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Hans-Georg Gadamer Hans-Georg Gadamer

Gesammelte Werke Ästhetik und Poetik


ι
Kunst als Aussage

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1993


Vorwort

Meine hermeneutischen Studien stellten mich vor die Aufgabe, den Er-
kenntnis- und Methodenbegriff der philosophischen Erkenntnistheorie von
der einseitigen Überbewertung der Grundbegriffe der modernen Erfah-
rungswissenschaften zu lösen und die Erfahrung des Verstehens daneben
geltend zu machen. Erst in der Fortentwicklung der Phänomenologie, ins-
besondere Husserls und Heideggers, kam die Einseitigkeit dieser Orientie-
rung am Faktum der Wissenschaft und an einem Begriff von Wahrheit, der
in der Satzwahrheit gipfelt, in ein neues Licht. So konnte ich meinerseits an
die aristotelische praktische Philosophie und ihren Zentralbegriff, die Phro-
nesis, anknüpfen. Sie wird wiederholt und ausdrücklich ein alh eidos gnöseös
genannt und als eine grundandere Art von Erkenntnis ausgezeichnet.
Die Deutsche BibHoÜiek - CIP-Einheitsaufiiahme Aber es waren nicht diese Anregungen allein, von denen aus ich die
philosophische Allgemeinbedeütung dieser anderen Art von Wissen zu legi-
Gadamer, Hans-Georg:
Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Unveränd. Taschenbuchausg. - timieren unternommen habe. Es war, wie jeder Blick in >Wahrheit und
Tübingen : Mohr Siebeck Methode< lehrt, die richtungsweisende Rolle der Kunst. Wohin solche
(UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ; 2115) Orientierung führen mußte, läßt sich am Gedankengang von >Wahrheit und
ISBN 3-8252-2115-6 (UTB) Methode< selber verfolgen. Die Überschreitung jedes ästhetischen Neutra-
ISBN 3-16-147182-2 (Mohr Siebeck) lismus, den ich mit Hilfe des umständlichen Ausdrucks »ästhetische Nicht-
Bd. 8. Ästhetik und Poetik. - 1 . Kunst als Aussage. -1999
unterscheidung« zurückzubinden suchte, gab der Kunst und ihrem Wahr-
heitsanspruch eine neue Legitimation. Sie kann sich, wie ich meine, neben
den modernen Erfahrungswissenschaften behaupten. Natürlich gehört die
1. Auflage 1993
richtungsweisende Rolle der Kunst in einen größeren Zusammenhang. Er
Unveränderte Taschenbuchausgabe 1999 betrifft das Verhältnis von Theorie und Praxis. Alle Theorie, und so auch die
hermeneutische Theorie, muß ihren Rückhalt in hermeneutischer Praxis
© 1993 J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. haben. Diese Ausgabe meiner Gesammelten Werke stellt neben die drei
Bände (5—7), die der griechischen Philosophie gewidmet sind, nunmehr die
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung Bände 8 und 9, die hier vorgelegt werden. Sie stellen keine neue Wendung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro- der Thematik dar. Vielmehr soll so das Gleichgewicht zwischen Kunst und
verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Wissenschaft, das den gemeinsamen Grund aller Geisteswissenschaften bil-
det, herausgearbeitet werden.
Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Freiberg a.N., Druck: Presse-Druck, Augsburg.
Das ist das Gemeinsame, daß sich die unüberholbare Fragestellung des
ISBN 3-8252-2115-6 U T B Bestellnummer philosophischen Gedankens über all ihre geschichtlichen Verkleidungen und
Veränderungen hinweg durchhält und damit eine intensive Verwandtschaft
zwischen den Sprachen der Kunst und der Sprache des Begriffs stiftet.
VI Vorwort

