Sarastro selbst einer neuen Prüfung
ausgesetzt wird. Leben heißt geprüft werden, das hat Goethe als den eigent-
lichen Ansatz von Schikaneders Textbuch verstanden. Er hat es als Dichter
gelesen und weitergedacht. Dieses Weiterdenken zeigt freilich erneut den
Unterschied zwischen Dichter und Librettist, von Wortkunst und Ton-
kunst, und den Unterschied zwischen den Musen.
Um das zu verdeutlichen, lege ich zum Vergleich zwei Stellen aus Mozarts
,Zauberflöte< und aus Goethes Fortsetzung vor. In Schikaneders Textbuch
findet sich, was Goethe auf seine Weise aufgenommen hat. Es sind die
Geharnischten, die als Wächter für die gefangene Pamina aufgestellt sind,
und die Goethe in seiner Fortsetzung den Kasten mit dem Kind Taminos und
Paminas bewachen läßt. An dieser Übernahme eines Motivs mÖchte ich den
Unterschied zwischen dem Text eines Librettos und einem dichterischen
Text noch einmal konkret illustrieren. Man kennt die Verse der zwei Gehar-
nischten: »Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden,lWird rein
durch Feuer, Wasser, Luft und Erden;/Wenn er des Todes Schrecken über-
120 Goethe und Mozart - das Problem Oper
uns nur immer wieder zu dieser Oper zurück? Gewiß hat gerade zu ihrem
Welterfolg durch die Jahrhunderte beigetragen, daß sie dem Humanitäts-
denken des sich ankündigenden bürgerlichenjahrhunderts entsprach, und es
mag in diesem Sinne etwas bedeuten, daß ohne jede psychologische Moti-
vierung das große Liebesduett der .Zauberflöte< nicht dem Liebespaar,
sondern den Ungleichen, Pamina und Papageno, in den Mund gelegt ist:
einer zur Liebe erwachenden Seele und einem sinnenfrohen Naturmen-
schen. Der Höhenflug der Haupthandlung wird an die Natur zurückgewie-
sen. Doch aufbeiden Ebenen läßt sich das Hohe Lied vernehmen: .. Mann
und Weib und Weib und Mann/Reichen an die Gottheit an.«
9. Das Türmerlied in Goethes >Faust<
(1982)
Die Generation, der ich selber angehöre und die mit dem Zusammenbruch
des Wilhelminischen Kaiserreiches die Kinderschuhe auszog, stand nicht im
Zeichen Goethes. Der wohltemperierte Bildungsstolz des Besitzbürger-
turns, das Goethe im zweiten Kaiserreich auf den Schild gehoben hatte, war
einem Krisenbewußtsein gewichen, das neuen Maßlosigkeiten zustrebte
und sich in der gepreßten Inständigkeit des späten Hölderlin, der damals erst
eigentlich zu sprechen begann, weit eher wiedererkannte als in der Gelassen-
heit des Olympiers. Das mag an ein paar bezeichnenden Anekdoten verdeut-
licht werden.
Von Heidegger, der damals durch das revolutionäre Pathos seiner Denk-
energie in seinen Bann zog, wurde berichtet, daß er eines Tages in der
Vorlesung ein Hölderlin-Gedicht vorlas und am Schluß sagte: »Das ist doch
ein Gedicht! Etwas anderes als das Reimgeklingel des alten Goethe.« (Später
hat auch er anders gesprochen.) Es mag in der gleichen Zeit, um 1930, als wir
alle in Hölderlin, George, Trakl lebten, gewesen sein, daß mir Bultmann,
der Marburger Theologe, einmal sagen mußte: »Wenn Sie erst älter sind,
werden Sie eines Tages Goethe entdecken.« Und so war es. Das Dritte Reich
kam dem zu Hilfe. Die Leichtigkeit und Natürlichkeit der Goetheschen
Sprache gewann, angesichts des Gebrülls der Bewegung, eine neue, stille
Macht. übrigens war sogar die Goethe-Gesellschaft nicht einmal richtig
gleichgeschaltet. So sollte Bultmann auch für mich mehr und mehr recht
bekommen.
Rückkehr
In Wahrheit war es eine Rückkehr, ein Wiederfinden. Ich war wohl gerade
18 Jahre und kaum aus den Entwicklungsjahren heraus - man schrieb das
Jahr 1918. Mit Goethe war ich bereits durch die Schule bekannt gemacht
worden, auch mit seinem >Faust<, wesentlich im Stile des Spätklassizismus
unserer Schulkultur, als ich eines Tages - es war in Breslau - den großen
Reinhardt-Schauspieler Alexander Moissi ein mir wohlbekanntes Gedicht
Das Türrnerlied 'in Goethes .Faust, 123
vortragen hörte, und ich war wie verzaubert. Es war das Türmerlied aus
Goethes .Fauste 11. Teil, das die dramatischen Schlußszenen mit der Phile-
mon-und-Baucis-Tragödie einleitet:
Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen, gefallt mir die Welt.
Ich blick' in die Feme, ich seh' in der Näh'
Den Mond und die Sterne, den Wald und das Reh.
So seh' ich in allen die ewige Zier
Und wie mir's gefallen, gefall' ich auch mir.
[hr glücklichen Augen, was je ihr gesehn,
Es sei wie es wolle, es war doch so schön!
Ich bin einigermaßen ratlos, wie man diese Verse heute lesen soll. Pathos ist
im Zeitalter technologischer Unterkühlung nicht mehr am Platze, und
Verse sind es überhaupt auch nicht mehr. Aber selbst damals hatte der vom
zeitgenössischen Naturalismus und von der allgemeinen Psychologisierung
beherrschte Theaterstil die Verskunst und ihren Vortrag bis zur Unkennt-
lichkeit zersetzt - und da kam Moissi und )sange dies Türmerlied so, daß die
Süße dieses Melos einen ganz gefangennahm.
Nun soll esja wirklich ein Lied sein, und niemand, der diesen Eingang der
dramatischen Szenen im 5. Akt von .Faust He liest, kann sich darüber täu-
schen. Die Weise, wie der Türmer Lynkeus plötzlich die Feuersbrunst
gewahrt, die das idyllische Glück der beiden Alten Philemon und Baueis
zerstören wird, und wie er in jagenden Versen das schreckliche Geschehen
schildert, geben dem Lied selber einen einzigartigen Nachklang, den Ton
eines unwiederbringlichen Verlustes, eines unwiderruflich gestörten Frie-
dens - und doch bleiben diese Verse zugleich eine überwältigende und
gültige Preisung des Glücks des Schauens und der Schönheit der Welt. Es
sind Verse, die nie ganz verklingen.
Wie können Verse so zaubern? So sein und so zeigen, so sagen und so
verneinen? So singen? "Gesang ist Dasein.« Aber wie ist dieser Gesang da?
Allein durch das Wort. Diese Verse als einen Text lesen, zu dem es eine
Melodie gibt oder verschiedene mögliche Vertonungen, ist schon ein Miß-
verständnis. Sie sind bereits Ton. sind selber Gesang. und das war es. was
mein unerfahrenes Ohr an Alexander Moissis Vortrag derselben erfaßte. Da
bleibt keine Wahl möglicher Vertonung oder Betonung - es ist. als ob die
Sprache von sich aus sänge. nach ihrer eignen Melodie.
Nun sprechen wir von Sprachmelodie auch dort, wo die Sprache nicht
singt. wo sie nicht liedhaft ist. und so fragt man sich. welche besonderen
Züge die Sprache des Liedes auszeichnen, das nicht einen Liedtext darstellt,
sondern selber schon Lied ist. Es ist nicht nur das Gewebe aus Klang und
Sinn als solches, nicht Metrum und Reim und Binnenlautung, die auch sonst
124 Das Türmeclied in Goethes .Faust.
kalkulierbar. Es sind Intervalle - und solche von fühl barer Genauigkeit: vom
Sehen zum Schauen, von der Naturhaftigkeit des Geborenen zum bestellten
Beruf, von der Strenge der Pflicht, die den Türmer an den einsamen Platz auf
dem Turme bindet, zur Freude am Ganzen der Welt. Das sind Tonschritte,
Denkschritte, Tanzschritte des Seins, die einen einzigen Einklang bilden.
Das Bauprinzip ist auch weiterhin das der Polarität - zwischen Ferne und
Nähe, zwischen den Gestirnen und dem nächsten Umblick, zwischen der
immer nahen, schweigenden Schattenwand des Waldes und dem seltenen
Anblick friedlich äsenden Wildes, das aus ihm hervortrat - ein Ganzes von
Sein, das auch in der Stimmftihrung der Wortklänge das Weite und die Nähe
wie in einer Kantilene vereinigt. Wie »Ferne« und »Sterne« ins Unbestimm-
te der Weite verklingen, wie »Näh'« und •• Reh« das fast schreckhafte Jetzt
eines s9lchen flüchtigen Anblicks Klang werden lassen - und dann folgt wie
ein großer choralartiger Abgesang die gedankliche Anwendung, die wie in
einem Sinnspruch endet: •• Es sei wie es wolle, es war doch so schön!«
Die »ewige Zier« läßt unmittelbar die protestantische Choralsprache an-
klingen. Man wird wie Gerhart Hauptmanns Hannele •• die Zinnen der
ewigen Stadt« mithören. Das Ganze nimmt damit eine Wendung in die
Allgemeinheit einer Reflexion, die die beiden Schlußstrophen ausfüllt. Dazu
stimmt, daß in die ruhige Symmetrie dieses Metrums eine leichte, immer
wieder auf den Leser überspringende Unruhe kommt. Der Sinn-Akzent
folgt nicht mehr völlig der metrischen Vorzeichnung. Denn wie man es auch
wenden mag, der Gedanke ist doch der, daß, indem die Dinge mir gefallen,
ich mir selber gefalle. Es ist ein echt Goethescher Gedanke einer fast heidni-
·schen Selbstbejahung und Selbstversöhnung - aber gewiß gegen das Me-
trum: »Wie mir's gefallen, gefall' ich auch mir.« Weder das •• und wie mir's
gefallen« noch das »gefall' ich« tragen den Ton, sondern das »mir« in .. wie
mir's gefallen« und das »ich« in •• gefall' ich auch mir«.
Gewiß, es ist keine harte Zumutung. Irgendwie hält sich das Metrum im
Hintergrunde durch, aber die gedankliche Umkehr, die man Reflexion
nennt, bildet sich in dieser Verschiebung des Bedeutungstones auf die Worte
»mir« und .. ich« unüberhörbar ab.
Nimmt die Schlußstrophe wieder alles ins Schwebende des Gesangestex-
tes zurück? Es scheint fast so, wenn man das wunderbare Ansteigen der
Kantilene aufnimmt: »Ihr glücklichen Augen, was je ihr gese/zn, es sei wie es
wolle -«. Hier sind die metrischen Vorzeichnungen mit der Sinnbewegung
in vollem Einklang und tönen im Ohre so nach. Aber zum Schluß meldet
sich erneut das Hin und Her des Gedankens. Denn da heißt es nicht nur, daß
am Ende, im Rückblick auf alles, waS war, es schön war. Diesem IIwar« ,
diesem Wort •• war«, das dem Metrum wie seiner syntaktischen Funktion
gewiß seinen starken Ton verdankt. folgt vielmehr ein .. doch«: es war doch
so schön! Ein Wort, das alles Gegen-Schöne anklingen läßt, bevor der
126 Das Türmerlied in Goethes ,Faust.
Sänger sich nach diesem »doch« und mit diesem »doch« zu seiner eigenen
Bejahung - wie in einem Schwur - bekennt. Es ist ein gewiß recht leichter
Gegenakzent, der die freudige Dauerhaftigkeit des »war« nur ganz leise zu
beunruhigen vermag. Der Ausgleich ist am Ende erreicht, das »Ja« scheint
unbedingt und siegreich.
Unbedingt? Siegreich? Die dramatisch-tragische Zerstörung dieses Ja
und dieses Friedens bricht mit grausiger Deutlichkeit herein und läßt - am
Ende der ganzen Faust-Tragödie - nur einem Erblindeten seine Illusionen.
Wenn er dem Klirren der Spaten lauscht, die sein Grab ausheben - was er
für Deicharbeit hält, die neues Land gewinnen soll-, träumt er davon, »auf
freiem Grund ein freies Volk« zu sehen. Mit der Selbsterlösung scheint es
am Ende nicht zum besten zu stehen. Ganze Chöre müssen aufgeboten
werden, um den seligen Büßer zu empfangen und zu geleiten.
Am Ende
Wissen wir es nun? Steht am Ende fromme Ergebung oder umgekehrt der
Sieg eines unerschütterlichen Glaubens an die Versöhnungskraft des Gei-
stes, an die Selbstversöhnung? Oder soll man gar verstehen, daß auch ein
blindes, bis zur Verblendung unwirkliches Bemühen immer Erlösung ver-
dient, insbesondere, wenn es sich der Selbstlosigkeit einer sozialen Tätig-
keit rühmen kann? Wissen wir es? Nein, wir wissen es nicht. Das Rätsel,
das Goethe sich und uns mit seinem )Faust< aufgab, ist nicht so einfach zu
lösen.
Am Ende lassen uns aber auch die Verse des Türmerliedes nicht ganz
ohne Antwort. Dies »Ja« zu allem und dieses »Doch« sind vielleicht nicht
die ganze Wahrheit, aber ohne sie ist auch anderes nicht seiner eigenen
Wahrheit fähig. Es ist wahrlich kein Ratschlag, was hier gegeben wird, den
ja doch keiner zu befolgen wüßte. Für wen gilt es nicht, daß er an seinen
Platz gestellt ist und daß er sich und alles, das Ganze, das da ist und das da
geschieht, annehmen muß - wie dieser Türmer? Wenn dessen Lobgesang
auf das Dasein erschallt, heißt das gewiß nicht, daß er noch nie zuvor
Zeuge von Schlimmem, von »greulichem Entsetzen«, geworden war.
Und auf der anderen Seite bleibt zu bemerken: Auch nachdem er Zeuge
der Katastrophe geworden ist, drängt selbst dieser Jammer ins Lied. Auch
da wird ausgesprochen, was immer geschieht. Der Türmer singt es (wie es
ausdrücklich heißt):
Was sich sonst dem Blick empfohlen,
Mit Jahrhunderten ist hin.
Das Tünnerlied in Goethes .Fauste 127
Dies »Jammerlied« - wie Faust es nennt - ist so wahr wie das, was des
Türmers Lobgesang pries. Und so lernen wir: Im Liede erklingt. was ist. Da
gilt kein Widerruf.
Und so mag des Lebens Erzklang
Durch die Seele dröhnen!
Fühlt der Dichter sich das Herz bang,
Wird sich selbst versöhnen.
Für uns alle gibt es einen Zugang zu Goethe, den wir nicht zu wählen haben,
sondern der alle unsere Begegnung mit ihm schon vorbestimmt. Wir haben
uns desselben nur bewußt zu werden. Er beruht darauf, daß· die Gestalt und
das Werk Goethes im Laufe der Jahrzehnte und nun bald Jahrhunderte seit
seinem Tod eine Prägung gewonnen haben, die ihrerseits Maßstäbe gesetzt
hat. Da müssen wir uns als erstes klarmachen, daß wir heute, im Jahre 1982,
ebensogut eine Jahrhundertfeier feiern könnten. Denn es war erst das Jahr
1882, das die dauerhaft bestimmende Wirkung Goethes eröffilete. Die poli-
tische Entwicklung Deutschlands, wie die politische Entwicklung der ande-
ren Staaten Europas, führte ,vom Weltbürgertum zum Nationalstaat(, um
mit Friedrich Meinecke zu reden. Das hob Schiller heraus, war aber dem
Weltbürger (boethe zunächst gar nicht günstig. Die letzten 15 Jahre seines
Lebens war Goethe zwar eine europäische Berühmtheit, jedoch alles andere
als ein deutscher Nationalhe1d. Sein Verhältnis zu seinen lieben Deutschen
war, wie man weiß, recht gespannt. Bezeichnend ist auch, daß der' West-
östliche Divan(, eines der Meisterwerke deutscher lyrischer Poesie, imJahre
1882 in erster Auflage noch nicht ausverkauft war. Erst damals, nachdem die
Gründung des Deutschen Reiches im kleindeutschen Sinne gelungen war
und sich konsolidiert hatte, trat die Bildungsfigur Goethe überhaupt ins
allgemeine Bewußtsein. Es war die Wiederaufuahme des Weimarer Erbes
durch die ganze junge Nation. Die große Goethe-Ausgabe, die sogenannte
Sophienausgabe, die damals begonnen wurde, gab der steigenden Entfal-
tung des Goetheschen Ruhmes im deutschen Kulturleben und in der Welt-
kultur großen Auftrieb.
Gleichwohl war auch in unserem Jahrhundert Goethes Werk und Goethes
Persönlichkeit durchaus nicht unbestritten. So ist es nicht ohne Inten:sse,
daß sich die Frankfurter Universität erst seit 1932 'Goethe-Universität(
nennt. So wurde 1932 auch der Goethe-Preis gestiftet, dessen erster Preisträ-
ger der Dichter Stefan George wurdel. Die politische Konstellation war
klar: Der Dichter Stefan George verkörperte damals das Empfinden der
Edelkonservativen, die der Weimarer Republik, ihren Fragwürdigkeiten
und politischen Schwächen, mit Skepsis und Ablehnung gegenüberstanden
und die später mit ihrer Sympathie für das nationale Erbe in schrecklicher
Weise durch die Revolution des Nihilismus überrannt wurden. Stauffenberg
gehörte dem Kreise um George an und hat die gewaltige Täuschung der
Männer, die damals von einer Revolution von rechts träumten, mit seinem
Leben besiegelt. Daß nach 1933 Goethes Erbe von der nun zur Ohnmacht
verurteilten bürgerlichen Intelligenz allein getragen wurde, versteht sich
von selbst. Als wir 1949 hier in Frankfurt, wo ich als Professor tätig war, den
ersten Schritt zu einer Wiederaufnahme internationaler Beziehungen ver-
suchten, haben wir das Goethe-Jubiläum dieses Jahres dazu benutzt und
.Goethe und die Wissenschaft( als Thema gewählt. Das Thema •Wissen-
schaft( erlaubte eine über die Sprachschranken hinweghebende Form der
leichteren Wiederanknüpfung an die internationale Kultur. Wir hoben damit
die morphologische Tendenz, die in den Naturwissenschaften selbst ihre
Bedeutung besitzt, hervor und brachten Goethe als einen ihrer großen
Pioniere zur Geltung.
Die Wirkungsgeschichte Goethes ist immer eine Art Dokumentation der
jeweiligen Gegenwart, und so war es nicht zufällig, wie mir scheint, daß der
erste Vortrag des diesjährigen Kongresses - also wiederum 1982 - dem
Thema .Goethe und die Aufklärung( gewidmet war, injenem weiten Sinne,
den Herr Vierhaus uns gestern geschildert hat. Wiederum machte das eine
Grundströmung im eigenen gesellschaftlichen Bewußtsein unserer Tage
namhaft. Sie läßt sich vielleicht in der Erkenntnis zusammenfassen: Die
Epoche der "deutschen Bewegung« (Dilthey), in der von Goethe, von dem
deutschen Idealismus und von der Romantik aus die besondere Gestalt der
deutschen Geistesgeschichte ihr Gepräge erfuhr, war, wie Ernst Troeltsch
einmal gesagt hat, im großen Geschehen der neuzeitlichen Aufklärung
letzten Endes nur eine .Episode(.
Wenn ich für heute das Thema .Die Natürlichkeit von Goethes Sprache( in
Vorschlag brachte - gewiß nicht als ein Philologe, der ich auf diesem Gebiete
nie gewesen bin, sondern als ein denkender Leser Goethes -, so glaube ich
damit eine andere, wie ich meine, auch wirksame Grundströmung unseres
gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewußtseins ins Licht zu rücken. Das
Globale der Aufklärung, in der wir heute stehen, weckt neue Rückwirkun-
gen - es ist nicht mehr die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die gegen den
Druck der Kirchen und der Höfe gerichtet war, die uns heute bewegt. - Die
jetzt ERW1N WALTER PALM, Spuren in Frankfurt. In: H.-J. ZIMMERMANN (Hrsg.), Die
Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Heidelberg 1985 (Sup-
plemente zu den Sitzungsberichten der Heidelb. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Klasse, Jg.
1984. BelA), S. 73-76.
130 Die Natiirlichkeit von Goethcs Sprache
lin aus einer Randfigur zwischen Klassik und Romantik zu einem der großen
Gestirnc unserer Literatur geworden2 • Trotzdem wird heute zweifellos
Hölderlins Emphase - oder etwa dic Hcideggers oder Georges oder Rilkes -
nicht mehr so leicht akzeptiert. Ehcr schon kommen die leisen T6ne Hof-
mannsthals wieder an, eher schon entsprechen selbst gegenüber der kunst-
vollen Manieristik Thomas Manns die unmerklichen Biegungen Musilscher
Prosa dem Zeitgeschmack, der sich heute ankündigt. Es ist etwas, was tiefer
liegt, was sich hier vollzieht. Eine Art Abkehr von einer bestimmten Form
von Künstlichkeit scheint sich anzubahnen, ein instinktiver Widerstand - es
müssen nicht die Grünen sein, aber die Grünen sind ein Symptom. Sie
deuten ein tieferes Empfinden rur die Engen und Verwicklungen an, aus
denen herauszufinden unsere Lebensaufgabe und Oberlebensaufgabe sein
wird.
So möchte ich über die Natürlichkeit von Goethes Sprache ein paar Ge-
danken vortragen und ein paar Fragen formulieren. Natürlichkeit und
Künstlichkeit: Ich darf mit einer sprachlichen Frage beginnen. Schon das
Wort )Natürlichkeit( gibt zu denken. Wer hat eigentlich noch das rechte Ohr
dafür, daß )Natur( ein lateinisches Wort ist? So natürlich ist uns das Wort
geworden. Aber )Natürlichkeit( klingt verhältnismäßig spät; jedenfalls steht
es im Gestirne Rousseaus, durch den zuerst )die Natur( als ein Gegenwort
gegen den Rationalismus einer kahl gewordenen Aufklärung zu einem
Wert- und Leitwort geworden ist. So war es nicht ohne Rousseaus Einfluß,
daß auch die deutsche Entwicklung in der Epoche Goethes ihre neuen, dem
Barock gegenüber neuartigen Wege ging. Wieder läßt sich an etwas erin-
nern, was im allgemeinen Bewußtsein ist. Ich meine die Abkehr vom
französischen Gartenstil und die Wendung zum englischen Garten. Es ist die
Entdeckung der Natur in der Kunst der Gartengestaltung, die sich in dieser
Wendung abbildet.
Damit haben wir uns der entscheidenden Figur genähert, die im Positiven
wie im Negativen Goethes unvergleichliche Natürlichkeit der Sprache ent-
bunden hat. Ich meine Herder und die Entdeckung des Volksliedes. Daß das
plötzlich eine neue, große Wertfigur wurde, die Sangesweise der Völker, die
)Stimmen der Völker in Liedern(, daß die Kunst dieser Natürlichkeit etwa
der schottischen Ballade oder in all dem anderen sonst, was Herder zusam-
mengetragen hat, für Goethe zu einer Art Vorbild und zungenlösender
Begegnung wurde, hat etwas Einleuchtendes. Aber es ist gewiß nicht alles.
Denn Herder selbst, dieser Entdecker der )Stimmen der Völker in Liedern.,
war im Grunde kein sanghafter, kein liedhafter Dichter überhaupt. Er war
im Grunde überhaupt kein Dichter, wohl aber der größte Redner der deut-
schen Klassik - selbst noch im Vergleich zu Schiller, dessen dichterische
Kraft dem Redner in ihm so viel verdankt. In Herder hat sich noch einmal, in
einer geradezu elementaren Weise, die Rhetorik in ihrer ganzen Wucht und
Weite, in dem Pathos der Kanzel und mit dem Atem eines sich im Unendli-
chen verströmenden Seelentums, vor uns ergossen.
Das ist nun genau der Punkt, von dem aus wir die Natürlichkeit der
Goetheschen Sprache umreißen können. In ihr scheint das Rhetorische bis zur
Unmerklichkeit abgedämpft. Man muß nur neben einem Wiederlesen von
Goethe ein paar Seiten Schiller lesen, um sich sofort dieser Besonderheit in der
Dichtweise Goethes bewußt zu werden. Schiller hat es gewiß nicht ohne
Seitenblick aufsich selbst in meisterhafter Begrifflichkeit als den Unterschied
der naiven und sentimentalen Dichtung formuliert. Damit wollte Schiller
selbstverständlich nicht eine platte Zuordnung Goethes zur naiven Dichtung
vornehmen; gewiß meinte er im Blick auf Goethe eher die Möglichkeit einer
Synthese des Naiven und Sentimentalen, die ihm selber verwehrt war..
Das ist in erster Annährung ein Hinweis auf die Natürlichkeit der Goe-
theschen Sprache. Ihre Auszeichnung ist, das Sangbare und das Sagbare in
Reinheit darzustellen. Goethe hat sogar gelegentlich zu sagen gewagt:
Schriftlichkeit ist immer schon eine Minderung von Wahrhaftigkeit. Ä.hnlich
hat er, auch in späteren Jahren und gewiß durch den Blick auf Schiller sehr
temperiert, von den »forcierten Talenten« gesprochen, die durch Nachden-
ken erzwingen wollen, was einem in Wahrheit nur aus einer gesteigerten
Form der poetischen Imagination und der Leidenschaftlichkeit der Rede von
selber zuströmen muß. Hier drängt sich die Frage auf, wie es eigentlich mit der
Augusteischen Dichtung und Goethe steht, wie mit Horaz? Daß Goethe die
Meisterschaft Horazens erkannt und ihn bewundert hat, ist kein Zweifel. Daß
er die Anakreontik zu schätzen wußte, ist zumindest in der Jugendzeit sehr
deutlich. Wir haben gestern ein Lied gehört, das aus seiner späteren Zeit das
gleiche bezeugt. Trotzdem scheint mir in allen Reflexionen Goethes eine
eingehendere Würdigung von Horaz eigentlich zu fehlen, und ich meine, das
ist sehr zu verstehen. Wer Horaz liest, der muß sich - wie soll ich das nennen-
in einer Art von höchster literarischer Puzzlekunst einüben. Die Ordnung der
Worte im Horazischen Vers ist von einer so bewußten und eleganten Künst-
lichkeit, daß es bei aller Unmittelbarkeit Horazischer Sprachgewalt und bei
aller Magie der sprachlichen Melodik immer eine Ordnung von kunstvollen
Kontraposten ist, in denen sich die ,Rede< eines Horazischen Gedichtes zum
Gedicht gestaltet. Mir scheint das Liedhafte, das Sanghafte, das Goethes
Gedicht auszeichnet, von diesem Ideal der Horazischen Dichtung sehr weit
entfernt. Das soll nicht etwa dem einen vor dem anderen den Vorzug geben,
aber es macht ein anderes Kunst-Ideal sichtbar: das Kunstvolle, das etwa im
Zeitalter des Naturalismus einen Stefan George in Horaz ein großes Vorbild
sehen ließ - es war eine ähnliche Goldschmiedehandwerkskunst, die er in der
Formung seiner dichterischen Verse bewies.
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 133
Um die Natürlichkeit von Goethes Sprache zu verstehen, hilft es, sich der
begrifflichen Hintergründe zu versichern, die im Wort >Natur' anklingen.
Die Konturen eines Begriffs zeichnen sich an seinen Gegenbegriffen ab.
Denn Begreifen ist Unterscheiden. So drängen sich mir Natürlichkeit und
Natur in zwei Gegensätzen auf, die hier bei Goethe dem Begriff der Natur
seinen Kontur geben: >Natur und Kunst, und >Natur und, - kann man es
überhaupt auf deutsch sagen? - >Geschichte< oder >Gesellschaft< oder gar
>Geist,? Ich will lieber die Karten aufdecken und griechisch reden: Dann
heißt es >Physis, und >Techne< (für Natur und Kunst); >Physis, und >Ethose
(für Natur und Gesellschaft). Beide Komponenten können uns etwas tiefer
in das Begreifen der Kunst der Natürlichkeit hineinführen, die das Goe-
thesche Werk und Wesen auszeichnet, und zwar nicht nur das Gedicht, auch
seine Prosa. Ich nannte nicht umsonst neben dem Sangbaren das Sagbare.
Gerade auch an den Erzähler Goethe sollten wir in diesem Zusammenhang
denken - und an sein geselliges Talent, das von seinen Jugendtagen an seine
Zeitgenossen faszinierte.
Die Unterscheidung von Natur und Kunst spielt gewiß hier die wichtigste
Rolle. Goethe selbst hat zwar, insbesondere nachdem er durch Schiller in
eine gewisse Begriffssprache eingewöhnt worden war, die von der Kan-
tisch-Fichteschen Philosophie ausging, gelegentlich über das Verhältnis VOn
Natur und Kunst reflektiert, aber das ist meistens in späteren Jahren. Dage-
gen gibt es ein Zeugnis für die ursprüngliche Form, in der Goethe seine
elementare Sangfähigkeit zu formulieren suchte, das aus früherer Zeit
stammt: Kad Philipp Moritzens >Bildende Nachahmung des Schönen'.
Goethe hat ja daraus einen wesentlichen Auszug in seine ,Italienische Reise,
aufgenommen und ausdrücklich bestätigt, daß es in der Tat auch seine
Gedanken gewesen seien. Was ist der Grundgedanke, von dem aus sich hier
das Verhältnis von Natur und Kunst darstellt? Wovon spricht die >Bildende
Nachahmung des Schönen,? Offenbar vom schaffenwollenden Bildungs-
trieb. Dieser damals viel gebrauchte Ausdruck stammt aus der Naturkunde.
Von hier aus soll er für Karl Philipp Moritz und Goethe zum Ausdruck
bringen, wie ein Gefühl der tätigen Kraft, die das Kunstwerk hervorbringt,
das eigentliche Wesen des Schönen ausmacht. Das ist bei Karl Philipp Moritz
ganz deutlich; da heißt es geradezu, daß »das Werk, als schon vollendet,
durch alle Grade seines allmählichen Werdens, in dunkler Ahndung, auf
einmal vor die Seele tritt, und in diesem Moment der ersten Erzeugung
gleichsam vor seinem wirklichen Dasein da ist; [... ] das Schöne hat daher
seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden schon
erreicht: unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins«. Daß
das Werk keine erstarrte Form ist, sondern die Formwerdung des Augen-
blicks und gestalterischen Entwurfs selber, das hat offenbar dem jungen
Goethe durchaus als eine angemessene Form seiner eigenen dichterischen
134 Die Natürlichkeit von Goethes Sprache
Goethe ist, der alle diese Dinge formuliert hat. Er verteidigt einmal- wie er
sie nennt - die »demütigen Phrasen". Er will damit sagen: Es gehört zur
geselligen Tugend, daß man den Leuten die Worte nicht grob an den Kopf
wirft, sondern etwa Ausdrücke wie »gewissermaßen" (das ist sein eigenes
Beispiel) gebraucht. Das sind Ausdrücke, welche eine Moderation geselliger
Art in den Ausdruck der eigenen Meinung bringen und das Rechthaberische
und Dogmatische des Behauptens mildem. Hier scheint mir auch ein Zen-
trum Goethescher Dichtweise berührt. Ebenso fmden wir ihn als Menschen
geschildert. Seine seltene Feinfühligkeit für die Empfindung des gegenwär-
tig Anderen half ihm , die Leute zu bezaubern; seine Art beruhte nicht zuletzt
darauf, daß er stets auf die gesellige Situation reagierte, in der er sprach. Wir
haben auch Berichte, daß er als junger Mann, wenn er in guter Laune war.
im Augenblick ein ganzes neues Drama vorspielen konnte. das nie geschrie-
ben wurde. und daß das einen hinreißenden Eindruck auf alle machte. Selbst
seine dichterische Begabung hatte also ihre gesellige Seite. Begriffsge-
schichtlieh gedacht steht hinter dieser geselligen Komponente von Sprache
und Rede das Verhältnis von >Physis< und >Ethos< - Natur und Sitte. Es ist
die Auszeichnung des Menschen. daß er sich nicht wie die Naturwesen sonst
in bestimmten formativen Zwängen zu seiner Entelechie. zu seiner Gestalt
bildet. sondern daß er sich selber bilden muß. Er hat, um mit Aristoteles zu
reden, >Prohairesis<. d. h .• daß er dies jenem vorzieht und sein Lebtag eine
lange Reihe solcher Vorzugsakte vollbringt, die ja ebensosehr Zurückset-
zungsakte sind (denn kein Vorzugsakt ist ohne eine Zurücksetzung, kein
Gewinn ist ohne Verlust). Aber eben dadurch bildet sich der Mensch zu
dem, was er ist. Das nannten die Griechen sein >Ethos<. diese aus übung und
Gewöhnung aufgebaute zweite Natur. die nicht mit der drohenden Gebärde
eines nie erfüllbaren Sollens. sondern mit der Selbstverständlichkeit eines
Habitus sich am Menschen ausprägt. die das ausmacht, was er so an sich hat
und was sein Charakter ist. Der Gegensatz. um den es hier geht. ist zuerst in
der aristotelischen Ethik als das Verhältnis von >Physis< und >Ethos< formu-
liert worden. Er scheint mir der Begriffshintergrund für die Möglichkeit
und Auszeichnung des Menschen. daß er sich kraft seiner Natürlichkeit
gerade zur geselligen Lebensform. zur Kunst der Geselligkeit und zur kunst-
vollen Gestaltung von Sprache. ja sogar bis zur Dichtung zu erheben weiß.
und eben darin so etwas wie eine gesteigerte Natürlichkeit zu gewinnen
vermag. Wie ist dies allgemeine Verhältnis in Goethes Sprache gespiegelt?
Ich möchte versuchen, ein paar Fragen zu stellen. an deren Beantwortung
durch Kundige wirklich etwas zu lernen wäre. Die eine ist: Welche Rolle
spielt die Muttersprache und. im besonderen. welche Rolle spielt die mund-
artliche Sonderheit der Muttersprache bei Goethe. also der Frankfurter
Dialekt? Man hört ihn ganz gewaltig. »0 neiche. Du Schmerzensreiche" ist
ein berühmtes Beispiel. Es gibt Äußerungen von Goethe, nicht so sehr über
136 Die Natürlichkeit von Goethes Sprache
4 Zum Melos Goethescher Verse vgl. auch meinen Beitrag über das Türmerlied in
Goethes ,Faust<, in diesem Band, S. 122ff.
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 139
lieh seien, weil Ottilie dort wie Goethe reflektiere. Gewiß, so ist es. Das ist
Goethe, daß er mit eigentümlicher Sorglosigkeit in den Erzählfluß seine
eigenen Reflexionen einflicht, manchmal den Charakteren glaubhaft ange-
paßt, aber durchaus nicht immer. Selbst wo es paßt, ist es immer wieder so,
daß wir im Lesen durchaus vergessen, daß es nicht Goethe selbst ist, sondern
eine seiner Figuren, die da reflektiert. Das entspricht dem Gelegentlichen,
Aper{:uhaften, Beiläufigen, das Goethe überhaupt als eine Grundattitüde
kultiviert. So hat es ihn offenkundig keinerlei Bedenken gekostet, Gedichte
aus dem )Wilhelm Meistere, die Mignon-Lieder, die Harfner-Lieder und
dergleichen, die im Romanganzen gewiß ihren besonderen Ort haben,
zugleich in die Reihe seiner Gesammelten Gedichte aufzunehmen. Es scheint
mir, daß etwas von der geselligen Natur Goethes sich überall auswirkt. Er
vermeidet nicht das Beiläufige und Gelegentliche. Er setzt den guten Willen
des Lesers voraus und die freie Zustimmung des Interesses des anderen, und
sie ist ihm wichtiger als die gestalthafte Geschlossenheit des Werkes. Es ist
eine Komponente des Offenlassens in ihm, die in die Tiefenerfahrungen des
Lebens hineinreicht. So mag es mit vielen der sogenannten Unstimmigkei-
ten in Goethes Werk stehen. Es geht mir dabei nicht um eine Goethe-
Apologie, sondern um eine Beschreibung dessen, was uns an Goethe merk-
würdig ist, ob wir wollen oder nicht, ob wir uns fern oder nah fühlen. Wie
vieles läßt er offen, wie vieles läßt er sich offen! Das hat seine moralischen
Kritiker herausgefordert - etwa im Stile von Kierkegaard oder ]aspers -,
aber verleiht dies viele Offenlassen nicht auch Goethes Dichtungen etwas
von ihrer geheimnisvollen Lebendigkeit und Tiefe? Viele der Goetheschen
Planwidrigkeiten scheinen mir dieser Haltung zu entspringen, die zwischen
den verschiedensten Sphären schweben läßt. Wenn wir mitten im Roman
eine Novelle eingebaut finden, dann nehmen wir das Ineinander-sieh-Spie-
geln der Romanhandlung und der im Roman begegnenden Erzählung, wir
nehmen all diese vielen Spiegelungen und Widerspiegelungen, die sich da
ereignen, als etwas mehr oder minder Natürliches. Ich gehe noch weiter. Ich
habe immer ein leises Mitleid mit denen, welche Goethes )Fauste in dem
Sinne verstehen wollen, daß sie sich fragen, wie sich eigentlich Goethe selbst
seine Umdichtung der Volkssage von Faust und wie er sich Fausts Erlösung
am Schlusse denkt. Mir scheint die Frage falsch gestellt. Die Frage setzt
voraus, daß Goethe jedenfalls irgendwann einmal doch endgültig eine ein-
heitliche und vernünftige Auffassung davon gehabt haben müsse, ob Faust
erlöst werden soll oder nicht und mit welchem Recht. Auch was mit
Mephisto geschehen soll oder nicht geschehen soll. Ich halte viele der zur
Faustdeutung vorgetragenen Vermutungen rur sehr interessant, etwa auch
Henkels Beitrag über die )Apokatastasise, die Wiederherstellung aller Dinge,
die auch Mephisto als den gefallenen Engel noch in die große Enderlösung
140 Die Natürlichkeit von G~thes Sprache
Die Erwartung des Liebesglücks und der friedvolle Vorblick auf das Lebens-
ende klingen hier im eigentümlichen Ineinander höchster Erhebung
menschlichen Daseinsgefühls zusammen. Es ist das gleiche Ineinander von
,Stirb und Werdec, das Goethe auf seine Weise immer wieder dem Alter und
dem Nahen des Todes wie eine ewige Auferstehung entgegengesetzt hat. Ist
nicht auch das natürlich?
Ich breche meine Fragen ab - es sind wirklich alles Fragen, die in die eine
Frage zusammengehen: Ist das nicht gerade die Natürlichkeit Goethes, daß
5 ARmUR HENKEL, Das Ärgernis Faust. In: V. DORR I G. V. MOLNAR (Hrsg.), Versuche
zu Goethe (FS Erlch Heller). Heidelberg 1976, S. 282-304. Jetzt revidiert in: A. HENKEL,
Goethe-Erfahrungen. Studien und Vorträge (Kl. Schriften 1). Stuttgart 1982, S. 163-179;
203-206.
e Vg!. .Vom geistigen Laufdes Menschen., Teil 1, in diesem Band, S. 87f.
Die Natürlichkeit von Goethes Sprache 141
er immer auch ein Geselliger ist und daß sich selbst seine Dichtung immer
wieder in die gesellschaftliche Wirklichkeit zurückstellt, in der sie ihre
mitteilsame Präsenz hat?
Es ist mir aufgefallen, daß, wenn Goethe, dieser große Könner im Dicht-
handwerk, über andere Dichter und Dichtungen spricht, er als sein Lieb-
lingswort das Wort »tüchtig« gebraucht. Das Wort bezeichnet eine Bürger-
tugend allererster Art. Sie wird von Goethe an allen Menschen, die sie
besitzen, nicht nur am Handwerker, auch am Dichter hoch geschätzt. Ich
meine, man spürt darin etwas von dem gesellschaftlichen Selbstbewußtsein
des Bürgersohnes einer freien Stadt. Wenn man Goethe mit seinen großen
Parmern im klassischen Zeitraum unserer Literatur vergleicht, so zeigt er am
wenigsten die Züge eines Fürstendieners, obwohl er am meisten ein Diener
eines Fürsten, ja ein Minister, gewesen ist. Die bürgerlichen Tugenden der
Tüchtigkeit, der Sorgfalt, der Verläßlichkeit des Könnens haben selbst die
dichterische Inspiration, die in Goethe so reichlich strömte, immer wieder
diszipliniert. Seine eigene Lebensbilanz ist, wie mir scheint, mit der Natür-
lichkeit seiner Sprache in engster Entsprechung. Das zeigt die gleichsam
beiläufige Rolle, die für ihn das Dichterische in seinem Lebenswerk darstellt.
Hier hat, wie ich meine, Staiger richtig gesehen, wenn er in Goethes >Tasso<
nicht allein in der Figur des Tasso das dichterisch-tragische Selbstbildnis des
leidenden Empfindsamen - der gewiß auch Goethe war - gesehen hat, dem
das Privileg war, »zu sagen, wie ich leide«, sondern daß auch Antonio dies
Selbstbildnis ist. Beide, der große Gegenspieler des realen Lebens und der
dichterische Träumer, der an der Wirklichkeit zerbricht, beschreiben erst
den vollen Umkreis Goethescher Lebenserfahrung. Zur Natürlichkeit der
Sprache Goethes gehört auch Maß und Mitte, mit denen er gesellschaftliche
Bedingtheiten.und inneren Aufschwung miteinander zu versöhnen wußte.
11. Bach und Weimar1
(1946)
Johann Sebastian Bach ist ein Kind des Thüringischen Landes, kein Rätsel
einer Schickung, die so oft das Genie unerwartet und unbegreiflich erwach-
sen läßt inmitten einer gleichgültigen Welt und aus einem gleichgültigen
Geschlecht. Johann Sebastian Bach ist in einem musikfrohen und frommen
Lande aufgewachsen, als Sohn einer Familie, in der sich seit Generationen
ein gediegenes Erbe musikalischer Gaben angereichert hatte, und noch seine
Söhne haben einen reichen Teil von dieser Mitgift ihres Geschlechtes bewie-
sen. Es war auch nicht eine Folge besonderer Fügung, daß Johann Sebastian
Bach in seinem schaffensfrohen Leben eine bedeutende Zeit in Thüringens
Hauptstadt Weimar tätig war - er kam im Jahre 1708 als Dreiundzwanzig-
jähriger an den Weimarer Hof als Organist und Konzertmeister und hat dort
neun Jahre gewirkt-, sondern frühe Bewährung in seinem Organistenberuf
und alte Heimatverbundenheit seiner Familie mit den Thüringischen Lan-
den und ihren Fürsten führten ihn auf die natürlichste und selbstverständ-
lichste Weise in diese Stellung. So hat denn Thüringen und seine Lan-
deshauptstadt ein unbestrittenes Recht, ihn als ihren treuen Sohn zu ehren
und zu lieben - auch wenn ihn auf nicht minder verständlichen Wegen sein
Genie über Köthen schließlich nach Leipzig führte und ihn dort zu der fast
sagenhaften Gestalt des Thomaskantors prägte, als der er in der Geschichte
der deutschen Kultur lebt. In unseren Tagen, in denen sich so viele ehemals
helle Sterne nationalen Lebens in ein von uns selbst verschuldetes und zu
tragendes Dunkel verhüllt haben, ist uns jedes Erinnern an unser eigenes
lebendiges Wesen, wie es die größten Söhne unseres Volkes gültig darstel-
len, besonders not, »daß in der zaudernden Weile, daß im Finstern für uns
einiges Haltbare sei«. Es lag nahe, bei einem Johann Sebastian Bach gewid-
meten Weimarer Musikfest insbesondere Bachs Weimarer Jahre in die Erin-
nerung zu rufen - sind doch diese Weimarer Jahre seines Schaffens die
entscheidende Epoche, in der er die riesige Spannweite seiner Talente in die
dichte Prägung seines eigensten Stiles zusammenfassen lernte und damit die
1 Die Rede regte KARL STRAUBE zu einem langen Brief an den Verfasser an, der in dem
förmlich begrenzt, und nur wenige Kenner haben das rechte Ohr für Hein-
rich Schütz oder gar die großen niederländischen Zeitgenossen Martin Lu-
thers. ]ohann Sebastian Bach ist der erste der großen Klassiker der deutschen
Musik.
Das ist nicht als eine stilgeschichtliche Aussage zu verstehen. Der Begriff
der Klassik hat noch einen anderen, tieferen Sinn als den eines Stilbegriffs
(dessen Anwendung außerhalb seines geschichtlichen Ursprungsbodens im
sogenannten klassischen Altertum ohnehin voller methodischer Fragwür-
digkeit ist). Nach einem selbst klassisch zu nennenden Wort Hegels ist
klassisch »das sich selbst Bedeutende und damit auch sich selber Deutende«.
Dies Wort ist, sofort überzeugend, wenn man ihm eine geschichtliche Di-
mension unterlegt. Denn es kann ja nicht meinen, daß solche Selbstbedeu-
tung ein Wesenszug von Werken in der Art wäre, daß sie in geschichtsloser
Ewigkeit beharrlich sich selber aussagten. Es ist vielmehr ein Urteil über die
unerschöpfte Mächtigkeit, mit der ein Werk oder ein Meister in allen ge-
schichtlichen Wandel eingeht. Einer jeden Gegenwart will es freilich so
scheinen, als sei es ein Allgemein-Menschliches, das in Homer und Sopho-
kles, in Dante, in Shakespeare und in Goethe, in Bach und in Beethoven zu
uns spricht. Aber was ist das Allgemein-Menschliche? Was uns allen
menschlich dünkt, wird selbst erst bestimmt durch das gesammelte und in
unserem Bewußtsein zusammengehaltene Wort dieser großen Menschheits-
dichter. Wir selbst reinigen sie gleichsam von der geschichtlichen Einmalig-
keit und Vergänglichkeit ihrer Erscheinung, bis wir ihr reines Wesen als
unser eigenes, als das menschliche Wesen überhaupt gewahren. Klassisch ist
also nicht etwas von sich selbst her Bleibendes, sondern ein immer aufs neue
Belebtes, das immer neue Gegenwart fUr uns gewinnt. Wie Goethe und
Schiller, wie Beethoven und wie Bach. Denn auch die Musik des großen
Thomaskantors ist von einer für uns unerschöpflichen Gegenwärtigkeit, so
sehr sie auch Ausdruck eines fUrstlichen Zeitalters ist, das uns fremd wurde,
das die Sprache einer Glaubensfestigkeit spricht, von der uns eine Welt des
Zweifels oder der entschlossenen Eigenmächtigkeit trennt.
Daß das für Bach gilt, ist aber um vieles wunderbarer, als daß es fUr
Beethoven oder fUr Goethe und Schiller gilt. Denn diese genialen Individua-
litäten, Manifestationen des schöpferischen Genies der Neuzeit, haben mit
sich selber eine Kette unablässiger Wirkung, Schätzung und Nachfolge
eröffnet, die uns in die Gliederfolge ihres Fortlebens förmlich eingeschmie-
det hält, ja, sie selbst sind mit dem Bewußtsein tätig gewesen, ein neues
Bleibendes in ihren Werken und mit ihrem Wirken zu schaffen. Sie beseelte
ein Stifrungsbewußtsein von monumentaler Selbstgewißheit. Johann Seba-
stian Bach dagegen, bei allem Ansehen und Ruhm, die er erwarb,· wurde von
seinen Zeitgenossen und Nachfahren schnell vergessen, schneller noch ver-
gaß er sich selbst, indem er mit sorgloser Verschwendung immer neue
Bach und Weimar 145
Werke schuf, zu Gehör brachte und beiseite tat, wie ein redlicher Handwer-
ker, dem jedes Stück ersetzbar scheint durch neuen fleiß und neues Gelin-
gen. Und dennoch ist auch er in einem schöpferischen und bis heute unabge-
schlossenen Vorgang des Wiederfindens in jene Reihe der bleibenden. der
klassischen Meister der deutschen Musik eingerückt und gewinnt von Jahr-
zehnt zu Jahrzehnt an innerer Mächtigkeit in aller Welt. So wandelt sich uns
das Thema )Bach und Weimar< in eine Frage, die ebenso sehr auf die Gestalt
des großen Meisters der Töne zielt wie auf uns selbst. Wie geschah es. oder
besser: wie konnte es geschehen. daß auch er zum Klassiker wurde. zu einer
verbindlichen Gegenwart unserer Tage und einem Unterpfand der Zukunft
unserer Kultur?
Dabei will es ein Zufall- oder ist auch das mehr als ein Zufall? -. daß die
Geschichte seiner neu auferstandenen Wirklichkeit mit dem klassischen
Weimar verknüpft ist in ihrem Beginn. Forkel. der erste große Biograph
Bachs. dessen Werk 1802 erschien, bemühte sich, die »patriotischen Vereh-
rer echter musikalischer Kunst« rür das unschätzbare nationale Erbgut der
Bachsehen Musik zu gewinnen: Wie wäre solch ein Unternehmen auch nur
denkbar ohne das ansteigende Selbstbewußtsein der deutschen Art und
Kunst. das Goethe so machtvoll gegründet und durch sein eigenes Werk
befestigt hat? Und Goethes Musikfreund Zelter hat Goethe für Bachs Musik
zu derselben Zeit gewonnen, in der Mendelssohn die Matthäus-Passion neu
aufführte und damit die große Auferstehung Bachs eröffnete. die nun schon
über ein Jahrhundert wirkt. Daß es eine romantische Musikanschauung war.
die diese Bewegung trug, ist bis heute für die Bachpflege bestimmend
geblieben. Seelenvoller Ausdruck und machtvolle Dynamik. klangvolles
Aufrausehen eines sich selbst geheimnisvollen Lebensstromes: die Grundzü-
ge romantischen Musikerlebens sind zwar nicht der gültige Maßstab, mit
demJohann Sebastian Bachs Musik heute zu messen ist. aber sie bleiben das
Gegenmaß, an dem sich das abzeichnet, was Bach innerhalb der Klassiker
der deutschen Musik so einzigartig und so über alles hinaus gegenwärtig
macht.
Was ist es, woraus Bachs Musik heute so lebendig ist - was ist es, woraus
wir heute leben? Längst ist es nicht mehr die Herkunft aus schlichter lu-
therischer Frömmigkeit, die hier als Antwort genügen kann. Wahr ist es
freilich, daß Johann Sebastian Bachs Musik in ihren weltlichen und geistli-
chen, vokalen. und instrumentalen Formen aus dem gleichen reinen und
klaren Metall ist und überall Gottes Ehre meine. Wahr ist es auch, daß diese
Musik eine Musik der Innerlichkeit ist, wie sie nur auf dem Boden des
Christentums und seiner reformatorischen Erneuerung erwachsen konnte.
Aber ihre Gültigkeit reicht ebensoweit über diese ihre Ursprünge hinaus,
wie auch sonst die Geschichte der menschlichen Innerlichkeit über ihren
christlichen Ursprung hinausgeht. Es ist weit von der sich im Tonraum des
146 Bach und Weimar
2 Vgl. dazu meine Rede aus dem gleichen Jahr (1946) zum 300. Geburtstag von
Gottfried Wilhelm Leibniz. Jetzt gedruckt in den Studia Leibnitiana, Bd. XXIIIl (1990),
5.1-10. [Erscheint in Ges. WerkeBd.l0)
148 Bach und Weimar
treten hier zusammen. Die Bewegung, die Goethe in Bachs Musik sieht und
in die er durch sie versetzt wird, ist nicht der Zustand eines produktiven
Chaos, aus dem erst Welt werden soll, sondern umgekehrt »die Wahrheit,
wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist« (Hegei). Gerade die reine
Genauigkeit der ideellen Strukturen, fiir die unser Ohr und unsere Sinne
nicht rein und genau genug sind, vergleicht Goethe mit dem Wesen der
Hachschen Kunst. Wie der bei sich selber rechnende Verstand Gottes die
Möglichkeit aller Schöpfung vorausdenkt und dadurch zum Schöpfer dieser
Welt wird - dum deus calculat, fit mundus -, so ist auch die große Rechen-
kunst des Thomaskantors im sinnlichen Stoffe der Töne dem Anschein nach
nur ein abstraktes Spiel, aber in Wahrheit die Schöpfung einer Ord-
nungswelt, die keiner romantischen Beseelung oder gefühlshaften Ver-
menschlichung noch bedarf. Und wenn sie auch eine Welt der Kunst ist und
damit ein Besitz und eine Aufgabe unserer Innerlichkeit, so ist doch der
Aufbau und die Erbauung dieser innerlichen Welt mehr als eine bloße
Abkehr Enterbter von der Verwirrung der wirklichen Welt. Gerade auch
solchen, die vor der Aufgabe stehen, aus den Trümmern der Vergangenheit
etwas Neues und Haltbares in der materiellen und sittlichen Welt" zu errich-
ten, muß die reine Urgestalt einer tragenden Ordnung, zu der in Bachs
Musik vergangenes Leben zusammengegangen ist, etwas bedeuten, und sie
werden für ihr eigenes ordnendes Tun mit Rainer Maria Rilke an den Vorteil
glauben,
daß sie's nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!
12. Prometheus und die Tragödie der Kultur
(1946)
Mythen sind U rgedanken der Menschheit. So sehr wir danach verlangen, sie
zu deuten, ihren ursprünglichen Sinn und Tiefsinn zu erfassen, so sehr
bleiben wir doch bei solchem Versuch des Begreifens hinter der undurchläs-
sigen Wirklichkeit der Mythen und ihrem anspruchsvollen Geheimnis zu-
rück. Es ist, als ob wir nur uns selber vernähmen, Sinnbilder oder Verklei-
dungen unserer gedeuteten Welt - und als ob der wahre Sinn jener urzeitli-
chen Schöpfungen stumm und deutungslos über uns hinwegreichte. Die
modeme historische Mythenforschung ist vorsichtig im Verzicht, indem sie
die Frage nach dem Sinn der Mythen abweist und lediglich der Geschichte
ihrer Entstehung und Verbreitung nachgeht. Aber auch so wird uns das
Geruhl einer hilflosen Ohnmacht vor etwas zu Großem nicht genommen.
Und vollends wird uns auch so die Versuchung nicht femgehalten, die aus
diesen bedeutungstiefen Stimmen einer Urzeit an uns gelangt, ihnen zuzu-
hören, d. h. aber, sie verstehen zu lernen. Ein solcher Mythos, dessen
stummer Sprache wir uns nicht zu entziehen vermögen, ist der antike
Prometheus-Mythos 1 . Sein Ursprung ist für uns ununterscheidbar zusam-
mengegangen mit der Geschichte seiner überlieferung, Umdeutung und
Erneuerung, die von den Tagen Hesiods bis in unser Zeitalter hineinreicht.
Aber eben deshalb ist er uns nicht so sehr wie andere Mythen ein beunruhi-
I Die Studie begnügt sich damit, Hesiod und Aischylos auf eine ganz bestimmte Frage
zu beziehen: wie sich in ihrer dichterischen Darstellung des Mythos das Selbstbewußtsein
der menschlichen Kultur spiegelt. Ein Versuch, die Geschichte des Mythos selbst zu
rekonstruieren, wurde nicht unternommen. Zum Stand der Forschung: KAIIL REIN-
HAIIDT, Tradition und Geist. Göttingen 1960, S. 191, Anm. 1 (dort auch reiche Literatur-
angaben, die zu ergänzen sind durch die umfassende Darstellung, die die Geschichte des
Prometheus-Symbols in der Welditeratur bei R. TIIOUSSON gefunden hat: Le theme de
Promethee dans la litterature europeenne. Geneve 1964). Kar! Reinhardt zufolge war
Aischylos der erste, der den Prometheus zum Titanen gemacht hat und damit seine
Beziehung auf das Schicksal des Menschen vertiefte. Die geistreiche Rekonstruktion des
>Feuerträger Prometheus" die dort (182-190; 220-226) auf Grund des neu herausgekom-
menen HeideIberger Papyrusfetzens vorgenommen wird, vermutet, daß in diesem
Schlußstück der Trilogie, wie auch oben dargelegt ist, die Versöhnung mit Zeus erfolgte
und daß zugleich damit Prometheus als attischer Lokalgott der Schmiede- und Töpfer-
kunst gefeiert wurde.
Prometheus und die Tragödie der Kultur 151
gendes Rätsel der Frühe als eine durch Alter und Schicksalsfälle ehrwürdige
und gewichtige Stimme im Chor der menschlichen Selbstbesinnung. Denn
in diesem Mythos hat sich offensichtlich von früh an die abendländische
Menschheit in ihrem eigenen Kulturbewußtsein gedeutet. Er ist wie ein
Schicksalsmythos des Abendlandes. Die Geschichte seiner Deutung erzäh-
len heißt daher, die Geschichte der abendländischen Menschheit selbst zu
erzählen.
Man empfindet leicht, daß dieser Mythos solch eine grundlegende Bedeu-
tung hat, wenn mall etwa Nietzsches Vergleich desselben mit dem semiti-
schen Mythos vom Sündenfall liest. Beide Sagen führen das mühsame
Geschick des Lebens auf eine Verschuldung zurück, die semitische Sage (um
eine Charakteristik Nietzsches zu verwenden) auf die Neugierde, die lügne-
rische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe
vornehmlich weiblicher Affektionen, die )arische< Vorstellung, die im Pro-
metheus-Mythos sich ausspricht, erteilt dagegen dem Frevel Würde und ist
ausgezeichnet durch die »erhabene Ansicht von der aktiven Sünde als der
eigentlich prometheischen Tugend«. Eben das aber macht den Prometheus-
Mythos zum wahren Mythos unserer Kultur. Er schaut das Schicksal des
menschlichen Lebens nicht als Fluch und Strafe rur einen Sündenfall, son-
dern als die mit Leiden bezahlte Selbsthilfe des Menschen, der sich in tätiger
Arbeit seine Welt baut. Er deutet in mythischer Form die Tragödie der
Kultur.
Soviel wird man wohl vom alten Mythos annehmen dürfen, daß Prome-
theus den Feuerdiebstahl zugunsten der Menschen beging. Das scheint uns
sinnvoll: Das Feuer, das im Blitz des Gewitters zur Erde fährt, nach dem
Willen und Ermessen des Donnerers allein, lernt der Mensch selbst entfa-
chen und unterhalten. Das ist wie ein Frevel, ein Abfall vom Herrn der
Wetter, und ist so der Beginn einer freventlichen Umwandlung der Natur in
einen Bereich menschlichen Treibens, in eine Welt der eigenen Pflege und
Herrschaft. Sinnvoll erscheint auch, daß es ein göttlicher Widersacher des
höchsten Gottes ist, der dem Menschengeschlecht diese neue Selbstän-
digkeit erobert, ein Geist der Widergöttlichkeit selbst, ein titanischer Geist,
in dem die Menschheit zu sich selbst findet. Und es begreift sich gut, daß
Prometheus in späterer Fortbildung des Mythos, im Anschluß an eine
attische Lokalsage über den Töpferdämon Prometheus, zum Menschen-
schöpfer geworden ist. Als solchen kennen wir ihn aus zahlreichen späteren
bildlichen Darstellungen. So scheint sich der Ursinn der Sage von selbst zu
verstehen. Doch sagen wir vorsichtiger: Was wir als diesen Ursinn bezeich-
nen, stellt eine letzte Gemeinsamkeit im Ganzen der schicksal vollen Ge-
schichte dieses Mythos und seiner Deutung dar. Dieser Geschichte wenden
wir uns nunmehr zu.
Unsere älteste überlieferung über Prometheus ist die Darstellung des
152 Prometheus und die Tragödie der Kultur
Wenn wir sie jetzt näher ins Auge fassen, soll uns die bekannte Außerung
des Herodot, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter erzeugt,
den Blick schärfen. Es scheint mir kein Zweifel über den religionsge-
schichtlichen Ort, an dem Hesiod steht. Seine mythische Genealogie der
Göttergeschlechter ist wirklich, wie die Herodot-Stelle sagen will, eine
große Ordnungstat, die aus der lokalen Vielfalt kultischer Überlieferung
herausführt und eine gesamthellenische Theologie bietet. Dieser Vorgang
theologischer Systembildung ist gleichbedeutend mit dem Aufsteigen der
Zeusreligion, deren Sieg das Bild der olympischen Welt vollendet. Es
scheint mir nun offenkundig, daß diese Absicht, die wir aus Homer und
Hesiod sonst kennen, auch auf die Prometheus-Erzählung eingewirkt hat.
Ursprünglich nämlich war Zeus bei dem Opferbetrug von Mekone wirk-
lich der Betrogene und wählte falsch. Dann (554ff.) ergrimmte er schreck-
lich, "als er die Knochen, die weißen des Stiers mit dem Truge gesehen«.
Ursprünglich also war es ein ätiologischer Mythos, bestimmt, den fakti-
schen Gebrauch bei der Darbringung von Tieropfern mythisch zu begrün-
den. Auch verlangt der Fortgang der Geschichte, die Zeus' Rache enthielt,
offenbar, daß er der Betrogene war. So ist noch das Bild der Sache, das die
, Werke und Tage( (Vers 49) voraussetzen. In der ,Theogonie< dagegen
deutet Hesiod den Mythos um und läßt Zeus den Betrug durchschauen.
Das Motiv hierfür is~ sichtlich, die Überlegenheit des Zeus zu steigern,
seine Weisheit über allen Wettbewerb hinaus zu erhöhen. Das ist dem
Dichter so wichtig, daß er dafür in Kauf nimmt, das wissentliche Zulassen
des Opferbetruges nun nur schlecht begründen zu können, durch böse
Gesinnung des Zeus gegen die Menschen. Der zweite Betrug dagegen, das
Gelingen des Feuerdiebstahls, hat offenbar in den Augen des Dichters für
Zeus nichts Herabsetzendes. Solches Getäuschtwerden durch heimlichen
Frevel mindert nicht die göttliche Größe. Nur in List und Betrug, als
Partner in einem Handel übertroffen zu werden, in einem Rechtshandel
betrogen zu werden, nur das schien dem Dichter mit der Größe des Zeus
unvereinbar. (Man muß sich von dem christlichen Begriff der Allwissen-
heit freimachen, wenn man die Geschichte verstehen will.) Die dargestellte
Umformung der ursprünglichen Geschichte hat also einen theologischen
Hintergrund.
Aber auch die Schilderung in den ,Werken und Tagen< verrät (durch ihr
Ungeschick) bewußte Umdichtung anderer Überlieferung. Die Pandora-
Geschichte wird mit dem Prometheus-Mythos verbunden. Aber die Einar-
beitung ist nicht fugenlos. Der doppelte Betrug des Prometheus hat ein
doppeltes Gegenhandeln des Zeus zur Folge, erst die Feuerverweigerung,
die den Opferbetrug zunichtt: macht, dann die Schaffung des Weibes, das
durch seine Verschwendungssucht allen Gewinn aus dem Feuerbesitz für
die Menschen zunichte macht. Eine schöne Steigerung, deren Pointe darin
154 Prometheu5 und die Tragödie der Kulrur
liegt, daß dieses Übel, das Weib, die endgültige Plage des Menschen ist,
gegen die es keine Abhilfe gibt, weil gar keine gesucht wird, im Gegenteil
ein jeder sich freut, »sein eigenes Verderben umarmend«. Von da an ist den
Menschen nicht mehr zu helfen. Dieser klare Aufbau wird nun unklar durch
die Einknüpfung des Pandora-Motivs. Die Pandora-Geschichte selbst
scheint dabei grundlegend verändert worden zu sein. Ursprünglich nämlich
muß es so gewesen sein, daß in dem Faß lauter gute Gaben waren. Der
Mensch (nach Babrius 58) läßt sie aus Neugier entweichen - bis auf die
Hoffnung, die als einziges Gut in diesem beraubten Leben den Menschen
bleibt. Man darf als sicher annehmen, daß diese Fabelüberlieferung auf den
Pandora-Mythos zurückgeht, derart, daß Pandora ihrem Gatten Epime-
theus als einzige Mitgift, die sie nicht verschwendet, die Hoffnung beläßt.
die Mitgift derer, die nicht vorzusorgen wissen (die nicht np01',''llJeif; sind).
Ein schöner Sinn, mannigfach zu früher überlieferung passend, daß die
Hoffnung der einzig sichere Besitz des Menschen ist. Theognis (1135ff.)
bedeutet eine Bestätigung dieser Überlieferung. Hesiod dagegen macht aus
dem Faß ein Faß mit Übeln. Offenbar. um in die alte Sagenform hineinzu-
nehmen, daß das Weib den Menschen eine Fülle von übeln bringt. Auch
machte der Zusammenhang seiner Geschichte die Ausstattung der Pandora
mit Übeln nötig, denn sie wirdja zur Strafe. zur Vereitelung der Menschen-
freundlichkeit des Prometheus, entsendet. Nun wird aber dadurch der Sinn
der Geschichte selber dunkel. Was bedeutet es jetzt, daß die Hoffnung im
Faß zurückbleibt? Der Zusammenhang fordert, daß sie hier als ein übel
gesehen ist. Diese Einschätzung der Hoffnung paßt auch sonst gut zu
Hesiod. Der Landmann solle lieber vorsorgen als auf nichtige Hoffnungen
bauen (>Werke und Tage( 496ff.). In den Augen des bäuerlich denkenden
Dichters mag also wirklich das Zurückbleiben der Hoffnung im Faß eine Art
Milderung des Unheils sein. Wenigstens werden die Männer von der Hoff-
nung unverführt bleiben und in der bitteren Mühsal ihres entstellten Lebens
nicht in Untätigkeit versinken. So mag Hesiod gedacht haben, mit dieser
äußeren Bitterkeit, die noch im hoffnungslosen Hintragen des Lebens etwas
Besseres sieht als in der Eitelkeit des Hoffens. Und wenn er selbst nicht so
gedacht haben sollte, sondern die Folgen seiner Umformung der überliefe-
rung nicht übersah, so hat er doch den Denkenden diesen Sinn gezeigt. Eins
aber ist sicher - warum und in welcher Richtung Hesiod den Prometheus-
Mythos umgedichtet hat. Der mit Zeus an Klugheit wetteifernde Titan, der
den Menschen Gutes bringt, wenn er selbst auch dafür büßen muß, wird
zum immer und völlig Unterlegenen, der die bösen Pläne des Zeus mit den
Menschen ohnmächtig fördert. So tritt die Kulturtat des Prometheus, die
Bedeutung des Feuerdiebstahls für die Geschichte der menschlichen Zivili-
sation, gar nicht heraus. Dem Unheil, das Prometheus wie die Menschen
trifft, fehlt damit die Sinnschärfe des tragischen Widerspruchs.
Prometheus und die Tragödie der Kultur 155
Hier aber setzt der Tiefsinn des Prometheus-Dramas ein, das unter dem
Namen des Aischylos auf uns gekommen ist. Die Deutung, die hier dem
alten Mythos gegeben wird, zeugt zwar von einem neuen. zum Denken
entschlossenen Geiste. Dennoch ist es wohl gerade der alte Geist des My-
thos, der in dieser neuen Deutung zu reden beginnt. Ja, fast scheint es, als
hätte Aischylos genau dort weiter und in die Tiefe des alten Mythos zu-
rückgedacht, wo Hesiod anhielt. Er hat die Prometheusgestalt ins Licht der
Tragödie der Kultur gestellt, indem er mit Bewußtheit ausdeutete, was der
Feuerdiebstahl der Sage für die Menschen bedeutete: den Beginn eines ins
U na bsehbare hinausstrebenden menschlichen Schaffens.
Das Prometheus-Drama nimmt innerhalb der attischen Tragödie eine
Sondc:rste1lung ein - es ist als einziges ein reines Götterdrama. Sein religiö-
ser Sinn ist nicht ohne weiteres klar. Die einfache Handlung versetzt uns in
die Zeit nach dem Frevel des Prometheus und beginnt mit seiner An-
schmiedung an den Fels im fernen Kaukasus. Sie empfängt ihre dramati-
sche Spannung daraus, daß der gefesselte Prometheus im Besitz eines Ge-
heimnisses ist. Er weiß von seiner Mutter, daß Zeus. wenn er sich mit der
Meernymphe Thetis vermählt, einen Sohn zeugen wird, der ihn einstmals
vom Weltenthrone stürzen soll. Zeus sucht ihm dieses Geheimnis auf alle
Weise zu entwinden. Auch seine eigenen Freunde, Okeanos und die Meer-
mädchen, reden ihm zu. Aber er verharrt in unbeugsamem Trotz; im
Angesicht der entsetzlichsten Leiden genießt er das triumphierende Be-
wußtsein, daß sein Gegner den Sturz erleiden wird. Das Drama schließt
damit, daß der ergrimmte Zeus den trotzigen Titanen mit seinem Blitz in
den Abgrund hinabschmc;ttert.
Auch wenn man alle Nachrichten über ein anderes Prometheus-Drama
des Aischylos beiseite läßt. wonach nach langem Zeitraum die Erlösung
des unter gesteigerten Qualen Gefesselten durch Herakles und seine Ver-
söhnung mit Zeus behandelt worden sei, ist es evident, daß der IGefesselte
Prometheus1, den wir kennen, nicht das letzte Wort des Dichters gewesen
sein kann. Es mußte auf die schließliche Versöhnung von,Zeus und Prome-
theus hinauslaufen, denn die Herrschaft des Zeus ist ja am Ende doch ewig
und ungefährdet - nach der geltenden griechischen ReligioJll -, und der
Titan ist mit ihm versöhnt. Diese religiös-verbindliche mythische Tatsache
gilt ohne allen Zweifel auch für den Dichter des IGefesselten Prometheusl.
Mit seinem Drama greift er nur in die Vorgeschichte dieses sanktionierten
Zustandes der Zeusre1igion zurück, in eine Zeit. zu der der· neue Himme1s-
herrscher und der Titan einander noch mit unversöhnlicher Härte gegen-
überstehen.
Der Dichter hat den Titanen mit einem glühenden Rechtsbewußtsein
ausgestattet. Prometheus hat danach im großen Kampf der Götter und
Titanen die Partei des Zeus ergriffen und ihm Rat und Dienst geleistet. Als
156 Promcrheus und die Tragödie der Kultur
aber Zeus das Menschengeschlecht vernichten will, stellt sich ihm Prome-
theus entgegen und leidet nun für seine Menschenliebe die grausame Strafe
des Götterkönigs, der alle Pflicht der Dankbarkeit verleugnet. Er selbst
freilich ist nicht minder maßlosen Wesens als sein Widersacher. Hermes hat
offenbar recht, wenn er sagt: »Nicht auszuhalten wär' es, wenn du glück-
lich wärst« (979). Sosehr der Dichter die Großartigkeit seines unbeugsa-
men Trotzes in dem Drama zur Wirkung bringt, Prometheus wie sein
Gegner werden beide Maß und Weisheit lernen müssen. Erst dadurch, daß
sie beide von ihrer Härte gegeneinander lassen, begründet sich die dauern-
de Ordnung der olympischen Religion. Das muß der ergänzende Gedanke
gewesen sein, mit dem das griechische Theater das Spiel vom Trotz des
Titanen aufnahm. überdies ist es ein echt Aischyleischer Gedanke - man
erinnere sich der Aufnahme der Eumeniden in die olympische Ordnung,
die der Orestie ihren religiösen Abschluß gibt.
In diese Geschichte vom Zwist der Götter ist nun bei Aischylos das
Schicksal der Menschheit in einer neuen und tiefsinnigen Weise verfloch-
ten. Prometheus ist der Menschenfreund, Zeus dagegen, der von seinem
Siege trunkene neue Himmelsherrscher, »nahm auf die armen Sterblichen
gar keine Rücksicht, sondern wollte ihr ganzes Geschlecht vernichten und
ein neues schaffen« (Aisch. Prom. 231-33). Prometheus rettet die Men-
schen - das ist sein Frevel (if'JUlpret; 260), für den er leidet -, und wenn er
sich am Ende mit Zeus versöhnt hat, so bedeutet diese Versöhnung zu-
gleich die Versöhnung des Zeus mit dem menschlichen Geschlecht. Was
das aber besagt, wird erst offenbar. wenn man bedenkt. wie Prometheus
von den Menschen das Verderben abgewendet und wie er das Leben der
Menschen verändert hat.
Er sagt es selbst (248): Er machte dem ein Ende. daß die Menschen
ihren Tod vorhersahen, indem er »eitle Hoffnungen ihnen eingab« - und
außerdem ihnen das Feuer und damit die ganze folgenreiche Fähigkeit zur
Erlernung der ITechnai(, die Fähigkeit zur Kultur, verlieh. Wenn dies die
Rettung der Menschheit vor dem völligen Verderben sein soll. muß diese
Tat des Prometheus bedeuten. daß er den Menschen die Fähigkeit zur
Selbsthilfe. gab. Das aber ist ein Vorrecht der Götter. das er damit den
Eintagswesqn (den bpr"p.epoz) freventlich verschaffte (945ff.). Die Kultur
selbst also ist ein Frevel gegen die Götter. Nun ist es offenbar des Aischy-
los eigentliche Meinung. daß nicht so sehr der Besitz des Feuers als dessen
geistige Voraussetzung für die Kultur das Entscheidende ist: die Hoff-
nung. Sie ist zwar an sich trügerisch, denn sie läßt immer Zukunft sein.
die doch eines Tages nicht mehr ist. Insofern möchte sie ein übel schei-
nen, wie Hesiod meinte. Aber Aischylos sieht tiefer: Sie ist nicht der
Gegensatz zum prometheischen Selbstvertrauen des nicht hoffenden. son-
dern voraussorgenden Menschen, vielmehr dessen Ermöglichung. Nur weil
Prometheus und die Tragödie der Kultur 157
ein jeder ständig hoffend Zukunft hat, hat das Menschengeschlecht als
Ganzes seinen Bestand, auch wenn der einzelne stirbt. )Kultur( gibt es nur,
wo der einzelne Mensch nicht nur sein Leben fristet, sondern für alle schafft,
was dem einzelnen vielleicht heute noch zu genießen versagt wird. In ihrem
Wesen liegt ein tragischer Widerspruch - die ständige Selbsttäuschung aller
und doch im ganzen Wahrheit zu sein, ein Wissen für alle zu sein und doch
für den einzelnen nicht.
Das ist der geistige Hintergrund der Feuertechnik, die die menschliche
Kultur trägt. Aischylos tut ein Außerstes, diesen geistigen Sinn der Kultur-
tat des Prometheus einzuschärfen. Prometheus selbst nämlich schildert in
längerer Rede sein Verdienst um die Wendung der menschlichen Leiden
(442ff.): »Sie sahen und sahen doch nicht, hörten und hörten doch nicht,
s,ondern wie Traumwesen ließen sie ihr ganzes langes Leben alles durchein-
andergehen« (448-50), lebten schutzlos in Höhlen usw. Er aber gab ihnen-
und nun folgt eine Liste menschlicher Künste, von der Sternkunde bis zur
Seefahrt, von der Heilkunde bis zur Vogelschau und zum Bergbau, »kurz,
hör es alles in einem Wort«:
Alle Künste stammen dem Menschen von Prometheus. (505-506)
Damit hat Aischylos auf den einen Urfreund der Menschheit alles zusam-
mengehäuft, was mythisches und profanes Kulturbewußtsein der Griechen
den verschiedensten Erfindern, Hephaistos und Palamedes und wie sie alle
heißen, zuschrieb. Und was das Wichtigste ist: Die eigentlichen Feuerkün-
ste, Bergbau und Schmiedekunst, treten in dieser Selbstrühmung ganz in
den Hintergrund. Das ist die bewußte Wendung, die der Dichter hier der
überlieferung gibt.
Allen Künsten der Kultur aber ist gemeinsam, daß sie zwar insgesamt die
Herrschaft des Menschen über die Erde bedeuten, aber das Los der Sterb-
lichkeit nicht aufheben können. Auch Sophokles. in dem großen Chorlied
der )Antigone(, das die furchtbare Herrlichkeit des Menschen besingt, weiß
um die Unaufhebbarkeit dieser Schranke, die nicht am Ende des menschli-
chen Kulturstrebens aufgerichtet steht, sondern eines jeden einzelnen
furchtbarer Anfang und Antrieb ist. Eben dieser tragische Widerspruch im
Herzen der menschlichen Kultur aber ist es, der sich im Schicksal des
Menschenfreundes Prometheus spiegelt. Er ist der Arzt, der sich nicht
selber zu helfen weiß, der heroische Verschwender seines Geistes und der
unbeugsame Frevler. In ihm schaut sich die Menschheit selbst an, für die er
leidet. Er ist der tragische Held der Kultur, in der die Menschheit sich will,
indem sie sich opfert. In der tragischen Vermessenheit, in der er der
Menschheit Selbsthilfe gab, hat sich die Menschheit ständig selbst vermes-
sen. Der Stolz des menschlichen Kulturwillens ist unmäßig und verzweifelt
zugleich. Kulturbewußtsein ist immer schon Kulturkritik. Das ist die
158 Prometheus und die Tragödie der Kultur
xus? Ist nicht gerade die prometheische Gabe der Vorausschau und Vorsor-
ge das Unheil der Kultur, weil ihre Anwendung halt- und ziellos ist?
So oder so, Lehrer oder Verführer, in beiden Formen der Bildung ist der
mythische Hintergrund der Prometheusgestalt geschwunden, und es be-
greift sich gut, daß nunmehr aus der Geschichte der Sage ein anderer Zug
heraustritt und die ganze Gestalt neu prägt: Prometheus wird zum Anthro-
poplasten, zum Bildner des Menschen. Das aber bedeutet: der Mensch ist
nicht mehr auf eine göttliche Ordnung bezogen, gegen die er freveln und
an der er scheitern kann, sondern sich selbst überantwortet und vom
Selbstbewußtsein seines Wissens und Könnens geprägt. Das ist die Form,
in der das spätere Altertum Prometheus und sich selbst gedacht hat, insbe-
sondere so, daß dem Prometheus die Hilfe der Minerva, d. h. des Geistes,
zuteil wurde. Prometheus und Minerva vereint seien die Urheber und
Schutzgötter des menschlichen Daseins. Dann aber, am Ausgang des Al-
tertums, erfaßte eine neue religiöse Erregung die Menschheit. In der gno-
stischen Form der Selbsterlösung der Seele von der Welt oder in der christ-
lichen Form des für die Menschheit leidenden Erlösers wird die Prome-
theusfigur gelegentlich zum Ansatz für die religiöse Selbstaussprache der
Zeit, aber sie erscheint in einer Verkleidung, in der die Figur des alten
Mythos unkenntlich wird, etwa in der Gestalt, daß Prometheus das wirkli-
che Ende der olympischen Herrschaft voraussah.
Es ist wie eine neue Geschichte, die mit der neuzeitlichen Wandlung des
Prometheussymbols beginnt. Sie schließt sich an die spätantike überliefe-
rung von Prometheus als dem Menschenschöpfer an, aber sie reflektiert
diese Überlieferung in dem neuen Selbstbewußtsein des sich aus den christ-
lichen Bindungen lösenden Geistes. Diese Geschichte mußte mit der Re-
naissance ihren Anfang nehmen - wirksam aber wurde sie zuerst bei Shaf-
tesbury und gewinnt ihre gültige Form in der berühmten Ode Goethes. In
dem Menschenbildner Prometheus erkennt sich nun die Menschheit in
ihrer eigenen bildnerischen Macht im Reiche der Kunst. Es ist der Mythos
des Genies, der allmächtigen Produktivität des Künstlertums, dieser spezi-
fisch moderne Mythos vom Menschen, der sich nun an das alte Symbol
anschließt. Der Künstler ist der wahre Mensch, weil er die Manifestation
seiner produktiven Kraft ist. Im Schöpferturn der künstlerischen Phantasie
ist eine Allmacht gelegen, die durch keine Bindung an Gegebenes einge-
schränkt ist. Der schöpferische Mensch ist ein wahrer Gott. Goethes Pro-
metheus-Ode hat in aufsehenmachender Weise die antichristlichen Folge-
rungen dieses künstlerischen Machtgefühls gezogen: "Dein nicht zu achten
wie ich« wird die Bestimmung des titanischen Menschen. In der Nachfolge
Goethes haben dann andere, vor allem Shelley und Byron, in eigenen
Prometheus-Dichtungen das ästhetische und ethische Selbstbewußtsein des
modemen Menschen gegen die christliche Überlieferung und die christli-
160 Promcchcus und die Tragödie der Kultur
menschlichen Kultur als ganzer gleiche Kräfte zuzutrauen. Indessen, was die
Kraft unseres Wollens übersteigt, bewegt sich vielleicht auf dem Wege des
Leidens zu seinem Ziel. Auch die Tragödie der modernen Kultur findet
vielleicht irgendwo, wohin wir nicht mehr reichen, ihre Versöhnung.
13. Der Gott des innersten Geflihls
(1961)
Daß das Theater mit den Göttern wie mit den Menschen sein eigenes. freies
und oft frivoles Spiel treibt, ist uns aus der Antike und aus mancher anderen
Kultur wohlbekannt. Es ist irgend etwas überzeugendes darin. daß eine
Religion der festen kultischen und rituellen Ordnung sich leisten kann, was
etwa die christliche Religion. die eine Religion der Heiligen Schrift ist und
Rechtgläubigkeit verlangt, ihren Gläubigen verbieten muß. Wenn innerhalb
der christlichen Kulturwelt ein antiker Komödienstoff, wie im Falle des
>Amphitryon< die Verwechslung von Göttern und Menschen. dichterisch
erneuert wird, etwa von Moliere, dann sind diese Götter bloße Masken. in
denen sich der menschliche Gegensatz zwischen den hohen Herren der
höfischen Welt und ihrer Dienerschaft verkleidet. Auch Kleists >Amphi-
tryon<, der ja eine bloße überarbeitung Molieres ist, scheint in diese Linie zu
gehören, wenngleich hohe dichterische Töne eine Art pantheistischer Gottes-
vorstellung anklingen lassen. Es ist daher kein Wunder, daß man die Kleist-
sche Umdichtung überhaupt nicht auf ihre religiöse Bedeutung hin zu
befragen pflegt und vielmehr den Tiefsinn und die Abgründigkeit, die das
Spiel als solches bei Kleist gewinnt. hervorkehrt. Aber ist das richtig? Ist es
auch nur genügend, um den Spielverlauf dieses Spieles wirklich zu vollzie-
hen? Wenn nach Thomas Mann, Max Kommerell. Peter Szondi. Arthur
Henkel das Kleistsche Spiel hier nochmals analysiert wird, so geschieht es um
dieser Frage willen. Man darf daran denken, daß der IAmphitryon< von den
Zeitgenossen, insbesondere von dem enthusiastischen Adam Müller und der
christlich-deutschen Tischgesellschaft, der Kleist angehörte. als ein Doku-
ment wahrer Religiosität und gereinigter Gottesvorstellung gefeiert worden
ist. Zwar wird man dem im einzelnen nicht folgen können, zum Beispiel nicht
der konkreten Ausdeutung der Alkmene-Gestalt auf die unbefleckte Emp-
fängnis Mariens hin. Aber die religiöse Stimmung der Berliner Romantik, in
der sich Kleists Leben bewegte, bekundet sich darin auf eine unbezweifelbare
Art. So sollte man sich fragen, ob sich die Kleistschen Aussagen ihrer
religiösen Verbindlichkeit nach etwa mit Hölderlinschen Gottesaussagen
durchaus messen können. Gewiß ist die religiöse Grundstimmung des Zeital-
ters bei Dichtern wie bei Denkern zu seltsam freien und kühnen Bildungen
Der Gott des innersten Gefiihls 163
gelangt. Aber wenn man, wie das Guardini mit Recht festgestellt hat, bereit
ist, Hölderlin )seine Götter zu glauben<, so scheint mir auch Kleists )Amphi-
tryon< von der Erfahrung der Transzendenz aus und nicht von ihrem Verlust
her zu verstehen zu sein. Sein Jupiter ist keine bloße Bildungsfigur des
humanistischen Bewußtseins wie der des Moliere, der ohne alle Metaphysik
und Transzendenz den Souverain des Dieux darstellt, welcher durch seinen
fürstlichen Rang über den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft steht.
Kleists Jupiter ist im Gegensatz dazu ohne jedes gesellschaftliche ProfIl. Die
Grenzen seiner Person gehen in einer unvergleichlichen Weise ständig in die
Allheit des Seins über. Er ist der Allumfassende, dernicht nur diese Person ist,
sondern alles Seiende. Injeder Gestalt der Natur und der Menschenwelt ist er
anwesend. Ist das einfach eine pantheistische Häresie, wie sie auch sonst als
eine A.uflösungsform der christlichen Kultur auftritt? Oder ist es eine mensch-
liche Erfahrung, welche Kleist hier in die Dimension der mythischen Realität
des Göttlichen hineinreichen läßt, und müssen wir auf das Spiel dieser
Verwechslung von Göttern und Menschen so hören. daß wir ihm dahin
folgen?
Fragen wir zunächst, welche Züge an dem Moliereschen Stück er beson-
ders hervorgehoben und wie er das Ganze umgezeichnet hat. Man darf dabei
von der Vorgeschichte des griechischen Mythos ganz absehen, die Kleist
sicher aufkeinerlei Weise unmittelbar berührt hat. Ja, man braucht auch nicht
einmal aufPlautus und die literarischen Vermittlungen zwischen Plautus und
Moliere zurückzugehen, die Kleist ebensowenig gekannt haben wird. Es ist
vielmehr die geistreiche Wendung, die Moliere der Fabel des alten Lustspiels
gibt, das Motiv der Verwechslung von menschlichem Gatten und göttlichem
Liebhaber, was Kleist gefesselt hat: daß die Unterscheidung von Gatte und
Geliebtem in der Passion der Liebe selber ein echtes Anliegen wird. Die
gesellschaftliche Institution der Ehe, der Pflichtenkreis, den sie umschreibt,
die Rechte, die sie dem Manne einräumt, all das scheint einem liebenden
Bewußtsein wie eine Verfremdung dessen, was in seinem leidenschaftlichen
Herzen lebt. Von da aus gibt Moliere der Fabel ihren Sinn. Der göttliche
Souverän, der sich als der beglückende Liebhaber fuhlen möchte, wird die
von ihm geliebte Frau zur unbedingten Anerkennung der Passion zu bewegen
suchen, das heißt aber, er muß die Täuschung, derer er sich bedient hat,
zerstören wollen. Die komische Verwicklung besteht nun bei Moliere darin,
daß der wirkliche Amphitryon erscheint und als der gekränkte Ehemann vor
aller Welt sein Recht geltend macht. Da bleibt dem Gott fatalerweise nichts
anderes übrig, als seinerseits die ihm zugefallene Rolle des Ehemanns weiter-
zuspielen. Er muß nachträglich den aufgetretenen Riß - als Amphitryon
selbst den nächtlichen Besuch bei seiner Gattin abgeleugnet hatte - als einen
schlechten Scherz bagatellisieren und die Verzeihung seiner Gattin dafur
erflehen. Diese Handlung ist nicht ohne objektive Komik, aber auch nicht
164 Der Gott des innersten Gcfiihls
ganz ohne Würde. An ihrem Ende steht die Theophanie, in der Jupiter der
ganzen Gesellschaft klarlegt, daß er der nächtliche Besucher war und daß eine
Teilung der Frau mit dem Souverän der Götter nichts Entehrendes habe,
zumal der Gott ja nur in der Gestalt des Gatten diese Liebe habe gewinnen
können. Es geht also bei Moliere um die Ehre des Amphitryon. Die Hauptfi-
gur des Stückes ist durchaus nicht Alkmene. An keinem Punkte der Handlung
wird Alkmene auch nur von einem Schatten des Verdachtes gestreift, es
könntejemand anderes als ihr Gatte bei ihr gewesen sein.
Kleists )Amphitryon( dagegen ist das Drama der Alkmene, der sich bald der
liebende Gott in der Gestalt des Gatten, bald der wirkliche Gatte naht, und
deren »unfehlbares Gefiihl« sich in diesen Verwechslungen zu verwirren
droht. Kleist führt das Molieresche Motiv, daß der Gott die Unterscheidung
von Gatte und Geliebtem betreibt, genau in der gleichen Weise ein (1/4), aber
es findet seinen eigentlichen Austrag nicht zwischen den streitenden Herren,
sondern in dem weiblichen Gemüte, dem die Unterscheidung von Gatte und
Geliebtem nicht fremd und dem doch die Einheit beider wesentlich ist:
Nicht, daß es mir entschlüpft
In dieser heitern Nacht, wie vor dem Gatten
Oft der Geliebte aus sich zeichnen kann;
Doch da die Götter eines und das andere
In dir mir einigten, verzeih ich diesem
Von Herzen gern, was der viel1eicht verbrach. (487ff.)
Die neue Erfindung, mit der Kleist von seiner Moliereschen Vorlage ab-
weicht, besteht darin, daß Alkmene selbst sich nicht täuschen läßt. Sie
entdeckt in dem ihr überreichten Gürtel den falschen Buchstaben und wird
nachträglich von den Doppelsinnigkeiten beunruhigt, mit denen der Gott ihr
seine Liebe schwur. Ihr »innerstes Gefiihl « freilich kann noch weiterhin in der
Erinnerung an die Liebesnachtnur zustimmen. Darin ist sie ihrer selbst sicher.
Wie meiner reinen Seele! Meiner Unschuld!
Du müßtest d~ die Regung mir mißdeuten,
Daß ich ihn schöner niemals fand als heut.
Ich hätte rur sein Bild ihn halten können,
Für sein Gemälde, sieh, von Künsderhand,
Dem Leben treu, ins Götdiche verzeichnet.
Er stand, ich weiß nicht, vor mir, wie im Traum,
Und ein unsägliches Geflihl. ergriff
Mich meines Glücks, wie ich es nie empfunden,
Als er mir strahlend, wie in Glorie, gestern
Der hohe Sieger von Pharissa nahte.