Dem suchte ich Ausdruck zu geben, als ich schon in Band 1 und 2 meiner
Gesammelten Werke zwecks Einführung in meine hermeneutische Frage-
stellung einen größeren Beitrag über >Text und Interpretation< aufgenom-
men habe, der die Rolle des dichterischen Wortes und der Sprache des Inhalt
Begriffs, aber auch der Sprache des Bildes, der Töne und der Bauten zusam-
menfaßt. Auf diese Weise suchte ich in der Sammlung meiner Werke die
Weite der hermeneutischen Fragestellung von vornherein zu unterstreichen. Ästhetik und Wahrheit
Inzwischen füge ich nun den Bänden, welche der griechischen Philosophie
gewidmet sind, nach nunmehr dreißig Jahren, und seit dreißig Jahren im
1. Ästhetik und Hermeneutik (1964) 1
Wachsen, die Bände 8 und 9 an. Beide sind in einem strengen Sinne parallel
zu sehen.
Der Band 8 enthält eine Fülle kleinerer Reden und Aufsätze. Der gemein- 2. Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins (1958) 9
same Titel >Kunst als Aussage< zielt bewußt über den Fragehorizont der
Ästhetik hinaus. Die bisher ungedruckte Arbeit >Von der Wahrheit des 3. Dichten und Deuten (1961) 18
Wortes< und die beiden neuesten Arbeiten von 1991/92 stehen am Anfang
und am Ende eines Weges, der die Ästhetik in Hermeneutik überführt. 4. Kunst und Nachahmung (1967) 25
Arbeiten, die über einen so langen Zeitraum ihre Materialien zusammen-
ordnen, nehmen seitens des Lesers eine selbstverständliche Nachsicht in 5. Von der Wahrheit des Wortes (1971) 37
Anspruch. Neuere Forschung konnte eigens für diese Ausgabe nicht ange-
stellt werden. Auch die neuen, bisher unveröffentlichten Beiträge leben aus
der Kontinuität meiner älteren Studien und setzen sich nicht ausdrücklich
mit der neuesten Forschung auseinander. Was an meinen Arbeiten fruchtbar Poetik und Aktualität des Schönen
bleiben wird, muß sich selbst bewähren.
HGG 6. Zu Poetik und Hermeneutik: Lyrik als Paradigma der Moderne
(1968) • DienichtmehrschönenKünste(1971) 58

7. Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit
(1971) 70

8. Dichtung und Mimesis (1972) 80

9. Das Spiel der Kunst (1977) 86

10. Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest
(1974) 94
VIII Inhalt Inhalt IX

Die Transzendenz des Schönen Zur bildenden Kunst

11. Ästhetische und religiöse Erfahrung (1964/78) 143 26. Ober die Festlichkeit des Theaters (1954) 296

12. Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft 27. Begriffene Malerei? - Zu A. Gehlen: Zeit-Bilder (1962) 305
(1984) 156
28. Vom Verstummen des Bildes (1965) 315
13. Mythos und Vernunft (1954) 163
29. Bild und Gebärde (1967) 323
14. Mythos und Logos (1981) 170
30. Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979) 331
15. Mythologie und Offenbarungsreligion (1981) 174
16. Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (1981) 180
An den Grenzen der Sprache

Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel 31. Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt (1990) 339

17. Anschauung und Anschaulichkeit (1980) 189 32. Grenzen der Sprache (1985) 350

18. Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharak- 33. Musik und Zeit. Ein philosophisches Postscriptum (1988) 362
ter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute (1985) 206

19. Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik und 34. Heimat und Sprache (1992) 366
die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst (1986) 221

20. Philosophie und Poesie (1977) 232 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie

35. Wort und Bild ->so wahr, so seiend< (1992) 373


Die Kunst des Wortes
36. Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992) 400
21. Philosophie und Literatur (1981) 240

22. Stimme und Sprache (1981) 258 Bibliographische Nachweise 441


23. Hören - Sehen - Lesen (1984) 271
Namenregister 447
24. Lesen ist wie Übersetzen (1989) 279

25. Der >eminente< Text und seine Wahrheit (1986) 286


1. Ästhetik und Hermeneutik
(1964)

Sieht man die Aufgabe der Hermeneutik in der Überbrückung des menschli-
chen oder geschichtlichen Abstandes zwischen Geist und Geist, so scheint
die Erfahrung der Kunst aus ihrem Bereiche herauszufallen. Ist sie doch
unter allem, was uns in Natur und Geschichte begegnet, dasjenige, was am
unmittelbarsten zu uns spricht und eine rätselhafte, unser ganzes Wesen
ergreifende Vertrautheit atmet - als ob da überhaupt kein Abstand wäre und
alle Begegnung mit einem Werke der Kunst eine Begegnung mit uns selbst
bedeutete. Man darf sich dafür auf Hegel berufen. Er hat die Kunst zu den
Gestalten des absoluten Geistes gerechnet, d. h., er sah in ihr eine Form der
Selbsterkenntnis des Geistes, in der nichts Fremdes und Uneinlösbares,
keine Kontingenz des Wirklichen, keine Unverständlichkeit des nur Gege-
benen auftritt. In der Tat besteht zwischen dem Werk und seinem jeweiligen
Betrachter eine absolute Gleichzeitigkeit, die sich aller steigenden histori-
schen Bewußtheit zum Trotz unangefochten erhält. Die Wirklichkeit des
Kunstwerks und seine Aussagekraft läßt sich nicht auf den ursprünglichen
historischen Horizont eingrenzen, in dem der Betrachter mit dem Schöpfer
des Werkes wirklich gleichzeitig war. Es scheint vielmehr zu der Erfahrung
der Kunst zu gehören, daß das Kunstwerk immer seine eigene Gegenwart
hat, daß es seinen historischen Ursprung nur sehr bedingt in sich festhält und
insbesondere Ausdruck einer Wahrheit ist, die keineswegs mit dem zusam-
menfällt, was sich der geistige Urheber eines Werks eigentlich dabei dachte.
Ob man das nun das bewußtlose Schaffen des Genies nennt oder ob man
vom Betrachter her auf die begriffliche Unausschöpfbarkeit einer jeden
künstlerischen Aussage hinsieht - jedenfalls kann sich das ästhetische Be-
wußtsein darauf berufen, daß das Kunstwerk sich selbst mitteilt.
Auf der anderen Seite hat der hermeneutische Aspekt etwas so Umfassen-
des, daß er notwendig auch die Erfahrung des Schönen in Natur und Kunst
einschließt. Wenn es die Grundverfassung der Geschichtlichkeit des
menschlichen Daseins ist, sich verstehend mit sich selbst zu vermitteln, und
das heißt notwendig mit dem Ganzen der eigenen Welterfahrung, dann
gehört dazu auch alle Überlieferung. Diese umfaßt nicht nur Texte, sondern
auch Institutionen und Lebensformen. Vor allem aber gehört die Begeg-
2 Ästhetik und Wahrheit Ästhetik und Hermeneutik 3