Er war's, Amphitryon, der Göttersohn!
Nur schien er selber einer schon mir der
Verherrlichten, ich hätt ihn fragen mögen,
Ob er mir aus den Sternen niederstiege. (1186ff.)
Der Gott des innersten Gefuhls 165
Gewiß, das ist das »Gesicht der Liebe«. Aber ist darin vielleicht eine zu
erlernende Wahrheit? Und geht es in der ganzen spannungsvollen Szene
zwischen Alkmene undJupiter am Ende um diese Wahrheit?
Hier setzt Kleists Eigenstes ein. Alkmene verliert angesichts der vertausch-
ten Buchstaben in dem Diadem ihre Sicherheit und glaubt sich betrogen. Die
große Vel'söhnungsszene zwischen Alkmene und Amphitryon-Jupiter, die
bei Moliere steht, wird zu einem Gespräch zwischen Alkmene und Jupiter,
das die ganze Spannweite des weiblichen Gemüts durchmißt. Die Szene
gehört zu den größten dichterischen Kostbarkeiten der Weltliteratur. Aber ob
der Sinn dieses Gespräches schon ganz erfaßt ist? Gewiß, es blitzt darin
beständig wie von Wahrheit. Aber daß es ein Gespräch ist, das zu einem Ziele
führt, und was dieses Ziel ist, scheint mir noch nicht erkannt. Wohl spürt
man, wie Jupiter hier das Gemüt Alkmenes beunruhigt und verwirrt und
schließlich befreit, und daß das von der opemhaften Versöhnungsszene
Molieres durch eine Welt, eine Welt voller Abgründe, geschieden ist. Der
Sinn dieser Szene wird aber, wie ich glaube, immer wieder ins Unklare
gebracht, wenn man in die Jupiter-Figur - in der Nachfolge Molieres - ein
dem Vorgang in Alkmene analoges Drama hineinliest und gar noch die Qual
des unerlösten Gottes mit Kleists selbstquälerischer Existenz ineins setzt. Ich
möchte statt solcher Vermenschlichung des Gottes die Hinflihrung des
Menschen zum Göttlichen, ein Zeugnis echter mythischer Erfahrung, in
dieser Szene sehen.
Gewiß ist es richtig, daß der Gott in seiner Göttlichkeit erkannt und
anerkannt sein möchte, und wenn Alkmene ebenso unbeirrbar den sterbli-
chen Gatten vorzuziehen versichert, sieht er sich um seine Selbstbegegnung in
der Liebe der Frau betrogen:
Verflucht der Wahn, der mich hierhergclockt! (1512)
Aber was ist das Bittere dieser Erkenntnis? Daß sich der Mann nicht als Mann
anerkannt sieht und von Eifersucht geq uäl t wird - oder daß er sich nicht als der
Gott bestätigt sieht? Warum begnügt sich Jupiter nicht damit, Alkmene
täuschend zu beruhigen? Warum verwirrt er sie auf quälerische Weise immer
neu? Der innere Sinn dieses Gesprächs scheint mir darin zu bestehen, daß der
Gott sich selber will, wenn er Alkmene lehren will, das untrügliche Gefühl,
das in ihr ist, nicht zu verleugnen, und daß sie, wenn sie an sich selbst zweifelt,
auch an der Göttlichkeit des Göttlichen zweifelt, und umgekehrt daß, wenn
sie zu ihrem eigenen Gefühl steht, sie den Gott in seiner wahren Göttlichkeit
sein und erscheinen läßt.
Gewiß wird man nicht vergessen dürfen, daß es eine Lustspielhandlung ist,
in der dieses Zwiegespräch zwischen dem weiblichen Herzen und dem GOtt
seinen Platz hat. Man wird die kontrastierenden Szenen der Diener nicht als
das einzig Lustspielhafte in diesem Spiele denken dürfen. Wenn Charis in dem
166 Der Gott des innersten Gefiihls
vor Wut blitzenden Augedes Sosias Apollo zu erkennen meint, so macht diese
Parodie die objektive und metaphysische Komik sichtbar, die überhaupt
zwischen der Endlichkeit des Menschlichen und der Unendlichkeit des
Göttlichen ihr Spiel treibt. Aberdie eigentliche Wahrheit, um die es in diesem
Verhältnis geht, hat einen fast tödlichen Ernst. In der heiteren Feierlichkeit der
abschließenden Theophanie kommt etwas heraus, was eine bleibende Wahr-
heit des menschlichen Herzens ist: daß die irdisch erscheinende und daher
tragisch zu nehmende Verwechslung die Verwechslung mit einem Gott und
daher keine Verwechslung war. Was bei Moliere in der Sphäre höfischer
Etikette die Auflösung bedeutet, das hat hier religiösen Ernst. Alkmenes
))Ach!«, mit dem das Stück schließt, läßt die auseinandergetriebenen Unter-
schiede des Menschlichen und des Göttlichen, des Gatten und des Geliebten,
in einer alles Endliche vollendenden Einheit mit Zustimmung zusammenge-
hen.
Der Weg zu dieser schließ lichen Auflösung ist alles andere als komisch.
Wenn in hoher Feierlichkeit der allseiende Gott aus Alkmenes Herzen das
Bewußtsein eines Frevels zu verbannen sucht:
Wer wäre außer mir, Geliebte? (1268)
vom liebenden Herzen der Frau in ein halb widerwillig geleistetes Ritual
abgedrängt wird. Es ist nicht ein quilerischer EinfallJ upiters. sondern es trifft
ihr Herz, wenn er ihr die Erscheinung des Gottes als Rache damr deutet. daß
sie über dem irdischen Geliebten den höchsten Gott selbst im Gebet vergessen
habe. Es trifft ihr Herz. aber nicht so, daß sie schon lernt. Alkmene nimm t die
Warnung vielmehr so an, daß sie sich in dem Wahne bestärkt mhlt, sie solle
den Gott und den Geliebten unterscheiden, und sie könne es auch:
Wohlan! Ich schwör's dir heilig zu! Ich weiß
Aufjede Miene, wie er ausgesehn,
Und werd' ihn nicht mit dir verwechseln. (1471 ff)
Und auf diese Worte Alkmenes hin beendet Jupiter in königlicher Sicherheit
das Gespräch:
Mein süßes angebetetes Geschöpf!
In dem so selig ich mich, selig preise!
So urgemliß dem göttlichen Gedanken,
In Form und Maß, und Sait' und Klang,
Wie's meiner Hand Aonen nicht entschlüpfte!
Alkrnene: Amphitryon
Jupiter: Seirufrig,rufrig,rulUg!
Es wird sich alles dir zum Siege lösen.
Es drängt den Gott Begier, sich dir zu zeigen,
Und ehe noch des Stemenheeres Reigen
Herauf durchs stille Nachtge6lde zieht,
Weiß deine Brust auch schon, wem sie erglüht. (1569ff.)
Man hat die Szene erst verstanden, wenn man hier den notwendigen Schluß
des gan2en Seelengespräches erkennt. Hier flillt nicht etwaJupiter aus seiner
Rolle, sondern hier ist er am Ende seiner Rolle. Hier hat er - endlich - den Sieg
errungen, um den es ihm geht, Gott zu sein. Jetzt endlich bekennt sich
Alkmene ganz und unbedingt zu ihrem »innersten Geftihk Sie will den
Unterschied nicht mehr festhalten, sie weiß sich dessen sicher, was ist. Nun
findet Jupiter sie ),urgemäß dem göttlichen Gedanken« - offenbar deshalb,
weil sie Amphitryon nicht mehr, weil er Amphitryon, das heißt ihr Gatte ist,
liebt, sondern weil sie den wählt, den sie liebt und als gegenwärtig in ihrem
Gefühle hält. Damit erfüllt sie das Maß des göttlichen Gedankens. Indem sie
nicht mehr zwischen dem Gatten und dem Geliebten unterscheidet, gibt sie
beiden, dem Gatten und dem Gotte, ihr Sein. Der Gott ist der Gott des
innersten Gefühls. Es ist nur konsequent, daß Alkmenes Verwirrung von nun
an behoben ist und nicht wiederkehrt. War es doch der Sinn der vorausgegan-
genen Versöhnungsszene, die ,theologische< Auszeichnung Alkmenes mit
der Gewißheit ihres innersten Gefiihls zu versöhnen. Der Gott ist nicht mehr
,der Andere<. Er ist es so wenig, daß Alkmene überhaupt nicht auf die Idee
Der Gott des innersten Gefiihls 169
kommt, der zu ihr Sprechende, den sie fiir ihren Gatten hält, sei der göttliche
Besucher. Selbst dann nicht kommt sie auf diese Idee, als er ihr sagt, ein
Sterblicher sei da, der behaupte, Amphitryon zu sein. Sie empfmdet nur aufs
neue die unauslöschliche Schmach, die ihr widerfahren ist:
Entsetzlicher! Ein Sterblicher, sagst du? (2167)
So sicher ist sie, in aller Verzweiflung, ihrer selbst und ihres Vertrauens zu
dem, der gegenwärtig ist, daß sie auch dann nicht wieder schwankend wird,
als ihr, wie sie an der Seite Jupiters unter das Volk tritt, dort der wahre
Amphitryon gegenübersteht. Sie zögert nicht, den wahren Gatten zu ver-
leugnen und zu verfluchen. Das ist kein Irrtum Alkmenes. Vielmehr ist sie
damit Z'.l der Gewißheit ihrer selbst zurückgekehrt, die, wie alle angefochtene
und wiedergewonnene Gewißheit, eine höhere Gewißheit ist, als sieje war.
Das ist auch der theologische Sinn der ans Pantheistische streifenden Theo-
phanie Jupiters: er preist sich in ihr selig. Das will heißen, die Göttlichkeit der
Liebe ist in ihr zur Erscheinung gekommen. Für den Gott bedeutet das die
Anerkennung seines eigenen göttlichen Seins. Mit der möglichen Unter-
scheidung in Gatte und Geliebten ist auch die mögliche Verwechslung des
Gatten mit dem Geliebten und mit dem Gotte hinfallig geworden.
Wenn auch das Drama des ,Amphitryon( das Drama der Alkmene ist, kurz
vor der letzten Offenbarung des Göttlichen, als sich Alkmene flir Jupiter-
Amphitryon, also ,falsch( entscheidet, streift Amphitryon die gleiche Wahr-
heit, zu der Alkmene sich geläutert hat: Mit der größten Emphase bekennt er
sich zu dem »unerschütterlich erfaßten Glauben«, daß der andere »Amphi-
tryon ihrist«. Im Drama zwischen Am phitryon undJ upiter ist dies der gleiche
Höhepunkt, der im Drama zwischen Alkmene und Jupiter dort auftritt, wo
am Ende des langen, qualvollen Gespräches Jupiter ausruft:
Mein süßes, angebetetes Geschöpf!
In dem so selig ich mich, selig preise! (1569{.)
Deshalb macht Jupiter nun der Verwirrung ein Ende und erklärt vor allem
Volk:
Wohlan! Du bist Amphitryon. (2291)
undJupiter antwortet:
Amphitryon. Ich glaubte, daß du's wüßtest. (2293)
170 Der Gott des innersten GcfUhls
so ist das nicht eine Steigerung komischer Kontraste allein, sondern spiegelt
die Aufhebung aller partikularen Icherfahrung, die sich im Anhauch des
Göttlichen ergibt.
Amphitryon! Du Tor! Du zweifelst noch?
Argatiphontidas und Photidas,
Die Kadmusburg und Griechenland,
Das Licht, der Äther, und das Flüssige,
Das was da war, was ist, und was sein wird. (2296ff.)
Der Triumph des Gottes und des Gatten ist einer, weil der Sterbliche und der
Göttliche, der Gatte und der Geliebte im zustimmenden Herzen der Frau einer
sind. Die Komödie der Verwechslung hat sich aufgelöst. Das Sein des einen ist
das Sein des anderen, nicht nur sofern Jupiter das All des Seienden und damit
auch Amphitryon ist, sondern weil auch umgekehrt Amphitryon nicht nur
dieser durch die Bürger von Theben bestätigte »hohe Sieger von Pharissa«
und der königliche Gatte Alkmenes ist, sondern der einzige, der rur Alkmene
existiert, der Geliebte.
Dürfte nicht auch Kleist, wie Hölderlin, sagen:
Und es waltet ein Gott in uns?
14. Vergänglichkeit
(1991)
um den Tod und Widerstand gegen den Tod, den Menschen überhaupt zum
Menschen gemacht hat. Am Ende ist auch die geheimnisvolle Macht der
Sprache ein Zeugnis für diesen rätselhaften Zusammenhang. Denn was ist die
Sprache anderes als das Stiften von Gedächtnis und das Vorstellig- und Sich-
gegenwärtig-Machen von Nichtseiendem? »Wenn auch abwesend, im Geiste
fest gegenwärtig« - so steht es im Lehrgedicht des Parmenides.
Das liegt im Dunkel der Vorzeit verborgen. Aber es bleibt zu spüren - in all
dem, was mit dem Grab verbunden ist. Von den Votivgaben bis zur Denk-
malskunst reicht eine lange Seelengeschichte. Was hat sie uns zu sagen?
Der griechische Tragödiendichter Aischylos hat den attischen Töpfergott
Prometheus mit dem alten Mythos vOn Prometheus verbunden, der das Feuer
vom Himmel gestohlen und den Menschen gebracht hat. Prometheus war in
der alten Sage wohl einer der Titanen, der, selbst ein Unsterblicher, den
WiderstandgegenZeus, den Herrscher auf dem Olymp, gewagt hat. Sohater
durch den Feuerdiebstahl gegen Zeus den Menschen eine Art Gegenwelt mit
eigener Souveränität ermöglichtl. Aischylos' Drama nun zeigt, daß dieser
Prometheus als der gute Geist aller menschlichen Kunstfertigkeit gelten darf.
Der Name des Titanen, Prometheus (= der Voraus-Seher), sagt, daß ihm der
Ausblick in die allen anderen verhüllte Zukunft gegeben ist. Prometheus hat
seine Unbotmäßigkeit gegen Zeus mrchterlich zu büßen. An den Kaukasus
geschmiedet, kommt täglich der Adler, um seine Leber zu zerhacken. Eine
schauerliche!, grausame Sage, die zeigt, wie der Kampfzwischen Unsterbli-
chen aussieht. Zugleich aber ist Prometheus ein Sinnbild unbeugsamen
Trotzes, der in ihm verkörpert ist. Sein Vergehen gegen Zeus ist zugleich der
Aufbau der ganzen menschlichen Welt, wie sich Prometheus selber rühmt.
Aischylos hat den Zusammenhang tiefsinnig gedeutet. Prometheus hat den
Menschen das Wissen um ihre Todesstunde genommen. Ihr Wissen um den
Tod ist ihnen aber geblieben. Sie wissen, daß sie einmal sterben müssen.
Damit ist das Wissen um den Tod zum Wissen einer verhüllten Zukunft
geworden und eben damit zur unbegrenzten Öffnung für Mögliches. Es ist
eine Gabe von Lebensgewißheit und Zukunft zugleich. Früher hätten die
Menschen, ihre Todesstunde kennend, in Höhlen gelebt und träge und
traurig dahingedämmert. Mit der Gabe des Feuers ist dem Menschen Kunst-
fertigkeit und damit alle Kulturfähigkeit durch Prometheus zuteil geworden.
Das ist die eigentliche Gabe des Prometheus: Der Voraussehende schenkt die
Verhüllung der Zukunft. So wurde in den Menschen Lebenskraft, Erfin-
dungsgabe und Gestaltungsfreude geweckt. All das liegt in der unbeugsamen
Lebensgewißheit der Menschen, die im Todeskampfihre einzige Niederlage
hinnehmen muß. Sie hat in dem unbeugsamen Trotz des Prometheus ihr
wahres Vorbild.
1 Siehe dazu ,Prometheus und die Tragödie der Kultur,. in diesem Band. S. 150f(.
Vergänglichkeit 173
Der Weg der Menschheit zur Kultur ist gewiß ein vielfacher gewesen.
Was sich hier in der griechischen Mythologie spiegelt, ist nur einer dieser
Wege, aber einer, der das gesamte Abendland dauerhaft geprägt hat. Es ist
die logische Energie der Griechen, die sich in ihrer mathematischen und
dialektischen Begabung entfaltet und so dominierend wird, daß sie die
Vergänglichkeit alles Seienden kaum je ins Bewußtsein treten lassen. Einer
der größten Denker der griechischen Frühzeit, Parmenides, hat alles Werden
und alles Vergehen als ein verirrtes Denken des Nichts abgewiesen. Ebenso
hat die älteste griechische Aufklärung in Milet die Ausgleichsordnung, die
die Natur beherrscht, von allem zufälligen und willkürlichen Handeln höhe-
rer Mächte abgelöst. Und selbst bei Parmenides fmdet sich nur ein einziges
Mal ein fast ungewollter Hinweis auf das Nichts, wenn er von dem Verge-
hen der leuchtenden Farbe spricht, das er, wie alles Anderswerden. als
Verirrung verwirft.
Nun waren gewiß die Wege der Menschheit zur Kultur sehr verschiedene.
Aber daß ihnen allen, wie dem griechischen Wege mit dem Wissen um den
Tod, die Bangnis der Vergänglichkeit zugrunde lag und daß alle ihre Ant-
worten, von Mythos und Sage, Antworten auf diese Bangnis darstellen, ist
ihnen wohl allen gemeinsam. Auch die Griechen wußten. wie Pindar es
singt: »Der Traum eines Schattens ist der Mensch. « Als die griechischen
Städte ihre eigene Lebensform fanden und über manche Wirrnisse hinweg
am Ende so etwas wie die Selbstverwaltung im Stile der griechischen Demo-
kratie geschaffen haben. war das eine sorgsame Sicherung des Gleichge-
wichts aller Kräfte. - Dies wurde der Boden. auf dem sich auch die logischen
Gaben der Griechen bis zur Redekunst und zur Streitkunst. zur Logik und
zur Dialektik. hinentwickeln durften. Das hat das Schrittgesetz der europäi-
schen Kultur bis zum heutigen Tage bestimmt - eine erste Vorbereitung der
Aufklärungsbewegung, die dann die beginnende Neuzeit und die heutige
Weltkultur geprägt hat.
Gleichzeitig blühte aber in Griechenland die Kunst, die griechische Tragö-
die, die griechische Plastik und die griechische Philosophie, in deren Schöp-
fungen der Zusammenklang von Mythos und Logos einen einzigartigen
Höhepunkt erreicht, der die gesamte Bildungsgeschichte Europas be-
stimmt. So ergreift uns noch heute wie gegenwärtig der Seelenton von
Abschied und Trauer, der uns von den aus platonischer Zeit stammenden
Grabreliefs erreicht. Sie beginnen mehr und mehr die kultische Form der
Votivgaben zu überstrahlen. Diese Grabreliefs tauchen in den verschieden-
sten Gauen Griechenlands aus der Erde auf und machen im Bildwerk die
Vergänglichkeit auf ergreifende Weise sichtbar. Der wachsende Reichtum
dieser Funde bezeugt, wie der leise und zarte Klagelaut uns alle rührt.
Sicheriich spricht daraus Gesinnung und Haltung der Oberschicht der da-
maligen Gesellschaft. Es ist aber vielsagend, daß diese Grabdenkmäler im
174 Vergänglichkeit
So war es für das christliche Weltalter, das die überwindung der Welt
lehrte, nicht so leicht, den großen Bewahrer allen Gedächtnisses in sich
aufzunehmen, und das ist die Kunst. Erst in solchem Gedächtnis kann aber
die Bangnis der Vergänglichkeit und ihre Annahme zur Sprache werden.
So folgen wir dieser Sprachwerdung, die sich im Bild wie im dichteri-
schen Wort vollzog. Die christliche Kirche hatte einen zweimaligen Bilder-
streit zu überstehen. Einmal wirkte das alttestamentliche Bilderverbot nach.
Die Bildkunst konnte insbesondere ein wirkliches Bild des Schöpfergottes
überhaupt nur in Wolken gehüllt wagen. Auch das Symbol des Kreuzes
zeigte in der frühen Christenheit noch nicht den Leib des Gekreuzigten.
Ebenso ist die Mutter Gottes und das Jesuskind erst langsam als Kultfigur in
die christliche Kirche eingedrungen. Selbst dann noch hat die Bildform
etwas von dem Wortcharakter der biblischen Verkündigung festgehalten,
wenn die Heiligenlegende das Bildbedürfuis der >Armenl befriedigte und
wenn die Madonna, von Heiligengestalten umgeben, das wortlose Gespräch
mit ihnen führt, das man die )santa conversazionel genannt hat.
Eine zweite Epoche der Bildfeindlichkeit stellte dann die Reformation
dar, die ja auf das Wort der Bibel erneut zurückging, die Kirchen von der
Heiligenpracht reinigte und das Wort der Predigt in den Vordergrund des
Gottesdienstes stellte. So blieben auflange hin auch Bilder, die wir Kunst-
werke nennen, im Grunde Kultbilder.
Erst langsam dringt dann Weltliches in die Bildwelt ein, ohne den Hauch
von Heiligkeit zu verströmen, insbesondere, nachdem mit der Reformation
Erfolg im Erwerbsleben, wie Max Weber gezeigt hat, als gutes Zeichen für
alle Sündenvergebung galt. Aber gerade damit wird die Welt als Welt in
ihrer Vergänglichkeit zum Gegenstand, sie ruht nicht länger in ihrer korpo-
rellen Schönheit und ihrer Glaubensverheißung, sondern das ist der Augen-
blick, in dem die Vergänglichkeit des Irdischen unter dem Stichwort der
Vanitas die Grundstimmung bildet: »All~ ist eitek Die neue Innerlichkeit
nachreformatorischer Frömmigkeit flihrte zu weltlichen Verewigungen hi-
storischer Ereignisse oder repräsentativer Herrscherpersönlichkeiten und
schließlich in dem individuellen Porträt dazu, daß das Kunstwerk feSthält,
was von der Vergänglichkeit bedroht ist.
Deutlicher spricht sich das im Aufkommen des Stillebens, der nature morte
aus. Hier ist die Vergänglichkeit selber zum Thema geworden. Die Pracht
der irdischen Dinge, die eine sinnenfreudige Weltlichkeit zu genießen be-
ginnt, hat ihre unheimliche Seite. Da sind die reichen Tafeln, die mit
erlegtem Wildbret oder mit geangelten Fischen bedeckt sind und schließlich
mit einem Überreichtum der Früchte der Erde. Man sieht den Dingen nicht
leicht an, daß sie die Vergänglichkeit dieser Welt zum Ausdruck bringen - so
groß ist die Pracht dieser Welt. Und doch, die Jagdbeute, die an der Wand
hllngt, ein Hase oder ein Pasan, der geangelte Fisch, dessen tote Augen einen
Vergänglichkeit 177
vom Tisch aus anglotzen, die Fruchte und die Blumen, all das sind sinnliche
Gewißheiten und doch auch Mahnmale der Vergänglichkeit. Die Orangen-
schale, die sich halbgeschält herabringelt, die Nußschale, die tropfende
Kerze, die halb heruntergebrannt ist, die flüchtigsten Lebewesen, Schmet-
terlinge, Insekten, Würmer - und dem Blindesten wird es deutlich, wenn
auch ein Totenschädel daneben liegt oder eine Inschrift lehrt: »Das sind die
allerschönsten Biom, die den Blick lenken nach oben. « Die alttestamentliche
Psalmenweisheit läßt uns sofort verstehen, daß Vanitas, Eitelkeit, für die
ganze sinnliche Welt gilt: Es ist eine Art glänzender Leere, ob wir das Wort
nun auf einen Menschen anwenden oder auf die Flüchtigkeit der Dinge, in
denen kein Bestand ist.
Wir stehen alle in der fortdauernden Auseinandersetzung zwischen der
christlichen Überlieferung und der sich ausbreitenden Aufklärung. Alle
Erkenntnis ist Abschied. Aber im Abschied reift auch Erkenntnis. Die
Seelengeschichte des Abendlandes ist davon beherrscht. Die Hinfälligkeit
alles Irdischen und die Vergeblichkeit aller hochfliegenden Pläne lehrt die
Erfahrung. Aber die ganze Natur wie die Menschenwelt, beide sind von
Zerstörung bedroht. Weltuntergangsängste gab es im christlichen Zeitalter
schon im Jahre 1000 und wieder um 1830. und überhaupt lebte man in der
Erwartung des Jüngsten Gerichts als des Endes dieser irdischen Welt. Das
spiegelt sich auch in dem dichterischen WiderscheIn. der zwischen Zeitlich-
keit und Ewigkeit wie ein zitterndes Licht hin und her weht. Etwas davon
hat jedes Werk der Kunst. dank der flüchtigen und geflihrdeten Vollkom-
menheit, die an allem Schönen haftet. Wie jeder Schaffende wird auch der
Kunstschaffende von heute immer wieder von der Vergänglichkeit aller
Dinge angerührt und gewinnt gerade daraus immer neuen Antrieb. der
Verzauberung durch die Kunst zu dienen. Zwischen der Vergänglichkeit der
Welt und der Erfüllung des Augenblicks verspricht die Kunst uns allen. daß
»in der zögernden Weile einiges Haltbare sei«. Auch die Oper. diese ehema-
lige Stätte gesellschaftlichen Paradierens, will an verborgene Emotionen
rühren.
Einige Zeugnisse aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts seien dem Leser
riahegebracht. Eine Novelle von Kleist, ,Das Erdbeben in Chili<, führt
Zerstörung, Hinflilligkeit und Verwüstung vor, und fürchterlicher noch als
die entfesselten Naturgewalten, die hier ihre Opfer forderten, ist der mörde-
rische Wahnsinn der verfolgungswütigen Menge, die das Liebespaar, das die
Natur verschont hatte, zerschmettert. Es ist ein kurzer Satz am Ende des
Unheils, dessen eherne Aussagekraft den erschütterten Leser aufrichtet:
überlebende nehmen ein elternlos gewordenes kleines Kind in die eigene
neue Familie auf. und das läßt an Aufbau selbst unter schrecklichsten Zerstö-
rungen glauben.
Andere Zeugnisse volksnaher Dichtung kommen einem in den Sinn. Der
178 Vergänglichkeic
Und wieder gegen Ende eines Jahrhunderts liest man bei dem westfali-
sehen Dichter Ernst Meister, der noch unser aller Zeitgenosse war3:
Die alte Sonne
rührt sich nicht
von der Stelle.
Wir
indem
dämmrigen Umschwung
leben
die Furcht oder
die schwere Freude.
Liebe-
Verlaß und
Verlassen,
von ihr
haben wir gewußt
auf dem Trabanten,
eh alles
vorbei.
3 Zur Interpretation dieses Gedichts vg!. .Gedicht und Gespräch<, in diesem Band,
S.345f.
15. Karl Immermanns >Chiliastische Sonette<!
(1949)
*
Er wird als Held nicht kommen, kriegumweht,
Dm kümmern weder Franken, weder Slaven,
Da nur fiirTröpfe westlich unsrer Strafen
Gefiillte Schale oder ösdich steht.
Er wird auch nicht erscheinen als Prophet.
Er macht sie nicht zu eines Wortes Sklaven.
Vorüber gehn, so ihn zuiallig trafen,
Er predigt nicht, er lehrt sie kein Gebet.
Er gibt den Augen nichts und nichts den Ohren,
Sein achten weder Reiche, weder Arme,
Ihm schallt ein Fluchen und ein Segnen nie.
Doch wie er Speise nimmt und schlummert, wie
Er selig atmet in des Weibes Arme,
Fühlt alle Welt entzückt sich neugeboren!
1 Immennanns >Chiliastische Sonette. wurden dem Verfasser 1933 durch PAUL FRIED-
LÄNDER bekannt, dem der Verfasser seine Ausbildung als klassischer Philologe verdankt.
Ihm war die vorliegende Studie gewidmet.
Karllmmermanns .Chiliastische Sonette< 181
*
Wenn auf des Königs Einzug harrt die Menge,
Und er zu lang' ausbleibt der Neubegier,
So treibet in den Gruppen da und hier
Zu manchem Possenspiel der Stunden Länge.
Dann springt ein Knabe wohl durch das Gedränge
Und ruft: • Ich bin's!. in nachgemachter Zier,
Die Krone auf dem Haupt von Goldpapier,
Und ihn begrüßen lachende Gesänge.
Dies Gleichnis setz' ich euch, daß niemand wähne,
Als ob mein Sehnen auf dem Flügelrosse
In niedre Dienste sich begeben habe.
Denn wo der Tand zu Hause, an der Seine,
Wirdjetzt gespielet meines Königs Posse,
Und Saint-Simon heißt der gezierte Knabe.
*
Wenn sich, mein Fürst, vor deiner Sohlen Spangen
Dereinst vom Weg empor ein Stäubchen stiehlt
Und jubelnd vor dir her im Lichte spielt,
So ist's der Staub des Menschen, der vergangen.
Und wenn zu deinen schönen Götterwangen
Sehnsüchtigwehend sich ein Lüftchen hielt.
So ist's mein Seufzer, der nach dir gezielt,
Eh' du erschienest, hinter Kerkerstangen.
Ich trug mich an der Zeitenjoche matt!
Nur das Gemeine lebt und ist beständig,
Im Handwerksschmutz verwaltet von den Zünft'gen.
182 Kar! Immermanns )Chiliastische Sonette.
ist, und daß dem Gotte wird überlassen bleiben müssen, sich in seiner
Erscheinung, wann und wie er will, offenbarend zu setzen.« Die >Chiliasti-
schen Sonette( sind unter solchen Anregungen im Herbst 1832 entstanden.
Es ist eine alte religiöse Vorstellungswelt, die hier über den modernen
Dichter Gewalt gewinnt. Chiliastische Erwartungen hängen mit dem Mit-
telpunkt der christlichen Lehre und der christlichen Frömmigkeit aufs engste
zusammen. Die Hoffnung auf die verheißene Wiederkehr des Herrn gibt ja
allem christlichen Glauben einen adventistischen Zug, und die Geschichte
des Christentums ist von Anfang an von Auseinandersetzungen mit einem
massiven Verständnis solcher Erwartungen durchflochten. Erweckungsbe-
wegungen, die die bevorstehende Wiederkehr Christi und die Begründung
des tausendjährigen Reiches verkünden, sind aber im besonderen in Immer-
manns Zeit und Umwelt zutage getreten. Vor allem der schwäbische Pietis-
mus des 18. Jahrhunderts hatte in der Exegese der Apokalypse solchen
eschatologischen Stimmungen ein theologisches Fundament geschaffen.
Der Prälat Bengel berechnete mit Scharfsinn aus den Zahlenangaben der
Apokalypse und den Beobachtungsdaten der astronomischen Wissenschaft
das nahe bevorstehende Kommen Christi auf das Jahr 1836, und die mächti-
gen Erschütterungen der Gesellschaftsordung und des staatlichen Gefiiges
Europas am Ausgang des 18. Jahrhunderts gaben solchen Erwartungen
weitere Nahrung. Denn der Wiederkunft des Herrn sollte ja die Herrschaft
des Antichrist vorhergehen, den man auf die Jakobiner oder Napoleon zu
deuten liebte. Insbesondere in den Immermanns Wirkungskreis benachbar-
ten Landschaften, im Bergischen Land, in Elberfeld, in Berleburg, lebte
auch in seinen Tagen ein solches chiliastisches Sektierertum fort. Der echte
religiöse Antrieb, den diese Erweckungsbewegungen aus der Erwartung der
Wiederkehr Christi gewannen, galt der Erneuerung der urchristlichen Le-
bensformen und ihrer caritativ-sozialen Impulse.
Indessen war es nicht nur die Vorstellungs welt abseitigen pietistischen
Sektierertums, die in Immermanns Phantasie Widerhall fand, als er die
Sonette schuf. »Der König, den ich meine« ist nicht der wiederkehrende
Herrscher der Apokalypse, sondern ein neuer weltlicher Heiland, der dem
allgemeinen Sehnen des Zeitalters nach einer neuen Ordnung der Dinge
Erftillung bringen soll. So motiviert sich vor allem das vierte der Sonette, in
welchem sich der Dichter gegen die Verwechslung mit dem damals in Paris
aufgetretenen Saint-Simonismus - die Lehren Saint-Simons lernte er in der
Darstellung von Carove kennen - ausdrücklich verwahrt. Der neue Hei-
land, der künftige Prophet, von dem er häufig redete, werde ein natürlicher
Mensch sein (Tagebucheintragung vom 13. 5. 1832). In der Tat, das Bild
dessen, der kommen wird, das die Sonette geben, ist das eines vollkommen
natürlichen Menschen, der eben durch die vollkommene Natürlichkeit, mit
der er sich darlebt, der Gründer einer neuen Zeit wird. Alle Vorstellungen
Karl Immermanns .Chiliastische Sonette< 185
von dem mystischen Kaiser, der die Gottesherrschaft auf Erden bringt, oder
dem prophetischen Verkünder einer neuen Heilsbotschaft fUhren in die Irre.
Die Gloriole seines Auftrags wird in nichts anderem bestehen als in der
überwältigenden Sicherheit, mit der er das Alltägliche lebt. Dies Bild eines
neuen Erlösers legt das Leiden der Gegenwart offen, wie es das dritte der
Sonette schildert: der verarmte Sinn der Menschen ist blind gegen »der
Ding' urmächt'ges Prangen«, sie sind unfähig zum Genuß. Speise, Schlaf
und Liebe, diese natürlichsten Akte des Menschseins, sind ihres heilen
Sinnes beraubt. Es ist der Zwiespalt zwischen der Weltlichkeit des Daseins
und seiner geistigen Sehnsucht, an dem die Menschheit leidet und von dem
sie erlöst wird durch den vollkommen natürlichen Menschen. »Nicht in
weltertötender Gestalt, sondern in weltverklärender Herrlichkeit« wird er
erscheinen. Die Zunft mit ihrem Handwerksschmutz, von der das letzte der
Sonette spricht, umfaßt ohne Zweifel auch die irdisch gewordene Kirche3 .
Die »Trocknis der Seelenkräfte«, mit der die neue maschinelle Produktions-
weise die Menschen bedroht, die Verdüsterung durch Schrift und Schule,
von der sich der Dichter zu dem »alten treuen Naturgeist rettet« - alle diese
Motive mußten den Dichter mancherlei Verwandtes in den Ideen des Saint-
Simonismus empfmden lassen. Schon das Motto, das Carove seiner ausge-
zeichneten, an Hege! geschulten Darstellung derselben vorausschickt, hat
ihn offenkundig berührt und klingt in seinen Sonetten an: »Unsere ganze
Zeit gleicht einem großen Haufen, der vor einer Kirche versammiet ist. ehe
der Gottesdienst begann, - es ist noch keine Andacht in ihm; Alle werden
aber bald von einem anderen Geist bewegt werden, dem Keiner widersteht
... « (aus G. H. Schubert, Ahndungen u. allgern. Gesch. des Lebens, I, 130).
Er wird Carove zugestimmt haben, wenn dieser an den Saint-Simonisten
anerkennt: »Sie deuten mit Recht auf die Notwendigkeit hin, das überwie-
gend irdische Heidentum und das, fast ausschließlich auf Erwerbung des
jenseitigen Himmels gerichtete, mittelalterliche Christentum durch eine Leh-
re zu ersetzen, welche den ganzen Menschen ergreife und auch dem Leben
auf Erden seinen vollen Wert ertheile. Sie haben Recht, wenn sie die Materie
den Klauen des Teufels entreißen und in den Gesetzen und Formen derselben
Göttliches anerkannt wissen wollen. « Die Verknüpfung religiöser und sozia-
ler Ideen, die er hier fand, mußte seinen eigenen Gedanken entgegenkom-
men. Erst recht aber wird er Caroves Kritik an der »ungeheuren Frivolität«
zugestimmt haben, »mit welcher die Saint-Simonisten sich unterwinden
3 LEO SPITZER hat durch seine .Note on Immermann's Chiliastische Sonette< (The
Germanic Review 1950, S. 196f.) die vorsichtige Formulierung. die jetzt im Text steht.
nötig gemacht. Er zeigt dort, daß Immermanns Vers eine dichterische Umschreibung
dessen ist, was man damals .Banausentum< zu nennen begann. also einen viel weiteren
Sinn hat, der die ganze Verhäßlichung des Lebens durch den .Zeitgeist< umfaßt. Vgl. auch
im folgenden meinen Aufsatz über die .Epigonen<.
186 Karl Immermanns .Chi)iastische Sonette(
konnten. der Menschheit das Leben ihres Lehrers als Ersatz für das Leben
Christi anzubieten.« Gerade weil sein Bild des neuen Heilands, das die
Sonette entwerfen. mit dem des Christentums wenig gemein hatte. mußte
er sich gegen die umgekehrte Verwechslung verwahren. insbesondere ange-
sichts der ungeheuerlichen Verherrlichung des von Saint-Simon versuchten
Selbstmordes durch seine Anhänger - sie priesen diesen Selbstmord als ein
Selbstopfer. das den Opfertod Jesu darin noch übertreffe. daß Saint-Simon
nicht wie Jesus andere an seinem Tode schuldig werden ließ. Aber nicht nur
die Apotheose des Meisters, auch der sozialrevolutionäre Affekt der Saint-
Simonisten und ihre Lehre von der >Heilung der Industrie( mußten ihm zu
kurz zielen. So sehr auch er die Selbstentfremdung des Menschen in der
modernen industriellen Gesellschaft empfand und die Notwendigkeit einer
Neuordnung aller Dinge fühlte. sein »Sehnen auf dem Flügelrosse« meint
dennoch nicht ein revolutionäres Gesellschaftsbild, sondern entwirft ein
neu es Bild des Menschlich-Göttlichen, das Symbol eines neuen Messias,
eine poetische Mythologie.
Eine neue Mythologie - dies Wort gibt Immermanns Sonetten nicht nur
die weitgezogene Nachbarschaft des romantischen Suchens und Sehnens
nach einem neuen - christlichen oder außerchristlichen - Mythos, die von
Hölderlin und Novalis über Mörike, Hebbel, Richard Wagner. Nietzsche
bis zu Stefan Georges Maximinkult reicht, es weist auch auf die geistigen
Wurzeln dieser Sehnsucht im deutschen Idealismus zurück, die sich zuerst in
Schellings Systemprogramm vom Jahre 1796 und Hegels Forderung einer
.volksreligion( bekunden. Denn tiefer als die Anklänge an den pietistischen
oder den sozialistischen Chiliasmus der Zeit reichen die Bezüge zum ideali-
stischen Denken in Immermanns eigene Welt hinein. Das bezeugt nicht nur
seine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Fichtes >Anweisung zum seli-
gen Leben<, die ihn in die Nähe der spekulativen Religionsphilosophie
Schellings und Hegels führt, indem sie den Gegensatz von Einheit und
Mannigfaltigkeit im Wesen Gottes selber sucht - auch der Dichter Immer-
mann hat in seiner tiefsten Schöpfung, dem >Merlin<, soIche Gedanken zu
gestalten versucht; in den Gedankenkreis seiner Merlin-Dichtung gehören
aber auch die >Chiliastischen Sonette(, die ihre reife Nachfrucht sind.
Immermann hat in seinem >Merlin( das Drama des Widerspruchs schaffen
wollen. Die germanisch-keltische Sagenfigur vom Zauberer Merlin, dem
geheimnisvollen Träger des seiner selbst kundigen Naturgeistes, ver-
schmolzen mit gnostischen Lehren von dem widergöttlichen Demiurgen.
der die Welt erschaffen habe. wird ihm zum Symbol des Zwiespaltes, der
sein eigenes Daseinsgefühl beherrscht. Uechtritz erzählt in seinen >Erinne-
rungen<, daß damals. als Immermann seinen >Merlin< dichtete, der Zwie-
spalt zwischen den heidnischen und christlichen Bestandteilen seines We-
sens, das Gefühl ihrer Unvereinbarkeit, auf seinen Gipfelpunkt gediehen
Karllmmcrmanns 'Chiliastische Sonettc. 187
war. »Man hörte ihn zuweilen von der Notwendigkeit eines neuen Mes-
sias träumen. der Gott und Welt (nach Art seines Merlin) zu versöhnen
kommen werde.« Der Dichter selbst hat in Briefen an Ludwig Tieck seine
Ansichten in ähnlicher Weise dargestellt. Das theologische Fundament
derselben ist an sich nicht neu: mit dem christlichen Spiritualismus. der ja
auch der Vorliebe Fichtes und Hegels für das Johannes-Evangelium und
der spekulativen Deutung der christlichen Inkarnationslehre durch den
Idealismus des absoluten Geistes entspricht, sieht Immermann die Ge-
schichte des Christentums als die beständige Auseinandersetzung zwi-
schen dem »einfachen und eigentlichen Geist desselben. der das Men-
schengeschlecht aus den Fesseln des äußeren Naturgesetzes befreite«. und
der »Herrschaft des Irdischen« über die Gemüter der Menschen. Die Kir-
chengeschichte ist der beständige »Kampf der beiden, wenigstens auf Er-
den unvereinbaren Dinge in Volk und Individuo«. Die Rückkehr zu der
Schlichtheit und Einfalt des Urchristentums, die die Reformation sucht,
ist ihm nur ein schöner Traum, der nicht lange dauert. »Bald tritt die
Doppelheit und der nie zu schlichtende Zwiespalt immer größer und ge-
waltiger auf, treibt auf dieser Seite zu neuen Heiden, die denn doch nichts
wären ohne das Christentum, auf jener Seite zu Christen, welche ohne die
Ausstattung durch Natur und Altertum auch zusammenschrumpfen wür-
den, und erscheint endlich in seiner Spitze da, wo nun selbst die heißeste
Andacht. die tiefste, unmittelbare Sehnsucht nach dem Göttlichen. so von
ihrer eigenen irdischen Fülle durchdrungen, verdichtet und verkörpert
wird. daß die Gnade von diesem Drange sich abwendet. und das Heilige
vor dem Gebete erschrickt.« Es ist die Richtung des modernen Pantheis-
mus, die Immermann hier beschreibt, und er zitiert Spinoza. Aber das
Eigene des Dichters liegt gerade darin. daß er den »Schritt weiter« zur
pantheistischen Naturvergötterung, den er in Spinoza sieht, nicht zu tun
vermag und eben deshalb den Widerspruch zwischen Gott und Welt zum
tragisch-unseligen Konflikt zuspitzt. Merlin wird ihm der eminente Re-
präsentant jenes »modernen. unbeschreiblichen, in seinem Reichtum un-
seligen Geistes«, vor dem er »manchen Schauder« verspürt habe. Die dra-
matische Gestaltung desselben mußte alle Vorstellungen von Schuld und
Buße hinter sich lassen. Die eigentliche Tragödie besteht ja gerade darin,
daß die Göttlichkeit der Welt. die »lebensvolle, energische Durchdrin-
gung .mit der Herrlichkeit, Fülle und Schönheit des Irdischen und Weltli-
chen« zu einer Vorstellung führt. die Gott »als einen dem Weltlichen
fremden, ja feindlichen auffaßt« (Uechtritz). Merlins Frevel ist, wie der
Dichter betont, nicht »psychologische Unwissenheit«, sondern im Ge-
genteil ,~die Andacht ohne Gott« - sie ist das »Elend an sich«.
Die Tragödie dieses modernen Pantheismus konnte nur als ein kosmi-
sches Drama gedichtet werden, und Immermann mußte zum Dichter die-
188 Kar! Immennanns .Chiliastische Sonette(
ser Tragödie werden, wenn er die Not des modemen, an seiner Vereinze-
lung leidenden Individuums in religiöse Formen reflektierte.
Die ideologische Reflexion dieses WlSeres »großen Unglücks« fUhrte den
Dichter zu gnostischen Gedanken. Der »Fürst dieser Welt«· konnte nicht der
christliche Teufel sein, nicht das» Ungeheuer mit Klauen und Schweif« oder
Goethes »listiger Kammerdiener, der seinem Herrn die Dime schafft«, denn
er ist ja das Prinzip jener Weltlichkeit, die selbst als göttliche Fülle erfahren
wird. So ist der Schluß gegeben, daß der Teufel mit Notwendigkeit aus
Gottes Wesen hervorgeht, wie die Welt - oder vielmehr: als die Welt, als
.. der in den Mannigfaltigkeit geoffenbarte Gott, der durch diesen Akt sich
selbst in seiner Einheit verloren hatte.« Immermann hat auf diese innere
Selbstentzweiung Gottes, die zugleich - eodem momento - auch sein Zu-
sammenschluß mit sich sei, in seinen >Memorabilien( eine kritische Ausein-
andersetzung mit dem »toten« Gottesgedanken Spinozas und Fichtes ge-
gründet und sich damit - offenbar, ohne es zu wissen - in den spekulativen
Bahnen Schellings und Hegels bewegt. Und wenn er sich auch wie diese
seiner Christlichkeit dabei sicher glaubt - »denn das Christentum entwickel-
te ja eben an Armuth, Schmach, Schmerz und Tod nicht die Nichtigkeit,
sondern die reale und korporelle Schönheit des Daseins« -, so ist der >Merlin(
doch keineswegs ein christliches Schuld- und Bußdrama. Nicht nur, daß es
in ihm recht »heidnischfrech« zugeht und Merlins tragischer Versuch einer
neuen Welterlösung sich auf dem Hintergrunde einer gnostisch-wider-
christlichen Satanologie vollzieht. Zwar gewinnt das Drama so gut wie die
Sonette seine dichterische Substanz daraus, daß sie das Mysterium der
menschlichen Beschränkung und »das Rätsel, wie ein Rest des Dumpfen in
der Welt gesetzt sein könne, wenn sie eine Seite der göttlichen Liebe ist«,
unaufgelöst lassen. Merlin, der sich vermißt, die Identität Gottes und des
Demiurgen zu enthüllen, und sich selbst als den Parakleten, den Bringer des
dritten Wunders bezeichnet, stürzt ins Nichts. Die unbegreifliche Majestät
Gottes wendet ihre Gnade von ihm - nicht weil er falsch dachte, Schuld auf
sich lud und nun büßen muß, sondern weil seine unmittelbare Vereinigung
mit Gott an seiner menschlichen Beschränktheit zuschanden wird. Nur im
Gebet ist dem Menschen die Vereinigung mit Gott beschieden - an ihr
festhaltend, das Vaterunser auf den Lippen, stirbt Merlin und läßt damit den
widergöttlichen Versuch Satans, durch die vollkommene Weltlichkeit die
Menschheit von der christlichen Weltvemeinung zu erlösen, scheitern.
Aber auch dieses SchIußmotiv des .Merlin( ist trotz seinem christlichen
Klang gnostischer Herkunft und Art. Die valentinianische Gnosis, die Im-
mermann aus Neanders Kirchengeschichte kannte, sah im >Horos(, der
>Beschränkung(, geradezu eine der kosmischen Potenzen, und Merlins Un-
tergang ist wie eine AustUhrung des bei Neander stehenden Satzes: »Sobald
irgend etwas über diese Schranken hinauswill, sobald irgend ein Wesen, statt
Kar! Immennanns .Chiliastische Sonette, 189
Gott in seiner Offenbarung, wie er sich ihm selbst auf seinem besonderen
Standpunkte darstellt, zu erkennen, in dessen verborgenes Wesen eindrin-
gen zu wollen sich erkühnt, geräth es in Gefahr, ins Nichts zu versinken.
Statt das Reelle zu erfassen, verliert es sich ins Wesenlose.« Ja, der Dichter
hat in einem Brief an Tieck sogar gestanden, daß er ursprünglich einen
anderen Schluß geplant hat: »Im Nachspiele sollten aus dem Hades herauf
die Gesänge der Schatten der Tafelrunde erschallen, deren Inhalt eine Art
wehmütigen Glückes war, Merlin selbst sollte als Geisterstimme das Ganze
epilogisieren, sich zum weltlichen Heiland erklären und aussprechen, daß,
weil nun einmal alle Freude und aller Schmerz der Erde in einem Individuo
durchgefühlt worden sei, der Fluch sich erschöpft habe und jeder Künstler in
der Grotte des Dulders Trost finden könne. (e Dieser geplante Schluß habe
dann einem einfacheren und mehr .populären( weichen müssen, aber nicht
um der christlichen Ergebung das letzte Wort zu überlassen, sondern "ein
vollerer, metaphysischerer Klang hätte vielleicht das Ganze in die Metaphy-
sik und Philosophie getrieben. Die Kräfte des Himmels und der Hölle haben
sich bewegt, das übermenschliche hervorzubringen, eine Figur, die die
beiden Pole zusammenknüpft, und es kommt doch in letzter Instanz nur zu
einem Beschränkten, Anthropologischen. Mich dünkt, der Künstler mußte
sich auf diese Sphäre resignieren.«
Dieser Bericht ist rur Immermanns messianistische Gedanken und damit
auch für die .Sonette( von der höchsten Wichtigkeit. Was hier als Abschluß
der gnostischen Tragödie geplant war, ist allerdings das äußerste Gegenteil
des christlichen Bußgedankens: eine neue weltliche Christologie. Die bei den
Pole des Geistigen und des Weltlichen, deren Zwiespalt das immer schärfer
sich zuspitzende Leiden der Menschlichkeit ausmacht, sollten in dem neuen
stellvertretenden Duldertum Merlins zusammengeknüpft werden, sein Un-
tergang sollte die Bedeutung eines erlösenden Märtyrertums haben, und nur
um nicht in Dogmatik und Philosophie zu verfallen - nicht etwa um Christi
willen -, mußte sich der Künstler bescheiden. Ja, Immermann hat sich
anscheinend sogar mit Plänen für einen .Erlösten Merlin( getragen. Indessen
behielt doch der ausgeführte Schluß der Merlin-Mythe für ihn eine dauer-
haftere Geltung, wie das lyrische Gegenstück .Merlin im tiefen Grabe<
beweist: die Erlösung der Kreatur »von Harren und von Ängsten«, das
Freiwerden des Naturgeistes wird nicht sein:
Doch das wird nimmer glücken.
Das Reich. die Macht ist sein.
Merlin wird unvernommen
Und unerlöst sein.
4 Vgl. in diesem Bande meinen Aufsatz über ,Hölderlin und die Antike., S. 1 ff.
Karllmmermanns .Chiliastische Sonette. 191
Kunstreligion, den Hegel für die griechische Kunst gebraucht hatte, eine ins
Subjektive gewandte Bedeutung zu geben. Der Künstler des neunzehnten
Jahrhunderts ist in der Tat so etwas wie ein >weltlicher Heiland<, und wenn er
religiöse Symbole zur Aussage seiner letzten Daseinserfahrung gebraucht,
schweben diese in einer ungewissen Mitte zwischen religiösem Ernst und
ästhetischem Spiel. Auch Immermanns·>Chiliastische Sonette< erheben nicht
den Anspruch, das Leiden der Gegenwart durch religiöse Prophetie aufzulö-
sen, sondern wollen es dichterisch verklären. Es ist nicht so, daß ihn sein
Künstlertum von den kühneren Ansprüchen seiner gnostischen Metaphysik
zurückhält und die geplante Absolution durch den Dulder Merlin verwerfen
heißt - es ist im Gegenteil sein Künstlertum, das ihn überhaupt erst an die
zweideutige Grenze seines chiliastischen Traumes heraustreibt. Die echte
dichterische Kraft seiner Sonette beruht gerade auf ihrem Einklang mit
seinem Denken und Wissen, das ihm sagt, »daß nur die formlose unendliche
Sehnsucht danach das Menschliche ist, und daß dem Gotte wird überlassen
bleiben müssen, sich in seiner Erscheinung, wann und wie er will, offenba-
rend ·zu setzen«. Andere haben aus dem »nie zu schlichtenden Zwiespalt ..
gewaltsam auszubrechen gewagt. Man denke an Nietzsches Selbstapotheose
als Dionysos oder an Stefan Georges Maximin-Erlebnis. Und doch hat
Nietzsche in seiner Selbstapotheose sich selbst verloren und Stefan Georges
kultstiftende Herrscherlichkeit gelangte nicht zur Verbindlichkeit eines ge-
meinsamen Mythos.
Aber noch eine andere Wahrheit wird hinter der Tragödie des modernen
Künstlertums sichtbar. Es ist kein Zufall, daß in Immermanns Abgrenzung
gegen den realen politischen Anspruch der Saint-Simonisten die matte Wen-
dung von dem »Sehnen auf dem Flügelrosse« begegnet. Auch die politi-
schen Heilslehren des 19. Jahrhunderts tragen etwas von der religiösen
Weihe der Eschatologie an sich. Der Dichter, der eine ihrer Erscheinungen
abweist, möchte sich in die unverbindliche Weite seiner geflügelten Freiheit
zurückziehen. Er gesteht damit etwas, das er nicht verleugnen kann, ein
allgemeines Schicksal der Moderne, das in ihrer künstlerischen Welterfah-
rung nur prototypisch begriffen ist. Die Kunst ist nicht, wie sie es im
Griechentum war, die bildnerische Darstellung der mythisch erfahrenen
Wirklichkeit - sie ist auch nicht das weltliche Widerspiel der christlichen
Jenseitsgewißheit, sie ist nicht von dieser und nicht von jener Welt, sondern
das >innere Reich<, das sich die weltlose Subjektivität des modernen Men-
schen erschafft. Sie ist die Dokumentation seiner Weltanschauung, gerade
weil er die Welt nicht als geschöpfliche Ordnung anschaut, sondern seinen
eigenen Entwurf darin dargestellt sucht. So ist sie Ausdruck seiner Innerlich-
keit. Der Künstler ist der Souverän in diesem Reich der Innerlichkeit, das
dem modernen Menschen seine verlorene Heimat, seine geistliche wie seine
weltliche, ersetzen soll und nicht ersetzen kann. Er lebt - zumeist auch als
192 Karllmmermanns .Chiliastische Sonette'
Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts ist nicht reich an Romanen, die
sich neben den großen Leistungen der Engländer, der Franzosen und der
Russen behaupten können. Stendhal, Balzac, Flaubert. Zola, Proust: jeder
dieser Namen bezeichnet nicht nur eine wesentliche Etappe in der Entwick-
lung dieser dichterischen Gattung, sondern auch in der Gesellschaftsge-
schichte des bürgerlichen Jahrhunderts , die in ihren großen Romanen ihren
bedeutendsten geistigen Niederschlag fand. Ahnliches ließe sich von dem
englischen Roman von Dickens bis Joyce oder von dem russischen Roman
sagen, der von Gogol über Turgenjew, Dostojewskij, Tolstoi, Leskow und
Gorki den wahrsten Spiegel des russischen Lebens und die wirksamste
Ausstrahlung des russischen Geistes auf die Gesamtkultur Europas darstellt.
Es wäre schwer, ja, es wäre unmöglich, die großen Erzähler deutscher
Zunge, die in diesem Zeitraum aufgetreten sind, in gleicher Weise als die
Repräsentanten unseres geschichtlichen Lebens zu deuten. Gewiß erlauben
auch die großen Romankunstwerke der deutschen Literatur, den Zeiten-
wandel und die gesellschaftlichen Veränderungen im deutschen Leben zu
erkennen. Goethe, Stifter, Gottfried Keller (wenn man ihn als Deutsch-
schweizer in dieser Reihe nennen darf), Theodor Fontane, Thomas Mann
behaupten einen ehrenvollen Platz in der Weltliteratur. Sie sind auch ohne
Zweifel wichtige Dokumente der deutschen Gesellschaftsgeschichte der
Zeit. Das liegt ja im Wesen des Romans, daß er stärker als irgendeine andere
dichterische Gattung die Prosa des wirklich gelebten Lebens abbildet. Aber
schon die oben getroffene Auswahl der Namen hat nichts Zwingendes. Man
wird z. B. schwanken, ob nichtJean Paul am Anfang dieser Reihe erscheinen
müßte, und man wird das epische Genie Fritz Reuters in diese Reihe stellen
wollen, das doch auch wieder keinen Platz in ihr findet. Ist solche Unsicher-
heit nur rur uns vorhanden, die wir unserer eigenen Dichtung so nahe
verbunden sind, daß jede Auswahl uns willkürlich erscheint? Oder zeigt sich
darin ein objektiver Unterschied zu den anderen Literaturen?
Die Antwort muß sein: es liegt in der Sache, nicht in unserer besonderen
Perspektive. Das wird aus vielem deutlich. Die deutschen Dichter, deren
Romanschöpfungen sich in der Weltliteratur einen Platz erobert haben, sind
offenkundig nicht in dem gleichen Sinne Romanciers, in dem es die großen
französischen oder russischen Romanschriftsteller sind. Der Romarrist eine
ihrer Ausdrucksformen unter anderen, nicht minder gewichtigen. Gewiß
haben auch die französischen oder russischen Erzähler neben ihren Romanen
glänzende Erzählungen im Novellenstil geschaffen. Aber das innere
Schwergewicht ihrer Romanschöpfungen wird dadurch nicht beschränkt.
Ihre Romane haben einen universalistischen Zug, der die comedie humaine in
der ganzen Ausbreitung ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit zur umfassen-
den Darstellung bringt. Die wenigen Romane der deutschen Literatur dage-
gen, die einen gleichen künstlerischen Rang besitzen, sind ganz anderen
Wesens. Ihr Reichtum ist nicht der einer ausgebreiteten Weltfülle, sondern
der der Sammlung und Verdichtung der Welt in die innere Bildungsge-
schichte ihrer Helden. Allerdings hat die Form des Bildungsromans, die
Wieland, Goethe, Jean Paul, Stifter, Gottfried Keller in so bedeutender
Weise repräsentieren, auch in anderen Literaturen ihre Vertreter. Aber es ist
doch mehr als ein Zufall, daß Goethes ,Wilhe1m Meister<, der in der deut-
schen Literatur gleichsam an der Eingangspforte des Jahrhunderts des Ro-
mans steht, mit einer besonderen Ausschließlichkeit dieser Gattung ange-
hört. Gewiß ist auch der ,Wilhelm Meistere ein echter Roman, d. h., er
bringt in den Vorgängen, die das Schicksal seines Helden ausmachen, be-
deutenden Weltstoff zur Darstellung. Aber wie unbestimmt bleibt diese
Welt, die der Seelengeschichte Wilhelm Meisters, einem der genauesten und
lebendigsten Seelengemälde der Erzählungskunst aller Zeiten, den Schau-
platz bietet. Es sind Kulissen von andeutender Allgemeinheit, ohne konkre-
te Bestimmtheit von Stadt und Landschaft. Und die Personen sind bei aller
lebendigen Charakteristik ihres WeSens gleichfalls in ihren gesellschaftlichen
Bezügen wie verschwimmend. Schon ihre Namen sind mehr nur Symbole
ihrer Individualität als ihrer konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zwar
sind die Grundelemente der Gesellschaftsordnung, in der die Geschichte
spielt, erkennbar und aufbedeutende Weise wirksam: Bürgertum, Adel und
die gleißende Zwischenwelt der ,fahrenden Leute<, in die der Held verwickelt
Zu Immermanns Epigonen-Roman 195
wird, um aus ihr den Weg zu verbindlicher Wirklichkeit des Lebens zu finden.
Aber wie wenig sind diese seine Lehrjahre ein Erfahren der ausgebreiteten
Weltfülle, wie sehr, wie ganz sind sie ein innerlicher Vorgang von absichts-
voll-zufälliger Bedeutung. Die Menschen, mit denen der Held zusammenge-
führt wird, sind nicht Menschen, wie man ihnen begegnet, Glieder einer
unendlichen Melodie, sondern, wie Friedrich Schlegel sie genannt hat, eine
"Suite von Bildungsstücken«, die im Grunde auch noch über den Helden
dieser Bildungsgeschichte hinausreichen .•• Nicht dieser oder jener Mensch
sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannigfachen
Beispielen dargestellt und in einfache Grundsätze zusammengedrängt wer-
den« (F. Schlegel in der klassischen Rezension des .Wilhelm Meister( im
Athenäum, 1798). Selbst die .Wanderjahre(, in denen Staat und Gesellschaft
zum eigentlichen Thema werden und Goethes bewundernswe~tes Empfin-
den für den Wandel des Zeitgeistes zujenem Neuen hin dokumentieren, dem
das dritte Jahrzehnt des neuenJahrhunderts entgegeneilte, sind ein Buch voll
Weltweisheit, abstrakter Phantasie und sozialer und pädagogischer Erkennt-
nis, aber kein Bild dieser gewandelten Zeit und Gesellschaft selbst.
In der Tat sind es erst die dreißigerJahre des 19. Jahrhunderts, in denen sich
die realistischeTendenz des Zeitalters literarischen Ausdruck verleiht und den
gewaltigen Vorgang der Industrialisierung Europas in seinen gesellschaftli-
chen Konsequenzen zur Darstellung bringt. Scendhal und Balzac, später
Flaubert und Zola. in England Dickens und Thackeray prägen die Kunstform
des modernen Gesellschaftsromans, der seither die herrschende Literaturgat-
tung des bürgerlichen Zeitalters ist. Ihr Gegenstand ist der .moderne
Mensch(, d. h. der Mensch in der Gesellschaft, für den .die Gesellschaft( zum
eigentlichen Schicksal wird. Jene >Gesellschaft(. die aus der Emanzipation des
Bürgertums erwachsend ein eigenes Gefugevon Klassen und Rängen entwik-
kelt, das die höfischen und aristokratischen Formen nachbildet und das neue
Zusammenleben von Adel und Bürgertum in einer von Besitz und Bildung
beherrschten Ordnung gestaltet. Hier nun ist es für die Entwicklung der
Lebensverhältnisse in Deutschland bezeichnend. daß der gesellschaftliche
Roman großen Stiles ausbleibt und an seiner Stelle der Bildungsroman in der
Nachfolge des> Wilhelm Meister( die eigentliche Kunstform des deutschen
Erzählertums bleibt. Denn man wird nicht im Ernst die pathetisch-sentimen-
talen Schwarz-WeiB-Malereien in den Romanen Friedrich Spielhagens oder
Gustav Freytags neben den groBen Kunstschöpfungen des französischen und
englischen Gesellschaftsromans nennen wollen. Die groBen Meisterwerke
der deutschen Romankunst des 19. Jahrhunderts, man denke an Stifter oder
Keller. suchen ihre Helden in einer Welt der innerlichen Bildung und doku-
mentieren damit die verhängnisvolle Entwicklung des deutschen Bildungs-
bewußtseins. das sich der Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft entfrem-
det.
196 Zu Immermanns Epigonen-Roman
tagebücher sind gleich ausgezeichnet durch die Anmut ihres Stiles wie den
Reichtum an Gedanken und an dichterischer Anschauungskraft. Sie vermö-
gen sich neben ihrem klassischen Vorbild, Goethes )Dichtung und Wahr-
heite, mit Ehren zu behaupten. Kein anderer seiner Zeitgenossen, auch
Heinrich Heine nicht, mit dem ihn gute persönliche Beziehungen verbanden
und dessen geistreiche Prosaschriften längst nach Gebühr geschätzt sind,
kommt ihm gleich. Und dennoch hat diese reiche Natur, in der dichterische
Unmittelbarkeit und gedankliche Kraft so glücklich gemischt waren, kein
dichterisches Gesamtwerk hinterlassen. das diesen Anlagen entspräche. Ein-
zig sein Münchhausen-Roman hat sich in der deutschen Literatur einen Platz
von bleibendem Rang erworben, und selbst dieses originelle satirische
Kunstwerk verdankt seinen Erfolg weniger der ihm vom Dichter gegebenen
Gestaltung im ganzen als der köstlichen Episode vom )Oberhofe, in der er
Land und Leute der )roten Erdee mit einer frischen Beobachtungskraft
geschildert hat, die ihr in der Gattung der Dorfgeschichte klassische Bedeu-
tung verlieh. Seine übrigen dichterischen Werke dagegen sind heute so gut
wie vergessen. Nur der Gelehrte weiß, daß er eine Fülle von Dramen, einige
V;ersepen, einige andel,"e Romane und Novellen und einen Band Gedichte
geschrieben hat. Wer sich heute in sein dichterisches Gesamtwerk vertieft,
wird überraschende Entdeckungen machen. Eine Novelle wie )Der 1leue
Pygmalione, ein dramatisches Gedicht wie der )Merline und die )Chiliasti-
schen Sonettee, aber auch der große Vorläufer des ,Münchhausene, )Die
:fpigonene, sind voll Tiefsinn und dichterischer Schönheit. Woran liegt es,
~aß gleichwohlImmermanns Werk so wenig bekannt und geschätzt ist? Ist
~s der Schatten des Größeren, den Goethes beherrschende Gestalt wirft, so
daß wir das geringere Kostbare nicht gewahren? Wenn man bedenkt, daß
manche romantische Dichtung, daß Grillparzer und Stifter, Heine und
Hebbel sich dennoch unter den gleichen Bedingungen durchsetzen, so er-
kennt man, daß es mit Immermann seine eigene Bewandtnis hat: sein
eigenes dichterisches Lebensgefühl ist zwiespältig, hin- und hergezogen
zwischen dem in Goethe repräsentierten ästhetischen Bildungsideal und den
realistischen Tendenzen des eigenen Zeitalters, zwischen romantisch-kon-
servativer Wehmut und frischer Bejahung der Gegenwart. Seine dichteri-
schen Arbeiten sind treue Spiegelbilder seines zwiespältigen Wesens - vieles
versuchend, oft überraschend gelungen in einzelnen Teilen und als Ganzes
doch selten rein und zwingend. Weder in der Abwehr noch in der Hingabe
dem Zeitgeist gegenüber eindeutig, ist ihm der eine wie der andere Weg
verschlossen, der ihn zur allseitigen Ausprägung im dichterischen Werk
fUhren konnte. Gerade dieses empfindliche Zeitgefühl aber weist ihn auf den
Weg des Romans, den er schließlich mit bleibendem Erfolg ging. Ist doch
die Kunstform des Romans selber die Sprachwerdung eines entzweiten
gesellschaftlichen Bewußtseins, in dem sich untergehende Welten brechen -
198 Zu Immermanns Epigonen-Roman
mertum - nicht nur im engeren Sinne des Worts zu religiöser Sekten bildung,
sondern ebensosehr zu den mannigfachen Formen der Bildungsschwärme-
rei, von denen der Dichter manches Ergötzliche vor allem in seinen »byzan-
tinischen Händeln« zu berichten weiß. Auch die Schloßbewohner des
Münchhausen-Romans leisten darin das Erheiterndste. Immermann ent-
wickelt einmal die Idee eines neuen Mönchtums. das. anders als das Mönch-
tum der christlichen Jahrhunderte, nicht in der asketischen Abtötung des
Fleisches und der Abkehr von der Welt bestünde, sondern im Gegenteil sich
den Gang in die Welt auferlegte: »Gerade umgekehrt wie de~ Mönch, der
sich aus der Welt zurückzog und in geistlichen übungen den Rest der
Fleischlichkeit abtötete, müssen wir aus unserer Stille uns in die Welt bege-
ben und an ihrem Wesen das übermaß des schwelgenden Geistes in uns
abtöten. In diesem Mönchtum leben bewußt oder unbewußt schon alle
denkenden und sinnenden Menschen.«
Das gleiche wird an Immermanns Stellung zu Goethe sichtbar, den er
ganz dem 18. Jahrhundert zurechnet, eben weil seine Poesie so ganz Aus-
druck seiner Individualität war: »Die Dichtung des achtzehnten Jahrhun-
derts ist die individuell-interessante, und man verfällt in den größten Irrtum.
wenn man ihr Haupt deshalb das objektive Genie nennt, weil ein höchst
vielseitiges und bewegliches Subjekt seine wechselnden Stimmungen zum
Objekt der Behandlung gemacht hat.« Die neue Wendung der Zeit aber
gehe .gerade auf die »Entäußerung von der Selbstigkeit«, auf eine Poesie,
»die von den großen Lebensgestaltungen an und für sich trunken ist«. Solche
Ideen sind charakteristisch für die inneren Spannungen, die insbesondere
innerhalb der von Hegels gewaltigem Geist beherrschten Schule zur Spal-
tung führten. Es ist der Umschlag der Philosophie in die Politik, den
Feuerbach, Ruge und in radikaler Form Marx zur Parole erheben. Auch
Immermann sieht diese Konsequenz - bis zu der Möglichkeit, daß die
kommende Weltepoche nicht mehr im alten Sinne Philosophie kennen wird.
Das Auseinandertreten von Theorie und Praxis, das die Auflösung des Alten
charakterisiert, ist eine andere Form dieses Zustandes der Welt, die Immer-
mann selbst erfahren hat als die Kluft »zwischen dem Schulwissen und dem
innerlichen Wachsen durch das Gewußte«. Darin aber lag wiederum die
gleiche Gefahr. Denn das führte dazu, daß »der innigeren Natur alles Wissen
zu einem Erleben wird. Das Allgemeine, Universellgültige wird ganz in die
zweideutige Wandelbarkeit des Individuums hineingerissen. Jede Kenntnis
löst sich in ein Ereignis auf.« Es ist das feuilletonistische Zeitalter, das sich
aus diesem Zwiespalt gebiert und seine kurzatmige Regsamkeit über alles
breitet. Im Münchhausen-Roman, im 5. Kapitel des ersten Buches, wird der
krankhafte Fortschrittsoptimismus. der sich aus Journalen nährt. prächtig
geschildert: »Man muß nur Mitglied unseres Journal-Lesezirkels geworden
sein. um zu erfahren. daß nichts so wunderbar ist, was nicht jetzo vorfällt;
200 Zu Immermanns Epigonen-Roman
die Menschen und die Sachen und die Erfindungen sind in einem erschreckli-
chen Fortschritte.«
An einer späteren Stelle fUhrt Hermann diesen llDoppel- und Nichtzu-
stand«, an dem ein Werther des 19. Jahrhunderts sehr wohl zugrunde gehen
könne, auf den Widerspruch der politischen Verhältnisse zurück. Die
schwärmerische Innigkeit, in der ehedem das Leben in Familie und Freund-
schaft gelebt wurde, ist dem Streben nach weiteren und höheren Zwecken
gewichen. »Das wäre nun recht schön, wenn wir nur schon ein Vaterland
oder große öffentliche Einrichtungen hätten.« Aber» trotz alles Redens von
der praktischen Richtung des Zeitalters laufen die Vorstellungen und Dinge
weit auseinander, und der Wahn hat eine furchtbare Macht gewonnen. Es
ließe sich der Fall denken, daß jemand unter der Last eines eingebildeten
Schicksals sein Leben hinkeuchte und stürbe, ohne das Antlitz der Wahrheit
geschaut zu haben. « .
In der Tat ist die Handlung der )Epigonen< ein vielfältiges Beispiel dieser
Macht des Wahns. Der Herzog, auf dessen Besitztum der Held seine ersten
Erfahrungen macht, lebt in dem Wahn, einem Geschlecht von unverfälsch-
tem adligem Blute zu entstammen, und geht an der Enthüllung der Wahr-
heit zugrunde; der große Gegenspieler des Herzogs, der bürgerliche Han-
delsherr und Industrielle, lebt in einem nicht minder wahnhaften Bewußt-
sein, gegenüber der verfallenden Adelswelt einen Hort bürgerlicher Fami-
lientugend in seinem Hause zu bilden, und der Held der Geschichte selber
gerät in eine Wahnverstrickung nach der anderen, weil ihm das Augenmaß
fiir die Wirklichkeit noch fehlt, und verfällt über dem Wahne, unwissend
eine furchtbare Inzestschuld auf sich geladen zu haben, fast dem Wahnsinn.
Die ganze künstliche und seltsame Fabel des Romans findet hierin ihre
Begründung. Am Ende bekennt der Held: »Wie mich der Wahn in wech-
selnden Gestalten, lächerlichen und schrecklichen verfolgt! Als Zwanziger
meinte ich fertig zu sein, und muß mich nun in den Dreißigen als Anfänger
und jungen Schüler bekennen. « Und sein Freund antwortet ihm: »Du bist
hierin nur der Sohn deiner Zeit. Sie duldet kein langsames. unmittelbar zur
Frucht fiihrendes Reifen, sondern wilde. unnütze Schößlinge werden an-
fangs von der Treibhaushitze, welche jetzt herrscht, hervorgedrängt, und
diese müssen erst wieder verdorrt sein, um einem zweiten. gesünderen
Nachwuchs an Wurzel und Schaft Platz zu machen.«
Auch )Die Epigonen< sind somit ein Bildungsroman und bekunden in
ihrer Durchfiihrung das beherrschende Vorbild des) Wilhelm Meister<. Frei-
lich ist es nicht mehr das ästhetische Bildungserlebnis, das den Helden in
seinen Bann zieht, und nicht die gesellschaftliche Zwischenwelt des Thea-
ters. in der sich die gesellschaftlichen Unterschiede von Adel und Bürger-
tum vermitteln, sondern im Eintreten in die gesellschaftliche Wirklichkeit
selber bildet sich die Lebensanschauung des jungen Mannes zu ihrer resi-
Zu Immermanns Epigonen-Roman 201
dem das Menschliche des Charakters vorgängig vertraut und allein heimat-
lich ist, der Zugang zu den Ereignissen und dem Leben der Geschichte. Es ist
bewußte Abwehr gegen Hegels philosophischen Glauben an die Notwen-
digkeit in der geschichtlichen Entwicklung. Aber trotz aller auch ihn anrüh-
renden Bewunderung fur den historischen Roman eines Walter Scott ist
Immermann ihm auf diesem Wege der poetisierenden Distanzsuche zur
Gegenwart nicht gefolgt, sondern hat die realen Tendenzen seines eigenen
Zeitalters in den menschlichen Gestalten seiner dichterischen Phantasie ge-
sammelt, gespiegelt und gedeutet. Er hat damit die innere Verbindung mit
dem ästhetisch-humanistischen Ideal der klassischen Epoche festgehalten,
ohne doch in eine romantische Innenwelt auszuwandern: »Mein Sinn, in
welchem etwas Dichterisches sich nicht austilgen lassen will, neigt sich mit
Wehmut und Trauer dem Verfallenden zu, denn die Musen sind Töchter der
Erinnerung; aber eine Tatsache läßt sich nicht ableugnen, nicht verschwei-
gen. « Die Tatsachen, denen er sich so unterwirft, sind freilich nicht die
realen Tendenzen der Entwicklung selber, so sehr er diese in ihrem Recht
erkennt, sondern ihr menschlich-moralischer Reflex: die schrankenlose Ent-
bindung der Individualität und die aus ihr folgende Zweideutigkeit aller
Verhältnisse. Das wunderbare Schlußbild seines Romans, in dessen statuen-
hafter Monumentalität die oft krause und künstlich verzerrte Schicksalsbe-
wegung der Romanhandlung zur verklärten Ruhe zusammengeht, ist eher
vom GeisteJean Pauls als ein Symbol des neuen, in aller Unseligkeit reichen
Zeitalters und seines pragmatischen Realismus. Um dieser dichterischen
Rückwendung willen ist Immermann zumeist der Romantik zugerechnet
worden. Aber gerade die wahrhaft dichterischen Begabungen in der jünge-
ren Generation seiner Zeitgenossen haben ihn nicht verkannt. Davon legt
die Gedenkschrift ein schönes Zeugnis ab, die Ferdinand Freiligrath, einer
seiner glühendsten Verehrer, im Jahre 1842 herausgab.
17. Gesang Weylas
(1989)
Die wunderbaren Verse Mörikes aus dem Jahre 1831, deren Vertonung
durch Hugo Wolf den seltenen Fall einer völligen musikalischen und lyri-
schen Übereinstimmung darstellt, um nicht zu sagen, eine nicht mehr
auflösbare Verschmelzung musikalischer und dichterischer Kunstgestal-
tung, sind in dem schönen Bande .Augenblicke deutscher Lyrikl von Ger-
hard Kaiser erstmals einer eindringlichen Analyse unterworfen und in voller
Ausdehnung interpretiert worden l • Das fordert mich wahrlich nicht zum
Wettbewerb mit dem Gelehrten heraus. aber es lockt mich zu einer nach-
denklichen Verteidigung der Rechte des Liebhabers, den diese Verse bezau-
bern und immer wieder bezaubern. In solcher Bezauberung liegt selbst
schon etwas von Verstehen. Da liegt das Problem. Es ist wie bei der antiken
Tragödie, an der sich die moderne Forschung seit Jahrhunderten die Zähne
ausbeißt - und doch gewann das attische Publikum. das sehr gemischter Art
war, ein mehr oder minder genaues Verständnis von eindeutiger Evidenz,
und selbst heute, auf der Bühne wie beim Lesen, geht es jedem Empfäng-
lichen bei diesen Texten so.
Nun ist ein explizites Verständnis gewiß noch etwas anderes als der
Eindruck, den ein Kunstwerk auf uns macht. Das hat aber seine zwei Seiten.
Jeder Versuch. einzelnes ausdrücklich zu machen, führt mit Notwendigkeit
zur Auflösung solcher eindeutiger Evidenz, die einen im Anfang eingenom-
men hat. Auf der anderen Seite bleibt es das entfernte Ziel aller Interpreta-
1
•
GElIHAlID KAISEIl: 0 Lied mein Land. Eduard Mörike: .Gesang Weylasc. In: Augen-
blicke deutscher Lyrik. Gedichte von Manin Luther bis Paul Celan, interpretiert durch
Gerhard Kaiser. Frankfurt 1987. S. 269-282.
208 Gesang Weylas
tion, zu der ersten Evidenz zurückzufinden. So würde ich die Aufgabe der
Hermeneutik sehen, literaturwissenschaftliche Forschung immer wieder in
die Unmittelbarkeit des Verstehens zu integrieren.
Nun steht jeder Leser vor einer solchen Aufgabe. Sowie er sich der Fülle
der Interpretationsmöglichkeiten, historischer wie ästhetischer Art, bewußt
wird, die die Wissenschaft bietet, muß er versuchen, seinen eigenen Leserge-
winn dabei zu erzielen. Es geht nicht um eine einfache Wiedergewinnung
erster vager Evidenz. wenn man versucht, sich darüber Rechenschaft zu
geben, wie man versteht und warum man so versteht. Da verwickelt sich ein
jeder aufs neue in die Vielfalt der Gesichtspunkte, durch die sich die schein-
bare Eindeutigkeit des leitenden Verständnisses auflöst.
Man wird sich selbst eingestehen, daß man manches, auch wenn man
nicht erst von der Wissenschaft belehrt wurde, so und auch anders lesen
kann, und man wird vielleicht auch erfahren, daß man den gleichen Text zu
verschiedenen Malen auf verschiedene Weise liest. In gewissen Fällen wird
man sogar immer wieder hin und her schwanken, wie der Text zu lesen ist.
Das heißt aber in meinen Augen, daß man eben noch nicht weiß. wie er zu
lesen ist.
Kann es wirklich etwas anderes heißen? Stellt ein Gedicht wirklich frei. es
so oder anders zu lesen? So frage ich mich im gegebenen Falle, ob die
überschrift »Gesang Weylasc< wirklich etwas anderes sein kann als ein
Genitivus subiectivus. Das heißt also: Weyla singt. Rein von ~er Grammatik
aus kann man dies gewiß auch als einen Genitivus obiectivus lesen, so daß
Weyla dann der Gegenstand des Gesanges wäre. Aber das wäre eine Zumu-
tung. Das auch nur als Möglichkeit überzeugend zu machen, bedürfte der
ganzen gelehrten und subtilen Erörterung der Mörikeschen Privat theologie
und ihrer allegorischen Tendenzen. Der Liebhaber des Gedichtes wird sich
dazu kaum bereitfinden, wenn er den Gesang Weylas und die Verse hört.
Der Gesang feiert das in der Ferne sagenhaft leuchtende Eiland wie das aus
den uralten Wassern des Meeres aufsteigende göttliche Kind. Das hat einen
großen einheitlichen Zug, und dem wohnt eine solche Evokationskraft inne,
daß man nicht zu wissen braucht, wer Weyla ist, noch all das, was sich
damals die jungen Tübinger Theologen als ein Südsee-Inselparadies er-
träumt haben oder wie Mörike selber seine Träume geträumt hat. Da weiß
man aus dem Schattenspiel, das Mörike in den )Maler Nolten( eingefügt hat,
daß Weyla dort die Inselgöttin selber ist. Gleichwohl wird man nicht im
Ernste die Verse so verstehen wollen, als singe Weyla vom Boden der Insel
aus ihren Gesang und preise »Orplid, mein Land«. Man wird die Göttin
nicht so verstehen, als ob es nur für die anderen so erscheint. daß die Insel
»feme leuchtet«. Die Göttin sieht und singt ihr Land, wie sie über ihm aus
Götterfeme, aus Gätternähc waltet.
Gerhard Kaiser bietet in seiner schönen Studie zu Mörikes Gedicht eine
Gesang Weylas 209
höchst subtile und aufschlußreiche Analyse der metrisch-rhythmischen,
vokalen, klanglichen und bedeutungshaften Elemente. Da werden Worte
und Wendungen - und nicht nur die überschrift ))Gesang Weylas« - auf die
Mannigfaltigkeit von Assoziationen und Konnotationen abgehorcht. die
sich an die vielen Elemente des Textes anschließen. Unleugbar ruht das
Volumen dichterischer Sprache auf solcher Vielfalt von Ober-. Neben- und
Untertönen, die das melodische Ganze eines Sprachkunstwerkes ausma-
chen. Das ist allerdings ein nie vollendbares Unternehmen, und es wäre
schlimm, wenn das Verständnis und das Hören eines Gedichtes von der
expliziten Annahme der Resultate einer solchen Analyse abhinge. Die ro-
mantische Lehre vom hermeneutischen Zirkel hat das bereits mit aller
Klarheit gesehen. Jedenfalls ist es nur ein Gedicht, wenn es ein Ganzes ist, das
alle mittönenden Saiten unter die Sinn- und Klangmelodie des Ganzen
ordnet. Dadurch entsteht erst die dichterische Eindeutigkeit, die den Sinn-
gewinn des Ganzen tl'ägt und einem nicht nur erlaubt, sondern einen auch
nötigt. so zu lesen. wie man lesen muß, und nicht, wie man auch lesen kann.
So ergibt es sich hier. Unbestimmt, unbestimmbar, von dampfenden
Nebeln halb verhüllt und halb verklärt, ist dies Orplid wie die Erscheinung
einer veljüngten Welt oder die Theophanie eines göttlichen Kindes. Hier
sind unüberhörbare christologische Anklänge. Es beirrt einen gar nicht, daß
es sich um mehr als drei Könige handeln mag. Im Grunde weiß ich gar nicht,
was hier schwer verständlich sein soll. Nun hat der Interpret gewiß das
Recht, überall den verschiedenen Anklängen nachzugehen und sich die
verschiedenen Elemente, die darin auftauchen, bewußt zu machen. Wer das
Gedicht in voller Unschuld anhört. wird aber bei diesen Königen, die seine
Wärter sind, gar nichts von einem Volk wissen wollen, das auf dieser Insel
lebt. Er wird auch in den Wärtern wahrlich nichts von Gefangenenwärtern
mithören. Er wird auch kaum an einen angeblichen Kreislauf der Wasser
denken oder gar eine detaillierte Mythologie rekonstruieren wollen. Man
wird Weyla als eine mütterliche Stimme hören, die eine wirkliche Insel
feiert, freilich aus der Ferne, wie eine Offenbarung.
Daß es diese Insel nicht gibt und daß es sie nur im Gedichte gibt, ist einem
ebenso selbstverständlich. Aber das heißt noch lange nicht. daß das Gedicht
diese Insel ist. Ist dieser ganze Weltgehalt, die Insel im Meer, Sonne und
steigende Nebel, eine sich verjüngende Gottheit, alles nur Kulisse für das
Lied, das sich selber meint? »Lied, mein Land! I<? - Ich will nicht leugnen, die
Unverbindlichkeit, die in solchen mythologischen Schattenspielen zum
Ausdruck kommt, ist einem wahrlich bewußt. Man versteht auch, wie
anders das war, wenn in der humanistisch-christlichen Epoche der Klassik
und Romantik Mythen neu gedeutet wurden. Man hat nicht Mythen er-
dacht wie dieses Orplid. So darf man gewiß, mit Gerhard Kaiser, in dem
Orplid-Traum Mörikes wie in der Beschwörung Merlins durch Immer-
210 Gesang We-ylas
mann - und man könnte diese Reihe gewiß gewaltig verlängern - das
Zeugnis eines Verlustes sehen. Eine gemeinsame mythische Sprachwelt ist
jetzt zerbrochen.
Soll man dann dieses wunderbare Gedicht mythologisch durchkonstru-
ieren wollen? Zwar klingt in einem klangvollen Namen wie Weyla oder
Orplid allerhand an, das Sinn und Gemüt bewegt. Ähnlich wird es etwa sein
wie in Hölderlins Fragment )Der Mutter Erde<, wenn man den Figuren Hom
und Tello begegnet. Soll man da wirklich mehr tun als die Anklänge an
Mensch und Erde klingen und verklingen lassen? Ein lyrisches Gedicht steht
doch auf sich selbst. Es ist ein Text, dessen Sinn man versteht, und eine
Klangfolge, die man als Melodie hört - beides, wie etwas, was man mitsin-
gen kann. Da kann einem keine Mythologie helfen, die man von woanders
herholen muß, auch wenn es der Dichter Mörike selbst ist, der in seinen
>Maler Nohen( ein ganzes Spiel eingefiigt hat, in dem sogar einige Winke zur
Deutung des Mythos begegnen. Aber das ist nicht in diesem Gedicht. Ein
dichterisches Intermezzo in einem Roman ist etwas von Grund auf anderes
als dieser Gesang Weylas. In dem Gedicht hat der Dichter offenbar von
seiner Privatmythologie Distanz genommen und ein Lied geschaffen, dessen
Seelenmelodie das tiefe Bedürfnis der Menschheit nach Verjüngung und
nach einer heilen Welt traumgleich heraufbeschwört.
Das heißt nicht, daß das ferne Land das Gedicht meint - wohl aber, daß
alle Gedichte das ferne Land meinen, die nirgendwo seiende heile Welt.
18. Der Dichter Stefan George
(1968)
Der Dichter Stefan George ist innerhalb der deutschen Literatur eine einzig-
artige Erscheinung - nicht durch sein dichterisches Werk allein, sondern vor
allem durch die bannende Macht seiner Persönlichkeit, die seine Freunde
und Verehrer nicht als eine anonyme Gemeinde, wie sie jeder Künstler
sammelt, sondern als einen engen Bund von Menschen zusammenschloß,
denen er der Meister war. Selbst in dem Abstand der Jahrzehnte - George ist
bereits 1933 gestorben - sind diese Menschen bis zum heutigen Tag an ihn
gebunden geblieben. Er gewinnt immer neue Verehrer von gleicher Unbe-
dingtheit - allein durch sein dichterisches Werk. Was ist die Eigenart dieses
dichterischen Werkes? Welche Kunstmittel und welche aus ihnen strömende
Seelenmacht ist es, die die ungewöhnliche, fremdartige, ebensosehr zu
unbedingter Ablehnung wie zu unbedingter Hingabe reizende Wirkung des
Dichters ausmachen?
Es gehört wohl zu der Gleichzeitigkeit großer Dichtung, daß man so
leicht vergißt, daß George seine bedeutenden ersten Gedichtwerke noch im
vorigen Jahrhundert publiziert hat. Er war ein Zeitgenosse des jungen
HofmannsthaI, er war wenig älter als Rilke und begann seine dichterische
Wirksamkeit in einem ausgesprochen polemischen Affekt gegen die damals
herrschende Kunstgesinnung des Naturalismus. Sein Leben hatte seine be-
sondere Geheimhaltung und seine besondere Öffentlichkeit. Sein frühes
Reisen, sein Aufenthalt in Paris, sein häufiges Verweilen in München, vor
allem aber das unstete und doch beständige Hin- und Herziehen eines
Freundes zwischen den Wohnsitzen seiner Freunde, bilden eine höchst unge-
wöhnliche Figur des Lebens. Er hielt sich mit Betonung von den gesell-
schaftlichen Bindungen fern, vermied die Einordnung in das gesellschaftli-
che Gefüge, die einemjeden aufgegeben ist, und war stolz auf seine Abseitig-
keit und die Unabhängigkeit, die er sich gewiß nicht ohne Verzicht und
durch Strenge gegen sich selbst aufgebaut hatte.
Was ihn in der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, entsprang insofern
seinem eigenen Bestreben, als er, schon als junger Dichter, die Initiative zur
Sammlung Gleichgesinnter ergriff und eine literarische Bewegung begrün-
dete. Es waren die )Blätter für die Kunst(, für die er in jungen Jahren seine
212 Der Dichter Stefan George
Bundesgenossen suchte und fand und in deren Rahmen damals auch Hugo
von Hofmannsthal seine Beiträge leistete. Im Ausgang von dieser literari-
schen Bewegung sammelte er mehr und mehr seine Freunde. Das Unterneh-
men existierte zunächst aufSubskriptionsbasis. Man konnte sich als Dichter
nicht einfach um die Aufnahme in diese Blätter bewerben, sondern wurde
zur Mitarbeit eingeladen, ja, man mußte sich sogar als bloßer Leser um die
Ehre bemühen, die im Kreise der >Blätter für die Kunst< entstehenden
Publikationen erwerben zu dürfen. Auf diese Weise sammelte George seine
Freunde und lebte außer in München an manchem anderen Ort, in Berlin, in
Darmstadt, in Heidelberg. Alles, was wir von ihm wissen und was von ihm
berichtet wird, zeigt einen neuen Stil des Meister-Schüler-Verhältnisses, der
auch in dem ursprünglichen Vorbild, das Mallarme für George darstellte,
keinen Vorläufer hat. Gundolf, der große Lehrer der Literaturwissenschaft
an der Heidelberger Universität, war einer von denen, die von dem Meister
der Menschenfiihrung, der dieser Dichter war, zu einem ihr Leben lang
währenden Jünger-Verhältnis bestimmt wurden. Die Unlösbarkeit seiner
inneren Bindung bewährte sich auch noch, als George mit ihm gebrochen
hatte.
Was in solchem Verhältnis zwischen Meister und Jüngern herangebildet
wurde, war fiir jeden, der das auch nur von feme beobachten konnte Qder
von feme davon angerührt wurde, deshalb besonders eindrucksvoll, weil es
dem allgemeinen Zeitbewußtsein und seinen Werten entschieden wider-
sprach. Denn hier stand der Wert der Nachahmung, der >imitatio<, im
Vordergrund. Es war Georges bewußtes Streben, sein Anspruch und die
Auffassung von seiner eigenen Sendung, daß er sein dichterisches Wollen,
seinen Sinn fiir die Möglichkeiten von Dichtung und Sprache, einer jünge-
ren Gefolgschaft gleichsam anlernte. Jeder, der zum ersten Male einen Band
aus den Folgen der >Blätter fiir die Kunst< in die Hand bekommt, ist von der
Gleichförmigkeit und der Familienähnlichkeit der literarischen Produkte
überrascht, die dort - bezeichnenderweise ohne daß die Autorennamen
mitgeteilt wurden - gesammelt waren.
Mit den Jahren verwandelte sich dieser literarische Kreis Gleichstrebender
mehr und mehr in einen Lebenskreis, in dem George nicht nur der fiihrende
Dichter war, sondern der große Erzieher und Menschenbildner, der als der
Meister im vollen Sinne des Wortes die Mitte bildete.
Dann kam das für uns heute, aber auch für viele von damals schwer
vollziehbare Erlebnis, das George mit einem heranwachsenden Jüngling in
München hatte, dessen früher Tod dem Dichter wie eine Art Berufung und
Weihung seines eigenen Lebens und Wirkens erschien. Das Gedächtnis an
Maximin war wie eine Kultstiftung, die das dichterische Werk Georges
veränderte, und brachte eine Scheidung der Geister in di~ienigen, die diesen
kultischen Zug annahmen, und diejenigen, die sich ihm verschlossen. Selbst
Der Dichter Stefan George 213
Hier klingen in dichterischer Form die Antithesen an, die damals von
Gundolfund anderen auch begrifflich in dem >Jahrbuch für geistige Bewe-
gung( formuliert worden sind, die Gegensätze von Sein und Wissen, von
Substanz und Funktion, VOn Gestalt und Begriff. Was mir an diesen mehr
mit schriftstellerischer Kunst als mit gedanklicher Schärfe vorgetragenen
Antithesen aufging, war freilich doch eine Wahrheit, nämlich, daß jedes
Denken VOr die Prüfung gestellt ist, ob es das Gedachte durch lebendige
Erfahrung einlösen kann. In einer Zeit vielfach versuchter und suchender
Jugendlichkeit war das keine bequeme Forderung, und sie widersprach
überdies der allgemeinen Hochwertung der Originalität, des Neuen, der
schweifenden Vielseitigkeit des Interesses, wie sie im literarischen und wis-
senschaftlichen Leben galten.
In den zwanziger Jahren wirkten sich die politü;chen Ambitionen des
Kreises darin aus, daß seine Anhänger vielerorts in die Universitäten ein-
drangen. Ich nenne als die wichtigsten Universitäten, an denen sich der Kreis
um Stefan George Wirkung verschaffte: Heidelberg, Marburg, Gießen,
Kiel, Berlin, Bonn, Frankfurt. Basel und Hamburg. Sicherlich fehlen dabei
manche andere. Damals begannen Anhänger und Freunde Georges, wissen-
schaftliche Positionen zu erwerben: Gundolf und Wolters. Bergstraesser.
Bertram. Salin,' Boehringer, Schefold. von den Steinen, Hildebrandt, Sin-
ger. von Blumenthai. Andreae. von Uxkull. Landmann. Petersen. Stauffen-
berg u. a. Das waren nicht immer Namen von erstem Rang in der Wissen-
schaft. aber das eine Beispiel von Ernst Kantorowicz zeigt durch sein großes
Werk über Friedrich II .• daß die Maßstäbe, die durch die Erfahrung und das
Der Dichter Stefan George 215
Vorbild Georges gesetzt waren. auch zu echter geschichtlicher Erkenntnis
ermächtigten 1•
Dazu kam das Eindringen des George-Kreises in manche anderen Berufs-
schichten. Unter dem Antrieb des politischen Ehrgeizes von Wolters wur-
-den damals. nach dem Ersten Weltkriege, Beziehungen zu den nationalen
Jugendverbänden aufgenommen und sowohl innerhalb des Heeres wie in
der Verwaltung und der Diplomatie eine personelle Politik der Ausbreitung
des neuen inneren Staates verfolgt. Darüber ist die Weltgeschichte hinweg-
gegangen. Wolters starb früh, Max Kommerell fiel von seinem Meister ab,
und es gab dergleichen Ereignisse mehr, die dann in dem Jahre 1933 ihre
letzte Zuspitzung erfuhren, in dem die fortschreitende Tendenz zur politi-
schen Wirkung des ,Kreises< zum Scheitern kam. Aber wie groß und dauer-
haft auch während des Dritten Reiches der Glaube an das Igeheime Deutsch-
land< war, bezeugt die Zugehörigkeit des Attentäters GrafStauffenberg zu
diesem Kreis. George selbst verließ Deutschland schon 1933. Viele seiner
Freunde waren durch die Nürnberger Rassengesetze betroffen und verließen
Deutschland ebenfalls.
Das Jahr 1933 bedeutete im Grunde weniger den Höhepunkt als den
letzten Endpunkt der großen öffentlichen Wirkung Georges. Als Max Kom-
merell im Jahre 1930 seine Frankfurter Antrittsvorlesung über )Jugend ohne
Goethe< hielt und veröffentlichte, erinnere ich mich meines Erstaunens beim
Lesen dieser Rede. Kommerell sagte dort, daß die Jugend keinen Zugang zu
Goethe habe. weil sie allzu ausschließlich von der Dichtung Stefan Georges
eingenommen sei. Das war schon damals nicht richtig. 'Jugend ohne Geor-
gel wäre fUr die damalige Generation ein noch richtigerer Titel gewesen.
Denn es bestand die erstaunliche Tatsache. daß nach einem Aufstieg von
zwanzig. fUnfundzwanzig Jahren der Vorbereitung und einer Blütezeit in
den zwanziger Jahren die öffentliche Wirkung Georges und seine dichteri-
sche Präsenz ganz rasch verblaßten. Das mag viele Gründe haben. am Ende
aber auch den. daß die große dichtungspolitische Entschiedenheit, die von
George und seinem Kreis ausging, gegen einen anderen großen Dichter der
deutschen Sprache ein Verdikt gesprochen hatte. das ihn beschattete, so daß
er mit einer Art von angestauter innerer Strahlkraft nun in das allgemeine
Bewußtsein zu treten begann: Rainer Maria Rilke, dessen Spätwerk, die
Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus, sich damals durchsetzte. Die
ganzen jahre des Dritten Reichs wirkte Rilke fast wie ein Dichter der
Resistance, nicht zuletzt dadurch, daß der hochgetriebene Manierismus
seines dichterischen Stils zu der sich uniformierenden Öffentlichkeit von
damals einen extremen Kontrast bildete.
1 Vgl. zu diesem Aspekt auch ,Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft•• in
diesem Band. S. 258ff.
216 Der Dichter Stefan George
Das soll gewiß nicht heißen, daß nicht die dichterische Meisterschaft
Georges, vor allem die epigrammatische Kraft seiner Sprache, beständig
weiterwirkte. wie man etwa an Gottfried Benn und Paul Celan beobachten
kann. Aber die Zeit der großen Öffentlichkeit Georges war vorbei.
Wenn wir uns heute besinnen. was uns George bedeutet, so erschwert die
eigenartige und ungewöhnliche Wirkung, die von ihm ausging, dies Unter-
nehmen. Es sind ebenso die positiven Vorurteile der bedingungslosen Ver-
ehrer wie die negativen der entschlossenen Gegner, die der Besinn,ung im
Wege stehen. Die Vorurteile gegen George haben dabei im heutigen Zeitbe-
wußtsein durchaus den Vorrang. Man ordnet George in die Kritiker der
technischen Zivilisation des Jahrhunderts ein, denen mit Recht vorgehalten
werden kann, daß sie von dem leben, was sie bestreiten. Man kritisiert
Georges aristokratische Femstellung von dem Leben der arbeitenden Mas-
sen - man denke an den provozierenden Vers »Schon eure zahl ist frevel«,
der freilich mehr die Krämer als die Arbeitenden meint. Es gibt das Vorurteil
der Wissenschaft, das sich darauf gründet, daß George der Wissenschaft
seinerseits mit Kritik und 'Skepsis gegenüberstand und mehr die geistige
Wirkung als die Objektivität wissenschaftlicher Wahrheits forschung such-
te. Es gibt das Vorurteil, das gegenüber dem Einformungsanspruch, der von
George ausging, die individuelle Differenzierung vermißt. 'Es gibt die Des-
potie des Erziehers George, die von einer Härte des Ansichreißens wie von
einer Härte' des Verwerfens war, die viele verletzt hat und verletzt, und es
gibt schließlich und vor allem die Ablehnung der Selbststilisierung, die
Georges Figur umgibt und die er selber etwa in einem Brief an Sabine
Lepsius bekennt, in dem es heißt:
»Ich kann mein Leben nicht leben es sei denn in der vollkommenen
geistigen Oberherrlichkeit. Was ich darum streite und leide und blute dient
keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die Freunde. Mich so zu
sehen wie sie mich sahen ist ihr stärkster Lebenstrost. So streit und duld und
schweig ich für sie mit. Ich gehe immer und immer an den äußersten
Rändern - was ich hergebe ist das letzte mögliche ... auch wo keiner es
ahnt.«
Die Selbststilisierung, die auch aus Georges Dichtungen spricht, ist es
wohl vor allem, die für viele den Zugang zu seinem dichterischen Werk
erschwert.
Auf der anderen Seite stehen die Vorurteile zur George, die nicht minder
hinderlich sind. Wohl jeder, der ihm begegnet ist, bezeugt die bezwingende
Macht seiner Person. Es scheint nicht zuviel gesagt, daß es damals kaum
jemand anderen gab, von dem eine solche bannende Kraft ausging. Wir
können noch heute beobachten, wie groß die Macht war, die von diesem
dämonischen Menschen sowohl auf Altere wie aufJüngere ausgeübt wurde.
wenn wir sehen, wie diese Männer bis zu ihrer letzten Stunde nie ga.t:Iz von
Dcr Dichter Stcfan George 217
dem Bewußtsein der Abhängigkeit, der Unterordnung, der freiwilligen
Unterwerfung unter den überlegenen Willen und die überlegene Weisheit
des Meisters freigeworden sind. Es ist der Erfolg des Menschenbildners
George, der unsere Besinnung auf eigentümliche Weise erschwert.
Jeder Menschenformer erzeugt gerade dadurch, daß er die >imitatio<, die
produktive Nachahmung, auf sich zieht, eine Art Echoeffekt, und damit
verunklärt sich die eigene Stimme dessen, von dem dies Echo ausgelöst
wird. Das ist ein notwendiges Gesetz geistiger Wirkung, und jeder Lehrer
und Erzieher weiß etwas von der Macht und dem Elend dieses Echoeffekts.
Das wird noch verstärkt durch die hohe Bewußtheit, mit der George seine
eigene Wirkung plante und lenkte. Es ist eine Art selbstgeschaffener Dog-
matik, die alle Biographien des George-Kreises durchzieht. Ob man nun das
Buch Gundolfs von 1920 oder das Buch von Wolters über George von 1928
in die Hand nimmt, oder eine der großen Gestaltbiographien, die aus dem
George-Kreis hervorgegangen sind, immer begegnet hinter den geschichtli-
chen Figuren ein auf eine in sich konsistente Werttafel gegründetes Urbild,
das ihnen allen ein gewisse Familienähnlichkeit verleiht und geschichtliche
Unterschiede verdeckt. Das ist nicht immer ein Erkenntnisgewinn. Wenn es
etwa bei Gundolfheißt, daß George der einzige antike Mensch unserer Tage
war, so ist eine solche Außerung so sehr aus der Selbstauffassung Georges
und seiner Freunde heraus gedacht, daß mit ihr nicht wirklich etwas gesagt
ist.
So möchte ich Stefan George nicht in der ganzen Beziehungsftille, die sein
Name und seine Person bedeuten, sondern als den Dichter behandeln, in
dessen dichterischem Werk das Bleibende und das Geschichte-Machende
der großen Persönlichkeit beschlossen ist. Es gilt, seine Dichtung zu befra-
gen, als was sie bleibt und besteht.
Georges dichterischer Ton hat eine eigentümliche Erweckungskraft.
Zwar waren es immer nur wenige, die davon erweckt wurden, aber bis
heute gibt es immer wieder solche wenigen, dichterisch empfanglichen
Menschen, die davon erreicht werden. Wieder gebe ich ein Beispiel aus der
eigenen Erfahrung. Ich war noch Gymnasiast, als ich, nicht durch ein
Elternhaus geleitet, weil dessen Interessen ganz woanders, in den Naturwis-
senschaften lagen, an Lyrik heranzukommen versuchte. Ich kaufte mir eines
Tages, von niemandem beraten, eine Anthologie der modernen Lyrik, die
bei Redam erschienen war. In der Einleitung derselben fand ich eine Klage
des Herausgebers Hans Benzmann, daß der Dichter Stefan George leider den
Abdruck von Gedichten nicht genehmigt habe. Der Herausgeber bedauerte
das, und in der typischen Weise, in der nun einmal rechtliche Schwierigkei-
ten umgangen zu werden pflegen, benutzte er die Einleitung, um zwei
Gedichte von George in vollem Wortlaut Zu zitieren. Diese beiden Gedichte
wirkten auf mich wie die Berührung von einem elektrischen Schlage. Ich
218 Der Dichter Seefan George
hatte keine Ahnung, wer das war, Der Dtuck war eine gräßliche Fraktur, so
wie die Reclamhefte der Zeit eben waren, Doch war der Kleindruck immer-
hin beibehalten - soviel Treue gegenüber dem Text hatte sich der Herausge-
ber bewahrt. Wie ich noch immer weiß, waren es zwei Gedichte aus dem
ITeppich des Lebens< (»Blaue Stunde« und »Juli-Schwermut«). Sie hatten
einen so eigenen Ton und waren etwas so Unverwechselbares, daß man
innerlich auf die Suche ging, wo der Ton dieses Dichters noch zu hören sein
möge.
Ich beschreibe diese eigene Erfahrung, weil ich weiß, daß das bis heute so
sein kann und immer wieder so ist. Es scheint mir nun der Gegenstand einer
vernünftigen Selbstbesinnung, sich zu fragen. worauf das beruht. Soviel ist
klar: George ist in einem solchen Grade vom Willen zur Kunst beherrscht.
daß auch sein dichterischer Stil und seine Sprechhaltung sich durch ihre
Ungewöhnlichkeit gegen alles Zeitgenössische abhoben. Dem entspricht.
daß er mit der sogenannten IStilbewegung< gleich'l.eitig war, demjugendstil,
dessen lange verkannte Bedeutung darin lag, daß er dem historisierenden
Wust des späten 19.Jahrhunderts einen reinigenden, auf einfache Formen
zurückführenden Stilwillen entgegensetzte. Es ist bemerkenswert, daß man
dieser neuen Stilbewegung, die schließlich IJugendstil< hieß, heute auf der
Seite der bildenden Kunst wieder steigendes Interesse entgegenbringt, wäh-
rend das beständige Fortleben des dichterischen Wortes Georges den Stilwi-
derstand des öffentlichen Zeitgeschmacks noch nicht zu überwinden ver-
mag.
Zeitgeschmack ist eine eigene Macht, die darüber bestimmt, was einen
überhaupt zu erreichen und zu berühren vermag. Geschmack hat dadurch
seine bestimmende Gewalt. daß er Erwartungen und Auffassungsschemata
vorbereitet, gegen die nicht verstoßen werden darf. wenn nicht selbst die
größte künstlerische Qualität unkenntlich werden soll. Man denke et\\'a
daran. wie erst der ISturm und Drang( im 1B.Jahrhundert einen solchen
Einbruch in die Geschmackserwartung der Zeit darstellte, daß er Shakespea-
re entdeckte. Der Geschmack ist eben eine Art Oberflächensinn und reagiert
wie eine empfindliche Haut aufjede Berührung. Er erschöpft aber durchaus
nicht das, was an der Kunst Kunst ist. Das muß man sich heute auch im Falle
Georges klarmachen. Der Abstand zu den Geschmackserwartungen der
eigenen Gegenwart, ihre Wendung zum Unpathetischen, zum Reportage-
haften. zur provokativen Desillusionierung, zur Zersprengung der herge-
brachten dichterischen Formen ist groß. All das steht offenbar in schärfstem
Kontrast zu dem, was die Georgesche Dichtung von uns verlangt.
Da ist zunächst Georges bewußte Betonung der Kunst und der Künstlich-
keit des dichterischen Wortes. Sie spricht sich schon in dem Titel der IBlätter
für die Kunst< aus. Nur von hier aus gibt es einen Zugang zu dem, was
Georges Dichtung ist. Man spürt an dem Worte IKunst<, wie George und
Der Dichter Stefan George 219
seine Freunde es gebrauchen, die Nähe der Augusteischen Kunst, der großen
Dichter Roms um die Zeitenwende, vor allem Vergil und Horaz, die den
Anspruch erhoben, eine eigene, der griechischen ebenbünige Dichtung zu
schaffen. Diese Nähe spüren bedeutet die Ferne ermessen, die rur das Ver-
ständnis der Georgeschen Kunst heute zu überwinden ist. Georges römische
Willens strenge, die imperatorische Knappheit und Bestimmtheit seiner
Sprache, das bewußte Hervorkehren des Kunstvollen an der Kunst, wie es in
seiner Dichtung zutage tritt, ist dem Ideal der natürlichen Liedhaftigkeit,
wie es seit der Goetheschen und der Nach-Goetheschen Lyrik den Maßstab
bildet, denkbar fern. Hier ist eine Goldschmiedekunst des Wortes am
Werke, die das Köstliche, das Kostbare und Seltene sprachlicher Preziosen
mit Bewußtsein zumutet. Es ist nicht zuletzt das Vorbild von Mallarme
gewesen, den George alsjunger Mann in Paris kennenlernte, dem er seiner-
seits folgte. Anfangs mag er sich geradezu so verstanden haben, daß er diese
poesie pure, die neue Musikalität des lyrischen Gedichtes, wie er sie an
Mallarme bewunderte, im deutschen Sprachstoff nachbilden ynd sein Vor-
bild im deutschen literarischen Leben wiederholen wollte. Was hier Musika-
lität der Sprache heißt, meint die vollständige innere Zusammenfügung von
Klang und Bedeutung, von Meinen und Sein des Wortes. Sie stellt eine
höchste Steigerung der Möglichkeiten des dichterischen Wortes überhaupt
dar, das immer zwischen Klang und Bedeutung vielfache Möglichkeiten des
Gleichgewichts hält. Die äußerste Steigerung der dichterischen Musikalität
bedeutete folgerichtig die Abkehr von der Musik, sofern dieselbe sich von
dem Wort und der Bedeutung löst und als freigesetzte Musikalität autonom
wird. Der George-Kreis sah in der labsoluten< Musik eine auflösende Seelen-
macht. Dagegen verbindet die lyrische Musikalität mit dem Klang den
Sinnrhythmus. Sie schaltet den gegenständlichen Sinn des sprachlich Gesag-
ten nicht aus, indessen bindet sie ihn vollständig in die dichterische Klangbe-
wegung ein. Der Grad der verständnisvollen Bewußtheit, mit der solche
klangvollen Verse in ihrem Sinn erfaßt werden, ist daher sehr großer Steige-
rung bzw. Abdämpfung fähig, ohne daß der dichterische Gesamteindruck
entschwindet.
Das rechtfertigt die Anwendbarkeit des Begriffes des Magischen auf den
dichterischen Wortgebrauch Georges. Im magischen Gebrauch des Wortes
ist das Verständnis der Worte offenkundig nicht ganz ferngehalten, aber es
ist sekundär gegenüber den eigentlichen Wirkungsfaktoren. Im magischen
Sprechen liegt eine ungewöhnliche Konzentration von Wille, und in der Tat
ist auch Georgein seinem Werk ganz Wille. Das magische Wort ist ferner ein
Wort, das verwandelt, das nicht nur gehört und verstanden wird, ja das
überhaupt nicht primär verstanden wird, sondern das im Hören ergreift wie
die Beschwörung von Geistern. Etwas, das vorher nicht war, ist da, und
durch keinen natürlichen Vorgang, nicht herbeigeführt durch spezifische
220 Der Dichter Stefan George
Das ist eine fast stabreimhafte Dichte der Assonanzen und eine Form der
Wiederholung von Worten, die ihnen nahezu den Charakter einer magi-
schen Zauberformel verleiht. Das Gedicht wiederholt die Einleitungsstro-
phe beinahe wörtlich am Schluß und unterstreicht dadurch noch, indem es
eine Refrainwirkung erzielt. die magische Funktion.
An einem zweiten Beispiel, das ich aus den ,Hängenden Gärten( wähle.
möchte ich zeigen, wie sich mit den beschriehenen Mitteln die Steigerung
und der Aufschwung ergeben, die ich als das Unvergleichliche des George-
sehen Tones charakterisiert hahe:
Als durch die dämmerung jähe
Breite röte sich wies·
Balsamduft mich umblies·
Kannt ich die freundliche nähe:
Stammes boden und mauern.
Stolz und mit glücklichem schauern
Wandel der seele geschah
Als ich die üppig und edel
Zu mir sich neigenden wedel
Erster palmen wiedersah.
Hier werden die drei letzten Verse zu einer höheren rhythmischen Einheit
zusammengeschlossen. Dazu verhilft einmal die Sinneinheit des durch lIals«
eingeleiteten Satzes, die ein Reimgefüge von der Form a b b a hinter a
sprengt. Aber die rhythmische Wirkung dieses Zusammenschlusses wird
ihrerseits durch die Sinnzäsur vorbereitet, die in der Mitte des Gedichtes das
einzige einfache Reimpaar, von der Form a a, zerspaltet und seine heiden
224 Der Dichter Stefan George
Teile je nach vorn und hinten verspannt. So steigert die erste Zäsur hinter
»mauern« die zweite hinter »geschah«, die die chiastische Folge a b b a
zerteilt. Das ist das rhythmische Gerüst, über dem sich der Bogen des
Schlusses erhebt, Klang und Bedeutung zu einer großartigen Einheit ver-
schmelzend: Der Gebärde breiten Ausladens von sich wie ein Teppich
entrollenden Palmenblättern, die durch das Reimpaar »edel« - »wedel«
gebildet wird, folgt das schlanke und steile Aufsteigen zur Höhe von Sinn
und Klang, in der sich die Heimkehr der Seele vollendet.
Zwei Proben aus dem mittleren Werk mögen zeigen, wie sich die Kunst-
mittel in eine fast liedhafte Einfachheit der Wirkung zurückziehen. Das erste
aus den »Traurigen Tänzen« im >Jahr der Seele< möchte zugleich deutlich
machen, mit welchem Rechte Gundolf von dem »katholischen« Zauber
spricht, den George der deutschen Sprache gewonnen habe:
Wie in der gruft die alte
Lebendige ampel glüht!
Wie ihr karfunkel sprüht
Um schauernde basalte!
Vom runden fenster droben
Endliesst der ganze glanz·
Von feuriger monstranz
Mit goldumreiften globen
Und einem weissen lamme-
Und wenn die ampel glüht
Und wenn ihr kleinod sprüht
Ist eS von eigner flamme?
Wieder ist der Aufbau voll kunstvoller Symmetrie und Asymmetrie. Die
Reimfolge a b b a hält sich zwar durch alle drei Strophen durch, aber die
Sinnzäsur, die die drei letzten Verse von den vorausgehenden trennt, bildet,
rhythmisch gesehen,·einen deutlichen Hiat, der von unglaublicher Wirkung
ist: Die drei Schlußzeilen werden eine einheitliche Bewegung, verstärkt
noch durch die refrainhafte Aufnahme eines Reimpaares aus der ersten
Strophe, und leiten ein sursum corda ein, das in dem fragenden Auftaut des
Endwortes über sich hinausschwingt. Das ist die Bogenführung des grego-
rianischen Chorals.
Ein Beispiel aus dem >Teppich des Lebens(, das durch seine Einfachheit
ausgezeichnet ist, »Nacht-Gesang I«, möge die Sprachkunst, die solche
Bogenfiihrung bildet, weiter verdeutlichen:
Mild Wld trüb
Ist mir fern
Saum und fahrt
Mein geschick.
Der Dichter Stcfan George 225
so ist das mehr eine Formel von der Art von Glaubensformeln. als daß das
Gemeinte hier im Worte dichterisch präsent wäre. Eher ist es hier die
kunstvoll geordnete Folge von Gedichten. die das Formelhafte bundstiften-
der Parolen dichterisch trägt. Das Beispiel allS dem >Stern des Bundes(, das
ich gebe, mag in einem doppelten Sinne repräsentativ sein: für die Bedeu-
tung. die das Maximin-Erlebnis als Unterpfand ror die Hoffnung auf Er-
neuerung des ganzen vaterländischen Lebens fUr George besaß, als allch
dafUr. wie sich sein Stil ins Didaktische, ins Lehrhaft-Fordernde steigert, so
daß die innere Präsenz des Gemeinten dem Worte dllrch die Auffüllung
seitens des Hörers zuwachsen soll:
Nun wachs ich mit dir rückwärts in die jahre
Vertrauter dir in heimlicherem bund.
Du strahlst mir aus erlauchter ahnen werke
Entzückten fehden und berauschten fahrten
Und wesest wach wie schamvoll auch verhüllt
Im weisesten im frömmsten seher-spruch.
Was über noch so stolze nachbam fürstet-
Im blut ein uralt unerschöpftes erbe:
Du wirfst in fristen fruchtend in das all
Ein zuckend lohen eine goldne flut.
Wie muss der tag erst sein· gewähr und hoffen'
Wo du erschienen bist als schleierIoser
Als herz der runde als geburt als bild
Du geist der heiligen jugend unsres volks!
Auch diese Verse sind Zeugnis hoher Kunstübung: Das großartige Pro-
ömium der ersten zwei Verse, der Aufschwung der letzten vier Verse. die
Pracht gebärde des Mittelstücks. Dennoch trägt das alles nur, wenn vom
Leser oder Hörer die liturgische Haltung eingenommen wird, die dem
einzelnen Gedicht seine Funktion im Ganzen leiht. Das durch das dichteri-
sche Wort zu bewirken, ist der Sinn der Kompositionsstrenge, mit der dieser
Gedichtband aufgebaut ist.
Der Schlußchor des Bandes ist nur wie ein Siegel auf das Ganze. Daß
solche steile Selbststilisierung mehr fordert, als die Lesererwartung zu lei-
Der Dichter Stef3n George 227
sten bereit ist. muß man zugestehen. Hier beginnen die Grenzen sich zu
verwischen, die zwischen der dichterischen Wirkung Georges und der
Macht seiner menschenbildnerischen Leidenschaft bestehen.
Indessen zeigt der letzte Gedichtband .Das neue Reich<. der offenbar eine
Sammlung in das strenge Gefiige des vorigen Bandes sich nicht einfügender
Gedichte mit neueren Gedichten vereinigt. die ganze Schwingungsweite des
Georgeschen Tones. von der prägnanten dramatischen Wechselrede über
den hochstilisierten Seherspruch bis zum fast volksliedhaften schlichten
Sang. Hier finden sich Gedichte, in denen sich die Willensspannung lockert.
die der Selbststilisierung Georges zugrunde liegt. Die Spannung zwischen
dem Für-andere-Sein, zu dem sich George in seiner Lebensführung wie in
seinem dichterischen Werk bekennt, und dem Für-sich-Sein des großen
Einzelnen, der von eh und je ein Einsamer ist, wird in der Intensität der
Georgeschen Sprachkunst überall spürbar, und der Ton des Verzichts. der
Bescheidung, des Nichtwissens und des Leidens ist in seinem ganzen Werke
ein beständiger Unterton, von den Schwermuts- und Trauergebärden der
frühen Bände bis in das späte, immer härtere, immer sparsamere Schaffen
hinein. Aber jetzt findet das Schicksalsgefühl des Dichters unmittelbaren
dichterischen Ausdruck. So mag eines der schönsten Gedichte aus dem
)Neuen Reich<, dessen geheimnisvoll-dunkler Liedklang solchen Bekennt-
niston hat. am Schlusse stehen:
Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch -
Worin du hängst· das weisst du nicht.
Vielleicht entdeckt ein spätrer mund:
Du sassest mit an unsrem tisch
Du zehrtest mit von unsrem pfund.
Dir kam ein schön und neu gesicht
Doch zeit ward alt· heut lebt kein mann
Ob er je kommt das weisst du nicht
Der dies gesicht noch sehen kann.
Das Gedicht gilt als schwierig, obwohl sein Thema durch seinen Rhythmus
klar und zwingend angegeben ist: Der Spruch der Erde, die alles weiß und
alles in sich zurücknimmt, läßt den Angeredeten die Grenze und die Abhän-
gigkeit aller seiner Oberherrlichkeit erkennen:Z. Aber wer hier angeredet ist,
ist der Dichter. jeder Dichter. der dichterische Mensch. jeder Mensch. Er hat
ein Gesicht. und was er sieht, bleibt von allen anderen ungesehen. Das nötigt
den Verzicht auf, wie ihn George vielfach. z. B. im Motiv des »Spiegels« im
)Siebenten Ring<:
l Zum Hölderlin-Bezug dieses Gedichts siehe im folgenden ,Hölderlin und George.,
S.2..?I)ff.
228 Der Dichter Stefan George
bekannt hat. Was sich der Dichter hier wie einen Spruch der Erde vorsagt, ist
eben dies, daß keiner dessen Herr ist, sich auszusagen. Ein Späterer mag es
wissen. Er wird erkennen, was einmal als große Möglichkeit des Lebens
unerkannt gegenwärtig war. Gewiß hat das seine sakralen Töne, wie das
unerkannte Dabeisein des auferstandenen Gottessohnes unter den erwarten-
den und nicht sehenden Jüngern. Aber der Dichter stilisiert sich damit
keineswegs in die Rolle eines unerkannten Heilands, der das von sich weiß.
Er weiß sich nicht. Denn er weiß - und dieses Wissen verleiht dem Lehrer
Stefan George seine letzte Glaubwürdigkeit -, daß nur das ins Wort Gebann-
te, nur das Gesehene und Cllr alle Sichtbare, wirklich da ist und daß bloßes
Gemeintes nicht gilt. Was so da ist, ist in Stefan Georges dichterischem Werk
da.
19. Hälderlin und George
(1971)
Das Thema )Hölderlin und George( ist nicht ein beliebiger Vergleich, durch
den sich die Eigenart des einen und des anderen Dichters gegeneinander
abheben soll, sondern ein echtes geschichtliches Thema. Auf eine erstaunli-
che Weise haben Hölderlin und George in unserem Jahrhundert eine echte
Gleichzeitigkeit gewonnen. Gewiß war Hölderlins dichterisches Werk
schon ein Jahrhundert früher von der Generation der romantischen Dichter
erkannt und geschätzt worden. Aber gerade die romantische Rezeption
seiner Dichtungen ordnete ihn in einen Zusammenhang ein, der auch die
Auffassung seines Werks durch die Maßstäbe der romantischen Dichterge-
sinnung festlegte. Als nun am Anfang unseres Jahrhunderts das Interesse an
Hälderlins dichterischem Werk sich zu beleben begann - wie immer war
auch in diesem Falle eine Konstellation der literarischen Gegenwart dafür
maßgebend, nämlich das Bedürfnis, dem herrschenden Naturalismus eine
neue Stilgesinnung entgegenzusetzen -, wurde es ein wahrhaftes Ereignis.
als das Spätwerk des Dichters durch eine neue kritische Ausgabe erstmals
zugänglich wurde. Es kam einer Wiederentdeckung eines verschollenen
Werkes, nein, der Entdeckung eines unbekannten Dichters gleich, als Nor-
ben von Hellingrath, der an der Münchner Universität eine Dissertation
über Hälderlins Pindar-übersetzungen vorbereitete, die in München, Stutt-
gart und Homburg liegenden Handschriftenbestände untersuchte und das
große Hymnenwerk aus Hälderlins SpätZeit, von dem bisher nur einiges
bekannt war, aus den Handschriften in vollem Umfange hers~ellte.
Der besondere Zugang, den der klassische Philologe Norbert von Helling-
rath zu dem Dichter fand, war dabei von Bedeutung. Es war der Weg über
Pindar. Denn die dichterische Form seiner Siegeslieder , die damals durch die
Arbeit der klassischen Philologie in neues Licht getreten war, öffnete auch
für die dichterische Arbeitsweise des späten Hölderlin die Augen. Pindar
hatte seit langem als ein bedeutendes Exempel dichterischer Freiheit gegol-
ten, insbesondere nachdem ihn Goethe unter Herders Einfluß zu seinem
Vorbild wählte und die Form der freien Rhythmen durch eigene großartige
poetische Schöpfungen ausfüllte. Es entsprach der ästhetischen Theorie des
Genies, die damals Shakespeare gegen die Regelästhetik des französischen
230 HölderIin und George
Klassizismus auf den Schild erhob. daß man in Pindar den ekstatischen
Dichter einer ungemessenen Hymnik sah1 • Was dagegen Hellingrath als
Erbe einer langen philologischen Forschungsarbeit. die insbesondere die
Pindarische Metrik aufgeklärt hatte. an ihm bewunderte. war gerade sein
großer Kunstverstand und die strenge Gemessenheit seiner dichterischen
Kompositionen2 • Das eröffnete ihm einen völlig neuen Zugang zum Spät-
werk Hölderlins. das sich nun selbst in seinem fragmentarischen Zustand als
Zeugnis eines ähnlich strengen Kunstverstandes erwies. Was man früher in
diesen späten Schöpfungen Hölderlins als Zeichen des Zerfalls. der geistigen
Zersetzung und der zerrinnenden Verständlichkeit angesehen hatte, enthüll-
te sich mit einem Male als ein strenger kompositorischer Aufbau, der in
seinen vollendeten Stücken VOn einer verbindlichen Strenge des Strophen-
baus und der Responsionen war, die nichts mit dem Strom freier Rhythmen
zu tun hat, den Klopstock, Herder und Goethe gepflegt hatten. Hellingrath
hatte aus dem Formgeftihl seiner eigenen Zeit den Blick flir das, was er mit
Dionys von Halikarnass die »harte Fügung« nannte und was ihm ebensosehr
in Pindars Dichtung wie in der Hölderlins entgegentrat.
Aber es begegnete ihm auch in einem zeitgenössischen Dichter, in Stefan
George, dessen letzte Werke, insbesondere die Gedichte des ,Siebenten
Rings<, dem gleichen Stilideal entsprachen. So näherte sich der Philologe
und Hölderlin-Herausgeber innerlich mehr und mehr dem dichterischen
Werk Stefan Georges und wurde auch von der persönlichen Macht, die von
Stefan George ausging, tief ergriffen. In seinem Briefwechsel mit seinem
Lehrer Friedrich von der Leyen spricht sich das deutlich aus. Hatte er noch
im Jahre 1907 in einem Seminarreferat in George vor allem den Techniker
bewundert, der deshai b der ideale übersetzer sei, weil er ein großer Künstler
der Worte und doch kein Dichter sei, hatte er mit einer Art kalter Bewunde-
rung an George die große Gebärde, die Maske und den Kothurn hervorge-
hoben und ihn selbst kalt und unbewegt genannt, so schrieb er schon wenige
Jahre später, am 7. 5. 1910, an Friedrich von der Leyen3 : »Und so verbinde
ich gegenwärtig allerdings meine nächsten Hoffnungen von der Zukunft der
Welt mit dem Namen Stefan Georges.« Er berichtet selbst, wie er von dem
späteren Werk Georges her seine Abneigung gegen die frühen Werke über-
winden und die wunderbare Entwicklung Georges »von der Vornehmheit
und Dekadenz und dem Artistentum der Mallarmes und seiner Sicherheit
nicht ohne Pose zu der heutigen fast unbehülflichen Größe Pindarisch herber
Schlichtheit« zu bejahen gelernt habe4 • Ohne Zweifel ist dieses Bekenntnis
zu Stefan George, das nicht eigentlich die Zugehörigkeit zu dem ,Kreis<
1 O. REGENBOGEN. Kleine Schriften. München 1961, S. 520ff.
2 F. BElSSNER, Hölderiins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 21961.
3 N. v. HELLINGRATH. HölderIin-Vennächtnis. München 21944, S. 226.
4 A.a.O., S. 229.
Hölderlin und George 231
bedeutet, auch für seine Hölderlin-Auffassung und Hölderlin-Begeisterung
bestimmend. nicht im Sinne eines Einflusses Georges auf seine Hölderlin-
Entdeckung. wohl aber im Sinne der Bestätigung dessen, was er in Hölder-
lin sah, durch den zeitgenössischen Dichter und im Sinne der Ermutigung,
Hölderlins dichterisches Sehertum in seiner religiösen Bedeutung anzuer-
kennen.
Hier stellt sich die entscheidende Frage. Die Briefzeugnisse Hellingraths
lehren mit voller Deutlichkeit, daß er auch den Maximin-Kult bejahte, der
im Kreis um Stefan George dem verstorbenen jungen Freunde gewidmet
wurde. Er schreibt: "Die fundamentale Tatsache entscheidet, daß es sich
nicht um eine literarische etc., sondern religiöse Bewegung handelt.« Und
er sieht eine protestantische Enge darin, wenn man sich weigert. die Sache
»iiber literarisches Gebiet hinauszutragen«.
So folgt Hellingrath scheinbar ganz der religiösen Deutung, die Stefan
George in seinem Prosahymnus auf Friedrich Hölderlin programmatisch
festgelegt hatte. Es ist ein kurzer Aufsatz, der unmittelbar nach dem Ersten
Weltkriege durch die Veröffentlichung in der 11.112. Folge der >Blätter für
die Kunst( weiteren Kreisen bekannt wurde. George sieht dort in Hölderlin
den großen Seher für sein Volk, der, einem Wunder gleich. plötzlich vor uns
steht, und preist ihn als den Rufer des neuen Gottes. Was George in diesem
Hymnus hervorhob. war vor allem die Unvergleichbarkeit Hölderlins. und
insbesondere. daß er nicht mit der romantischen Bewegung der deutschen
Dichtung verwechselt werden dürfe. Vielmehr sah er in Hölderlin eine Art
Vorwegnahme von Nietzsches Entdeckung des dionysischen Untergrundes
der apollinischen Kultur der Griechen und ebenso des Stromes geheimreli-
giöser orphischer überlieferung im Hintergrunde der homerischen Reli-
gion. »Er allein war der Entdecken. heißt es da. und das will sagen: nicht der
in Wahnsinn und Verzweiflung rasende Nietzsche, sondern der große Dich-
ter, der die Wiederkehr der Götter in seinen vaterländischen Ges:ingen
beschwor, hat den religiösen Dunkelgrund hinter der apollinischen Hellig-
keit gesehen und damit das klassizistische Griechenbild überwunden. So
strittig die Frage des religiösen Anspruchs bei Hölderlin. wie übrigens auch
bei Stefan George selbst, sein und bleiben mag - was George damals pro-
grammatisch verkündete. ist heute in einem Punkte völlig durchgedrungen:
Hölderlin ist neben die ganz großen Dichter der deutschen Sprache getreten.
Niemand würde ihn mehr der romantischen Schule zurechnen. Was George
seinem Aufsatz vorausschickt, sind ein paar ausgewählte Stücke aus Hölder-
Hnschen Gedichten, immer nur wenige Verse aus den verschiedensten Hym-
nen. Auch diese Auswahl bekundet den Gesichtspunkt. unter dem George
Hölderlin feiert: es ist die eschatologische Stimmung. die Parusie-Erwar-
tung und das Leiden an dem Noch-nicht-Erschienensein der Götter. was aus
allen diesen Versen spricht. Es ist deutlich genug. daß George Hölderlins
232 Hölderlin und Geotge
Dichtung damit als eine Art Vorläuferschaft zu der Verkündigung des neuen
Gottes in Anspruch nimmt, den er selber in dem »geist der heiligenjugend«
seines Volkes verehrt.
Der entscheidende Band von Hellingraths Ausgabe, der das Spätwerk
brachte, erschien kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Vorrede aus dem
Jahre 1914 zeigt die Perspektive, unter der Hellingrath Hölderlins Werk
sieht. Sie ist merkwürdig vorsichtig, wenn man sie mit den Briefbekenntnis-
sen aus dem Jalue 1910 vergleicht, und es wird berichtet, daß George sie
wegen ihrer Halbheit verwarf5 • Zwar gibt er, im gleichen Tone wie George
in seineIll Hymnus, in seiner Vorrede eine religiöse Deutung: ))Die großen
Hymnen darin empfand der Dichter selbst als Wort Gottes.« Aber die
vaterländische Wendung, die Hölderlins Spätwerk bringt, grenzt er nicht
nur gegen die VaterIänderei der romantischen Abkehr vom antiken Vorbild
ab, sondern ehensosehr von den »neuheidnischen Bestrebungen, welche
wesentlich eine bloße Verleugnung unsrer christlichen Vergangenheit
sind«. Der Anspruch auf religiöse Verkündigung wird also hier begrenzt.
HelIingrath schreibt: »Und auch hier ist das Verkünden selbst Unterpfand
des Verkündeten. Die dröhnenden und innigen Worte von Leben und
Einkehr der Himmlischen bringen den Beweis fiir das fast Unglaubhafte:
daß noch in unserer Zeit kindlich wahrer Glaube die Götter herabrufen
kann ... «
Hier gilt es, genau zu prüfen, was Hellingrath damit eigentlich sagt - und
vielleicht auch, was Stefan George mit seinem Maximin-Kult eigentlich tat.
Was bedeutet hier das Religiöse? Es scheint, daß Hellingrath sehr wohl
wußte, was den Dichter von dem eigentlichen Kultstifter unaufhebbar
trennt. Aber er weiß es, indem er nichts davon wissen will und ganz auf die
innere Affinität des Künstlers zu der religiösen Bewegung den Ton legt. Er
schreibt: »Da aber wohl das Kultische oder die Tendenz dazu integrierender
Bestandteil der Religion ist, glaube ich doch, daß der Künstler, der ausge-
staltet und Form wird, minder mittelbar Träger der religiösen Bewegung in
ihrer ganzen Erfiillung sein dürfte: Klopstock, H6lderlin, Marees. George."
Eine höchst lehrreiche Reihe. Zunächst ist klar. was der Maler in dieser
Reihe bedeutet. Es ist der Maler, den Hellingrath durch die schönen Beispie-
le seiner Kunst in der damaligen Münchner Staatsgalerie kannte: Hans von
Marees. der Freund aus dem Kreise Konrad Fiedlers und Adolf von Hilde-
brands. dessen Werk eine kühnere und glühendere Klassizität atmete und der
eine heroische Welt klassisch-hellenischer oder auch christlicher Gestalten
und Szenen in monumentalen Kompositionen. zum Teil in der Form von
Triptychen, auf der Leinwand beschwor. Man wird sich fragen. ob man den
früh an sein Werk von allem Zeitgenössischen abhob, erhielt hier nur einen
neuen Akzent. Man gewahrt ferner, wie sich Hölderlins neue Gewißheit von
der Gegenwart des Göttlichen in einer überfülle neuer Gesichte gleichsam
verlor. Er geht ganz in der Deutung der ihn umgebenden Natur und der in
der Natur gegenwärtigen Geschichte auf, die ihm das Göttliche sind, und
wird so selbst fast unhörbar in »seligem Verstummen«. Dagegen macht sich
George selber zum Gegenstand der neuen dichterischen Selbstaussage und
für den Kreis seiner Freunde, die um ihn sind. Der Gedächtniskult für
Maximin, den George für sich und seine Freunde stiftet, ist das dichterische
Vermächtnis der eigenen Erfahrung. Es ist seine Person, die er in ihrer
eigenen Erscheinung und Gestalt als Lebensmittelpunkt seines Freundes-
bundes darstellt. Seine Dichtung erhebt sich bis zur Form religiöser Selbstin-
terpretation und steigert sich bis zu der Wendung:
Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.
Das bestimmt zutiefst die Weise des Sprechens, in der sich der Ton Georges
von der hymnischen Poesie Hölderlins unterscheidet, indem er sich immer
stärker in der Richtung auf das Liturgische und Chorische hinbewegt. Man
kann den Unterschied in der Antithese zweier Wörter formulieren. Be-
kanntlich hat George, der Fremdworte vermied und obendrein die fremde
Sache verwarf, die man Rezitation nennt, für das Sprechen von Gedichten
den Ausdruck »Hersagen« gebraucht. Ohne Zweifel hat seine gewaltige
Kraft der Menschenbildung gerade in der übung des Hersagens Von Ge-
dichten eine wesentliche Vollzugsform besessen. Hölderlin bildet dazu eine
volle Antithese.
Man kann Hölderlin nicht hersagen. Hölderlin kann man nur hinsagen. Er
sagt sich selbst vor sich hin - es ist ein meditativer Zug in Hölderlins
dichterischer Spätsprache. So kann man zweifeln, ob man Hölderlins Hym-
nen überhaupt vor einem größeren Kreise laut vorlesen kann. Wer es tut,
verkennt vielleicht am Ende doch den protestantisch-meditativen Zug in
dieser lyrischen Form. Dagegen scheint mir Georges Ton ganz vom grego-
rianischen Choral geprägt. Es ist das Melos des Chorals, das der George-
schen Sprachgebärde den Charakter eines liturgischen Tuns gibt. Das sind
gewaltige Unterschiede, die der Aneignung Hölderlins durch George eine
eigene Spannung verleihen mußten.
Dabei bedeutet der große Einbruch, den der Tod Maximins und seine
dichterische Verarbeitung rur George darstellt, weniger eine Veränderung
in seinem dichterischen Ton als in der gesamten Gestaltung seiner dichteri-
schen Exist!enz. Das eigene Leben, das er neu aufbaute, und das seines
Kreises nahm neue Züge an. Es war die Wendung zum inneren Staat, die sich
damals anbahnte. Man kann das auch die immer stärkere Verlagerung des
eigenen Lebensgewichts des Dichters auf die Erziehung seiner jungen Freun-
Hölderlin und George 237
de nennen, die sein dichterisches Schaffen mehr und mehr zurücktreten ließ.
Der geistige Ausdruck dieser Verlagerung, den Friedrich Wolters gefunden
hat, faßt sich in der Formel ,Herrschaft und Dienst< zusammen. Die Ehre des
Dienens und die Weihe des Herrschens beschwor Friedrich Wolters aus den
Überlieferungen des christlichen Mittelalters, und so erhielt der )Kreis< mehr
und mehr institutionellen Charakter, nicht in der leeren Äußerlichkeit von
Zeremonien oder zur Schau getragenen Besonderheiten, etwa der Kleidung,
sondern in dem Bewußtsein der Berufung, das die Glieder des Kreises
erfüllte und das ihnen ein Heilsbewußtsein verlieh, das einer kirchlichen
Ordnung von Gnadenmitteln gleichkam. Man muß dies mit sehen, wenn
man den neuen dichterischen Ton in Georges Sprechen richtig erfassen will.
Es ist ein Sprechen, das die Auffüllung durch den Angesprochenen verlangt.
Das ist jedoch nicht in dem Sinne gemeint, in dem eine echte religiöse
Urkunde Auffullung durch die gläubige Gemeinde fordert und findet. So
hat etwa die Sprachgestalt des Neuen Testaments, das seiner Gemeinde
gewiß war, nicht den Rang hoher Sprachgestaltung, wie ihn sonst große
dichterische Prosa besitzt. Georges Spätwerk dagegen ist ohne Zweifel von
erlesener sprachlicher Gestaltung. Gleichwohl ist auch in Georges )Stern des
Bundes< nicht nur ein AufTlillungsbedürfnis vorhanden, sondern eine Auf-
fUllungsmacht wirksam, die sich zwar von der dichterischen Sprachgestal-
tung her aufbaut, sich aber nicht in ihr erfUllt.
Man würde George nicht gerecht, wenn man die Veränderung seines
Tones in diesem Sinne auf seine religiöse Selbstinterpretation gründen woll-
te, in der er sich als Stifter eines neuen Kults darstellt. Zwar ist nicht zu
leugnen, daß vor allem der )Stern des Bundes< durch seine Hochstilisierung
kühler und krampfhafter wirkt als die früheren Gedichtbände und daß viele
Liebhaber seines Werkes das )Jahr der Seele< oder den )Teppich des Lebens<
fur den Höhepunkt seines dichterischen Werkes halten. Aber auch in den
späteren, den kultischen Ton suchenden Gedichtbänden ist ein enormer
Kunstverstand am Werke. Wenn die Verkündergeste und das Zeremoniöse
des hohen Kothurns manchen abstößt, so ist das nicht, weil es sich hier um
eine religiöse Esoterik handelt, die keine dichterische Gültigkeit erreicht. Es
ist in diesen Gedichtbänden nichts von dem, was wir aus Sektenstiftern, die
durch ihre rednerische Faszination eine Gemeinde um sich sammeln, ken-
nen, nämlich daß die literarische Fassung ihrer Schriften - ich denke etwa an
Rudolf Steiner - einen den Kopf schütteln läßt, daß es möglich sein soll,
durch solche literarischen Texte eine Gemeinde zusammenzuhalten. Geor-
ges dichterisches Spätwerk gründet sich nicht wie solche Texte auf ein
vorgegebenes Gemeinde-Ritual. Vielmehr sind es dichterische Mitte!, die
ihm ,kultische< Wirkung verleihen und die eine ähnliche Bereitschaft zur
Auffüllung erzeugen, wie sie eine religiöse Gemeinde nicht aus dem Wort
gewinnt, sondern dem Wort von sich aus zubringt.
238 Hölderlin und George
Wir können hier nicht verfolgen, was die verschiedenartigen Mittel sind,
die in Georges dichterischer Sprache solche gemeindebildende Wirkung
tun9 • Wir begnügen uns mit einer Gegenüberstellung der Sprachhaltungen,
in denen Hölderlin und George die Gattung des Hymnus erfullen, d. h. das
Höhere besingen.
Da gilt es vor allem zu sehen, wie verschieden die Voraussetzungen sind,
die Hölderlin wie George als Künstler der Sprache vorfinden. Hölderlin
begann sein dichterisches Werk, als die deutsche Dichtersprache gewisser-
maßen ganz frisch und blankgeputzt war, vor allem dank der einzigartigen
Geschmeidigkeit und Natürlichkeit, mit der Goethe die deutsche Sprache zu
handhaben wußte10 • So konnte Hölderlin diesem schmiegsamen und wie in
natürlichen Tropfen fallenden Stoff deutscher Sprache die kunstvollsten
Kaskaden zumuten, ohne daß der innige und liedhafte Ton derselben verlo-
renging. Er vermochte die großen Freiheiten, die die deutsche Sprache läßt,
fur eine Kompositionskunst fruchtbar zu machen, die alle Nachahmung der
Antike hinter sich ließ, so sehr sie auch nach ihrem metrischen und literari-
schen Vorbild gestaltet wurde. Dagegen herrschte in Georges Zeit eine der
eigentlichen Sprachkunst ferne Kunstgesinnung. Denn der damals herr-
schende Naturalismus war ganz auf die Möglichkeit gerichtet. Worte als
Ausdruck des Charakters und der seelischen Regung des Sprechers einzuset-
zen. Und ihn erfüllte überdies und konsequenterweise eine solche Vers-
feindlichkeit. daß er den Vers nur noch als beiläufige, möglichst unmerkü-
che Stütze des intensiven sprachlichen Ausdrucks gelten ließ. So mußte
Georges Formwille und Stilwille zu einer willenshaften Sprachhaltung füh-
ren, der man ihr Gewolltsein durchaus anmerken sollte und die nicht mit
dem Goetheschen oder romantischen Liedideal sanghafter Natürlichkeit zu
messen ist.
Es wäre ein Irrtum, in der Erlesenheit des Georgeschen Vokabulars, in der
Gesuchtheit seiner Bildersprache eine nachträgliche Poetisierung und poeti-
sche Verfremdung zu sehen. Die Gewaltsamkeit seiner Sprachgebärde ist
vielmehr dichterisch gefordert und drückt die herausfordernde Abseitsstel-
lung aus, die der Dichter gegenüber dem herrschenden poetischen Realis-
mus und seiner Lebensgesinnung einhält. Bei ihm gewinnt der 'Klangleib<,
ein charakteristischer Ausdruck der Zeit, in der Nachfolge der französischen
Symbolisten eine neue Präsenz. Es werden von ihm die mannigfaltigsten
sprachlichen Mittel eingesetzt, das Gleichgewicht von Sinn und Klang, das
alle Lyrik zu halten hat, recht weit in die Richtung der Klangkomposition
hin zu verschieben. So ist keine Gestalt der Weltliteratur, nicht einmal die
9 J. ALER, Im Spiegel der Form. Stilkritische Wege zur Deutung von St. Georges
Maximindichtung. Amsterdam 1947.
10 Vgl. dazu IDie Natürlichkeit von Goethes Sprache<, in diesem Band, S. 128ff.
Hölderlin und George 239
von George so sehr bewunderte und nachgeformte Kunst Dantes, seinem
eigenen Ton so nahe wie die Augusteische Dichtung. Vor allem Horaz steht
hinter der ,harten Fügung( seiner späten Gedichtbücher. Die Mittel der
Horazischen Verskunst, insbesondere auch sein Gebrauch der Binncnvoka-
lisation und der Inversion gewohnter Wortstellungen, sind fiir George ein
Vorbild, das Spannungsgefüge des Verses zu steigern und den Leierklang
des Endreims zu entmachten. Indem die Vokale nach dem Vorbild der poesie
pure eine Art Eigenleben entfalten und sich mit kunstvoll komponierten
Assonanzen durchmischen, wird eine neuartige rhythmische und musikali-
sche Gesetzlichkeit freigesetzt. Die harte Fügung. die Hellingrath im An-
schluß an Dionys von Halikamass zur Charakteristik des Pindarischen und
des Hölderlinschen Stiles gebraucht, gilt tUr George zwar nicht ganz in dem
gleichen Sinne, aber sie beherrscht in Wahrheit doch die Kunst seiner Kom-
position ll . Das Prinzip der Inversion. das die Horazische Wortstellung
beherrscht, fmdet sich in der Georgeschen Klangstellung wieder und erzeugt
dort eine ähnliche Spannungseinheit, die ebenfalls durchaus nicht unmerk-
lich sein will. sondern wie bei Horaz mit steigender Bewußtheit in den
Vordergrund drängt. Die reife Kunst Georges vermeidet dabei die unmittel-
bare Alliteration und sucht statt derer eine sorgfältig ausbalancierte Form,
Anklänge der Konsonantik und der Vokalik ineinander zu verschränken.
Für die Musikalität des Georgeschen Versbaus ist aber auch die Satzform
von besonderer Bedeutung. Er vermeidet den Nebensatz zweiter Ordnung
und bevorzugt überhaupt den kurzen Hauptsatz und das einfache Satzglied.
Dadurch flillt Verseinheit und Sinneinheit so oft zusammen. daß das seltene
Auseinanderklaffen eine besondere Ausdrucksintensität erzeugt. Daraufbe-
ruht das, was ich die Georgesche Bogenführung nennen mächte. Denn der
Sinnhiat ist es, der das Gleichmaß der metrischen Abläufe skandiert und
Versfolgen zu größeren Einheiten zusammenschließt. So entstehen gleich-
gebaute. analoge oder analog klingende Verse, die sich übereinanderstufen
und dadurch einen Wiederholungseffekt erzeugen, der sich mit einem Stei-
gerungseffekt verbindet. Das ergibt den unvergleichlichen, oft rauschhaft
klingenden Aufschwung, zu dem sich Georges Verse erheben.
Bei aller Gemeinsamkeit, die der Hintergrund Pindarischer Verskunst für
George und Hälderlin bedeutet, läßt sich gerade hier zeigen, daß die Entdek-
kung Hölderlins durch den Dichter George und die von ihm inspirierten
Zeitgenossen eine Einseitigkeit war. Wenn Hellingrath die Stimme Hölder-
lins »die dröhnende und innige Stimme« nennt. so ist das für HölderIin
kaum eine zutreffende Charakteristik. Die Innigkeit zugestanden, aber
dröhnend? Was ist Dröhnen? Doch wohl eine Lautgestaltung. die alle Arti-
kulationen zugunsten der Identifikation vitalen Einklangs herabmindert.
11 Siehe dazu auch )Der Dichter Stefan George., in diesem Band, S. 221 ff.
240 Hölderlin und George
Wir wissen alle etwas von der Vitalwirkung des großen Dröhnens, das
Blasinstrumenten eigen sein kann, die ja auch in religiösen Kulten eine
entsprechende Rolle spielen, und wir kennen es insbesondere auch als Be-
zeichnung rur die Stimme und das Mitreißende, das ein dröhnender Stimm-
klang hat. Davon ist wenig in der großen Bogenführung Hölderlinscher
Dichtung. Sie behält immer etwas von Meditation, von steigender Versen-
kung und Beengung der Stimme bis ans Verstummen heran.
Jetzt aber endiget. seeligweinend.
Wie eine Sage der Liebe,
Mir der Gesang, und so auch ist er
Mir, im Erröthen, Erblassen,
Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so.
Für Georges Verskunst dagegen ist die Charakteristik des Dröhnens, wenn
man es nur nicht falsch versteht, durchaus zutreffend. Sein Vers ist natürlich
wie jeder dichterische Vers auf das Spiel von Sinn und Klang gebaut. Aber
innerhalb der Spiel weite, die das Gleichgewicht dieser dichterischen Sprach-
rnächte gestattet, steht sein Vers unter dem Vorrang der Klangesmacht.
Daher haben seine Verse etwas Einhämmerndes, etwas von der Wiederho-
lung des Gleichen, die mit dem Worte Dröhnen mitgegeben ist. In Dröhnen
liegt aber auch und vor allem die Unmittelbarkeit des Mitreißens, die nicht
aus dem geistigen Gehalt der sprachlichen Fügung entsteht, sondern mehr
wie eine übertragung von Wille zu Wille, und mehr ein Durchtöntwerden
als ein Sprechen ist. So kann George selbst von sich sagen
Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme,
Hier mußte der eigene Charakter Georgescher Dichtung auch die Rezeption
der Hölderlinschen Dichtung beeinflussen und ihn in eine Sprechlage einsti-
lisieren, die ihm, wie wir heute sehen, nicht ganz angemessen ist.
Gleichwohl müssen wir die religiöse Selbstauffassung, wie sie sich'etwa in
Hellingraths oben zitierten Außerungen, aber insgesamt in dem Vokabular
des George-Kreises findet, selber tUr fragwürdig halten und eine tiefere
Gemeinsamkeit zwischen dem innigen Gestammel Hölderlinscher Hym-
nenkunst und der zuchtvollen Strenge Georgescher Verskompositionen
anerkennen. Sie liegt, wenn ich richtig sehe, in der Auffassung, die der
Dichter von sich selbst hat. Trotz allem Unterschiede zwischen der pompö-
sen Selbstdarstellung, die sich George in seinen Gedichten gibt, und dem
bescheidenen Verzicht, den der >Dichter in dürftiger Zeit< aufzubringen
bereit ist, bildet doch die Auffassung vom Dichtertum und vom Menschsein
den gemeinsamen Hintergrund beider . Sie ordnen sich damit in einen Mo-
tivzusammenhang des neuzeitlichen Denkens ein, der mit der Renaissance-
Poetik anhebt. Es war die Erneuerung der Prometheus-Figur und ihre
Hölderlin und George 241
Anwendung auf den Künstler als den zweiten Schöpfer, den alter deus, die
sich damals, bei Bovillus zuerst, ausspricht 12 und dann bekanntlich über
Shaftesbury bis zu Goethes großartiger Verwandlung des Prometheus-
Symbols gefiihrt hat t3 . Das Wesentliche an diesem Symbol liegt darin, daß
der Dichter, sosehr er auch der Ausgesetzte und der Außerordentliche ist, in
seinem schöpferischen Tun dennoch zugleich den Menschen vertritt.
Das dichterische Ich ist weit weniger, als man meist wahrnimmt, das Ich
des Dichters, und fast immer jenes allgemeine Ich, das ein jeder ist. Es
scheint, daß selbst die Interpreten Georges, von denen Hölderlins oder
Rilkes ganz zu schweigen, die Ambivalenz im Ichsagen des Dichters nicht
genügend beachten. Sie sollten besser auf George selbst hören: .. Selten sind
sosehr wie in diesem buch ich und du die seI be seele«14. Das ist gewiß eine
besondere Auszeichnung des .Jahrs der Seele., daß nirgends so sehr, wie in
diesem Buch, Ich und Du dieselbe Seele sind. Aber man soUte daraus auch
entnehmen, daß das filr den Dichter heißt, daß in allen seinen Büchern Ich
und Du dieselbe Seele sind. Das sollte gerade auch für die Gedichte beachtet
werden, in denen der Dichter vom Dichter spricht.
Ein Gedicht Hölderlins, das für George von besonderer Bedeutung gewe-
sen zu sein scheint, möge als Hintergrund dafür dienen. Es ist das fragmenta-
rische Gedicht .Der Mutter Erde<ls, dessen eigenhändige Abschrift durch
George sich in den hinterlassenen Papieren des Dichters in Minusio fand.
Auch ist eines der Bruchstücke, die George seinem Prosaaufsatz vorange-
stellt hat, diesem Gedicht entnommen. Hölderlins Gedicht redet von dem
Los des Dichters in dürftiger Zeit, wie fast alle seine Dichtungen der späten
Jahre. Ich möchte zeigen, wie hier das Schicksal des Dichters in seiner
stellvertretenden Bedeutung rur das allgemeine Menschenlos ausgesprochen
ist.
Es ist der bekannte Dreigesang der Brüder Ottmar, Hom und Tello. Der
Gesang Ottmars stellt in drei Strophen den einsam singenden Dichter dem
Chor des Volkes gegenüber, der noch aussteht. Aber das geschieht nicht,
um das Trennende zu sagen. Das erste Wort heißt vielmehr
Statt offner Gemeine sing' ich Gesang
und die dritte Strophe weist das eigentliche Gemeinsame auf, das Dichter
und Volk trägt: es ist die Sprache,
Daß hier von der Sprache die Rede ist, ließe sich durch manche Parallele bei
Hölderlin bestätigen 16 • Der Dichter und das Volk habe in einem, sozusagen
in einer Vorschöpfung vor der Schöpfung, durch den Donner des Höchsten
die reinen Laute erhalten. Die Sprache ist die Antwort, die die Sterblichen
finden. Sie ist aber auch das Unterpfand, das eigentliche und einzige, das in
unserem Besitz ist, auch wenn die Götter fern sind und kein gemeinsamer
Geist sich zum gemeinsamen Gesang erhebt.
Der Gesang Horns malt dieses Fehlen und die stellvertretende Funktion
des Dichters aus. Es sind müßige Zeiten, in denen das Gedächtnis einer
Heldenzeit bewahrt wird, und die großen Ordnungen der Tempel »stehn
verlassen in Tagen der Noth«.
Wenn wir uns nun dem dritten Gesang, dem Gesang Tellos, der nur als
Fragment erhalten ist, zuwenden, so wird, wie ich hoffe, deutlich, warum
ich dieses Gedicht mit Georges dichterischem Selbstbewußtsein zusammen
sehe. Konnte man bei den ersten beiden Strophen noch ganz auf den Unter-
schied blicken, der zwischen der bewußten Einsamkeit des Dichters bei
Hälderlin und der Hinordnung des Dichters auf die ihn umgebende Ge-
meinde bei George besteht, so macht die dritte Strophe eine innerste Nähe
zwischen George und Hälderlin fUhlbar, wie sie in der gemeinsamen Erfah-
rung des Dichterturns gelegen ist.
Wer will auch danken, eh' er empfängt,
Und Antwort geben, eh' er gehört hat?
Ni[ cht ist es gut,] indeß ein Höherer spricht,
Zu fallen in die tönende Rede.
Viel hat er zu sagen und anders Recht,
Und Einer ist, der endet in Stunden nicht,
Und die Zeiten des Schaffenden sind,
Wie Gebirg
Das hochaufwoogend von Meer zu Meer
Hinziehet über die Erde,
Es sagen der Wanderer viele davon,
Und das Wild irrt in den Klüften,
Und die Horde schweifet über die Höhen,
Im heiligen Schatten aber,
-----
16 HÖLDERLlN, St.A. 11, vgl. S. 92 (.Brot und Wein<).
Hölderlin und George 243
Das Fragment bricht ab. Daß der Prosa-Entwurf, der mit »0 Mutter Erde«
beginnt, auf die Fortsetzung verweisen soll, ist nicht glaubhaft. Das Dreier-
gespräch ist trotz des fragmentarischen Zustandes weitgehend durchkom-
poniert, und es ist nicht zu sehen, wie der Inhalt von ,,0 Mutter Erde« hier
hätte eingebaut werden sollen. Vom Inhalt her scheint es mir im höchsten
Grade zweifelhaft, ob die beiden Stücke überhaupt etwas miteinander zu tun
haben 17 • Ist das Thema überhaupt das gleiche? Im Prosa-Entwurf ist »Mut-
ter Erde« angeredet, und sie soll der Gegenstand aller kommenden Preisge-
sänge sein. Hier ist sie nicht angeredet. Hier ist von ihr die Rede, als den
"Vesten der Erde«. Sie sind das reine Gesetz der Sprache, aus dem der
Dich~er singt und aus dem auch der Gesang der Gemeinde allein kommen
kann. Erde und Sprache sind hier ineinandergespiegelt, um zu sagen: die
Zeiten des Schaffenden sind nicht in der Gewalt und Verfügung des Dich-
ters, so wenig wie die Gebirge, auf deren Gipfel, auf das, was über ihm ist,
der Hirt schaut.
Doch wie dem auch sein mag - George hat jedenfalls nicht den Prosa-
EntWurf abgeschrieben, sondern unser dichterisches Fragment. Er hat sein
eigenes Lebensbewußtsein als Dichter darin erkannt. Das möge das George-
Gedicht aus der 11./12. Folge bestätigen:
Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch-
Worin du hängst· das weisst du nicht.
Vielleicht endeckt ein spätrer mund:
Du sassest mit an unsrem tisch
Du zehrtest mit von unsrem pfund.
Dir kam ein schön und neu gesicht
Doch zeit ward alt· heut lebt kein mann
Ob er je kommt das weisst du nicht
Der dies gesicht noch sehen kann.
Der Hintergrund dieses Gedichtes ist das aus Georges Werk wohlbekannte
Motiv des Verzichts. So beugt sich im ,Siebenten Ring< der Dichter über den
Spiegel des Quells, wenn er nach einer großen Erfahrung, für die er die
dichterische Form gefunden zu haben glaubte, Zustimmung sucht und ihm
die Gestalten immer antworten: "wir sind es nicht! wir sind es nicht!« Und
nichts anderes bekennt das Gedicht aus dem >Neuen Reich<: "Kein ding sei
wo das wort gebricht.« Man muß unser Gedicht auf dem Hintergrunde
17 Daß sie nicht als zwei Phasen eines einheidichen Schaffensentwurfs miteinander
vereinbart werden können, bemerkt BEISSNER (St.A. " 2, S. 685), meine ich, zu Recht.
244 Hölderlin und George
dieser Motivkonstanz lesen. Sein Schlüssel ist (und ich meine, damit ist seine
Deutung nicht mehr schwierig) die Ambivalenz zwischen Dichtersein und
Menschsein. Denn was das Gedicht sagt, und so, daß es uns etwas sagt, ist
am Ende dies, daß der Dichter nicht über seine Eingebung und Schöpfung
Herr ist, sondern wie alle anderen auch auf eine unaufhebbare und undurch-
schaubare Weise abhängig bleibt. Den Ton möchte ich auf das )wie alle
anderen auch< legen. Das singt sich durch das» Worin du hängst ... das weißt
du nicht« in unser Ohr ein, insbesondere weil es in der vorletzten Strophe
wieder aufgenommen wird und dem ganzen Gedicht seinen Takt verleiht.
Es ist die dumpfe Erde, etwas, was man auf keine Weise aufhellen kann und
woher ein jeder von uns stammt, was uns diese wesenhafte Unwissenheit
um uns selber verkündet. Nicht nur der Dichter,jeder von uns kann sich die
folgenden Worte gesagt sein lassen. Denn immer wird ein späterer Mund
wissen, was wir nicht wissen. Gewiß sind es Parusie-Formen der christli-
chen Überlieferung, an die diese Verse anklingen. Nicht. daß Christus
gemeint wäre, der unerkannt unter den Seinen weilt und erst am Brechen des
Brotes erkannt wird - aber es ist von dem Dasein dessen die Rede, der das
heilende Wort zu sagen hätte und der doch unerkannt bleibt. Nun ist es das
eigentliche Thema dieses Gedichtes und ist in diesen Versen gegenwärtig,
daß der Dichter sich unter die Nichtwissenden einrechnet. Auch er weiß
nicht. Doch er weiß, daß er nicht wissen kann, ob ein Gesicht, das er hat, je
sichtbar werden wird, je für aUe da sein wird. Das heißt aber, daß er nicht
weiß, ob ein Wort sein wird. Das tiefe Beben, das durch diese Verse geht, ist
nicht auf die anderen beschränkt, denen das Ich des Dichters gegenüberstün-
de.
Kehren wir von hier zu der dritten Strophe von )Der Mutter Erde< zurück,
so erkennen wir die Gemeinsamkeit des Themas. Man soll nicht fallen in die
tönende Rede, man darf nichts übereilen, nicht mit frevelnder Hand nach
dem Feuer greifen. Das ist bei Hölderlin ein zentrales Motiv l8 • So muß der
Dichter auch hier aushalten, daß er Vorsänger einer noch nicht antworten-
den Gemeinde ist l9 • Die Zeiten des Schaffenden, die ihren eigenen, durch
nichts umzulenkenden, durch nichts zu beeinflussenden Gang gehen wie der
Zug des Gc!birges von Meer zu Meer, sagen das gleiche »Das weißt du nicht«
wie Georges Gedicht. Es ist die innere Gemeinsamkeit, die die Stellung des
Dichters zu Zeit und Welt ausmacht, was zwei sehr voneinander verschiede-
ne Dichter verbindet, und es scheint mir ein Zeichen für die Größe Georges
zu sein, daß seine eigene dichterische Stimme gleichwohl so ganz anders und
~~gen erklingt und in seinen Versen keine Spur von Nachahmung oder
Ubernahme des Hölderlinschen Tones aufweist.
Man kann sich fragen, ob das erklärende Wort dort überhaupt am Platze ist,
wo dichterische Rede unmittelbar und unaufgehalten durch Verborgenhei-
ten von Wort und Sinn den Leser und inneren Hörer erreicht. Gewiß
gehören diese aus Georges 'Jahr der Seele< entnommenen Verse bei aller
epigrammatischen Gedrungenheit ihres Baues nicht zu den dichterischen
Gebilden, die den verstehenden Vollzug immer hinter sich zurücklassen,
weil sie ihm in dunkler Dichte voraus sind. Diese Verse stellen im einfachen
Bau einer Frage und einer Antwort zwei Landschaften bedeutungsvoll ein-
ander gegenüber, und niemand bedarf irgendeiner Hilfe, um in ihnen See-
lenlandschaften und in der gespannten Weite dieser Fernen sich selber zu
erkennen.
Und doch - das auslegende Wort fühlt sich auch hier angerufen. Da ist der
Platz, an dem die Verse stehen; in einer Abteilung des 'Jahrs der Seele<, deren
Gedichte vom Dichter selber als flüchtig geschnittene Schatten bezeichnet
sind. Zwei Initialen (A. V.) lassen einen bestimmten Mann aus dem Freun-
deskreise des Dichters erraten, und man könnte versucht sein, diesen vom
Dichter selbst gegebenen Winken nachzugehen und in der Begegnung zwei-
er Dichter, eines nordländischen mit dem rheinisch-römischen Dichter des
'Jahrs der Seele<, den Lebensgrund dieses Widmungsgedichtes zu erkennen.
Allein, da liest man die Vorrede zu der zweiten Auflage dieses Buches, in
der der Dichter aller Aufklärung aus Lebensgeschichtlichem und Gelegen-
\1eitlichem die Warnung entgegenhält: "Und selten sind sosehr wie in die-
sem buch ich und du die selbe seele. « Gewiß, im Ganzen dieses Gedichtban-
des gehört dieses Gedicht zu der Gruppe, die durchweg Initialen zeigt und
246 Ich und du die selbe seele
Anrede ist. Insofern mag die Warnung des Dichters dieser Gedichtgruppe
gegenüber am wenigsten bedeuten. Aber sie bedeutet genug. Es sind eben
selbst diese persönlich bezogenen Widmungen Gedichte. die nicht diesem
oder jenem als Geste und Gabe zugesungen sind. sondern Werkteile. die ein
wählerischer Goldschmied des Wortes gearbeitet und geziert und angeord-
net hat. Sie gehören einer anderen Ordnung an als der des einmalig gelebten
Lebens. nicht anders als die Siegeslieder. die Pindar an sizilischen Höfen
aufführen lieB und die dennoch Kostbarkeiten griechischer Literatur sind.
nicht anders als die von tönender Anrede eröffneten Oden des Horaz. Was
macht sie zu einem Imonumentum aere perennius(? Welche Kunst. welche
Fügung. welche Sagkraft des Wortes?
Das zitierte Gedicht hat in der Reihe dieser Schattenschnitte. sosehr seine
formale Struktur des aus zwei vierzeiligen Strophen gebildeten Ganzen ihm
mit den anderen Gedichten der Gruppe gemeinsam ist. das Besondere einer
zweistimmigen Komposition. Frage und - in anderer Stimme tönende -
Antwort. Und wie jedes Verhältnis von Frage und Antwort hat auch dieses
eine genau gefügte Entsprechung - den Auflaut. der sich in der Schwebe des
Versuchens hält. und die Entschiedenheit des Gegenwortes. das das Ganze
zum Ganzen siegelt. Denn allerdings ist auch dieses Frage-Antwort-Gedicht
ein Ganzes. und die fragende wie die antwortende Stimme sind weit eher die
Stimmen einer musikalischen Komposition als die der Abbildung eines
Gesprächs zweier einzelner.
Die fragende Stimme hat etwas Forderndes. überlegenheit und Sicherheit
geht VOn ihr aus - und sie weiß. was sie sagt. Sie weiß. wogegen sie redet.
Indem sie sich auf ihre hellen Welten beruft, sind die düsteren Welten des
anderen mit da. Und wenn der Angeredete die hellen Welten »ahnt«. so
scheint das zu suggerieren. daß er sie wie ein höheres. fernes Ziel oder ein
gelobtes Land erkennen soll. Das wird insbesondere dadurch deutlich. daß
diese »hellen welten« als Linien - wie helle Berglinien eines fernen Ziels-
erscheinen. Oder meint dies zugleich die klare Linienführung in diesen
hellen Welten. ihre geistige Architektur? Es ist wohl beides - ein klares
Vorbild und ein Vorbild von Klarheit: Landschaft. die ganz von Menschen
gestaltet und von der hellen Geistigkeit menschlicher Durchformung beseelt
ist. »Die bunten halden mit den rebenkronen« evoziert die rheinischen
Weinberge. eine königliche Landschaft. streng und planvoll gebaut. und
vom herbstlichen Gold der Reben wie gekrönt. Das Element mit seiner
vormenschlichen Gewalt ist nur per contrarium. in der gebändigten Klarheit
dieser Landschaft da. Die künstliche Flüsterstimme des Zephir läßt es unge-
rufen. Das gleiche gilt für die geraden Pappeln. Diese im 18. Jahrhundert
nach Europa verpflanzte Baumart. die mit dem geometrischen Geist der
Zeit. mit der geregelten. gezirkelten. geplanten Straßenlandschaft des
18. Jahrhunderts zusammengeht. ist wie ein Symbol menschlich geordneter.
Ich und du die selbe seele 247
menschlich beherrschter Natur - und vollends klingt der ganze Zau ber einer
in Kunst verwandelten Natur in der vierten Zeile auf. Mit der Anrufung
Tiburs, des berühmten Landsitzes Augusteischer Zeit, den jeder Humanist
aus Horaz kennt, mag in die erregte Landschaftsvision des Lesenden, Hören-
den ein Zweifel kommen. ob hier der reine Süden, Italien. dem reinen
Norden entgegengesetzt sei - bis man die stärkere Evidenz des Symbolwor-
tes (Ti bur ist Tivoli) erkennt und mit Bewunderung realisiert, daß die
berühmten Wasserspiele dieses gesegneten Platzes mehr meinen als das
Sinnbild deutschen Romfahrertums, daß sie die Anmut und den Lebensge-
nuß römisch-rheinischer Humanität als eine Lage der menschlichen Seele
beschwören. Woher weiß man eigentlich, daß »Tiburs wasser« ein Plural
sind? Gewiß nicht aus klassisch-archäologischer Bildung, wohl auch nicht
nur aus den umgebenden Pluralformen der Pappeln und der Flöten - die
mächtige Gebärde des vorangestellten Genitivs» Tiburs« ist es Vor allem, die
die volle Weite dieser künstlichen Paradiese heraufruft.
Und doch ist etwas Schwereloses. etwas Unwirkliches in dieser dem
Ahnenden verheißenen Landschaft - die Antwort, das Gegenwort. das die
zweite Strophe sagt, ist in der Frage schon da. Diese Antwort ist die ganze
andere Seite der Seele, ist erst das Ganze der Seele. Das kann kein Leser des
>Jahrs der Seele( verkennen. daß das blonde Haupt des Antwortenden keine
fremde Botschaft sagt, sondern wahrhaft erinnert. ein innerstes Wissen um
die elementaren Gewalten ausspricht, die allem Seelentum und Geisteswe-
sen erst volles Leben, Wahrheit und Wirklichkeit verleihen. Es ist nicht
umsonst, daß die drei letzten Verse bis in die Vokalisation hinein die Macht
des Elementaren entgegenhalten - dieser Stolz ist nicht nur der des blond-
häuptigen Nordländers auf seine Heimat, sondern mehr noch der Anruf der
großen Natur- und Seelenmacht des Erhabenen, dessen dynamische Unend-
lichkeit Kant der >intelligiblen Bestimmung der Menschheit( gewiß sein ließ.
Ein anderer, nicht auf die Humanisierung, geschweige denn auf die Bändi-
gung der Natur gegründeter Stolz, sondern ein Stolz, der die Natur besteht
und geistig ermißt. ist es, der den Menschen das Haupt heben läßt.
Man kann sich fragen. ob das ausgewogene Gleichgewicht dieser Frage
und dieser Antwort, ob das innere Gleichgewicht der Seele, die beide Welten
liebt, oder gar, ob der Rest lebensgeschichtlicher Anspielung, die den rheini-
schen und den holländischen Dichter konfrontiert. durch solche Deutung
nicht am Ende verschoben wird. Ist wirklich die Gegenstrophe mehr als eine
Entgegnung? Ist sie wirklich Einklagung eines übergangenen Rechts? Dich-
tungsauslegung kann nie vermeiden, einseitig zu werden. und hat daher
andere Seiten offenzulassen. Gewiß war der Dichter dieser Verse immer auf
der Seite des Gestalteten, Klaren, Beherrschten. und den zerlösenden Weiten
des Unbestimmten, Unmäßigen abhold. Aber dies 'Jahr der Seele( spricht
allzu deutlich aus dem nächtlichen Grunde der Seele, als daß man die großen
248 Ich und du die selbe seele
Bilder des Sturmes. des Moores. des alles begleitenden. alles bestreitenden
Atems der See ihm nicht als Eigen lassen müßte. Gewiß hat sich das auch
dem Text gegenüber zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung soll hier nicht
durch Ausgreifen über den gewählten Text auf Seelenlage und Stimmungs-
macht des ganzen Buches oder gar auf die Topik von Sturm und Meer im
Gesamtwerk des Dichters gegründet werden. sondern auf die Bewußtma-
chung der Klangbewegung dieser Verse selbst.
Zwar. die Antithese ist wie bloße Gegensetzung. Aber wie ist das vorbe-
reitet - so daß es gar nicht ausbleiben kann. Die Tonlage der beiden letzten
Verse der ersten Strophe. das sanfte Säuseln des Windes. das leichte Plät-
schern der Wasserspiele Tivolis. alles in hohen. hellen. heischenden Tönen
gehalten. fordert das machtvolle Bekenntnis zum Grunde geradezu heraus.
Und so sind es weithallende Klang- und Sinngebilde. die diese andere
Strophe fUllen. wie vom basso continuo eines unendlichen Chorals skan-
diert. Es ist ein menschenloses Dahinfahren des Elements. Kein Macbeth.
kein Hamlet ist beschworen. und doch ist es wie ein Dröhnen in der Luft. das
sich zu Shakespeareschen Vers-Visionen erheben möchte. Aber wie wird
das alles hineingenommen in den letzten Vers. in dem sich Geheiz;nnis und
Offenbarung dichterischer Kunst auf wunderbare Weise die Waage halten.
Es sind einfache Worte - IGeräusch<. lungeheuere. ISee( -, die hier zur
unauflöslichen Einheit eines Gebildes zusammengehen - und so, daß sie in
der neuen Fassung wie seltene. erlesene Steine blitzen. Was ist nicht alles
IGeräusch(! Aber dieses Geräusch ist das Rauschen der Brandung selbst. ist
dies Ganze unaufhörlichen Schlagens und Verrinnens - die unendliche Me-
lodie. vor der alle menschlichen Laute und Gestaltungen zufallig-flüchtig
werden. Warum hört man das alles? Gewiß. da ist die Wiederaufnahme der
Laute. Ir< zu Ire. des Volkals zum Vokal- und irgendwie mag der Chiasmus
von Ir-äu-eu-r< den Grundlaut des lau( in IRauschen< freisetzen. Aber es ist
dann ja auch die kollektive Formung, die das Rauschen zum »Geräusch «
werden läßt und die Übermacht des allen menschlichen G~staltungskräften
femen. ihnen gleichmütig überlegenen Elementes evoziert. Die See. dies
mütterlich all-umfassende Wasser. heißt »ungeheuer«. Fast klingt es trivial:
wie ,riesig< oder 'grenzenlos< - und dann doch nicht. Dann doch wie ein
letztes. ein endgültiges Wort. Nein. ein vorletztes. Denn die »ungeheure
See«. gewiß. sie ist das Weltmeer, in das alles zurückgeht und aus dem alles
kam. Aber es ist doch ldie See(! - vor der einen Staunen und Jauchzen befallt.
Denn sie ist nicht ein um weniges. sondern ein unendlich Größeres als alles,
was Menschenhand zur Ordnung einer hellen Welt fUgte, was menschliches
Schaffen ins Licht heraufgebar - sie läßt uns »der ungeheuren Weite Segen
ahnen«.
21. Der Vers und das Ganze
(1979)
Fassen wir das 19. Jahrhundert bis auf unsere Tage, mit denen wir im
letzten Viertel des 20. Jahrhunderts stehen, ins Auge und betrachten die
wechselnden Konstellationen, die etwa Schiller und Goethe aufweisen: wie
Schiller voranging, indem er dem vaterländischen Empfinden des sich for-
mierenden deutschen Nationalstaates die Stimme lieh; wie Goethe erst dem
Ende des 19. Jahrhunderts und dessen liberalen Idealen seine breitere und
umfassendere Wirkung verdankte; oder wie Hölderlin von einem Poeta
minor des romantischen Zeitalters in unserem Jahrhundert zu einem wah-
ren Klassiker aufstieg. Umgekehrt sehen wir zahllose Figuren von einer
zentralen und alle erfüllenden Bedeutung zu einer umstrittenen oder zu-
rücktretenden Größe werden. Und selbst unter den Größten wandeln sich
die Bevorzugungen. Denken wir etwa an Richard Wagner gegenüber Ver-
di oder an Beethoven gegenüber Bach. Es sind lebendige Spannungen, die
sich in solchen Zusammenordnungen ausdrücken. Oder - um damit unse-
rem Thema noch näherzukommen - denken wir an die überraschende
Wiederkehr des Jugendstils in unseren Tagen. An ihm hatte der junge
Stefan George selber teil, als er seinem eigenen Stilwillen Form und Gestalt
gab. Stefan George selber und sein Werk hat freilich im öffentlichen Be-
wußtsein unserer Zeit noch nicht eine entsprechende neue Beleuchtung
erfahren wie der 'Jugendstik Die Gelegenheit, die uns hier zusammen-
fUhrt, ist nicht ohne ein Bewußtsein dieses Umstandes geschaffen worden.
Man muß erwarten, daß die altgewohnte Provokation, die der Dichter
Stefan George gegen die Massengesellschaft schleudert, in uns heute neue
Resonanzen weckt - in uns allen ohne Unterschied des Alters oder der
Gesinnung oder der politischen Willensrichtung. Denn in uns allen beginnt
das Bewußtsein zu erwachen, daß Natur und Umwelt mehr sind als ein
Feld der Ausbeutung und der Umgestaltung zu einem einzigen riesigen
Industrie-Betrieb; daß Unsere menschlich - gesellschaftliche Arbeitswelt
sich vielmehr um die Wiedereinfügung in das größere Ganze sorgen muß,
das uns trägt und uns nährt. So könnte es sein, daß die Sehersprüche eines
Dichters wie Stefan George sich langsam von den kurzschlüssigen Anwen-
dungen lösen, die ihnen in den letzten Jahrzehnten zugewandt geworden
250 Der Vers und das Ganze
sind, und daß sie ihren wahren Maßstab zeigen, der mit Maßen mißt, die für
die Zukunft so gut wie flir Gewesenes gelten.
Das Thema .Der Vers und das Ganze( möchte in diesem weiten und
radikalen Sinne verstanden werden. Es deutet auf eine Frage, die im Grunde
drei Fragen umfaßt, die ich nacheinander behandeln und ins Licht stellen
möchte.
Es "geht um die Fragen:
1. Wie ist der Weg vom Vers zum Ganzen?
2. Wie ist die Trennung des Verses vom Ganzen?
3. Wie ist am Ende das Ganze im Vers zu .begreifen?
Die erste dieser Fragen ist jedem Kenner des dichterischen Werkes und der
Lebensleistung Stefan Georges wohl vertraut: »Der Weg vom Vers zum
Ganzen«.
Als Stefan George mit der Folge der IBlätter flir die Kunst( zum ersten
Male in eine beschränkte Öffentlichkeit trat, hat er im Vorwort die rich-
tungsweisenden Sätze gesagt, daß diese Blätter der Kunst, besonders der
Dichtung und dem Schrifttum, dienen wollen, »alles Staatliche und Gesell-
schaftliche ausscheidend«. Er nannte das ausdrücklich eine geistige Kunst,
eine Kunst für die Kunst. Nun ist das Wesen der Dichtung freilich immer
nicht nur der Schonbezirk einer Gesellschaft, der kultureller Selbstbefriedi-
gung dienen soll. Das Wesen der Dichtung steigt immer irgend wie aus der
gesprochenen Sprache auf und findet Widerhall in den Ohren und Seelen
aller, die hören können. So mag ein anderes Wort des Dichters bereits
vorzeichnen, wie der Anfang mit der Dichtung zum Ganzen hinzuführen
vermag. Das Wort lautet: »Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich
und Du· Hier und Dort· Einst undJezt nebeneinander bestehen und eins und
dasselbe werden.« Dies Wort spricht aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, es
spricht in den Beginn dieses Jahrhunderts hinein, in die Zeit vor dem Ersten
Weltkriege. Plötzlich rücken auch für uns Einst und Jetzt ganz nahe zusam-
men, diese Zeit vor dem Ersten Weltkriege und unsere Zeit, die - wie wir
hoffen - nicht eines Tages die vor dem dritten Weltkrieg heißen wird. Zeit
rückt zusammen, und in dieser geeinten Zeit stehen dann etwa die Gedichte
des .Sterns des Bundes( mit ihrer prophetenhaften Intensität. Da begegnet
ein Gedicht wie dies, aus dem ich nur ein paar Verse zitiere:
Und an der weisheit end ruft ihr zum himmel:
.Was tun eh wir im eignen schutt ersticken
Eh eignes spukgebild das him uns zehrt?(
Der lacht: zu spät für stillstand und arznei!
Die Frage drängt sich von selbst auf: Konnte der Dichter - der so sehr darauf
bestand, immer der Dichter zu bleiben, und der, auch wenn er für so viele
der Meister war, es immer als der Dichter sein wollte - das, was dieser Zeit
so fehlte, wie der Heldengesang, vom Dichten her wieder erwecken wollen?
George hat immer, selbst in seinen Freunden, selbst in Männem von der
großen wissenschaftlichen Begabung eines Friedrich Gundolf, mit Entschie-
denheit vor allem den Dichter gesehen und sie so angeredet. Erziehen war
ihm Erziehen zum Dichten. Die viel angegriffene Einformung und Anler-
nung jüngerer Freunde an und in den Ton seines eigenen meisterlichen
Verse-Könnens sollte Erziehung durch Dichtung und durch Lesen von
Dichtung sein und diente dem Ziel- um ein Wort Georges zu zitieren -, die
»Traumfähigkeit« neu zu wecken und zu stärken. Der Weckung der Traum-
fähigkeit sollte am Ende auch der Maximin-Kult dienen, der neue Mythos
des George-Kreises, der als Gedächtniskult und durch Leben im Gedächtnis
an eine fUr den Dichter bedeutende menschliche Erfahrung eine Gruppe von
Menschen vereinigen und mit einem neuen LebensgefUhl erfüllen sollte.