nung mit der Kunst in den Integrationsvorgang hinein, der dem in Überlie- noch die Grundlegung derselben in Kants >Kritik der Urteilskraft« einen sehr
ferungen stehenden menschlichen Leben aufgegeben ist. Ja, es fragt sich viel weiteren Rahmen spannte, indem sie das Schöne in Natur und Kunst, ja
sogar, ob nicht die besondere Gegenwärtigkeit des Kunstwerks eben darin sogar das Erhabene mit umfaßte: Auch ist nicht zu bestreiten, daß für die
besteht, für immer neue Integrationen grenzenlos offenzustehen. Mag der grundlegenden Bestimmungen des ästhetischen Geschmacksurteils bei Kant,
Schöpfer eines Werkes jeweils das Publikum seiner Zeit meinen, das eigent- insbesondere für den Begriff des interesselosen Wohlgefallens, das Natur-
liche Sein seines Werkes ist das, was es zu sagen vermag, und das reicht über schöne einen methodischen Vorzug hat. Umgekehrt wird man zugeben
jede geschichtliche Beschränktheit grundsätzlich hinaus. In diesem Sinne ist müssen, daß das Naturschöne nicht in demselben Sinne etwas sagt, wie die
das Kunstwerk von zeitloser Gegenwart. Aber das heißt nicht, daß es nicht von Menschen und für Menschen geschaffenen Werke uns etwas sagen, die
eine Aufgabe des Verstehens stellte und daß nicht auch seine geschichtliche wir Kunstwerke nennen. Man kann mit Recht sagen, daß ein Kunstwerk
Herkunft in ihm anzutreffen ist. Gerade das legitimiert den Anspruch einer eben nicht im gleichen Sinne >rein ästhetisch< gefällt wie eine Blume oder
historischen Hermeneutik, daß das Kunstwerk, so wenig es historisch ver- allenfalls ein Ornament. Kant redet im Hinblick auf die Kunst von einem
standen werden will und sich in Schlechthinniger Präsenz darbietet, dennoch >intellektuierten< Wohlgefallen. Aber es hilft nichts: Dies »unreines weil
nicht beliebige Auffassungsformen gestattet, sondern bei aller Offenheit intellektuierte Wohlgefallen, das das Kunstwerk erregt, ist gleichwohl das,
und aller Spielweite seiner Auffassungsmöglichkeiten einen Maßstab der was uns als Ästhetiker eigentlich interessiert. Ja, die schärfere Reflexion, die
Angemessenheit anzulegen erlaubt, ja sogar fordert. Dabei mag es unent- Hegel über das Verhältnis von Naturschönem und Kunstschönem angestellt
schieden sein und unentschieden bleiben, ob der jeweils erhobene Anspruch hat, hat ein gültiges Ergebnis erzielt: Das Naturschöne ist ein Reflex des
auf Angemessenheit der Auffassung richtig ist. Was Kant vom Geschmacks- Kunstschönen. Wie etwas in der Natur als schön angesehen und genossen
urteil mit Recht gesagt hat, daß ihm Allgemeingültigkeit angesonnen wird, wird, das ist nicht eine zeit- und weltlose Gegebenheit des >rein ästhetischem
obwohl seine Anerkennung nicht durch Gründe zu erzwingen ist, das gilt Objektes, das seinen aufweisbaren Grund in der Harmonie von Formen und
auch für alle Interpretation von Kunstwerken, die tätige des reproduzieren- Farben und der Symmetrie der Zeichnung besitzt, wie sie ein pythagoreisie-
den Künstlers oder des Lesers so gut wie die des wissenschaftlichen Interpre- render mathematischer Verstand aus der Natur herauszulesen vermöchte.
Wie uns Natur gefällt, das gehört vielmehr in den Zusammenhang eines
ten.
II·
Geschmacksinteresses, das jeweils von dem Kunstschaffen einer Zeit geprägt
Man kann sich skeptisch fragen, ob ein solcher Begriff vom Kunstwerk,
und bestimmt ist. Die ästhetische Geschichte einer Landschaft, beispielswei-
das immer neuer Auffassung offensteht, nicht schon einer sekundären ästhe-
se die der Alpenlandschaft, oder das Übergangsphänomen der Gartenkunst
tischen Bildungswelt angehört. Ist nicht das Werk, das wir ein Kunstwerk
sind dafür ein unwiderlegliches Zeugnis. Es ist also berechtigt, vom Kunst-
nennen, in seinem Ursprung Träger einer bedeutungshaften Lebensfunk-
werk auszugehen, wenn man das Verhältnis von Ästhetik und Hermeneutik
tion in einem kultischen oder gesellschaftlichen Raum und hat nur innerhalb
bestimmen will.
desselben seine volle Sinnbestimmtheit? Indessen scheint mir, daß sich die
Frage auch umkehren läßt. Ist es wirklich so, daß ein Kunstwerk, das aus Jedenfalls ist es für das Kunstwerk keine Metapher, sondern es hat einen
vergangenen oder fremden Lebenswelten stammt und in unsere historisch guten und aufweisbaren Sinn, daß das Kunstwerk uns etwas sagt und daß es
gebildete Welt hineinversetzt ist, zum bloßen Objekt eines ästhetisch-histo- damit als etwas, das etwas sagt, in den Zusammenhang all dessen gehört, was
rischen Genusses wird und von dem, was es ursprünglich zu sagen hatte, wir zu verstehen haben. Damit aber ist es Gegenstand der Hermeneutik.
nichts mehr sagt? >Etwas sagen<, >etwas zu sagen haben< - sind das nur Ihrer ursprünglichen Bestimmung nach ist Hermeneutik die Kunst, das
Metaphern, denen als eigentliche Wahrheit ein unbestimmter ästhetischer von anderen Gesagte, das uns in der Überlieferung begegnet, durch eine
Gestaltungswert zugrunde liegt - oder ist es umgekehrt so, daß jene ästheti- eigene Anstrengung der Auslegung überall dort zu erklären und zu vermit-
sche Gestaltungsqualität nur die Bedingung dafür ist, daß das Werk seine teln, wo es nicht unmittelbar verständlich ist. Indessen hat diese Philologen-
Bedeutung in sich selber trägt und uns etwas zu sagen hat? An dieser Frage kunst und Schulmeisterpraktik längst eine veränderte und erweiterte Gestalt
gewinnt das Thema >Ästhetik und Hermeneutik< die Dimension seiner angenommen. Denn seither hat das erwachende historische Bewußtsein die
eigentlichen Problematik. Mißverständlichkeit und die mögliche Unverständlichkeit aller Überliefe-
Die entwickelte Fragestellung überführt das systematische Problem der rung zum Bewußtsein gebracht, und ebenso hat der Zerfall der christlichen
Ästhetik mit Bewußtsein in die Frage nach dem Wesen der Kunst. Zwar ist es Gesellschaft des Abendlandes - in Fortführung einer mit der Reformation
richtig, daß die eigentliche Entstehung der philosophischen Ästhetik und einsetzenden Individualisierung - das Individuum für das Individuum zu
Ästhetik und Hermeneutik 5
4 Ästhetik und Wahrheit