Fragen wir uns: wie kann dieser Weg eines Dichters als ein Weg zum
Ganzen gegangen werden, wenn das Ganze vom Vers so verschieden, dem
Vers so entfremdet ist, wie das in Georges eigener Jugend der Fall war und
erst recht in unserer Zeit der Fall ist. Fragen wir zuerst: Wie kam es zur
Trennung des Verses vom Ganzen? Kann Poesie etwas anderesjsagen als des
gemeinsamen Geistes Gedanken? Poesie ist Weitersage des Mythos. Mythos
ist die keiner Beglaubigung bedürftige ,Sage<. Aber wo ist eine solche,
252 Der Vers und das Ganze
sein einer Kultur sich aufsplittert, wie Nietzsche den Historismus seiner Zeit
empfand. Hier ist anderes im Spiel. Damit komme ich auf die größte
Legitimation, die wir f"ür uns, in unserer späten Zeit, in Anspruch nehmen
dürfen. Plato hat es im >Symposion( geschildertl. Dort belehrt Diotima den
Sokrates darüber, daß Eros, die hinreißende Weltmacht der Liebe, nicht als
ein Inbegriff des Schönen gefeiert werden sollte, sondern als das dämonische
Wesen, das überall auf Zeugung im Schönen aus ist. Dies Außer-sieh-Sein
sind wir selbst. Plato sagt uns auf diese Weise mit einer - bis heute, wie mir
scheint - immer wieder vergessenen Entschiedenheit. daß menschliches
Wesen und Wissen sich nur durch Üben ~W'II) verwirklicht: 'nur durch
immer neue Zeugung. durch ständigen Wiedererwerb, ständige Wiederer-
neuerung. ständiges Wiederschaffen kommt Bleiben zustande. Der griechi-
sche Ausdruck rur das Behalten des Gedächtnisses (}I/vIZP"l) hatte vielleicht fur
das griechische Ohr etwas vom pivew, vom Bleiben. vom Bleibend-werden
in sich. Jedenfalls hat >memorial fur uns den großen Sinn der inneren
Schatzhäuser unserer Seele. von denen Augustin zuerst zu reden wußte.
Nun sagt Plato: dieses Verfahren des Wiedererwerbs. diese immer neue
Zeugung, sei die Weise (P7JX01'1l), wie das Sterbliche am Unsterblichen teil-
hat. Alles Lebendige, und so auch das Menschengeschlecht. erhält sich nur
so, durch physische Fortzeugung. Aber es gibt auch Menschen. die in den
Seelen zeugen. Unter ihnen fuhrt Diotima als erste die Dichter an und alle
anderen Menschen, die wir >schöpferisch( nennen, einschließlich der gro-
ßen Gesetzgeber: sie fuhrt Homer. Hesiod, Lykurg und Solon an. Sie alle
erneuern das Ganze.
Es sollte deutlich geworden sein, wieso das, was als ein bloßer Nachhall
einer ehedem unmittelbaren, religiös durchformten Kultur erscheinen
konnte, in Wahrheit eine bleibende menschliche Grundaufgabe. eine Grund-
möglichkeit des Menschen wahrnimmt. so daß am Ende die Trennung des
Verses vom Ganzen sich aufhebt und gerade auch das Ganze im Verse zu
erkennen möglich wird. >Mnemosyne( waltet über allem: Im Gedächtnis
halten heißt Mensch sein. Das lehrt uns nicht zuletzt die religiöse überliefe-
rung aller Völker und all die zahllosen Gräberfelder und Gräberfunde, die
aus der Frühzeit der Menschheit zu uns zurückkehren. Mnemosyne waltet
vor allem in der Dichtung. Mnemosyne ist die Grundlage aller epischen
Poesie, uns allen durch das Tun der Rhapsoden-Geschlechter überliefert. die
unsere älteste epische Literatur vermittelten. und wir·wissen gerade heute.
dank den neueren amerikanischen Forschungen in den dreißiger Jahren auf
dem Balkan, daß es selbst in unseren Zivilisationen noch mündliche, ledig-
lich auf Memoria, auf Gedächtnis, gestützte epische Tradition gegeben hat
und vielleicht noch heute gibt.
Gundolf begann, dem dann Bertram und zahlreiche andere Freunde Stefan
Georges folgten, indem sie Universitätsprofessoren wurden. Aber man
sollte das nicht als ein Bekenntnis zur Wissenschaft verstehen. Man sollte
sich vielmehr erinnern, was George selber darüber gedacht und gesagt hat.
Er hat ausdrücklich davor gewarnt, daß ein Dichter sich von dem Erfolg
seiner dichterischen Arbeiten abhängig mache - statt sich eine Existenz-
grundlage zu schaffen. Wenn zahlreiche unter den Freunden Georges den
Weg zur Universität gefunden haben, haben sie damit mehr oder weniger
den Weisungen des Dichters selber gehorcht. Ein Bekenntnis Georges zur
Wissenschaft war das nicht. Wir wollen es nicht beschönigen, daß der
Eintritt in die Universität mehr oder weniger als Broterwerb gemeint war.
Das ist mit allem Respekt vor diesem Verhalten gesagt.
Ich darf vielleicht ein äußeres Zeichen anführen. In dem veröffentlichten
Briefwechsd zwischen George und Gundolf fällt auf. daß George seinen
jungen Freund, auch als er längst Professor war, »lieber Dichter« anzureden
pflegte. So entschieden bestand er sdbst gegenüber dem Forscher und
akademischen Lehrer darauf. daß das, was sie eigentlich verbinde, nicht die
Wissenschaft sei, sondern die Kunst. Es kann kein Zweifel sein, das Thema
,Stefan George und die Wissenschaft< hat etwas Paradoxes. George pflegte
das Wort »Analyse« polemisch zu gebrauchen. Wenn man das Fremdwort
vermeiden wollte, könnte man, wie Dilthey das tat, »Zergliederung« dafür
sagen. George aber übersetzte es als »Auflösung«. Das, was da aufgelöst
wird, ist die lebendige Substanz, d. h. aber das, was über das Wissen des
einzdnen hinaus alle, ein Volk und die Menschen, verbindet.
Ich will also den Einfluß und die Wirkung, die Stefan George auf die
Wissenschaft gehabt hat, nicht in dem Sinne zum Thema machen, daß man
die bedeutenden Beiträge würdigte, die die engeren Freunde Georges inner-
halb der Wissenschaft geleistet haben und die später zum Teil in einer
Schriftenreihe zusammengefaßt wurden. die den bezeichnenden Titel trug:
,Bücher der Schau und Forschung<.
Um die Frage, die ich im Auge habe, anschaulich zu machen, möchte ich
wie ein Zeuge schildern, wie Stefan George in meiner Studienzeit wirksam
geworden ist. Ein Zeuge hat zu sagen, was er selbst gesehen hat, und so darf
ich kurz berichten. wie ich zu diesem Dichter kam und wie sich das im Laufe
der eigenen wissenschaftlichen Entwicklung auswirkte. Es handelte sich
dabei um eine indirekte Zugehörigkeit zu Werk und Wirken des Dichters.
und das scheint mir in meiner Generation und erst recht auch bei weit·
jüngeren sehr verbreitet.
Als Sohn eines Naturforschers fand ich in meinem Elternhause nicht sehr
viele Anregungen für solche Dinge. Weil ich mich für Lyrik interessierte,
wovon mein Vater nichts hielt, der eigentlich aus mir einen Naturforscher
zu machen hoffte. kaufte ich mir eines Tages als Gymnasiast von meinem
260 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft
1 Vgl. dazu den Beitrag von ERWIN WALTER PALM auf dem George-Kolloquium der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, vom 3. Dezember 1983.
Gedruckt in: H.-]. ZIMMERMANN (Hrsg.), Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissen-
schaft. Heidelberg 1985, S. 73-76.
2 Dazu ARTIlUR HENKEL in seinem Vortrag ,Max Kommerell (1902-1944)(. Eben-
falls jetzt in: H.-]. ZIMMERMANN (Hrsg.), a.a. 0., S. 51-59.
3 Siehe dazu auch 'Hölderlin und George(, in diesem Band, S. 230ff.
Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft 263
kens« wurde damals gerade Mode. Ihm stand das gestalthafte Sehen entge-
gen, das innerhalb des George-Kreises besonders gepflegt wurde.
Mit dem Wort »Gestalt« ist das Stichwort gefallen, unter dem sich ein
neuer Stil der Forschung durchsetzte und in der Wissenschaftsgeschichte
unter dem Namen der »Gestaltbiographie« Eingang fand. Von Freunden
Georges entstanden Bücher über Nietzsehe und Goethe, über Raffael und
Winckelmann usw. Daß Werk und Wirken solcher Männer nicht als eine
Folge von Erlebnissen und aus einer Summe geschichtlicher Einflüsse er-
klärt werden darf, sondern vor allem als eine in sich beruhende und zu
bleibender Einheit geschlossene Gestalt gesehen werden muß, war allen
gemeinsam. Daß dabei die Maßstäbe kritischer Methode und wissenschaftli-
cher Vorsicht in den Hintergrund traten und wohl auch öfters geradezu
verle"tzt wurden, liegt auf der Hand. Der Anspruch war ein anderer. Man
denke an den Begriff des Mythos, der durch Bertram und manche andere in
die Wissenschaft eingefiihrt wurde und dort einen neuen Sinn gewann.
Mythos ist ja etwas, auf das man zu hören hat und dem man nicht mit
erklärenden Mitteln gerecht wird, sondern nur als ein Horchender und
gehorchend4 • All daß hinterließ im Stil der Forschung seine Spuren.
Das zweite Wort, das George selber ganz in den Vordergrund gestellt hat,
war »die Kunst« - in jenem doppelten Sinne der Dichtung und einer über das
Dichterische noch hinausgehenden weiteren Bedeutung von .Kunstc. Hier
wäre eine Bemerkung zu machen, die ich innerhalb der George-Deutungen
immer ungenügend berücksichtigt fmde. Man spricht dort sehr viel von
dem Visuellen, von der Gesichtigkeit der Anschauung, die das Eigentliche
an Georges Dichtung sei, und es ist gewiß wahr, daß die neue Formgesin-
nung dieser Dichtung in vielen Bereichen - so in der Archäologie und in der
Kunstgeschichte - zu produktiver Wirkung kam. Trotzdem beruht nach
meiner Überzeugung die Georgesche Dichtung nicht primär auf der Kraft
ihrer Anschaulichkeit, sondern ganz im Gegenteil auf dem sprachlich-musi-
kalischen Aspekt einer neuen Klangwirklichkeit von geradezu magischer
Ausstrahlung. Das wird in meinen Überlegungen noch eine Rolle spielen.
Schließlich ist der Begriff des» Vorbildes« und der Vorbilder von George
neu zu Ehren gebracht und einer fortschritts trunkenen Epoche entgegenge-
stellt worden.
Fragen wir nun nach den Gründen, aus denen eine Haltung. die der
bisherigen Wissenschaftsgesinnung so herausfordernd entgegentrat, einer
Generationjunger Forscher nicht nur Anregung und Förderung bedeutete,
sondern ihr geradezu eine dauernde Prägung verliehen hat.
Da ist zunächst die Sonderart der Georgeschen Dichtung. Daß sie etwas
4 Ausflihrlicher zum Begriff des Mythos siehe in Bd.8 der Ges. Werke die dorr
ges3~me1ten Beiträge zum Thema .M ythos und Logos. und .Mythos und Vernunft.,
264 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft
Kenntnis genommen, sondern die Dichtung nimmt einen ganz ein. Man
darf auch an die Sprache der Religion denken und an das falsche protestan-
tische Vorurteil, wenn etwa katholische Gebetsriten deshalb kritisiert wer-
den, weil, etwa beim Rosenkranzbeten. das gar nicht gedacht und verstan-
den werde. was in der Sprache gesagt ist. Nicht nur um George zu verste-
hen. sondern um die Sache zu verstehen. die in dem Rätsel der Sprache
liegt, muß man erkennen, daß die Sprache noch eine andere Funktion hat
als nur die übermittlung von Gedanken. Das Wort ist noch anders ein
Sinnträger.
Und doch soll es etwas sagen und kann sich versagen. Ge.orge hat selbst
dem Geheimnis des Wortes in seinen Gedichten wiederhoit Sprache verlie-
hen, das auch für den Dichter unbeherrschbar bleibt. Das Wort gewährt
sich und das Wort versagt sich. Das Wort. das immer nur ein Gemeinsames
sein kann, fuhrt das Regiment.
Georges meisterliche Oberherrlichkeit hat sich - anders als manche sei-
ner Deuter - die schicksalhafte Grenze eingestanden. die das Amt des Dich-
ters zu einem Leiden macht. »Kein ding sei wo das wort gebricht. II Den
tiefsten Ausdruck solcher Grenzerfahrung hat der Dichter in einem Gedicht
gefunden. das leider von den Interpreten immer weggedeutet wird. weil es
in ihr Bild von dem »Meister« nicht paßt6 :
Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch -
Worin du hängst· das weisst du nicht.
[... ]
Man wird hinter die Philosophie der Neuzeit und die Sprache der Meta-
physik, die ganz auf Bewußtsein und Sdbstbewußtsein gegründet sind,
zurückgehen müssen, wenn man diese Erfahrung als eine fundamentale
menschliche Erfahrung einsehen will und der Aussage gerecht werden will,
die das Werk der Dichtung für uns darstellt. Wir haben nicht nur in der
Philosophie, sondern in vielen Wissenschaften etwas davon gele01t, daß
Sprache weit über die jeweiligen subjektiven Möglichkeiten ihres Sinnvoll-
zuges hinaus ragt und etwas von der Gemeinsamkeit eines Atems hat, der
uns alle beseelt.
Der zweite Punkt, den ich erörtern möchte, betrifft die Warnungen, die
Nietzsche in der zweiten der >Unzeitgemäßen Betrachtungen< ausgespro-
chen bat. als er über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
reflektierte. Da war es vor allem die Rolle. die die monumentale Historie
für die Kritik an einem abgeblaßten und sekundären Begriff der Objektivi-
tät spielt. die in George und seinen Freunden eine neue Aufnahme fand.
6 Vgl. die Interpretation dieses Gedichts aus dem >Neuen Reich. (.Das Lied«) in den
ersten beiden George-Aufsätzen dieses Bandes, S. 227f. u. 243f.
Die Wirkung Stefan Georgcs auf die Wissenschaft 267
Es sind zwei Begriffe, die wir hier genauer ins Auge fassen müssen. Das
eine ist der Begriff des historischen Sinnes und das zweite der Begriff des
Vorbildes. .
Der Begriff des historischen Sinnes wird in unserer Sprache und in unse-
rem Denken in einem doppelten' Sinne gebraucht. Im George-Kreis wie
auch bei Nietzsche bedeutet der Ausdruck zunächst das, was wir heute mit
dem Begriff )Historismus< verbinden, und schließt die vollständige Eineb-
nung aller Geltungsansprüche der Vergangenheit und der Überlieferung
ein. )Historischer Sinn< bedeutet in dieser Richtung eine bloße Entgrenzung
des eigenen Lebens und der Gegenwart, in der wir selbst stehen, in. die
grenzenlos sich öffnende Dimension der Vergangenheit hinein. Im Sich-
Einlassen auf ihre wechselnden Werttafeln kommt damit die Ausweitung
des Lebens seiner Auflösung nahe. - Historischer Sinn ist eben vor allem der
Blick für das Einmalige in aller Überlieferung. Diesen Blick zu schärfen und
der eilfertigen Anpassung an das Erwartete und selbstverständlich Scheinen-
de zu widerstehen, das verlangt historischen Sinn. Dadurch wird das Ver-
gangene sprechend, daß es als die jeweilige Gegenstimme gehört wird, ob
diese nun ein Text oder ein Monument oder was immer ist. Historischer
Sinn ist dann eine Art von innerer Sensibilität für das, was über unseren
eigenen Horizont hinausgeht und was gerade dadurch als eine eigene
Stimme in unser Gespräch mit uns seIbst hineinspricht. Ich habe für diese
Wirksamkeit des historischen Sinnes in der Aneignung der überlieferung
den Begriff der Horizontverschmelzung eingeführt.
Aufs engste hängt damit der Begriff des Vorbildes zusammen. Nietzsche
hat breit ausgeführt, welcher Gewinn und welche Gefahr im Suchen und
Wählen von Vorbildern liegt. Jeder wird das an den Werken der Forscher
innerhalb des Kreises um Stefan George empfinden. Man kann da von einer
seltsamen Familienähnlichkeit reden, die die großen Gestalten aufweisen,
denen diese Forschung gewidmet ist, ob es sich da um Plato oder Dante
handelt, um Winckelmann oder Raffael, um Napoleon oder Friedrich Il.
und wie die ganze Reihe der Vorbilder lauten mag. Hier besteht ohne
Zweifel die Gefahr gewaltsamer Anpassung und Unterordnung unter ein
paradigmatisches Vorbild, das für alle diese Männer der Dichter Stefan
George selbst war. Das Positive sollte man hier nicht verkennen, daß gerade
auch. echte Erkenntnis auf diese Weise möglich wird und die solideste
Quellenarbeit durchaus nicht ausgeschlossen ist. So ist ein Fall bekannt, die
Biographie Friedrichs II. durch Kantorov.-icz. Da hat man die Kompetenz
des Forschers angezweifelt, der diesen Stauferkaiser mit antiken Zügen im
Sinne Stefan Georges ausgestattet hatte. Man hat die Belege aus der Überlie-
ferung vermißt, und da hat der Verfasser einen zweiten Band - man kann nur
sageri: nachgeschmettert -, an dem sich zeigte, wie solide und substantiell
die Basis für seine Aussagen gewesen war. Vielleicht kann man sogar sagen,
268 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft
daß die ungewöhnliche Figur des Staufers dem geheimen Vorbild des Histo-
rikers in diesem Falle wirklich besonders ähnlich war. Im Falle Platos etwa
konnte mir die Stilisierung auf den fast priesterlichen Meister und Kultstifter
weniger einleuchten.
Injedem Fall aber steckt ein tieferes philosophisches Problem in der Rolle
des Vorqildes für die Geschichtsschreibung: das dialektische Verhältnis des
Allgemeinen und des Einzelnen. Immer geht es darum, wie das Allgemeine
im Einzelnen erscheint und wie sehr sich das Allgemeine dadurch bestimmt,
daß es nur im Einzelnen oder in einer Vielzahl von Einzelnem seine wahre
Wirklichkeit hat. Das nennt man eine Aufgabe der Urteilskraft, das Allge-
meine im Konkreten zu erkennen und von da aus seine Bedeutung selbst zu
ermessen.
Hier muß man auch an Gundolfs Reflexionen über den Begriff der Aus-
wahl denken. Von der Arbeit des Historikers ist das Recht der Auswahl und
die Verantwortung rur die Auswahl unabtrennbar, auch wenn dieses Prinzip
nicht immer mit vollem methodischen Bewußtsein gehandhabt wird. Nicht
das große Gedächtnis allein macht den Historiker, sondern ebenso die Kraft
des Auswählens, durch die erst das» Wie es eigentlich gewesen ist«, vielsa-
gend wird. Die Gestaltbiographien des George-Kreises zeichnen sich durch
bewußte Annalune des Prinzips der Vorbildnahme aus. Dabei wird man die
jeweilige Annäherung an das geltende Vorbild verschieden bewerten müs-
sen und wird vielleicht sagen dürfen:Je schwerer es sich einer macht, das ihn
leitende Vorbild in der überlieferung wiederzuerkennen, desto reicher wird
der Erkenntnisertrag.
Als letzten Punkt möchte ich einen Fall beleuchten, ft.ir den ich wohl selbst
am meisten Sacheinsicht habe: das neue Plato-Bild (was man damals so
nannte). Es ist kein Zweifel, daß der George-Kreis in der Plato-Forschung
eine sichtbare Spur hinterlassen hat. Das Plato-Werk Paul Friedländers, von
dem schon dieRede war, oder Karl Reinhardts hinreißendes kleines Buch
über Platos Mythen 7 zeigen das deutlich. Aber es ist erstaunlich, daß selbst
Männer, die gar keine Philologen waren, wie Friedemann, Singer und
Hildebrandt, hier gutes Neues zur Geltung gebracht haben. Stefan George
selbst scheint erst am Ende seiner großen dichterischen Schaffens periode,
also erst um 1910, in das Werk Platos tiefer eingedrungen zu sein. Kurt
Hildebrandt hat damals eine übersetzung des >Symposion( herausgebracht
und in intensiver Zusammenarbeit mit George selbst ein großes Plato-Werk
vorbereitet, das 1932 vollendet wurde und Anfang 1933 erschien8 • Es ver-
7 KAn RmNHARDT, Platons Mythen. Bonn 1927. Jetzt auch in: Vermächtnis der
Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, hrsg. v. eARL
BECKER. Göttingen 1960, S. 219-295.
8 KURT HlLDURANDT, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Ber/in 1933. Vgl.
dazu meine Rezension inder DLZ von 1935 (jetzt in Bd. 5 der Ges. Werke, S. 331-338).
Die Wirkung Sref.h Georges auf die Wissenschafr 269
leugnet die Schwächen seiner Zugangsweise nicht, zeigt aber auch die
Stärke. Die eigene Erfahrung im Verhältnis von Meister und Jünger und die
Teilhabe an der bildenden Wirksamkeit des Dichters an seinen jungen
Freunden hat ihm eine Wiedererkennung von vielem ermöglicht, das in den
Platonischen Dialogen bedeutsam ist. Hildebrandt hat mir einmal erzählt,
wie er im Freundeskreis ein Kapitel seines Buches vortrug und jemand
skeptisch sagte: "Ja, ob's aber auch wahr ist«, und daß George darauf gesagt
habe: »Ob's wahr ist? - Ihr sollt es halt wahrscheinlich machen. « Diese
Bemerkung wurde von Hildebrandt und seinen Freunden ganz positiv
aufgefaßt, und gewiß wollte George damit nicht sagen, daß man Beliebiges
wahrscheinlich machen darf, wenn es nur den eigenen Zielen und Interessen
und Wertungen el;1tspricht. Er meinte vielmehr, daß man über das, was sich
durch rein kritisch-methodische Feststellungen sichern läßt, immer hinaus-
gehen muß. Das scheint mir nun fürjede geisteswissenschaftliche Forschung
ein richtiges Prinzip. Vermutlich gilt es in dem gesamten Bereich dessen,
was wir aus der Rhetorik als das Kapitel )De inventione. kennen. Daß man
auf etwas kommt, ist nie etwas, was schon gesichert ist, und selten so, daß
man es unbezweifelbar beweisen kann. Gewiß brachten George und seine
Freunde - aber auch ein Forscher wie Friedländer - den rechten Sinn fur das
auf, was in den Erziehungsgesprächen des Sokrates mit seinen Partnern
geschieht. Das ist kein Asthetizismus, dieser Seite der Dialoge Aufmerk-
samkeit zu schenken. Es ist eine Bedingung für das rechte Verständnis der
Gedanken selbst. Denn es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen
dem. was einer denkt, und dem, was einer ist. Die sokratisch-platonische
Dialog-Logik ist auf dieser dorischen Harmonie. dieser Harmonie zwischen
Logos und Ergon, aufgebaut. Sie bedeutet negativ, daß nicht jeder zu jeder
Einsicht fähig ist und wer einen wahren Satz bloß wiederholt, ohne ihn ganz
von sich aus zu erfiillen, seine Einsichtslosigkeit dadurch beweist, daß er ihn
nicht verteidigen kann. Darauf beruht die sokratische Dialektik. Sie ist eine
Prüfung nicht nur von Sätzen, sondern auch von Seelen.
Im Bereich der Philosophie haben wir diese Einsichten in den letzten Jahr-
zehnten in der sogenannten Hermeneutik und ihrer Umbildung weitgehend
fruchtbar zu machen '/ersucht. Daß die wissenschaftlichen Methoden und
damit die kritische Histode unentbehrlich bleiben. wußte auch Nietzsche und
ist überhaupt unleugbar. Aber die Fruchtbarkeit der Forschung geht noch von
etwas anderem aus, das aller Methodik vorausliegt: daß wir lernen, richtig zu
fragen und von richtigen Fragen bewegt an die Quellen heranzutreten. Stets
sind es Spuren von Wirklichkeiten, die uns auf das rechte Fragen kOl11men
lassen. Eine Spur solcher Wirklichkeiten habe ich an dem einheitlichen
Werden aufzuzeigen gesucht, das von Georges Lebensbahn bis in unsere Tage
reicht. Diese Spur hat uns gezeichnet, mögen wir wie immer unsere Abstände
zu den bei den Extremen bestimmen, von denen das eine etwa durch den
270 Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft
großen Soziologen Max Weber gebildet wird und das andere durch den
großen Dichter Stefan George, aufder einen Seite durch das Forscherideal der
innerweltlichen Askese, auf der anderen Seite durch den Dichterberuf des
Ivates<.
Vergegenständlichung, auch wenn man es auflateinsich ausdruckt und von
Objektivität redet, ist nicht der einzige Maßstab unserer Realitätserfahrung
und in gewissem Sinne sogar dem nachgeordnet, was ich mit Plato ITeilhabe<
nenne. Teilhabe scheint mir das Wesen der Geisteswissenschaften im beson-
deren auszumachen. Doch gilt es vermutlich für alles menschliche Wissen.
Wir sind als endliche Wesen nie in der Lage dessen. der seine Erfahrung der
Realität so besitzt, daß er seinen Gegenstand la principio<, vom Anfang an,
konstruieren und seiner ganz Herr werden könnte.
23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins
Zu dem Buch von Romano Guardini
(1955)
Daß die Dichtung Rilkes nicht nur ein Gegenstand der Literaturwissenschaft
ist, sondern den heute Lebenden ein wahrhaft philosophischer Gegenstand,
das heißt ein Anlaß der Selbstbesinnung und der Auseinandersetzung mit
der Weltdeutung des Dichters, bedarf keiner Begründung. Ein Blick in die
unübersehbare, Rilke-Literatur beweist es. Denn was aus diesen zahllosen
Büchern spricht, ist kein bloßes ästhetisch-literarisches Interesse mehr. Da-
von macht auch das Buch von Romano Guardini keine Ausnahme l • Insofern
stößt sein Anspruch, daß es Rilke erstmals ernst nehme, ins Leere. Es
übertrifft allerdings an Sinn für das Dichterische und an Kunst der Ausle-
gung das allermeiste. Aber nicht das ist der Grund, warum es eine besondere
philosophische Beachtung verdient. Vielmehr nimmt es dadurch einen be-
sonderen Rang ein, daß sein Ernstnehmen Rilkes keine stillschweigende
I Obwohl es sich hier um die Kritik eines Buches handelt, ist meine Auseinanderset-
zung mit GUAR01NlS Rilke-Deutung alles andere als eine Gelegenheitsarbeit. In sie ist eine
lange Bemühung um die Deutung der Duineser Elegien eingegangen, die bereits um 1930
einsetzte. Herausgefordert durch die Sachfeme der damals aufkommenden Interpreta-
tionen von protestantisch-theologischer Seite und immer wieder bestürzt über die Unge-
nauigkeit des Lcsens, von der die Rilkc-Literatur zeugte, plante ich damals einen ausführ-
lichen Kommentar, der im akademischen Unterricht wiederholt vorgetragen wurde. In
denjahren der zunehmenden Verdüsterung nach 1933 gewann neben dem späten Hölder-
!in der späte Rilke eine immer größere Bedeutung für die Verteidigung der inneren
Freiheit. Das Gedrängte und Bedrängte seiner in freien Maßen sich auftürmenden Invoka-
tionen fand überall bereiteste Aufnahme, und langsam wuchs das Ve:ständnis dieser
hermetischen Dichtung, das zugleich dem Gedanken der Philosophie diente. Es war in
dieser Zeit, daß auch GUAROINIS erste Rilkc-Deutungen erschienen, eigenen Deutungen,
die nicht über den Kreis des Hörsaals hinausdrangen, begegnend. Nach dem Kriege
schwoll dann die Flut der philosophischen Rilkc-Deutungen immer weiter an. Aber erst
Guardinis dichterisch feinfühlige und positions bewußte Gesamtdeutung der Elegien reiz-
te mich zu zeigen, daß man immer noch genauer lesen muß und daß Guardinis theologi-
sche Kritik - im Vergleich zu der theologischen Assimilation der frühen drcißiger und der
wahllosen philosophischen Assimilation der vierziger Jahre gewiß ein bedeutender Fort-
schritt - am Anspruch des dichterischen Werks Rilkes vorbeihört. Inzwischen haben sich
die Konstellationen des Geistes deutlich geändert und Rilke wird nicht mehr wie damals
gelesen, sondern ist Objekt der Literaturwissenschaft.
272 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins
Identifikation der Meinung des Interpreten mit der Meinung des Dichters
voraussetzt, sondern im Gegenteil einen bewußten kritischen Abstand.
Trotzdem bleibt es eine gemeinsame Voraussetzung, die Guardini mit fast
aller Rilke-Interpretation teilt: daß die Rilkesche Dichtung nicht bloß ästhe-
tisch, das heißt als ein auf Echtheit bewertbares Ausdrucksphänomen, son-
dern als Aussage, die etwas Wahres sagt, verstanden wird. Aber durch
Guardini stellt sich das grundsätzliche Problem: Was ist Kritik an einem
Dichter, die nicht das dichterische Gelingen, sondern seine Wahrheit meint?
Allerdings macht Guardini diese gemeinsame und überzeugende Voraus-
setzung auch seiner Interpretation sogleich in der Einleitung zweideutig.
Unter Berufung aufRilkes Selbstaussagen sieht er seine Dichtungen als eine
religiöse Botschaft an - und will deren Legitimation daran prüfen, ob ihre
Aussagen wahr seien.
Beides vereinigt sich nicht einfach. Es sind doch zwei ganz verschiedene
Instanzen, auf die sich Guardini beruft: der natürliche Anspruchjedes Rilke-
Lesers, Wahrheit gesagt zu bekommen, und der besondere angebliche An-
spruch Rilkes, eine religiöse Botschaft zu übermitteln. In der Tat gebraucht
Rilke Beschreibungsformen seiner dichterischen Inspiration, die fast wie ein
Anspruch auf religiöse Offenbarung klingen, und im Zusammenhang der
Entstehung der Sonette an Orpheus sagt er sogar einmal, daß diese nicht
Aufklärung forderten, sondern Unterwerfung. Für Guardini heißt das, daß
sie Glauben fordern. Mir scheint es aber kein Zweifel, daß der allgemeine
Wahrheitsanspruch, den Guardini auch bei Rilke mit Recht voraussetzt,
nicht wirklich religiöse Autorität in Anspruch nimmt. Es ist eine Unterstel-
lung, daß Rilkes dichterische Aussagen mit religiösem Ernst verstanden
werden müßten, wenn man nicht annehmen wolle, daß Rilke zu »solchem
existentiellen Ernst nicht mehr fahig gewesen sei«.
Tertium non datur: religiöse Botschaft oder ästhetische Spielerei (20 ff.).
Wer in Rilkes wie in aller großen Dichtung Wahrheit sucht, ohne deshalb
etwa die griechische Tragödie als ein frommer Grieche und das Calder6n-
sche Schauspiel als ein katholischer Spanier in naiver Unmittelbarkeit erfah-
ren zu können, wer also dichterische und nicht mit religiöser Autorität
auftretende Wahrheitsaussagen sucht, sieht sich um alle Legitimation ge-
bracht. Er wird von Guardini dem ))Relativismus der ausgehenden Neuzeit«
zugerechnt:t (21).
Man kann diese seltsame Überspannung des Wahrheitsinteresses bei Gu-
ardini begreifen, wenn man sich in seine Einzelinterpretationen vertieft.
Denn Guardini prüft in der Tat nicht eine dichterische Aussage, wie sie als
das treffende und betroffen machende Dichterwort erfahren wird, auf ihre
Wahrheit, sondern er konstruiert aus der vielschichtigen Gleichnisrede des
Dichters ein einheitliches System der Daseinsdeutung und >Religion<.
Da Guardini als katholischer Christ dieses System an den Wahrheiten der
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins 273
selbst »den existentiellen Ernst« abspricht (89). Was in der zweiten Eleg~e
gemeint ist, und warum die Engel Engel sind, ist doch ganz eindeutig. In uns
Menschen ist unser Fühlen ein Schwindendes. Wesen, deren Fühlen sich
nicht verflüchtigt, sind nicht mehr Menschen. So scheint es mir ganz abwe-
gig, die Erfahrung der Griechen vom Göttlichen mit der Nennung der
Engel, die überhaupt keine Götter sind, zusammenzubringen (99). Nicht
Erscheinung des Unsichtbaren, sondern Garant des Seinsanspruchs des
Unsichtbaren nennt sie Rilke in dem bekannten Brief an Witold Hulewicz.
Hier kann freilich Kritik einsetzen. Ist dieser Maßstab des reinen Fühlens,
der auch den Liebenden nur im Zauber des Beginns erfUllbar ist, ausrei-
chend, um das menschliche Dasein recht zu sehen? Schon Rudolf Kassner
hat auf die Grenze der Rilkeschen Welt aufmerksam gemacht: sie sei nur im
)Reich des Vaters<, nicht >im Reich des Sohnes< daheim. Ihr fehle die Wahr-
heit der Inkarnation. Guardinis Kritik ist sicher ähnlich motiviert.
Denn auch er vermißt an Rilke das Kernhafte der Person und sieht gerade
in dieser Entselbstung das fragwürdig Gegenwärtige, das Rilke mit der
Moderne verbinde. Der Verlust der Person und das der Totalität Anheimfal-
len, das die gegenwärtige Welt kennzeichnet, gehören nach Guardini zusam-
men. Das ist vielleicht aufs Ganze gesehen richtig. Wir werden darauf
zurückkommen.
Aber ist das, was die Dichtungen sagen, deshalb nicht wahr? Hat es nicht
für jeden Menschen Wahrheit, wenn das dichterische Ich sich hier als den
Lernenden und Unbelehrbaren sieht, dem die Selbstlosigkeit des wahren
Fühlens und damit das wahre Lieben nicht gelingt? Ist dieser Maßstab
wirklich falsch? Gerade die dritte Elegie, die Guardini als eine gnostische
Irrlehre, in der das Dunkle und das Böse als die seiende Gegenmacht des
Hellen und des Guten gesehen werde, bezeichnet (104f.), gewinnt von da
erst ihren Ort. Es ist schwer, ein Selbst zu sein, schwer, gerade in der Liebe
sein Selbstsein nicht zu verlieren an das Namenlose des Triebes. Wo liegt
hier der Irrtum? Ist es denn vielleicht nicht wahr, daß dem liebendenJüng-
ling vor dem »reinen Gesicht« des Mädchens der »Flußgott des Blutes«
schuldig heißen muß? ;
Ich meine, es ist ein richtiges Prinzip, ja eine notwendige hermeneutische
Forderung fUr alle Interpretation von Dichtung, sich vom Wort des Dichters
treffen zu lassen. Nur der Betroffene versteht, was gesagt wird. Und voll-
ends bei einer Dichtung wie den Rilkeschen Elegien, die überhaupt nieman-
den anreden, so sehr ist der Dichter schon jeder andereZ, gilt es, eine jede
Elegie als die Einheit eines meditativen Ganges zu vollziehen. Die feinfühli-
gen Auslegungen Guardinis, so hilfreich sie in vielen Einzelheiten sind (daß
2 Das .Du« der 1. Elegie (v. 23) versteht Guardini falsch, wenn er darin nicht die
Intensivierung der Selbstanrede erkennt (37).
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins 275
ich manche der Einzelerklärungen für verkehrt halte, mindert nicht das
Gesagte), lassen die Einheit des dichterischen Anliegens meist nicht genug
zur Geltung kommen. Am fühlbarsten wird dieser Mangel dort. wo das
Anliegen verkannt wird. Das scheint mir besonders bei der' vierten und
fünften Elegie, und etwas auch bei der zehnten.
Das einheitliche Thema der vierten Elegie, in das sich das Generalthema
des Lernens des wahren Fühlens und Liebens hier konkretisiert, ist die aus
übereilung entstehende Falschheit, die in die menschlichen Beziehungen
unheilvoll eindringt. Auch hier bedarf es nicht biographischer Ausdeutung.
»Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang?«
Guardini glaubt (155 ff.), daß es zum Verständnis hilft, wenn man hier
einiges aus der Biographie Rilkes hinzunimmt: daß der Vater, als Berufsoffi-
zier gescheitert, nun seinen Sohn für diese Laufbahn bestimmte und dabei
eine neue Enttäuschung erfuhr. »[ ... ] So ist die Weise, wie Rilke den Vater
anredet, verständlich: .der um mich so bitter das Leben schmeckte. meines
kostend (... ), den ersten trüben Aufguß meines Müssens, da ich heran-
wuchs.< [... ] Hier scheint das Zentrum des Verhältnisses zwischen beiden
zu liegen: in der Angst, die der Vater um den Sohn hat; andererseits im
Berührtsein des Sohnes durch die Angst - welches Berührtsein sowohl
Dankbarkeit, wie Mitleid, vielleicht sogar Gereiztheit ist. Wenn der Sohn
hofft. dann ist in dieser Hoffnung der Vater und hat Angst. Der Sohn fühlt
also: Der Vater hat kein rechtes Zutrauen zu mir, sonst würde er sich nicht
ängsten. Das bedrückt ihn, reizt ihn vielleicht auch. Andererseits sagt er sich:
Wie arm war der Vater, daß er, der fiir sich selbst nichts mehr erhoffte, nicht
einmal mit Zuversicht auf mich hoffen konnte. Und das ist noch immer so.
Noch immer kann er nicht auf mich vertrauen; noch immer hat er mich nicht
in die Zuversicht meines eigenen Weges freigegeben« (15517).
Mir scheint das ganz in die Irre zu führen. Davon ist in des Dichters reifem
Rückblick auf seinen Vater gar nichts geblieben. Er spricht von nichts als
von der Liebe des Vaters. Die volle Verzeichnung des Ganzen gipfelt in dem
Mißverständnis der Worte »prüftest mein beschlagnes Aufschaun«: Rilke ist
viel genauer, viel weniger impressionistisch, als sein Interpret annimmt. Er
beschreibt mit wunderbarer Präzision, was zwischen einem Vater und ei-
nem Sohn vorgeht, wenn der Sohn bei der sorgenden Prüfung, mit der ihn
der Vater zu ermessen sucht, im Bewußtsein, wohlbeschlagen zu sein,
seinen Vater voll Eifer, sicher und unsicher zugleich ansieht.
Ähnlich verfehlt sind auch die an die Wendung »mein bißchen Schicksal«
geknüpften Betrachtungen über Rilkes Leben: »Wer hätte reicheren Lebens-
inhalt gehabt als er? Er war ein Dichter, wohl der größte seit Mörike.
Unzählige Menschen haben mit ihm in Beziehung gestanden, darunter sehr
bedeutende und lebensvolle. Ihm ist von allen Seiten Liebe zugetragen
worden. Er hat Europa bewohnt und ist von einer Schönheit zur anderen
276 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins
gegangen. Orte, die andere nur von außen sehen dürfen, haben ihn aufge-
nommen. Und dennoch das Gefühl: >mein bißchen Schicksal<!« (158). - In
Wahrheit geht es in dieser Wendung nicht um ein Mehr oder Minder an
>Lebensinhalt<, sondern darum, was gegenüber der Einfachheit und Größe
von Leben und Tod Schicksal überhaupt bedeuten kann3 •
Bleiben wir lieber beim Text der vierten Elegie: »Wer saß nicht bang vor
seines Herzens Vorhang?« Das Tier und das Kind, auch der Sterbende stellen
für den der Falschheit seiner Gefühle Eingeständigen etwas Nachdenkliches
dar. Guardini trifft hier den Punkt ganz und gar nicht. Und doch, was
könnte anschaulicher sein als diese Schilderung des Falschen zwischen Lie-
benden? Wie sie miteinander im Gutsein überdeutlich sind, weil sie einander
wie Feinde begrenzen, so daß das Lieben - der Kontur des Fühlens - gar nie
zur vollen Abzeichnung kommt, so zweideutig und voller Vorwand ist jeder
für den anderen. Der Dichter gibt genau an, daß die Bühne, von der im
folgenden die Rede ist, die des eigenen Herzens ist. Guardini sieht darin
unbegreiflicherweise ein Ausweichen vom »Herzwerk« ins bloße Anschau-
en (170 f.). Dabei sind wir doch gar nicht nur die Schauenden, sondern selbst
ebensosehr das, was gespielt wird. Die Auftritte auf der Bühne des Herzens
sind die Gefühle. Das sich prüfende Herz erfährt, daß sie alle falsch, bemüht,
nur scheinbar sind (wie schlechte Schauspieler). Und doch waz:tet man
immer aufs neue auf das Auftreten eines reinen Gefühls, wartet unbeirrbar,
denn es gibt keine absolute Erstorbenheit des Herzens: »Es giebt immer
Zuschaun.« Kaum glaublich, daß dieser schöne Ausdruck für die niemals
wirkliche Winterlichkeit des Herzens von Guardini so mißverstanden wird,
daß er auch den Anruf der Zeugen, des liebenden Vaters und der geliebten
Frauen, überhaupt nicht als solchen erkennt. Wer nun sich nichts mehr
vormacht und wirklich zu warten wüßte, dem muß der Engel den reinen
Auftritt des Fühlens heraufführen, indem er die Puppe (das von sich aus
nichts Vormachende) hochreißt: »Dann kommt zusammen, was wir im-
merfort entzwein, indem wir da sind.« Guardini findet diesen Satz ungeheu-
erlich (163). Aber hat er ihn richtig verstanden? Ist nicht diese Klage Rilkes,
daß wir in unserm Dasein die heile Ganzheit des vorbehaltlosen, selbstlosen
Fühlens nicht aufbringen, wahr? Und ist es nicht wahr, daß wirklich nur der
über das Dasein schon fast Hinausseiende - der Sterbende - und das noch
davorstehende Kind das reine, unverstellt eingeständige Fühlen kennen -
und die Liebenden es zu lernen suchen? Der Engel ist da, sobald sie es
können.
Man ahnt, daß der Tod, dies Furchtbare und Gefürchtete unserer Endlich-
keit, der wahre Grund all unserer übereilungen und Vorwandhaftigkeiten
3 Vgl. dazu ,Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge., SämtI. Werke (ed. Zinn)
Bd. 6, S. 898 f.
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins 277
ist. leh kann nicht finden, daß Guardinis Interpretation der fünften Elegie
diesen Zusammenhang richtig erfaßt. Hier ist die künstliche Metaphorik
Rilkes freilich besonders skurril und die Klage des Interpreten (204) begreif-
lich. Es kommt offenbar darauf an, die Fahrenden mit ihrem ruhelosen
Oben und seltenen sinnlosen Gelingen in ihrem Symbolsinn zu erfassen: ein
wenig Flüchtigere noch als wir selbst, die wir, vom Tode in die Muster
unseres Geschicks geschlungen, die unwahren Vorwände und die kurzfristi-
gen Verdeckungen des nahenden Winters ruhelos versuchen. Es scheint mir
bezeichnend, daß Guardini (200) das "anprallt ans Grab« auf den möglichen
Artistenunfall einschränkt, statt darin die Transparenz des Symbols der
Fahrenden zu gewahren und seine Anwendung auf unser aller Schicksal
darin vorbereitet zu sehen. Alles menschliche Mißlingen prallt an das Grab.
So steht am Ende der Elegie das wahre Schauspiel unser selbst und des
Glückes, das im Können der Liebe läge - auch dies ein Schauspiel, weil ein
Vorbild und die jenseitige Erfüllung eines hier stets gescheiterten Traums.
Auch hier vermag ich nicht zu verstehen, was Guardini da falsch und
verhängnisvoll findet (222): daß das menschliche Herz unendlich vieles
Scheitern und seltenes Gelingen bei seinem Herzwerk erfährt; daß das Sich-
mühen in alles Herzwerk etwas Falsches bringt und das wahrhafte Können
auch ein wahrhaftes Lächeln möglich macht, wieso hebt dies das Personsein
auf?
Nebenbei: daß das »reine Zuwenig [... ] umspringt injenes leere Zuviel ..
(Vers 82 bis 84) ist ein reines Bild des Könnens, der Balance. Was wie ein
Zuwenig an Anstrengung schien, erweist sich nachträglich, seit man die
Balance kann, als ein leeres Zuviel. Die Rechnung geht ohne Rest, "zahlen-
los« auf. Guardini (213) verkennt das.
Guardini vergißt hier, wie mir scheint, was eine Elegie ist: Klage um die
Eingeschränktheit unseres Daseins, Erfahrung seiner Mangelhaftigkeit an
Vorbildern des Heilen und des Ganzen. Daß ein christlicher Elegiker von
dieser Endlichkeit unseres Daseins anders sprechen könnte, aus einem ande-
ren Wissen, ist gewiß richtig. Aber daß Rilke aus dem, was er weiß, spricht,
daran tut er recht; und man tut ihm unrecht, wenn man die Wahrheit seiner
Aussagen nicht an den Erfahrungen mißt, die ihnen zugrunde liegen.
So scheint es mir sinnlos, etwa in der siebenten Elegie Rilkes Anspruch,
die Dinge im Anschaun des Engels gerettet zu sehen, mit der christlichen
Errettung aller Dinge in Gott zu konfrontieren (282). Hier meint Errettung
nichts anderes als »die Bewahrung der noch erkannten Gestalt«, ihre Aufbe-
wahrung im fühlenden Herzen. Darin übertrifft uns der Engel, weil sein
Fühlen nicht bedingt und begrenzt und so oft getrübt ist wie unseres. Es
scheint nichts Rühmliches zu geben, das diese fühlenden Wesen nicht längst
besäßen.
Aber die neunte Elegie - die. in Guardinis Augen schönste - findet doch
278 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins
etwas, das gerade dem so zuruckgewandten Wesen, das der Mensch ist,
vorbehalten bleibt: das Irdische, das Einfache, in dem menschliches Fühlen
Ges talt geworden ist, zu etwas» Säglichem « wurde. Man hätte erwartet, daß
Guardini hier abermals die Säkularisation eines christlichen Gedankens auf-
wiese. Es ist die Inkarnation, die Rilke hier dem Menschen zuspricht. Darin
sind wir Irdischen dem reinen Fühlwesen des Engels überlegen, daß unser
Fühlen nicht das Unbedingte kennt und daher das Bedingte, die Dinge, in
ihr wahres Sein erweckt, und wir können das, weill1nd soweit wir das rechte
Verhältnis zu unserer eigenen Bedingtheit, das heißt aber zum Tode, gewin-
nen.
Es sind sehr gewichtige Dinge, die Guardini der ITodeslehre( Rilkes
entgegensetzt (414 ff.). Er sieht im Protest gegen den Tod die» ontologische
Ehre« des Menschen und im Fehlen dieses Protestes die Kapitulation des
Menschen. Das ist gewiß richtig, aber hat es auch gegen Rilke recht? Glaubt
er wirklich, daß es Rilke an ontologischer Ehrenhaftigkeit fehlt? Bedürfte es
für Rilke der inständigen Bemühung um die Bejahung des Todes, wenn er
diesen Protest nicht bewußter als irgendein Mensch in sich truge? Eine
Wahrheit scheint mir gerade auch diese >Lehre( Rilkes zu enthalten. Es gibt
ein falsches und ein richtiges Verhalten des Menschen zu seiner Endlichkeit:
das Weglügen (durch die Illusionen des »behübschten Glücks«) und das
Wahrhaben, das dem Endlich-Einmaligen die ganze Kraft des eigenen Füh-
lens zuwendet. Ich vermisse bei Guardini, daß er erklärt, warum Rilke den
»vertraulichen Tod« einen Ilheiligen Einfall der Erde« nennen kann. Daß das
menschliche Herz das Seiende in Dinge von echter Dauer verwandeln kann,
indem es sein menschliches Fühlen in ihnen Gestalt und Geist werden läßt,
verdankt es doch wirklich der eigenen Erfahrung seiner Endlichkeit.
Das hat schon Aischylos gewußt. Bleibt dies nicht eine richtige Beschrei-
bung des irdischen Seins - auch wenn sie dem Christen unvollständig ist,
sofern dieser Einfall der Erde, die Erde selbst und der Mensch göttliche
Schöpfung und Bestimmung sind? Man mag zweifeln, ob es dem Menschen
möglich ist, solche Bejahung des Todes von sich aus existentiell zu vollzie-
hen - aber daß es eine Wahrheit ist, was Rilke hier aus der Sinnfülle des
Weltalters, an dessen Ende wir stehen, bewahrt, sollte man nicht leugnen.
Ist es nicht gerade der ihm von seinem Interpreten zu Unrecht vorenthal-
tene Freibrief des Dichters, kein vollständiges philosophisches oder theolo-
gisches System haben zu müssen, sondern in sich wahre Aussagen zu ma-
chen. deren begriffliche Verifikation in einem Ganzen von Sinn nicht mehr
seine Sache ist? Rilkes interpretierende Briefe sind gewiß wertvolle Winke
für das, was er meinte. aber die Systematisierung, die in ihnen anklingt,
behält etwas Dilettantisches, und Guardini ordnet sich ihr viel zu sehr unter.
Hier steckt ein unverlierbarer Wahrheitskern des von Guardini so verpönten
ästhetischen Relativismus (keineswegs eine bloß neuzeitliche Erscheinung:
Raincr Maria Rilkcs Deutung des Daseins 279
Das Sein des Toten ist von Klage begleitet, bis er unendlich tot ist, das
heißt, daß keine Klage, kein letztes Weinen mehr bei ihm ist, ja, daß das bis
zu Ende durchschrittene Leid sich in Freude löst. Die Zustimmung zum
Totsein der »unendlich Toten« ist das Ja zur Endlichkeit, mit dem die Elegie
und das Ganze der Elegien schließt. Das wahre Glück des menschlichen
Daseins ist nicht »steigendes Glück«, das heißt, es liegt nicht im Meinen von
Zukunft und Dauer. Man kann die Resignation, die in dieser Einsicht liegt,
fiir den gottverlassenen Menschen unerträglich finden. Aber man wird nicht
sagen dürfen, daß es keine Einsicht ist, wenn auch die Wahrheit dieser
Einsicht für den nur von eingeschränkter Geltung sein wird, der die christli-
che Hoffu.ung auf ein Jenseits mit solcher Heilung im Hiesigen vereinigt.
Aber auch fiir ihn wird sie nicht falsch.
Aus diesen Darlegungen folgt, daß eine legitime philosophische Dich-
tungs-Kritik nicht bei dem ansetzen darf, was eine Dichtung sagt, sondern
bei dem, was in ihr nicht gesagt wird. Die Grenze ihrer Wahrheit gilt es zu
sehen. Der Wert des Guardinischen Buches liegt gewiß - außer der reichen
Fülle interpretatorischer Einzelbelehrung - darin, daß es diese Frage an
Rilkes Dichtung fördert, auch wenn es selbst mit seiner Kritik zu unmittel-
bar bei den Aussagen der Dichtung selbst einsetzt. Die Frage nach der
Grenze von Rilkes Wahrheit versteht sich aber nur richtig, wenn sie die
Grenze meint, die Rilkes Wahrheit in uns zukommt. Alle Dichterkritik, die
die Betroffenheit durch das Dichterwort voraussetzt, ist und bleibt Selbst-
kritik der Interpreten.
Zu einer solchen, der Dichtung selbst verdankten Selbstkritik sei ange-
deutet: Rilkes beherrschendes Thema ist Liebe und Tod. Man sieht den
Zusammenhang dieser Thematik am klarsten, wenn man von Rilkes Satz
über die Liebenden ausgeht: »Feindschaft ist uns das Nächste.« Wie wir
Menschen uns selber meinen, indem wir leben, ist uns das Du die feindlich
erfahrene' Grenze unseres Seins - und der Tod erst recht. Lernen der Liebe
und Lernen des Ja zum Tode hängen so zusammen. Man vermißt freilich bei
Rilke - und das ist das Trostlose seiner Welt -, daß aus dem einen das andere
erworben wird. Es sieht zwar so aus, sofern die »Fühlung zu allen Dingen<!
und damit das Ja zu allem, was ist, in der Entzückung der Liebenden
entspringt und vom Dichter nur ausgesprochen wird. Aber solche gänzliche
Hingabe, in der alles Seiende in sein inniges Sein kommt, ist fii! Rilke ein
immer schnell verlorener Anfang der Liebe. Denn »Feindschaft ist uns das
Nächste<!. Man wird zugeben müssen: das ist wahr. Aber es gibt noch eine
andere Wahrheit, nicht die nächste, sondern vielleicht die fernste und
schwerste, eine Wahrheit, die Rilke nicht sagt, und das ist die der Vergebung
und der Versöhnung. Zwischen Liebenden ist sie die eigentliche Wahrheit,
in der die Freiheit beider gegeneinander, diese durch die »Feindschaft«
bedrohte Freiheit, zurückgewonnen, ja gesteigert wird. Darin erst wird die
Rainer Maria Rilkcs Deutung des Daseins 281
Person ganz zur Person. Rilkes Dichtung weiß von dieser Erflillung fast nur
in der Weise der Klage. Aber auch das ist ein wahres Wissen. Guardini hat
nicht recht, wenn er diese Bedeutung des Du (das freilich kein ,Gegenstand.
der Liebe ist) flir das wahre Selbst der Person immer wieder gegen Rilke
kehrt. Der Lehrer des Christentums wird mit Recht hinzufligen, daß auch
das Ja zum Tode ein solches Ja der Versöhnung und damit erst die eigentliche
Errettung der Personalität ist - nur daß das Christentum lehrt, daß dies Ja
von keinem menschlichen Ich und keinem menschlichen Du gesprochen
werden kann. Daß Rilke dem »einzelnen Herzen« dies Ja zumutet, in der
Bejahung der Endlichkeit, wird dem Christen als die dem Dichter selbst
verborgene christliche Wahrheit, die auch ihn noch trägt, erscheinen. Und
vielleicht wird, wer nicht als Christ denkt, zugestehen müssen, daß die
Wahrheit der Versöhnung der uneingestandene Grund ist, auf dem auch die
unendliche Mühsal von Rilkes Lernen des Ja allein möglich war. - Das
würde - und nicht nur rur Rilkes Verhältnis zum Christlichen - bedeuten,
daß Rilke philosophisch gesehen noch immer in den Umkreis Hegels ge-
hört.
24. Poesie und Interpunktion
(1961)
. wenn es sich um Verse handelt und das Versverständnis durch das Stilideal
eines psychologisierenden Naturalismus ohnehin bedroht ist. So hat Stefan
George eine eigene, sehr sparsam verwendete, teils sinnakzentuierend, teils
rein rhythmisch gemeinte Zeichensetzung eingeruhrt, durch die er der im
Schwange befindlichen Verwechslung von Sprachgebärde und Seelenge-
mälde Einhalt tat.
In jedem Falle gehört Interpunktion nicht zur Substanz des dichterischen
Wortes. Sie ist ,eine Lesehilfe und als solche ein Teil der Interpretation. Das
bedeutet etwas Grundsätzliches rur die Frage ihrer Authentizität. Es soll
hier gar nicht zu dem schwierigen Problem Stellung genommen werden,
wie weit eine Modernisierung der Interpunktion bei klassischen Texten
gestattet oder gar geboten ist. Aber wenn es richtig ist, daß die Interpunk-
tion immer schon ein Teil der Interpretation ist, dann steht es für alle
Interpretationsfragen von Dichtung grundsätzlich nicht gut mit. der Au-
thentizität von Zeichensetzung. Es stellt einen schwer zu ermittelnden
Kompromiß dar, wenn der Dichter dann und wann zwischen den Inter-
punktionsgewohnheiten des Lesers und dem eigenen Ausdrucksbedürfnis
einen Ausgleich sucht und sich gegenüber den Regeln der Interpunktion
Freiheiten herausnimmt. Aber noch viel grundsätzlicher trifft eine andere
Einwendung die Verbindlichkeit der authentischen Zeichensetzung. Denn
grundsätzlich sind gerade solche Freiheiten, die sich der Dichter nimmt,
eine Art Selbstinterpretation. Der Dichter sucht zu verdeutlichen, wie er
sein Gedicht versteht - falls er überhaupt das Mittel der Zeichensetzung,
dessen Wert gegenüber dem in seinem inneren ühre für ihn Hörbaren er
nicht allzu hoch einschätzen wird, bewußt anwendet. Selbstinterpretation
ist gewiß von hohem Interesse tur einen jeden, aber eine wirkliche Ver-
bindlichkeit kann sie nicht beanspruchen. Das kann hier nicht näher be-
gründet werden 1.
Es sind solche Vorerwägungen, die, wie mir scheint, eine Legitimation
dafiir darstellen, daß man sich unter Umständen auch gegenüber einer
überlieferten Zeichensetzung auf die rhythmische Evidenz eines Verses
berufen darf. Wenn man die beiden ersten Verse in dem oben abgedruckten
Sonett rhythmisch analysiert, so wird man sich kaum dem Eindruck ent-
ziehen können, daß hier bei aller Parallelität der zwei gestellten Fragen
zugleich ein entschiedener Kontrast in der Sprachgebärde hörbar ist. Die
erste Frage scheint von weither zu kommen, wie eine Antwort auf unendli-
che Zweifel, die sich noch nicht ganz abzustreiten getraut, daß es die Zeit,
die zerstörende. gibt. Rhythmisch gesehen, ist diese Frage: •• Giebt es wirk-
lich die Zeit, die zerstörende?« eine breit verströmende Bewegung, von
1 Vgl. ,Wahrheit und Methode! (Ges. Werke Bd. 1), wo ich eine nähere Begründung
auch fllr diese These zu geben versucht habe.
Poesie und Interpunktion 285
Unvordenklichem her und in eine unbestimmte Ferne hin auslaufend. Der
zweite Vers dagegen, der schon durch seine Unverbundenheit mit dem
ersten wie eine Wiederholung der ersten Frage erscheint, hat eine ganz
andere Bewegung. Er ist durch zwei Kommata des Dichters, die »auf dem
ruhenden Berg« einschließen und logisch gesehen gewiß nicht nötig wä-
ren, bis zur Atemlosigkeit skandiert. Und hier nun drängt sich die Frage
auf: Sollte gar noch ein Komma fehlen?
Ist das rhythmische Gefüge der beiden Verse auf eine nochmalige Skan-
dierung angelegt: "zerbricht sie, die Burg«? Das starke Ritardando, das
durch das Komma nach" Wann« und nach IlBerg« gegeben ist, schlösse
sich erst ganz zu der Einsicht eines stakkatohaften Rhythmus, wenn das
"sie« der zweiten Vershälfte sich nicht zurück, sondern auf das Folgende,
"die Burg«, vorbezöge. Ich muß gestehen, daß ich, noch bevor ich irgend-
welche Konsequenzen zog, beim inneren Hören dieses Verses niemals ohne
eine dritte Atempause hinter »zerbricht sie« ausgekommen bin. Zieht man
die Konsequenz, die ich durch die Setzung des Kommas andeute, so heißt
das, daß "die Burg« ein appositi.onell gestelltes Subjekt ist und daß »zer-
bricht« intransitiv 'gemeint( ist. Ist das richtig? Ist das so gemeint? Die
Frage meint nicht, was der Dichter 'gemeint( hat. Denn was der Dichter
gemeint hat, kann und darf hier nicht binden. Wer ein Gedicht verstehen
will, will verstehen, was das Gedicht ,meint<, das heißt aber, wozu es sich
gefiigt hat, in weIche Gestalt und in welche Bedeutung es einrückte. als die
Sprachbewegung aus ihrem Schwanken und Schweben zu Form und Fixie-
rung gelangte, fiir den Dichter vielleicht genauso überraschend wie für
uns, als eine fremde Fügung. Könnte etwa Folgendes 'gemeint< sein?
Wie erfahren wir endlichen Menschen die Vergänglichkeit? Wie sollen
wir sie erfahren? Angstlich? Sich wehrend gegen die Zerstörung, die droht,
in der hochgelegenen Burg, die so viele Belagerungen und Bestürmungen
im Laufe der Zeit bestand? Sich wehrend gegen die Zeit selbst, diesen
beständig anstürmenden Belagerer? Oder gibt es diesen Angreifer gar
nicht, ist er unwirklich? Ist unsere Vergänglichkeit am Ende ganz anderer
Art, keine Zerstörung, die eintritt, wenn ein ermattender Widerstand zum
Erliegen kommt, sondern ein Vergehen. das >richtig< ist, fast mehr wie ein
»Brauch«, das heißt etwas Gepflogenes und Gepflegtes, jedenfalls etwas,
was keinen Urheber oder gar Schuldigen hat, auch nicht »die Zeit«? Wenn
das die Meinung des Gedichtes sein sollte, dann schiene es sachlich richti-
ger, den Parallelklang des ersten Verspaares des Gedichtes auch als einen
logischen Einklang zu verstehen, indem man in beiden dort gestellten Fra-
gen den gleichen Zweifel an der Richtigkeit der landläufigen Einstellung zu
Zeit und Vergänglichkeit vernimmt.
Gibt es die zerstörende Zeit? Ist unsere beständige Angst davor richtig,
daß unser auf dem ruhenden Berge verteidigtes Sein doch eines Tages der
286 PoeReundIn~rpunkrion
eine neue, bleibende Gültigkeit erhält. Es ist Rilkes eigenster Klang, der
auch am Ende seiner Duineser Elegien lang nachhallend verklingt:
Und wir. die an steigendes Glück
denken. empfanden die Rührung.
die uns beinah bestürzt,
wenn ein GIÜcklichesfiillt.
25. Mythopoietische Umkehrung
in Rilkes Duineser Elegien
(1967)
Alle Interpretation ist einseitig. Sie zielt auf einen Scopus, einen Gesichts-
punkt. der nicht Einzigkeit beanspruchen kann. Vollends. wer Dichtung
interpretiert, kann dies unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten tun. Er
kann gattungsgeschichtlich vorgehen, indem er das vorliegende Gedicht in
eine Tradition von Vorbildern der gleichen literarischen Gattung einreiht, er
kann motivgeschichtlich vorgehen, indem er die Aufnahme und Abwand-
lung bestimmter tradierter Motive verfolgt, er kann die Kunstmittel rheto-
risch-poetischer Art und ihre Bindung zum Ganzen einer >Struktur( heraus-
arbeiten usw. - Er kann aber auch die ursprüngliche hermeneutische Aufga-
be. Unverständliches zu erklären, übernehmen. Und wieder kann er dabei
okkasionell vorgehen (wie das die protestantische Hermeneutik des Neuen
Testamentes und die Philologie bis ins ausgehende 18. Jahrhundert hinein
getan haben) und die Einzelschwierigkeiten, die unverständliche Stellen
bereiten, durch Analyse des Zusammenhangs, Heranziehung von Parallelen
usw. zu beheben suchen. oder er wird von der Einheit des Gesagten ausge-
hen und auszulegen suchen, was das Gedicht sagen will, letzteres vorzugs-
weise bei Dichtungen. die ein hohes Reflexionsniveau besitzen und daher im
ganzen als dunkel und schwer verständlich gelten1.
Rilkes Duineser Elegien gehören zu dieser Art Dichtung und verlangen in
erster Linie nach einer Interpretation dieser Art. Sie ist denn auch reichlich
auf sie gewendet worden, zuerst seitens der Theologen, dann der Philo-
sophen und vieler weltanschaulich engagierter Autoren. - Sie alle folgten
dem Bestreben. das, was die Dichtung sagt, in die Prosa ihrer Gedanken und
1 Der vorliegende Aufsatz verdankt seine Entstehung der Enttäuschung über den in
dem fleißigen Kommentar vonJACOB STElNER (Rilkes Duineser Elegien. Bem/München
1962) vertanen großen Aufwand. Nur schwer habe ich der Versuchung widerstanden. wo
ich es könnte. die detaillierten Einzelerklärungen zu berichtigen. die dort aufgehäuft sind.
Der vorliegende Aufsatz deckt sich mit vielem. was ich in meiner Kritik an GUARD1Nl
bereits vor 12Jahren dargelegt habe (vgl. jetzt in diesem Band, S. 271 ff.). Doch schien mir
das theoretische Interesse an dem hermeneutischen Prinzip eine ausdrücklichere Behand-
lung und die Erprobung am Bei.piel zu erfordern.
290 Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien
die verbindliche Wahrheit ihrer Begriffe umzusetzen. Vom Text und seiner
genauen Einlösung war dabei meist nicht viel die Rede. Engagement des
Interpreten ist zwar aus keiner Interpretation von Dichtung ganz wegzuden-
ken (oder sollte es wenigstens nicht sein). Aber es stellt zugleich eine bestän-
dige VerfUhrung dar, aus dem Text das herauszulesen und herauszuhören,
was den eigenen Vorbegriffen am willigsten entgegenkommt, auch wenn
dabei gegen den Kanon des Verstehens verstoßen wird, der durch die
Sinnkohärenz des Ganzen gegeben ist.
ln jüngster Zeit beginnt die Literaturwissenschaft, die Elegien zu ihrem
Gegenstand zu machen und genau auf den Text zu senen, der ihr freilich
leicht in Wörter zerfällt. So ist der fleißig und gewissenhaft gearbeitete
Kommentar von Jacob Steiner mehr ein Kommentar zu den Wörtern, der
insbesondere mit Parallelen sehr verschwenderisch umgeht. Es ist aber ein
heikles Problem, was bei der Interpretation von Dichtung Parallelen über-
haupt zu leisten vermögen. Zwar haben sie immer einen gewissen Richtwert
für Feststellung des Sprachgebrauchs, Deutung einzelner Motive usw. Aber
wenn es schon sonst in der Philologie sehr schwer und selten ist, Parallelen
zu finden, welche wirklich stimmen, so ist es im Falle der Interpretation von
Dichtung um vieles schlimmer, indem auch die Parallelen, welche stimmen,
die Gefahr mit sich bringen, die durch die Einheit der dichterischen Rede
geweckte Resonanz zu verstimmen.
Wenn man heute, in einer Epoche, die durch die Welle einer neuen
Aufklärung hochgetragen wird und der poetischen Aussage einen immer
beengteren Raum läßt, so daß sie mit Entschiedenheit das Pathos der Nüch-
ternheit, der Untertreibung, der epigrammatischen Andeutung und des
reportagehaften Streiflichtes hervorkehrt, auf Rilke zurückkommt, der in
den dreißiger und frühen vierziger Jahren der Dichter war, der das Zeitbe-
wußtsein, VOr allem das der )Gleichschaltung! widerstehende Bewußtsein,
durch den extremen Manierismus seiner Sprachgebärde am tiefsten zu bestä-
tigen vermochte. ist es eine Bewußtheit anderer Art, die von einem verlangt
wird. Zwar ist es ein allgemeines Bedürfnis, das wir aller Dichtung gegen-
über empfinden, »zu begreifen, was uns ergreift« (E. Staiger), aber im
Vergleich zu den engagierten Umsetzungen, die hinter uns liegen, hat dieses
Bedürfnis eine andere Gestalt angenommen. Nicht im Sinne der literatut-
wissenschaftlichen Analyse und Kommentierung, aber auch nicht im Sinne
jener vorengagierten Applikationen, sondern so, daß über allen Abstand
eines gewaltig veränderten Lebensgefühls hinweg das dichterische Wort
Rilkes, das noch immer von der unstreitigen Präsenz großer Dichtung ist,
nach der Klärung des Horizontes verlangt, der es umschließt. Endlich
scheint es an der Zeit, in ausdrücklicher Entfaltung des hermeneutischen
Horizonts das Reflexionsniveau zu erreichen, auf dem Rilkes Dichtung sich
bewegt, und aus dem herauszubewegen, in unmittelbare Verkündigung von
MydlOpoietischc Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 291
Wahrheit theologischer oder philosophischer Art. das Anliegen der Ausle-
ger ehedem war2.
Wer das Reflexionsniveau gewinnen will. auf dem die Duineser Elegien
zu Hause sind. muß sich zunächst VOn allen theologischen und pseudoreli-
giösen Vorgriffen freimachen. als ob auf dem diskreten Umweg über den
Engel hier von Gott die Rede wäre. Wovon die Elegien reden. läßt sich
vielmehr auf einem sehr einfachen. hermeneutisch gebotenen Wege ausma-
.chen, und es ist erstaunlich. daß die bisherige Rilke-Literatur diesen Weg
.noch nicht beschritten hat. Ich meine die Tatsache. daß noch zu dem Zeit-
punkt, als die in ihrer Entstehung sich über ein Jahrzehnt hinziehenden
Elegien vom Dichter zum Zyklus geordnet und rur die Publikation bereit
gemacht wurden, die damals flinfte Elegie gegen eine neu entstandene
ausgetauscht wurde. Wir lesen das Gedicht, das der neuen Elegie weichen
mußte, unter dem Titel ,Gegen-Strophen<.
Daß es dem neuen Gedicht. das wir als die Elegie der Fahrenden kennen,
weichen mußte. erklärt sich leicht. Die heutige fünfte Elegie 1/ildet mit den
anderen neun eine weit bessere stilistische Einheit - die gleiche weit hinrol-
lende Versbildung, die gleiche weit ausholende Sinngebärde, die gleiche
kunstvoll-indirekte Bilderwelt. Dagegen gehen die ,Gegen-Strophen< ihr
Thema, wenn auch auf kunstvolle Weise, unmittelbar an und fallen durch
ihre fast strophisch wirkende Responsionsform auch formal ganz heraus.
Um so wichtiger ist es aber, daß dies Gedicht einmal die Stelle der fiinften
unter diesen zehn Elegien einnehmen konnte. Die direkte, unverschlüsselte
Aussage, die es macht, empfangt damit echte Verbindlichkeit für das Ganze.
Sie gibt ein zentrales Thema der Elegien an:
Oh, daß ihr hier, Frauen, einhergeht,
hier unter uns, leidvoll,
nicht geschonter als wir und dennoch imstande,
selig zu machen wie Selige.
weitet sich das Thema der Elegien ins Allgemeinere. Es geht um die Unkraft
des menschlichen Herzens, sein Versagen vor der Aufgabe, sich ganz seinem
Fühlen hinzugeben. Die )Gegen-Strophen< wissen davon zu klagen, daß die
liebende Frau dem Manne darin voraus ist. AhnIich setzt mit den »unend-
lich« Liebenden, den Verlassenen und dennoch Liebenden, das Elegienwerk
ein. Aber der Raum, den es ausschreitet, reicht weiter. Mit der Erfahrung
der Liebe ist die Erfahrung des Todes verknüpft, beides offenbar Erfahrun-
gen, deren Forderung zu groß ist, als daß das menschliche Herz an ihnen
seines Versagens nicht inne würde. Insbesondere sind es die junge~ Toten,
an denen der Klagende der Unkraft seines Herzens sich bewußt wird. Was er
nicht vermag, ist offenbar, es hinzunehmen, wie es ist, trauernd und kla-
gend, aber ohne in Anklage gegen die Grausamkeit solchen Geschickes zu
verfallen, wie es der Tod von Kindern und Jugendlichen ist: lIdes Unrechts
Anschein« gilt es abzutun.
So etwa läßt sich die Ausgangserfahrung und der ganze Umfang dessen
umschreiben, wovon die Elegien sprechen. Von diesem Vorverständnis
dessen, wovon hier die Rede ist, das einem die Dichtung sdber aufnötigt,
muß ausgegangen werden, wenn man zu verstehen sucht, wie davon die
Rede ist, das heißt, es muß der Verständnis- und Auslegungshorizont ge-
wonnen werden, innerhalb dessen die dichterische Aussage in Genauigkeit
vollziehbar wird.
An der Spitze steht die Frage, 'Was der Engel der Elegien bedeutet. Es
bedürfte gar nicht der Selbstinterpretation, die Rilke gegeben hat und die
von ihm ohnehin allzuweit in eine spiritualistische Dogmatik hinein ausge-
folgert wird, um diese Frage zu beantworten. Der Engel ist zwar ein über-
menschliches Wesen und wird als das uns im Fühlen unendlich übertreffende
Wesen angerufen, aber in keiner Weise erscheint er als ein Bote oder Stellver-
treter Gottes und bezeugt überhaupt keine Transzendenz im religiösen
Sinne. Wenn Rilke ihn einmal den Garanten des Unsichtbaren nennt, so ist
auch diese Kennzeichnung alles andere als theologisch. Das Unsichtbare ist
das, was sich nicht sehen Und greifen läßt, und das dennoch Wirklichkeit hat.
Im menschlichen Herzen ist es die Wirklichkeit seines Fühlens, das eine
solche unstreitige Gewißheit beansprucht, ohne sich ausweisen zu können.
Sie hat sich daher gegen die utilitaristische Skepsis eines massiven Realismus
zu behaupten, der den Luxus der Geflihle verachtet. Wenn nun das Bestehen
auf der Wirklichkeit dessen, was wir fiihlen, von dem Engel bestätigt wird,
so heißt das, daß die Bedingtheit und Halbheit unserer Geftihle, die an ihrer
Wirklichkeit Zweifel erwecken könnte, im Engel über alle Bezweiflung
hinausgehoben ist. Sein Fühlen ist so unbedingt und unzweideutig, ,vie das
menschliche Herz es nur in seltenen Augenblicken zu empfinden vermag.
Es ist also eine höchste Möglichkeit des menschlichen Herzens selber, die
hier als Engel angerufen wird - eine Möglichkeit, vor der es versagt, die es
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 293
nicht zu leisten vermag, weil den Menschen vieles bedingt und zur Eindeu-
tigkeit und uneingeschränkten Hingabe an sein Fühlen unfähig macht. Die
dichterischen Situationen, in denen von uns und dem Engel in den Elegien
die Rede ist, bestätigen das: »Ich verginge von seinem stärkeren Dasein«,
»hochaufschlagend erschlüg uns das eigene Herz«, »wir. wo wir fühlen.
verflüchtigen«, der Engel der vierten Elegie, der »über uns hinüberspielt«.
und dann immer der Engel, dem etwas gezeigt wird: das mühsame Lächeln
des Artistenkindes, die Mühsal des Artistenschicksals, aber auch die großen
Werke menschlicher Kunst, in die Gefühl eingegangen ist, und - diesseits
aller hohen Gefühle - die Welt der Dinge: immer ist es etwas, vor dem das
menschliche Herz zu versagen pflegt, indem es achtlos darüber hinsieht.
Immer ist es die Macht und Ohnmacht des menschlichen Fühlens, die an den
Engel denken läßt als den, dessen Fühlen nicht dUrch das Fühlen von
anderem begrenzt ist, sondern ihn so einnimmt, daß sein Gefühl mit ihm
ganz und gar identisch ist. Ein Gefuhl, das sich nicht verflüchtigt. sondern in
sich steht, das heißt bei Rilke »Engel«, weil solches Fühlen den Menschen
übertrifft. Die Frauen, wie sie in der ersten der >Gegen-Strophen< angespro-
chen werden, gelten dem Dichter als dem Engel ein klein wenig näher.
Sicherlich hat Rilke die Engel-Theologie des christlichen Mittelalters
überhaupt nicht gekannt. Gegen die Verbindung mit der Engel-Vorstellung
des Christentums hat er sich bekanntlich sogar ausdrücklich gewehrt.
Trotzdem liegt in der Idee >Engel< ein ontologisches Problem, das offenbar
überall durchschlägt: Daß der Engel mit seinem Auftrag identisch ist und
daher keine >Zeit< im Sinne des menschlichen Zeitbewußtseins, weder Zeit
noch Ewigkeit besitzen kann, hat das mittelalterliche Denken sehr beschäf-
tigt3 . Auch der Engel der Elegien ist weder eine menschliche noch eine
göttliche Erscheinung - er erscheint überhaupt nicht, sofern das menschliche
Herz die Eindeutigkeit nicht aufbringt, die ihn herbeirufen könnte (» Wider
so starke Strömung kannst du nicht schreiten«). Der Anruf des dichterischen
Ich an den Engel ist kein Rufen, das jemanden herbeiriefe. Eher schon ist es
die Anrufung und der Aufruf eines Zeugen, der das, was man selber weiß,
bestätigen soll. Was man selber weiß, wessen man so inne und innerlich
gewiß ist, daß es von einem selbst untrennbar ist - das ist es, was hier (mit
Rilke) Fühlen und Gefuhl genannt wird. Ansicht und Anblick können sich
ändern, können aufgegeben werden, verschwinden usw. - das Gefühl, dies
Allerflüchtigste, das halten zu wollen, das überhaupt zu wollen unsinnig ist,
behält eine unzweideutige Wirklichkeit, in der überhaupt nichts anderes ist
als es selbst, das einen, wie wir sagen, vollkommen einnimmt und erflillt.
Was bedeutet es aber, wenn dieser Grenzbegriff unseres eigenen Seins als
Engel, das heißt als eine handelnde Person, angerufen wird? Hier muß eine
3 VgJ. TaOMAS. De instantibus (Baeumker. lmpossibilia des Siger von Brabant 160ff.).
294 Mythopoiecische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien
4 WALTER F. OTTO, Die Götter Griechenlands (Bonn 1929); Dionysos (Frankfurt 1933).
S Freilich definiert R. BULTMANN ,Mythos< und ,mythisches Weltbild< gerade als das
Gegenteil des Kerygmas, das im Glauben ,verstanden< wird. Aber das ist eine fragwürdige
Abhängigkeit von dem Weltbild der' WISsenschaft •• die das hermeneutische Prinzip nicht
einschränken kann. Vgl. ,Zur Problematik des Selbstverständnisses< in Ges. Werke Bd. 2,
S.121-132.
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 295
Umkehrung: Die Welt des eigenen Herzens wird in der dichterischen Sage als
eine mythische Welt, das heißt eine Welt aus handelnden Wesen, uns entge-
gengestellt. Was die Reichweite des menschlichen Fühlens übertrifft, er-
scheint als Engel. die Erschütterung über den Tod junger Menschen als der
junge Tote, die Klage, die das menschliche Herz erfiillt und die dem Toten
folgt. als ein Wesen. dem derjungeTote folgt, kurz, die ganze Erfahrungsdi-
mension des menschlichen Herzens ist es, die in die Selbsttätigkeit freien
personalen Daseins poetisch freigesetzt ist. Es ist die Selbstvergessenheit des
mythischen Bewußtseins, die Rilke leitet. Durch seine hohe manieristische
Kunst gelingt es ihm, in einer mythenlosen Gegenwart die Erfahrungswelt
des menschlichen Herzens ins Mythisch-Dichterische zu erheben.
Die hermeneutische Folgerung ist klar. Das mythologische Phänomen
verlangt seinerseits eine Art hermeneutischer Umkehrung. Man muß die
dichterische Aussage zurückübersetzen. Die methodische Schwierigkeit be-
steht hier aber darin, daß das Zurückzuübersetzende selber schon ein Zurück-
übersetztes war. Wenn sonst die große mythische überlieferung in neuer
dichterischer Erweckung gleichsam angestrahlt wird und von diesem Licht
her ins Unausdeutbare verdämmert, hat die mythische Wirklichkeit, die in
Rilkes dichterischer Rede unversehens begegnet. jeweils die genauen Kontu-
ren einer bloßen Rückspiegelung einer diesseitigen Erfahrung. Sie umzuspie-
geln und als lesbare Schrift in unser Verständnis zurückzuübertragen darf
nicht so geschehen, wie etwa in Zeiten gebundener allegorischer Dichtungs-
form eine Zuruckübersetzung in die Prosa des Gedankens das dichterische
Verständnis ständig begleitet. Hier ist keinein sich stimmige Welt mythischer
Gestalten oder ausdrücklich vorbereiteter Vergleiche, die unserem heutigen
Verständnis aufzuschließen die hermeneutische Aufgabe wäre. Es ist viel-
mehr ein plötzliches und unvermutetes Anklingen von Stimmigkeiten. von
denen aus sich ein fast hermetisch scheinendes dichterisches Gebilde in unser
Verständnis hinein ausbreitet. Es bleibt immer etwas von Unstimmigkeit in
solchem Verstehen. Aber gerade die Unstimmigkeit im Anklingen solcher
Stimmigkeiten ist es, die die dichterischen Ränder bewegt sein läßt.
An zwei Elegien soll im folgenden die konkrete Durchfiihrung des Prinzips
der mythopoietischen Umkehrung vorgelegt werden. Beginnen wir mit der
vierten Elegie. Gleich ihr Einsatz gibt Anbiß, unser Prinzip zu erproben. Der
Anruf» 0 Bäume Lebens« meint uns. Es ist falsch, den zweiten Vers mit einer
Betonung auf »wir« zu lesen. Der Ton liegtaufdem Nichteinigsein: »Wir sind
nicht einig«. weil wir nicht wissen. wann unser Winter ist. wie Lebensbäume.
die immer grün sind. Aber das klingt nur an, denn selbstverständlich sind
»Bäume Lebens « nicht Lebensbäume. Die großartige Fügung des Eingangs-
verses beruht vielmehr auf der Unverkennbarkeit der Selbstanrede: von uns
ist die Rede. klagend. Wir gleichen nicht den Zugvögeln. die ihre Zeit kennen.
und nicht den Löwen. die so sehr mit ihrem königlichen Gange eines sind. daß
296 Mythopoictischc Umkehrung in Rilkcs Duinescr Elegien
Ohnmacht. das heißt Wollen von etwas. was man nicht kann. sie nicht
erreicht.
An diesen Gegenbildern einer Einigkeit wird die Entzweitheit und Ge-
waltsamkeit jedes menschlichen Verhaltens klagend bewußt. und aus dem
vorbereiteten Vorverständnis heraus ist klar, daß es vor allem die Liebenden
sind, die das menschliche Verhalten hier repräsentieren. Die Halbheit unse-
res Herzens und die Begrenztheit, mit der es sich auf seine Getuhle einläßt, so
daß wir »den Kontur des Fühlens(e überhaupt nicht kennen, läßt uns immer
wieder zurückfallen aus unserer Hingabe. Der Dichter nennt dies übermäch-
tige Auf-uns-selbst-Bestehen, das die Hingabe tur den anderen begrenzt,
geradezu »Feindschaft«. Die wirkliche Hingabe wird dem Gegenteil, eben
dem Auf-sich-Bestehen, nur »rur eines Augenblickes Zeichnung« abge-
wonnen. Das will sagen: dieses Auf-sieh-Bestehen ist in uns so beständig
und allhin ausgebreitet wie der Grund. von dem sich eine Zeichnung abhebt.
»Man ist sehr deutlich mit uns(e - die Erklärer haben sich gefragt, wer dieses
»man« ist. Es ist ein einfacher Fall mythopoietischer Umkehrung: Wir sind
es, die miteinander so deutlich sind, indem wir die Augenblicke wirklichen
Einklangs durch soviel Widerstand, Vorbeihören, Aufsichbestehen vorbe-
reiten, als ob wir das mit Absicht täten, damit die Hingabe auch als solche
bemerkt werde. Natürlich heißt »manee nicht »wir«, sondern es meint uns,
wie wir nicht anders können, wie es mit uns geschieht, als wären wir gar
nicht wir.
Eben diese Erfahrung, daß es mit uns geschieht, liegt der Metaphorik des
ganzen Folgenden zugrunde, der Vorstellung, vor seinem eigenen Herzen
wie vor einer Bühne zu sitzen, in banger Erwartung dessen, was sich auf ihr
abspielen wird, als wären wir gar nicht wir. Die Bangigkeit, mit der wir dem
Auftritt entgegensehen, beruht darauf. daß wir wissen, niemals ganz in dem
Gefühl aufgehen zu können, das uns erfllllt, das Einssein mit unserem
Gefühl nicht so festhalten zu können, wie der Engel es kann, dieser» Tumult
entzückten Gefühls«, d. h. der sich ständig steigernden Erfiilltheit des Füh-
lens. Deshalb ist die Szenerie auf dieser Bühne des Herzens »immer Ab-
schied«. Damit sind nicht die zu Ende gehenden Liebeseriebnisse gemeint,
sondern das vorgängige Wissen darum, daß wir der Aufgabe nie ganz
gewachsen sind, mit unserem Fühlen ganz einig zu sein. In mythopoieti-
scher Umkehrung gewinnt das die Fonn, daß »der Tänzene auftritt, der auf
einer kulissenhaft schwankenden Bühne ein falsches Schauspiel gibt. Der
Garten, der uns das Entgegenblühen verspricht, ist falsch, die Einl).eit von
Mensch und Tanz ist nur vorgetäuscht. Man vergißt des Tänzers Privatexi-
stenz nicht, die des »Bürgers«, der sich anstrengt, wenn er seine Rolle spielt,
und der sich gehen läßt, wenn er nach Hause kommt. Der Tänzer repräsen-
tiert auf diese Weise die Halbheit - und das heißt: die Angestrengtheit,
Gewolltheit des menschlichen Fühlens.
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duincser Elegien 297
Und doch sitzt vor der Bühne des eigenen Herzens der Dichter in der
Erwartung des vollen ungebrochenen Auftritts eines wahren Geftihls. In
dieser Erwartung seines Herzens, das stets die eigendiche Liebe, die alles
auslöschende Hingabe erwartet, läßt er sich nicht beirren. Er ruft Zeugen
daftir an, daß es Sinn hat, vor der Bühne des eigenen Herzens das wahre und
ganze Fühlen zu erwarte!"!: vor allem den Vater. Wieder hilft uns die mytho-
poietische Umkehrung, genau zu verstehen. Von dem Vater, der längst tot
ist, wird gesagt, er habe "Gleichmut, wie ihn Tote haben« - und er gebe
diesen Gleichmut fur uns auf. Man versteht, daß umgekehrt der Tote für uns
so da ist, daß wir seinen Verlust mit Gleichmütigkeit zu verschmerzen
gelernt haben. Doch wird dieser Gleichmut in gewissen Lebenssituationen
gestört. Es gibt ausgezeichnete Lebensaugenblicke, in denen das Vor-Ich,
der Vater, einen Augenblick aus seiner gleichmütigen Verborgenheit her-
austritt. Man denkt an ihn dort, wo man ernste Entscheidungen wagen
muß. Und wenn am Ende der Engel kommen muß, die Puppenfiguren an
Drähten zu ziehen, so ist auch damit wieder eine Wahrheit des Selbstver-
ständnisses beschrieben, nämlich daß es Erfahrungen und Entscheidungen
unseres Herzens gibt, in denen keine Willkür, kein freies Belieben mehr ist
und überhaupt kein Auseinandertreten von Wollen und WoIlen, kein Ent-
zweitsein im eigenen Herzen mehr. Es ist dann wirklich so, als wäre es ein
uns übertreffendes Wesen, das uns einnimmt.
Daß es überhaupt möglich ist, so unzweideutig zu sich selber und zu
seinem eigenen Fühlen zu stehen, dafür gibt der Dichter im folgenden zwei
Zeugnisse: die Sterbenden und das Kind. Der Sterbende, der mit sich selbst
schon abgeschlossen hat, durchschaut das Vorwandhafte aller Dinge um ihn
her mit ungetrübter Klarheit. Man denke an den Tod des Iwan Iljitsch von
Tolstoi: die Verwandtenbesuche, die Kollegenbesuche, die falsche Munter-
keit und den Krampf einer scheinbaren Zuversicht - mit einem fast mitleidi-
gen Blick verfolgt der Sterbende die falschen Anstrengungen der Lebenden,
ihm sein Sterbenmüssen zu verbergen. Soviel mehr ist er schon mit sich
einig.
Und dann das Kind. Dieser Zeuge des richtigen Einsseins mit sich selbst
bleibt bis zum Schluß des Gedichtes gegenwärtig. Das Kind kennt ein
vollständiges Aufgehen im Augenblick, von dem her selbst noch sein Spiel-
zeug etwas von der gleichen Unbedingtheit erhält. Denn für das Kind ist das
Spielzeug im einen Augenblick alles 1:lnd im nächsten Augenblick nichts.
Wie da so gar keine Kontinuität in Anspruch genommen wird, kommt
heraus, was die Existenz des Kindes ausmacht,. volle Präsenz. vollständiger
Mangel an Vergangenheit und Zukunft. So ist in dem Kind die Ganzheit des
Fühlens repräsentiert, das ungeteilte Einverständnis mit sich selbst.
Es währt bis in die äußerste Zumutung des Todes hinein. Es ist eine Kette
rhetorischer Fragen: »Wer zeigt ... «, nWer stellt ... <C, »Wer macht ... <C, die
298 Mythopoietische Umkeluung in Rilkes Duineser Elegien
Geld handelt, fangt es bei den Menschen an, ernst zu werden. Das wird hier
durch die Wendung »flir Erwachsene(! evoziert: Das Geld ist etwas, worüber
man eigentlich nicht redet (wie über das Geschlechtliche) und das doch
gerade das ist, worauf alle aus sind. Dieser Jahrmarkt ist eingezäunt, und an
den Planken des Zaunes hängen Plakate des Bieres »Todlos«. So wird uns
noch einmal eingeschärft, daß es der Sinn des ganzenjahrmarktes ist, zu tun,
als gäbe es den Tod nicht. Wenn man zu diesem Bier »frische Zerstreuun-
gen« kaut, heißt das also: Man betäubt den Gedanken an den Tod, indem
man sich in Zerstreuungen stürzt.
Hinter dem Jahrmarkt des Lebens, in dem alles falscher Flitter ist, sind erst
die wahren Gefühle anzutreffen: spielende Kinder, inein~der ganz versun-
kene Liebespaare, Hunde. die endlich einmal aus ihrer beständigen mensch-
lichen Gefangenschaft freigelassen sind - und hier nun zieht es den Jüngling
weiter. Der Ton liegt auf »Jüngling«. Jünglinge sind. so will das Gedicht
sagen. noch nicht gleich so vernünftig wie die Erwachsenen. Sie sind noch
verschwenderisch mit ihren Geflihlen. sind noch fähig, über etwas nicht
hinwegzukommen. sich einzugestehen. daß etwas nicht richtig ist und daß
man sich damit nicht abfInden soll. wie es ist. Für sie hat das Geld noch nicht
eine solche Faszination, und deshalb gibt es rur sie noch die Klage. Wieder ist
es mythopoietische Umkehr, wenn derjüngling der Klage folgt, von ihr wie
angezogen - er geht ihr nach, von etwas angerührt, das ihn bezaubert, bis er
am Ende in den Ernst und die Wirklichkeit des Lebens sich zurückwendet.
Er mag nicht länger wehmütig und fruchtlos dem Gedanken über die
Verkehrtheit der Wirklichkeit nachhängen, und so läßt er das Klagen.
Dann aber ist - als wäre das nur ein Weiteres in einer einheitlichen
Erzählung - von den »jungen Toten« die Rede, bei denen es anders ist. Sie
kehren nicht wieder um, sondern folgen der Klage. Man versteht hier nichts,
wenn man nicht versteht, daß nicht die Toten der Klage folgen, sondern daß
die Klage der Hinterbliebenen den Toten nachgeht, und vor allem den
jungen Toten. Hier ist die Klage gleichsam noch legitim, so daß es einem
niemand verdenkt, wenn man sich zur Klage bekennt.
Nun wird die mythische Welt der Klagen, in die der Tote eingeht,
aufgebaut, und gewiß soll man fortan nicht in eine frostige Allegorie umW-
sehen, was nicht im einzelnen verglichen, sondern im ganzen verzaubert ist.
Aber es bleibt klar, daß hier von der Klage geredet wird, die dem Toten gilt,
und zwar so, daß der Tote wie ein Subjekt des Vorganges erscheint, indem
er mit der Klage ist, die ihm gilt. Wenn sich die Klage Mädchen gegenüber
anders verhält als Jünglingen, so darf man auch darin wieder etwas von dem
Wesensunterschied spüren, den Mann und Frau im Verhältnis zur Klage
haben. Wenn die Klage mitJÜDglingen »schweigend« geht, dann liegt darin
etwas davon, daß der Jüngling sich der Klage nicht so frei hingibt wie das
Mädchen. So soll man es sehen.
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 301
Der Dichter folgt dem jungen Toten in das Reich der Klagen. Was der
Dichter zunächst zeigt, ist, daß die Klage ihren Ort in unserer Welt verloren
hat. Die Klagen sind verarmt. »Einst waren wir reich.« Es ist eine ältere
Klage, die davon weiß. Auch das hat seine menschliche Dimension. Die
junge Klage wird abgelöst von der älteren, und diese zeigt weiter hinauf ins
Gebirge, aus dem sie stammt, und dies Gebirge ist nicht mehr ein Gebirge
der Klagen, sondern des Leides, das heißt der verstummten Klage, ausge-
schliffen oder wie Zorn, der »schlackig versteinert« ist. Was dahinter steht,
ist sozusagen die ganze innere Dimension der Schmerzen, die von der
Äußerlichkeit der laut werdenden Klage bis zu der innersten Wirklichkeit
eines Leides fUhrt, das mit dem Menschen ganz eins geworden ist.
Die ältere Klage, die noch etwas Von der Legitimität des Schmerzes und
der Klage im menschlichen Dasein weiß, führt nun den jungen Toten
gleichsam durch die Archäologie des Leidlandes. Sie zeigt ihm die verfalle-
nen Reste einer großartigen Herrschaftsordnung des Leides und der Klage.
Ethnologie und Religionsgeschichte ertauben uns, das sofort mit Inhalt
aufzufüllen, und noch bis in unsere Tage gibt es in bäuerlich gebundenen
Gegenden die Herrschaft der Klage: Klageweiber und all die Klageriten. die
zum Bestattungskult gehören. Die hohe poetische Kraft dieser Verse zaubert
uns eine Landschaft der Klagen hervor. in der die Tränen zu hohen Tränen-
bäumen erhöht sind und ganze Felder von Wehmut in Blüte stehen, die bei
uns »nur als sanftes Blattwerk« irgendwo die Fensterbretter zieren, d. h.
unser Dasein nur gelegentlich und am Rande streifen. Und wenn die wei-
denden Tiere der Trauer dem jungen Toten gezeigt werden, so ist auch hier
keine allegorisierende Einzeldeutung am Platze. Wohl aber muß man spü-
ren, wie der Umriß einer abendlich weidenden Herde nach unten zieht und
Trauer verbreitet.
Schließlich kommt die Nacht, und was nun geschildert wird, hat etwas
Ägyptisches. Aber selbstverständlich soll man nicht meinen, diese Klage-
landschaft sei Ägypten. Was hier gezeigt wird, ist nicht am Nil. Ägypten
klingt hier an, weil dies die Kultur ist, in der der Tote die größte Präsenz hat.
Was sollen wir aber verstehen, wenn hier ein anderer erhabener Sphinx im
Mondlicht aufsteigt, den der junge Tote bestaunt, wie Rilke einst in einem
wunderbaren BriefII sein Erlebnis der ägyptischen Sphinx beschrieben hat?
»Der verschwiegenen Kammer Antlitz(( meint gewiß das Pharaonengrab,
über das der Riesenleib erbaut ist mit dem menschlichen Antlitz. Wir kön-
nen mit dem Dichter das Atemberaubende mitfühlen, das von dem Riesigen
dieses steingewordenen Gesichtes ausgeht, wenn dieses bewegliche und
immer wechselnde uns so lebendig Bekannte des Menschengesichtes nun in
das Licht der Ewigkeit getaucht vor dem Beschauer aufragt. Atemberau-
bend, daß dieses flüchtige menschliche Dasein überhaupt etwas wiegen soll,
»auf die Waage der Sterne gelegt«. Aber was ist mit all dem gemeint? Hier
hilft die Aufbau-Ordnung des Ganzen. Eine klare Steigerung filhrt uns bis
zu diesem Grabmal: ein »krönliches Haupt«. Es ist die Majestät des Todes,
der hier das über alles Herr Seiende, den größten aller Schmerzen und den
größten aller Verluste, darstellt und daher der Todesklage ihren Rang gibt.
Hier hat Klage ihren eigentlichen Ursprung.
So ist auch die poetische Beschreibung der Begegnung des jungen Toten
mit dem Tode durch die Unfaßlichkeit des Todes bestimmt. Wieder müssen
wir umkehren: DerjungeTote, der »im Friihtod schwindelnd« das majestä-
tische Grabmal nicht zu fassen vermag, steht für das Unfaßliche, das ein
früher Tod für uns, die überleben, ist. Wir wissen es nicht zu fassen. In der
mythischen Selbstvergessenheit, die der Dichter hier bis zu einer ganzen
Beschreibung einer weiten Wanderung durch das Land der Klagen durch-
hält, wird nichts davon explizit. Denn es bleibt alles Beschreibung von
Geschautem. Die auffliegende Eule macht die Größe dieses königlichen
Antlitzes des Sphinx erst ganz bewußt, es bedarf eines aus unserem gewohn-
ten Quart durch doppeltes Aufschlagen ins Folio vergrößerten, "doppelt
aufgeschlagenen(( Blattes, um den ganzen Umriß des Unfaßlichen aufzu-
nehmen.
Richtet man den Blick »höher(( - so ist der Einsatz der nächsten Strophe
gemeint -, dann erblickt man »die Sterne des Leidlands((. Die Erklärer, vor
allem zuletzt Steiner, haben sich bemüht, einzelne dieser Sternbilder zu
deuten. Sehr fraglich, ob das auch nur als Aufgabe richtig ist. Man muß hier
viel eher an die poetische Funktion solcher Genauigkeit denken, wie sie die
neuere literaturwissenschaftliche Semantik zu erkennen beginnt. Wie man
dort z. B. )Lügensignale( erkennt, so hier die Zeichen einer ganzen von uns
verleugneten Erfahrungsdimension der Schmerzen. Ganz sicher muß jede
Einzeldeutung der Forderung standhalten, daß die neuen Sterne »Sterne des
Leidlands« sind. Die Symbole müssen etwas mit Leid zu tun haben, und die
Aufgabe scheint mir, das Ganze dieses aufsteigenden Sternenhimmels von
der Tiefe des Leidgehalts her zu empfinden, der an die einzelnen Symbole
angeschlossen ist. Gewiß kann ein Sternbild auch die Leidwelt in der Um-
kehrung spiegeln, so etwa in dem Glück der »Wiege(( oder in der seligen
Einung zwischen Mensch und Tier im »Reiter«. Davon weiß ein Sonett an
Orpheus (1, XI) zu sprechen. Aber dort ist die selige Einung nur ein
flüchtiger Moment, und das Zerfallen der Einheit wird schon bei der Heim-
kehr tragisch fühlbar, wenn Tisch und Weide Pferd und Reiter scheiden. -
Will man im ganzen die Richtung dieser Sternsymboie beschreiben, dann
wird die Steigerung, die in der Schilderung zu finden ist, den wichtigsten
hermeneutischen Wink geben. Diese Steigerung wird plötzlich verständlich:
in dem ,M(, das »die Mütter" bedeutet. Das ist nicht mehr zu verkennen: das
Mychopoiecische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 303
Sternbild der Mütter, das den ganzen südlichen Himmel einnimmt, vertritt
die tiefste Erfahrung des Leids und der Klage. Es ist das Mutterleid. So ließe
sich zu jedem einzelnen Sternbild des Leidlandes manches sagen, das An-
klänge und Resonanzen weckt, aber es scheint mir nicht im Sinne des
Dichters, dort Herkunftsbestimmungen zu suchen, wo die Wegrichtung
und damit die Verstehensrichtung im ganzen klar gewiesen ist.
Folgen wir nun dem Schluß des Gedichtes, das heißt, gehen wir die
Wanderung zu Ende, die der junge Tote mit der Klage geht und von der er
sich schließlich trennt, um in die Berge des Ur-Leids einsam hineinzuschrei-
ten. In m ythopoietischer Umkehrung bedeutet diese Wanderung des jungen
Toten durch die Landschaft der Klagen, daß der in den Schmerz um einen
jungen Toten Versunkene die Weisheit der alten Klagekulturen am Segen
der Klage erfahrt. Und wenn die Klage am Ende der Wanderung haltmachen
muß. um von ferne auf die Quelle der Freude zu zeigen. die lIim Mondschein
schimmert«. so antwortet in uns diejähe Einsicht, daß am Ende des klagen-
den Trauerns im Trauernden die Freude wieder aufspringen wird. Die Klage
muß den jungen Toten am Fuße des Leidgebirges verlassen. Wenn die
Klagen verstummen, dann ist die Klage von nun an nicht mehr bei dem
jungen Toten. Sie begleitet ihn nicht länger. - Das heißt: so sehr gehört er
nun zu denen. deren Verlust wir verschmerzen lernen. Das Leid. das die
Angehörigen und Hinterbliebenen tragen. wird endgültig stumm und ist
gleichsam im Herzen versteinert. Deshalb schreitet der junge Tote nun
»einsam« in die Berge hinein.
Jetzt gehört er zu den »unendlich Toten«. die kein Gedenken. geschweige
denn eine Klage. je zurückruft. Aber gerade sie, die so unendlich tot sind.
sollen in uns »ein Gleichnis erwecken(!. Das weist ausdrücklich darauf, daß es
hier etwas zu verstehen gibt. Die lange Wanderung der Klage mit dem Toten
ist nicht ohne Sinn und Zweck. Sie führt zu einer Einsicht. und diese Einsicht
ist es, aufdie der ganze dichterische Anrufder Elegien hinweist: »Daß ich der-
einst. an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, I Jubel und Ruhm aufsinge
zustimmenden Engeln.« »Zustimmung« ist das Stichwort. das die zehnte
Elegie mit der ersten Elegie (»des Unrechts Anschein«) zusammenschließt.
Der Dichter vergleicht hier, und wo verglichen wird. dort darf gewiß
verstanden werden, was der Vergleich meint. Die Kätzchen der leeren Hasel
erscheinen noch vor dem grünen Laub. Der Strauch ist noch leer. Aber ein
Haselstrauch. der auch weibliche Blüten trägt, kann sich dennoch nie selber
befruchten. So ist die Hasel Symbol für e"twas, das nicht für sich blüht,
sondern sich selbstlos verschwendet. Sie gleicht darin dem fruchtbaren
Frühlingsregen, der auch nicht die eigene, sondern die Fruchtbarkeit für
anderes meint, wenn er sich verbreitet. Und nun sagt das Gedicht, daß wir
auch diejungen Toten so ansehen sollen. Wenn wir Rührung empfinden, ist es
nicht mehr Anklage, die uns erfüllt, daß hier ein Leben nichtausgelebtworden
304 Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien
ist und daß die Glückserwartung, die mit jedem Leben beginnt, enttäuscht
wurde. Was uns mit Rührung erfüllt, soll vielmehr dies sein, daß unserer
Glückserwartung entgegen auch das glücklich sein kann, was sich für sich
nicht erfiillt hat. Und das ist eine Zustimmung, die mehr bedeutet, als daß
man sich mit dem Tod des jungen Menschen abfindet. Sie wird einem
gleichsam von dem sterbenden Kind eingeschärft, das sie in seinem ganzen
unentzweiten Kindsein uns vorgelebt hat.
Die mythopoietische Umkehrung, die wir als den hermeneutischen
Schlüssel zu dem Verständnis der Elegien gebraucht haben, hatte in Rilkes
Dichtung, wie wir gezeigt haben, einen Gegenstand besonderer Art. Ihr
Mythos ist'kein Mythos, das heißt keine überlieferte Sage, die neu gedichtet
wird. Es ist auch nicht eine Poetisierung der Welt, die hier geschieht. Im
Gegenteil wird gerade das U npoetische unserer Welt Gegenstand der dichte-
rischen Aussage. Wo ist eine Dichtung hohen Stiles, die einen Vers wagen
könnte wie den von dem ))Postamt am Sonntag«, von dem es heißt, daß es
))zu« ist? Aber eben das ist es, daß der Dichter diese wirkliche Welt, in der kein
Mythos mehr verbindet und in der die Klage der Elegie das Verkehrte und
Falsche eindringlich zu sagen weiß, von der Erfahrung des eigenen Herzens
her noch immer voller Wunder findet. Diese dem Zeitgeist widerstehende,
überwältigende Erfahrung ist es, die ihn über sich hinausgehen, von dem
Engel reden und vor dem Engel reden läßt - eine Mythopoiie des eigenen
Herzens. Ich bezeichnete es als die mythopoietische Umkehrung, daß der
Ausleger das auf diese Weise dichterisch f:linausgespiegelte zurückübersetzt
in die eigenen Begriffe des Verstehens. Hier droht gewiß die Gefahr der
Scholastifizierung. So wäre es eine falsche Scholastik, wenn man nun überall
das Prinzip der mythopoietischen Umkehrung ausdrücklich zu machen
suchte, statt es zu befolgen. Das explizite Bewußtsein davon kann nur die
Aufgabe haben, zu einer Art hermeneutischer Selbstreinigung zu fUhren,
indem es die Methodik wissenschaftlicher Verfremdung, die mit Dichtung
umgeht wie mit jedem ailderen Gegenstande unseres Wissens, zurückzuneh-
men lehrt. Das aber heißt, den Text als sinnvoll und sprechend wiederzuge-
winnen, der sich als fremd und befremdlich zu verbergen schien. Alle
Interpretation kann nur darin münden, daß sie den Resonanzboden in
Schwingung versetzt, von dem aus sich die dichterische Melodie uns ver-
stärkt ins Ohr singt. Was an interpretatorischen Explikationen dieser Absicht
dient, muß sich zugleich selbst aufheben. Man soll ein Gedicht,. dessen
Verständnishorizont man einmal explizit aufbereitet hat, eines Tages selber so
lesen, daß alle Explikationen völlig weggeschmolzen werden von der eindeu-
tigen Klarheit, mit der das Gedicht sich nun selbst aussagt.
In dieser Allgemeinheit gilt aber das Prinzip der poetischen Umkehrung für
alle Dichtung. Immer muß es eine Rückübersetzung geben können, die das in
den Versen Gegenwärtige uns gegenwärtig sein läßt. In diesem Sinne ist
Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien 305
,Parusie< nicht nur ein theologisches Begriffswort, sondern auch ein herme-
neutisches. Parusie heißt nichts anderes als Präsenz - und Präsenz durch das
Wort und allein durch das Wort und im Wort, das nennt man: ein Gedicht.
26. Rainer Maria Rilke nach fünfzigjahren
(1976)
Wenn wir des 100. Geburtstags Rainer Maria Rilkes gedenken und der
Tatsache inne sind, daß er wenig über fünfzig Jahre alt geworden ist, so
trennt uns ein Abstand von einem halben Jahrhundert von seiner Zeit -
fiinfzig Jahre, in denen sich die Welt, in denen wir uns, in denen Wesen und
Wirken der Dichtkunst sich gewaltig verändert haben. Wir realisieren den
historischen Abstand. Wir wissen, daß vieles abgestorben ist, was damals
dem Wort der Dichter Widerhall gewährte, und daß in den heute Lebenden
neue Resonanzräume sich aufgetan haben, die anderes verstärken und ande-
res übertönen. Was blieb gültig und worauf beruht die Gültigkeit dessen,
was noch gilt? Ein Abstand von fünfzig Jahren kann die größte Ferne
bedeuten. Selbst Goethes 50. Todestag - so gut wie sein 100. Geburtstag -
war keineswegs die fraglose Bestätigung seiner geistigen Gegenwärtigkeit.
Die Erstauflage des 'West-östlichen Divan< war damals noch nicht ausver-
kauft! Und gar Philosophen wie Hegel oder wie Heidegger waren und sind-
wie die Dichtung Rilkes - nach fünfzig Jahren in der Zeit ihrer größten
Sonnenferne.
So ist es eine allgemeine Frage, die nicht nur an dieses dichterische Werk
gerichtet ist. Alles, was in den dauernden Bestand dessen eingerückt ist, was
wir ,Literatur< nennen, steht auf ein rätselhafte Weise zwischen Einst und
Immer. Der Gang der Zeit ist wie ein großer Filterungsvorgang, der Weni-
ges, und dies dauernd, zurückbehält. So auslesend zu sein, ist das Wesen aller
Überlieferung. Das Werk der Kunst, das von der Überlieferung erhalten
wurde, auch das der sich am meisten 'authentisch< erhaltenden Dichtkunst,
steht darüber hinaus unter besonderen Gesetzen. Seine Dauer ist nicht nur
die des Überlebens, im Sinne der Erhaltung einer Kunde von Vergangenern,
die auf das Vergangene zurückgeht und zurückweist. Jede Begegnung mit
einem Werk der Kunst ist vielmehr absolute Gegenwart, gelöst von allem
Bezug auf eine ursprünglichere authentische, aber vergangene Gegenwart.
Ist das noch Dauer des Selben? Was dauert da? Das gleiche Werk? Gewiß ist
es noch derselbe Marmor, aber ohne seine ursprünglichen Farben, es ist noch
derselbe Text, aber ohne das widertönende Auditorium, für das diese Spra-
che seine eigene war. Es ist 'gültig< als Werk, obwohl uns seine Welt, der
Rainer Maria Rilke-nach fiinfzigJahren 307
Götter und der Menschen, kaum noch anders gilt als eine Kunde von
Vergangenern. Warum gilt es?
Die Antwort einer formalistischen Ästhetik wird sein: Wir bewundern
und uns erhebt das Formniveau dieser Gestaltungen, deren inhaltliche Aus-
sage uns vergangen bleibt, und vielleicht ruft man gar die Wissenschaft an,
daß sie uns beweist, wieviel Meisterschaft des Könnens in diesen Gebilden
Stein oder Farbe oder Wort geworden ist. Aber ist es das, was gilt? Kunst fur
Kenner? Ist es nicht eher umgekehrt so, daß all diese Könnerschaft - außer
rur eine Sekundärwahrnehmung des Kenners - gar nicht als solche wahrge-
nommen wird, daß vielmehr durch ihre Vermittlung etwas anderes zu
Gehör kommt, das gilt? Was es auch sei, unsere Frage meint dies. Ist es ein
unveränderlich Selbiges, was in allen solchen Vernehmungen vernommen
wird? Oder ist es, wie der junge Lukacs meinte, ein einmaliger Begegnungs-
punkt unserer ästhetischen Regsamkeit mit dem Gebilde, der Subjektivität
mit der Objektivität, was den Seinsstand des Kunstwerks ausmacht? Beide
Antworten verfehlen offenkundig die lebendige Spannung von Einheit und
Vielfalt, von fester Bestimmtheit und wechselnder Weiterbestimmung, die
die Dauerhaftigkeit eines Kunstwerks ausmacht.
Es ist auch nicht erst der historische Abstand, der nach Dezennien bei der
Rückkehr zu demselben Werk Neues und anderes daran herauskommen
läßt. All unser Aufnehmen von Kunst, wie unser ganzer Existenzvollzug, ist
von Zeitlichkeit durchwaltet. Das Werk eines Dichters begegnet nie mit
einem Male. Auch wenn ein künstlerischer Eindruck im zeitlosen Nu eines
Augenblicks zu stehen scheint - wir bleiben nie derselbe, der wir waren. Jede
neue Begegnung mit einem Werk wird zwar irgendwie und irgendwann auf
frühere Begegnungen Bezug haben, aber merkwürdigerweise ist es selbst
dann kein wirkliches Erinnertwerden an die frühere Begegnung - sie ist wie
ausgelöscht, wie ein Palimpsest, eine kaum noch lesbare Schrift hinter dem
Text, den wir lesen. Jede Begegnung hat ihre eigene Konstellation, mit
ihrem eigenen Hintergrund von Widerklang und Verhallen. Reizbarkeiten
kommen auf und stumpfen sich ab. Die Gestirne wechseln ihre Stelle.
Hier ist ein Gesetz dessen, was man .Reiz< nennen kann, das vor allem von
der formalistischen Schule der Russen - den Anregern und Vorbereitern des
Strukturalismus - herausgearbeitet worden ist, aber im Grunde auf Einsich-
ten Kants zurückgeht. Er unterschied den Reiz von der Form - und in der
Tat: Was Reiz ausübt, unterliegt der Dialektik des Neuen, daß es veraltet
und Altes, Verblaßtes, Vergessenes neuen Reiz gewinnen läßt. Dagegen ist
Form eine dauerhafte und Dauer verbürgende geistige Aufgabe, etwas, was
wir selber aufzubauen haben, als Beschauer, Hörer, Leser, und was daher
ganz unser ist, wenn wir überhaupt es zu uns hereinließen.
Wonach ist also gefragt, wenn wir das Werk Rilkes unter der Perspektive
.Nach flinfzigJahren< betrachten? Gewiß leitet uns kein historisches oder gar
308 Rainer Maria Rilke nach flinfzigJahren
>Neuen Gedichten< etwas ähnlich Bestimmtes und Hartes, wie ein zuverläs-
siges Versprechen, alles aushalten zu wollen.
Aber dann erst, nach unendlichen Mühen und den Qualen einer fast
zehnjährigen Schweigsamkeit, brachten die Duineser Elegien und die Sonet-
te an Orpheus mit einem Schlage die Erfiillung, das Gelingen, eine stürmi-
sche Ernte im Winter 1922. Niemand kann seither die Linie dieses Werkes
länger verkennen, die vom Verfließen in Weiten zur fast gepreßten Intensität
eines verhaltenen Schreies geführt hat. Es hat eine zwingende Folgerichtig-
keit. Der Dichter hat es selbst so empfunden, indem er insbesondere >Das
Marien-Leben<, den letzten Gedichtzyklus, den er vor den Elegien veröf-
fentlicht hat, selber später als eine Art Rückfall bezeichnete. Die Vollendung
der Elegien meldete er seinen Freunden mit einem tiefen »Es ist vollbracht«.
Es ist heute kaum möglich, sich der inneren Notwendigkeit im Aufbau
des Elegienwerkes zu entziehen. Hier scheint alles auf seinem von jeher
bestimmten Platz zu sein. Es wirkt wie die Erfüllung eines lang vorbereite-
ten Planes. In gewissem Sinne stimmt das wirklich: die ersten vier Elegien
sind schon 1912/13 entstanden, und die Anfangszeilen der heutigen zehnten
Elegie samt einer später verworfenen Fortsetzung ebenfalls. Die Zielmarke
war sozusagen gesetzt, und die zehn Jahre bis zum Erreichen dieses Zieles
sehen den Dichter in unseligem Ringen, durch die Ungunst der Zeiten und
mehr noch gewiß durch inneres Ausweichen gehemmt und beirrt. Indes,
man soll die ergreifende Schilderung, die Rilke in mehrfachen, fast gleich-
lautenden Briefen von dem Sturm des Gelingens gibt, der im Februar 1922
über ihn kam, nicht allzu wörtlich nehmen. Dieser ungeheuere Aufschwung
war ein Arbeitsabschluß, eine Ernte langer Vorbereitung, eine plötzlich
aufspringende innere Nötigung, zusammenzufassen - und, wie das dann
nicht anders sein kann, zu unterdrücken, wegzulassen, auszuscheiden, was
sich nicht einfügte. Daß dies der wahre Sinn der beschriebenen Vorgänge
war, scheint mir durch die Tatsache bewiesen, daß Rilke den Elegien noch
nach ihrer Vollendung einen zweiten Teil: »Fragmentarisches« beigeben
wollte - eine Art Kompromiß mit sich selbst, auf den er später offenbar ganz
von sich aus verzichtet hat, als er an sich selbst und den ersten Lesern sah, wie
diese zehn Elegien >standen<.
Ja, wir können sogar noch deutlicheren Einblick in diese inspirierten
Wochen gewinnen, in denen die Vollendung gelang. Es waren zunächst nur
sieben Elegien, die Rilke bereits als das fertige Werk ansah und ankündigte,
und erst in den unmittelbar folgenden Tagen traten die noch fehlenden drei
hinzu. War erst darunter wirklich die zehnte? Man kann sich schwer vorstel-
len, wie irgendeine andere der Elegien den Schluß einer Reihe hätte bilden
können als diese schon 1912 begonnene. Aber gerade darin mag sich doku-
mentieren, wie unfertig der anflingliche Abschluß war und wie die Bruch-
stücke und Entwürfe, über die Rilke gebeugt war, förmlich darauf warteten,
Rainer Maria Rilke nach fiinf~igJahren 311
wäre ein anderes - weit mehr ein Sang von Mann und Frau-, wenn die
)Gegen-Strophen< in dieser Reihe geblieben wären.
Man darf das alles vergessen - man hat es vergessen, sowie man sich
unserem Text gegenübersieht, der wahrhaft endgültig wirkt. Genau das ist
es aber, wie ein dichterisches Gebilde sich zur Gültigkeit erhebt. Es streift
nicht nur die Zufälligkeit seiner Entstehung, die Anläufe und Abbiegungen,
die Variationen und Wiederholungen ab, die in den Keimen und Entwürfen
lagen - es streift auch, mehr und mehr, alle dem Zeitpunkt der Entstehung,
ja dem Zeitalter der Entstehung vorbehaltenen Bezüge ab -, es wird namen-
los gültig - trotz aller Bemühung der Gelehrten, es historisch oder biogra-
phisch einzufügen, oder der Soziologen, es zu )erklären< und abzuleiten.
Da hilft es wenig, festzustellen, daß Rilke ein religiöser Dichter war l . Besser
sollte man das Wort )Religion< dort nicht gebrauchen, wo keine religiöse
Gemeinschaft den Sinn des Wortes konkretisiert, und das ist für die einsame
Stimme dieser Dichtung gewiß nicht der Fall. Man wird auch nicht die
hundertfache Variation christlicher Motive - römisch-katholischer wie öst-
licher Christlichkeit -, die mindestens seit dem großen Rußlanderlebnis
Rilkes durch sein Werk geht, als Orientierung wählen dürfen. Es ist ja
gerade der große neue Ernst der Duineser Elegien, daß sie jeden Anschluß an
bestehende Religionen und Glaubenswelten radikal aufgeben und selbst das
leise Gespräch mit Gott, das Malte nicht abreißen lassen wollte, diskret
verschw~gen. Rilke selbst hat, in seiner zuletzt immer leidenschaftlicher
werdenden Ablehnung des Christentums und seines Angebots an Tröstun-
gen und Verheißungen, gelegentlich der jüdischen und islamischen Religion
mehr recht gegeben und würde vielleicht auch in den großen asiatischen
Religionen Verwandtes gespürt haben - wie er ja auch vom griechischen und
vom ägyptischen Altertum etwas ahnte. Aber die unendliche Diskretion
gegenüber Gott, die er einmal bekannt hat2, meint ein Verschweigen, das
alle solche Bezugnahme zurückweist.
Das gerade ist es: Rilkes Dichtung gesteht sich ein, daß Gott fern ist und
daß keine Heraufbeschwörung christlich-humanistischer Glaubensvorstel-
lungen oder ältester mythischer Symbole uns die Ferne Gottes verschleiern
darf. Das gibt der Botschaft dieser Dichtung ihre Anredekraft. Sie hat ihren
e·Jidenten Zeitbezug und bleibt zugleich - als eine äquivalente Aussage - für
jede religiöse Verkündigung wahr, die sich nicht selbst für überflüssig
erklären will. Sie mahnt uns, uns diese Ferne einzugestehen und in ihr
aufrecht zu stehen. Mochten die )Geschichten vom lieben Gott< und das
1 Siehe dazu auch meine Auseinandersetzung mit ROMANo GUARDINI in .Rainer Maria
Rilkes Deutung des Daseins<, in diesem Band, S. 271 ff.
2 In einem Brief an IIseJahr vom 22. Februar 1923.
314 Rainer Maria Rilke nach fUllfzigJahren
das Vorbild der Liebenden, die wahrhaft »in einander Genügte« wären.
Daher der Engel, das uns unendlich übertreffende Wesen.
Es ist nur die eine Seite des Ganzen, die in Rilkes den Engel deutenden
Briefen hervortritt: Er nennt sie die Garanten des Unsichtbaren. Das ist
sozusagen ihre Beweisfunktion rur den der Metaphysik Bedürftigen und
ihrer Entwöhnten. Aber die andere Seite ist gerade die, daß es in Wahrheit
keines Garanten bedarf, weil unser eigenes Herz selbst es ist, das darur
einsteht. Es weiß, wie es zurückbleibt hinter dem, was es ganz zu erfüllen
scheint. »Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen.« Der Engel ist überhaupt
nur das Gewahrwerden unseres eigenen Zuruckbleibens hinter uns selbstl.
Denn wir sind selbst uns übersteigende, Imetaphysische< Wesen. Und doch
hört uns nicht einmal der Engel.
Das ist das elegische Grundrnotiv, das vor allem die ersten Elegien be-
herrscht. Die elegische Klage gilt nicht etwa den verlassenen Liebenden,
nicht den jungen Toten, dem »vor dem Leben« lebenden und sterbenden
Kind, sondern uns, die wir nie so unbedingt sind wie diese, sondern immer
auf uns selbst bezogen bleiben und beständig die Gegenrechnung aufma-
chen. So sind wir abhängig und bedingt vom Gegenüber:
Wir, von uns selber gekränkt,
Kränkende gern und gern
Wiedergekränkce aus Not.
Rilke hat seine eigenen dichterischen Anfange eben deshalb verurteilt. weil
sie allzusehr den Erfolg - dies universalste Gegenüber - meinten. Er hat
Rodin und vor allem Cezanne wegen der Unbeirrbarkeit ihres Schaffenswe-
ges und rur ihr entschlossenes Alleinstehen und Bestehen auf der Suche nach
der eigenen Sprache bewundert. Er hat sein eigenes späteres Leben so
eingerichtet, daß er seine Lebenspartner, zuerst seine Frau und Tochter, und
manche andere, die ihm nahekamen, von sich weggeruckt hat. wie in einem
liebevollen Eingeständnis seines Nichtkönnens und zugleich in dem arbeit-
samen Entschluß, das Alleinsein auszuhalten und durch nichts zu verstellen.
Ein ganzes System der Diplomatie des Herzens hat er entwickelt, um sich die
äußere und äußerste Unabhängigkeit des Daseins zu ermöglichen. Der
bekannte Briefwechsel läßt das nur gerade ahnen. Die ProdukLivität seiner
dichterischen Antwort sollte die alleinige Rechtfertigung dafür sein, daß er
sich schonte, verwöhnen ließ, sich entzog und verschloß.
Der Engel: Rilkes Selbstdeutung sagt. daß im Fühlendsein des Engels die
Auflösung des Gegenüber, die Verwandlung ins Unsichtbare schon vollen-
det und geleistet sei4 • Wir sagen dafür: Unbedingt zu dem stehen, was uns
3 Vgl. dazu .Mythopoietische Umkehrung in Rilkcs Duineser Elegien<, in diesen)
Band. S. 292ff.
4 Briefan Witold Hulewicz. 13. November 1925.
316 Rainer Maria Rilke nach funfzigJahren
unser Herz sagt, ist unsere Aufgabe, die uns wie ein jenseitiges Wesen
ständig übertrifft. Unsere Begrenztheit in der Erfüllung derselben ist unsere
Schwäche. So ist die Gestalt des Engels das uns übertreffende Wesen -
schrecklich durch die Gewalt seiner Unbedingtheit.
Aber nun tritt, im Fortgang des Elegienwerkes und im Wandel des Tons,
heraus, daß der Engel nicht nur das uns übertreffende, sondern auch das uns
bezeugende Wesen ist. Denn unsere Aufgabe ist nicht minder, das ins
Unsichtbare Verwandelte zur Auferstehung im Sichtbaren - zur Gestalt - zu
bringen. Der Dichter tut es im Zeigen und Preisen des Hiesigen, im Bewah-
ren »der noch erkannten Gestalt« (7. Elegie).
Damit soll nicht das Privileg des Künstlers und der Kunst gegen die
Menschen sonst ausgespielt werden. Der Seiler in Rom und der Töpfer am
Nil haben den Dichter selbst fasziniert. weil da jeder Handgriff so sicher und
selbstverständlich getan wird, weil die Weisheit früherer Geschlechter darin
eingegangen ist, bewahrt und sich bewährend. Es ist - von jeher - der
allgemeine Auftrag des Menschen, zu bewahren und zu verwandeln. Er gibt
sich Dauer. Darin ist nichts von Berechnung und Rechnung aufZukunft - es
ist das Hiersein selbst, das sich so erfullt.
Zwar sprechen die Elegien eindeutig von dem Schwinden der »Dinge((,
das durch das Zeitalter der Hämmer unaufhaltsam heraufgefuhrt wird, und
die Bewahrung des so Schwindenden stellt nicht zuletzt des Künstlers Auf-
trag dar, der Sichtbares ins Unsichtbare- durch die Aufnahme in menschli-
ches Fühlen - hinausstellt, Stein und Farbe, Ton und Wort. Aber es wäre
eine falsche überresonanz, wenn man hier die Töne der bekannten Kultur-
kritik herauszuhören meint-die wahre Resonanz ist die Unveränderlichkeit
der menschlichen Natur und der Menschlichkeit inmitten aller Veränderun-
gen. Was sich in der rasch sich wandelnden Welt von heute so zuspitzt, ist im
Wesen nicht unterschieden von der Aufgabe, die die allgemeine Hinfällig-
keit aller irdischen Dinge vonjeher dem Menschen gestellt hat. Wir selbst
sind »die Schwindendsten((.
Rilkes These ist nun, daß die menschliche Aufgabe ist, zu dem Schwin-
dendenja zu sagen - und daß diese Aufgabe in der Zustimmung zum Tode
ihre letzte Effüllung fmdet.
Rilke hat in zahllosen Briefen dieser Wahrheit Ausdruck gegeben, daß der
Verlust, den der Tod eines geliebten Menschen rur die Hinterbliebenen
bedeutet. kein eigentliches Verlieren ist. Es ist eine falsche Negativität, die
damit dem Tod zu Unrecht zugeschrieben wird. Sie verkleinert die allum-
fassende Macht des Hiesigen, des Hierseins, der Gegenwart. Diese umfaßt
den Tod mit. Aber in Wahrheit nicht nur auch den Tod noch, diese absence,
die den Andern, Dahingegangenen, rur uns in eine neue Gegenwart - vor
dem Forum der Ewigkeit - eingelassen hat. Vielmehr umfaßt dies Sein des
Toten seinerseits das Ganze des Hierseins, denn auch dieses gewinnt teil an
Rainer Maria Rilke nach t'linfzigJahren 317
der neuen Ewigkeit des Toten und seiner veränderten Gegenwart. Das Hier
ist selbst anders geworden. Nicht nur der Tote bewegt sich seltsam im Raum
- der überlebende fmdet sich seltsam im Raum. »Aber Lebendige machen
alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden« (1. Elegie). In seinen Briefen
hat Rilke manchmal einen geradezu beschwörenden Ton. wenn er den Tod
als den eigentlichen großen Ja-Sager feiert. Er will damit sagen: Der Tod
macht das Hiersein in seiner Unbedingtheit erst rund und vollkommen - so
sehr. daß kein unerträgliches Hiersein denkbar bleibt. Es ist immer noch
Hiersein und »herrlich«. Das schärfen uns die Elegien ein, uns. den
)) Schwindendsten«.
Es ist eine nicht abzuweisende Wahrheit, daß jeder Verlust, auch der
schwerste, verschmerzt werden kann und daß dies eben leben heißt. Nun
liegt es im Sinne der )Botschaft< der Elegien, daß gerade der schwer zu
verschmerzende Verlust dem eigenen Leben mehr und mehr anzugehören
beginnt - auch wenn und gerade dann. wenn das)) Verschmerzen« - welch
großartiges Wort - wirklich geleistet, das Leben und die Freude wieder
aufgenommen wird. Das hat Rilke offenbar vor Augen. wenn er dasjenseiti-
ge Schicksal der jungen Toten schildert. als wären sie hier. In diesem
unsichtbaren Reich, das beide Bereiche umfaßt, sind sie da wie das Hiesige
auch. und mit ihm. Ich habe das ehedem das Prinzip der mythopoietischen
Umkehr genannt und damit nur unserer gewohnten Verständnisweise zu
ihrem Recht verholfen, die die Basis dafür ist, daß wir Rilkes dichterische
Aussagen )verstehen<. Aufihr steht einjeder, auch wenn er sich dessen nicht
bewußt ist.
Insbesondere die zehnte Elegie kann das illustrieren. In ihr ist die mytho-
poietische Kraft Rilkes von eindeutiger Dichte. Es wird von der Klage,
insbesondere der Totenk,lage (in der nichts von Anklage ist). auf eine Weise
berichtet, als wären die Klagen Wesen unserer Welt. einst wohl bestallt.
heute an den Rand gedrängt und in ihrem Recht verkannt. Sie gehören zum
Leben. Es gehört sich, zu klagen. Und nun wird von dem jungen Toten.
dem die Klage über den Tod hinaus folgt, so gesprochen, als sei er es, der der
Klage folgt. Diese Umkehrung brauchen wir uns nicht im Sinne der Trans-
formation einer Gleichung bewußt zu machen. aber sie trägt unser Ver-
ständnis. Das können wir gar nicht verleugnen. Am Ende will diese zehnte
Elegie den eigentlichen Punkt setzen, den der endgültigen und bedingungs-
losen Zustimmung. Das ist das Leben, daß es auch noch den Tod verwindet.
Mehr noch, daß es gerade aus der Anerkennung der vollen Trostlosigkeit
und Grausamkeit des Todes ihn annehmen lernt als das, was er ist: nicht als
eine unzumutbar beschränkte Dauer und verbunden mit der vorwurfsvollen
Gewißheit, bald vergessen zu sein. Zwar ist es wirklich nur eine kleine
Weile, was wir Leben nennen, und wirklich verstummen die Klagen am
Ende, und die Quelle der Freude schimmert in der Ferne. Aber das ist nicht
318 Rainer Maria Rillte nach fünfzig Jahren
eine bittere Erkenntnis, daß jeder vergessen wird, sondern eine Botschaft.
Wir sollen mit der Dichtung und an ihr die schier herzlose Gewalt des
Lebenswillens erkennen müssen, der jeden Schmerz überwindet und jeden
Toten am Ende ))unendlich tot« sein läßt - und wir sollen all das bejahen.
Das Gleichnis der leeren Hasel, die blüht, ohne die Zukunft der Frucht zu
meinen, und des fruchtbaren Regens, der seine eigene Fruchtbarkeit nicht
meint, will nicht nur sagen, daß wir die anderen, die unendlich Toten, die
wir verloren haben, in ihrem Geschick des Zurückgesunkenseins ins Ver-
gessen erkennen. Das Gleichnis wird uns selber erweckt, wie es ausdrücklich
heißt, und das will sagen, daß wir selber darin unser eigenes Geschick
begreifen. Auch wir werden - wie jene - einst »unendlich Tote« sein,
namenlos und vergessen, und sollen das mit Zustimmung annehmen. Das
zu wissen und,zu wollen - uns in unserer Flüchtigkeit zurücknehmen zu
lernen -, das lehren uns die Toten. »Könnten wir sein ohne sie? <I , so fragt die
erste Elegie. In der letzten begreifen wir vollends, warum der Tod der
»heilige Einfall« der Natur heißen kann - er mahnt uns, des Hierseins ganz
und bedingungslos innezusein.
So etwa läßt sich in Worte fassen, was die Doppelbotschaft vom wirkli-
chen Liebenkönnen und vom Sterbenmüssen uns ausrichtet. Nichts, was
wir nicht wüßten, nichts, worin wir uns nicht wiedererkennen müßten - ein
Wort der bloßen Aufrichtigkeit, nichts als das. Es ist das schwerste. Kein
Wunder, daß viele es nicht hören wollen - hoffend halb, daß sie durch Tat
und Wagnis auch das Unveränderliche und Unabänderliche meistern oder
vergessen könnten, und halb skeptischer Ernüchterung hir!gegeben, die sich
auf nichts wirklich einlassen mag, auch nicht auf das, was sie weiß. Dichtung
hat Zeit. Rilkes Dichtung hatte ihre Zeit, in der kein ästhetisches Raffine-
ment, kein hochgezüchteter Manierismus, keine Emphase und keine herme-
tische Esoterik hindern konnte, daß sie von einer wachsenden Leserschaft
des In- und Auslandes wie auf Händen getragen wurde. Diese Zeit der
unmittelbaren Hingabe ist vorüber. Aber Dichtung hat Zeit, und Dichtung,
die ein halbes Jahrhundert solchen Widerhall zu wecken wußte, bleibt ein
Angebot. Was einst wie hermetisch verschlossen und magisch bewirkend
schien, mag heute fast überdeutlich geworden sein. Wir sind alle in diese Art
von Sonnenferne getreten. Aber es ist eine Sonne. Wo Sprache zu Gebilde
und Gefüge wurde, das in sich derart Bestand und Dauer gewann wie Rilkes
Elegienwerk und was sich um es ordnet, ist ihr immer wieder, in allem
Wechsel von Erblassen und Erglühen, neue Auferstehung gesichert, die ein
betroffener Leser ihr bereitet.
Niemand kann voraussehen, welche Rolle Dichtung überhaupt in der
Gesellschaft der Zukunft spielen wird, niemand, welche die Religion - das
Christentum wie auch andere in Sitte, Recht und Gesetz eingekörperte
Weltreligionen - im Zeitalter des Massen-Atheismus und der Religion der
Rainer Maria Rilkenach fünfzig Jahren 319
•
Weltwirtschaft spielen wird. Aber die Botschaft der Aufrichtigkeit, in der
das dichterische Werk Rainer Maria Rilkes seinen durchgehaltenen Klang
und bleibenden Ausklang fand, bleibt wahr - wie die großen anderen
Botschaften der Weltliteratur, von Homers lachenden Göttern und weinen-
den Rossen an. Wir sind zu Flüchtige, um mehr wissen und sagen zu
können. Aber zu dem, was Rilkes Dichtung aus den Jahrtausenden unseres
Fühlens beschwor, »Säulen, Pylone, der Sphinx, das strebende Stemmen,
grau aus vergehender Stadt oder aus fremder, des Doms«. wird auch dies
Werk selber zählen, und auch von ihm wird gelten:
So haben wir dennoch
nicht die Räume versäumt. diese gewährenden. diese
unseren Räume.
27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung 11
(1966)
Vertrauens, in der es sich allein bleiben und leben läßt, ist unzugänglich
geworden - ja. gibt es sie überhaupt noch hinter den Mauern der Zurück.-
weisung, um die wir gejagt werden?
Man schenkt dem Wechsel des Tempus Beachtung. Die Jagd erscheint in
Vergangenheitsform, eingeleitet durch ))Lange«, das l7lAavy&( np60T1Jßov des
Gedichts, das sogleich auf die Wandlung deutet, die sich anbahnt. Und doch
geht es im Präsens weiter, das Fliehen und Wegwerfen der Namen. Nicht
nur, meine ich. um die verzweifelte Jagd ganz gegenwärtig erscheinen zu
lassen, sondern weil diese Fluchtbewegung des Lebens, diese Jagd von
Enttäuschung zu Enttäuschung. nicht mit einem Schlage zu Ende ist. Sie
dauert fort, wo immer Verständigung und Vertrauen mißlingt.
Umgekehrt darf man nicht fragen. wie das Gedicht plötzlich auf das
Lernen von Vertrauen kommt. Es kommt nicht plötzlich darauf. Vertrauen
ist immer da, immer notwendig. Selbst wo es zerrüttet ist, ist es da, als das,
was man neu zu lernen versuchen muß. Ebenso gilt aber auch: Das Wieder-
erlernen von Vertrauen ist kein unschuldig-zuversichtlicher Neuanfang, der
schrittweise Buchstaben des Vertrauens zu lernen beginnt. nachdem alle
Enttäuschungen erfahren. alle Verzweiflung ausgekostet ist - Vertrauen ist
ein Wagnis. heimlich. unmerklich. uneingestanden. Es gilt, Vertrauen zu
fassen. Diese Wendung unserer Sprache enthält alles, was das Gedicht
sinnlich evoziert. Was einem beständig vergeht, worin man sich ständig
getäuscht sieht, wobei man immer wieder versagt - leise kehrt es dennoch
wieder. Es gibt niemals Beweise, auf die sich Vertrauen berufen kann. Es ist
nicht ein bekannter Buchstabe und eine Folge von Buchstaben, die al~e
kennen, womit das Wiedererlernen von Vertrauen beginnt. Es sind ))zei-
chen in der Luft«, niemand anderem kenntlich, nicht vorzeigbar, kaum
einem selbst bewußt - und doch sind diese ins Flüchtigste gewagten Zeichen
voller Bezug, voller Beginn, voll ersten Bleibens.
Daß die neue Stadt des Vertrauens ))aus Nichts« gebaut ist, versteht sich;
wenn anders Vertrauen Vertrauen sein soll und nicht wohlbegründete Si-
cherheit. Daß sie im »goldenenc( Schimmer einer ewigen Erwartung glänzt,
ein himmlisches Jerusalem, gibt der Wahrheit, die in diesen Versen liegt, ihr
letztes Siegel. Man kann nicht leben ohne Vertrauen, ohne Vertrautheit
ringsum und ohnejene letzte Vertraulichkeit mit sich selbst, die einen "ichc(
sagen und Ich sein läßt.
28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr
(1971)
Wozu Lyrik heute? - Diese Frage braucht dort nicht gestellt zu werden, wo
das Gedicht das Ohr der andern gefunden hat. Die Verleihung des Droste-
Preises an Hilde Domin spricht für sich selbst. Hier wird ein dichterisches
Werk ausgezeichnet, das sich beständig gegen die bange Frage 11 Wozu Lyrik
heute? .. seine eigene Antwort verbürgt. Diese Verse, die heute in einigen
schmalen Gedichtbänden vorliegen (und denen Prosaarbeiten und literaräs-
thetische Studien der Dichterin zur Seite stehen), haben einen unverwechsel-
baren Ton, einen Ton, der wie Atem verhaucht.
Bereits aus dem Umschlag des ersten Bändchens erfährt man, daß diese
Gedichte - bis auf wenige Ausnahmen - erst nach der Rückkehr nach
Deutschland entstanden sind, Schöpfungen eines durch ein Wanderschicksal
gereiften Lebens. Das scheint mir von symbolischer Wahrheit. Hilde Domin
ist die Dichterin der Rückkehr.
Bedenken wir, was das heißt. Es heißt nicht, daß hier ein privates Ge-
schick der Vertreibung und der Heimkehr seine Darstellung im Wort suchte
und fand. Es heißt auch nicht, daß hier ein allgemeines deutsches Schicksal.
das uns zerriß. dessen Wunden sichtbare Narben hinterließen und das nicht
zu schließende Risse verursacht hat, dichterische Bewältigung erfuhr. Man
möge mir verzeihen - aber was die dichterische Gültigkeit dieser Schöpfun-
gen ausmacht, ist nicht von der Art politischer Lyrik, selbst dort nicht. wo
die unvertilgbaren Spuren politischen Geschehens. »silence« und »exile .. ,
Rückblick aufgraueJahre und erneute Angst um die Freiheit, sichtbar zutage
treten. Auch dann nicht, wenn man realisiert. daß der leise Atem dieser
Verse in beständigem Zuspruch dazu ermutigt, an Rückkehr zu glauben.
Das alles ist da, und doch auch noch mehr. Rückkehr ist noch anderes als
das Wagnis und Unterfangen eines ehedem ins Exil Gegangenen. und die
Bilanz dieses Lebensschicksals ist noch anderes als die Summe der Erfahrun-
gen von Verlust und Abschied, Fremde und Ferne, Wanderschaft, Freund-
schaft. Liebe und wie immer man die Reihe der Erfahrungen fortsetzen mag.
die hier anklingen. Es sind Dichtungen. Sie reden von uns allen. Wir alle
wissen oder müssen lernen, was Rückkehr ist. So begegnen wir uns in diesen
Versen selbst, indem wir lernen, was wir wissen.
324 Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr
HUde Domins Verse lassen uns darüber hinaus auf eine neue Weise verste-
hen. was Dichtung ist. Wer mit ihr realisiert, was Rückkehr ist, weiß mit
einem Male. daß Dichtung immer Rückkehr ist - Rückkehr zur Sprache.
Darin liegt die doppelte Symbolkraft ihrer dichterischen Aussage.
Was ist Rückkehr? Rückkehr ist nicht bloß Wieder-da-Sein. Rückkehr ist
doppelter Abschied. Wer - nach langem Femsein - zurückkehrt, muß von
etwas lassen. das sein zu werden begann. Folgen wir nachdenkend einigen
Versen. DaheiBtes:
Ein Reh tritt aus dem Wald,
und eine kleine Kirche auf einem Hügel
mit einem einsamen Kirchhof
winkt dir zu.
Du wägst ihren Gruß
wie eine Einladung,
die man eines Tages
-nochungewiß, wann-
vielleicht gerne
annehmen möchte.
Und daran erkennst du,
daß du
hier ein wenig mehr
als an andern Stätten
zuhaus bist.
Wenn einer das zu spüren beginnt und es nun doch wieder lassen soll. so
macht ihm das neu bewußt. was er einst lassen mußte. So ist Rückkehr ein
zweideutiges Geschenk. Sie ist nicht ein Zurückbekommen dessen, was man
verloren hatte. sondern zugleich neuer Verlust. Und was ist ihr Gewinn? Die
Rückkehr bfSchenkt mit Wiedererkennen. jedoch im gleichen Atemzug
erschreckt sie durch Nichtwiedererkennen:
Meine Füße wunderten sich
daß neben ihnen Füße gingen
die sich nicht wunderten.
Es ist nicht nur so. daß alles andere anders geworden ist, als es war. sondern
vor allem so. daß wir selber anders geworden sind. als wir waren. Es gibt
kein Zurück. Und auf einmal weiß man: Was wie das besondere Los des
heimatlos Gewordenen klingt,
Unsere Sprache sprichst du
sagen sie überall
mit Verwundern.
Ich bin der Fremde,
der ihre Sprache spricht.
Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr 325
ist in Wahrheit ein allgemeines Los. Immer gehen wir aus, und überall ist
Verwundern und kein leichtes Verstehen. Weil das überall so ist, ist Rück-
kehr niemals reiner Gewinn. Mehr noch: sie ist ein neuer Abschied - der
dritte Abschied. Denn jetzt erst ist das, wovon man Abschied nehmen
mußte, ganz von einem geschieden, seit auch die Rückkehr nichts mehr
zurückbringt.
Das heißt nicht, daß Rückkehr schlichte Enttäuschung ist. Rückkehr ist
Erkenntnis. Gewiß, alle Erkenntnis ist Abschied. Aber was im Abschied
reift, ist selber Erkenntnis. Ein neuer Abstand ist gewonnen. Das Atemlose
der Erwartung wird still. Nicht länger werden Ziele planvoll verfolgt.
Vieles entgleitet wie Träume, und unerwartet ist, wohin man kommt. Ein
Gedicht, das ich besonders liebe, spricht aus, was nicht nur von der Traum-
fahrt gilt.
Treulose Kahnfahrt
Aber der Traum ist ein Kahn
zu dem falschen Ufer.
Du steigst ein
an dem schimmernden Holzsteg des Gestern.
Du bist eingeladen
zu einer Fahrt über rosa Wolken
unter rosa Wolken,
wolkengleich.
Ein Hauch der Luft,
du bist so leicht,
der Kahn so steuerlos,
das Wasser so spiegelglatt.
So sanft verlierst du die Richtung:
du bist noch unterwegs nach der Wiese im Licht,
wenn der Sand schon unter dem Kiel knirscht
im Schatten der Weiden.
So wird Rückkehr zur Einkehr. Denn von wo man zurückkehrt - das Exil
läßt man nicht irgendwo da draußen:
Unverlierbares Exil
du trägst es bei dir
du schlüpfst hinein
gefaltetes Labyrinth
Wüste
einsteckbar.
Man irrt in der Wüste sein Leben lang und weiß, daß die fruchtbringende
Oase, in der alles glücklich endet, nie sein wird. Die Dichterin wird in einer
ihrer persönlichsten Gebärden kenntlich, wenn man liest:
326 Hilde Domin. Dichter,!" der Rückkehr
Und doch hört dies Lauschen »Lieder der Ermutigung«. Woraus wachsen
sie der Lauschenden zu?
Hier erhebt sich die dichterische Erfahrung in das Allgemeine der Erfah-
rung, die wir alle teilen: die Erfahrung des Wortes. Zunächst freilich scheint
es die ausgezeichnete, uns alle vertretende Erfahrung des Dichtens:
Angst
meIne
unsere
und das Dennochjedes Buchstabens.
Das ist es: Für uns alle besteht der feste Buchstabe. Das Wort verbürgt sich
selbst - und doch, weIch Wagnis ist ein Wort:
Losgelöst
treibt ein Wort
auf dem Wasser der Zeit
und dreht sich
und wird getragen
oder geht unter.
Das Wort, das nicht untergeht, das ist - wie ein atemberaubender Glücks-
fall- das sich ereignende Gedicht. In ihm kommt das Flüchtige zum Bleiben,
und die Atemreise des Wortes gelangt an ihr Ziel.
Meine Hand greift nach einem Halt
und findet nur eine Rose als Srutze:
Man denkt an die Blume des Mundes, wie Hölderlin die Mutter-Sprache,
die die Sprache des Dichtens ist, nennt. Und nun begreift man in einem,
warum der Dichter an unser aller Stelle steht. Das Verhalten des Dichters zur
Sprache ist für uns alle Rückkehr zur Sprache, Abschied und Erkenntnis
zugleich. Denn nie sind Worte sich gleich. Der Dichter ist immer aus dem
Selbstverständlichen ausgewandert. In dem Atem der Atemlosigkeit. die
ihn überall ein Verwundern erregen läßt, wird das Gedicht geboren. Das ist
ein Äußerstes der Vereinzelung. Aber ist es nicht auch Rückkehr in das allen
Gemeinsame? Nicht nur so, daß der Dichter aufgenommen wird von der
Sprache, die alle sprechen. Auch so, daß wir mit ihm mitgegangen sind in
Abschiede und Erkenntnisse. Auch so, daß wir selber immer wieder aus
dem Selbstverständlichen auswandern - wir nennen das Denken - und
Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr 327
zurückkehren in ein Andersgewordenes - wir nennen das Erkenntnis. Nur
weil wir selber so gehen, gehen wir auch mit dem Dichter mit.
Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
daß der Wind
hindurchfährt.
Wer es kann, ist das Gedicht. Das Nächstgegebene wird durchlässig. Es ist
nicht länger das Vertraute und Bekannte. Und doch ist es nicht fremd
schlechthin. sondern auf eine rätselhafte Weise urvertraut. Es ist in Hilde
Domins Versen noch etwas von der Gegenwart des Kindes:
Da stand ein Stein.
ein grauer Stein.
auf einem Hügel im Feld .
•Lieber Stein«, sagte ich •
• nimm mich an.
als seist du ein kleiner niedriger Stuhl
vor einem Herdfeuer
an dem ein Topf Milch steht
bei dir will ich bleiben.
Ich will auspacken
und wie ein Kind
seine Taschen umdreht
und seine Murmeln
und einen zerdrückten Maikäfer
auf dem Boden ausbreitet.
will ich das Meine um dich legen.«
Das ist mehr als ein vergleichendes I) Wiell. Man erkennt sich selbst an dem,
was man im Kinde sieht, nicht nur, daß man auch so war, ganz so. sondern
daß man noch immer so ist. Der zerdrückte Maikäfer, über den die Großen
lächeln -lächeln wir nicht über uns selbst? Daß man mitnehmen mußte,
wovon man sich nicht trennen konnte, auch wenn es einem nichts mehr sein
kann - unzerstörlieh bleibt der Drang in einem jeden von uns, alles das
Meine um sich auszubreiten. Das allen Gemeinsame baut sich so zum
Gedicht auf-aus a11 unseren Vereinzelungen und Erkenntnissen:
sie treffen sich
werden zusammen gebogen
die Botschaften
jeder redet furjeden
gefiltert
die tonlosen Worte
und umgewandelt
in das Wort
328 Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr
Es ist Wandlung ins Gebilde, was geschehen muß, damit das Wort zur
Bürgschaft für das Ding wird. Im Gleichgewicht von Klang und Bedeutung
und in der Spannung zwischen Klang und Bedeutung, in der sich alles
Sprechen suchend und findend bewegt, ist Dichtung ein Höchstes von
Gegenwart. Kein Abstand mehr ist zwischen Meinen und Sein, kein An-
hauch von Draußen, der frösteln macht. Im Gedicht erreicht die Spra<:he die
volle Hautnähe von Wort und Ding:
Wort und Ding
lagen eng aufeinander
die gleiche Körperwärme
bei Ding und Wort
So ist die Rückkehr und Einkehr zur Sprache, die der Dichter voll,bringt,
nicht nur seine eigene Rückkehr, in der er sich wiederfindet, weil er alles
verlor. Es ist unser aller Rückkehr zu uns selbst, in der wir uns finden I.
Denn wir essen Brot
aber wir leben vom Glanz.
, Zum Thema Dichtung im Exil siehe jetzt auch .Heimat und Sprache< in Ges. Werke
Bd.8.
29. Die Höhe erreichen
Hilde Domins Frankfurter Poetik-Vorlesungen
(1988)
2 Vgl. jetzt in diesem Band .Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr<. S. 323ff.
332 Die Höhe erreichen
Unspezifische Genauigkeit
Man fragt sich, woher diese Wirkungsmacht des Gedichteten kommt und
sich in Scmeibpraxis und Lesepraxis bewährt. Die dritte und die vierte
Vorlesung versuchen, vom Schreibenden wie vom Lesenden aus Winke für
die Beantwortung dieser Frage zu geben. Das Kennwort, das Hilde Domin
einfUhrt, lautet: Es ist die unspezifische Genauigkeit, die den einzigartigen
Gebrauchsartikel, der das Gedicht ist, auszeichnet. In der heutigen Literatur-
ästhetik werden Erklärungen dafiir angeboten, worauf diese unspezifische
Genauigkeit beruht. Synonyme, diese Popanze der Grammatik, sind ja für
jeden Denkenden ein Ärgernis. Als ob es das geben könnte, wo doch jedes
Wort in einem Spannungsfeld steht, durch das es sich beständig neu defi-
niert, und, aus diesem Felde gelöst, zur hohlen Hülse verkommt, die im
Lexikon steht. Hilde Domin schreibt: Lyrik,
das Nicht-Wort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort.
Ein letztes Kapitel gilt Sisyphus. Er ist wie ein Heiliger in der modernen
Welt und ihrer aufgeklärten Verzweiflung. Sie sieht in ihm das »Dennoch«
verkörpert. Jeder Kenner Homers kennt das, so gut wie der Kenner von
Albert Camus und seinem Heroismus der Absurdität. Hilde Domin geht in
ihrer letzten Vorlesung dem Symbol gehalt der Sisyphus-Gestalt nach und
ihrer Aufnahme bei Goethe und vor allem bei Enzensberger und Jüngeren.
schweigt: Das wußten alle. Der Sache nach ist es doch wohl eindeutig, wie
wir aus Theognis etwa belegen können. Die Hadesstrafe geht darauf zurück,
daß Sisyphus mit Klugheit und List selbst den Tod zu überlisten verstanden
hat. Den Tod umgehen. ihn fesseln oder betrügen. das wird hier durch die
Bußarbeit im Hades geahndet. Sie soll nicht etwas besonders Grausames
sein, sondern etwas besonders Aussagekräftiges. Diese Sisyphusarbeit wie-
derholt symbolhaft, was es heißt, den Tod nicht wahrhaben zu wollen. Im
Zeitalter der technischen Lebens- und Sterbensverlängerung, in das wir
eintreten, gewinnt der Sisyphus-Mythos an Stimme. Nein, es gibt ein
anderes »Dennoch«. Das Gedicht ist der Felsblock. der nicht wie der tücki-
sche Marmor entrollt. Es erreicht die Höhe.
30. Gedicht und Gespräch
Überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meisters
(1988)
Nicht, daß ich eine Interpretation des Werkes von Ernst Meister im Ganzen
des lyrischen Schaffens der Gegenwart geben will. Ich möchte mein Thema
am Beispiel einiger seiner Gedichte lediglich illustrieren. Zu etwas anderem
hätte ich wirklich keine Kompetenz. Ist es doch ein verwirrendes Kaleido-
skop, das die gegenwärtigen lyrischen Versuche darstellen. Al$ alter Mann
denke ich daran, was in der eigenen Jugend galt. Da zieht vieles an einem
vorüber. Da war das Experiment der expressionistischen Lyrik. vor und
während der Kriegszeit des Ersten Weltkrieges, was damals in die Welt trat.
Doch war das eine Welt, in der sich neben vielem Vergänglichen eine Reihe
von wenigen ganz Großen herausgehoben hat - der junge HofmannsthaI,
der Dichter Stefan George, Rainer Maria Rilke und, als der fast einzige aus
der expressionistischen Dichtergeneration, der noch heute zu allen spricht,
Georg Trakl. All das verband sich mit dem einzigartigen Phänomen, das die
Wiederentdeckung des späten Hölderlin in den Jahren meiner Jugend dar-
stellte. Später schloß sich daran, vor allem nach dem zweiten Kriege, der
dichterische Eigenton eines Gottfried Benn und die versiegelte Botschaft
eines Paul Celan. Das waren die zeitgenössischen Dichter, die mich zu
meiner eigenen Lebenszeit wirklich begleiteten. Und wenn mich auch
manch anderes Gedicht berührt hat, erlaubt mir das sicherlich nicht. als ein
Kenner der modernen lyrischen Dichtung aufzutreten. Ich muß mich anders
legitimieren. Ich möchte darauf hinweisen, daß das bedeutendste deutsch-
sprachige Buch zur philosophischen Ästhetik unbestreitbar die dritte >Kri-
tik( Immanuel Kants ist, die >Kritik der Urteilskraft<. Indessen, der rechte
Kunstrichter scheint er doch nicht gewesen zu sein, wenn er dort als ein
lyrisches Beispiel bringt: »Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend
quillt. « Abgesehen davon, daß Kant falsch zitiert, in dem Originalgedicht
von Withof, einem Nachfolger Hallers, heißt es: »wie Ruh aus Güte quillt«,
kann man doch wohl nicht sagen, daß dies der Harfenklang echtester Poesie
ist. Und doch hat Kant dank seiner Begriffskraft wahrhaft öffnend und
befreiend gewirkt und mit diesem Buch, der dritten >Kritik(, der großen
336 Gedicht und Gespräch
1 Zur Nähe von Gedicht und Gedanke vgl. ,Philosophie und Poesie. in Bd. 8 der Ges.
Werke und die übrigen dort gesammelten programmatischen Beiträge zum Thema
,Dichten und Deutene und zum Verhältnis von Philosophie und Literatur.
Gedicht und Gespräch 337
lebt und worin sie ihre ganze Bildungsgeschichte durchläuft. Nur dadurch,
daß Menschen miteinander sprechen, gibt es ja Sprache. Gleichwohl aber
erscheint hier die Sprache nicht wie ein gegebener, greifbarer Werkstoff.
Wenn ein Gespräch sich mit Sinn erfiillt oder auch seinen Sinn verfehlt, so
begegnet in Sprache nichts anderes als Zeitigung von Sinn. Zeitigung von
Sinn zu sein, scheint mir die kürzeste Formulierung des Wunders und
Rätsels Sprache, dieses Knochens, von demJohann Georg Hamann gesagt
hat, daß er sein Leben lang an ihm herumnage. Hamann sieht sich hier wie
einen Hund, der seinen Knochen nicht losläßt, auch wenn kein Fetzen
Fleisch mehr davon loskommt. Wenn dergestalt Sprache immer Zeitigung
von Sinn ist - wie anders ist doch die Sprache des Gesprächs, wie anders die
kristallinische Erscheinungsform von Sprache im Gedicht. Dort geschieht
nicht nur Zeitigung von dauerndem Sinn im verhauchenden Wort, sondern
da ist die sinnliche Gegenwart des Wortes zur Dauer gekommen. Was läßt
Sprache hier zu solcher Gegenwart werden, daß sie selber Bestand und
Dauer gewinnt? Ein wenig herausfordernd möchte ich sagen, die Tragkraft
des lyrischen Gedichts liegt im Ton .• Ton< meine ich im Sinne von r6vot;,
)Spannung<, wie die der gespannten Saite, aus der der Wohlklang tönt. Daß
Verse einen .Ton< haben, das ist die unvergleichliche Auszeichnung des
wirklichen Gedichtes. Dieser Begriffvon )Ton< ist vor allem von Hölderlin
für das, was ein Gedicht zum Gedicht macht, gebraucht worden. Es ist Ton,
der sich durchhält, was das Wunder zustande bringt, daß das Gedicht )steht<,
mit Hölderlin zu reden: in der flüchtigen Weile einiges Haltbare ist. Weil das
Gedicht dies vermag, so Bestand zu sein, ist solches Wort mehr als alles
andere ein Text, das heißt, es ist etwas, an dem nichts geändert werden darf
und kann, weshalb es sich gegen übersetzung in fremde Sprachen so grau-
sam sperrt.
Das Wort .Text< ist im eigentlichen Sinn Ausdruck für ein Gewebe. Da
wird aus lauter einzelnen Fäden ein untrennbares Ganzes. So ist auch in
einem Gedicht aus vielen Worten und Lauten eine solche Einheit des Ganzen
geworden, die sich eben durch die Einheitlichkeit des Tones auszeichnet.
Wir kennen das wohl alle, wie der Nicht-Dichter Verse macht, die gefallen
mögen, aber keinen eigenen Ton haben, und wir kennen es etwa auch alls
dem Reiz und der Problematik des Vorlesens von Gedichten2 . Da gilt es, den
Ton zu treffen, den das Gedicht hat, und ihn richtig zu Gehör zu bringen.
Eigentlich muß dieser Ton schon im Ohr aller sein, damit der Sprecher
gleichsam nur das heraussagt und vorspricht. was alle innerlich mithören.
Denn das ist ein Gedicht: der Refrain der Seele. Refrain ist, worin alle
einstimmen. Der Refrain der Seele ist freilich kein bloßes Einstimmen in
1 Ausführlicher da2U .Stimme und Sprache< in Ges. Werke Bd. 8 und die anderen
Aufsätze dort zur Beziehung von Hören und Lesen zum Wort der Dichtung.
338 Gedicht und Gespräc:h
einen schon erklingenden Text oder seine Melodie. so wie im Singen eines
Liedes der Refrain von allen spontan wiederholt wird. Es ist vielmehr von
Anbeginn an ein Mitgehen mit dem ganzen Gesang, zu dem das Gedieht
einlädt und das sich nur im Mittun ganz erflillt. Es ist wie beim festlichen
Lied. bei dem ein jeder mitsingt und wir alle leine Seele( sind.
Dagegen macht auf der anderen Seite gerade der Tausch von Wort und
Antwort das Gespräch aus. Auch gehört Unwiederholbarkeit der sich steI-
lenden Fragen, der gegebenen Antworten zum Gespräch. Ein Gespräch ist in
dem Moment um sein Leben gebracht, in dem der andere nicht folgt und
statt zu antworten, fragen muß: Kannst du das noch einmal sagen? Schon ist
es mit dem eigentümlichen, fast tänzerisch leichten Geiste vorbei, in dem ein
Gespräch sich von selbst bewegt. wenn ihm ein guter Wind weht. Wohin
weht er? Wir wissen es: auf Einverständnis hin, auf das wir, wie es scheint.
als denkende Wesen angelegt sind. Verständigung mit dem andern - und
Verständigung mit uns selbst, so, wie die nichtdenkenden Lebewesen von
jeher mit sich einig sind. Worüber wir Einverständnis suchen und fmden. ist
aber kein Text, der uns vorgegeben wäre oder nachgereicht würde. Der
Gang eines Gespräches ist vielmehr ein Geschehen. das seinem eigenen
Wesen nach sich nicht dazu eignet. in einem Protokoll registriert zu werden.
Wir kennen das aus mancher Erfahrung. Das ist auch eine literarische
Erfahrung. Nichts ist so schwer, scheint es, als Dialoge zu schreiben oder
Gespräche zu berichten, in denen nichts geschieht als ein Austausch von
Worten und das Vorbringen von Gründen. die die rechte Antwort auf eine
Frage vorbereiten. Außer Plato sind in der philosophischen Literatur fast alle
Philosophen bei dem Versuch gescheitert, solche Gp.spräche zu schreiben.
Daß sie es immer wieder versuchen, versteht man gleichwohl. Es ist offen-
bar die Natur der Bewegung des Geistes, daß wir in Wort und Gegenwort
denken. So konnte Denken von Plato geradezu als das Gespräch der Seele
mit sich selbst bezeichnet werden. Da machen wir uns selber in jedem
Gespräch mit uns selbst Angebote. nehmen sie an oder verwerfen sie, und
ebenso im Gespräch mit dem anderen, bis so etwas wie ein gemeinsamer
Boden gewonnen, eine gemeinsame Sprache gefunden ist und Verständi-
gung (wenn es auch nicht immer Einverständnis sein kann). So etwas zu
schreiben. niederzuschreiben, oder gar, es zu erfinden und zu erdichten, ist
schwer. Es ist fast unvermeidlich, daß da ein roter Argumentationsfaden
sich nach vorne drängt und die Partner des Gesprächs zu bloß einander
abwechselnden Sprechern herabstilisiert. Sonst kann das Erzählen gewiß
alles, wld vollends der Theaterdichter kann ein Gespräch und muß ein
Gespräch gestalten können. Er hat dabei nicht nur den Zauber der Bühne.
auf den er vertrauen kann, so daß sich alles in Handlung und Geschehen
verwandelt. Auch ohne das ist ein solches Gespräch, das ein Geschehen
zwischen Handelnden ist, als Rede und Gegenrede in dieses Geschehen
Gedicht und Gespräch 339
eingebettet. Wo dagegen die Worte flir bloße Argumente stehen und das
Gespräch allein darauf geht, aus Rede und Gegenrede Sinn zu zeitigen, gibt
es eigentlich keinen Text. Wie fern sind wir da dem, was ein Gedicht ist.
,Gedicht, heißt ,Diktat<. Auch sprachlich heißt das Wort nichts anderes. Es
schreibt sozusagen durch seine Fixierbarkeit oder auch seine Wiederholbar-
keit, wenn man es aus dem Gedächtnis herausgreift, den genauen Text vor,
den zu hören und im Ohr zu haben gefordert ist. Das ist offenbar die volle
Umkehrung des Verhältnisses, das sonst zwischen Sprache und Schrift
besteht. Schrift ist im allgemeinen die nachträgliche Fixierung lebendigen
Sprechens. Im Fall des Gedichts ist dagegen alles wirkliche Sprechen dassel-
be, ein mehr oder minder unvollkommener Versuch, den Text so zum
Sprechen zu bringen, wie wir ihn als Lesende im Ohr haben. So stehen sich
Gedicht und Gespräch wie Extreme gegenüber. Das Gedicht gewinnt dann
als ,Literatur<, das Gespräch lebt von der Gunst des Augenblicks. Aber in
bei den geschieht das gleiche: Zeitigung von Sinn.
Bevor wir nun das Gespräch mit den Gedichten, wie sie uns Ernst Meister
hinterlassen hat, versuchen, sollten wir über die Lage der Lyrik in der Welt
von heute ein paar Erwägungen anstellen. Ich setze es wie eine These hin:
Wir leben in der Epoche der semantischen Poesie. Wir leben nicht mehr in
einer Welt, in der eine gemeinsame Sage, Mythos oder Heilsgeschichte oder
gewachsene überlieferung. als allen gemeinsames Gedächtnis uns unseren
Horizont mit Bildern umstellt, die wir im Wort wiedererkennen. Mit der
Gemeinsamkeit der Inhalte, an die man nur anzuspielen brauchte. ist auch
die Sprache der Rhetorik mit ihren bekannten Formeln und Floskeln aus
dem Gedicht gewichen. So bleiben semantische Einheiten, die sich nicht von
selbst einen, vielmehr auseinanderstreben. vielsinnig und gestreut, wie sie
sind. Derrida hat das dissemination. ,Streuung<. genannt. Das gibt dem Vers
eine Spannung eigener Art. Es ist, als ob Verfremdung der Sprache der
zunehmenden Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen Welt
entsprechen müsse [Motorendonner dringt betäubend durch die Fenster:
Ah. die Kirchenglocken der Industriewelt?J. Doch wenn wir uns darüber
verständigen wollen. was ein lyrisches Gedicht ist. dann müssen wir. meine
ich, nach dem Gemeinsamen im Wandel fragen. Das ist, wie immer, das
leitende Vorurteil der Philosophie, das sie in Wahrheit mit allen Menschen
teilt, daß am Ende doch das Denken und die gemeinsame Grundausstauung
des Menschen mit Vernunft und Sprache uns zusammenbindet. Kein Zwei-
fel, daß wir in einer Welt der Fragmente und einer zersplitterten Sprachge-
genwart leben und es dem Dichter aufgegeben ist, dennoch die Einheit einer
Sage - seiner Sage - zu Worte zu bringen. Ein Gedicht ist und bleibt eine
Versammlung von Sinn. auch wenn es nur eine Versammlung von Sinn-
fragmenten ist. Die Frage nach der Einheit des Sinnes bleibt als eine letzte
Sinnfrage gestellt und erfährt im Gedicht ihre Antwort. Wenn wir von
340 Gedicht und Gespräch
dieser ersten Voraussetzung ausgehen, dann sehen wir mit einem Mal einen
inneren Bezug des Gedichts auf das Gespräch. Das Gedicht eint alle auf
seinen Sinn. Auch das Gespräch ist der Versuch, zwischen divergierenden
Partnern in Rede und Gegenrede, Wort und Antwort, zu einem Gemeinsa-
men hinzufinden - selbst gegen den Donner der Motorräder. Auch ein
solcher Vortrag ist ein Versuch, mit sich selbst und mit den Zuhörern ins
Gespräch zu kommen. Nun wird man einwenden: Kann man so überhaupt
noch reden? Ist solche Erwartung von Sinn, über den man sich verständigt,
heute überhaupt noch sinnvoll? Heutige Theoretiker dulden es nicht, daß
man so redet. Die nicht mehr schönen Künste sind nicht mehr schön, und
nach dem Sinn zu fragen heißt, daß man einer Metaphysik der Präsenz
verfällt, über die die Zeit und das Denken hinweggegangen sind.
Nun, sofern ich fortfahre zu reden, bin ich wohl verpflichtet, in dem, was
ich sage, Sinn vorauszusetzen - und dem andem zuzumuten. Aber wieder
wird man einwenden: Hat das Sinn? Fragen wir: Was ist denn Sinn? Sinn ist
eben nichtjbnes verfUgbare Ganze, über das wir immer schon alle einig sind,
eine Welt des Sinnes jenseits der Wirklichkeit, eine platonische Hinterwelt,
die es seit Nietzsehe nicht mehr geben soll. Sinn ist, wie uns die Sprache
lehren kann, Richmngssinn. Man sieht in eine Richtung, so wie der Uhrzei-
ger, der sich in einern bestimmten Sinne dreht. So nehmen wir alle, immer,
wenn uns etwas gesagt wird, die Richtung auf Sinn. Formensolcher Sinnah-
me sind das Gedicht, das wir verstehen und dessen Aussage nie ausgeschöpft
ist, und das Gespräch, in dem wir sind und das als das unendliche Gespräch
der Seele mit sich selbst nie zu Ende ist.
Ich möchte nun diese Überlegungen an ausgewählten Versen von Ernst
Meister auf die Probe stellen. Ich beginne mit einer Strophe aus einem
Gedicht, die lautet:
Spiel ruhig mit Worten.
Das raten sie dir, die
listigen Töchter, sie,
jenseits von Zeugung,
die Vogelgestimmten.
Immer noch
laß ich mich glauben,
es gebe
ein Recht des Gewölbes,
die krumme Wahrheit
des Raums.
Vom Auge gebogen,
Unendlichkeit,
himmlisch,
sie biegt das Eisen,
den Willen, sterblich
ein Gott zu sein.
Schon die ersten Worte dieses Gedichtes: »Immer noch« rufen die ganze
bedrängte Situation des Menschen ins Bewußtsein. der in einer Welt lebt.
die nur den geraden Weg auf die geplanten Ziele hin für den rechten Gang
der Dinge zu halten wähnt. Das strömt gleichsam aus dem ganzen Fluß der
Informationen auf uns ein. Im täglichen Gebrauch unserer Sprache schlägt
es sich nieder. so gut wie in der maschinellen Form, in der Sprache heute
auf uns eindringt. Ein jeder ist der Versuchung ausgesetzt, die von da
ausgeht, in diesen Glauben an die eigene Geradlinigkeit des Willens zu
verfallen. Dies ist nicht nur die Versuchung des Dichters, so zu denken.
Das Ich. das redet. will dagegen festhalten, allen Einwänden zum Trotz,
daß es doch so etwas wie eine ))krumme Wahrheit« des Raumes gibt. Das
Gedicht nennt das auch das »Recht des Gewölbes«. und man kann kaum
anders als an die Gewölbe der Gotteshäuser mitdenken, die trotz allem
recht behalten sollen. Die zweite Strophe führt das aus. I) Vom Auge gebo-
gen ... ce: das Auge, das mit dem Gewölbe sozusagen mitgeht und sich mit
ihm biegt. rührt an die Unendlichkeit der Rundung des Kreises. Das ist
keine von einem Anfang zu festem Ende führende Bewegung. Der Kreis
verbildlicht seit alters die anfangs- und endlose Bewegung, wie sie die
kreisenden Gestirne am Himmel vollführen. Von dieser Erfahrung der sich
rundenden Unendlichkeit heißt es: »Sie biegt das Eisen, den Willencc. Die
auf sich bestehende Geradlinigkeit des Willens, die so hart wie Eisen ist,
muß sic.h doch biegen lassen. Es ist die Erinnerung an die Vermeintlichkeit
der eigenen Göttlichkeit, die dem Sterblichen am Kreislauf der ))krummen
Wahrheit« des Raumes immer wieder kommt.
Wir kommen langsam ins Gespräch mit dem Gedicht. Das verlangt Zeit.
Denn freilich ist es wahr, daß man ein Gedicht nicht verstehen kann, wenn
man es nur einmal gehört oder gelesen hat. Wer so etwas glaubt, hat
überhaupt noch nicht erfahren, was ein Gedicht ist. Es lädt einen zu einem
langen Hören und zu einer Wechselrede ein, in der sich Verstehen voll-
zieht. Es ist die Kompetenz des Lesers. aus der ich das sage. Das Gedicht
342 Gedicht und Gespräch
muß mit dem Leser ein Gespräch führen. Aber nicht nur ist das Gedicht mit
dem Leser im Gespräch, das Gedicht ist selbst ein Gespräch, ein Selbstge-
spräch.
Das möchte ich wiederum anhand eines Gedichtes von Ernst Meister
bewußt machen. Die Gedichte, aus denen ich zitiere. sind fast alle aus dem
letzten Jahrzehnt Ernst Meisters. In ihnen herrscht das Motiv des randlosen
Raumes, der Unendlichkeit des Raumes, in dem der Lebenden und der
Toten Stätte wie verloren ist. Es ist ein Leitmotiv der dichterischen Schöp-
fungen dieses Dichters. Hören wir:
Aufgebrochen mit der Haut
und dem Haar aus
dem Wald und der Lust,
wessen sorgt es, das Tier
mit dem Geist als dem Zwiegehöm?
Dieses ist wahr: es
sorgt seiner Wege,
Sprache sprechend gewiß,
wenn es stößt
an die Ecken
der waltenden Luft, seines
Todes Vorsprung.
An diesem Gedicht ist deutlich - und ich entschuldige mich dafür -, daß
philosophischer Unterricht auch an einem Dichter Spuren hinterläßt. Man
spürt, wie in diesen Versen aus der gemeinsamen Erfahrung des philo-
sophischen Katheders und seines Zuhörers gesprochen wird. Da ist der
Mensch als »das Tier mit dem Geist als dem Zwiegehörn« angesprochen,
und wie es gleichsam aus der Welt des tierischen Lebens aufgebrochen ist,
und zwar ganz und gar mit Haut und Haar. Wie hier eine Redensart zu neuer
sinnlicher Kraft erwacht! Da ist er, der Mensch. Das Haarkleid bedeckt ihn
nicht mehr und die Haut liegt bloß. Den Wald der sicheren Zuflucht und die
Lust, die ihn fraglos beherrscht, hat er verlassen, um in Sorge zu leben. Was
fUr ein Tausch unu wofUr? Es ist die Frage des Gedichtes. eine nahezu
verzweifelte Frage. Die Antwort ist nicht gerade zuversichtlich. Die zweite
Strophe sagt es, was diese Sorge und die sorgende Lage des Menschen ist,
herausgerückt aus allen Naturbahnen von Wald und Lust. Diese Ausgesetzt-
heit im Offenen hat die Struktur des Fragens, das immer auch die Zwiefalt
des Zweifels in sich hat. Daher das »Zwiegehöm«, das das Tier mit dem
Geist trägt. Es vermag Dinge als mögliche vor uns hinzustellen, in einen
offenen Raum der Entscheidung, für und wider, für richtig und falsch, für
Brauch und Mißbrauch. Wir sind ständig dieser Lage ausgesetzt, die Sorgen
heißt. Daß wir so sind, indem wir sprechen, verstehen wir sofort. Denn das
ist Sprache, dieses Vor-uns-Stellen des Möglichen, dies Vorstellen des
Gedicht und Gespräch 343
Kommenden, auf das hin wir wollend und wählend unterwegs sind. Darin
liegt unsere Auszeichnung im Sein. Aber wunderbar dieses »gewiß«. wie es
ein Zugeständnis ist. das zurückgenommen werden muß. Denn in allem
Voraus blick in den offenen Raum seiner Zukunft. der wie »waltende« Luft
ringsum frei und offen liegt, stößt er ständig an die »Ecken«. mit; denen der
Tod in diesen Raum hineinsteht und das ist, woran er sich stößt. Nicht nur
ein Vorsprung, der den freien Raum beengt, ist der Tod fur ihn, vielmehr ist
er selbst, wie Heidegger sagte, das Vorlaufen zum Tode. Das sind nicht zwei
Dinge, sondern eines, seines Wegs sorgen, den offenen Raum mit Vorausse-
hen, Vorausplanen, »Sprache sprechend« besetzen, und sich ständig an den
Ecken des Endes, am Tode, stoßen. Es sind die beiden Aspekte menschlicher
Endlichkeit.
Bevor ich zum Schluß noch ein Gedicht zitiere, möchte ich ein paar
Bemerkungen vorausschicken. Bei all seiner Endgültigkeit steht ein Gedicht
nicht anders als auch sonst ein denkendes Wort im Horizont des Ungesag-
ten. Was es auszeichnet, ist, daß es sogar immer im Horizont des Unsagba-
ren steht. Immer ist es ja das Ganze, was man verstehen möchte, so wie der
Ton eines Gedichtes es uns sagt und wir als Denkende es niemals ganz zu
sagen vermögen. So ist ein Gedicht stets ein Gespräch, weil es diesen Dialog,
dieses Zwiegespräch mit sich selbst, ständig führt. Da mag man ein Wort
nehmen - ich möchte nicht sagen: )es wählen(. obwohl ich durchaus keine
romantischen Vorstellungen über das Machen eines Gedichtes stützen will.
Vielmehr glaube ich, daß die Worte )einem kommen(. Sie sind früher da, als
wir sie in bewußter Besinnung vor uns stellen, auch wenn wir ~agen: )das
gewählte Wort(. Im Gedicht haben wir keine Wahl. da nehmen wir das dem
Gedicht kommende und gekommene Wort. Sosehr das gekommene Wort
ein Bruchteil und Fragment dessen ist, was das Gedicht ist. stellt es an uns
bereits die strenge Forderung, im Fortgang das Gleichgewicht des Ganzen
wiederherzustellen. Paul Valery hat einmal gesagt, der erste Vers eines
Gedichtes sei das Schwierige, er entscheide über alles. In der Tat scheint ein
Gedicht wie ein Gespräch. Es entfaltet sich, es bricht gleichsam das ständige.
schweigende Hören und setzt sich dem aus, daß ein anderer ins Wort fällt.
daß ein anderes Wort flillt, wie eine Antwort. Das kennen wir im Denken als
den Einfall, auf dem im Grunde die ganze Spannung einer Aussage beruht.
die sich darauf aufbaut.
Das Gedicht fäUt auch nicht vom Himmel, als ein in sich Rundes. weder
dem Dichter noch dem Leser in den Schoß. Es ist wie ein Gespräch. und
unser Verhältnis zum Gedicht muß wie ein Gespräch Sinn zeitigen, indem es
Teilnahme an dem Gespräch leistet. Den heutigen Dichtern, die sich so oft in
das Autobiographische zurückziehen, möge es gesagt sein. daß im dichteri-
schen Wort Autobiographie überhaupt nur Sinn hat, wenn wir in ihr alle
mitgezählt sind, miterzählt werden. Nur dann können wir mitgehen.
344 Gedicht und Gespräch
Das ist der große Vorzug des Gesprächs, daß es dieses Mitgehen aus-
drücklich fordert und sich desselben versichert. Darum hat Plato in einer
manchmal fast ermüdenden Weise seinen Sokrates durch die Antworten
dessen, der da >Ja{ sagt oder >Nein{ sagt oder >Vielleicht{, immer wieder
unterbrechen lassen, wenn Sokrates nicht gerade wie ein Inspirierter seine
Mythen erzählt, die über alles Wißbare hinauslenken. Solange Sokrates dem
Logos des Gedankens folgt, bietet im Gespräch mit dem anderen zu sein,
durch das bloße Mitgehen des anderen, einen unvergleichlichen Anhalt für
einen jeden, sich nicht zu versteigen und zu verlieren. Der andere ist selber,
im Mitgehen, wie der andere unser selbst. Mitgehen zu gewinnen, das ist es,
was der Dichter ebenso sucht wie jeder sonst Sprechende. Er sucht es gewiß
vor allem als ein Mitgehen mit sich selber, Hinhören auf sich selber, auf das
Wort, das kommen muß. Wie man nur mit dem ein Gespräch führen kann,
der nicht alles schon weiß, sondern hinhört, was dem anderen kommt und
was von dem anderen kommt, so ist es auch bei dem Gedicht und dem
Gespräch mit dem Gedicht. Auch der Interpret muß in solchem Gespräch
sein. Es ist eine verrückte Theorie, daß das mitgehende Verstehen, auf das
alle Interpretation zielt, so etwas sein möchte wie eine Konstruktion des
Sinnes, der angeblich im Gedichte liegt. Wenn das möglich wäre, brauchten
wir das Gedicht nicht mehr. Das Gedicht weist uns vielmehr wie ein sich
fortentwickelndes Gespräch in die Richtung auf einen nie ganz einzuholen-
den Sinn hinein. Da ist keine Rekonstruktion eines verfügbaren Sinnes, gar
Reduktion auf das, was der Dichter >im Sinne{ gehabt hätte. Es gilt, in dem
inneren Gespräch mit der Sprache selber mitzugehen - so wie man es eben
tut, wenn man im Gespräch ist. Man sucht Winke zu empfangen, wohin
man zu sehen hat. Daher gibt es kein einziges anderes Kriterium fUr die
richtige Interpretation eines Gedichtes im ganzen, als daß die Interpretation
absolut zu verschwinden weiß, wenn man das Gedicht erneut vollzieht. Eine
Interpretation, die einem immer noch als eine solche gegenwärtig ist, wenn
man das Gedicht neu liest" oder spricht, bleibt äußerlich und fremd. Stets war
etwas überbelichtet, etwas überhellt, und es gelang nicht, das zurückzuneh-
men, was vom Interpreten dazukam. So wird jede Interpretation eines
Gedichtes daran gemessen, ob sie das Gedicht selbst wieder sprechen zu
lassen weiß. Das Gedicht ist der Refrain der Seele, die zwischen Ich und Du
immer dieselbe Seele ist.