einem letztlich unauflöslichen Geheimnis werden lassen. So ist seit der werke aller Art«. Das mag für den Historiker so aussehen, aber das Kunst-
werk ist als solches nicht ein historisches Dokument, weder seiner Absicht
deutschen Romantik die Aufgabe der Hermeneutik dahin bestimmt, Mißver-
noch jener Bedeutung nach, die es in der Erfahrung der Kunst gewinnt.
stand zu vermeiden. Damit hat sie einen Bereich, der grundsätzlich so weit
Zwar redet man von Kunstdenkmälern, als ob die Herstellung eines Kunst-
reicht, wie überhaupt die Aussage von Sinn reicht. Aussage von Sinn sind
werkes eine dokumentarische Absicht enthielte. Das hat darin eine gewisse
zunächst alle sprachlichen Äußerungen. Als die Kunst, das in einer fremden
Wahrheit, daß jedem Kunstwerk Dauer wesentlich ist - den transitorischen
Sprache Gesagte dem Verständnis eines anderen zu übermitteln, heißt die
Künsten freilich nur in der Form der Wiederholbarkeit. Das gelungene Werk
Hermeneutik nicht ohne Grund nach Hermes, dem Dolmetsch der göttli-
>steht< (wie das sogar der Varietekünstler von seiner Nummer sagen kann).
chen Botschaft an die Menschen. Wenn man sich an diese Namenserklärung Aber eine Absicht auf Erinnerung durch Vorzeigen, wie sie dem eigentli-
des Begriffs Hermeneutik erinnert, wird unzweideutig klar, daß es sich hier chen Dokument zukommt, ist damit nicht gegeben. Man will sich nicht -
um ein Sprachgeschehen handelt, um Übersetzung^einer Sprache in eine durch Vorzeigen - auf etwas berufen, was war. Ebensowenig eine Verbür-
andere, also um das Verhältnis von zwei Sprachen. Sofern man aber aus einer gung seiner Dauer, da es auf den zustimmenden Geschmack oder Qualitäts-
Sprache in die andere nur übertragen kann, wenn man den Sinn des Gesagten sinn späterer Generationen fur seine Erhaltung angewiesen ist. Aber gerade
verstanden hat und ihn im Medium der anderen Sprache neu aufbaut, setzt diese Angewiesenheit auf einen bewahrenden Willen besagt, daß das Kunst-
solches Sprachgeschehen Verstehen voraus. werk in demselben Sinne überliefert wird, in dem sich die Überlieferung
Diese Selbstverständlichkeiten werden nun entscheidend für die Frage, die unserer literarischen Quellen vollzieht. Jedenfalls >spricht es< nicht nur, wie
uns hier beschäftigt, die Frage nach der Sprache der Kunst und der Legitimi- die Überreste der Vergangenheit zu dem historischen Forscher sprechen,
tät des hermeneutischen Gesichtspunktes gegenüber der Erfahrung der und auch nicht nur, wie das historische Urkunden tun, die etwas fixieren.
Kunst. Alle Auslegung von Verständlichem, die anderen zum Verständnis Denn was wir die Sprache des Kunstwerks nennen, um derentwillen es
verhilft, hat ja Sprachcharakter. Insofern wird die gesamte Welterfahrung erhalten und überliefert wird, ist die Sprache, die das Kunstwerk selber
sprachlich vermittelt, und es bestimmt sich von da ein weitester Begriff von führt, ob es nun sprachlicher Natur ist oder nicht. Das Kunstwerk sagt
Überlieferung, die zwar als solche nicht sprachlich ist, aber doch der sprach- einem etwas, und das nicht nur so, wie ein historisches Dokument dem
lichen Auslegung fähig ist. Sie reicht von dem >Gebrauch< von Werkzeugen, Historiker etwas sagt - es sagt einem jeden etwas, als wäre es eigens ihm
Techniken usw. über die Handwerkstradition im Herstellen von Gerätety- gesagt, als etwas Gegenwärtiges und Gleichzeitiges. So stellt sich die Aufga-
pen, Schmuckformen usw., über die Pflege von Bräuchen und Sitten bis zu be, den Sinn dessen, was es sagt, zu verstehen und - sich und anderen -
der Stiftung von Vorbildern usw. - Gehört dazu auch das Kunstwerk oder verständlich zu machen. Auch das nichtsprachliche Kunstwerk fällt somit in
nimmt es eine Sonderstellung ein? Sofern es sich nicht gerade um sprachliche den eigentlichen Aufgabenbereich der Hermeneutik. Es ist in das Selbstver-
Kunstwerke handelt, scheint das Kunstwerk in der Tat zu solcher nicht- ständnis eines jeden zu integrieren1.
sprachlichen Überlieferung zu gehören. Und doch bedeutet die Erfahrung
und das Verständnis eines Kunstwerks etwas anderes als etwa das Verständ- In diesem umfassenden Sinne schließt Hermeneutik die Ästhetik ein.
nis von Werkzeugen oder von Bräuchen, die uns aus der Vergangenheit Hermeneutik überbrückt den Abstand von Geist und Geist und schließt die
Fremdheit des fremden Geistes auf. Aufschließung des Fremden meint aber
überliefert sind. hier nicht nur historische Rekonstruktion der >Welt<, in der ein Kunstwerk
Wenn wir einer alten Bestimmung der Droysenschen Hermeneutik folgen, seine ursprüngliche Bedeutung und Funktion hatte, sie meint auch das
so können wir zwischen Quellen und Überresten unterscheiden. Überreste Vernehmen dessen, was uns gesagt wird. Auch dies ist immer noch mehr als
sind Teilstück« vergangener Welten, die sich erhalten haben und die uns dazu sein angebbarer und erfaßter Sinn. Was uns etwas sagt, ist wie der, der einem
verhelfen, die Welt geistig zu rekonstruieren, deren Rest sie sind. Quellen etwas sagt, in dem Sinne ein Fremdes, daß es über uns hinausreicht. Insofern
dagegen bilden die sprachliche Überlieferung und dienen daher dazu, eine ist in der Aufgabe des Verstehens eine doppelte Fremdheit gegeben, die in
sprachlich gedeutete Welt zu verstehen. Wohin gehört nun etwa ein archai- Wahrheit eine und dieselbe ist. Es ist wie mit aller Rede. Sie sagt nicht nur
sches Götterbild? Ist es ein Überrest wie jedes Gerät? Oder ein Stück etwas, sondern jemand sagt einem etwas. Das Verstehen der Rede ist nicht
Weltdeutung wie alles sprachlich Überlieferte?
Quellen, sagt Droysen, sind zum Zwecke der Erinnerung überlieferte 1
In diesem Sinne habe ich in >Wahrheit und Methode* (Ges. Werke Bd. 1, S. 101) an
Aufzeichnungen. Eine Mischform von Quellen und Oberresten nennt er KIERKEGAARDS Begriff des Ästhetischen {mit ihm selbst) Kritik geübt.
Denkmäler, und dazu rechnet er neben Urkunden, Münzen usw. »Kunst-
6 Ästhetik und Wahrheit Ästhetik und Hermeneutik 7