Zum Abschluß möchte ich eines der Gedichte Ernst Meisters zitieren, die
mich am meisten bewegen. Es ist ein Gedicht, das eigentlich ganz pro-
blemlos scheint - und vielleicht gerade deshalb fragt man sich bei ihm,
warum es eigentlich ein Gedicht ist, zu dem man immer zurückkehrt und das
man eigentlich erst >hat{, wie man überhaupt Gedichte hat: Erst wenn man es
auswendig kann, läßt man sich von den Worten Winke geben, immer neue,
die in die Richtung des Sinnes weisen.
Gedieh! und Gespräch 345
Es sind einfache Worte, die fast so etwas wie eine kosmische Vision vor uns
aufleuchten lassen - Pascal hat sie beschworen: das neue Universum mit dem
Sonnen-Zentrum und der unendlichen Kleinheit des Irdischen. Das ist ge-
wiß nicht das neue Universum von heute. Astronauten und Astrophysiker
und die allgemeine Bildung. die ihnen folgt, sehen in unserem Sonnensy-
stem wieder nur ein rührendes kleines Wink elchen im Ganzen. Etwas von
Rührung zittert auch in dem Wort, mit dem das Gedicht einsetzt: I) Die alte
Sonne«. Wer wird wohl die Sonne die »alte Sonne« nennen? Vielleicht
jemand, der an diese unendlichen Weiten der astrischen Systeme denkt, die
unser heutiges Bild des Universums füllen. Doch liegt auch so etwas wie
Vertrautheit in dem Wort »die alte Sonne«, etwas von Zärtlichkeit - und fast
von Trauer.
Schon in diesem ersten Worte klingt etwas von der Flüchtigkeit unseres
eigenen Daseins an. Der uns vertraute Sonnenlauf vom Morgen bis zum
Abend. über den Sommer und Winter hin. ist gar nicht. Was ist, ist der
Umschwung, in dem wir uns befinden. Es ist ein »dämmriger Um-
schwung«. So wird er genannt im Vergleich zu der dauernd strömenden
Lichtquelle und Wärmequelle, die die Sonne ist. In den kosmischen Maßen
jenes kopernikanischen Weltbildes schon liegt die Erfahrung der menschli-
chen Begrenztheit: Es ist ein riesiger Unterschied der Dimensionen zwi-
schen dem System der Sonne, in dem wir leben, und diesem Trabanten, der
der Sonne folgt, auf dem wir leben, und all unsere Furcht lind Freude leben.
Hier gewinnt das Beiwort zu "Freude«, "schwere« Freude zu leben, ein
ungeheueres Gewicht. Natürlicherweise erwartet man bei Freude das Leich-
346 Gedicht und Gespräch
te und das Erleichternde, das im Erfahren von Freude liegt. Die kosmischen
Maße, in denen hier das Menschsein gesehen ist, lassen aber die Freude nicht
nur ein Leichtes sein, sondern ebenso auch ein Schweres. Der Fortgang
macht das sichtbar: "Liebe - Verlaß und Verlassen. (e Hier kann man die
semantische Produktivität eines solchen Gedichtes besonders gut erfassen.
Wie sich hier zwei Bedeutungen wie "Verlaß« und» Verlassen« ineinander-
fügen und zugleich auseinandergehen - im Rhythmus und Gesang dieses
Gedichtes hat das eine umfassende Bedeutung. Da ist all das darin, was uns
Menschen, in unserer Winzigkeit, in der Ausgesetztheit in die Leere des
unendlichen Raumes, dennoch eingeräumt ist. Da ist Verlaß, der in der
Erfahrung der Liebe ist, und da ist Verlassen, das Erfahrung der Liebe ist,
und das Dauern von Liebe über Verlaß und Verlassen hinaus. Es klingt fast
wie ein Gegengewicht zu einem fehlenden Gleichgewicht, daß auf diesem
winzigen Beiläufer des kreisenden Universums solche Erfahrungsmöglich-
keiten von Einzigkeit bestehen. Sie sind das Unsrige, "eh alles vorbei«. -
Geht alles vorbei? Der Vorsprung des Todes, das Hineinstehen des Todes in
alle vermeintliche Dauer und Gegenwart - wieviel wiegt diese Gewißheit
gegenüber Verlaß und Verlassen? Auf diese Frage ist die Antwort dieses
Gedicht. Vielleicht hat die kurze Vorstellung solcher Gedichte ein konkretes
Beispiel dafür gegeben, wie zwischen Gedicht und Gespräch vieles unseres
Menschseins ausgespart ist, und man ahnt, daß das unendliche Gespräch des
Denkens in den unendlichen Gesprächen, die es mit Gedichten fuhrt, immer
wieder seinen Partner findet.
31. Ernst Meister, Gedenken V
(1977)
Grün nun
des ersten Frühlings:
ein Blatt
scheidet die Lippen ...
Wer ist tot, wer
lebt von uns zweien?
Das letzte Gedicht einer Folge, die dem Gedenken an jemanden gewidmet
wird, der dahingegangen ist. Ein Abschluß - vielleicht eine Bilanz? Ein Ende
und Anfang? Wie jedes Ende ein Anfang?
Gewiß auch ein Anfang. Denn das erste Wort dieses Gedichts ist DGrün",
das Grün des ersten Frühlings. Doch zeigt sich, daß dieses Gedicht etwas
ganz anderes sagen will. Das Grün spricht nicht wie ein erstes Versprechen.
Es ist mehr wie eine Frage: Was nun? Wie soll das »Nuncc der Zukunft
bestanden werden, die als das erste Entfalten eines Blattes sich öffnet? Es
»scheidet die Lippen«. Das erste Grün ist wie ein Öffnen der Lippen für ein
Wort, das mir etwas sagen will. Aber nun ist die ganze Antwort des
Gedichtes: ,Nein< - es gibt nicht einfach nur den überlebenden. »Wer ist tot,
wer lebt von uns zweien?c( Die einfältige Eindeutigkeit des Am-Leben-Seins
hält fiir den Zurückgebliebenen vor der Frage des neuen Hoffnungsgriins
nicht stand. Gewiß, man ist am Leben. Aber woran ist der, der am Leben ist?
Ist er nicht einfach Idranc, ohne zu wollen, ohne ja zu sagen?
Ernst Meister. Gedenken V
So scheint es zu sein. Die zweite Strophe spricht es aus: »Einer ist da, einer
kommt.« Es heißt nicht: Einer ging, einer kommt. Es ist eine Aussage, die
uns alle umfaßt, uns allen gemäß ist. Beides, Dasein und Kommen, meint
das »Da«. Aber was ist das Da? Ist es wirklich das, wovon der, der gegangen
ist, ganz und gar abgeschieden ist, wie durch das erste Wort des Frühlings,
das den Dahingegangenen nicht mehr erreicht?
Was so die Lippen scheidet, das Blatt zwischen uns, ist jetzt anders
gesehen. Es ist zwischen uns da. Mochte das »einer - einer« einen jeden von
uns, uns alle, uns Menschen überhaupt meinen: ))das Blatt zwischen uns«
meint mich und dich. Es ist nicht länger nur das die Lippen scheidende, das
sich entfaltende Blatt, das nur uns meint und nicht dich. ·Es ist da als Duft,
und der Duft ist nicht des Blattes allein. Er ist in das »Da« verteilt, verbin-
dend und nicht scheidend. Dieser Duft ist so sehr da, daß er alles verbindet
und einhüllt, selbst das, das nicht mehr da ist. Eine intime Affinität verbindet
Duft und Spur, Duft und Gedächtnis. Duft, das Flüchtigste, das uns entge-
genweht und so rasch verweht ist wie wir selber, ist in das Da verteilt.
So kehrt die letzte Strophe die Frage zur Antwort um. Das Grün ist nicht
länger das Dieshier des neu sich entfaltenden Blattes, das das Schwarzgrau
der winterlichen Äste belebt, und ist nicht das Grün der Hoffnung, das
sachte das Schwarz der Trauer überwächst. Der Beginn der Strophe mit dem
gleichen Wort »Grün«, mit dem die erste anhob, ist wie der Anfang einer
Berichtigung. Es ist nicht länger das Grün, das über das Schwarz siegt. Grün
und Schwarz sind, wie tot oder lebendig, Hoffuung oder Trauer, Sein und
Nichts, ineinandergespiegelt und ununterscheidbar.
Das »Schwarze / der langwährenden Zeit« ist die Zukunft, in ·der auf
nichts gehofft wird, in der sich nichts als Grün der Hoffnung abhebt, ein
dichtes, unartikuliertes Schwarz. Sie ist selber grün, aber nicht grün, wie
alles Grüne ist. Denn ))schwarz ist das Grüne«. Der Rhythmus dieser speku-
lativen Identität von Grün und Schwarz läßt die Antithese ganz und gar
hinter sich. »Da« ist nicht länger das Da dessen, der da ist, dessen, der sich
weiß und im Da hält. Keiner weiß sich. Auch die singende Zunge, die von
der »verwesenden Zunge«, der zum Lob des Da nicht mehr tahigen Zunge,
ganz geschieden scheint, weiß nicht, weiß keine Antwort auf sein Dasein,
auf lIdes Lebens Warum«.
Warum das ein gutes Gedicht ist? Oh, vielleicht, weil es soviel wegläßt
und doch eindeutig ist. Oder vielleicht, weil es das fast erschreckend Ab-
strakte des letzten Wortes, das »Warum«, so einfach hinsagen darf und· so,
daß man versteht: Es heißt »Warum« und nicht ))Wozu«. Man muß all die
vielen Warumfragen mithören, die die Kinder fragen. Auch auf die Frage
nach des Lebens Warum, diese Frage aller Fragen, kann keine Antwort
genügen.
32. Denken im Gedicht
(1990)
Der Kopj
Der Kopf, zu sehr
im Dunkeln über sich verwundert,
beneidet viel:
den Fels ... die Pinie absolut ...
o Schlummer dieses Wachen,
Wachsenden und sich Vermindernden!
Wer macht den Hauch
von einer Sichel
über Meer und Eiland
erst vorhanden?
Gesetzt.
ich fragte so
und gäbe Antwort:
Ich!
Des Abgrunds wär ich
immer nicht
enthoben
meines Wunderns.
{Ernst Meister, Pythiusa (1958])
Wenn man solche Verse liest, möchte man sich manchmal fragen, ob das ein
Gedicht ist oder eher ein Gedankenspiel. Hier kommt das Wort »absolut"
vor. Es kann doch nichts anderes als ein Gedankenwerk sein, was dieses
geläufige Wort plötzlich zu einem alleinstehenden Wort macht. Es ist wie ein
Begriff zu lesen und bleibt damit die Spur eines Gedankens. Was meint es?
Offenbar hängt es damit zusammen, daß der Kopf Fels und Pinie beneidet.
Wenn es von diesen beiden »absolut« heißt, meint das offenbar, sie sind
fraglos und bedingungslos da. Der Fels ist da und die Pinie ist schlummernd
wach, wachsend und sich vermindernd - aber auch das meint »seiend«. Der
Kopf dagegen ist »verwundert«. Er kennt Fragloses nicht. So muß der Kopf
sich hier über sich verwundern und darüber, daß es fragloses Sein gibt, das er
350 Denken im Gedicht
nur beneiden kann. Der Kopf ist sehr im »Dunkeln« und sehr über sich
verwundert. Das sagt nicht, daß ihn etwa die Schönheit der Natur überwäl-
tigt. Im Grunde ist hier keine Landschaft evoziert, auch nicht etwa eine
abendliche Stunde auf dieser südlichen Insel, die vom Rauschen der Wogen
umtönt ist. Was für ein Kopfist das dann? Einesjeden Kopfist es, so sehr im
Dunkeln über sich zu sein und all das zu beneiden, was einfach ist, was es ist,
ohne zu fragen.
Der Kopf fragt aber weiter, nicht nur wegen des beneidenswerten Seins,
des schlummernden Wachseins von Fels oder Pinie. Er wundert sich weiter-
hin über sich, daß ihm, diesem zweifelnd Fragenden, schier keine Grenze
gesetzt scheint. Da in der ferne ist die Mondsichel über Meer und Eiland zu
sehen. Gewiß ist es nicht dunkle Nacht. Es heißt ja von der Mondsichel, sie
sei ein »Hauch«, ist also fast nicht sichtbar, ein silberweißer Strich, ein
Beinahe-Nichts. Mehr nur ein Phantom, kaum )Sein(. Es ist ein Beinahe-
Nichts, das nicht wie Fels oder Pinie wachend oder schlummernd da ist.
Nein, es scheint erst vorhanden, weil ich bin. Das ist doch unglaublich. Es ist
nicht von ungefähr, daß man sich dessen bei diesem Fernstenblick bewußt
wird. Der erste Anblick der Mondsichel am noch hellen Himmel steht in
manchem Völkerglauben für einen Wunsch gut. Daß ich es sehe, soll etwas
ausmachen. Ob man an den Volksglauben denkt oder nicht, auf alle Fälle ist
man gegenüber diesem Hauch des Beinahe-Nichts der Überlegene. Daß ich
es sehe, soll es machen, daß dieser Hauch von Sein vorhanden ist?
Das scheint ein allzu verwegener Gedanke. Es ist auch gar kein Gedanke
über etwas Wirkliches. Es heißt ja nur ,>Gesetzt«. Es ist nur ein Gedanken-
spiel. Und doch, auch dann tut sich der Abgrund auf, der uns von Fels und
Pinie trennt. Gesetzt, daß ich so fragen würde. Aber wer IIGesetzt« sagt, ist
schon Fragender. Der Abgrund meines Wunderns bliebe. Ich wäre dessen
»nicht enthoben«, nicht darüber hinausgehoben. Es bliebe das Dunkel, das
zu sehr Verwundertsein. Es bleibt der Abgrund des Nichtseins. Der Fragen-
de reißt ihn auf. Er kann ihn nicht ergründen und kann sich von ihm nicht
losreißen. Das ist die lockende Tiefe des IIAbgrunds«(. Das heißt aber zu-
gleich, sich selber kann er nicht lIabsolut« setzen, und daher sind Fels und
Pinie, in all ihrem Daher und Dahin von Wachsen und Sichmindern, zu
beneiden, weil sie sind.
So mag man es verzeichnen, daß alles dem Dichter der Todeslyrik immer
leise zu ihm spricht. IIErbaut sich nicht in mir ein Kloster?« ... »Wenn die
letzte Schindel gedeckt ist ... « Das Gedicht gehört einem Zyklus, der
,Pythiusa< an. Es ist ein alter hermeneutischer Grundsatz, daß man nur aus
dem Ganzen die Teile verstehen kann. liEs gehen vorüber die Nächte der
Sichel.« Ich könnte fast jedes Gedicht aus diesem Zyklus zitieren. Darunter
ist ein Gedicht, mit dem Tite111Höhle«, das ich ganz zitieren möchte:
Denken im Gedicht 351
Dichter, was er schrieb? »Hin und wieder I den Abgrund versteh ich.« -
Weiß es der Leser? Wer weiß, was er versteht? Verse können auf vielerlei
Weise verstanden werden. Jedoch, es bleiben die gleichen Verse. Es ist ein
guter hermeneutischer Grundsatz, wo man Hilfe sucht, in einem größeren
Ganzen, im Werk des Dichters zu blättern. Das folgende Gedicht aus späten
Jahren (I Wandloser Raum() mag man als Antwort lesen. Abermals ist es ein
Denken im Gedicht - oder ist es das Gedicht, in dem der Augenblick ist?
Der Kafka-Zyklus des Malers Willibald Kramm gehört schon seit langem zu
den Dingen, die mich beschäftigt haben. Das gleiche gilt erst recht für das
dichterische Werk von Kafka, der ja erst langsam im deutschen Sprachraum
als ein wirklicher Dichter von Weltrang durch· die Untergrundlektüre des
Dritten Reichs in das literarische Bewußtsein der Deutschen eindrang. Für
mich selbst hatte die Bekanntschaft bereits am Anfang der 30er Jahre einge-
setzt. So kann ich kaum anders, als von den Zeitdifferenzen auszugehen, die
zwischen Kafkas langsam bekanntwerdendem dichterischen Werk und dem
Werk des Malers bestehen, und über unser heutiges Verhältnis zu beiden
Abständen nachzudenken. Es ist ja bekannt, daß Kafkas Werk nur in einem
sehr einzigartigen Sinne ein Werk ist. In Wahrheit ist es eine Hinterlassen-
schaft, deren Vernichtung durch das Testament des Dichters selber angeord-
net worden war. Des Dichters nächster Freund, Max Brod, dem wir die
Herausgabe dieses Werkes verdanken, hat sich erst in langen Gewissens-
kämpfen dazu entschließen können, den letzten Willen seines engsten Freun-
des nicht auszufti.hren. Wir wissen, wie Wünsche über den Tod hinaus in
eine unauflösliche Zweideutigkeit übergehen. So hat auch der Dichter Max
Brod sicherlich mit vollem Recht den langen Gewissenskampf, den er
gekämpft haben mag, bestanden. Er sieht sich dadurch gerechtfertigt, daß er
mit der ihm übertragenen Vollmacht nach seinen Kräften aus den Fragmen-
ten dieser literarischen Hinterlassenschaft einige Werke von weltliterari-
schem Rang der Weltöffentlichkeit dargebracht hat.
Ich bin in der Kafka-Forschung durchaus kein Fachmann und nehme den
Text, wie er in Max Brods Redaktion vorliegt. Wir lesen ja bis heute den
Roman IDer Prozeß( in einer Ausgabe, welche keine wirkliche literarische
Dokumentation ist: Wir lesen die von Max Brod redigierte Fassung, die
selbstverständlich auch für den Maler Willibald Kramm die einzige Grundla-
ge war. Wer Willibald Kramm gekannt hat, der weiß überdies, was für ein
im Grunde genommen einfacher, in literarischen Dingen durchaus nichc
vielseitig versierter Mann er war. Er h~t diesen Roman mit Maleraugen
gelesen. Was für ein Gegensatz zwis~hen diesem urwüchsigen Sonderling,
der Willibald Kramm war, und auf der anderen Seite dem in Prag aufge-
354 Kafka und Kramm
hier, was das originale Format fiir ein Werk der bildenden Kunst bedeutet,
eine Lehre, die im Zeitalter der Reproduktion gar nicht genug eingeschärft
werden kanh.
Wer je Kafkas Roman IDer Prozeß< gelesen hat, der hat das Grundgesche-
hen, das er beschreibt, in gewissem Sinne ständig vor Augen. Es ist ein
unheimliches Buch, weil es darin auf die natürlichste Weise so unnatürlich
zugeht wie vielleicht nirgends in einem anderen erzählenden Werk der
Weltliteratur. Man hat das Gefiihl, daß da etwas ganz Gewöhnliches ge-
schleht, und selbst Ungewöhnliches und Unerwartetes läuft immer wieder
auf die gewöhnlichsten Folgen hlnaus. Die ganze Welt scheint so verläßlich
wie immer - bis es am Schluß der Folge dieser Fragmente auf das Ende
zugeht, noch immer leise, noch immer wie gewöhnlich, bis wir zum Schluß
vor einer ausweglosen Schrecklichkeit stehen. Insbesondere die große Szene
im Dom läßt uns unüberhörbar alle die letzten Fragen an unser Ohr dringen,
die uns je erreicht haben. Der Roman bereitet dem Leser eine Erfahrung von
wahrhaft quälerischer und selbstquälerischer Art. Kein Wort, glaube ich,
kommt so häufig darin vor und leitet einen neuen Satz und eine neue
Wendung des Gedankens ein, wie das Wort 'Allerdings<. Immer wenn etwas
klar gesagt schien und für einen Augenblick etwas Festes und Unumstößli-
ches hingesetzt schien, und wenn man daraufhin so etwas wie Führung für
die Handlung, für das Geschehen und die Gedanken des geschilderten lei-
denden Helden gewonnen zu haben glaubt, wendet sich der Gedanke in ein
neues ,Allerdings< um. Dies ,Allerdings< leitet dann meist nicht irgendein
Argument ein, das ein neues Schlaglicht von großer Helligkeit wirft, das
alles endgültig erklärt. Es ist vielmehr wiederum etwas von erstickender
Trivialität, die alle Klarheit widerruft und aufs neue aufschiebt.
Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mich daran zu erinnern, als bei einer
Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Kommission
gewählt werden mußte und der Leiter der Veranstaltung sagte, es sei aller-
dings eine vorläufige Kommission. Kafkas Echo dröhnte mir in den Ohx:en.
In der Tat, das ist Kafka. Beim Lesen von Kafka befinden wir uns ständig in
einer unheimlichen Weise zwischen Grauen und Anwandlung zum Lachen.
Beides gilt nicht nur dem Josef K. selbst mit seinen Erlebnissen, sondern
ebenso für den Leser, der diese Geschichte, die Kafka erzählt, liest. Es ist
Humor darin, aber ein so schwarzer Humor, daß man manchmal geradezu
wie vom Ersticken beengt wird. Es ist eine miese, stickige, kleinbürgerliche
und verkommene Umwelt, in der dieser Josef K. herumirrt. Es hat etwas
Verwirrendes, wie die Suche nach dem hohen Gericht in den Hintertreppen
der Gewöhnlichkeit und der kleinlichsten Alltäglichkeit von dem besorgten
JosefK. unternommen wird. Nicht nur, daß man sich bei diesem gewissen-
haften, pünktlichen und durchschnittlichen Bankbeamten, der JosefK. ist,
überhaupt nicht vorstellen kann, daß ihn ein Gericht belangen und er einer
Kafka und·Kramm 357
Anklage unterworfen werden könnte. Nichts spricht dafl.ir, so etwas ernst
zu nehmen. Und so ist es nun auch mit der Leidensgeschichte dieses JosefK.
selber. Sie kann einen nicht unbedingt mit Sympathie fl.ir diesen Helden
erfüllen. Es scheint nicht die Absicht des Dichters gewesen zu sein, hier
einen Schuldlosen zu schildern, der in eine unverdiente und schreckliche
Verstrickung gerät. JosefK. ist durchaus kein ungewöhnlicher Mensch. Er
ist ein harmloser Kleinbürger mit einem bürgerlich guten Gewissen, und
doch irgendwo unsicher, und wird immer tiefer in seine Unsicherheit ver-
strickt. Gewiß sieht er sich als einen Schuldlosen an. Mit der Gewissenhaf-
tigkeit und dem leicht anmaßenden Selbstgefühl eines Beamten benimmt er
sich angesichts dieses Gerichtsverfahrens mit einer wenig sympathischen
kritischen überheblichkeit gegen das Gericht und alle näheren Umstände.
Aber auf der anderen Seite ist er von der Unantastbarkeit und der Hoheit des
Gerichtes zutiefst überzeugt. So ist er zwar ein Schuldloser, aber einer, der
sich von seiner eigenen Schuldlosigkeit immer wieder - und nicht immer auf
überzeugende Weise-zu überzeugen sucht und sich darein so vertieft, daß er
am Ende an seine Schuld zu glauben beginnt.
Das ist doch wohl die Geschichte, die uns da vonJosefK. erzählt wird. Sie
wird von jemandem mit einem bloßen Anfangsbuchstaben berichtet, wie
das in den Zeitungen bei Gerichtsverhandlungen üblich ist. Vielleicht ist sein
Vorname noch eher sprechend: Josef - einer, der sich mit Recht schuldig-
unschuldig fühlt. Das K, der große Anfangsbuchstabe - wer ist das? Oder
besser: Wer ist nicht K.? Wer ist nicht in der gleichen menschlichen U rsitua-
tion, daß einem, auf allen Wegen guten Willens und allen Wegen versuchten
RichtighandeIns, ein sicheres Bewußtsein der eigenen Schuldlosigkeit nicht
gewährt ist? Als Kafka dies alles schrieb, es war wohl zwischen 1914 und
1920, spricht aus ihm die Generation, die in der Rezeption Kierkegaards den
Verfasser von )Sein und Zeit( die Worte vom Schuldigsein des Daseins als
solchem schreiben ließ. Darin ist nichts mehr von dem bürgerlichen Klas-
senklang. in dem Schopenhauer die Schuld der Einzelheit, die Schuld des
Daseins. die Schuld der Individualität überhaupt lehrte. Hier winkt kein
versöhnliches Eingehen in das Nirwana und keine Erlösung aus dem Rad der
Geburten im Stile des spätbürgerlichen Pessimismus. in dem man sich mit
der Schuld des Daseins abfand. Zwischen der Absurdität einer unbekannten
Beschuldigung und Schuldhaftigkeit und der Ahnung ihrer schicksalhaften
Unausweichlichkeit schwankt der gequälte Leser hin und her. Ein Rätsel
fast. wie diese Folge von Bruchstücken. die noch heute in ihrer geplanten
Abfolge strittig sind. den Leser mit einer verstörten Spannung in ihren Bann
zieht. Noch die Ausgabe von Max Brod, die wir lesen, läßt es offen. ob nicht
überhaupt nach der Verhaftung bereits die zweite Szene die Prügelszene
war, eine höchst seltsame. unvorbereitete und in sich geschlossene Ge-
schichte. die überhaupt nicht in den Fortgang der Handlung verflochten
358 Kafka und Kramm
scheint. Trägt sie damit am Ende einen besonderen Akzent? Und das gilt
von fast allen diesen Kapiteln. Man kann zweifeln, wieweit eigentlich eine
Dechiffrierung des Ganges der Handlung möglich ist. So hat es eine ganze
Kafka-Theologie gegeben, wenn ich mich so ausdrücken darf. Elemente der
jüdischen Mystik und der ältesten jüdischen Theologie scheinen anzuklm-
gen. Dann wieder klingt vieles nach christlichen Elementen, nach dem
Dogma von der Erbsünde. So hat man sogar behauptet, daß Kafka an eine
Konversion gedacht habe. Kann aber hier etwas wie die christliche Botschaft
am Ende stehen, eine Verheißung? Oder nicht eher die Enttäuschung der
Verheißung?
So gibt es Deutungen allegorischer Art, die bis in die Einzelheiten der
Handlung hinein die Kafka-Deutung beherrschen. Wir brauchen da nicht
nachzufragen. Ohne Zweifel hat den Maler Willibald Kramm in seiner
schlichten und tief erschütterten Seele nichts von solchem Schrifttum er-
reicht. Vermutlich hat er nur Kafka selbst gelesen und nichts über den
Roman und die Deutungsversuche gewußt. Wie hat er also von sich aus
gelesen? Was hat er aus dem Roman herausgelesen, das nun in seinen
Blättern ist?
Um mit dem Äußerlichsten zu beginnen: Man kennt Willibald Kramm als
einen genialen Zeichner, der auch in diesen farbigen Blättern, wie auch in
manchen anderen späteren großen malerischen Schöpfungen, die sichere
Hand des großen Zeichners zeigt. An diesem Zyklus wird die Würde der
Zeichnung auf eine neue überzeugende Weise sichtbar. In jeder Zeichnung
liegt eine besondere Abstraktion. Sie stellt dem denkenden Betrachter eine
konstruktive Aufgabe. Hier werden sehr diskrete Farbkontraste aufgebaut,
aber so, daß monochrome Flächenstücke die eindringliche Zeichnung des
Ganzen ergeben. Da ist nicht eigentlich etwas von Raum und Raumatmo-
sphäre darin, auch nichts von der Hintertreppenromantik und dem Dach-
kammerspuk des hohen Gerichts, die dem Leser des Romans den Atem
benehmen. Es ist alles fast kahl in diesen Blättern. Manchmal ordnet sich das
im Roman befremdlich Geschilderte in Kramms Bildern zu einem schönen
Bild. So etwa die Wartenden, diese Girlanden der Vergeblichkeit. Wenn
man Kafka selber liest, so sehen diese Warteräume nicht gefällig aus. In
Kramms Blatt ist es fast wie ein heraldisches Wappen. Bei Kafka ist es eine
finstere Lokalität, in der man nie recht weiß, ob man nicht jemandem auf die
Füße tritt, eine Stickluft der Verirrung - und das soll der Weg zum hohen
Gericht sein? Wenn man am Ende wirklich zu einem Richter gelangt, der da
sitzt, wird einem schleunigst versichert, daß es allerdings nur ein Unterrich-
ter sei. Alle die Randfiguren, die dem seinen Weg zum Gericht und zum
Urteil suchendenJosefK. begegnen, sind wie zufällig, bezuglos und sche-
menhaft. Aber gerade dadurch wird, wie mir scheint, auf eigene Weise
eindringlich verstärkt, was das alleinige Thema ist, um das es im ganzen
Kafka und Kramm 359
geht. Da sind diese beteuernden Gesten der Unschuld, mit denen der Ver-
haftete die Arme auseinanderbreitet. Es ist sozusagen wie ein erster Einsatz
einer noch nicht begonnenen Handlung. Am Anfang stehen diese Un-
schuldsgebärden. Die Handlung selbst wird etwas anderes sein als ein bloßer
Aufschrei der verfolgten Unschuld. Die Handlung wird sein, wie der
Schuldlose auf eine rätselhafte, undeutliche und doch zwingende Art sein
Schuldbewußtsein zu finden lernt. Man sehe nur einmal auf das äußerste
Ende des Ganzen, auf die Hinrichtungsszene, auf den Ausdruck dieses
Gesichtes und auf die Gebärde, mit der JosefK. flehend den Arm ausstreckt
und doch sein Schicksal schon fast angenommen hatl. So wird in der
Komposition des Ganzen, das durch labyrinthhafte Gänge und ein Gestrüpp
der absurdesten Seltsamkeiten führt, die Schuldgeschichte vonJosefK. von
dem Maler Kramm gedeutet. Mit einer erstaunlich einfachen Sicherheit
wird im Krammschen Werk die Dialektik von Schuldlosigkeit und Schuld-
haftigkeit, die Dialektik der überlegenen Verdrängung aller Schuldmöglich-
keit bis hin zu der unausgesprochenen Hirmahme des ihm Zugeteilten
sichtbar.
Man könnte im einzelnen an manchem Blatt Kramms wohl auch noch
manchen Bezug auf den Kafkaschen Roman auffm.den oder auch auf eigen-
willige Antworten, die der Maler dem erzählten Text entgegensetzt. Es muß
schon etwas bedeuten, wie hier eine bestimmte Phase expressionistischen
Stilgebarens in dem Maler und an seinem Gegenstand zu einer neuen Intensi-
tät der Abstraktion gesteigert wird. Die zwei sich ausstreckenden Arme, mit
denen auf den erwachenden schuldlosen Schuldigen gedeutet wird, das ist
nicht die Illustration einer Szene. Die Erwachensszene ist bei Kafka ganz
anders geschildert als hier in diesem Blatt. Gleichwohl ist Kramms Erwa-
chensszene und die auf den schuldlos Schuldigen deutenden Eindringlinge
so unzweideutig, daß in dem Kontrast dieses Blattes die ganze Zweideutig-
keit festgehalten wird, in der Josef K. seine Verhaftung erlebt und seine
Schuldlosigkeit festzuhalten sucht. Für ihn scheint das Ganze anfangs eine
lächerliche Geschichte, ein Irrtum, ein Mißgriff, irgendetwas. das ihn nicht
treffen kann. In dem Kafkaschen Roman nimmt nun die Geschichte einer
immer vergeblicher werdenden Selbstbestätigung und verzweifelter Selbst-
beruhigung ihren Lauf - gerade durch die ständigen Abirrungen ins Ge-
wohnte und Triviale. Das bot dem Maler bewegte Szenen, wie die Affäre mit
Fräulein Bürstner oder mit Leni. Aber diese erotischen Zwischedspiele sollen
wie im Roman Kafkas auch hier eher etwas von der Egozentrik inJosefK. -
oder im Menschenwesen - zeigen. Das ist nicht so sehr ein Sittenbild
2 Siehe auch meine Deutung dieses Schlußbildes: ,Wir alle sind Josef K.: Willibald
Kramm, Die Hinrichtung •. In: F.J. R.~DDATZ (Hrsg.), Zeit-Museum der 100 Bilder.
Frankfurt 1989.
360 Kafka und Kramm
sozusagen immer bedrohlicher. »]a, sie hetzen mich.« Doch ist es nichts
anderes als ein alltäglicher Auftrag, die Begleitung eines italienischen Kunst-
freundes und Geschäftsfreundes der Bank, was die große Szene im Dom
einleitet. Es hat etwas Unheimliches, wenn]osefK. eifrig italienische Voka-
beln rekapituliert, für ein nie kommendes Gespräch. 1m Dom wandelt sich
die Szene bald ins Schicksalsvolle. Welche unsichtbare Hand hat statt des
kunstbeflissenen Geschäftsfreundes den Gefängniskaplan in den Dom kom-
men lassen? Was im Zusammentreffen dieser beiden vor sich geht, läßt
keinen Zweifel. Aus der dunklen Höhle dieses Doms findet der Angeklagte
]osefK. keinen Ausgang mehr. Sucht er ihn oder flieht er ihn? Wenn er, ein
letztes Mal, das Gericht herabzusetzen versucht, hält es nicht mehr stand.
Einer, der ohne Vorurteile ist, dieser Kaplan, hilft dem Armen keine seiner
Fragen lösen und läßt jede seiner Antworten in eine neue Fraglichkeit
münden. Auch das ist so quälend wie so vieles in diesem Buch! Mit überlege-
ner Beharrlichkeit hebt der junge Geistliche das Gericht aus allen menschli-
chen Belangen heraus, und das, ohne ihm irgendeine souveräne Allmacht
oder gar Absicht zuzusprechen. »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt
dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.« Wir
strengen diesen Prozeß gegen uns selbst an. »Du mißverstehst die Tatsa-
chen, [... ] das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht
allmählich ins Urteil über.«
Weiß jemand das besser? Ich denke, wir brauchen jetzt nicht für jeden
einzelnen von uns seine Anwendung zu suchen. Wir brauchen auch nicht
darüber zu reden, wie etwa das]ahr 1951, in dem diese Blätter entstanden
sind, uns Anlaß gab, über die vielfältige Problematik von Schuldhaftigkeit
und Schuldlosigkeit nachzudenken, sei es in unserer eigenen deutschen
Geschichte, sei es in der eigenen Lebensbilanz, die ein jeder ständig dieser
Frage gegenüber aufstellt. Ohne Zweifel hat das auch Kafka gemacht, wenn
er sich, während er an diesen Seiten schrieb, »in die Niedrigkeiten des
Lebens verirrt« hatte. So nannte Kafka die Entwürfe zu diesem Roman. Wie
er, so sucht ein jeder Antwort auf diese Frage, auch wenn er, wie es hier ein
Maler tat, in der Aufnahme des Kafka-Romans seine Frage und seine Ant-
wort zu neuer Schöpfung gestaltet hat. Kunst ist immer, in allen Formen, so,
daß sie Selbstbegegnung ist und zur Selbstbegegnung nötigt. Aussagen der
Kunst in endgültige Worte zu fassen und auf den Begriff zu bringen, kann
sich vernünftigerweise niemand als Aufgabe stellen. So möchte ich auch
meine einführenden Worte in solchem Sinne verstehen: Wir müssen selbst
die Augen öffnen,... und die Herzen.
34. Verstummen die Dichter?
(1970)
Dichtung noch weiterhin für ein integrales Moment des Menschseins hält?
Muß nicht alle litterature jetzt litterature engagee sein? Und wie alle litterature
engagee schnell veralten? Gibt es noch das bestandhafte Gefüge von WOrt-
kunst, wenn immer wechselnde Inhalte in ihrer Unbeständigkeit den wah-
ren Legitimationskern von littirarure überhaupt bilden sollen? Wo das Be-
wußtsein von nichts als )science< erfüllt ist, d. h. von der Idolatrie des
wissenschaftlichen Fortschritts, gibt es da noch solche Fügung {ron Worten,
daß jeder sich in ihnen zu Hause findet?
Ohne Zweifel wird das Wort des Dichters in solcher Stunde anders sein
müssen. Es wird mit der Reportage, mit der Beiläufigkeit, mit der Unter-
kühltheit des technischen Sprechens eine Verwandtschaft haben müssen.
Aber ist das dichterische Wort deshalb wirklich Reportage? Oder läßt sich
zeigen, daß auch heute noch aus Worten ein bestandhaftes Gefüge aufgebaut
werden kann, das nicht von gestern, sondern von heute und von jeher ist?
Das also noch immer )gemeinsamen Geist« enden läßt im Gedicht? Viel-
leicht ist die beste allgemeine Charakteristik dessen, was heute Lyrik aus-
zeichnet, ein Wort, das Rilke einmal geschrieben hat. Er sagt in einem Brief
an Ilse Jahr vom 22.2. 1923 über sein Verhältnis zu Gott: »Es ist eine
unbeschreibliche Diskretion zwischen uns. (, In der Tat kommt in seinen
späteren Dichtungen, etwa in den Duineser Elegien, Gott überhaupt nicht
mehr vor. Da ist allein vom Engel die Rede, der vielleicht mehr ein Sendbote
der Menschen als Gottes ist!. Rilkes Wort von der unbeschreiblichen Dis-
kretion beschreibt, wie mir scheint, aufs genaueste den Ton des heutigen
lyrischen Gedichts, für den es das Ohr zu schärfen gilt, zum Beispiel für die
Gedichte von PauI Celan. Nicht, daß die Dichter verstummen, sondern ob
unser Ohr noch fein genug ist zu hören, ist die Frage.
Um die Forderungen solcher Diskretion an uns zu verdeutlichen, wähle
ich ein Gedicht von]ohannes Bobrowski. Es heißt »Das Wort Mensch«:
Das WOrt Mensch, als Vokabel
eingeordnet, wohin sie gehört,
im Duden:
zwischen Mensa und Menschengedenken.
Die Stadt
alt und neu,
schön belebt, mit Bäumen
auch
und Fahrzeugen, hier
Auch dieses Gedicht empfindet man als beinahe hermetisch. Was sagt es
eigentlich? Was rur eine Einheit einer Aussage steckt denn darin? Und genau
das ist es ja, was sO viele vom Verstummen der Dichter reden läßt, daß sie,
wenn ich so sagen darf, auf das Diskrete nicht mehr zu hören vermögen.
Beginnen wir mit der Auslegung dort, wo jede Auslegung beginnen muß,
nämlich dort, wo es uns zuerst hell wird. Das ist hier ohne Zweifel die
Schluß strophe. Sie sagt etwas ganz Deutliches: »Wo Liebe nicht ist. sprich
das Wort nicht aus.« Das bedeutet - und muß vorher gegenwärtig geworden
sein -, daß überall dort, wo der Sprechende das Wort »Mensch« gehört hat,
keine Liebe war. So wird alles klar. Die erste Strophe ist voll bitterem
Sarkasmus und von fast ätzender Schärfe. Es mag stimmen, daß die Vokabel
»Mensch« zwischen »Mensa« und ))Menschengedenken« steht und daß der
Dichter das beim Gebrauch des Lexikons einmal zufällig bemerkt hat. daß
das Nachbarwort nach vorne »Mensa« war und nach hinten »Menschenge-
denken«. Aber wenn er das im Gedicht sagt, ist es gezielt. Da ist zunächst
»Mensa«, dieses für junge Leute sehr vertraute Wort, das eine Sache meint,
an der man die Anonymität des Lebens und die Beziehungslosigkeit nach
dem Verlassen der Familie wohl am stärksten empfindet. Die Mensa hält
irgendwie in ständiger Erinnerung, was Familie ist, sozusagen in der F9rm
der Privation. Und nach der anderen Seite folgt »Menschengedenken«, ein
Wort, das wir nur in einer einzigen Wendung noch gebrauchen: »seit Men-
schengedenken«. Was diese Wendung evoziert, ist wie etwas schon gar nicht
mehr Wahres - seit Menschengedenken ist das so. Man hat keine Rechen-
schaftsmöglichkeit darüber. Wenn man sagt: das ist seit Menschengedenken
so, wird das als etwas völlig selbstverständlich Gewordenes behandelt. Auf
der einen Seite haben wir also das Anonyme, auf der anderen Seite das
selbstverständlich Gewordene, und zwischen diesen beiden Extremen ist die
Vokabel »Mensch« wie eingeklemmt.
Die zweite Strophe spricht von der Stadt, »alt und neu«. Wer hinhört,
weiB sofort: das ist nach dem Kriege geschrieben, der unsere Städte in
Trümmer gelegt hat. »Alt und neuee meint offensichtlich die Spannung. die
das Gesicht unserer Städte durchzieht. »Alt und neu« ist vielleicht noch
allgemeiner gemeint und ruft nicht nur das Wiederbelebte nach seiner Ver-
ödung und Zertrümmerung herauf. Denn der dritte Vers »schön belebt, mit
Bäumen« leitet über zu dem wunderbar einsilbigen »auch« , das einen ganzen
Vers füllt und dadurch ein seltsames Gewicht erhält. Was wie ein zusätzli-
cher Reichtum klingt: »auch Bäume«, beschwört den ganzen Jammer des
Verstummen. die Dichter? 365
Städterturns herauf. Bäume sind freilich auch da, aber was die Stadt aUs-
macht, ist ihr Verkehr, die Fahrzeuge. So wird dies »auch« zum rührenden
Ausdruck für die weggehastete Natur, die wir in den Straßen unserer Städte
erleben. Dies »auch« ist ein nachdrückliches Beispiel echter dichterischer
Diskretion.
Und dann, in der Wortfolge »hier I hör ich das Wort«, erhält auch das
»hier« einen besonderen Akzent. Es steht nicht nur am Ende eines Verses,
sondern einer ganzen Strophe und stellt daher ein s~genanntes Enjambe-
ment dar. Die Rede geht weiter, aber der Strophenschluß wird nicht etwa
durch das Enjambement verschliffen und die Verse ihrerseits unhörbar, wie
der Laie zu meinen pflegt. Solcher falsche Schein entsteht lediglich durch die
Sucht, die Verse als Verse zu verleugnen. Das freilich klingt wie die trivialste
Prosa, wenn man liest lIhier hör ich das Wort«, d. h. hier in der Stadt. Aber
das »hier« muß man ganz fur sich allein hören! Das Enjambement macht den
Vers und Strophenbruch gerade erst recht sichtbar. Indem der Satz weiter-
geht und metrisch dort doch der Bruch ist, erhält das »hier. gleichsam ein
rhythmisches Ausrufezeichen. »Hier« heißt dann: ausgerechnet dort, wo es
von vornherein schon unglaubhaft ist, daß man noch als Mensch zu Mensch
miteinander reden und miteinander umgehen kann. Oft hört man das Wort
- um das Unwirkliche solchen Redens vom Menschen unverkennbar zu
machen, fährt der Text wie in einer Berichtigung fort: »die Vokabel hör ich
hier häufig«. Der Wechsel des Ausdrucks von» Wort« zu 1I Vokabel« deutet
an, daß es sich bei solchem Wortgebrauch nicht um die Sache handelt,
sondern um ein bloßes Wort, das aus dem wirklichen Gebrauch gerissen ist
und kein Leben mehr hat. So häufig es auch erklingt, es ist eine leere
Vokabel.
Nun kommt die Stelle des ganzen Gedichtes, die mir am schwierigsten ist:
»Ich kann I aufzählen von wem, ich kann I anfangen damit.« Das erste ist
ganz einfach. Man hört's überall, und so kann ich aufzählen von wem: Hier,
hier, hier - jeder sagt es immerfort, ich höre es immerfort. Aber was heißt
die Fortsetzung: »ich kann anfangen damit«? Das ist seltsam. Wenn ich
aufzählen kann, von wem, dann kann ich natürlich anfangen damit. Was will
der Vers denn sagen? •• Ich kann anfangen damit« scheint eine ähnliche
Einschränkung zu bedeuten wie oben das »auch«. Alle führen die Vokabel
im Munde. Es ist sinnlos, alle herzuzählen. Ich bliebe stecken - das liegt in
dem einschränkenden »ich kann anfangen damit«. Aber nicht deshalb allein
bliebe ich stecken, weil es zu viele sind, sondern weil mir alsbald bewußt
würde, daß es keinen Sinn hat zu zählen, wie viele das tote Wort im Munde
fuhren, ohne daß es lebendig würde.
Daß das richtig interpretiert ist und daß an diesem Glied sozusagen die
Drehung des Ganzen geschieht, zeigt die SChlußstrophe. Denn nun heißt es
ausdrücklich, wie im Scheitern der zählenden Suche und wie ein Verweis:
366 Verstummen die Dichter?
»Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.« Das besiegelt gleichsam den
Sinn des Ganzen: Das Wort »Mensch(( soll keine bloße Vokabel sein. Es ist
kein Ausrufezeichen nach diesem Gedicht. Die Interpunktion der Schule
wird es vermissen, denn es ist doch ein Imperativ! Aber genau das ist die
Diskretion, mit der die heutigen Dichter sprechen.
Dieses Beispiel möchte deutlich gemacht haben, warum ich glaube, daß es
ein falscher Schein ist, daß die Dichter verstummen. Sie sind notwendig leise
geworden. Wie diskrete Mitteilungen leise gesagt werden, damit kein Un-
berufener sie hört, so ist auch das Sprechen des Dichters geworden. Er teilt
dem etwas mit, der dafür das Ohr hat und sich ihm zuneigt. Er flüstert ihm
gleichsam etwas ins Ohr, und der Leser, der ganz Ohr ist, nickt schließlich.
Er hat verstanden. So glaube ich, daß man den Hölderlinschen Satz »Des
gemeinsamen Geistes Gedanken sind still endend in der Seele des Dichters((
an Dichtung unserer Zeit genauso verifizieren kann wie eh und je. Wer sich
von ihrem Wort erreichen läßt, leistet damit eine Verifikation, und man
begreift wohl, daß in einem Zeitalter der elektrisch verstärkten Stimme nur
das leiseste Wort noch die Gemeinsamkeit von Ich und Du im Wort findet
und damit das Menschsein beschwört. Wessen es für das leise Wort bedarf,
fUr den Sprechenden wie rur den Hörenden. wissen wir. Es ist wie mit den
langsamen Sätzen in einer Symphonie - an ihnen zeigt sich erst die wahre
Meisterschaft des Komponisten und des Dirigenten. Wer wili ermessen.
welche Erfahrungen der Könnerschaft aus dem technischen Zivilisationsle-
ben in diese Wort bauten hineinreichen und in ihnen eingefangen sirid. so daß
wir die mächtige Fremdheit der modernen Welt plötzlich wie etwas Ver-
trautes in unserem Hause antreffen und begrüßen.
35. Im Schatten des Nihilismus
(1990)
Wenn ich zwei deutsche Dichter, Dichter deutscher Sprache, unter dieses
Thema stelle, Gottfried Benn und Paul Celan, so stellt das eigentlich keine
Wahl dar. Wenn man aus der deutschen Literatur nach dem Zweiten Kriege
Namen nennen will, die wirklich etwas von der seelischen, geistigen und
religiösen Grundsituation der Zeit abzubilden vermögen, wird man sich
unter den lyrischen Dichtern umsehen. Wir Deutsche sind nicht ein Volk der
großen Erzähler. Selbst Namen wie Hermann Hesse, Thomas Mann oder
Robert Musil sind viel zu sehr an die eigentümlichen Verfeinerungen manie-
ristischer Erzähltechnik gebunden, als daß sie den großen Atem eines natur-
haften Erzählerturns besäßen. Gewiß hat uns Hermann Hesses )Glasperlen-
spiel<, das uns nach dem Kriege erreichte, und mehr noch die ebenso tiefsin-
nige wie künstlich verschlüsselte Auseinandersetzung Thomas Manns mit
der deutschen Tragödie - und - vielleicht am dauerhaftesten - die geniale
Retrospektive des )Mannes ohne Eigenschaften< tief berührt. Gewiß hat
etwa Heinrich Bölls Knappheit und Günter Grass' wogende Uferlosigkeit
des Erzählens auch außerhalb Deutschlands Widerhall gefunden. Aber kön-
nen diese wie jene mit den großen Erzählern Englands, Rußlands, Frank-
reichs, mitJoyce, mit Proust, mit den )Dämonen< oder den )Karamasows<
oder )Anna Karenina< konkurrieren, die uns alle, gestern und heute und
morgen, ansprechen? Dagegen darf man wohl sagen, daß die deutsche
lyrische Poesie seit hundert Jahren ein adäquater Ausdruck deutschen Gei-
stes ist, der immer auch mit den großen wissenschaftlichen und philo-
sophischen Erfahrungen und Leistungen der deutschen Kultur verbunden
war. Ich nenne nur den Namen Stefan George, der sicherlich der bedeutend-
ste Sprachkünstler deutscher Zunge in den letzten hundert Jahren war. Ich
nenne Hugo von Hofmannsthai, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl.
Gewiß, die meisten von ihnen sind, politisch gesehen, nicht Bundesdeut-
sche. Aber die Res publica litteraria kennt keine Grenzen, die nicht durch die
Sprache aufgerichtet sind, und selbst die Grenzen der Sprache zu überbrük-
ken sind wir alle bemüht, wenn wir in fremde Länder reisen oder wenn man
fremde Gäste in deren Sprache hört. I
Innerhalb der deutschen Nachkriegslyrik war keine Wahl. Gottfried Benn
,,)00 Im Schatten des Nihilismus
und Paul Cdan sind die beiden großen Dichter, die in der Zeit nach dem
Zweiten Kriege etwas vom deutschen Lebensgefühl, dem deutschen Schick-
sal, dem ungewissen Stand zwischen Glauben und Unglauben, zwischen
Hoffnung und Verzweiflung, im Gedicht zu gültigem Ausdruck gebracht
haben. Beicle sind auch dem Ausland bekannte Namen. Sie sind in viele
Sprachen übersetzt worden. Aber wer weiß, was lyrische Poesie ist, weiß,
daß übersetzungen nur Annäherungen sind und kaum eine Ahnung dessen
wecken können, was in der Originalsprache spricht.
Zunächst ein paar Worte über Gottfriecl Benn. Er war Arzt, hat in Berlin
gelebt, hat nach 1933 eine Zeitlang falsche Erwartungen in das damalige
Geschehen gesetzt, hat sich dann, wie viele seinesgleichen, in die Armee
geflüchtet, um auf anständige Weise durchzukommen. Das war die Form, in
der ein Gefährdeter im Dritten Reich am ehesten politischen Verfolgungen
entgehen konnte. Er war als Militärarzt Soldat. Als Dichter hat er sofort
nach dem Zweiten Weltkrieg seine Stimme wieder erhoben, und ich muß
sagen, wir haben ihn eigentlich erst dann in seiner ganzen Bedeutung er-
kannt. Es half uns dabei, daß ihm ein eigentümlicher Altersstil vergönnt
worden ist, der das Provokatorische seiner frühen Poesie stark milderte und
ein wunderbares Melos über seine Verse ausgoB. Die Verse, die ich vorlege,
sind erst aus dem Nachlaß bekannt geworden:
salen in Paris Lektor für deutsche Sp:rache ;;;;1d Literatur wurde. E::- war mit
einer Französin verheiratet und hat fast nur auf deutsch gedichtet - .;::r,e ganz
eigentümliche Tatsache. Mir ist kein französisches Gedicht von Celan be-
kannt, während ich französische Gedichte Von George oder Rilke durchaus
kenne. Celan war offenbar an die deutsche Sprachheimat, die ihm keine
Heimat bot, tiefer gebunden, als jene anderen Dichter waren, die sich
gelegentlich auch in einer anderen Sprache noch versucht haben. Ich wähle
ein Gedicht aus der spätesten Phase dieses Dichters, der 1970 freiwillig in den
Tod gegangen ist, ein Gedicht, dessen thematische Zugehörigkeit zu dem
zitierten Gedicht Benns, nach einiger Erklärung, jedem in die Augen sprin-
gen wird. Es ist freilich ein kryptisches Gebilde, ein hermetisches Gedicht.
Es spiegelt die groBe Wende zum Weglassen, zum Konzentrieren, I
und damit
auch zum Verdichten, die wir ähnlich etwa aus der modemen Musik seit
Schönberg und Webern kennen. Das hat die deutsche Nachkriegslyrik in
besonders starkem Maße geprägt - nicht zuletzt deshalb, weil die deutsche
Lyrik in einer Sprache spricht, deren Freiheit der Wortstellung meines
Wissens nur noch vom klassischen Griechisch erreicht worden ist. Auf ihr
beruht die besondere Konzentrationsmäglichkeit des lyrischen Verses. Die
syntaktischen Funktionsausdrücke der Rede, die prosaisch-rhetorischen
Mittel, mit denen wir sonst die logische Einheitsbildung der Rede bewerk-
stelligen, sind fast ganz eliminiert. Das Gedicht vertraut sich lediglich der
Gravitationskraft der Worte an:
Wirk nicht voraus,
sende nicht aus,
steh
herein:
durchgrondet vom Nichts,
ledig allen
Gebets,
feinfUgig, nach
der Vor-Schrift.
unüberholbar,
nehm ich dich auf,
statt aller
Ruhe.
Man muß das so lesen, daß die drei Strophen und die Zeilenbrüche erraten
werden können. Es sind eben Verse. Das heißt: auch ein Einwortvers hat die
Länge der anderen Verse, eine Länge, die sich in unSerem inneren Ohr
dehnt, wenn wir das rhythmische Sprachgebilde, hörend und verstehend, in
uns erstellen. Dies Schlußgedicht. so schwer es scheint, ist nicht schwerer als
viele andere Gedichte des späten Celan. Er ist in diesen Gedichten in einem
372 1m Schatten des Nihilismus
Ledig vom Belastetsein meint eine Art Freisein. Und wieder geht es weiter:
»feinfügig,< - das Wort gibt es auch nicht. Es gibt Igefügig<, das heißt
'gehorchend<, und es gibt ,feingeftigt<, das heißt 'sich fein ineinanderfü-
gend<. Wieder ist beides in »feinfügig« zu hören - ,fein, und ,sich fügend,.
Und vollends »nach der Vor-Schrift« - hier haben wir sozusagen den
Schriftbeweis für Celans semantische Praxis. Das Wort' Vorschrift, ist im
Text mit einem Bindestrich geschrieben: »Vor-Schrift«. Man soll nicht
überhören, daß hier die Heilige Schrift gemeint ist und auf das >nach der
Schrift< angespielt wird. Das aber sagt: Worein ich mich so fein füge, ist
gerade nicht >nach der Schrift" sondern nach der Vor-Schrift, nach etwas,
was noch älter ist als die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes, um
mich mit Herder auszudrücken. Es ist eine Erfahrung. die dem noch voraus-
liegt. was die Heilige Schrift vorschreibt, und die doch auch bindet, wie eine
Vorschrift. Die Vor-schrift heißt »unüberholbar« - sie wird nie widerrufen,
wie Vorschriften sonst oder wie das Alte Testament durch das Neue Testa-
ment überholt sein soll. Dieses Ich also, das durchgründet ist vom Nichts,
sagt von sich: »nehm ich dich auf, statt aller Ruhe«. Das ist vielleicht weniger
semantisch als inhaltlich äußerst verblüffend. daß hier am Ende nicht Ruhe,
die friedvolle Annahme der Botschaft der ,Schrift< steht. Was hier aufge-
nommen wird, verheißt nicht Ruhe, sondern es ist beständige Unruhe, die
du bringst - indem du hereinstehst.
Nach diesen einleitenden semantischen Erläuterungen beginnt die Inter-
pretation mit der Syntax der Sache, dem eigentlichen Inhalt des Gedichtes,
der Aussage, die hier gemacht wird. Man kann bei Celan nie recht sagen -
und im Grunde wohl bei keinem wirklichen lyrischen Dichter - wer gemeint
ist. wenn das Gedicht »ich« sagt. Daß der Dichter nicht bloß sich selbst
meint, deswegen ist es ein Gedicht. Ich als Leser kann mich von ihm als
Sprecher gar nicht unterscheiden. Es ist ein Gedicht. weil dies Ich wir alle
sind. Was ist nun das Du zu diesem Ich, das von diesem Ich mit einem "du«
angeredet wird? Es ist ein Imperativ: »Wirk nicht voraus«. Wer ist dieses
Du? Gewiß. wir sind gewöhnt, auch zu uns selbst "du« zu sagen, und es
wäre rein grammatisch und syntaktisch nicht unmöglich, das Ganze als ein
hermetisches Selbstgespräch zu lesen. Jemand wird angeredet und jemand
antwortet, und die beiden könnten ein und dieselbe Person sein. Zunächst ist
diese Frage offen. Wenn man eine Anrede an sich selber darin sehen möchte,
wird man in seinem Vorverständnis dem stoischen Grundsatz des ei~' iavlov
folgen und sich selber von allem Wirkungswillen und Geltungswillen zu-
rückrufen. Das liegt durchaus nahe. Aber das Hereinstehen - in welcher
Bedeutung des Wortes immer - erfüllt dieses Verständnis nicht. Es ist etwas
von außen, was hereinstehen, dasein oder kommen soll.
Offen scheint zunächst auch der Bezug des in der zweiten Strophe Gesag-
ten. Geht es auf dich - wer immer es sei - oder auf mich? Der Doppelpunkt,
374 Im Schatten des Nihilismus
der die erste Strophe abschließt, spricht dafür, daß alles folgende zusammen-
gehört und die Aufforderung des Hereinstehens gleichsam begründet. Dann
ist es also nicht das angeredete Du, sondern das redende Ich, das im folgen-
den in seiner Bereitschaft, das Du aufzunehmen, ausgesagt ist. Das ist die
sich ergebende Syntax, die die zweite und dritte Strophe zusammenschließt.
Eine kleine Schwierigkeit bildet der letzte Vers der zweiten Strophe,
»unüberholbar«. Dies Attribut paßt nicht auf die Beschreibung dieses Ich.
Hier geht der Bedeutungsbezug weit eher auf» Vor-Schrift«. Viele Vor-
schriften gelten nicht mehr, sind überholt. Diese allem vorausliegende Vor-
Schrift kann nie überholt sein. So ist dieser letzte Vers grammatisch eine
attributive Apposition zu »Vor-Schrift« und nicht ein Attribut des Ich, wie
es das »feinfügig« zweifellos ist. Allenfalls könnte man eine indirekte Ver-
strebung der Bedeutungen annehmen: Weil ich mich der unüberholbaren
Vor-Schrift füge, kann ich sdber »unüberholbar« genannt werden. Das mag
mitschwingen. Aber die Beziehung auf» Vor-Schrift« bleibt tragend.
Außer diesen Gründen der lyrischen Grammatik gibt es aber auch noch
einen anderen, >hermeneutischen< Grund, in dem Angeredeten das Du des
ganz Anderen, Gottes, zu verstehen. Das ist der Platz, den der Dichter selber
diesem Gedicht in diesem letzten von ihm komponierten Gedichtband ange-·
wiesen hat. Man folgt damit dem bekannten hermeneutischen Grundsatz,
den schon Schleiermacher formuliert hat, daß eine Sinneinheit auch von
ihrer Funktion im Zusammenhang einer größeren Sinneinheit mitbestimmt
wird.
Das unseren Versen vorausgehende Gedicht, das berühmte Gedicht >Du
sei wie du<, legt den religiösen Zusammenhang offen... Es spricht von dem
Leiden eines, den sein Bruch mit der jüdischen Gemeinde und dem Glauben
der Väter quält. »Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin« mag biogra-
phisch darauf anspielen, daß Celan eine katholische Ehe in Paris eingegangen
ist. Aber wieder soll man kein besonderes privates Wissen einbringen. Der
Bruch mit dem Glauben der Väter meint am Ende wohl einen jeden. Es ist
das Leiden der Gottsuche, jenes Jenseits irgendeiner bestimmten religiösen
Zugehörigkeit, das der Gottesfrage und insofern der Erfahrung des Göttli-
chen doch nicht ausweichen kann. Es >steht herein<. So ist klar, der Angere-
dete ist ein anderer, ist der >ganz Andere<, ist Gott. Aber nichts von rdigiö-
sem Heilsversprechen ist damit verbunden - kein Glaube an eine Vorsehung
und nichts von der Frohen Botschaft, mit der Jesus seine Jünger aussendet in
die ganze Welt. Gott soll gar nichts tun - nur so hereinstehen, daß ich nicht
an >dir( vorbei kann. Aber eben das ist sein Dasein, und so kommt die
andere, transitive Bedeutung von >Hereinstehen< zum Tragen. Er soll nur
hereinstehen, ich will ihn aufnehmen - und es soll nicht so sein wie im
Johannes-Prolog, wo die Wdt den Logos nicht aufgenommen hat. Die
ganze Folge der Verse nach dem Doppelpunkt stellt also den begründenden
Im Scharren des Nihilismus 375
Nachsatz zu der Aufforderung des »steh herein« dar. Gerade weil ich so
"durchgründet vom Nichts« bin und keine bestimmte religiöse Erwartung
oder Verheißung hege. "Ledig allen Gebets« - das bin ich. Gebet ist wie
etwas, das ich nicht mehr tragen kann, und doch und gerade als ein solcher
bin ich nicht frei, sondern weiß, daß ich mich zu fUgen habe, nicht einer
Offenbarung folgend, mach der Schriftc, sondern einer Vor-Schrift, die
noch viel ursprünglicher und unüberholbarer ist als jede mögliche Religion
undjede mögliche kirchliche Glaubensgemeinschaft. Das Ich, das redet, will
gar nicht an >dirc vorbei. >Duc sollst hereinstehen wie etwas, an dem man
nicht vorbeikommt. »Statt aller Ruhe« - nicht, daß ich mich irgendeinem
neuen Glauben anvertraue und darin Ruhe suche und finde, sondern daß ich
keinem schon vorliegenden und mich bindenden Glauben folgen kann,
gerade diese Unruhe, die mich nicht an dir vorbeikommen läßt, ist es, der
ich mich nicht verschließen kann.
Wenn man Gottfried Benns Gedicht eine Art negativen Hymnus nennen
könnte, eine Preisung dessen, der dazu gereift ist, alle Klage zu unterlassen,
könnte man dieses Gedicht ein hermetisches Zwiegespräch nennen. Es ist
ein Gedicht, das tUr uns alle aussagt, daß die Erfahrung des Göttlichen
unausweichlich ist, auch wenn der Gott verneint und sich versagt. Vielen
mag die Erfahrung des Göttlichen weiterhin Bindung und Trost und Heils-
versprechen vermitteln - das Ich, das hier tur uns spricht, erwartet nichts,
sondern bekennt sich zu der Unruhe des Herzens: inquietum cor nostrum.
"Der Gott verneint.« Celans Schluß gedicht steht in innerer übereinstim-
mung mit den Versen Benns.
In ,Lichtzwangc steht ein Gedicht, das Celan nach dem Besuch bei Martin
Heidegger im Schwarzwald geschrieben und ihm auch geschickt hat, und
das er in seinen Gedichtband aufgenommen hat.
Todtnauberg
Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Stern würfel drauf.
inder
Hütte,
kommendes
Wort
im Herzen,
Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,
Krudes, später, im Fahren,
deutlich,
der uns fährt, der Mensch,
der's mit anhört,
die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,
Feuchtes,
viel.
Man hat darüber verbreitet, daß es einen unglücklichen Verlauf des Besu-
ches dokumentiert. Das mag der Weisheit der Biographen - selbst falls es
den Autobiographen. den Dichter selber. einschließen sollte - überantwor-
tet bleiben. Das Gedicht weiß da von nichts - und weiß es besser.
Ich kenne'diese Hütte selber aus vielen Aufenthalten. Es ist dort so: Man
kommt da im Hochschwarzwald zu diesen Wasen, diesen Hochmooren.
Oben, nah dem Waldrand des Stübenwasen, steht ein ganz kleines Hütt-
chen. das sich eng an den Hang anschmiegt, ganz mit Schindeln gedeckt,
sehr einfach. Es hat keine Wasserleitung. Vor der Hütte ist ein kleiner
Brunnen, ähnlich wie die Tränke, die man dort im Schwarzwald für das
Vieh einrichtet. Eine leise tröpfelnde Quelle führt immer frisches Wasser zu.
Ich habe mich oft an diesem Brunnen mit dem laufenden Wasser zusammen
mit Heidegger rasiert. Auf dem Brunnenpfahl ist ein holzgeschnitzter Ku-
bus, in den ein sternfOrmiges Ornament eingeritzt ist. Das muß man natür-
lich nicht wissen. wohl aber soll man etwas Bedeutungsvolles, von Schick-
salsstemen und vom Wurf des Schicksals, wie ein gutes Zeichen, in diesem
Umstand erkennen. Wie das ganze kleine Anwesen ist es ein »Augentrost«.
Das Gedicht ruft dieses Geruhl herauf, indem es mit dem Namen >Arnika(,
deutsch >Augentrost(, eine im Hochgebirge heimische Heilpflanze am Ein-
gang des Gedichtes anruft. In der Hütte das Buch. Das war Heidcggers
Gewohnheit, alle Gäste der Hütte hatten sich da einzuschreiben.
Celan ist offenbar hingekommen, hat sich auch in das Buch einschreiben
sollen. und er hat es getan l . Jedenfalls ist deutlich, welche Erwartung oder
vielleicht Nichterwartung. welche Frage den Dichter bewegte: ob ein Den-
1 Ein deutsch-amerikanischer Philologe hat inzwischen vergeblich versucht helauszu-
bekommen, was Celan eingeschrieben hat. Es gibt auch diesen Weg, sich einem Gedicht
zunähem.
Im Schatten des Nihilismus 377
kender wie dieser vielleicht ein Wort, ein "kommendes Wort« hätte, ein
Wort ))von einer Hoffnung, heute(e, Von dieser geheimen Hoffnung im
Herzen erfüllt hat der Dichter seine Zeile geschrieben.
Dann ist die Szene offenkundig ein Spaziergang, über den Stübenwasen,
))Waldwasen, uneingeebnet, Orchis und Orchis, einzeln«. Uneingeebnet: so
sind diese Wasenflächen in der Tat. Aber wieder soll man nicht zu Land-
schaftsstudien in den Schwarzwald fahren, um das Gedicht besser zu verste-
hen. Man soll verstehen, daß es für die Denkenden, für uns Denkende, keine
geebneten Wege gibt. Orchis ist eine kleine Hochgebirgsorchidee, aber
natürlich sagt der Vers ))Orchis und Orchis, einzeln« nicht primär etwas
über die Vegetation auf dem Stübenwasen, sondern etwas über die Einzel-
heit der bei den Spaziergänger, die da zusammengingen und doch jeder
einzeln blieben, wie die Blumen, an denen sie vorbeikamen.
Die nächste Szene ist die Heimfahrt des Besuchers im Wagen. Jemand
fährt ihn da, und er selbst ist begleitet von irgendeinem anderen, mit dem er
redet. Sie reden miteinander, und erst jetzt, während sie miteinander reden,
wird ihm ))Krudes« deutlich. Was Heidegger gesagt und was Celan zuerst
nicht verstanden hatte: die Worte Heideggers bekommen plötzlich Sinn, für
ihn und für den anderen - nicht für den, lIder uns fährt«. Damit ist die
Erzählung von diesem Besuch gleichsam zu ihrem Ende gekommen. Die
erste Strophe galt dem trostreichen Anblick des bescheidenen Anwesens, die
zweite spielt in der Hütte, die Bedeutung des besuchten Mannes und die
geheime Erwartung des Besuchers schildernd; die dritte Strophe ist der
Spaziergang, dies Nebeneinander einzelner, und dann die Rückfahrt, auf der
die Eindrücke besprochen wurden. Was folgt, ist nicht mehr )Handlung(,
sondern so etwas wie ein Fazit, das in dem Gespräch der Zurückfahrenden
gezogen wurde: die Gewagtheit dieses Geh-Versuchs im Ungangbaren.
))Feuchtes, viel. «
Da sind die ))halb-beschrittenen Knüppelpfade im Hochmoor«. Das ist
nun tatsächlich im Hochgebirge so. Die feuchten Wege am Moor macht
man durch Knüppel einigermaßen überschreitbar. Hier sind es halbbeschrit-
tene Knüppelpfade, das heißt, man kommt nicht durch und muß umkehren.
Sie sind wie )Holzwege(. Es ist eine Anspielung daran, daß Heidegger nicht
beansprucht und nicht vermocht hat, ein "kommendes Wort« zu sagen, eine
))Hoffnung, heute« zu haben - er hat auf einem gewagten Wege ein paar
Schritte versucht. Ein gewagter Weg ist es. Jeder, der danebentritt, tritt in
das Moor und ihm droht das Versinken im Feuchten. Es ist die Beschreibung
der gewagten Denkwege dieses Denkers - und wiederum eine Situation, in
der wir als Menschen alle heute mehr oder weniger bewußt stehen und die
unser Denken nötigt, gewagte Wege zu gehen.
So mag es schon sein, daß der verdunkelte Dichter keine Wandlung in
Hoffnung und Helle bei diesem Besuch erfuhr. Es wurde ein Gedicht, weil
378 Im Schatten des Nihilismus
das Erfahrene ihn und uns alle aussagt. Das Gedicht ist als Schilderung des
wirklich geschehenen Besuches nicht einzigartig im Celanschen Werk. Er
hat sehr viele sozusagen situationsgebundene Gedichte geschrieben. In sei-
ner Büchner-Preis-Rede hat er seine eigenen Gedichte gerade durch diesen
>existentiellen< Bezug von der symbolistischen Poetik Mallarmes unter-
schieden. Das ist aber keine Einladung zu biographischer Forschung. Auch
diese Situationsgebundenheit, die dem Gedicht etwas Okkasionelles verleiht
und Ausfüllung durch das Wissen um die bestimmte Gelegenheit zu verlan-
gen scheint, ist in Wahrheit in eine Sphäre des Bedeutungsvollen und Wah-
ren heraufgehoben, die es zu einem echten Gedicht hat werden lassen. Es
spricht uns alle aus.
Wir sind also bereits einen Schritt weiter, als ihn die allgemeine Metho-
dentheorie der Hermeneutik zu verzeichnen wußte - ich meine die Vielheit
der möglichen Interpretationshinsichten betreffend. August Boeckh hat in
der Nachfolge von Schleiermacher vier solcher Hinsichten unterschieden:
die grammatische Interpretation, die generische Interpretation, die histori-
sche Interpretation und die psychologische Interpretation. Zwar bin ich der
Meinung, daß diese vier Interpretationshinsichten durchaus der Erweite-
rung fähig sind, und glaube zum Beispiel, daß der Strukturalismus eine
solche Erweiterung darstellt, sei es für die mythischen Inhalte der griechi-
schen Tragödie, sei es für das Verständnis der dichterischen Sprachgestal-
tung. Auch ich selber habe mich bemüht, in methodischem Vorgehen mit
der Semantik einzusetzen und die Syntax gleichsam erst daraus hervorgehen
zu lassen. Ein Wort strahlt aus, es entwickelt grammatisch-semantische
Kräfte. Eine Wortgruppe strahlt aus und entwickelt syntaktische Kräfte.
Will man das Prinzip benennen, mit dem hier gearbeitet wird, wenn man die
besondere Einheit des Ganzen erfassen will, so könnte es das Prinzip der
harmonischen Dissonanz heißen. Im Gegensatz zu gewohnteren älteren
Formen der Poesie, die viel von Glätte und Glanz des Rhetorischen enthal-
ten, reichen hier wohl die Dissonanzen bis in die kompositorischen Elemen-
te hinein und lösen noch Worteinheiten auf. In ein und demselben Wort
>klingt es auseinander<. Wir sahen es etwa bei Celans Schlußgedicht, bei
»steh herein«, bei »feinfügig«, bei »nach der Vor-Schrift«, bei »unüberhol-
bar«. Auseinanderklingen heißt Dissonanz. Wie in der musikalischen Kom-
position die Konsonanz gerade durch die Auflösung von Dissonanzen mög-
lich wird, ist es auch hier. Je härter die Dissonanz, desto stärker wird die
Aussage. Man denke etwa an das mitschwingende >Gepäck< bei »Gebet«.
Welch ein ungeheurer Mißklang, und eben dieser Mißklang führt dazu, daß
sich das Ganze zu einem bedeutungsvolleren Sinn klang zusammenschließt.
»Ledig allen Gebets« - auf einmal sieht man etwas von der Art, sich durch
überirdische Verheißung Trost zu holen, damit es einem leichter wird. Dem
!m Schatten des Nihilismu5 379
stellt das Gedicht die Frömmigkeit dessen entgegen, der es sich schwer
macht. In diesem Sinne ist das von mir gewählte Schluß gedicht, wie mir
scheint, ebenso wesentlich wie jenes andere, ITenebrae<, in dem trotz der
Bitterkeit des Todes, die alles umdunkelt. doch Anruf und Gesang wird2 •
Ich darf an ein Wort Heraklits erinnern: »Die Harmonie, die nicht offen-
kundig ist, ist stärker als die offenkundige.• 3 Das trifft nicht nur für dichteri-
sche Gebilde zu. Die Wahrheit dieses Satzes von Heraklit haben wir in
unserem Jahrhundert wahrlich zu lernen gehabt. Celans Gedichte, seine
Botschaft, wenn man so sagen darf, steht nicht allein. leh folge nochmals
dem hermeneutischen Grundsatz, daß das, was man zu verstehen sucht, in
einem größeren Zusammenhange seine Aufklärung finden kann. Ich richte
den Blick über Celans Werk hinaus und schränke ihn auch nicht nur auf die
sogenannte Literatur ein, sondern richte ihn auch auf andere Formen der
Kunst. Sie können uns die Entstehung der Modeme und ihrer inneren
Spannungen manchmal noch deutlicher vor Augen fUhren als die Literatur,
in der die Interferenz mit der Prosa des Gedankens, der überall mit seiner
Reflexion eindringt, die Dinge oft verschleiert. Was Celans Botschaft aus-
drückt, hat seine eigentliche Schwere und gewiß auch seine, dramatische
Zuspitzung in den Furchtbarkeiten der im Zweiten Weltkrieg begangenen
Verbrechen. Aber es hat, formgeschichtlich und kunstphilosophisch gese-
hen, gleichwohl seine Vorbereitung bereits seit dem Anfang dieses Jahrhun-
derts.
Was ist in diesem ersten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg nicht schon
geschehen! Da haben wir die große Revolution der modernen Malerei, die
selber schon ihre Vorläufer hatte, z. B. in Hans von Marees oder in Paul
Cezanne, in denen die Bildfläche neu entdeckt wurde und der Tiefenraum
des Bildes wie in die Fläche geklappt erscheint. Wir haben in der Musik
ähnliche revolutionäre Findungen in Theorie und Praxis. Vom Formge-
sichtspunkt der Tradition aus gesehen scheinen es zersplitterte Maße, die
sich hier zu neuen, intensiv-sprechenden Gebärden vereinen, die selber wie
Texte sind. Man muß die hermetischen Texte, wie wir sie bei Celan lesen
lernen, am Beispiel solcher Texte erfassen, mit denen wir schon längeren
Umgang im Lesenlernen pflegen. Man erinnere sich der malerischen Revo-
lution, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der kubistischen
Formzertrümmerung auftrat, etwa in den Portraits von Picasso. Da ist es
eine Masse, die wie in tausend Splitter zersprungen ist und die unser auf
Gestalt und Form gerichtetes Sehen erst langsam aus a11 den Sinnfragmenten
2 Vgl. dazu ,Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan., in die5em Band, S. 452 ff.
3 Heraklit fr. 54: app.o~irz cirpavI}( lfKlVep;z( xptioOflW. In der Regel überKtzt man: .Die
verborgene Harmonie ist stärker als die offene .• Aber im Griecbiscben ist es derselbe
Wortstamm, der einmal in .verborgen. und ein andermal in lIlicbtverborgen. erscheine.
Vgl. im übrigen meine Heraklit-Studien in Ges. Werke Bd. 7, S. 43-82.
380 Im Schatten des Nihilismus
den Sinn des Ganzen erkennen läßt. So langsam, wie wir es eben in unseren
Gedichten lernten, in den eigentümlich gravitierenden Worteinheiten die
Anklänge zu realisieren, aus denen der Text besteht.
Wie da in den Imperativen des Beginns unseres Gedichts, so sind in einem
Portrait Picassos plötzlich Sinnfragmente erkennbar, ein Stück Na$e oder
ein paar Lippen oder ein Auge, und dann fängt man an, die verschiedenen
Schichten dieses zersplitterten Ganzen förmlich aufzublättern, bis man ein in
sich strukturiertes Ganzes und durch seine Strukturierung monumental
geformtes Ganzes vor Augen hat. Die kubistische Malweise war selbst nur
ein Versuch unter vielen, der nur wenige Jahre angehalten hat. Aber das
Verfahren der modemen Malerei ist nicht auf diese eine Manier beschränkt.
Wir fmden bei vielen großen Malern den gleichen entschlossenen Versuch,
bedeutungsträchtige Elemente, die sich von der Abbildbarkeit her deuten
lassen, immer mehr zu bloßen Sinnfragmenten herabzusetzen, die erst in
einer größeren Komposition sinnvoll mitzusprechen vermögen. Damit
wird dem Betrachter von solchen Bildern eine neue Aktivität zugemutet.
Wir können nicht mehr aus dem dichten Geflecht von Bedeutungsfulle des
Dargestellten und harmonischer Gestaltung die Aussage des durch Mal-
kunst Gesagten aufschließen4 •
Die gleiche Erfahrung bietet uns die modeme Musik in den gleichen
Jahren. Was mit Schönberg oder mit Anton von Webern begonnen hat, war
etwas nicht minder provozierend Neues. Plötzlich bekam man Stücke von
außerordentlicher Kürze vorgesetzt, die in ihrer komprimierten Gestalt eine
eigene machtvolle Ausstrahlung besitzen. Da ist es wie ein Dickicht von
Dissonanzen, von denen kaum noch zu erwarten scheint, daß Harmonie
daraus gebildet werden soll. Es ist auch wirklich keine Harmonie mehr, die
so leicht und sicher versprechlich auf uns wartet, wie die musikalischen
Auflösungen, von denen die Wiener Klassik weiß.
Und wie war es in der Literatur? Ich will nicht auf die tiefen Traditions-
brüche verweisen, die dem Roman seinen Helden und eine Handlung vorzu-
enthalten begannen oder dem Drama die Einheit der Charakterzeichnung.
Selbst in der Poesie, der lyrischen Gattung, die uns um Celans willen am
Herzen liegt, findet sich eine verbreitete Wandlung, die sich vom Naturalis-
mus und seinem deskriptiven Pathos grundsätzlich und radikal trennt. Ich
denke etwa an die großen poetischen Schöpfungen eines Mallarme und
seiner Nachfolger im Französischen, eines Stefan George im Deutschen. Ich
denke da vor allem an die Eliminierung der Rhetorik aus der Poesie. Poeti-
sche Bilder, aufgesetzte Glanzlichter oder Metaphern, die sich aus dem
kolloquialen Fluß der Rede als rhetorische Höhepunkte herausheben und die
4 Siehe dazu ,Begriffene Malerei?c, .Kunst und Nachahmung. und, Vom Verstummen
des Bildes. in Ges. Werke Bd. 8.
Im Schatten de~ Nihilismus 381
wir eben deswegen gerne Metaphern nennen, weil sie sich nicht in den
direkten Mitteilungsgehalt von Rede einfügen, sondern in eine andere Sphä-
re hinüberspielen, sind rhetorische Elemente, die aus der Dichtung ver-
schwinden. Sie kennt kaum noch Metaphern, sie ist in sich selbst Metapher.
Sie ist in sich selbst so, daß die Redebasis der alltäglichen Sprache ganz
verlassen scheint und ebenso die Basis gemeinsamer, sozusagen mythischer,
d. h. unbefragt bedeutungsträchtiger Inhalte, die aus der Tradition älterer
Jahrhunderte noch bis zu uns hinüberreichen. Wie sehr in der lyrischen
Poesie etwa der Reim im Verschwinden ist, wurde an den Celan-Gedichten
schon bemerkt. Das gehört mit in diesen Wandel, der auch anderen Formen
von Literatur ein neues Gesicht verliehen hat.
Zieht man die Summe aller Beobachtungen, so wird man den Intensitäts-
gewinn nicht verkennen können, der auf diese neue Weise entstanden ist.
Jeder, der einmal in einem der großen Museen war, in denen klassische
~unst und moderne Malerei in getrennten Sälen gezeigt werden, und der
sich nach dem Durchgang durch die klassischen Säle länger bei der neuen
Malerei verweilt und sich in sie eingelassen hat, dem wird, wenn er zurück-
geht, auf einmal die ganze vertraute, harmoniereiche Malerei der Renaissan-
ce und des Barock blasser vorkommen als bei dem ersten bewundernden
Durchgehen. Den gleichen Intensitätsgewinn erfahren wir an der neuen
Musik, wobei es gar nicht einmal wesentlich auf den Halt des Zwölftonsy-
stems ankommt. Die extreme Funktion der Dissonanz als solche ist das
offenkundig Neue gegenüber der klassischen Musik. Auch bei manchen
Erfahrungen, die wir an der Sprachkunst machen, hat sich - mit wesent-
lichen Anderungen freilich - das gleiche zeigen lassen.
Das ist der erste Bruch, an den wir uns bereits gewöhnt haben. Es war,
wie ich meine, der Bruch mit dem Bildungsbewußtsein des Historismus und
seiner Nachahmungsseligkeit. Wenn es auch Werke von Qualität, ja von
klassischer Art sind und wenn es auch schöne Bilder und schöne Gedichte
sind, an denen wir festhalten und die uns weiter begleiten, so ist doch die
Entwicklung des 20.Jahrhundem in die Richtung gegangen, daß diese
Formen trostreicher Versöhnung des Verderbens (um einen Hegeischen
Ausdruck zu gebrauchen), die uns die Kunst verhieß, im Schaffen heutiger
Kunst nicht mehr zu finden sind.
Hieran schließt sich der zweite Bruch, von dem Celan in seiner Büchner-
Preis-Rede besonders eindringlich gesprochen hat, der aber in unser aller
Bewußtsein wach ist. Es ist nicht nur die Abnutzung unserer mythischen
Vorstellungsinhalte durch das Bildungsbewußtsein einer zu Ende gehenden
bürgerlichen Epoche, das so tiefe Veränderungen heraufgerufen hat. Dar-
über hinaus ist es ein Erschrecken über die Unkraft dieser Bildungswelt. Das
hat uns angesichts der neuen Barbarei des 20. Jahrhunderts förmlich überfal-
len. Damit ist auch in das dichterische Sprechen eine neue Art von Intensität
382 Im Schatten des Nihilismus
[n seinen späteren Gedichtbänden nähert sich Paul Celan mehr und mehr der
atemlosen Stille des Verstummens im kryptisch gewordenen Wort. Im
folgenden soll eine Gedichtfolge aus dem Gedichtband )Atemwende( be-
trachtet werden. die zuerst 1965 unter dem Titel ,Atemkristall< in einer
bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde. Jedes der Gedichte hat seinen Ort in
einer Folge, und es wächst dem einzelnen Gedicht von da aus gewiß etwas an
Bestimmtheit zu - aber die ganze Folge dieser Gedichte ist hermetisch
verschlüsselt. Wovon ist die Rede? Wer redet?
Gleichwohl ist jedes Gedicht dieser Folge ein Gebilde von eindeutiger
Bestimmtheit, zwar nicht durchsichtig und von unmittelbar sprechender
Klarheit. aber doch nicht so, daß etwa alles verhüllt bliebe oder Beliebiges zu
bedeuten vermöchte. Das ist die Erfahrung des Lesens, die sich dem geduldi-
gen Leser ergibt. Gewiß darf es kein eiliger Leser sein, der hermetische Lyrik
verstehen und entschlüsseln will. Aber es muß keineswegs ein gelehrter oder
besonders belehrter Leser sein - es muß ein Leser sein, der immer wieder zu
hören versucht. .
Die besonderen Belehrungen, die ein Dichter über seine verschlüsselten
Schöpfungen zu geben vermag - auch Paul Celan sagte man nach, daß
solches Verlangen gelegentlich an ihn gerichtet wurde und daß er es freund-
lich zu befriedigen suchte -, haben stets etwas Mißliches. Bedarf es der
Auskunft über das, was ein Dichter sich bei seinem Gedicht gedacht hat? Es
kommt doch wohl allein darauf an, was ein Gedicht wirklich sagt - und
nicht, was sein Verfasser meinte und vielleicht nicht zu sagen verstand.
Gewiß kann der Wink des Verfassers, der auf den unverwandelten Zustand
des ,Stoffes< weist, auch bei einem in sich vollendeten Gedicht von Nutzen
sein und vor Fehlversuchen des Verstehens bewahren. Aber es bleibt eine
gefährliche Hilfe. Wenn der Dichter seine privaten und okkasionellen Moti-
384 Wer bin Ich und wer bist Du?
Das ist wie ein Proömium der ganzen Folge. Es ist ein schwieriger Text, der
seltsam unvermittelt beginnt. Das Gedicht ist von einem scharfen Kontrast
beherrscht. Schnee, das Gleichmachende, Kältende, aber auch Stillende,
wird hier nicht nur hingenommen, sondern begrüßt. Denn der Sommer, der
hinter dem Sprechenden liegt, war offenbar in der überfUUe seines Trei-
bens, Knospens und Sich-Entfaltens kaum zu ertragen. Gewiß ist es kein
wirklicher Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, so wenig das angere-
dete Du etwa den Winter meint oder wirklichen Schnee anbietet. Offenbar
war es eine Zeit der überfülle, der gegenüber die karge Armut des Winters
wie eine Wohltat wirkt. Der Sprechende schritt Schulter an Schulter mit
dem unermüdlich treibenden Maulbeerbaum durch den Sommer. Der
Maulbeerbaum ist ohne Zweifel hier der Inbegriff treibender Energie und
immer neuen üppigen Herausbildens neuer Triebe, ein Symbol unstillbaren
Lebensdurstes. Denn anders als anderes Gesträuch treibt er nicht nur im
Frühjahr frische Blätter, sondern den ganzen Sommer hindurch. Es scheint
mir nicht richtig, an die ältere metaphorische Tradition der Barockpoesie zu
denken. Zugegeben, daß Paul Celan auch ein Poeta doctus war - noch mehr
war er ein Mann von ganz erstaunlicher Naturkenntnis. Heidegger hat mir
erzählt, daß Celan im Schwarzwald hoch oben über Pflanzen und Tiere
besser Bescheid wußte als er selber.
Auch hier muß man in erster Näherung so konkret wie möglich verste-
hen. Dabei gilt es freilich, die Sprach bewußtheit des Dichters richtig einzu-
schätzen, der Worte nicht nur in ihrem klaren Gegenstandsbezug nimmt,
sondern beständig mit dem spielt, was in den Worten an Bedeutungen und
Nebenbedeutungen anklingt. So fragt es sich hier, ob der Dichter etwa mit
dem Wortbestandteil »Maul« auf die Maulhelden des Wortes anspielt, deren
Geschrei er nicht mehr erträgt. Selbst wenn das so ist, bleibt aber die
Forderung präziser Kohärenz als erste bestehen und muß zunächst erfüllt
werden. Der Pflanzenname »Maulbeerbaum« ist ganz geläufig, und wenn
man dem dichterischen Zusammenhang folgt, in dem der Name auftritt, so
ist es dort ganz eindeutig, daß das Gedicht nicht auf die Maulbeere oder das
Maul verweist, sondern auf das frischgelbe Grün, das an Maulbeerbäumen
unermüdlich den ganzen Sommer über sprießt. Von da muß auch jede
weitere Transposition ihre Sinnrichtung empfangen. Und wir werden se-
hen, daß diese weitere Transposition des Gesagten am Ende in die Sphäre des
Wer bin Ich und wer bist Du? 387
Schweigens oder des sparsamsten Redens weist. Aber offenkundig wird hier
durch die Parallele mit dem Maulbeerbaum überhaupt nicht auf die Maul-
beere. sondern auf die sprießende Oppigkeit des Laubwerks gewiesen. So
wird der Doppelsinn von »Maul« nicht durch den Kontext getragen. son-
dern es ist der Schrei des Blattes. auf den sich die Sinnbewegung grundet.
Das steht scharf akzentuiert als das letzte Wort des Gedichtes im Text. Es ist
also das Blatt und nicht die Beere, was die Transposition in das eigentlich
Gesagte trägt. In einer Ebene der Obertöne mag man dann von dem Schrei
auf den Wortbestandteil »Maul« zurückgewiesen werden und diesen mit
Rede zusammenbringen. Es gibt ja den Maulhelden. Und das könnte in
unserem Zusammenhang alles eitle und leere Reden und Dichten anklingen
lassen. Das ändert aber nichts daran, daß das Wort »Maulee als selbständige
Sinneinheit überhaupt nicht auftritt, sondern nur als einleitende Bedeutung
von »Maulbeerbaume!. Die Beere des Maules statt der Blume des Mundes,
das scheint mir nicht der Weg, von der ersten Ebene des Sagens in die
Transpositionsbewegung des Besagens überzuleiten, in die ein solches viel-
schichtiges Gedicht versetzt.
Um so mehr ist nun zu fragen, was das ist, was das Gedicht )besagte, das
heißt, worauf der Sinnvollzug des Wortlauts hinauswill. Achten wir auf
einzelnes. »Schulter an Schultere!: Mit dem Maulbeerbaum Schulter an
Schulter schreiten heißt offenbar, nicht hinter ihm zurückbleiben und so
wenig, wie er es mit seinem Wachsen tut, je einhalten - und das wäre hier:
einkehren bei sich selbst. Ferner muß manjedenfalls beachten, daß es »sooft"
heißt. In dieser Betonung wiederholten Weges liegt, daß sich die Hoffnung
des immer aufs neue aufbrechenden Wanderers nie erfüllt, ~uch nur ein
einziges Mal still und stumm vom Maulbeerbaum des Lebens begleitet zu
werden. Immer war neues Treiben, das wie der durstige Schrei des Säug-
lings fordert und nicht zur Ruhe kommen läßt.
Fragen wir weiter, wer mit dem ersten »Du« angeredet ist. Wohl nichts
Bestimmteres als das andere oder der andere, das nach diesem Sommer des
ruhelosen Schreitens einen empfangen soll. Da immer wieder ein neuer
Schrei des Lebensdurstes das Ich begleitete, ist ihm im Kontrast der Schnee
willkommen, dies Einförmige, in dem keinerlei Verlockung und Reiz mehr
ist. Gerade das aber ,soll eine Bewirtung sein, das heißt das WiIlkommenge-
heißene. Wer will das festlegen, was da zwischen Verlangen und Verzicht,
zwischen Sommer und Winter, Leben und Tod, Schrei und Stille, Wort und
Schweigen spielt? Was in diesen Versen steht, ist Bereitschaft, dies andere
anzunehmen, was immer es sei. So scheint es mir durchaus möglich, solche
Bereitschaft am Ende geradezu als Todesbereitschaft zu lesen. das heißt als
die Annahme des letzten, äußersten Gegensatzes zu allzu viel Leben. Es ist ja
unzweifelhaft, daß das Todesthema bei Celan stets. auch in diesem Zyklus,
gegenwärtig ist. Gleichwohl gilt es, sich der besonderen Kontextbestimmt-
388 Wer bin Ich und wer bist Du?
heit zu erinnern, die diesem Gedicht als Proömium eines Zyklus zukommt,
der >Atemkristall< heißt. Das weist einen auf die Sphäre des Atems und damit
auf das von ihm geformte Sprachgeschehen.
So fragen wir erneut: Was heißt hier »Schnee«? Ist es die Erfahrung des
Dichtens, auf die hier angespielt wird? Ist es vielleicht gar das Wort des
Gedichtes selbst, das sich hier aussagt, sofern es in seiner Diskretion.die
winterliche Stille gewährt, die wie eine Gabe dargeboten wird? Oder meint
es uns alle und ist dann jenes Stummsein nach zu vielen Worten. das wir alle
kennen und das uns allen als eine wahre Wohltat erscheinen kann? Die Frage
ist nicht zu beantworten. Das Unterscheiden hier zwischen Ich und Du.
zwischen dem Ich des Dichters und uns allen, die sein Gedicht erreicht.
mißlingt. Das Gedicht sagt es dem Dichter so gut wie uns allen. daß die Stille
willkommen ist. Es ist dieselbe Stille. die bei der Wende des Atems, diesem
leisesten Wiederbeginn des Atemschöpfens, zu hören ist. Denn dies vor
allem ist >Atemwende<, die sinnliche Erfahnmg des lautlosen, reglosen
Augenblicks zwischen Ein- und Ausatmen. Ich will nicht leugnen, daß
Celan diesen Moment des wendenden Atems, den Augenblick, da der Atem
umkehrt, nicht nur mit dem reglosen Ansichhalten verknüpft, sondern die
leise Hoffnung mitklingen läßt, die mit aller Umkehr verbunden ist. So sagt
er in der Meridian-Rede: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.«
Aber schwerlich wird man deshalb die diese Folge beherrschende Bedeu-
tung des >leisen< Atems abschwächen dürfen. Dies Gedicht ist ein wahres
Proömium, das wie in einer musikalischen Komposition mit dem ersten
Ton die Tonlage rur das Ganze angibt. Die Gedichte dieser Folge sind in der
Tat so leise und fast unmerklich wie die Atemwende. Sie geben von einer
letzten Lebensbeklemmung Zeugnis und stellen zugleich auch immer aufs
neue ihre Lösung dar - oder besser: nicht ihre Lösung, aber ihr Aufsteigen
zur festen Sprachgestalt. Man hört sie so, wie man die tiefe Winterstille hört,
die alles einhüllt. Ein Leisestes fällt in Kristall aus, ein Kleinstes, Leichtestes
und zugleich Genauestes: das wahre Wort.
Wer bin Ich und wer bist Du? 389
Von Ungetcäumtem geätzt,
wirft das schlaflos durchwanderte Brotland
den Lebensberg auf.
Aus seiner Krume
knetest du neu unsre Namen,
die ich, ein deinem
gleichendes
Aug anjedem der Finger,
abtaste nach
einer Stelle, durch die ich
mich zu dir heran wachen kann,
die helle
Hungerkerze im Mund.
Ein Maulwurf ist tätig. Man sollte dies als durch primäre semantische
Gegebenheit Evozierte nicht abstreiten. »Aufwerfen« ist eindeutig. Daß das
Subjekt dieses »Aufwerfens« das »Brodand« ist, kann nicht beirren, sondern
nur die erste Transposition einleiten - von dem Maulwurf auf die blinde
Lebensbewegung hin, die wie eine schlaflose Wanderung erscheint, die
durch das »Brocland« geht. Das evoziert Brotarbeit und Broterwerb und
alles, was mit dieser Lebenshypothek impliziert ist. Nun sagt das Gedicht:
Was das rastlos wühlende Wesen treibt, das wir Leben nennen, ist unge-
träumter Traum. Es ist also ein Versäumtes oder ein Verwehrtes, das durch
seine beständige Schärfe immer weitertreibt: es »ätzt«. Atzende Säure, die
von dem ausgeht, das durch seine Verweigerung versehrt, ist eine der
Leitmetaphern des Zyklus, den wir betrachten, und wohl des Menschen-
schicksals, wie es der Dichter sieht. Was durchwandert Wird, ist das Brot-
land, das einen zwar satt zu machen verspricht, aber das Wandern führt
nirgends hin. Dies Wandern und Wühlen geschieht »schlaflos«, d. h., es gibt
keine Einkehr in Schlaf und Traum, und so wird der Hügel mehr und mehr
aufgeworfen. Er wird ein ganzer Lebensberg. Aber hier klingt das so, als ob
das Leben unter seinem immer lastenderen Gewicht begraben wird. Es zieht
seine Spur. so wie der Maulwurf seine Gänge durch sein Aufwerfen der
Hügel erkennen läßt.
In der Tat, der IILebensberg« sind wir, mit dem Ganzen unserer sich
auftürmenden Erfahrung. Das zeigt die Fortsetzung: »Aus seiner Krume
knetest du neu unsre Namen«. Möglich, daß hier bestimmte biblische oder
jüdisch-mystische Anspielungen darinstecken. Aber auch wenn man sie nicht
kennt, sondern nur die Verse der Genesis im Ohr hat und sie zugleich hinter
sich läßt, gewinnt der Celansche Vers einen Sinn. Wenn es die schwere Fracht
des Lebens ist, woraus unsre Namen neu geknetet werden, so muß es doch
wohl das Ganze unserer Welterfahrung sein, was sich aus diesem Erfahrungs-
stoffaufbaut. Das heißt hier »unsre Namen ... Der Name ist ja das, was uns
390 Wer bin Ich und wer bist Du?
anfänglich gegeben wird und das wir noch gar nicht sind. Niemand kann in
der Namensgebung wissen, was der sein wird, den er so tauft. So ist es mit
allen Namen. Sie alle werden erst im Laufe des Lebens das, was sie sind: So wie
wir werden, was wir sind, wird auch erst, was die Welt fUruns ist. Das besagt,
daß die »Namen« beständig neu geknetet werden, oder sie sind mindestens in
einer fortdauernden Formung begriffen. Von wem, wird nicht gesagt. Aber
es ist ein Du. Die Alliteration von »neu« und »Namen« schließt die zweite
Vershälfte so zusammen, daß auf die Mitte der Akzent eines leichten Hiats
fällt, der in der nächsten Zeile nachwirkt. Da vereinzelt sich das allen
Gemeinsame - unsere »Namen« - plötzlich zu einem Ich: »die ich ... ce Mit
dem Ich plötzlich erst gewinnt die Bewegung des Lebens ihre eigentliche
heimliche Richtung, sofern das Ich gegen die beständig wachsende Verdek-
kung anstrebt und DurchIaß ins Freie sucht. Nicht erstickt unter dem
wachsenden Lebenshügel oder Lebensberg, der hier aufgeworfen wird, ist
das Ich immernoch tätig und aufder Suche-nach Sehen und Helle, wenn auch
blind wie der Maulwurf.
Nur das Nächste kann »ich« wahrnehmen mit tastender Hand. Aber
immerhin ist es Wahrnehmen: Unser blindes Auge ist »deinem« gleichend.
Vielleicht spielt der Dichter hier auf die Maulwurfshand an, diese eigentüm-
lich geformten hellen Flächen der Grabehand des Maulwurfs, mit der er seine
Gänge gräbt, die ihn im Dunkeln weiterführen bis hin zu dem Hellen des
Ausgangs. In jedem Falle besteht die Spannung zwischen dem Graben im
Dunkeln und dem Streben nach dem Licht. Der Weg im Dunkeln ist aber
nicht nur der Weg, der ins Helle fUhrt, sondern ist selbst ein Weg der Helle,
selbst ein Hellsein. Man beachte, wie sich in der vorletzten Zeile »die helle«
durch das Fürsichstehen dieses Attributs förmlich ausbreitet. Es ist eine
besondere Helle. Denn es ist die Tätigkeit des Ich, das hier am Werke ist, und
sie ist nichts als Wachen (»heranwachencc). Wachen aber nimmt den Verzicht
aufSchlafund Traum auf, von dem eingangs die Rede war, und ebenso ist in
»Hungerkerzecc Hungern gemeint, d. h. das Verschmähen des sättigenden
Brotes, das den Lebensberg beschwert. So ist dies Beharren auf der Helle und
dem Drang nach Helle wie eine Leistung des Fastens. Das Schlußbild von der
,>Hungerkerze im Mund« legt das durch ein bestimmtes religiöses Ritual aus,
und damit wird das Du, das Gesuchte, als kul tisch Verehrtes gekennzeichnet.
Wie mir Tschizewskij erzählt hat, gibt es auf dem Balkan einen Brauch der
Hungerkerze, der das fromme Fasten vor allen sichtbar macht (an der
Kirchentür) - eine Art Gebets- und Bittfasten, das die Eltern, die auf die
Rückkehr des Sohnes hoffen, auf sich nehmen. Analog ist es ein >Fasten<, das
hier das Streben nach der Helle begleitet. Aber das Besondere dieses Fastens ist
offenbar, daß das ins Helle Strebende die Hungerkerze im Munde hält. Das soll
doch wohl heißen, daß es sich nicht um Fasten handelt, sondern daß das Ich
sich all die reichlich sä ttigenden Worte verbietet, mit denen man sich im Leben
Wer bin Ich und wer bist Du? 391
abfindet-um selber rur das wahre, erleuchtete Wort fähig zu werden. So wird
das Ritual sprechend fur eine Glaubensleistung ganz anderer Art. Es gibt
offenbar kein Ritual der Hungerkerze im Mund! Mit dieser paradoxen Verbin-
dung bricht das Gedicht vielmehr den evozierten Fastenbrauch um. Es ist ein
anderes Fasten, und das, wofür es geschieht, ist auch ein anderes. Wie mir
Milojcic erzählt, kennt er den Brauch der Hungerkerze anders: Wennjemand
verarmt war und ihm seine frühere gesellschaftliche Stellung verbot, betteln
zu gehen, legte er sich verhüllt mit der Hungerkerze an die Kirchentür, um
ungesehen und ohne zu sehen Gaben zu empfangen. Danach wäre es nicht
freiwilliges Fasten. sondern die Not des Hungems selber, was durch die Kerze
angezeigt wird. In jedem Fall heißt es »im Mund« - es geht um das wahre
Wort, nach dem ich hungere oder das ich herbeihungere. Das kann man,
meine ich, auch ohne folkloristische Information erraten, wenn man nur über
die Spannung zwischen ritueller Hungerkerze und dem »im Mund« nach-
denkt. Spielt die Hungerkerze wie alle Kerzen obendrein darauf an, daß
unserem hungernden Streben in die Helle eine Frist gesetzt ist? Vielleicht.
Jedenfalls aber: man läßt nicht ab, nach der Helle zu streben, indem man die
»Namen« abtastet. Die Bewegung des Gedichts ist deutlich eine zweigeteilte:
Die eine Bewegung vollfUhren alle. indem ungeträumte Träume sie treiben
und eine immer längere Lebensspur zeichnen und einen immer schwerer
lastenden Berg aufwerfen. Die andere Bewegung ist die unterirdische des Ich,
das wie ein blinder Maulwurfins Helle drängt. Man denkt anJacob Burck-
hardt: »Der Geist ist ein Wühler.«
Folgen wir der Transpositionsbewegung, in die wir gerieten, noch einmal:
Wer ist hier das Du, das die Namen neu knetet, das ein wahrhaft sehendes
Auge besitzt. das wahrhafte Sättigung und Erhellung verspricht? Wen meint
"ich« und wen »du«? Der übergang zum Ich ist plötzlich und stark akzentu-
iert. Es hebt sich aus dem allen gemeinsamen Geschick heraus. Der Lebens-
berg aller wird beständig aufgeworfen, und aus ihm bildet sich Sinn und
Sinnlosigkeit eines jeden Lebens. So werden unser aller »Namen« geknetet.
A ber es sind nicht alle, es ist das eine Ich, das hier »ich« meint, das diese Namen
abtastet. Das Tun des Dichters klingt an, der es mit den Namen. mit allen
Namen, versuch t. Es bestätigt sich also: »Name« meint nicht nur die Namen
der Menschen. Es meint sicherlich deI) ganzen Berg der Worte, es meint die
Sprache, die über alle Erfahrung des Lebens gelagert ist wie eine deckende
Last. Sie ist es, die »abgetastet«, d. h. auf ihre Durchlässigkeit geprüft wird,
ob sie nicht doch irgendwo den Durchbruch ins Helle gewährt. Mir scheint, es
ist die Entbehrung und die Auszeichnung des Dichters, was hier beschrieben
wird.' Aber ist es nur die des Dichters?
392 Wer bin Ich und wer bist Du?
In die Rillen
der Himmelsmünze im Türspalt
preßt du das Wort,
dem ich entrollte,
als ich mit bebenden Fäusten
das Dach über uns
abtrug, Schiefer um Schiefer,
Silbe um Silbe, dem Kupfer-
schimmer der Bettel-
schale dort oben
zulieb.
Das sind bittere Zeilen. In den Ausgaben liest man statt »Himmelsmünze«
11 Himmelssäure« . Dies wird zu berichtigen sein. Aber die Frage bleibt, wie die
Lesart der Ausgaben zu verstehen war. Denn ohne Zweifel hat man es in
gewissem Umfang verstehen können. Dafür spricht nicht nur das Verhalten
des Dichters als solches, der-nach Berichten- beim Bemerken des Druckfeh-
lers höchst gleichmütig blieb. Die Sinnkohllrenz des Ganzen ist im ganzen
stark genug, damit Einzelteile austauschbar sein könneni. Das hat seinerzeit
schon Walter Benjamin unter dem Begriffldas Gedichtete< beschrieben. Wäre
es nicht so, dann wäre alle Auslegung, die mit unsicheren Vermutungen
arbeiten muß, ohne Wert. Wir erörtern die beiden Lesarten nebeneinander,
um eine jede von beiden im Ganzen des Gedichtes zu orten. -
Zwischen der ätzenden Schärfe der Himmelssäure, von der wir offenbar
durch eine niemals sich öffnende Tür geschieden sind und die rur uns gewiß
auch unerträglich wäre, und der kupfernen Bettelschale »dort oben« spannt
sich der Bogen eines einzigen Satzes. Eine Theologie des sich verweigernden
Himmels liegt zugrunde. Doch die Tür ist undicht. Die Himmelssäure. gegen
die wir durch die Tür abgedichtet sind. hat Rillen in den Türspalt geätzt, und
so kommt etwas hindurch. Was hindurchkommt, ist das Wort. Offenbar
wird die Metapher der ätzenden Säure deshalb vom Himmel gesagt, weil er
sich verweigert. Als der sich verweigernde hat er seine verzehrende Schärfe-
und doch sucht man jeden Tropfen dessen. was da zu uns gelangt - eben» das
Wort~.
Doch nun hat man zur Kenntnis zu nehmen. daß es im Text nicht
»Himmelssäure«. sondern »Himmelsmünze« heißt. Damit ist die Bildvor-
stellung eine gänzlich andere. Der Genitiv lIder Himmelsmünze« ist" auf
»Rillen« natürlich nicht mehr kausativ bezogen, sondern als ein subjektiver
Genitiv zu verstehen: die Münze hat Rillen. Wenn man fragt. wie kommt die
Münze in den Türspalt? - so hat man keine Antwort. Genug, daß sie
darinsteckt. Man stellt sich vor, daß sie dazu dienen sollte, die Tür zu öffnen,
aber diese öffuetsichnicht, gibt keinen wirklichen Eintritt. Statt dessen dringt
1 Vgl. dazu unten, S. 435.
Wer bin Ich und ~c:r bist Du? 393
durch die Tür etwas heraus. Nun ist es offenbar so, daß die Rillen der Münze
die Tür undicht machen. Worauf es anzukommen scheint, das ist, daß nicht
die Münze selbst als legitime Einlaßgebühr für den Himmel (oder als Aus-
gangs- und Durchlaßgebühr aus dem Himmel?) die kleine Durchlässigkeit
schafft, sondern etwas, das an ihr ist und das zwar auf ein blankes, neugepräg-
tes Geldstück weist, aber nichts mit seinem Münzwert zu tun hat. Das ist recht
dunkel. Handelt es sich um ein raffiniertes Symbol für Gnade? Jedenfalls hatte
der Versuch, die Einlaßgebühr zu entrichten, keinen Erfolg. Was aus diesem
sich verweigernden Himmel allein bei uns ist, ist »das Wort«. Ist das so
gemeint? So lutherisch?
Gewiß ist freilich, daß die Himmelsmünze der Bettelschale .. dort oben!f
entspricht. Beides hat auf ein unerreichbar Jenseitiges Bezug. In der Bettel-
schale werden Münzen gesammelt (Himmelsmünzen ? Münzen für den Him-
mel?) - und zu diesem ärmlichen Schatz scheint der hinzustreben, der seine
Bestimmung aus dem •• Wortn herleitet, dem einzigen, das aus dem ganzen
Reichtum des Himmels bei uns ist.
In der Tat, es sind bittere Zeilen, welche der beiden Lesarten man auch
zugrunde legt. Das jedenfalls steht fest, daß nichts aus jenem Himmel
verlautet als das, was »du« - wieder dieses unbekannte Du - durch die
Undichte der versperrenden Tür preßt. Es ist keine strömende Heilsbot-
schaft, sondern ein mühsam erpreßtes Wort, und obendrein scheint es wie
eine seltsam verkehrte Mühe. Denn offenbar sind nicht wir es, die sich
mühen, da hineinzukommen oder da herauszukommen, sondern »das Wort«
soll offenbar heraus. So will es das Du. Meint das, daß wir gegen die Wahrheit
versperrt sind und die Wahrheit uns gar nicht verweigert wird? Halten wir
sozusagen die Tür zu oder finden den Schlüssel nicht, weil wir an die
Gültigkeit unserer Münze glauben? Ich stelle alle diese Fragen in dem Be-
wußtsein, daß jedenfalls die Theologie des Deus absconditus anklingt.
Eine weitere Schwierigkeit: Wenn das Wort heraus und da ist, bin »ich« es,
der ihm »entrollte«. Wer- ich? Bin ich aus dem Wort? Bin ich das Wort, wie
alle Kreatur ein Schöpferwort ist? Ist es das Wort, aus dem ich komme, zu dem
ich nun und immerzu zurückstrebe? Das gäbe auch bei der äußersten Gottes-
ferne Sinn. Denn unter dem Dach der Sprache leben wir alle. Vielleicht gilt
auch von uns allen, daß einjeder von uns das Dach, das uns allen gemeinsamen
Schutz gewährt, weil es den Durchlaß und Ausblick nimmt, gleichwohl
abtragen möchte, um nach oben, ins Freie zu blicken. Vor allen anderen ist es
gewiß der Dichter, der hier von sich sagt, was vielleicht für uns alle gilt. Die
Decke der Worte ist wie ein Dach über uns. Sie sichern das Vertraute. Indem
sie aber uns ganz mit Vertrautheit umschließen, verhindern sie jeden Ausblick
in das Unvertraute. Der Dichter - oder wir alle? - sucht Silbe um Silbe, das
heißt mühsam und unermüdlich, abzutragen, was verdeckt. Offenbar ent-
spricht dieses Abtragen •• Silbe um Silben dem, was im vorigen Gedicht als das
394 Wer bin Ich und wer bist Du?
Abtasten der Namen und das Heranwachen begegnete. Hier wie dort scheint
eine verzweifelte Anstrengung dessen. der ins Helle, nach oben strebt.
beschrieben.
Aber gelangt man je zum Ziele? Die Antwort des Gedichtes ist nieder-
schmetternd. Was hier durch die Arbeit der bebenden Fäuste allenfalls erreicht
wurde. wäre in Wahrheit nichts als die kupferne Bettelschale mit ihrem
jenseitigen Schimmer. Daß eine ganz gewöhnliche Bettelschale auf einer
Pariser Straße den Dichter inspiriert hat. wie mir BoHack erzählt hat. ändert
nichts daran. daß hier von einer ))Bettelschale dort oben« die Rede ist und
damit eine bestimmte Transposition von uns verlangt wird. Das Gedicht
versetzt die Bettelschale in den Zusammenhang von Heiligkeit und Heilsver-
langen. Freilich. mit welcher Tönung? Der Erwartung? Kaum. Eher so: wir
reichen nicht weiter mit unserer Vorstellung von Heil als noch gerade an die
Bettelschale. in der die Opfergaben gesammelt werden -im Kirchenraum das
profanste aller Geräte. Oder auch: wir reichen nur bis an die dürftige
Mildtätigkeit einer )Sammlung<. in der weder Wärme noch Liebe ist. Jeden-
faUs ist es nicht einmal etwas von wahrhaft Heiligem. das auf mich wartet,
wenn ich das schützende Dach abzutragen suche. Es ist kaum der Abglanz des
Heiligen. Oder ist es überhaupt nichts Heiliges, sondern etwas. das vielleicht
wie Heiliges, aber in falschem Schimmer glänzt?Jedenfalls ist der verzweifelt
sich Anstrengende voll von Bitterkeit und sich der Enttäuschung bewußt. die
auf ihn wartet.
Doch lassen wir einmal alle Theologie beiseite und prüfen die einzelnen
Wendungen. Was heißt es, daß ich dem Wort entrollte? Bei der Wendung
lIentrollte« und im Abtragen IISilbe um Silbe« denkt man zunächst an die
Tätigkeit des Entrollens einer Schriftrolle und des Entziffems eines Urtextes,
wie er etwa das dichterische Wort sein könnte. Hier ist aber das Wort
))entrollte« intransitiv gebraucht. 11 Ich entrollte« dem von oben durchsickern-
den Wort. diesem geringsten Tropfen einer jenseitigen himmlischen Sub-
stanz. Das klingt paradox. Nicht ))ich« bin es. der Silbe um Silbe das Wort-
wie eine Schriftrolle - entrollte, sondern ))das Wort« ist es, dem ich selber
entrollte. Es ist offenbar so, daß der Dichter selber aus dem Worte kommt und
daß seine ganze Anstrengung darauf geht. dies Wort wieder zu erreichen, aus
dem er kommt und das er als das Seine weiß. Kein Zweifel, daß dies atemlos
verzweifelte Suchen nach dem Wort über all den Silben und Wörtern dem gilt,
was »das Wort« - das wahre Wort - ist: das Wort, in dem der, der das Wort
sucht, selber darin ist. Das scheißt in der Tat so, daß es der Dichter ist, der hier
von sich "ich« sagt und der ganz im WOrt lebt. Die Aufgabe des Dichters
besteht eben darin, daß er nach dem wahren Wort, das nicht das übliche
schützende Dach aller Tage ist, sondern das von jenseits her ist, wie nach
seiner wahren Heimat strebt und deshalb Silbe um Silbe das Gefüge der
alltäglichen Worte abtragen muß. Er muß gegen die verbrauchte, gewöhnli-
Wer bin Ich und wer bist Du? 395
ehe, verdeckende und alles einebnende Funktion der Sprache ankäm pfen, um
den Blick in den Schimmer dort oben freizulegen. Das ist Dichtung.
Aber es ist noch etwas anderes darin. Es heißtja, der Dichter entrollte dem
Wort, als er in seinem Dichten, Wort um Wort, nach seiner Herkunft aus dem
wahren Wort aufschaut, und kann doch von dem Heiligen nie mehr gewahren
als seinen profansten, ärmlichsten Schimmer - vielleicht sogar: seinen fal-
schen, durch das Betteln entstellten Glanz. Damit gewinnt das Entrollen eine
noch andere, negative Tönung. Mit dem Abtragen des Daches, dem Suchen
der rechten Worte (11 als ich abtrug(!) kehrt er nicht heim, sondern verliert sich
der Dichter gerade. Er »entrollte« dem Wort, das er eigentlich ist, wird
hoffnungslos von ihm geschieden und ist vergeblich - limit bebenden Fäu-
sten« - bemüht, zu ihm zurückzugelangen. »Wir übersetzen, ohne den Urtext
zu haben« (G. Eich). Und wieder fragt man sich: Ist es wirklich nur der
Dichter, d.::m dies widerfährt, daß das eigentliche Wort unerreichbar bleibt,
obwohl es sein eigenstes ist? Oder ist es vielmehr unser aller Erfahrung, von
dem eigentlichen Wort und seiner Wahrheit geschieden zu sein, gerade
dadurch, daß man Worte macht und daß man limit bebenden Fäusten« auf
etwas hin tätig ist, das man haben möchte, das nicht erreichbar ist-und das am
Ende gar nicht einmal so ist, daß es die Mühe lohnt?
Man muß das Gedicht in seinem Zeilenbruch nicht nur genau lesen, man muß
es so auch hören. Celans meist sehr kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr
genau. Bei breiter strömenden Versen, wie etwa den Duineser Elegien, die
ohnehin viel technischen Zeilenbruch, insbesondere in den der Erstauflage
folgenden Drucken, nicht vermeiden konnten, sind nur sehr ddJtliche Ver-
szäsuren von so siegelhafter Prägnanz wie die Schluß zeilen dieser Gedichte
Celans. In unserem Falle ist der Schlußvers ein einziges Wort: »Schatten« -ein
WOrt, das sO schwer sich senkt wie das, was es bedeutet. Indessen, es ist ein
Schluß, und wie jeder Schluß rückt er die Maße des Ganzen fest. Auch der
evozierten Bedeutung nach: >Schatten fallen( heißt immer auch: sie werden
geworfen. Wo Schatten fallen und verdunkeln, ist immer auch Licht mit da
und das Lichte, und wirklich, es wird hell in diesem Gedicht. Was es evoziert,
ist Klarheit und Kälte eisnahen Gewässers. Die Sonne durchscheint das
Wasser bis aufden Grund. Die Steine, die das Netz beschweren, sind es, die die
Schatten werfen. Das ist alles höchst sin~ich und konkret: Ein Fischer wirft
396 Wer bin leh und wer bist Du?
das Netz aus, und ein anderer hilft ihm dabei, indem er das Netz beschwert.
Wer ist Ich? Und wer ist Du?
Das Ich ist ein Fischer, der das Netz auswirft. Auswerfen des Netzes ist eine
Handlung reiner Erwartung. Wer das Netz ausgeworfen hat, hat alles getan,
was er tun konnte, und muß warten, ob etwas sich fängt. Es wirdnicht gesagt,
wann diese Handlung vollzogen wird. Es ist eine Art gnomischer Gegen wart,
d. h., es geschieht immer wieder. Das wird durch das pluralische »in den
Flüssen« unterstrichen, das nicht wie das naheliegende IGewässern< eine
unbestimmte Orts angabe bedeutet, sondern sehr bestimmte Plätze, die man
aufsucht, weil sie Fang verheißen. Diese Plätze liegen alle »nördlich der
Zukunft«, d. h. noch weiter draußen, außerhalb der gewohnten Wege und
Fahrten, dort, wo keiner sonst fischt. Es ist offenbar eine Aussage über das
Ich, nämlich daß es ein Ich solcher besonderer Erwartung ist. Es erwartet das
Zukünftige dort, wo keine Erwartung der Erfahrung hinreicht. Aber ist nicht
jedes Ich ein Ich solcher Erwartung? Ist nicht injedem Ich etwas, das in eine
Zukunft ausgreift, die hinaus liegt über das, womit man zukünftig rechnen
kann? Das Ich, das so anders ist als die anderen, ist gerade das Ich eines jeden.
Nun beruht der kunstvoll gespannte Bogen dieses Gedichtes, das ein
einziger schlichter Satz ist, darauf, daß das Ich nicht alleine ist und nicht allein
den Fischfang durchführen kann. Es bedarf des Du. Betont steht das »du« am
Ende der zweiten Zeile, wie angehalten, wie eine unbestimmte Frage, die sich
erst durch den Fortgang des dritten Verses - oder besser: der zweiten Hälfte
des Gedichts - mit ihrem Sinn erfüllt. Hier wird ein Tun sehr genau beschrie-
ben. »Zögernd beschwerst« meint nicht ein inneres Zögern der Unentschie-
denheit oder des Zweifels, das das Du, wer es auch sei, die Zuversicht des
fischenden Ich nicht ganz teilen läßt. Es wäre völlig mißverstanden, wenn
man in das »zögernd« diesen Sinn legen würde. Was beschrieben wird, ist
vielmehr das Beschweren des Netzes. Wer das Netz beschwert, darf nicht
zuviel tun und nicht zuwenig; nicht zuviel, damit das Netz nicht absinkt, und
nicht zuwenig. damit es nicht obenhin treibt. Das Netz muß, wie der Fischer
sagt, Istehen<. Von hier bestimmt sich das Zögernde des Beschwerens. Wer
das Netz beschwert, der muß vorsichtig Stein auf Stein hinzutun wie auf eine
Waagschale, in der man das Gewicht von etwas wägt. Denn es kommt darauf
an, den richtigen Augen blick des Gleichgewichts zu treffen. Wer das beim
Beschweren des Netzes tut, hilft, daß der Fang überhaupt möglich wird.
Die sinnliche Konkretion des Vorgangs ist aber kunstvoll ins Imaginäre
und Spint\.lelle gehoben. Schon die erste Zeile nötigte durch die sinnlich
uneinlösbare Fügung »nördlich der Zukunft«, die Aussage in ihrer Allge-
meinheit zu verstehen. Die gleiche Funktion übt in der zweiten Hälfte die
nicht minder uneinlösbare Fügung einer Beschwerung mit Schatten aus, und
gar »mit von Steinen geschriebenen Schatten«, Wie dort der Mensch als das
Wesen der Erwartung in der sinnlichen Gebärde des Fischers sichtbar wurde,
Wer bin Ich und wer bist Du? 397
so bestimmt sich hier, was Erwartung ist und möglich macht, näher. Denn
offenbar sind hier zwei Handlungen in ihrem Zusammenspiel gezeigt: das
Auswerfen und das Beschweren des Netzes. Zwischen ihnen ist eine geheime
Spannung, und doch sind sie das einheitliche Tun, das allein Fang verheißt.
Gerade der geheime Gegensatz zwischen Werfen und Beschweren ist es, auf
den es ankommt. Man würde mißverstehen, wenn man die Beschwerung als
eine Hemmung des reinen Wurfs in die Zukunft verstünde, als eine Trübung
der reinen Erwartung durch die besch werende Einsicht in das, was nach unten
zieht. Der Sinn der Spannung ist vielmehr, daß nur durch sie die Leere des
Erwartens und die Eitelkeit des Hoffens Bestimmtheit von Zukunft gewinnt.
Die kühne Metapher der »geschriebenen Schatten« läßt nicht nur das Imagi-
näre und Spirituelle der ganzen Handlung hervortreten, sondern bezeugt so
etwas wie Sinn. Was »geschriebenee ist, läßt sich entziffern. Es bedeutet etwas
und ist nicht einfach der dumpfe Widerstand des Schweren. Soll man übertra-
gen: Wie der Akt des Fischers nuraussichtsreich ist durch Zusammenspiel von
Wurfund Beschwerung, so ist auch alle Zukünftigkeit, in die das menschliche
Leben hineinlebt, keine bloße unbestimmte Offenheit fur das Kommende,
sondern bestimmt sich durch das, Was war und wie es aufbewahrt ist wie in
einem von Erfahrungen und Enttäuschungen geschriebenen Buch.
Aber wer ist dieses Du? Es klingt fast, als wisse da einer, wieviel er dem Ich
aufladen kann, wieviel das hoffende Herz des Menschen erträgt, ohne daß es
die Hoffnung sinken läßt. Ein unbestimmtes Du, das vielleicht in dem Du des
Nächsten, vielleicht in dem Du des Fernsten seine Konkretion findet, oder gar
in dem Du, das ich mir selbst bin, wenn ich meiner eigenen Zuversichtlichkeit
die Grenzen des Wirklichen fuhlbar mache - injedem Fall ist das Zusammen-
spiel von Ich und Du, das den Fang verheißt, das, was in diesen Versen
eigentlich präsent ist und dem Ich seine Wirklichkeit verleiht.
Was ist es aber nun, was da Fang heißen soll? Der flutende Austausch
zwischen dem Dichter und Ich erlaubt, es in einem besonderen wie in einem
allgemeineren Sinne zu verstehen - oder besser: im besonderen den aligemei-
nen Sinn zu erkennen. Der Fang, der glücken soll, mag das Gedicht selbst sein.
Der Dichter mag sich selbst darin meinen, daß er das Netz dort auswirft, wo
Klarheit und Unberührtheit die Gewässer der Sprache ungetrübt findet und
ihn erwarten läßt, daß das über alles Herkömmliche Hinausgehende seiner
Kühnheit ihm einen Fang gewährt. Daß der Dichter sich selbst meint, wenn er
in dieser Weise sich als ein fischendes Ich darstellt, läßt sich auch durch den
Zusammenhang stützen - nicht nur den großen weltliterarischen Zusam-
menhang, der den dichterischen Fund gern aus dunkler Tiefe- eines Brunnens
oder eines Sees - hervorholen läßt. Man denke an die bekannten Gedichte
Stefan Georges IDer Spiegele und .Das Worte. Auch der besondere Zusam-
menhang der vorliegenden Gedichtfolge läßt das wahre Gedicht, das kein
11Meingedicht«, kein täuschender Schwur der Angeblichkeit ist, gegenüber
398 Wer bin Ich und wer bist Du?
dem eitlen Wort treiben, in dem die Sprache hln- und hergezerrt wird, zur
Abhebung kommen. So ist es durchaus berechtigt, auch in unserem Ge-
dicht das ganze Geschehen vom Dichter und seiner Erwartung des Wortes,
das ihm gelingt, her zu verstehen. Und doch ist das, was hier beschrieben
wird, so, daß es weit über das Besondere des DichterS hinausgeht. Und das
nicht nur hier. Es ist eine der großen Grundmetaphem der gesamten Neu-
zeit, daß das Tun des Dichters wie ein Exempel des Menschseins selber ist.
Das Wort, das dem Dichter gelingt und dem er Bestand verleiht, ist nicht
sein spezielles artistisches Gelingen, sondern ein Inbegriff menschlicher
Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt, der dem Leser erlaubt, das Ich zu
sein, das der Dichter ist. In unseren Versen sind Ich und Du in einer
geheimen Solidarität des Gelingens beschrieben, die nicht nur die des Dich-
ters und seines Genius oder Gottes ist. Da ist nicht ein beschwerendes
Wesen, Mensch oder Gott, das da Wortschatten auflädt, die die Freiheit
beengen. In diesem Gedicht, das ein eigenes Gelingen dichterischer Exi-
stenz meinen mag, kommt in Wahrheit zur Aussage, wer Ich ist, indem
deutlich wird, wer Du ist. Wenn des Dichters Verse uns dieses Zueinander
präsent machen, dann rückt ein jeder von uns in eben den Bezug ein, den
der Dichter als den seinen aussagt. Wer bin ich und wer bist du? Das ist eine
Frage, auf die das Gedicht seine eigene Antwort dadurch gibt, daß es die
Frage offenhält.
O. Pöggeler schlägt vor, das »nördlich der Zukunft« als eine Todesland-
schaft zu verstehen, da von dem )ungreifbaren Abgrund( des Todes her
jede auf uns zukommende Zukunft schon überholt sei - eine Radikalisie-
rung der menschlichen Grunderfahrung, die es nötig machen würde, das
Du als den Todesgedanken zu verstehen, der allem Dasein sein Gewicht
gibt. Es ist wahr, daß so »nördlich der Zukunft« präziser verstanden wür-
de: dort, wo keine Zukunft mehr ist - und das hieße: auch keine Erwar-
tung. Und dennoch: Fischzug. Es lohnt, darüber nachzudenken. Ist es das
Einverständnis mit dem Tode, das neuen Fang verheißt?
Dies Gedicht erschien mir lange besonders schwierig. Denn bei aller Ein-
deutigkeit seiner Aussage läßt es einen besonders weiten Raum rur die
Wer bin Ich und wer bist Du? 399
Ausfüllung. Ist es ein Liebesgedicht? Oder spricht es von Mensch und Gott?
Sind es Liebesnächte oder die Nächte des Einsamen, die IImich\( verwandelt
haben?
Es liegt, wie bei sehr kurzzeitigen Gedichten oft, gerade durch die Kürze
und Knappheit seines Baues ein besonders starkes Gewicht auf der letzten
Verszeile. "Berührt von Gedanken« - das ist fast wie ein epigrammatisches"
Siegel. Von hier muß im Grunde das Ganze wie von seiner Verdichtung her
begriffen werden. Die spannungsvolle Trennung lIun-berührt von Gedan-
kenll stellt das Berührtsein von Gedanken für sich. Aber in welchem Sinne? Es
gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen: als eine positive und durch die
Zeilentrennung verstärkte Aussage über die Unberührtheit dessen, was da
"vor dein Gesicht« trat - daß es nämlich nichts ausdrücklich Gewußtes und
Gedachtes ist. Oder aber es ist eine Aussage darüber, daß das, was I>schon
einmal bei uns war«, nun anders, nämlich "berührt von Gedanken«, also
verwandelt ist. Es hieße also gerade nicht: nach wie vor un berührt. Nun ist die
Aussage des Gedichtes durchweg von der Spannung zwischen mach< und
.vor< beherrscht. Es ist von einem »spätenlt Gesicht die Rede, das ein .früher<
heraufruft; es ist von einem »schon einmal« die Rede und ausdrücklich von
»verwandelndenll Nächten. So muß auch in dem »un-berührtlt,das nicht
umsonst Zeilentrennung in sich austrägt, die Spannung zwischen Einst und
Jetzt liegen.
Die Frage geht bis in die letzten Eigenheiten von Rhythmik, Versbau und
Sinnfügung. Es handelt sich um eine Frage letzter Sinnkohärenz - und die
scheint mir für die von mir vorgeschlagene Deutung zu sprechen, daß eine
neue Bewußtheit eingetreten ist. Denn jenes »etwas«, das da zu stehen
kommt, bliebe allzusehr in der Unbestimmtheit, wenn über es überhaupt
nichts ausgesagt würde. Wenn dagegen der Sinn ist, daß die Unberührtheit
von Gedanken durch den Gedanken zerstört wird, dann versteht man immer-
hin, daß "etwas 11 eingetreten ist, nämlich bei aller Unbestimmtheit eine neue,
Alleinsein einschließende Bewußtheit. Wachsende Bewußtheit, Abstand,
Alleinsein: das ist nicht die enttäuschte Feststellung eines verlorenen Zugangs
- wie eine Entfremdung es wäre -, sondern es findet hier gegenseitige
Anerkennung statt: •• auch mich« - also auch dich - »verwandelnd« heißen die
Nächte. Der Abstand, derjetzt bewußt wird, war an sich immer da, als das,
was man Diskretion nenntZ, bis zu jener .unendlichen Diskretion(, mit der
Rilke sein Verhältnis zu Gott beschreibt.
Aber das ist nun die eigentliche Erfahrung, die aus diesen Versen spricht:
Inzwischen ist es anders geworden. Was von Gedanken unberührt war, ist
nicht länger so, und das ein rur alle Mal. Eben die Endgültigkeit dessen, was
2 Zu diesem Begriffund seiner Rolle flir das Verständnis moderner Lyrik vgl. ,Verstum-
men die Dichter?<, in diesem Band, S. 362ff.
400 Wer bin Ich und wer bist Du?
nun eingetreten ist, spricht aus der epigrammatischen Schluß zeile »berührt
von Gedanken«.
Hier scheint die Frage besonders dringlich, wer Ich ist und wer Du. Aber
auch hier ist nicht so zu fragen. Das einzige, worauf es ankommt. ist. daß
zwischen dem Ich. das hier spricht, und dem Du, das es anspricht, die
Geschichte einer innigen Beziehung heraufgerufen wird, deren Beginn länger
zurückliegt. Darauf deutet das Beiwort ))spät«, das dem Gesicht zugespro-
chen wird, und weiter klingt es so, als ob dies Gesicht inzwischen in sich
zurückging und sich stärker in sich verschlossen hat. Denn es heißt »allein-
gängerisch«, und das meint nicht einfach allein-gehend. sondern ein bewußt
gewähltes und festgehaltenes Alleinsein. Wieder ist es die Worttrennung.
welche die Spannung dieses Alleinseins verleiblicht. Sie läßt beides anklingen.
das Alleinsein und den Willen dazu. Das bestätigt sich von der anderen Seite
durch Imein< Eingeständnis. daß auch ich verwandelt bin. Was da »vor dein
spätes Gesicht« tritt. ist aber ausdrücklich nicht als etwas Fremdes anzusehen.
das früher nicht da war. Es warja schon einmal 11 bei uns«. Was inzwischen
anders geworden ist. hebt die Vertrautheit der gegenseitigen Bindung durch-
aus nicht auf. Es ist nicht etwas Fremdes. Man soll nicht fragen, was das ist.
Offenbar weiß der Sprechende es selber nicht zu benennen. Es ist michts<.
Was das Gedicht darüber hergibt. liegt einzig in der Wendung »un-berührt
von Gedanken«. Das besagt, daß man sich inzwischen Gedanken macht und
daß gerade dadurch »etwas zu stehn« gekommen ist. Man achte darauf, daß es
nicht heißt: etwas trat dazwischen. Es ist überhaupt keine besondere Bege-
benheit gemeint, die alles veränderte. sondern eher der Niederschlag der Zeit
selbst. der nicht etwa etwas Neues enthüllt. sondern das. was an sich schon
bekannt ist, weil es »schon einmal bei uns war«, nun für sich stehen läßt. Es
heißt »bei uns« -und nicht: zwischen uns. Was da zum Bewußtsein k~mmt,
ist vielleicht nichts anderes als Alleinsein in wechselseitiger Vertrautheit.
So scheint es kaum nötig zu wissen, wer Ich und wer Du ist. Denn das,
wovon die Rede ist, geschieht beiden. Ich und Du sind beide Verwandelte,
sich Verwandelnde. Es ist die Zeit, die ihnen geschieht. Ob nun dieses Du das
Gesicht des Nächsten trägt oder das ganz andere des Göttlichen - die Aussage
ist, daß bei aller Vertrautheit zwischen beiden ihnen mehr und mehr der
Abstand bewußt wird, der zwischen ihnen bleibt. Injenen Nächten. das heißt
in der Nähe und Innigkeit des Beisammen, die alles andere auszulöschen und
alles Trennende aufzulösen vermag, gerade da verwandelte sich etwas und
kam etwas zu stehen. Ist das überhaupt etwas Trennendes? Es trat »vor dein
Gesicht«. Gewiß liegt darin auch, daß ich keinen so unmittelbaren Zugang
mehr zu dir habe, aber doch auch, daß ich nicht von dir getrennt bin. Es warja
schon vorher» bei uns «. Eher scheint es, als würde in einem 'neuen Wissen der
Abstand bejaht, der immer war, der Abstand zum verborgenen Gott oder die
Ferne des Allernächsten.
Wer bin leh und wer bist Du? 401
Auch hi'er geht es um das Erleben der Zeit. "Die Zahlen« nimmt das Zählen
der Zeit auf. Die Zeit erscheint hier als Verhängnis, denn sie steht »im Bund
mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis(l. »Der Bilder Verhängnis«
meint offenbar das, was hinter dem Schädel wach ist, das unvermeidliche
Verhängnis des Bewußtseins, in dem immer etwas sich abbildet. Es kann
nicht fehlen, daß da etwas ist - nicht ein Gerufenes, nicht ein Gewünschtes.
Die Zahlen, das heißt dieses Ablaufender Augenblicke, sindnichtfursich. Sie
sind »im Bund«, d. h. schließen immer zugleich ein, daß als Gegebenheiten
der inneren Erfahrung Bilder da sind. Diese Bilder nun, die so mit den Zahlen
und der Zeit unlösbar mitgehen, sind nicht nur wie die Zeit" Verhängnis«,
d. h. notwendiges, unabänderliches Geschehen, sie haben die Funktion eines
»Gegenverhängnisses«. Das will sagen, daß sie zugleich gegen die Zahlen
stehen, gegen das Einerlei der Folge, das unaufhörlich wie ein Hammer pocht.
Doch diese Bilder sind auch selber Verhängnis. Als Verhängnis der Bilder
erlangt indes das Wort 11 Verhängnis« einen neuen Gegensinn, nämlich daß es
etwas verhängt, so daß das Verhängte nicht mehr in seiner eigentlichen
Gestalt offenliegt und unverhüllt sichtbar ist. Indem das Gegenverhängnis der
Bilder beides zugleich ist, nicht nur Verhängtes, sondern auch Verhängendes,
gewinnt auch das Verhängnis selber etwas von dem Doppelsinn, verhängt
und zugleich verhängend zu sein. Das, wogegen die Bilder das Verhängende
und Verhängte sind, sind die Zahlen, die Zeit, das unabänderliche Vergehen.
Es ist- als im Bunde mit den Bildern - nicht nur ein unaufhörliches Pochen der
Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegen-
wart liegt und den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, der
bunte Teppich der Bilder.
Die Zeit ist der innere Sinn, in dem sich die Sukzession der Vorstellungen
findet. Das hatte schon Kant und im Ansatz schon Aristoteles gelehrt. Man
versteht das Befremdliche, daß diese Unendlichkeit der Folge und der Bilder
wie unter einem Helm eingeschlossen ist. Es ist der Schädel, an dessen Wand
der Äußerlichkeit sich diese innere Unendlichkeit im Hammerschlag des
Zeitpulses manifestiert. Nun heißt es aber Ilim Welttakt besingtli: Daß der
Taktschlag des Zeithammers Welttakt ist, ist klar - er umfaßt alles. Was heißt
404 Wer bin Ich und wer bist Du?
es aber, daß der pochende Hammer diese ganze innere Folge "besingt,(? Aus
solchem Takt des unaufhaltsamen Vorbei wird doch wahrlich keine Musik.
Die kühne Metapher »besingt« bildet einen Endvers und hat dadurch einen
starken Nachdruck, die Emphase des Paradoxen, das sich selbst setzt und
entgegensetzt. Nun meint »besingt" auf alle Fälle: nicht entgegenstehen,
sondern preisen und in der Preisung gegenwärtig machen. Was bedeutet das?
Wieso ist der »irrlichternde Hammer", das Aufzucken des Bewußtseins, das
dem Strom von Zeit undBild nur folgt und mit ihm geht, zugleich das, was zu
ihmja sagt, ihn ganz zum meinigen macht - alsjenes ,Ich denke<, das alle meine
Vorstellungen muß begleiten können?
Oder ist es gerade die Monotonie dieses Hammerschlages der Vergänglich-
keit, die in einem bitteren Oxymoron »singen(, genannt ist? Doch die
semantische Gegebenheit scheint mir eindeutig: im großen Takt der Zeit, die
wie der Pulsschlag ist, ist das Aufleuchten des Bewußtseins wie ein Gegenver-
hängnis. Es sind Bilder, deren Wechselgehalt das Einerlei des Vergehens in
unaufhörlicher Folge irrlichternd belebt. Wie nahe hier - wie überhaupt bei
Celan - ein Wortspiel lauert, zeigt in der zweiten Strophe die Wendung
»schlaflose Schläfe". Wie alle Wortspiele verkörpert auch dieses einen Gedan-
kenbruch - oder besser: eine verborgene Harmonie, die, wie Heraklit wußte,
stärker ist als eine offene3 • In der Tat ist es das Rätsel des Bewußtseins selbst,
wie dies Ineins von Schlafund Schlaflosigkeit, diese Schlaflosigkeit im Schlaf,
sein kann. Wenn man sich seiner selbst bewußt ist, ist man wach. Aber der, der
sich da seiner selbst bewußt wird, ist stets wie ein aus dem Schlaf Erweckter.
So sicher sind wir unserer Selbigkeit im Selbstbewußtsein, daß seine Wach-
heit auch seinen Schlaf, sein Dämmern und Vergessen, fraglos umfaßt. Nun
ist der Hammer, der an die Schläfe pocht, im Einerlei des unerbittlichen
Weitergehens der Zeit, Gesang - oder wie Gesang? - Injedem Falle meint das
etwas, was da zustande und zum Stehen kommt. Das ist die eigentliche
Aussage. Indem der Hammer nicht nur den Welttakt schlägt, sondern im
Takt all das, was in der ganzen Greifbarkeit der Bilder auftaucht, besingt,
wird das Einerlei aufgehoben. Die wechselnden Bilder treten in ein bleibendes
Sein, das dem Vergehen ins Tonlose widersteht und in dem Zustimmung
geschieht.
3 Zur Tragweite dieses Heraklitischen Grundsatzes nicht nur für das Celan-Veqtändnis,
sondern der modernen Kunst im allgemeinen siehe .Im Schatten des Nihilismus<, in diesem
Band, S. 379ff.
Wer bin Ich und wer bist Du? 405
Wege.- im Schatten-Ge.-bräch
deiner Hand.
Aus der Vier-Finger-Furche
wühl ich mir den
versteinerten Segen.
die erstarrte Glaubenskraft der Menschtm sein mögen. Aber wieder wird es so
sein, daß das Gedicht darüber nicht entscheidet, wer hier Du ist. Seine
alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der i? »deiner J:iand,,- weSSen
Hand es auch sei - nach Segen sucht. Was er findet, 1st »verstemerter« Segen.
Ist das noch Segen? Ein letztes an Segen? Aus deiner Hand?
Weißgrau aus-
geschachteten steilen
Gefühls.
Landeinwärts, hierher-
verwehter Strandhafer bläst
Sand muster über
den Rauch von Brunnengesängen.
"Bin Ohr, abw,etrennt, lauscht,
Ein Aug, in Streifen geschnitten,
wird an dem gerecht.
Die Kraßheit der Bilder vom abgeschnittenen Ohr und vom in Streifen
geschnittenen Auge gibt diesem Gedicht sein einzigartiges Gepräge. Man
muß und man soll eine Art von Widerwillen gegen die Kraßheiten empfinden,
die einem hier zugemutet werden. um sie durch Begreifen zu überwinden.
Aber was ist daran zu begreifen? Ich denke, dies: Kein den Weltmelodien
geöffnetes Ohr, kein alles umfassender. vom goldenen Oberfluß der Welt
trunkener Blick entsprechen auf gerechte Weise dem. was ist. Angestrengtes
Lauschen - so daß das Ohr wie abgetrennt ist, 19anz Ohr< - und durch
schmalsten Spalt spähendes Auge allein-das scheint mit »in Streifen geschnit-
ten" gemeint - vermögen allein noch das. was ist, zu erfassen. Denn es ist nur
noch Vereinzeltes, kaum Hörbares, kaum Sichtbares, was überhaupt Kunde
gibt (llRauch von Brunnengesängen«).
Dabei ist »311 das « in strengsten Weglassungen dennoch da: die See-denn es
ist von lliandeinwärts« die Rede-, die Kalkfelsen im Weißgrau angebroche-
nen Grundes, und dann, ins Land hinein. von dem nahen Meer entfernt, etwas
ganz anderes, Menschliches: Rauch und Brunnen. Die Steilküste evoziert
Einsamkeit, aber auch das Zutagetreten, das Bloßliegen des sonst Verborge-
nen. Das aber ist hier »steiles Gefühl" (man denke an Rilkes »schlackig
versteinerten Zorn «). Was so bloßgelegt ist. reicht in dieTiefe des Fühlens wie
in einen Abgrund. Das liegt in dem Worte llsteik Aber es ist nicht wie ein
Quell der Gefühle. Es ist weißgrau, ohne Farbe und Leben steht es erstarrt und
ist den Wettern preisgegeben wie ein Steinbruch, der »ausgeschachtet« ist.
Was beginnt eigentlich in der zweiten Strophe, die mit »Landeinwärts«
Wer bin Ich und wer bist Du? 407
einsetzt? Was dort, landeinwärts. ist, ist gewiß etwas Geringeres als die
weißgraue Bruchlinie der Einsamkeit zwischen den großen Elementen Meer
und Land. Aber in »landeinwärts .. klingt es doch wie eine Erwartung, als
könne die kahle Einsamkeit des erschöpften, »ausgeschachteten« Gefühls von
klingenden Tönen des Menschlichen abgelöst werden. Immerhin ändert sich
das Bild: Es sind aus vereinzelten Öffnungen der Tiefe, aus Brunnen, wie
Rauch aufsteigende Gesänge, die man hören soll. »Rauch von Brunnengesän-
gen« weckt ein Vielfaches: rauchende Kamine menschlicher Wohnungen,
dörfliche Brunnen, menschliche Laute. Gesang. - Indes, von der Verlassen-
heit des Strandes sind wir auch hier nicht fern. Ober all das weht der
Strandhafer seine Sandmuster. Das Karge, Dürftige des ins Land hineinkrie-
chenden Dünensandes und seiner einförmigen Muster beschreibt eine uni-
form werdende Welt, in der nichts Menschliches mehr offen zutage tritt und
in der der Gesang der Brunnen fast übertönt wird. Nur dem angestrengtesten
Lauschen bleibt dieser Gesang hörbar, diese Selbstaussage des Menschlichen
in einer versandenden Welt, und nur in augenblickshaften Brechungen blitzt
dem angespanntesten Spähen menschlich Geordnetes auf. Die krasse Grau-
samkeit der Schlußmetapher von Ohr und Auge läßt die beengende Dürftig-
keit der Welt empfinden, in der Gefühl kaum noch etwas vermag.
In drei kurzen Strophen wird die Szene eines Schiffbruchs geschildert, der
freilich von vornherein ins Unwirkliche verkehrt ist: Es ist ein Schiffbruch am
Himmel. Auch dort bedeutet Schiffbruch jedenfalls, was wir immer in der
Metapher des Schiffbruchs denken und wobei wir vielleicht zu allererst an
Caspar David Friedrichs berühmtes Bild von dem Schiffbruch im Eis der
Ostsee denken: das Scheitern aller Hoffnungen. Die Topik ist altbekannt.
Auch hier sind es die gescheiterten Hoffnungen. die der Dichter heraufbe-
schwört. Aber es ist ein Schiffbruch am Himmel, ein Unglück ganz anderen
Ausmaßes. Die Masten der Wracks weisen auf die Erde hin und nicht nach
oben. Man denkt an das tiefsinnige Wort Celans in der Meridian-Rede: »Wer
auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.«
Nun ist aber deutlich: diese Masten sind »gesungen«. Es sind Lieder, aber
solche, die nicht nach einem Oben und Jenseits tröstend hindeuten. Man
408 Wer bin Ich und wer bist Du?
Schläfenzange.
von deinem Jochbein beäugt.
Ihr Silberglanz da.
wo sie sich festbiß:
du und der Rest deines Schlafs -
bald
habt ihr Geburtstag.
Es ist klar, daß es sich hier um den Anruf des Alters handelt, auf den der
Dichterantwortet. Die »Schläfenzange« meint die ergrauende Schläfe. die das
herannahende Alter anzeigt, unerbittlich zugreifend wie eine Zange. Der
zweite Vers »von deinem Jochbein beäugt« drückt sich zwar fast anatomisch
nüchtern aus, und doch kommt durch das »beäugt« ein Ton beobachtender
Bangigkeit hinein, und der Fortgang spricht es vollends deutlich aus, wie das
• VgI. dazu ,Sinn und SinnverhaIIung bei Paul Celan(, in diesem Band, S. 452ff.
Wer bin Ich und wer bist Du? 409
Denken an denTod an Stärke gewinnt. Denn dort heißt es: "du und der Rest
deines Schlafs« - ein kühnes Oxymoron, denn es steht ja für den Rest eines
Lebens. Und was meint die zugespitzte Wendung" bald habt ihr Geburtstag«?
Natürlich meint es nicht: Bald werdet ihr geborens . Geburtstag haben ist
nicht Geborenwerden, sondern es ist die Feier der Wiederkehr des Geboren-
werdens. Und gewiß bedeutet die Wiederkehr des Geburtstages für den, der
an den Schläfen bereits grau wird, ein steigendes Bewußtsein von der
Neigung des Lebens und der Kürze des Lebens. Gleichwohl ist in den Versen
nicht eigentlich ein Klageton vernehmbar.
Man fragt sich, wer hier eigentlich angeredet wird. Redet das Ich zu sich
selbst? Aber es klingt sonderbar, daß »du und der Rest deines Schlafs« als ein
»ihr« zusammengefaßt wird, die zusammen Geburtstag haben. So muß man
die Deutung eben dort ansetzen, wo es sonderbar klingt, das heißt an diesem
Schluß. In ihm sind zwei Antithesen verborgen. Die eine ist die Antithese
zwischen dem Du, das sich hier anredet und das sich selber die Wache hält, und
dem Schlaf, wie sein Leben hier genannt wird - mit Heraklit, Pindar,
Euripides, Calderon und vielen anderen. Die zweite Antithese liegt in dem
Widerspruch des erwartungsvoll freudigen Geburtstagsfestes zu dem Vorge-
fühl von Alter und Tod. Die Erwartungsfreude wird hervorgehoben durch
den Einwortvers »bald«, und sie bricht um in den Erwartungsverzicht des
Sprechers, dem das Älterwerden bewußt wird. So sind es zwei Antithesen der
Bitternis, in die sich hier die Erwartungsfreude verkehrt. Ein wunderbares
Beispiel, wie ironische Verkehrung und die schillernde Ungreifbarkeit, die
ihr eigen ist, zur dichterischen Evidenz erhoben wird. Denn was ist das für ein
Geburtstag? Was wird da erinnert und gefeiert? Der Tag der IExistentialfreu-
digkeit( (wie GrafYorck von Warten burg einmal den Geburtstag genannt
hat)? Aber von wessen Existenz? Man wird richtig hören, wenn man versteht:
der sich wissenden, der sich annehmenden, der Existenz, die ihrer Endlichkeit
inne ist. Reif sein ist alles.
Beim Hagelkorn, im
brandigen Mais-
kolben. daheim,
den späten, den harten
Novembersternen gehorsam:
in den Herzfaden die
Gespräche der Würmer geknüpft-:
eine Sehne, von der
deine Pfeilschrift schwirrt,
Schütze.
Wie das vorangegangene Gedicht die Bewußtheit des Denkens an den Tod
zum Gegenstand nahm, hat auch dieses Gedicht unmittelbar mit dem Tod zu
tun. Daß das letzte Wort »Schütze« eine Metapher des Todes ist, istunzweifel-
haft. Aber auch vieles andere weist offenbar auf diese Sphäre hin: das
Hagelkorn, der Maiskolben, der brandig wird. der späte November. Celan
stammt aus dem Osten, und man spürt, wie ihm dieses langsame Hereinbre-
chen des schweren östlichen Winters ein Wissen um die Vergänglichkeit des
Daseins weckt. das tiefInnerlich in sein Lebensgefuhl eingewebt ist: Todesge-
danken - die Gespräche der Würmer- sind »in den Herzfaden geknüpft«(. Es
ist wie ein inneres Nagen oder gar wie eine im Innersten verständigte
Gewißheit der Endlichkeit und Vergänglichkeit unseres Daseins.
Die Komposition als Ganzes ist von eindeutiger Straffheit. Da sind zwei
Doppelpunkte. Der zweite ist durch einen Gedankenstrich verstärkt. Sie
lassen die Wendung am Ende des Gedichts wie einen Schluß aus zwei
Prämissen folgen. Diese Schlußwendung faßt alles Vorangegangene in die
Wendung von der gespannten Sehne zusammen. von der der Pfeil schwirrt.
Aber es ist nicht der Pfeil. nicht der Tod sei ber, sondern die »Pfeilschrift «, die
von dieser Sehne schwirrt. Wenn der Pfeil Schrift ist. so ist er Botschaft,
Verkündigung. Kein Zweifel, diese Schrift sagt uns etwas Genaues: Es ist die
Botschaft der Vergänglichkeit, die aus allem spricht, was da genannt war.
Aber es ist Botschaft. Man wird daher diejenigen semantischen Teile des
Gedichttextes als die tragenden auszeichnen müssen. die nicht nur die Ver-
gänglichkeit künden, sondern die Botschaft der Vergänglichkeit mit Ent-
schlossenheit annehmen. So ist das »gehorsam". das den einbrechenden
Winter anerkennt, ein tragendes Bedeutungsmoment. In ähnlichem Sinne
wird auch das korrespondierende »daheim« - beim Hagelkorn. im brandigen
Maiskolben - festgelegt. Es meint natürlich nicht im wörtlichen Sinne die
eigentliche östliche Heimat, sondern das Daheimsein in den Boten des
Winters, des Todes, der Vergänglichkeit. So ist es eine doppelte Zustim-
mung, die dem eigentlichen Mittelteil des Gedichtes seine Artikulation
verleiht. Die Zeichen des kommenden Winters und die innerste To~esgewiß-
Wer bin Ich und wer bist Du? 411
heit des Herzens werden bejaht. Daher sind die Gespräche der Würmer »in
den Herzfaden« geknüpft. Das innere Nagen der Vergänglichkeit bleibt nicht
ein Angenagtwerden von außen. sondern ist ganz ins Innerste aufgenommen.
Damit sind die beiden Prämissen. aus denen der Schluß gezogen wird. durch
Zustimmung gesichert. Der Schluß ist gültig: Der Pfeil. der seine Botschaft
sendet. ist die Todesgewißheit. die ihr Ziel nie verfehlt. Aber es ist noch mehr
darin: Es ist eine einzige große Bereitschaft. in die der Schütze Tod sein Wort
schreiben läßt.
Vielleicht soll man noch einen Schritt weitergehen und den »Herzfaden«
zugleich als die Sehne erkennen, von der die Pfeilschrift abgeschnellt wird.
Denn der Herzfaden. an dem die Würmer nagen. ist in. gewisser Weise die
Spannkraft des Lebens selbst - und gerade in ihn sind »die Gespräche der
Würmer geknüpft". Der Schlußsatz folgert nichts Neues - er faßt nur
zusammen. Die tiefinnere Gewißheit der Vergänglichkeit und des Todes ist
nicht wie die Sehne eines tödlichen Bogens. dessen Geschoß einen plötzlich
zerreißt, sondern ist im Gegenteil das. was das Leben selbst spannt. Von dieser
Sehne des Herzens kommt nicht so sehr der Tod als die vertraute Gewißheit
des Todes. die das Leben ist und die einem jeden immer schon- und doch in
der jähen Getroffenheit durch die» Pfeilschrift« - entziffert ist.
Stehen, im Schatten
des Wundenmals in der Luft.
Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt.
rur dich
allein.
Mit allem. was darin Raum hat.
auch ohne
Sprache.
Es ist ein Unsichtbares, ein Unerkanntes. das Wundenmal in der Luft. Es ist
also nichts. was man greifen kann. nichts wie Jesu Male, die selbst den
ungläubigen Thomas überzeugten. Dies Wundenmal ist vielmehr »in der
Luft« - doch von der Art. daß es einen IISchatten« wirft. Aber offenbar nur
über mich, so daß niemand anderes dessen gewahr wird, daß ich in diesem
Schatten stehe. Das ist deutlich gesagt: Wer steht, steht für sich allein. Für sich
allein Stehen heißt Standhalten. Zugleich liegt darin auch. daß der Standhal-
tende dabei nicht eigentlich aufsich besteht. Er steht nicht für etwas oder für
jemanden, er steht sozusagen für sich allein. und daher 11 unerkannt«. Aber das
ist nicht wenig. Stehen und Standhalten heißt: etwas bezeugen. Wenn von
dem. der da steht. gesagt wird: 11 auch ohne Sprache«. so sagt es gewiß. daß er
412 Wer bin Ich und wer bist Du?
so sehr allein ist, daß er sich nich': einmal mehr mitteilt. Aber es sagt auch
umgekehrt, daß dieses Ich, das zu sich »du« sagt, wenn es im Schatten des
unsichtbaren Wundenmals steht, sich gerade ganz und gar mitteilt, »mit
allem, was darin Raum hat«, - daß es sich wie Sprache mitteilt. Ja, wenn der
letzte Vers das eine Wort »Sprache« ist, so wird damit »Sprache« nicht nur
nachdrücklich betont, sondern Igesetzt(. Daher meint das II auch ohne Spra-
che« noch etwas Weiteres. Noch bevor es Sprache ist, noch im stummen
Stehen und Sichhalten an das. woran selbst ein Thomas nicht zweifeln kann,
ist es doch schon Sprache. Worin das Zeugnis des Stehens sich ganz kundtun
wird und kundtun soll. soll sein. Es soll Sprache sein. Und diese Sprache wird,
wie das unerkannte Stehen, das Bir niemanden und nichts steht. wahrhaft
Zeugnis sein. gerade weil es nichts will: I> Bir dich allein«. Es wäre müßig. sich
um die konkrete Ausfüllung dessen Gedanken zu machen. was da bezeugt
wird. Das kann vieles sein. Aber das» Stehn« ist immer ein und dasselbe - Bir
einen jeden.
Das Gedicht ist streng gebaut. Zwei Strophen, die erste und die dritte. werden
je von einer Kurzstrophe gefolgt. die jeweils eine Art Folgerung zieht. So
zerfällt das Gedicht in zwei Hälften. Es sind durchaus verschiedene Bildsphä-
ren. die in ihnen heraufgerufen werden. Aber sie betreffen ein Gemeinsames:
Schlaf und Traum sowie das Erwachen. Offenbar sind es auch rhythmisch
zwei sehr verschiedene Vorgänge. die hier zusammengebunden sind. Auf der
einen Seite das Drängen des Traumes, der wie ein Bock stößt, und auf der
anderen Seite die mühsam nach oben stakende Fähre. Indessen zielt beides.
wenn auch ganz verschieden gesehen. auf das gleiche~
Das ist ein erster Ausgangspunkt rur die Frage. wie das Ganze zu verstehen
ist. Man muß es vom einzelnen her versuchen. Der Traum ist »stößig«
geworden wie ein Ziegenbock. Dadurch gelangt etwas von dem Dunkel an
Wer bin leh und wer bist Du? 413
den Tag. Nun muß man beachten, daß es nicht etwa ein beim nahenden
Erwachen stößig werdender Traum ist, wie wir das sonst aus dem TraumerIe-
ben Schlafender kennen. Er wird im Gegenteil vom Wachen stößig. Es ist also
ein allzu langer Vorgang des Wachens, der schließlich den Traum so stößig
werden läßt, daß am Ende etwas nach oben übersetzt, »übergesetzt« wird.
Das steht jedenfalls fest, daß das Gedicht nicht etwa den wirklichen Traum im
Schlaf meint, und das wird vollends deutlich und eindeutig durch das
Reizwort im letzten Verse: »Wundgelesenes «. Daraus geht hervor, daß es die
Welt der Worte und des Lesens ist, in der sich der Traum regt. Es entspricht
dem, daß dieser stößige Bock ein Horn hat, auf dem sich, wie man das von
manchen Widderarten kennt, gekerbte Windungen zur Spitze hinziehen, und
daß diese gekerbte Spur» Wortspur« heißt. So wird deutlich, daß es sich um
die lange anstehende, sich lange vorbereitende Geburt des Wortes handelt, die
in dem Gedicht beschrieben wird. Das Horn windet sich in zwölf Windungen
bis in die Spitze herauf, mit der der Bock den letzten Stoß führt. Die Zwölfzahl
deutet auf ein rundes Ganzes von Zeit, zwölf Monate, ein volles Jahr,
jedenfalls eine lange Zeit. Mit anderen Worten: Schon lange hält das Wachen
den Traum nieder, und immer wieder führt der Traum, der sich regt, seine
Stöße. Es ist also wie ein langes »Heranwachen«, um einen Ausdruck des
Gedichts )Von Ungeträumtem< (oben S. 389) zu verwenden. Offenbar will
das Gedicht sagen, daß ein Gedicht nicht ein plötzlicher Einfall ist, sondern
lange Arbeit der Vorbereitung verlangt. Aber die tatsächliche Arbeit an dem
Gedicht, die im zweiten Gleichnis als eine langsam und mühevoll stakende
Fähre erscheint, ist gleichwohl nicht die eigentliche Aussage desselben. Die
eigentliche Aussage ist vielmehr, daß es »Wundgelesenes« ist, das so nach
oben kommt. » Wundgelesenes«, Wundgelaufenes - das meint ein von allzu-
langer Wanderschaft des Lesens Wundgewordenes. Oder ist »Wundgelese-
nes« von noch tieferer Zweideutigkeit und meint nicht nur den Schmerz des
Lesens, des zu vielen, des sinnlosen Lesens, sondern ebenso vielleicht den
Schmerz und die> Wunde des Gelesenen<,das heißt des schmerzhaft Erfahre-
nen überhaupt, das auch >gelesen< heißen kann: zusammengelesen, wie durch
eine Ahrenlese des Leides?
In jedem Falle ist das, was ins Wort »übergesetzt« worden, ins Wort
übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dunkel des Unbewußten mit Hilfe des
Traumes durch eine Art Arbeit des Traumes gewonnene Text.
Muß man noch einzelnes erläutern? Die Bildsphären sind von höchster
Kraft anschaulicher Selbstauslegung: die Stöße des Bocks, die schließlich -
mit dem letzten Stoß - die Wachwelt durchstoßen und den Traum erwecken.
Welch eine Vertauschung von Traum und Wachen! Und dann diese tiefe
»Tagschlucht<<: wie in eine senkrechte schmale Schlucht das Tageslicht
einfallt, so arbeitet sich wie an einer Leiter des Lichts das im Dunkeln
Gesammelte, »Wundgelesene« ans Licht hinauf - auch dies nicht auf einen
414 Wer bin Ich und wer bist Du?
Schlag, sowenig wie der Bock auf einen Stoß den Traum aufweckt. Aber
am Ende erweckt er den Traum. am Ende langt das aus dem Dunkel ans
Licht übergesetzte an - das ist das Gedicht.
Die erste Strophe spricht von den Verfolgten. Das läßt sich bei diesem
Dichter und in diesen Jahren kaum anders als in bezug auf die Judenver-
folgungen Hitlers verstehen, und daß es ein Bekenntnis des Dichters ist,
das hier »mit-schreibend« zum Gedicht wurde, scheint deutlicher denn je.
Immerhin, es wurde: zum Gedicht. Auch wenn spätere Generationen diese
Verfolgungen je vergessen sollten, die irgendwann irgendwo waren, wird
das Gedicht seinen genauen Ort des Wissens und Mitwissens bewahren.
Denn dieser sein eigener Ort läßt sich nicht vergessen. Er ist die mensch-
liche Grundsituation als solche, daß da Verfolgte sind. zu denen man sel-
ber nicht mehr ganz gehört (in ))spätem« Bund), zu denen man sich je-
doch ganz bekennt ())un-verschwiegen«), so ganz und gar, daß der Bund
mit ihnen ))strahlend(( heißen kann, und das meint nicht nur: rückhaltlos
und überzeugend, sondern wahre Solidarität darstellend und ausstrahlend
-wie Licht.
Von Licht spricht auch die zweite Strophe, wenn auch in seltsam ver-
stellter Form. Unzweifelhaft soll man an Morgenrot denken, wenn es im
Gedicht »Morgen-Lot« heißt. Und warum heißt dies Morgen-Lot »übergol-
det« (und nicht golden)? »Morgen-Lot« meint offenkundig, daß das Morgen-
rot, mit dem stets Tag und Zukunft anheben. nur dann wahre Zukunft
beginnt, wenn es wie ein Lot erfahren ist, das heißt als ein senkrechtes,
untrügliches Maß fur das Rechte6 • Dieses Lot wiegt schwer. Es heißt »über-
goldet«, das will sagen, daß unter dem goldenen Schimmer von Tag und
Zukunft, die der Morgen verheißt, das Schwere da ist, das Gewicht der
6 Interessant ist hier die Lesart der Vorstufe: .das [unauslotbare1Morgen •. Sie gibt dem
Ganzen eine andere Deutungsrichtung: die Ungewißheit des (nie ganz!) auszulotenden
Morgen, und in .übergoldet. die Fragwürdigkeit des sich im Morgenrot ankündigenden
Tages. Zu den Lesarten siehe unten Anm. 11.
Wer bin Ic:h und wer bist Du? 415
Erfahrung und der Bund mit den Verfolgten, und dieses Gewicht ist selbst
etwas, das einen verfolgt. einen zum Verfolgten werden läßt.
Das liegt unzweifelhaft in der Wendung der zweiten Strophe: es »heftet
sich dir an die [... ] Ferse«. Dies Morgen-Lot ist wie ein Verfolger. Was
meint das? Ist es ein Vorwurf gegen einen selbst, daß man überhaupt den
Morgen erlebt, und statt mitzusterben. Zukunft hat? Aber von Sterben steht
nichts da, wenn man es auch gewiß nur allzu nahe weiß, und es wäre ja auch
kaum angemessen, injedem Falle im überleben ein Unrecht zu sehen. Wohl
aber könnte es eine ständige Mahnung sein, die einen verfolgt und die einen
heißt, die Verfolgten nicht zu vergessen und fur sie und die Zukunft des
Menschen einzustehen.
Der Fortgang des Gedichts macht dies letztere zum beherrschenden Sinn.
Denn von der Ferse, an die sich das Morgen-Lot heftet und die von dem
Morgen-Lot als zur Flucht gewandte Ferse ständig verfolgt wird, heißt es,
sie sei »mit-schwörend, mit-schürfend, mit-schreibend«. Eine genaue Kli-
max innerhalb einer einheitlichen Bedeutungsrichtung: Bezeugen, Aufdek-
ken, Bestätigen. Aber die Frage ist: Mit wem sollst »du« mitschwören (statt
davonzulaufen)? Gewiß meint es im letzten Bezug: mit den Verfolgten und
ihren Leiden, zu denen sich das Du unverschwiegen bekennt. Das Schicksal
ist wie ein Schwur und eine unüberhörbare Kunde, und so heißt »mit-
schwörend« nicht so sehr Bezeugen, daß es so war. Es ist ja das Morgen-Lot,
das Maß rur die Zukunft, das sich an die Ferse heftet. Es meint also den
Schwur auf die Zukunft: daß es nie wieder sein soll.
Nicht minder beziehungsvoll ist offenbar das zweite Attribut der Ferse:
»mit-schürfend«. Schürfen muß man da, wo etwas nicht offenliegt, sondern
aufgedeckt oder aus vid Unedlem zur reinen Gewinnung aufgearbeitet
werden soll. Das wäre etwa der bleibende Gewinn aus erlittenem Unrecht
und Leid. Wenn nun das dritte Glied dieser Klimax »mit-schreibend« ist, so
wirdjeder Leser vor allem an den Dichter denken, der sich zu dem Bund mit
den Verfolgten bekannt hat und sich selbst als einen Verfolgten bekennt, der
von seinem Bund mit ihnen nicht loskommen kann und darf. Die Ferse des
Schreibenden möchte enteilen, in ein Reich freundlicherer Imagination dich-
terischer Welt vielleicht - und er wird wie von einem Bleigewicht an seiner
Aufgabe festgehalten, schreibend den Bund mit den Verfolgten zu bezeu-
gen. Das könnte gemeint sein. So wäre die Klimax verständlich.
Aber einige Fragen bleiben offen. Zunächst: kann man so die Steigerung
dieser Klimax, die es notwendigerweise geben muß, verstehen? Dann müß-
te »mit-schreibend« gegenüber dem Schwören und Schürfen die am meisten
unmittelbare Bezeugung und Fixierung der Botschaft meinen. Aber dem
steht entgegen, daß die dreifache Worttrennung, die dreimal das »mit« für
sich stellt, doch in allen drei Fällen das gleiche meinen muß. Es gibt aber
nicht ebenso ein IMitschwören( oder IMitschürfen<, wie etwa .Mitschreiben<
416 Wer bin Ich und wer bist Du?
das unmittelbare Festhalten des genauen Wortlauts heißen kann. Man wird
also die Klimax anders artikulieren müssen. Der Sprecher will so, wie er mit
den anderen schwört und schürft, auch mit ihnen schreiben. Wenn man sich
sträubt, die offene Steigerung, die im Bekenntnis zum Schreiben, im Be-
kenntnis des Dichtens liegen müßte, als den vollen Sinn des Ganzen anzuer-
kennen, so hilft vielleicht folgende Erwägung weiter: Mit wem sollst »du«
eigentlich schwören und schreiben? Mit den Verfolgten? Gewiß, das kann,
wie oben gezeigt, den Sinn haben, daß deren Leiden selber wie ein Schwur
war und wie eine ein für alle Mal ftxierte Botschaft für alle. Aber nun frage
ich: Muß man das alles ergänzen? Steht es nicht ganz unmittelbar im Text
selber, nämlich als das »Morgen-Lot«? Es verkündet ja wirklich den Tag,
und wenn es ihn allen verkündet und wenn es der Tag des Rechtes sein soll,
des Lot-Rechten, der das geschehene Unrecht allen künder - ist es dann nicht
sehr genau gedacht, daß dieses Morgenrot I Morgen-Lot es ist, das sich dir
an die Ferse heftet, und daß du mit ihm, mit seiner Kunde unP. seiner
Verpflichtung, die es unabweisbar allen auferlegt hat, mit-schwörst,
-schürfst, -schreibst? Dann aber ist das Schreiben des Dichters in der Tat ein
Höchstes, auf das die sich steigernde Rede zielt, weil es nicht nur das Tun des
Dichters meint - es ist ein Mit-tun mit dem, was wir alle zu tun haben, wenn
Zukunft sein soll. Wer bin ich - und wer bist du?
Fadensonnen
über der grauschwarzen Odnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
Es sind gewaltige Räume, die sich in der großen Gebärde dieses kurzen
Gedichtes auftun. Ein meteorologischer Vorgang, den wir alle irgend wann
einmal beobachtet haben, klingt an: wie über der grauschwarzen Odnis einer
von schweren Wolken verhangenen Landschaft an Lichtfäden sich Lichträu-
me und Lichtfernen örmen. Es scheint mir abstrakt und unanschaulich,
wenn man, wie vorgeschlagen worden ist, unter» Fadensonnen« fadendünn
gewordene Sonnen, eine nicht mehr, wie in besseren Tagen, runde Sonne,
verstünde7 • Gewiß ist es eine spirituelle Landschaft (und keine Wetterstim-
mung), deren »grauschwarze Odnis« sich hier öffnet, über der die Faden-
sonnen stehen. Aber soll man dab~i nicht wirklich an die Fäden denken, die
7 Siehe dazu jetzt auch IPhinomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?, in
diesem Band, S. 468 f.
Wer bin Ich und wer bist Du? 417
die von Wolken verdeckte Sonne an den Wolkenrändern zieht? Wir sagen
von der Sonne ja auch, daß sie Wasser zieht. Und hat es nicht etwas für einen
jeden Erhebendes, ist es nicht eine rur einen jeden zugängliche Erfahrung
von Erhabenheit, die ,der Himmel Trauerspiel( vermittelt? Es flillt auf, daß
»Fadensonnen« eine Pluralform ist - ein in die anonyme Weite unendlicher
Welten weisender Plural. Auf seinem Hintergrunde profiliert sich die Ein-
zahl, die Einmaligkeit des Gedankens, der sich erhebt. Denn das ist es
offenbar, was das Gedicht sagt: die ungeheuren Räume, die sich bei solchem
Himmelsschauspiel öffnen, können die trostlose Menschenlandschaft ver-
gessen machen, in der wahrlich nichts Erhabenes mehr sichtbar ist. So ist es
ein »baumhoher Gedanke«, der sich da erhebt, ein Gedanke, der nicht in der
Odnis der Menschenwelt vergeblich suchend herumirrt. sondern der den
Maßen solchen Schauspiels gewachsen ist und wie ein Baum in den Himmel
greift. Er »greift sich den Lichtton«. Der Lichtton, der so gegriffen wird. ist
aber ein Lied-Ton. Der baumhohe Gedanke, der solchen Licht-Ton, wie ihn
das Schauspiel der Fadensonnen rings verschwendet, sich greift, hat Maße,
die alle menschlichen Maße und Nöte überwachsen. wie ein ins Riesige
wachsender Baum.
So ist die eigentliche Aussage des Gedichtes vorbereitet: "Es sind noch
Lieder zu singenjenseits der Menschen. «
Im Schlangenwagen, an
der weißen Zypresse vorbei,
durch die Flut
fuhren sie dich.
Doch in dir. von
Geburt,
schäumte die andre Quelle.
am schwarzen
Strahl Gedächtnis
klommst du zutag.
Das Gedicht zerflillt in zwei Sätze. Sie bilden zwei Strophen. Wieder ist es,
wie so oft in diesen kurzen Gedichten. eine fast epigrammatische Antithese.
die mit einem »Doch« einsetzt und beide Strophen zur Einheit verbindet.
Die erste Strophe beschreibt die Lebenstrunkenheit. Denn was hier mit
dem »Schlangenwagen« evoziert wird, ist Dionysos, der Gott des Rausches.
Es ist die Lebensfahrt. die so beginnt, in der Hingabe an alles, was die Sinne
bieten. Die »weiße Zypresse« - immerhin steht sie, dank der Verstrennung,
fUr sich da. Wenn die Lebensfahrt - zunächst - an der weißen Zypresse
vorbeiführt. so heißt das vielleicht, daß die Trunkenheit des Lebens auch den
Tod noch umfärbt. Das schwarze Todessymbol der Zypresse ragt wie eine
418 Wer bin Ich und wer bist Du?
weiße leuchtende Säule, an der man, ganz von Leben umspült, sorglos
vorbeikommt. Die Fahrt führt durch die Flut, die unaufhörlich anbranden-
den Wogen sinnlicher Erfahrung. Wer der Führer ist, der durch diese Flut
führt, bleibt unbestimmt. Der Plural »sie« macht immerhin eines klar: daß es
nicht ich bin, was die Fahrt lenkt. Der Nominativ »ich« kommt in dem
ganzen Gedicht nicht vor - obwohl ganz gewiß von niemand anderem die
Rede ist als von mir, vonjedem Ich. Aber zunächst ist einjeder eben nicht
Ich, sondern ein Dahingetragenes, und die Erfahrung, die das Gedicht
beschreibt, ist genau diese, wie ich zum Ich werde. Daher der Nachdruck.
der in diesem Gedicht auf dem Einwortvers »Geburt« liegt, diesem ersten
Beginn der Ich-Werdung.
Mit der adversativen Wendung »Doch« wird die Wendung nach innen
genommen. Was geschildert wird, ist, wie das durch die Flut des Lebens
dahingetragene sinnliche Wesen sich zum menschlichen Ich heraufbildet.
Das ist wie eine Gegenbewegung, die gegen die Überflutung durch die
Sinne einsetzt, und daher ist die Rede von der »andre[n] Quelle«. Sie
»schäumte« von Geburt an. Das will sagen, daß es auch, wo wir es nicht
wissen, aus dieser unergründlichen Quelle schäumt. und zwar unaufhörlich.
Aber sie ist wahrhaft als Quelle erfahren und nicht wie die glitzernden und
schimmernden Wellen der sinnlichen Erfahrung als eine blendende Flut, die
einen rings umgibt. Diese »andre Quelle« ist vielmehr etwas, das aus dem
Dunkel kommt. Sie heißt ein »schwarzer Strahk Erstaunlich, wie die
sinnliche Kraft dieser Verse es dem Dichter erlaubt, ein so stark begrifilich
belastetes Wort wie »Gedächtnis« einzubringen, ohne dadurch im gering-
sten lehrhaft zu werden. Gedächtnis ist der schwarze, ansteigende Strahl, es
ist nicht die breite Flut des geistigen Besitzes, die sich angesammelt hat. Und
in der Tat ist es nicht angesammeltes Wissen, sondern dieser aus dem Dunkel
des Unbewußten kommende Strahl, in dem sich das Ich bildet. Ich, das sich
selbst anredet, »klimmt« an ihm zutage, das heißt, das Gedächtnis, das
innere Wissen von sich selbst, steigt nicht einfach an wie die aus der ersten
anderen Lebensquelle breit strömende Flut der Sinne, sondern das Ich arbei-
tet sich mühsam, Schritt vor Schritt, in die Helle des seiner selbst bewußten
Ich empor. Am Ende wird es sich selbst zum Du. Das ist der Anfang des
Selbstbewußtseins. Aber das geschieht nicht, ohne daß der »schwarze Strahl
Gedächtnis« ebenso weiterschäumt, wie die reißende Flut der Sinne weiter
dahinströmt.
Man wird wohl beachten dürfen, wie das» Weiß« des zweiten Verses und
das »Schwarz« des drittletzten Verses aufeinander antworten. Auch die
Zypresse wird in dem schwarzen Strahl Gedächtnis ihre natürliche Farbe,
ihren wahren Symbolsinn wiedergewinnen. Von sich wissen heißt wissen,
was der Tod ist.
Wer bin Ich und wer bist Du? 419
Harnischstriemen, Faltenachsen,
Durchstich-
punkte:
dein Gelände.
An beiden Polen
der Kluftrose, lesbar:
dein geächtetes Wort.
Nordwahr. Südhell.
Richtung hält und durch nichts von der rechten Richtung, der Richtung auf
das Rechte hin, abzubringen ist. Es folgt unverrückbar klar und unbestech-
lich der Richtung, die die Kluftrose anzeigt.
Nun heißt es in der Strophe: diese Kluftrose soll an beiden Polen lesbar
sein, an Nord wie an Süd. Das Wort muß gleichsam die gesamte Skala
möglicher Abweichungen kennen, von denen es bedroht ist. An beiden
Polen soll dies vogelfreie Wort lesbar sein, das selber ungeschützt ist. Damit
erhält das Wort »geächtet« hier einen genauen Sinn: Das Wort ist auf sich
allein angewiesen - es wird von allen abgewiesen, von allen Seiten als
unbequem empfunden, wegen der Geradlinigkeit der Wahrheit, die es sagt.
Das heißt in einem, daß das Wort wahr ist: Nordwahr, und daß es hell ist:
Südhell. Nun heißt dies Wort hier »dein« Wort. Wer ist hier angeredet? Es
gibt gewiß keinen festen Grundsatz, unter dem man die Frage) Wer bin ich
und wer bist du?< in Celans Gedichten (oder in Gedichten überhaupt?) zur
Auflösung bringen kann. Ich glaube nicht, daß man immer nur dann an ein
Du in diesen Gedichten denken soll, wenn von einem Du die Rede ist, und an
den Dichter nur dann denken soll, wenn er auch »ich« sagt. Beides scheint
mir falsch. Will man ausschließen, daß ein Ich zu sich selbst »du« sagt? Und
wer ist Ich? Ich ist nie nur der Dichter. Es ist immer auch der Leser.
Ichvergessenheit hat Celan in der Meridian-Rede mit Recht als den Charak-
ter eines Gedichtes hervorgehoben. Wessen Wort ist es also? Des Dichters?
Des Gedichtes? Oder ein Wort, das das Gedicht nur wiederholt und verkün-
det? Oder gar ein Wort, das wir alle kennen? Was hier »dein« und damit »du«
heißt, steht gewiß nicht von vornherein fest. Es muß nicht einmal, wie ich
zunächst verstand, in einer Art Selbstanrede der Dichter oder das Gedicht
sein, was im Gelände der Sprache Orientierung gibt. Es kann auch etwa das
Wort Gottes sein, das vielleicht an den rechten Durchstich-Punkten im
Erdpanzer hervorbricht - als Offenbarung. »Dein geächtetes Wort« könnte
sogar auf die zehn Gebote des Alten Testaments gehen, die als Nord-Süd-
Achse die sichere Orientierung geben sollten. Oder auf welches wahre Wort
immer. So mag man am Ende keinen Anlaß haben, zwischen dem Wort des
wahren Gottes und dem Wort des wahren Dichters und dem wahren Wort
überhaupt zu scheiden.
Celan hat uns hierzu in seiner Meridian-Rede so etwas wie eine Legitima-
tion erteilt. Dort zählt er zu den Hoffnungen des Gedichtes, "in eines Anderen
Sache zu sprechen - wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache«.
Ausdrücklich wiederholt Celan die Anspielung auf das »ganz Andere«, den
religionsgeschichtlichen Terminus von Rudolf Otto rur das Heilige. So
kann auch das Gedicht das wahre Wort und zugleich das geächtete Wort
sein. Es kennt die Durchstichpunkte durch die Krusten des Geredes - erst
dann gelingt es als Gedicht, und der Dichter mag sein Wort durchaus
geächtet nennen, auch noch, nachdem er durch die Verleihung des Büchner-
422 Wer bin Ich und wer bist Du?
Preises ausgezeichnet war. Wir brauchen uns nicht zu fragen: Wer bin ich
und wer bist du? Das Gedicht sagt zu jeder Antwort ja. - Nun schließen sich
die beiden Strophen zu einer klaren Einheit zusammen. Es geht um Orien-
tierung im Gelände der Sprache. Wie der Geologe an den Formationen des
an die Oberfläche Getretenen die Erdtiefe mehr errät als erreicht, so sucht
auch das Wort des Gedichts in eine verborgene Tiefe einzudringen, indem
es, auf sich selbst gestellt, seinem wahren Kompaß folgt.
Wortaufschüttung, vulkanisch,
meerüberrauscht.
Oben
der flutende Mob
der Gegengeschöpfe: er
flaggte - Abbild und Nachbild
kreuzen eitel zeithin.
Bis du den Wortmond hinaus-
schleuderst, von dem her
das Wunder Ebbe geschieht
und der herz-
förmige Krater
nackt für die Anfange zeugt,
die Königs-
geburten.
Der Mob »flaggt~, das heißt schmückt sich mit etwas, auf das er stolz ist und
das doch nicht in Wahrheit seines ist, sondern so willkürlich gewählt und
aufgezogen wie die Wimpel der Sonntagssegler. Die Gegengeschöpfe kreu-
zen auf der Oberfläche der Sprache DZeithin«, das heißt ohne Richtung und
Ziel, aber doch so sehr von der Zeit getrieben, daß keine Dauer in ihnen ist.
Sie sind »Abbild und Nachbild« des echten Wortes, das heißt: sie tönen bloß
nachahmend oder im Nachklange echter Schöpfungen, ein eitles Treiben,
das fort und fort geht, bis-
Auf dieses »Bis« zielt alles hin. Durch das Ereignis des neuen Ausbruchs
wird das oberflächliche Treiben in seiner ganzen Eitelkeit und Scheinbild-
haftigkeit aufgedeckt. Es ist eine großartige kosmische Metapher, die das
Ereignis echter Sprachwerdung beschreibt: »du~ -jenes namenlose Du, das
nur der kennt und erkennt, für den es Du ist - »schleuderst« den Wortmond
»hinaus«.
Man muß sehr genau hinhören. Gewiß möchte man zunächst das Bild von
der Ausschleuderung des Mondes aus der Erde (eine Meinung über die
Entstehung des Mondes, die ja noch bis vor kurzem weit verbreitet war)
unmittelbar mit der» Wortaufschüttung« zusammenbringen, die unter dem
flutenden Meer der Reden der verborgene Grund der Sprache ist. Indessen
scheint in kühner Hyperbolik dieser» Wortmond« mehr MOlld als Wort.
Nicht das runde, leuchtende und immer wieder neu und rund aufleuchtende
Wort selbst, etwa das des neuen Dichters, kann »der Mond« sein, der da
hinausgeschleudert wird. Die Wendung »der Wortmond« - und nicht: »ein
Wortmond« -läßt sich allein deuten in dem Sinne, daß der Herr der Zeiten-
und Erdenstürme sich immer wieder des gleichen Mittels bedient, um die
Anfänge rur ein echtes neues Sprachgeschehen freizulegen. Denn es ist ja nun
von der neuen Schwerewirkung die Rede, die von diesem Mond ausgeht
und die das verborgene Gebirge der Sprache trocken fallen und so den
wahren Ursprung sichtbar werden läßt. Der ganze sprachkonventionelle
Wust verläuft sich wie Brackwasser. Das» Wunder Ebbe« geschieht, näm-
lich das Wunder, daß dort, wo unbetretbares Element des Schwankens
schien. festes Land auftaucht, das Halt und Stand zu gewähren vermag. Nun
heißt es, was da trocken fällt. lege den »herzrormigen Kraterl< frei. der rur die
Anfänge zeugt. Das will sagen: an dem, was neu sichtbar wird, erkennt man
endlich die Gewalt von Stauung und Entladung wieder, aus der von jeher
das Dichterwort seine Spannungskraft und seine Dauer gewinnt. Wenn es
weiter heißt, daß es »Königsgeburten« sind, die hier bezeugt werden, das
heißt Gründer von Dynastien, so ist es ja wirklich eine ganze Dynastie der
Sprache. unter der wir sprechend stehen und die uns in den großen Schöp-
fungen der Dichtung. die in dieser Sprache gelangen, regiert.
Oder nehme ich den Dichter hier allzu wörtlich - oder nicht wörtlich
genug? Jener Wortmond. den »du«, wie es scheint, von Zeit zu Zeit aus der
424 Wer bin Ich und wer bist Du?
durch das Gerede verdeckten Tiefe hinausschleuderst und der dem eiden
Scheintreiben von Reden und Gedichten ein Ende macht, ist am Ende doch
selber Wort, und eben doch rundes, echtes, vom Lichte widerleuchtendes
Gestein. Die Schwerewirkung, die er im Schaffen der Gezeiten ausübt, ist
die des Wortes allein. Denn nur das Wort selber legt frei und kann freilegen,
was echtes Wortgestein ist, und läßt so nicht nur alle die IIAnfänge«, die als
Schöpfungen der Dichtung unser Sprechen regieren und die über dem eitlen
Kreuzen des hin- und hertreibenden Redens verschwunden waren, sichtbar
werden, sondern auch sich selbst. Versteht man so, dann ist der Wortmond
der Inbegriff des vollen Mondwortes, in dem alle neuen Eruptionen aus dem
vulkanischen Grunde in sich zusammengefaßt sind. So ist der Mond das
Wort selber. Und in der Tat ist es so, daß wir nicht nur die neue Sprach-
schöpfung, die dem Dichter gelingt, erfahren, sondern unter ihrem Ein-
druck alle königlichen Gestalten unserer Sprache neu entdecken. Das sind
die »Königsgeburten « - etwas, was lang zuvor geschah, Herrschaft begrün-
dend, und was neu in seiner herrschaftlichen Gültigkeit wirksam wird durch
das neue Gedicht. Jedes wahre Gedicht rührt an die verborgenen Tiefen des
Sprachgrundes und seine schöpferischen Gestaltungen. Es erkennt Herr-
schaft und stiftet neue Herrschaft unter der eigenen Dynastie.
Injedem Falle, es ist eine Metapher, die in wunderbarer Weise das wahre
dichterische Wort wie ein kosmisches Ereignis beschreibt, aber nicht nur als
etwas, das nichts zerstört, was wahr ist, und das Wahre aufdeckt, sondern
vor allem als ein Wort, von dem keiner, auch der Dichter nicht, sagen kann:
Es ist mein Wort. Der Dichter hißt keine Flagge.
Das Ich, das hier spricht und das am Ende von sich gt:steht, daß es »ganz
Wahn« sei, verwandelt sich in diesen Versen nicht injenes allpräsente Ich, in
dem sonst im lyrischen Gedicht Dichter und Leser in eins verschmolzen
sind. Die Klammer klammert es auf die Partikularität des Ich-Sagenden ein
und von der Allgemeinheit aus, die das lyrische Ich sonst besitzt - und sie
klaminert damit auch das angeredete Du ein, so daß das Ganze etwas von
dem Charakter einer diskreten Widmung oder der Signatur eines Gemäldes
empfängt, und das so, daß die Verse in ihren Motiven mit denen der Pieta
spielen (Tiefgebeugte/Durchbohrter).
Die Aussage dieser vier Verse selber behält aber ihren festen Bezug auf die
Gedichtfolge, in die sie eingefiigt sind - freilich mit einer Gebärde des
Wer bin Ich und wer bist Du? 425
Rückzugs. Der Dichter, der hier von sich - und nicht von uns allen - »ichcc
sagt, ist gleichsam vor dem Anspruch erschrocken, in seinem Wort Wirk-
lichkeit sein zu sollen und die Wirklichkeit derer mit auszusagen, die so ganz
anders wirklich ist als er. 11 Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?cc
klingt wie ein Verzicht, dessen sich der Dichter bewußt ist, auch im wahr-
sten Wort nicht an das zu reichen, was 11 ganz, ganz wirklich« ist.
Indessen, gerade diese Gebärde von Eingeständnis und Verzicht, die hier
wie zwischengeschoben wirkt, schließt in Wahrheit die beiden Gedichte, die
den Schluß des Zyklus IAtemkrista111 bilden, besonders zusammen. Es sind
zwei Gedichte über die Sprache, und im besonderen über die wahre Sprache,
die die Sprache des wahren Dichters ist.
Weggebeizt vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten - das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.
Aus-
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaitigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.
Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.
Das Gedicht ist klar in drei Strophen gegliedert, die aber von ungleicher
Verszahl sind. Es ist wie ein zweiter Akt des dramatischen Geschehens, das
in )Wortaufschüttungl evoziert worden war. Nach dem Ereignis, das das
falsche Scheinen von Sprache zerstört hat, setzt dieses Gedicht ein. Nur so
bestimmt sich, was mit dem »Strahlenwind deiner Sprache« gemeint ist: ein
Wind, der aus kosmischen Femen hereinbricht und durch die Helle und
Schärfe seiner elementaren Kraft das »Gerede des Anerlebten« wegbeizt wie
einen trübenden Beschlag. Das aber sind a11 die Scheingedichte, die hier das
"bunte Gerede« heißen. Das Gerede ist bunt, weil die Sprache solcher
426 Wer bin Ich und wer bist Du?
Aber solche Belehrung hätte auch ihr Bedenkliches. Man geriete in eine
gewisse Gefahrenzone: es könnte geschehen, daß man Kenntnisse aufböte,
die der Dichter vielleicht selber nicht besaß. Celan hat gelegentlich vor
solchem Wissenseifer gewarnt. Selbst wo uns Kenntnisse oder gar vom
Dichter selber stammende Informationen helfen - noch die Legitimität
solcher Hilfe entscheidet sich am Ende an der Dichtung selbst. Die Hilfe
kann ,falsch( sein - und sie ist ,falsch(, wenn die Dichtung sie nicht voll
einlöst. Eine gewisse Einübung verlangt freilich jeder Dichter, und so ist
auch hier die ,Sprache( des Dichters aus dem Kontext seines Werkes nicht
abgelöst. Vielleicht werden uns die erhaltenen Vorstufen der Celanschen
Gedichte weitere Hilfe bringen - selbst diese wäre aber keine eindeutige, wie
das Beispiel Hölderlins uns gelehrt hat. Alles in allem scheint mir der
Grundsatz gesund, Dichtung nicht als gelehrtes Kryptogramm für Gelehrte
anzusehen, sondern als für die Angehörigen einer durch Sprach gemeinschaft
gemeinsamen Welt bestimmt, in der der Dichter ebenso zu Hause ist wie
sein Hörer oder Leser. Wenn es dem Dichter gelungen ist und wo es ihm
gelungen ist, sprachliche Gebilde zu gestalten, die in sich stehen, sollte es
dem dichterischen Ohr möglich sein, das Gültige auch unabhängig von
solchem Einzelwissen und jenseits von ihm zu einiger Klarheit zu erheben
und damit der Präzision nahezukommen, die das offene Geheimnis dieser
kryptischen Poesie ist.
Freilich, das Verfahren, ein Gedicht zu verstehen, verläuft nicht auf einer
einzigen Ebene. Zwar ist es zunächst nur eine einzige Ebene, in der es
vorliegt: die der Worte. Die Worte verstehen ist daher das allererste. Ohne-
hin ist jeder der betreffenden Sprache Unkundige ausgeschlossen, und da die
Worte eines Gedichts die Einheit einer Rede, eines Atems, einer Stimme
sind, sind es auch durchaus nicht nur die einzelnen Wörter, deren Bedeutung
man verstehen muß. Vielmehr legt sich die genaue Bedeutung eines Wortes
erst durch die Einheit einer Sinnfigur fest, die die Rede bildet. Das kann eine
noch so dunkle, spannungsvolle, rissige, zersprungene und brüchige Einheit
sein, die die Sinnfigur dichterischer Rede besitzt - die Polyvalenz der Wörter
legt sich im Vollzug des Redesinnes fest und läßt die eine Bedeutung sich
ausschwingen, andere nur mitschwingen. Darin ist Eindeutigkeit, die allem
Sprechen mit Notwendigkeit eignet, auch dem der poesie pure. Das sollte
selbstverständlich sein, und es scheint mir durchaus irrig, zu leugnen, daß
nicht jedes Wort erst einmal in der genauen Konkretion seiner Bedeutung in
der Rede erfaßt werden muß und daß diese allererste Ebene des Verstehens
nicht übersprungen werden darf. Das gilt vollends für Paul Celan, bei dem
das einzelne Wort sehr konkret und präzise gesagt ist. Man kann gar nicht
genau genug erwägen und ermitteln, was die Rede 'zunächst< sagt, wenn
sich auch die eigentliche Präzision des Gesagtseins, die die Rede ein Gedicht
sein läßt, auf dieser ersten Ebene der Wörter, ihrer Bedeutungs- und Benen-
430 Wer bin Ich und wer bist Du?
nungsfunktion und der Redeeinheit, die sie bilden, hicht erfüllt. In Wahrheit
kann man sich in ihr gar nicht halten. Denn immer schon sind verschiedene
Ebenen ineinandergeschoben. Das macht die Aufgabe des Verstehens so
schwer.
Aber was heißt hier überhaupt ,verstehen<? Es gibt sehr verschiedene
Formen von> Verstehen<, die sich in einer gewissen Unabhängigkeit vonein-
ander zu vollziehen vermögen. Doch ist schon in der älteren hermeneuti-
schen Theorie die Verflechtung der verschiedenen Interpretationsarten mit-
einander immer betont worden, auch wenn man, wie insbesondere F. A.
Boeckh in seiner Methodenlehre der Interpretation, sich bemüht, die ver,.
schiedenen Interpretationsmethoden scharf voneinander getrennt zu halten.
Das gilt insbesondere von der älteren Lehre von dem vierfachen Schriftsinn,
daß sie nur eine Beschreibung der Dimensionen des Verstehens ist. Was ist
bei Celan >sensus allegoricus<! Bekanntlich hat Celan nichts davon wissen
wollen, daß es bei ihm Metaphern gebe, und wenn man Metaphern als
Redeteile und Redemittel versteht, die sich aus dem eigentlich Gesagten
herausheben bzw. in es eingliedern, so versteht man diese Abwehr recht
wohl. Wo alles Metapher ist, ist nichts Metapher. Wo der schlichte und
genaue Wortlaut das, wovon da die Rede ist, nicht als ein ,Positives< im
HegeIschen Sinne, als eine vorgegebene Welt von Sinn und Form >meint<,
sondern im einen das andere, im Gesagten gar nicht es und im >Nicht es<
gleichwohl nichts anderes >meint<, sind nicht nur verschiedene Ebenen des
Sagens unterschieden, sondern gerade auch in ihrer Verschiedenheit in eins
gebunden. Da gibt es keine Allegorien. Alles ist es selbst.
Das dichterische Wort ist in dem Sinne >es selbst<, daß nichts anderes,
Vorgegebenes, da ist, an dem es sich mißt- und doch gibt es kein Wort, das
nicht außer ihm selbst - und das heißt: außer seiner vielschichtigen Bedeu-
tung und dem mit dieser Bedeutung in ihren verschiedenen Ebenen Benann-
ten - nicht auch noch sein eigenes Gesagtsein wäre. Das aber heißt, daß es
Antwort ist. Antwort schließt Fragen ein und schließt Fragen ab, d. h. aber,
das Gesagte ist nicht aus sich selbst allein, auch wenn nichts sonst vorzeigbar
ist als seine Sprachwirklichkeit.
Das ändert nichts an dem unbegreiflich Verbindlichen eines Gedichts, daß
es in sich selbst steht, daß keines seiner Worte in der Weise für etwas steht,
für das etwa auch ein anderes Wort stehen könnte. »Als die eigentliche
Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen«
(G. Eich). Doch impliziert die Einzigkeit des Wie seines Gesagtseins immer
noch etwas anderes. Auch das Gedicht hat - wiejedes Wort des Gesprächs-
den Charakter des Gegenwortes, das mithören läßt. was gerade nicht gesagt
wird. was aber als Sinnerwartung vorausgesetzt ist, ja, durch das Gedicht
geweckt wird - vielleicht nur, um als Erwartung gebrochen zu werden. Das
scheint insbesondere für heutige Lyrik wie die Celans zu beachten. Das ist
Wer bin Ich und wer bist Du? 431
nicht Barocklyrik, die ihre Aussagen innerhalb eines einheitlichen Bezugs-
rahmens hält und mythologisch-ikonographisch-semancisch eine gemeinsa-
me Vorgegebenheit besitzt. Celans Wortentscheidungen wagen sich in ein
Geflecht sprachlicher Konnotationen, dessen verborgene Syntax von nir-
gends anderswoher erlernbar ist als aus den Gedichten selbst. Das schreibt
der Interpretation ihren Weg vor: Man wird nicht vom Text auf eine in ihrer
Kohärenz vertraute Sinnwelt verwiesen. Sinnfragmente sind wie ineinan-
dergekeilt, man kann nicht den Weg der Transposition von einer Ebene
schlichten Gemeintseins zu einer zweiten Ebene des eigentlich Gesagtseins
gehen - das eigentlich Gesagte ist vielmehr auf eine schwer beschreibbare
Weise noch immer dasselbe, das die Rede meinte. Was im Verstehen ge-
schieht, ist nicht so sehr eine Transposition als die beständige Aktualisierung
der Transponierbarkeit, d. h. die Aufhebung aller ,Positivitätl jener ersten
Ebene, die man dadurch gerade im pOSitiven Sinne 'aufhebt, und erhält.
Das ist für die Celan-Interpretation - und nicht nur für sie - ganz entschei-
dend. Denn von da aus bestimmt sich der so überaus umstrittene Stellenwert
der Informationen, die nicht aus dem Gedicht selbst stammen, sondern aus
Mitteilungen des Dichters und seiner Freunde gewonnen werden und den
,biographischen, Anlaß, das biographisch lokalisierte Motiv, die konkrete
und bestimmte Situation eines Gedichts betreffen. Man weiß, nicht zuletzt
aus Celans eigenem Munde in der Büchner-Preis-Rede, daß es für Celan
gerade auch gegenüber dem Kunstbegriff Mallarmes und seiner Nachfolger
charakteristisch ist, daß seine Dichtung eine Art Wortschöpfung und Wort-
findung ist, diejeweils wie ein Bekenntnis aus einer genauen Lebenssituation
aufsteigt. Diese ist freilich nicht in allen ihren Einzelbestimmtheiten aus dem
Gedichttext allein faßbar. Man nehme ein Gedicht wie ,Blumel, das inzwi-
schen durch eine Arbeit von Rolf Bücher in seinen Textstufen überschaut
werden kann.
Man erinnere sich der endgültigen Fassung des Gedichts:
Blume
Der Stein.
Der Stein in der Luft, dem ich folgte.
Dein Aug. so blind wie der Stein.
432 Wer bin Ich und wer bist Du?
Wir waren
Hände,
wir schöpften die Finsternis leer, wir fanden
das Wort, das den Sommer heraufkam:
Blume.
Blume - ein Blindenwort.
Dein Aug und mein Aug:
sie sorgen
fUrWasser.
Wachstum.
Herzwand um Herzwand
blä ttert hinzu.
Ein Wort noch, wie dies, und die Hämmer
schwingen im Freien.
Es ist eitler Wahn, sich einzubilden, daß man bei diesem Gedicht hätte erraten
können, daß es sich hier um den kleinen Sohn Celans handelt, der das Wort
,Blume( eines Tages als Wort erwarb, wie eine Verheißung. Daß sich in
diesem Gedicht an das Wort ,Blume< - und nicht nur wie bei Hölderlin an die
Blume des Wortes, das als Wort ,die Sprache( meint - die Geschichte eines
Wachstums und einer Öffnung schließt, das freilich steht in dem Gedicht.
Aber daß es Vater und Sohn sind, die hier zueinanderwachsen, das muß man
wissen. Aber nein - das braucht man nicht zu wissen: Zu der Folge der
Transpositionsebenen dieses Gedichts gehört gerade auch, daß am Ende das
bestimmte Einzelne des Anlasses in das bestimmte Allgemeine übergegangen
ist. das ganz und gar und für jedermann in diesen Zeilen steht. Zueinander-
Wachsen kann in sehr verschiedenen Konstellationen stattfinden: in der
Spiritualität eines Gedenkens, das das Tote zum Leben erweckt, in der
Aktualität einer Liebesbegegnung, die das tote Auge, das wie ein Meteor nur
flüchtig aufglühte, zum strahlenden Blühen bringt, Stein und Stern und
Blume, oder auch in der, wie es scheint, vom Dichter >gemeinten( wachsen-
den Zuwendung von Vater und Sohn, gleichsam als das Erwachen des Kindes
aus seiner mineralischen Existenz, in der das Auge noch wie Stein ist, in die des
Blickens und des Blicketausehens und der wachsenden Wortwelt. Wer wollte
sich anmaßen, nur dies letztere und nichts anderes in diesem Gedicht finden zu
können. Ja, mehr noch: Auch wer >weißt, woran der Dichter gedacht hat,
weiß er dadurch schon, was das Gedicht sagt? Mag er es vielleicht gar als einen
Vorzug empfinden, daß ernur an das >Richtige{ denkt und an nichts anderes-
er wäre nach meiner überzeugung in einem schrecklichen Irrtum befangen,
den am allerwenigsten Celan selbst unterstützt hätte. Er hat daraufbestanden,
daß ein Gedicht in sein eigenes Dasein gestellt und von seinem Schöpfer
abgelöst ist.,Wer nicht noch mehr versteht als das, was der Dichter auch ohne
zu dichten sagen kann, versteht nicht genug.
Wer bin Ich und wer bist Du? 433
Freilich sind solche Informationen, die von außen kommen, oft auch
kostbar. Sie bewahren vor dem völligen Verfehlen des Richtigen, wenn man
es selber mit der Interpretation versucht. Sie erleichtern, wenigstens auf
einer ersten Ebene alles richtig zu verstehen, das heißt in einheidicher
Kohärenz. Aber Celans Gedichte sind nicht als Gedichte verstanden, solange
man auf der einen oder anderen Ebene allein verbleibt. Celan soll einmal
gesagt haben, daß es in seinen Gedichten keine Brüche gebe, wohl aber
verschiedene mögliche Anfange. Er meinte damit offenbar, daß dasselbe
Gedicht auf verschiedenen Transpositionsebenen kohärent und präzise voll-
zieh bar wäre. So scheint mir das Gedicht IBlume( auf verschiedenen Ebenen
vollziehbar. Und denkt man etwa an die Frage, die ich aus Anlaß der
Gedichtfolge IAtemkristall< stelle: Wer bin ich und wer bist du? - wer will sie
beantworten? Ich muß dabei bleiben: Die Figur dieses Du ist sie selbst und
nicht dieser oder jener, ein geliebter Mensch, ein anderer oder das ganz
Andere.
Was hier versucht wird: ohne jede Information besonderer Art einen
Zyklus Celanscher Gedichte auszulegen, bleibt gewiß riskant. Aber ich
wiederhole die Wendung Ibesonderer Art<, denn an sich ist die Informa-
tionsmasse, die ein jeder Leser von sich aus mitbringt, in vielfacher Hinsicht
bereits Ibesondert<. Der eine hat etwas noch erlebt, was der andere nur aus
Büchern kennt. Der eine kennt etwa den deutsch-slawischen Osten oder gar
denjüdischen Kult oder auch die kabbalistische Mystik, der andere muß sich
daraus vielleicht aus dem Lexikon orientieren oder durch mühsame Lektüre.
Ebenso steht es mit dem gegenwörtlichen Bezug auf schon Gesagtes. Der
eine hat George und Rilke so im Ohr, wie vielleicht der Dichter, oder gar die
französische Sprache und Dichtung so im Ohr, wie vielleicht der Dichter-
der andere nicht. Der eine kennt einen vom Dichter gebrauchten Fachaus-
druck aus seinem eigenen Sprachgebrauch, der andere muß ihn mühsam zur
Kenntnis nehmen. Solche Besonderungen sind stets im Spiel. Insofern ist
auch die besondere Besonderung, die die private Information von der Seite
des Dichters darstellt, gar nicht etwas so ganz Besonderes. Es gibt bei
keinem Leser ein Verstehen ohne Besonderungen, und es gibt doch bei
einem jeden nur Verstehen, wenn sich die Besonderung der Okkasion in die
Allgemeinheit der Okkasionalität aufhebt. Das will sagen: Nicht die be-
stimmte einmalige Begebenheit, die man als Zeuge oder als direkt vom
Dichter Belehrter kennen kann, kommt im Gedicht zur Sprache, wohl aber
ist es so, daß ein jeder Leser in das durch den Sprachgestus Heraufbeschwo-
rene wie auf ein Angebot einzugehen vermag. Was ein jeder Leser an dem
Gedicht wahrzunehmen vermag, hat er aus seiner eigenen Erfahrung aufzu-
füllen. Das erst heißt: ein Gedicht verstehen.
Aber wenn man etwa im Falle des oben erwähnten Gedichts ,Blume<
sieht, wie aufschlußreich die Textstufen sind, die wir von diesem Gedicht
434 Wer bin Ich und wer bist Du?
aus Celans Nachlaß kennen, muß man nicht überall diese Textstufen ken-
nen, um sich zu kontrollieren, und wagt man nicht etwas Unzulässiges,
wenn man einstweilen auf eigene Faust Iversteht(? Ich bin weit davon
entfernt, die Hilfe solcher Textstufen geringzuachten l l . Indessen, auch de-
ren rechte Benutzung setzt Vorgriff und Vorverständnis und redlich prü-
fende Meditation des Textes selber voraus. Obendrein muß man jedem
Dichter die Freiheit zubilligen, seine Textstufen nicht konsequent durch-
laufen zu haben. Der Interpretationswert von Textstufen hat sich am ferti-
gen Text zu bewähren. Ein Interesse rur die Textstufen als solche mag
historisch berechtigt sein, aber ist kein Interpretationsweg für das fertige
Gedicht. Das Bild, das uns die mitgeteilte Probe der Textstufen von IBlu-
me< bietet, läßt einem den Werdegang des Gedichts als den einer immer
weiter getriebenen Verdichtung, Verkürzung, Weglassung sichtbar wer-
den. Das erinnert an Mallarme, der einmal gesagt hat, bei wirklicher Dich-
tung bestünde die Hauptaufgabe darin, wegzulassen und am Anfang und
am Schluß jedes Gedankens so viel wie möglich zu streichen, damit man
dem Leser das Vergnügen bereite, die Ergänzung zum Ganzen selber fin-
den zu dürfen. Ich halte das für keine richtige Selbstbeschreibung der Mal-
larmeschen Dichtungsweise und bin überhaupt nicht geneigt, Dichtern ein
Privileg der Selbstinterpretation zuzuerkennen. Denn offenbar handelt es
sich nicht so sehr um Weglassen als um Verdichten. Auch die Textstufen
von )Blume< zeigen nicht bloße Weglassungen, sondern ebenso Intensivie-
rung und Ballung. Es ist. als ob die Unverbundenheit der Worte und
Satzglieder die Potenz der Redeteile auflüde, so daß sie mehr sagen, nach
mehr Richtungen ausstrahlen, als sie in fester syntaktischer Einbindung
vermöchten. Was an Mallarmes Bemerkung über die» Weglassung« richtig
ist, ist also dies, daß sich ein Gedicht kraft seiner sprachlichen Verdichtung
selber zu ergänzen vermag und daß durch seinen dichterischen Bau und
seine motivische Führung mehr zum Verständnis gelangt, als was es in
seinen bloßen Worten auszusagen scheint. Was ein gutes Gedicht von ei-
nem noch so geheimnisvollen Zauberkunststück unterscheidet, das ist, daß
man um so mehr von seiner Genauigkeit überzeugt wird, je tiefer man in
seinen Aufbau und die Technik seiner Wirkung eindringt. Je genauer man
versteht, desto beziehungsvoller und sinnreicher wird die dichterische
Schöpfung. Darin hat die strukturalistische Analyse Richtiges beobachtet.
Doch indem sie sich auf die Lautgestalt beschränkte, hat sie unterlassen, die
im Spannungsgefüge von Sinn und Klang aufgewiesene IStruktur< mit der
einheitlichen Sinnmeinung des Textes zu vermitteln. Es sind das freilich
11 Dank der. Hilfe BEDA ALLEMANNS konnte ich die sachlich wichtigen Lesarten zu
,Atemkristall< in der revidierten Auflage von ,Wer bin Ich und wer bist Du?< (BIBLIO-
THEK SUHRKAMP Bd. 352. Frankfurt 1986) mitteilen. Der interessierte Leser sei auf die
Seiten 142-150 dort verwiesen.
Wer bin Ich und wer bist Du? 435
Aufgaben, die eine höchste Sensibilität des Ohres und zugleich alle Schärfe
des Verstandes fordern.
Sehr viel schlimmer wird die Sache, wenn sich die Textgrundlage des
fertigen Textes, wie ihn die Drucke bieten, als falsch erweist. Ausgerechnet
bei der von mir gewählten Folge ist das einmal auf fatale Weise der Fall
(S. 392). Bei der Durchsicht des Privatdrucks von IAtemkristall< entdeckte
ich plötzlich, daß im dritten Gedicht im zweiten Vers nicht ))Himmelssäu-
re«, sondern IIHimmelsmünze« steht, und man hat mir bestätigt, daß die
bekannte Textgestalt von Celan selber als ein Übermittlungsfehler, der sich
in den späteren Drucken eingeschlichen hat, anerkannt und auch von ihm
erst spät erkannt und berichtigt worden ist - übrigens ohne Aufregung. Die
falsche Textgegebenheit unterstellt natürlich dem Interpreten falsche Bezü-
ge. So ging es mir, und ich mußte nun die richtigen auf der neuen Grundlage
neu suchen. Sicher ein interessanter Tatbestand, der zeigt. wie es mit dem
Gewißheitsgrad präziser Kohärenzen, die man gefunden zu haben meint,
steht. Wieweit aber das Gesamtverständnis des Gedichts durch derartiges
modifiziert wird, wäre gleichwohl zu fragen. Man wird wohl im allgemei-
nen sagen dürfen, daß das Kohärenzgefüge eines Gedichtes von so vielen
Stützen getragen wird, daß das Gefuge als Ganzes durch die Auswechslung
einzelner Stützen nicht völlig zum Einsturz kommt. Das muß sichjeweils an
der Praxis entscheiden. Auf alle Fälle scheint mir das Risiko solcher Unsi-
cherheiten bezüglich der Textgrundlage noch harmlos im Vergleich zu dem
Risiko. das jede Deutung als solche zu tragen hat. Und doch ist auch dies
kein Einwand. nicht das Mögliche zu versuchen. Die Gedichte sind da. Man
wird sich als Leser für den Versuch, sie zu verstehen, nicht auf die kritische
Ausgabe oder die Ergebnisse der ,Forschung( vertrösten lassen, sondern das
Ihalbe. Verstehen. auf dem die Anziehungskraft der Gedichte für einen jeden
Leser beruht. zu ergänzen trachten. .
Noch eine andere, hermeneutisch ähnlich aufschlußreiche Streitfrage be-
gegnet in dem von mir ausgelegten Zyklus (S. 425). Da ist das Wort »Mein-
gedichtIC . Sehr ernsthafte Leser haben dies als das im bloßen Meinen stecken-
bleibende und insofern privat bleibende Gedicht verstanden. Tatsächlich
kommt auch bei dieser Annahme eine ausgezeichnete und von der Irichtigen.
gar nicht sehr verschiedene Sinnkohärenz heraus. Nun höre ich. daß Celan
diese Fehldeutung von ))MeingedichtIC, die es ohne Zweifel ist. selber zu-
rückgewiesen hat. Aber nehmen wir einmal an, er hätte jene andere Deu-
tung, die ja auch ganz gut ,möglich( scheint, ausdrücklich akzeptiert. Hätte
dann seine Stimme den Ausschlag gegeben? Ich denke, nein. Denn man
kann die Gründe nennen, warum ))Meingedicht« hier als ,falsches Zeugnis<
verstanden werden muß. wie ,Meineid<. Das Gedicht gewinnt dadurch
einen höheren Kohärenzgrad, eine gesteigerte Präzision. »Meingedicht«
kontrastiert alsdann auf das genaueste mit dem lIunumstößliche[n] Zeug-
436 Wer bin Ich und wer bist Du?
nis<!, mit dem das Gedicht endet. Natürlich war ich nicht überrascht, daß
Celan sein Gedicht richtig verstanden hat. Nur sind nicht alle Fälle so klar,
und gerade dann werden sie es oft nicht sein, wenn, ähnlich wie in diesem
Fall, keine ernste Kohärenzstörung des Ganzen durch das )falsche! Verständ-
nis eintritt, sondern allenfalls eine Verminderung der Präzision. Es ist durch-
aus ein Fall qenkbar, wo der Dichter sich selber nicht richtig versteht, das
heißt einer Auslegung - ob von anderen oder von ihm selbst vorgeschlagen,
spielt dabei keine Rolle - folgt, die ähnlich möglich ist und doch ebenso
evident unrichtig ist wiejene Fehldeutung von »Meingedicht«. Dann behiel-
te am Ende der Text gegen den Dichter recht. Das ist gar nicht so ungeheuer-
lich, wie es klingt. Man denke etwa an den berühmten Irrtum des alten
Goethe, der noch gar nicht so schrecklich alt war, als er sein Prometheus-
Gedicht rur ein Stück seines fragmentarischen Prometheus-Dramas hielt12•
Da ich rur den hier interpretierten Zyklus Celans keinerlei private Informa-
tionen kannte, bleibt diese Erwägung im Augenblick rein theoretisch. Aber
sie macht wohl klar, in welchem Sinne ein Gedicht von sep,em Schöpfer
losgelöst ist - so sehr, daß sein Schöpfer hinter ihm zurückbleiben kann, ja
vielleicht auf die Dauer zurückbleiben muß. »Mein Wort ist nicht mehr
mein.«
Wir lasen aus Peter Szondis Nachlaß seine Arbeit über das Gedicht aus
Celans )Schneepartc, das auf die Ermordung Karl Liebknechts und der Rosa
Luxemburg anspielt 13 • Hier teilt Szondi unvergleichlich genaue biographi-
sche Details mit, die das Gedicht )entschlüsseln<, und verwahrt sich zugleich
gegen jeden Rekurs auf dies reale Erlebnismaterial: »Nichts indessen wäre
größerer Verrat am Gedicht und an seinem Autor.« Und dann versucht
Szondi, die Logik des Gedichts selber zu rekonstruieren. Leider blieb uns
von ihm nur dies unvollendete Bruchstück.
Indessen hat er die Fragen scharfgestellt und lädt dadurch zu einer Fortset-
zung ein, zu einem Gespräch mit ihm - auch jetzt noch. Wenn er Jakobson
zitiert und - mit Recht - eine Art »vom Sprachmaterial bereitgestelltes
Ineinander« dem Nacheinander der Satzaussage entgegenstellt, kann er doch
zugleich diesem Nacheinander und seinem Sinn-Anspruch sich nicht versa-
gen. Aber wieweit ist dessen Einlösung unabhängig von Informationen?
Vielleicht bedarf es nicht besonderer Informationen, wie sie Szondi besaß
und uns mitgeteilt hat. Aber wie weit reichen die Verständnismöglichkeiten
ohne sie? Zuallererst muß man sich klarmachen: Kein Leser ist ganz ohne
Informationen. Der fiktive Nullpunkt der Uninformiertheit oder auch die
12 Zur tieferen Problematik, die hinter dieser Selbstdeutung steht, siehe )Vom geisti-
gen Lauf des Menschen(, in diesem Band, S. 84f.
13 PiTBR SZOND1, Celan-Studien. Frankfurt 1972. S. 113ff. Wiederabdr. in: Schriften
II. Frankfurt 1978. S.390«'
Wer bin Ich und wer bist Du? 437
Daß es sich um Berlin handelt, kann jeder an Spree und Havel erkennen.
Gewiß weiß, wer Berlin kennt, auch, daß es in Berlin den Landwehrkanal
gibt. oder wenn er es nicht weiß, kann er es leicht feststellen. Aber das ist auch
alles. Schwerlich wird ein allgemeines Informationsmittel unter dem Stich-
WOrt »Lalldwehrkanal« jenen schrecklichen politischen Mord vom Januar
1919 verzeichnen. Wie kommt ein Leser weiter? Da ist das Reizwort »die
Sau«, und der Zusammenhang mit dem Landwehrkanal macht das Gesche-
hen eindeutig: Mord. und von da aus wird ebenso klar, was es meint, daß der
Mann zum Sieb wurde. Ein Mann und eine Frau sind da erschossen und die
Frau in den Kanal geworfen worden. Daß »die Sau« eine Jüdin meint, ist
wahrlich nicht, wie eifrige junge Philologen von heute vielleicht meinen,
vom Charakter eines Zitates (so wenig wie das» Sieb«, obwohl Celan bei des
in dem Prozeßbericht gefilnden hat), sondern das ist - wenigstens für ältere
Leser - ein Schimpfwort und in antisemitischer Anwendung sogleich ver-
standen. Jedenfalls wird es von Ce!an als verständlich - und nicht als literari-
scher Bezug - gemeint. So weit, so gut. Wer nicht mehr als dies weiß, wird
freilich noch immer allzu wenig verstehen. Auch wenn die Roheit und der
Haß der Mörder in den Worten erkennbar sind - wem sie gelten, muß man
wissen oder - als zu Wissendes - suchen. Dazu ist man geradezu aufgefordert.
Denn es ist vollkommen klar und wird durch den Schluß» Der Landwehrka-
nal wird nicht rauschen« scharf akzentuiert, daß es sich um ein einmaliges
schreckliches Geschehen handeln muß. Aber wie weiter?
438 Wer bin Ich und wer bist Du?
Was erfährt man noch aus dem Gedicht selbst? 11 Umbuscht« und lIum-
flockt« wird man wohl auf das winterliche Berlin beziehen - aber gewiß
nicht auf den Blick aus dem Fenster, den Celan bei seinem Besuch vom Bett
aus hatte. Eher wird man in Busch und Flocke Schutz (»um-buscht, um-
flockt«) und nach innen lauschende Stille (daher: »im großen Gelausehe«)
verstehen.
Und wird man die Vorweihnachtsstimmung aus »Es kommt der Tisch
mit den Gaben« heraushören? Schwerlich. Man wird es allgemeiner verste-
hen. Immerhin so, daß es Kontrast und Widerspruch zu dem Entsetzlichen
einschließt, das im folgenden heraufgerufen wird. Dazu verhilft vor allem
die kühne Wendung: Iler biegt um ein Eden«. Wer? Der Tisch? Die Advents-
freude? Wiederum wird man weder das alte noch das neue Hotel Eden damit
verbinden können, bevor man den konkreten Bezug durch weitere Informa-
tion gewonnen hat. Gleichwohl läßt die Fortsetzung des »er biegt um ein
Eden« in jedem Falle den bitteren Widerspruch zu einem reichen Gabentisch
empfinden. Was für ein Eden immer - das gabenreiche Fest selber? -, es ist
nicht das Ziel dieser Fahrt oder dieser kommenden Gaben. ,Um ein Eden
biegen< ist ein Weg, der vom Glück wegführt und nicht zu ihm hin. Das -
und nicht die Autofahrt des Dichters am neuen Hotel Eden vorbei - steht im
Gedicht.
Die Kontrastspannung ist damit zum Bestimmenden des Gedichtes aufge-
stiegen. Wird man sie aber auch (so wie der durch Szondi Informierte es tut)
aus den vorhergehenden Versen herauslauschen? Gewiß, IIFleischerhaken«
und »rote Äppelstaken aus Schweden« ist injedem Falle ein Kontrast. Das
Rot, das mit Äpfeln und - vielleicht errät man das - ihrer Darbietung auf
einem Staken auftritt, tritt in einen blutigen Kontrast mit 'IFleischerhaken«.
Aber bis zu den Schilderungen der Schreckenskammer von Plötzensee an
der Havel gelangt man von dort aus noch nicht. Wird man das überhaupt
erraten? Wie man aus Szondis Bericht erf'ahrt, ist der Dichter selbst I'zur
Havel« und zu den Fleischerhaken von Plötzensee gegangen. Wir sind uns
aber einig: Das soll man nicht als biographisches Faktum einsetzen. Es
bestätigt sich dies durch die imperativische Form »Geh«. Da wird ein jeder
aufgefordert, das alles zu sehen. Aber was das eigentlich ist, was man da
sehen soll- weiß man das? Is t nicht alles im Gedicht verständlich, ohne von
Plötzensee, Liebknecht und Rosa Luxemburg zu wissen?
Wirklich?
Wir waren uns einig, daß die rohe Mordszene, die am Schluß geschildert
wird, den Leser auf ein einmaliges Ereignis weist, und wer es nicht, auf-
grund von Wissen und Information, errät, was hier gemeint ist, der weiß
eben im Sinne des Gedichtes nicht genug. Das Gedicht will, daß man das
weiß. Es will es so sehr, daß die letzten beiden Verse, die letzten beiden
Worte des Gedichts, »Nichts« und »stockt«, die schreckliche Spannung, die
Wer bin Ich und wer bist Du? 439
das Gedicht beherrscht, noch einmal zusammenballen, so daß sie aUe Gren-
zen sprengt. »Nichts stockt« muß man nach dem Vorhergehenden aufs erste
so hören; Alles geht weiter seinen Lauf, wie das ruhige Dahinströmen des
Landwehrkanals. Niemand hält sich über dies Ungeheure auf. - Aber dann
spürt man auf einmal den Zeilenbruch und die selbständige Dynamik, die
das »stockt« daraus gewinnt - und man stockt selber. Ist am Ende gemeint,
daß das Nichts-als-Weitergehen angesichts des Ungeheuren ins Stocken
kommt - oder zum Stocken kommen sollte? Meint nicht der Schluß: So soll
es nicht sein, daß alles so weitergeht?
Dann aber hat sich der Dichter wahrhaft mitgeteilt - nicht als dieser
Zufällige, der in die winterliche Nacht von Berlin hinauslauscht und den die
Eindrücke des Tages umringen: Plötzensee und der festliche Weihnachts-
markt des heutigen Berlin, die Lektüre des Berichts über den Mord an
Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Erinnerung eines Hotels Eden an ein
anderes und seine Zeugenschaft des Schreckens. Oie Folge der Imperative:
»Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken« ist nicht nur
eine Aufforderung an einen jeden, das alles zu sehen und zu wissen, es ist
mehr noch die Aufforderung darin, sich bewußt zu machen, wie Entgegen-
gesetztes da beisammen ist: die Spree und der durch Schrecklichkeiten
geisterhaft bevölkerte Havelsee, die Fleischerhaken der Grausamkeit und die
bunte Freude auf Weihnachten, das Luxushotel an dem Ort einer Tragödie-
das alles "gibt es zugleich. Das alles gibt es, Grauen und Freude, Eden und
Eden. Nichts stockt - wirklich nichts? Hier scheint mir die Antwort auf die
von Szondi mit Bravour gestellte Frage verborgen zu liegen.
Man muß nichts Privates und Ephemeres wissen. Man muß sogar, wenn
man es weiß, von ihm wegdenken und nur das denken, was das Gedicht
weiß. Aber das Gedicht will seinerseits, daß man alles das weiß, erfährt,
lernt, was es weiß - und all das fortan nie vergißt.
Man sollte also zur Frage des Informationsgehaltes grundsätzlich feststel-
len: Die Spannung zwischen besonderer Information und solcher, die man
aus dem Gedicht selbst schöpfen kann, ist nicht nur, wie oben gezeigt, eine
relative. Sie ist wohl auch eine veränderliche von der Art, daß diese Span-
nung sich im Laufe der Wirkungsgeschichte eines Werkes mehr und mehr
abschwächt. Vieles wird am Ende selbstverständlich bekannt sein, so daß
jeder es weiß. Man denke etwa an den Anlaß von Goethes Sesenheimer
Friederike-Liedern. Aber auch noch anders. Vielleicht wird uns manches
Gedicht Celans erst dann aufgehen, wenn uns neue Informationen zugeflos-
sen sind, zum Beispiel aus den Textstufen des Nachlasses. aus der Kenntnis
von Freunden. aus den Funden gezielter Nachforschung. Wir sind da noch
am Anfang eines Weges. auf dem auch früher schon gelegentlich ein Dichter
seinem Leser vorangegangen ist, indem er eine Erläuterung beigibt. Man
440 Wer bin Ich und wer bist Du?
ihren wahren Sinn ergibt. Zwar kann man gewiß auch bei einem Gedicht
den größeren Kontext ins Auge fassen, den eine Gedichtfolge darstellt, und
dort eine weiter gespannte Kohärenz suchen. Das ist aus der Hermeneutik
wohlbekannt, und man kann auf den jeweils größeren Kontext übergehen:
den Kontext, den ein vom Autor komponierter Gedichtband darstellt; den
Kontext eines Gesamtwerkes oder mindestens den bestimmter Phasen im
Werkschaffen des Autors; den Kontext gar eines Zeitalters. Das ist alles
richtig und längst mindestens seit Schleiermacher aus der Theorie des her-
meneutischen Zirkels bekannt, über die sich unsere heutigen Wissenschafts-
theoretiker so hübsch aufregen. Indessen erleidet der Begriff der Kohärenz
dadurch keine Abschwächung seines Sinnes.
Die Strenge der Kohärenzforderung nimmt in dieser Skala mit guten
Gründen ab. So ist es etwa in der vorliegenden Folge deutlich zu spüren, wie
Celan .komponiert< hat. Die vorbereitenden Gedichte, die Hinfuhrung auf
das Hauptthema und die Zusammenfassung des Ganzen im Finale gleichen
dem Aufbau einer musikalischen Komposition, und doch wäre es meines
Erachtens irrig, diese Einheit überzubewerten. Sie ist vorhanden, aber nur
aufgrund der in sich stehenden Einzelgebilde der Gedichte und nur in der
Weise einer losen, sekundären Einheitsfugung. Das gilt erst recht von dem
Gesamtwerk. Auch dieses ist die Stimme eines Menschen, gewiß - unver-
kennbar und einzig: ein Stil, der noch bei Nachahmem - nun freilich auf
peinliche Weise - kenntlich zu werden vermag. Auch in der Vielheit seiner
Formen und Farben und Motive hat der Dichter eine einheitliche Palette.
Und doch ist es selbst mit den Motiven eine eigene Sache. Wenn Celan
einmal, wie erzählt wird, Leuten, die beim Interpretieren eines seiner Ge-
dichte vom .lyrischen Ich< redeten, mahnend sagte: »Aber nicht wahr, das
lyrische Ich dieses Gedichts!«, so möchte ich auch fur alle Motivforschung
zwar anerkennen, daß sie das Auge schärfen kann, so daß man das einzelne
besser sieht, etwa was bei Celan »Stein« heißt - aber nicht wahr: der Stein
dieses Gedichts. Dann muß gegenüber der legitimen Aufgabe, das dichteri-
sche Vokabular Celans als solches zu studieren, beständig erinnert werden.
Etwas anderes ist es, wie oben betont, wenn das Gedicht sich ausdrücklich
auf früher Gesagtes zurückbezieht. Das kann ein wichtiges Interpreta-
tionsmoment bilden, unbestritten, und ist bei Celan beispielsweise bei allen
ausdrücklichen Zitaten - etwa aus Hölderlin - oder bei namentlich gekenn-
zeichneten Anspielungen - etwa aufBrecht - offenkundig. Nun läßt es sich
nicht leugnen, daß es ständig auch unterschwellige Anspielungen solcher
Art gibt, die man mit mehr oder minder großer Sicherheit bewußtmachen
kann und soll. Die Grenzen zur bloßen Vermutung und zu privat bleibenden
Assoziationen sind freilich fließend, und die Aufgabe unendlich. Zuletzt ist
es eine Frage des Taktes, der größten Tugend des rechten Interpreten, daß
die Ausarbeitung und Bewußtmachung der mannigfaltigen Syntax der
Wer bin Ich uni:! wer bist Du? 443
allein ankommt, ist, das zu verstehen, was der Text selber sagt, unbeschadet
aller Anleitung, die aus Informationen von außen zu kommen vermag.
Ich darf es am Beispiel eines bekannten Textes erläutern: )) Wer, wenn ich
schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?« Es ist der berühmte
Anfang der Duineser Elegien. Da hat jemand herausgefunden, daß Rilke
dieser Anfang gekommen sei, als er an einem Sturm tage am Steilhang von
Duino stand und in das aufgepeitschte Meer hinaussah und hinaushorchte.
Wenn diese Information richtig ist, muß man sie schleunigst wieder verges-
sen, wenn man verstehen will, was dieser Anruf an die )Engel( in Rilkes
Dichtung wirklich sagt.
Dagegen wird jeder Leser, und erst recht jeder Ausleger, durchaus dank-
bar sein, wenn ihm durch Leute, die etwas wissen, was man wissen sollte
und wissen könnte, Berichtigungen zuteil werden. Dann handelt es sich
nicht um Privates und Beiläufiges, sondern um die Bausteine der dichteri-
schen Rede selbst. Auch an mich ist inzwischen allerhand Berichtigendes
gelangt, einiges nütz~ich, einiges mehr als das, nämlich wesentlich, weil
ungenügend Verstandenes zurechtrückend. So war es mir nützlich, als ich
durch die alpinistische Informationsquelle, für die ich A. Nypels zu Dank
verpflichtet bin, den fachsprachlichen Sinn von "Büßerschnee(( erfuhr 1s .
Der vorangehende Ausdruck )mensche!1gestaltiger Schnee« wurde dadurch
schlagend erläutert. Auch daß »Wabeneis« keine dichterische Wortfindung
ist, sondern ebenfalls ein präziser Fachausdruck, ist nützlich und befriedi-
gend zu wissen. Oder daß man bei» Schläfenzange« auch an die Geburtszan-
ge der Arzte denken soll. All das sind primäre semantische Textbefunde, die
genau zu kennen gut ist. Sie geben durchaus noch keine volle Interpretation,
aber sie steuern ein Element grammatisch-semantischer Art rur eine solche
bei. Ob sie in die Interpretation - das heißt: in die eigentliche Aussage des
Gedichtes - einwirken, steht im Einzelfalle dahin.
Prüfen wir die Beispiele: Ich frage mich etwa, ob bei dem Schluß gedicht
(S. 426) das wirklich ganz hinfällig wird, was ich dort in der Vorstellung von
einem büßenden Pilger anklingen ließ, der den freigelegten Weg durchwan-
dert. Gewiß ist das Landschaftsbild, wie ich aus den alpinistischen Informa-
tionen inzwischen weiß, nicht nur dichterisch herbeigezaubert, sondern
auch sehr genau bezeichnet, wenn da von »Büßerschnee« die Rede ist.
Trotzdem darf man sich doch fragen, warum der Dichter diesen eigentümli-
chen Fachausdruck hier wählt. Wer den Ausdruck kennt, wird dadurch
genauer verstehen, warum es davor »menschengestaltiger Schnee« heißt.
Aber ist es nur das? Man wird doch nicht abstreiten können, daß die
Erklärung von »Büßerschnee« durch »menschengestaltiger Schnee(( oder
3. Hermeneutische Methode?
Eine hermeneutische Methode gibt es nicht. Alle Methoden, die die Wissen-
schaft gefunden hat, können hermeneutischen Gewinn bringen - wenn man
sie richtig nutzt und wenn man darüber nicht vergiBt, daß ein Gedicht kein
Befund ist, den man als Fall von etwas Allgemeinerem zu erklären vermöch-
te, wie den experimentellen Befund als den Fall einer Naturgesetzlichkeit.
Ein Gedicht ist auch nicht durch eine Maschine herzustellen. Daß ein
Computer Gedichte elektronisch zu fabrizieren vermag, wie das etwa Max
Bense gezeigt hat, ist nur scheinbar ein Ein wand. Daß das, was nach unzähli-
gen Kombinationen von Buchstaben irgend wann zustandekommt, ein Ge-
dicht ist, mag wahr sein. Aber entscheidend ist, daß es als Gedicht aus a11
dem Computermüll nur herauskommt, wenn es herausgelesen wird - und
das geschieht nicht wieder durch einen Computer. Er sondert es nicht als
Gedicht aus, sondern bestenfalls als eine grammatisch richtige Rede.
Hermeneutik meint nicht so sehr ein Verfahren als das Verhalten des
Menschen, der einen anderen verstehen will oder als Hörer oder Leser eine
sprachliche Äußerung verstehen will. Das ist dann immer: diesen einen
Menschen, diesen einen Text verstehen. Ein Interpret, der ane Methoden
der Wissenschaft wirklich beherrscht, wird sie nur anwenden, um die Erfah-
rung des Gedichtes durch besseres Verstehen möglich zu machen. Er wird
nicht den Text blindlings gebrauchen, um Methoden anzuwenden.
Gleichwohl hat es nicht an Einreden gefehlt, die meinen Deutungsversuch
448 Wer bin Ich und wer bist Du?
17 Ausfllhrlicher dazu u.a .•Sprache und Verstehen. in Ges. Werke Bd. 2, bes. S. 196ff.,
sowie .Text und Interpretation(, ebd. S.353fF.
18 Siehe dazu schon oben, S. 388.
Wer bin Ich und wer bist Du? 449
bußfertig den Weg zum Atemkristall gewandert ist. Jedenfalls ist es das allen
gemeinsame Wort, das er zu finden suchte. Nicht umsonst hat er das oben
schon zitierte Wort gesagt: »Lesen Sie, lesen Sie immer wieder. dann wird
das Verständnis schon kommen!« Er rechnete offenbar darauf, . daß die
allgemeine menschliche Erfahrung, in die die Furchtbarkeiten unserer Epo-
che eingegangen sind. und das Wissen. das mehr oder minder von allen
erworben wird, die sich solchen Dingen nicht überhaupt verschließen, seine
Gedichte aufschließen. Ob ohne Methode oder mit allen Methoden - das
hätte ihn schwerlich beunruhigt. Es ist ja auch eine unleugbare Erfahrung,
daß dieser hermetische Dichter, von dem kein vernünftiger Mensch behaup-
ten wird, daß man alle seine Gedichte verstehe - so wie man heute etwa
Goethes Gedichte versteht -, trotzdem von Tausenden gelesen wird, weil sie
es als Dichtung empfinden. Das genauere Verständnis mag vage und be-
schränkt sein, man versteht es auch dann als Dichtung. Nein, Allegorik setzt
einen selbstverständlichen Konsensus voraus, der als solcher heute nicht
mehr besteht. Heutige Dichtung setzt einen Konsensus voraus, der erst
entstehen so1120 • Was ich in meinen eigenen Untersuchungen zu dieser Frage
unternahm, ging gerade darauf, die künstliche Auseinanderreißung von
Allegorie und Symbol fraglich zu machen21 • Ich folge auch im FalleCelans,
wie ich meine, meinen eigenen Einsichten.
Und nun zum Schluß nochmals: Was muß der Leser wissen? Daß der
Leser und daß der Ausleger, der in diesem Falle ich bin, so viel wie möglich
wissen sollte und leider nicht genug weiß, scheint mir unstreitig. Das ist mit
dem Grundsatz der Wissenschaft aufs engste verknüpft, daß sie sich keine
Grenzen setzen kann. So muß sie selbstverständlich alle ihre Methoden, auch
neu zu entwickelnde, einsetzen. Aber die Frage) Was muß der Leser wissen?(
ist damit nicht beantwortet, auch bei Celans Gedichten nicht. Schließlich
werden Gedichte nicht für die Wissenschaft geschrieben, auch wenn der
Leser, für den sie geschrieben werden, aus den Hilfen, die ihm die Wissen-
schaft gewähren kann, Nutzen ziehen wird. Er wird, wenn er nicht weiß,
auch Lexika gebrauchen - aber das sind nur die faulen Früchte der Wissen-
schaft. Dagegen gibt es eine andere, präzise und verbindliche, nur freilich
nicht kontrollierbare und fixierbare Antwort auf die Frage: Was muß der
Leser wissen? Sie lautet: Er muß so viel wissen, wie er braucht und wie er
verkraften kann. Er muß so viel wissen, wie er in sein Lesen des Gedichts, in
sein Hören auf das Gedicht wirklich einbringen kann und muß. Nur so viel,
wie sein dichterisches Ohr verträgt, ohne zu ertauben. Das wird oft recht
wenig sein - und bleibt dann immer noch mehr, als wenn es zuviel ist.
20 Siehe dazu auch ,Dichten und Deuten. Getzt in Ges. Werke Bd. 8), mit dem Hinweis
aufKafka.
21 Vgl. ,Wahrheit und Methode. (Ges. Werke Bd. 1), S. 77 ff.
Wer bin Ich und wer bist Du? 451
Es ist eine sokratische Weisheit, die ich hier auf das Gold der Wissenschaft
anwenden möchte. Am Schlusse des .Phaidrosl erbittet Sokrates in einem
Gebet an Pan, der über der sommerlichen Stunde des Gesprächs gewaltet
hatte, unter anderem: »Von Golde so viel, wie ein Mensch von gesunder
Vernunft tragen und mit sich führen kann.« Das Gold der Wissenschaft ist
auch Gold. Wie alles Gold verlangt es seine rechte AnwenduJ1g. Das gilt erst
recht in der Anwendung der Wissenschaft auf die Erfahrung der Kunst. Als
hermeneutischer Grundsatz heißt das: eine Interpretation ist nur dann rich-
tig, wenn sie am Ende ganz zu verschwinden vermag, weil sie ganz in neue
Erfahrung des Gedichts eingegangen ist. An diesem Ende sind wir bei Celan
vorerst nur in seltenen Fällen.
37. Sinn und Sinnverl?-üllung bei Paul Celan
(1975)
Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Sinn und Sinnverhüllilng bei Paul Cclan 453
Die Frage, die damit gestellt ist, ist nun, in welchem Sinne das Gedicht an
diese »Tenebrae« anschließt. Jedenfalls heißt es »Tenebrae«, nicht ohne die
ganze Tradition der Passionsgeschlchte - von den alttestamentlichen Klage-
liedern über die Passionsgeschichte bis zu der Passion des Menschseins unter
dem verdunkelten Himmel unserer Gegenwart - zu erwecken. Das ist eine
Vororientierung, die durch das Gedicht selber ihre nähere Ausführung
erfahren muß.
Das Gedicht ist eine Herausforderung. Wie soll man es verstehen? Ein
blasphemisches Gedicht oder ein christliches Gedicht? Ist es nicht blasphe-
misch, wenn das Gedicht mit klaren Worten zu dem sterbendenJesus sagt:
Nicht zu Gott, der dich verlassen hat, solltest du beten, sondern zu uns!
Diese Entgegensetzung läßt sofort einen unüberhörbaren Sinn erraten: Weil
Gott den Tod nicht kennt, ist er in der Todesstunde nicht erreichbar. Wir
dagegen kennen den Tod, wissen um ihn und seine Unausweichlichkeit und
verstehen deshalb diesen letzten Seufzer der Verlassenheit zutiefst. Offen-
kundig wollten diese letzten Worte Jesu nicht Zweifel an seinem Gott
ausdrücken, sondern die Obergewalt des Leidens und des Todes besiegeln.
Darin liegt eine letzte Gemeinsamkeit zwischen dem Menschensohn und
den Menschenkindern, daß sie den Tod erleiden.
Was aber heißt es, daß Jesus lieber zu uns beten soll? Ist das eine äußerste
Verspottung und Verwerfung des Glaubens an Gott und Betens zu Gott,
mithin eine kühne, gottferne Umdeutung der ganzen Passionsgeschichte
und der Verlassenheit Jesu am Kreuze? - Aber ist diese letzte Verlassenheit
nicht ein Wesensmoment des christlichen Inkarnationsgedankens selber, so
daß der Dichter hier gleichsam einen Schritt weit wiedererweckt, was die
christliche Lehre mit dem Gedanken des stellvertretenden Leidens und Ster-
bens Jesu eigentlich meint? Ich will diese Frage nicht zu beantworten suchen.
Sie läßt sich gar nicht beantworten. Es kommt auch nicht auf die Meinung
des Dichters an, sondern auf das, was im Gedicht zur Sprache kommt. Der
Dichter hat es offengelassen, was das ist. Wie in allen Sprachgebilden, die ein
Dichter schafft, sind wir genötigt, das selber zu entscheiden. Wir können
uns nicht auf ihn berufen.
Immerhin, Jesus wird aufgefordert, zu uns zu beten. Was heißt hier
»beten«? Was heißt Beten? Das Gedicht setzt unzweideutig mit der Heraus-
forderung: » Bete zu uns, Herr« ein. Damit ist aufJ esu letzte Worte am Kreuz
angespielt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Ist das
überhaupt ein Gebet? Gewiß ist es ein Anruf an Gott. Und vielleicht muß
man wirklich sagen, daß eben darin der einzig mögliche Inhalt eines Gebetes
überhaupt besteht, solchen Anruf zu tun. Denn »wir wissen nicht, was wir
beten sollen« (wie es im Römerbrief und in der bekannten Bach-Motette
heißt).
Tatsächlich kann Beten nicht heißen etwas erbitten. Als ob wir von uns
Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan 455
aus wüßten, was fiir uns das Rechte ist. Erhörung des Gebetes scheint
vielmehr aller Erfüllung möglicher Wünsche vorauszugehen. Erhörung des
Gebetes ist das Gehärt-Werden des Gebetes selber, das Dasein dessen. zu
dem man im Gebet ruft. Daß er hört und daß man eben nicht verlassen ist.
das ist die Erhörung. So verstanden ist der Inhalt der letzten WorteJesu das
Gebet schlechthin. der letzte Seufzer. der fleht. bei mir zu sein. mich nicht
allein zu lassen.
Nun ist die Todesstunde. dies letzte Autbäumen der Natur in uns, fiir
einen jeden die Stunde seiner äußersten Verlassenheit. Die kühne Wendung,
die das Gedicht nimmt, besteht darin, daß es sich dabei gewiß nicht nur um
die Verlassenheit von Gott handelt, sondern gerade auch von allen anderen
Menschen. Was soll »beten zu« diesen Menschen heißen? Als ob Menschen
da helfen könnten! Jedoch, wenn Beten rufen heißt. daß der andere höre.
entsteht ein tiefer Sinn: Da die Menschen den Tod kennen, unter dem Gesetz
des Todes stehen, sind sie mit dem. der stirbt, auf einzigartige Weise
solidarisch. Dessen soll der Sterbende sich im Beten zu uns vergewissern,
dieser letzten Gemeinsamkeit.
Es ist diese Gemeinsamkeit. die am Eingang des Gedichtes hingestellt
wird. Im Beginn und am Schluß des Eingangs steht wie am Schluß des
Ganzen: Wir sind nah. »Nah sind wir, Herr, nahe und greitbar.« Mir
scheint, daß ein leichter Ton auf dem »wir« liegt. Nicht du bist nah, sondern
wir. Das ist alles andere als eine Hälderlin-Imitation. Der ähnliche Klang,
mit dem die Patmos-Hymne angeht: »Nah ist und schwer zu fassen der
Gott«, weist in die genaue Gegenrichtung. Nicht der Gott ist ja hier rur uns
nah, sondern wir sind nahe fiir den Herrn. Der Übergang von »greitbar« in
»gegriffen schon« eröffnet eine Klimax. die zu »ineinander verkrallt« fiihrt.
Sie hebt den Abstand zwischen dem Greifenden und Gegriffenen, die Ge-
schiedenheit des Sterbenden von den noch Lebenden, auf.
Denn wovon sind wir selber »gegriffen«? Doch gewiß nicht von dir,
Herr, für den wir »greitbar« genannt sind. Das, wovon wir ergriffen sind,
kann nur der labsolute Herr< sein, der Tod, dem die Menschen gehören. Er
ist so sehr unser Herr, daß wir vor ihm alle gleich sind. »Ineinander ver-
krallt« halten wir uns wie im Todeskampf um sich Greifende. Diese Ver-
zweiflung ist offenbar so sehr die eigentliche Gemeinsamkeit. daß die Men-
schen, ineinander verkrallt, injedem anderen Hilfe und Heil suchen - »als
wär der Leib einesjeden von uns dein Leib. Herr«.
Es wird im Fortgang völlig klar, daß es der Leib des sterbenden und
gestorbenenJesus ist, der hier eindeutig als lIdein Leib« gemeint ist. Es liegt
aber in dieser Wendung noch etwas anderes. Es scheint mir wichtig. daß es
lIder Leib eines jeden von uns« heißt und nicht: »unser Leib«, der Leib von
uns allen. Jeder von uns ist fiir jeden von uns der Nächste, den er doch nicht
erreicht. Denn im Sterben ist jeder von uns so allein und verlassen wie der
456 Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan
vom Tode wegzuleben suchen. Das Paradox besteht darin, daß der einzige
Trank, den wir finden, •• Blut« ist, und das heißt, der Weg läßt das, wovon es
uns wegtrieb, den Tod, gerade erst recht begegnen. Wieder wird ein Mittel
emphatischen Sagens gebraucht: »Es war Blut, es war ... « stellt zunächst
das Erschrecken für sich. Statt Wasser ist es Blut - und doch wird das zur
»Tränke«, wenn wir am KreuzestodJesu die Unausweichlichkeit des Todes
zu erkennen und anzuerkennen gelernt haben.
Den ersten Schritt zu dieser Erkenntnis sagte der Vers: "Es war, was du
vergossen, Herr. Es glänzte.« Ein Vers von einer gewaltigen sinnlichen
Kraft. Er evoziert den eigentümlichen Glanz, den vergossenes Blut hat, in
dem etwas Schauerliches ist. Es ist nichts vom Glanz der Verklärung darin.
Bemerkenswert bleibt vielmehr, daß keinerlei Verheißung damit verbunden
ist und nicht »für uns vergossen« gesagt wird. Freilich, was in solcher Art
nicht gesagt wird, ist nicht einfach nicht da. Es klingt an und gewinnt
dadurch eine neue Gegenwart: die des Entzugs und der Verweigerung. So
,meint( es uns, aber offenbar in einem ganz anderen Sinne als in dem des
stellvertretenden Leidens. Denn in diesem Blute spiegelt sich nichts als der
Tod selbst, der Leichnam Jesu. Deswegen verstärkt das Gedicht noch die
erschreckende Wirklichkeit, die der Tote für den hat, den der Lebensdurst
treibt: »Es warfuns dein Bild in die Augen, Herr. Augen und Mund stehn so
offen und leer, Herr.« Es ist die ganze Unheimlichkeit des Todes, diese
entsetzliche Fremdheit, die den Gestorbenen für die Lebenden ganz und gar
ins Abseits scheidet, die hier denen begegnet, die, vom Lebensdurst getrie-
ben, auf der Suche nach dem Trank sind. Das Motiv der Pieta klingt an.
Aber daß dies Bild »im Blut« ist, über das wir uns beugen, besagt noch
mehr. Was uns als der Gekreuzigte, der sich im Blut spiegelt, begegnet, ist ja
unser eigenes Gezeichnetsein vom Tode. Wir begegnen in ihm uns selber,
schrecken aus unserer Selbstvergessenheit auf, erschrecken vor uns selber.
»Als wär der Leib einesjeden von uns dein Leib, Herr.« Ja, dies Blut und das
Bild, das in ihm ist; ist der Trank selbst. Das ist die große affirmative
Konklusion, mit der das Gedicht sein Argument vollendet: »Wir haben
getrunken, Herr. Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.« Das heißt:
obwohl es Blut war und das Blut, in dem der tote Leib Jesu sich spiegelte,
haben wir es getrunken. Wir haben es angenommen und nicht schaudernd
zurückgewiesen. Wir haben es angenommen, daß wir sterben müssen. Das
ist es, was uns berechtigt zu sagen: "Bete, Herr. Wir sind nah.«
So schließt sich das Ganze. Uns selbst in unserer Todesbestimmtheit
gewahrend, erfahren wir eine letzte Einung mit dem sich von Gott verlassen
fühlenden sterbenden Jesus. Man muß also abschließend abermals feststel-
len: In der Überlieferung der Evangelien will der Ausruf der Verlassenheit
Jesu gewiß nicht eine Abschwächung seiner Opferbereitschaft sein oder gar
einen Zweifel an seinem Gott ausdrücken. Das »Nicht wie ich will, sondern
458 Sinn und Sinn verhüllung bei Paul Celan
I Siehe dazu auch die Deutung des Gedichts im Rahmen meines Beitrags >Der Tod als
Fragee (Ges. Werke Bd. 4, S. 161-172).
460 Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Ce1an
Hier muß ich freilich fragen: Wirklich nicht? Ist es nicht gerade das, was
der Dichter in ihm vermag? Das Gedicht selbst vereinigt immer wieder das
Ganze. Es fUhrt trotz all seinen vielfältigen Bezügen - nein, gerade mit ihrer
Hilfe - zu der Allseitigkeit einer dichterischen Gegenwart. Daß Celan dabei
einer vielstelIigen, gebrochenen Semantik bedarf, kühner Synkretismen und
wortspielhafter Fügungen, ist klar. Es gilt, den einstelligen Pragmatismus
einer vernutzten Alltagsrede hinter sich zu lassen und obendrein - um der
Verdichtung willen - mancherlei Rhetorik aufzugeben. Das macht die neue
Dichtweise aus, die IAtemkristall< auszeichnet. Es geht eben um die Bemü-
hung, daß es ein Gedicht und nicht ein »Genicht« sein soll.
Noch weniger hat es Sinn, hier dem Leser oder Deuter, der versteht, eine
phänomenologische Methode zuzusprechen. Was man so nennt, ist in
Wahrheit nichts anderes, als daß man als Leser der Sprache folgt, die hier
geführt wird und die etwas zur Erscheinung bringt. Eben dieses, was sie
zeigt und sehen läßt, die IPhänomene<, gilt es in sich aufzubauen. Die
semantischen Mittel, mit denen dieses Zeigen erfolgt, muß man als Deuter
gewiß isolieren, aber nur, um sie dann wieder in die Einheit der Rede
zurückzuversetzen. Auch die sogenannte Vielstelligkeit der Worte bestimmt
sichja, wie alle Bedeutung von Worten, aus der Sinneinheit, die das Ganze
der Rede trägt. Auf ihr beruht die Einheit eines Gedichts. Hierfür kann ich
mich abermals auf Celan selbst berufen, wenn er etwa in seiner Meridian-
Rede der Topik mit Bedenken gegenübersteht und ausdrücklich sagt, daß es
sich nicht um den Topos des Steins handeln könne, sondern immer nur
dieses Steins in diesem Gedicht. So bleibt die letzte Aufgabe jedes Lesers,
einen Text wieder zum Sprechen zu bringen. Man meine ja nicht, daß der
sehr differenzierte und nachdenkliche Sinn von Poesie, den Celan in der
Meridian-Rede als sein eigenstes Ziel zu kennzeichnen versucht hat, diese
Aufgabe etwa gegenstandslos oder gar unmöglich machte. Lesen heißt
immer etwas sprechen lassen. Die bloßen stummen Zeichen bedürfen ihrer
Artikulation und Intonation, um das zu sagen, was sie sagen wollen. Man
darf sich hier nicht dadurch beirren lasse11, daß Jacques Derrida in seiner
,Grammatologie< die ecriture zum Modell unbestimmter Vieldeutigkeit er-
hoben hat. Bei Paul Celan ist es die Vieldeutigkeit der Worte selbst, dieser
Stimm-Spuren von Sinn. Lesen bedeutet immer, den Klang und Sinn des
Textes erstehen zu lassen. An diesem Grundphänomen des Sprechenlassens
von Text, an der Grundstruktur der Sinneinheit von Rede, ist auf keine
Weise vorbeizukommen.
Daher ist jeder Aufgliederung semantischer Vielstelligkeit die Aufgabe
gestellt, die Unterordnung der semantischen Bezüge in die Einheitsnorm
des >Hörens< zusammenzufügen. Um es an einem bekannten Beispiel zu
zeigen: Das erste Gedicht von IAtemkristaU< läßt sich in einer semantischen
Analyse so nehmen - da ist von dem Maulbeerbaum die Rede und am Ende,
Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Cclan? 463
daß das jüngste Blatt an diesem Maulbeerbaum »schrie«. Da kann man das
Wort »Maulbeerbaum« von vornherein als eine bloße allegorische Benen-
nung des großmäuligen Geschreis nehmen, das die Stille des lauschenden
Hörens stört und übertönt. Damit sieht man aber an der sinnlichen Erschei-
nung vorbei, die das Gedicht selber mit seinen Worten hervorzuzaubern
weiß, nämlich diesen unermüdlich sprießenden Maulbeerbaum - übrigens
keine künstliche Wortfiigung Celans, sondern als deutsche Bezeichnung
ganz normal und geläufig. Dieser Maulbeerbaum also symbolisiert in der
Tat eine nicht zu bändigende, unermüdliche Triebkraft. Das ist es, was man
sehen muß und was das Gedicht evoziert, um dann sich sagen zu lassen, im
Gang des Gedichts, was dieses Entlangschreiten an Maulbeerbäumen hier
sagen will. Erst muß man sehen, um dann zu verstehen, das heißt die
Transposition vorzunehmen, die am Ende durch Immer-wieder-Lesen sich
als Verstehen des Lobs der Stille vollzieht.
An dieser Vollzugsweise hängt das, was man die Sangbarkeit eines Ge-
dichtes nennen darf. Es ist kein wirkliches Singen. Es ist eher ein Meditieren,
aber auch dies ist wie Gesang. Gesang kann man nur im Mitsingen wirklich
vollziehen. So kann man auch ein Gedicht nur so erfahren, daß es auf seine
Weise ein Lied ist und daß man den Mitvollzug seines Sprechens sich
aussprechen läßt. Es ist ein Mißverständnis, wenn man diese Forderung
etwa dadurch eingeschränkt sehen möchte, daß die seltsam verworfenen
Fügungen Celanscher Texte in diesem Sinn keinen Sinn haben, weil lauter
Spannungen, Widersprüchlichkeiten, Brüche und Kohärenzmängel im Text
selber'erscheinen. Das ist zwar wahr, aber eben das gilt es zu vollziehen und
so zu verstehen, was das Gedicht sagen will. Dieser Sinn ist nicht das Ziel
eines begrifflichen Fazits, wohl aber die unabdingbare Forderung tur alles
Geschriebene, daß es überhaupt Sinn hat, und erst recht gilt es tur einen
Text. der eine dichterische Aussage sein will.
Doch will ich hier keine eigenen Deutungsversuche wiederholen, noch
kann ich auf die einzelnen Beiträge des Kolloquiums eingehen2 • Das steht
mir nicht zu - wenn man mir nur die allgemeine Forderung abnimmt, daß
ein Dichter seine dichterische Welt durch seine Kunst sehen läßt. Die wissen-
schaftliche Analyse mag dann die Kunstmittel selber zum Thema machen
und wird das durch Isolierung und Vergleichung und mit allen möglichen
Methoden und Kenntnissen und Resonanzen zu tun haben. Aber alles dies
doch. um es in einem höheren Artikulationsgrad des Verstehens wiederher-
zustellen.
Es wäre eine ganz andere Aufgabe, nun etwa in die Poetologie der Meri-
dian-Rede einzutreten, wie sie inzwischen in einer die Auseinandersetzung
2 Sie sindjet2t abgedruckt in dem Sammelband von G. BUHR/R. REUSS (Hrsg.), Paul
Celan: »Atemwende •. Materialien. Würzburg 1991.
464 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?
lohnenden Arbeit von Gerhard Buhr vorgelegt worden ist3 , aus der man viel
lernen kann. Aber es wäre ein Irrtum, zu meinen, daß eine so elementare
Wahrheit wie die, daß man Texte zum Reden bringen muß, wenn man sie
verstehen will, von der Thematik der Meridian-Rede irgendwie betroffen
wäre. Gewiß ist die Meridian-Rede im ganzen eine Ästhetik des lyrischen
Gedichts, das Fragen nach dem Verhältnis des Dichters Paul Celan zu seinen
großen Vorgängern ins Spiel bringt. Aber ob man nun einen Text von-
Goethe oder Hölderlin, Mallarme oder Celan liest, die Aufgabe des Lesens
bleibt die gleiche. Das ist der Grund, warum ich selber gestehen muß, daß
ich nur an ausgewählten Beispielen des Celanschen Werkes der Spätzeit in
der Lage bin, sie zu verstehen, das heißt, so in sie einzudringen, daß man sie
in ihrer natürlichen Bedeutungseinheitlichkeit vollzieht.
Ich denke da mit aller Vorsicht an die Erfahrung, die man mit Rilkes
Duineser Elegien machte, die seinerzeit etwas so Ungewohntes waren, daß
sie unzähligen verzerrten Auffassungen ausgesetzt wurden und als dunkel
und unverständlich galten. Da hat uns Kippenberg erzählt, daß Rilke einmal
in Leipzig eine solche Elegie so vorgelesen hat, daß alle Anwesenden sie
einfach und kla: und völlig verständlich fanden. Richtig lesen können ist
schwer. Es verlangt, daß man das richtige Verständnis gewonnen hat.
Aber was hier ,richtig< heißt, ist immer relativ. Auch ein Dichter wird
seine eigenen Gedichte, falls er diese Fähigkeit überhaupt besitzt, immer
wieder anders lesen. Richtig lesen heißt nur, daß der Text in seiner eigenen
Komposition und Bedeutungsdichte in jedem einzelnen seiner Züge voll-
ziehbar wird. Ich möchte nur zu Beispielszwecken nochmals einen Fall aus
IAtemkristall< heranziehen. um den Sinn von lrichtig< zu illustrieren, sowohl
den eindeutigen Sinn des Kriteriums, das da gilt, als auch den relativen
Charakter dieses Kriteriums. Ich wähle das schon öfters auch von mir
behandelte Gedicht 4 , wo der Ausdruck »das Mein-gedicht« vorkommt.
Manche Deuter glauben noch immer, daß hier nicht eine Analogiebildung
zu ,Meineid< gemeint sei, sondern die Nichtigkeit des bloß im privaten
Meinen verbleibenden Gedichts. Nun wird man wohl zugeben, daß nur,
wenn man die Analogie zu ,Meineid< hört, dann der Schluß des Gedichtes,
»unumstößliches Zeugnis«, wirklich ,sitzt<, indem es auf das falsc~~ Zeugnis
solchen »Genichts« zurückweist. Nun darf man sich aber nicht mit der
Vielstelligkeitstheorie trösten, bei des könnte gemeint sein, und sich etwa
gar noch darauf berufen, daß die Verstrennung, die das »Mein-« von »ge-
dicht« trennt, als Zeichen dafür zu nehmen sei, daß das »Mein« auch im Sinn
3 GERHAJU) BUHR, Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst in Celans Rede ,Der
Meridian<. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988), S. 169-208. Dort auch der Hinweis auf das Celan-
wortbeiHuppERT[s. Anm.1J.
4 Vgl. ,Wer bin Ich und wer bist Du?, in diesem Band, S. 42SfF. und die Bemerkungen
dazu S. 464f.
Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? 465
von Privatheit mitgemeint sein sollte. Ich war zufällig bei Paul Celan in
Paris, als ihm diese Fehldeutung. ich glaube aus einer englischen Veröffentli-
chung. den größten Ärger bereitete. Er berief sich natürlich sofort auf
»unumstößliches Zeugnis«.
Das Beispiel habe ich mit Bedacht gewählt. Hier sieht man. daß das
Gedicht seine Aussage behielte, auch wenn man falsch versteht. was hier
»Mein-gedicht« heißt. Aber es wäre ein schlechteres Gedicht. Man könnte
vielleicht noch sagen, es wäre doch im Stile Celans, ein solches Wortspiel
anzubringen. Die Ausrede hilft nicht. Der monumentale Schluß »unum-
stößliches Zeugnis« wäre ohne den inneren Halt. wenn das als falsches
Zeugnis am Anfang stehende »Mein-gedicht« nicht den Halt böte. Die
Einheit der Aussage wäre geschwächt. Das ist das Kriterium, das es bei
dichterischer Rede allein gibt - ein relatives. gewiß, ein variables. wie jede
Intonationsvariation schon zeigt. Bei Celan konnten sogar die im Druck
abgesetzten Versgliederungen variabel sein. wenn er vortrug. Offenbar
kann der Vollzug der Sinneinheit der Rede im Wiedersprechen es verlangen
oder erlauben. Wenn man mir da einwendet: IWas soll das für ein Kriterium
sein? Das hat doch gar keine Beweiskraft( - dann antworte ich: In der Tat.
Gedichte sind keine Rechenaufgabe. Am Ende kann nur der Vollzug des
Sinnes und der sich bewährende Vollzug des Sinnes - für einen selbst wie für
jeden anderen, der es damit versucht - überzeugen. Zu jeder Diskussion
über mögliche Interpretationen gehört daher. daß man es mit der Meinung
des anderen versucht, um am Ende das, was im Text steht, das unumstößli-
che Zeugnis. zu hören.
Nach dem langen Zeitraum seit der Heidelberger Tagung über Celans
IAtemwende( kann ich nicht mehr im einzelnen an das anknüpfen. was ich
damals selber beitrug. Das war ganz aus der Situation entstanden und für sie
bestimmt. Inzwischen liegt ein überwältigendes Material der damals vorge-
legten Studien vor. Mir fehlt die Unbefangenheit. mir darüber Rechenschaft
abzulegen. was die gewaltige Konzentration von Arbeit und gelehrter For-
schung für mich als heutigen Leser bedeutet. Das gilt für mich um so mehr.
als die Konzentration aufdie Gedichtfolge IAtemkristall. auf meinen eigenen
Deutungsversuch vor zwei Jahrzehnten zurückweist. Es liegt in der Natur
der Sache. daß mein eigener Deutungsversuch von damals eine jüngere
Generation dazu herausfordert. ihrerseits an der Deutung dieser verschlüs-
selten Dichtung zu arbeiten und meinen ersten Versuch zum Anlaß zu
nehmen, eine Art Bilanz zu ziehen. Inzwischen ist ja ein reiches Schrifttum
wissenschaftlicher Beiträge zum Verständnis der Dichtungen von Paul Ce-
lan vorhanden. und ihnen gegenüber gilt gewiß vor allem sich zu fragen,
was da geleistet worden ist und was hier geleistet worden ist. Sie alle haben
auf ihren Wegen Schlüssel gesucht und glauben Schlüssel gefunden zu
466 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan?
haben. wie dies oder jenes Celansche Gedicht aufzuschließen ist. Da kommt
man sich als einer der ersten Leser und Deuter etwas seltsam vor. Mein
Büchlein war wirklich der Kommentar eines Lesers. der beim Lesen helfen
wollte. und erhob keine wissenschaftlichen Ansprüche.
Im Umgang mit Kunst und vor allem mit Dichtung haben wir es freilich
fast immer mit einem Zwischen von wissenschaftlicher Untersuchung und
unmittelbarer verstehender Reaktion zu tun. Nicht umsonst hat in anderen
Ländern die Literaturwissenschaft den Namen >Wissenschaft( überhaupt
gemieden und sich begnügt. sich >Criticism( oder >Lettres( zu nennen. Das
will gewiß nicht besagen. daß nicht auch Dichtung unter den Maßstab von
Richtigkeit der Deutung gestellt werden muß. Freilich wird man sich nicht
auf einen geradlinigen Fortschritt auf eine letzten Endes richtige Deutung
hin einigen können. Aber immerhin können jüngere Forscher gar nicht
anders. als Fortschritte ihrer Wissenschaft in Anspruch zu nehmen. und
tatsächlich gibt es eine wahre Hochflut .von Forschungsmethoden und For-
schungsresultaten. auf die man sich heute berufen kann. wenn es um Celan
geht. Doch ist es nicht in erster Linie diese Perspektive. unter der die
Deutungsgeschichte eines solchen dichterischen Werkes steht. Der Maßstab
der Fortschritte der Forschung ist nicht der wichtigste in diesem Betracht.
Was man heute Rezeptionsästhetik nennt. wiegt schwerer. Da geht es um
den Wandel der Erfahrungsweise selber. den Niederschlag der inzwischen
erworbenen Welterfahrung und Kunsterfahrung. um den Wechsel der Sen-
sibilität und des Fragenpotentials. die sich im Aufnehmenden auswirken.
Nicht zuletzt tritt dazu - gerade auch im Falle Celans - der eigene Stilwandel
des Dichters. in dem sich seine tragische Lebenskurve spiegelt. wofür kürz-
lich Giuseppe Bevilacqua einen einleuchtenden Beitrag geliefert hats.
>Atemkristall( eröffnet einen neuen Stil. Sehr kurz gehaltene Gedichte und
eine dem Kryptischen sich nähernde Dichtweise: das fand damals manchen
bisherigen Celan-Leser hilflos. Manchen an das Melos der frühen Versbände
gewohnten Leser ließ dieses Büchlein das Melos vermissen. das die Einheit
der dichterischen Aussage zum Sprechen brächte. Meinerseits folgte ich
damals dem Weg. zu dem. wie ich später sah. der Dichter selber immer
wieder geraten hat: »Nur lesen. immer wieder lesen. (( Das kann nicht ganz
wörtlich gemeint sein. Celan hat sich oft genug. wenn er Mißdeutungen
begegnete, darüber beklagt, warum man sich nicht im Lexikon Auskunft
geholt habe. Offenbar unterschied Celan bewußt zwischen dem. was man
durch das Hören auf das Gedicht erfahren kann. so wie ich es damals lange
Sonnentage hindurch in den holländischen Dünen meditierend versucht
habe - und auf der anderen Seite steht das, was man wissen kann und was
man wissen muß. Ein Poeta doctus wie Celan weiß nun kaum. was man
6 Vgl. in diesem Band, S. 392ff. Siehe dazu auch S. 144ff. der revidierten und ergänz-
ten Ausgabe in der BIBLIoTHEl( SUHRI(AMP Bd. 352 (Frankfurt 1986). In der ersten Auflage
(1973) ließ ich damals sogar heide Texte nebeneinander drucken. weil der fehlerhafte Text
mit IlHimmelssäure. vielen Lesern der einzig bekannte war.
1 Siehe meinen Kommentar. in diesem Band. S. 419ff.
8 In diesem Band. S. 436ff.
468 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Cdan?
ehen, man möchte aus dem schönen Beitrag, den Peter Horst Neumann zum
Liedbegriff auf der Tagung geliefert hat l2 , in der Deutungspraxis recht viel
Gebrauch machen. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß im Spätwerk Celans
das Liedhafte nicht mehr so dominant scheint. Aber heißt das, daß man
Kreuzworträtsel zu lösen hat? Mir jedenfalls ist bei den wenigen Gedichten
der Spätzeit, die ich wirklich ganz verstehe, die Einheit des Melos wiederum
unverkennbar, das das Gedicht im ganzen durchtönt. Ob wir alle noch zu
sehr Anfänger im Hören dieser Dichtung sind? Sollte man nicht auf anderes
einen Schluß ziehen und wie Sokrates über Heraklit urteilen: •• Was ich
verstanden habe, ist vortreffiich, und so wird es wohl mit dem anderen auch
so sein. Freilich bedarf es eines Meistertauchers, den Schatz ans Licht ZU
bringen.«
12 Vgl. jetzt PETER HORST NEUMANN, Lieder jenseits der Menschen: das Motiv des
Singens bei Celan und in neuerer deutscher Poesie. In: H. DANuSER u. a. (Hrsg.), Das
musikalische Kunstwerk (FS earl Dalhaus). Laaber 1988, S. 767-776.
Bibliographische Nachweise
Genannt sind nur die Erstveröffentlichungen. Die Beiträge selbst erscheinen in überarbei-
teterForm.
14. Vergänglichkeit.
Geschrieben für das Programmheft (S. 11-16) der Hamburgischen Staatsoper anläß-
lieh der UraufRihrung) Vergänglichkeit( - Musik von Dieter Schnebel, Theater- und
Bildversionen von Achim Freyer - am 12. Mai 1991.
23. Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins - zu dem Buch von Romano
Guardini.
Rezension zu: Romano Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine
Interpretation der Duineser Elegien. München 1953. In: Philosophische Rundschau
2 (1954/55), Heft 112, S. 82-92.
474 Bibliographische Nachweise
36. Wer bin Ich und wer bist Du? - Kommentar zu Ce1ans Gedichtfolge
.Atemkristallc.
Zuerst erschienen als Band 352 der Bibliothek Suhrkamp Frankfurt/M. 1973
(134S.). Revidierte und ergänzte Auflage 1986 (156S.). In den vorliegenden Band
sind die Vorworte und der Abschnitt .Lesarten. der revidierten und ergänzten
Auflage nicht mit aufgenommen worden. Interpretationen einzelner Gedichte des
Zyklus .Atemkristall. sind schon vorab erschienen, so in der Festschrift rur Heinrich
Schlier, hrsg. von Günther Bornkamm und Karl Rahner, Herder-Verlag Freiburg
1970, S.306-312; in: Zeitwende 41 (1970), S.346-349; in der Neuen Zürcher
Zeitung, 192.Jg., Nr. 15 (Femausgabe) vom 17.Januar 1971, S.49-50. Die Stel-
lungnahme zu Peter Szondis Cdan-Interpretation .Eden. ist zuerst ers1chienen in der
Neuen Zürcher Zeitung, 193.Jg., Nr.304 (Femausgabe) vom 5. November 1972,
S.53.
Bei häufig behandelten Autoren sind in kursiver Schrift die Ticel der imerpretierten Werke
beigegeben; die Titel einzelner Gedichte sind in Anführungen gesem.
Natorp214
Kafka 353-361, 450 Neumann, P. ~. 469
Kaiser, G. 207 ff. Nietzsehe I, 21, 40, 46, 55, 68ff., 150, 160,
Kant4, 56, 58. 61-66,68, 78f., 133f., 136, 186,191.214,231, 253f., 261,263,
247,307,314,332, 335.403f.,443 266ff.• 294,309.314.340,370
Kantorowicz, E. 214. 267f. Novalis 21.24. 174, 186
Kassner. R. 274, 312 Nypels. A. 445
Keller. G. 193ff.
Kierkegaard 74, 127, 139, 175,357,385 Otto. R. 421
Kippenberg 311,464 Otto, W. F. 261, 294
Kleist,~. v. 1.73, 162-170 (A",phi/ryoIIJ,
177,253.283 Palm. E. W. 129.262.331
Klingner, F. 261 Parmenides 173
Klopstock 74.230,232,233 Pascal 345
KommereII, M. 12,72. 162,215,262 Jean Paull, 194.206
Kramm. W. 353-361 Petersen 213 f.
480 Namen