das Verstehen des Wortlauts des Gesagten im schrittweisen Vollzug der sich sagen lassen soll. Verstehen ist nicht, wo einer das, was ihm einer sagen
Wortbedeutungen, sondern es vollzieht den einheitlichen Sinn des Gesagten will, schon vorher abzufangen trachtet, indem er behauptet, er wisse es
- und der liegt immer über das hinaus, was Gesagtes aussagt. Das, was es schon.
sagt, mag schwer zu verstehen sein, wenn es sich etwa um eine fremde oder Das alles gilt in eminentem Maße von der Sprache der Kunst. Natürlich ist
altertümliche Sprache handelt - schwerer noch ist es, auch wenn man ohne es nicht der Künstler, der hier spricht. Das mag gewiß auch ein mögliches
weiteres das Gesagte versteht, sich etwas sagen zu lassen. Beides gehört in Interesse erwecken, was der Künstler über das in dem einen Werk Gesagte
die Aufgabe der Hermeneutik. Man kann nicht verstehen, ohne verstehen zu hinaus zu sagen hat und in anderen Werken sagt. Aber die Sprache der Kunst
wollen, d. h. ohne sich etwas sagen lassen zu wollen. Es wäre eine unzu- meint den Sinnüberschuß, der in dem Werke selbst liegt. Auf ihm beruht
lässige Abstraktion zu meinen, daß man zunächst die Gleichzeitigkeit mit seine Unausschöpfbarkeit, die es aller Übertragung in den Begriff gegenüber
dem Autor bzw. dem ursprünglichen Leser durch Rekonstruktion seines auszeichnet. Es folgt daraus, daß man sich beim Verständnis eines Kunstwer-
ganzen geschichtlichen Horizontes erzeugt haben müsse und dann erst den kes nicht mit der bewährten hermeneutischen Regel begnügen kann, daß die
Sinn des Gesagten zu vernehmen beginne. Eine Art Sinnerwartung regelt >mens auctoris< die Verständnisaufgabe, die ein Text stellt, begrenzt. Viel-
vielmehr von Anfang an die Bemühung um Verständnis. mehr wird gerade an der Ausdehnung des hermeneutischen Gesichtspunktes
Was so von aller Rede gilt, gilt aber in eminenter Weise von der Erfahrung auf die Sprache der Kunst deutlich, wie wenig die Subjektivität des Meinens
der Kunst. Hier ist mehr als Sinnerwartung, hier ist, was ich Betroffenheit ausreicht, um den Gegenstand des Verstehens zu bezeichnen. Das hat eine
von dem Sinn des Gesagten nennen möchte. Jede Erfahrung von Kunst prinzipielle Bedeutung, und insofern ist die Ästhetik ein wichtiges Element
versteht nicht nur einen erkennbaren Sinn, wie das im Geschäft der histori- der allgemeinen Hermeneutik. Das sei abschließend angedeutet.
schen Hermeneutik und in ihrem Umgang mit Texten geschieht. Das Alles, was im weitesten Sinne als Überlieferung zu uns spricht, stellt die
Kunstwerk, das etwas sagt, konfrontiert uns mit uns selbst. Das will sagen, Aufgabe des Verstehens, ohne daß Verstehen im allgemeinen hieße, die
es sagt etwas aus, das so, wie es da gesagt wird, wie eine Entdeckung ist, Gedanken eines anderen in sich neu zu aktualisieren. Das lehrt uns nicht nur,
d. h. die Aufdeckung von etwas Verdecktem. Darauf beruht jene Betroffen- wie oben dargelegt, mit überzeugender Deutlichkeit die Erfahrung der
heit. »So wahr, so seiend« ist nichts, was man sonst kennt. Alles Bekannte ist Kunst, sondern ebenso auch das Verständnis der Geschichte. Denn es sind
übertroffen. Verstehen, was einem das Kunstwerk sagt, ist also gewiß gar nicht die subjektiven Meinungen, Planungen und Erfahrungen der die
Selbstbegegnung. Aber als eine Begegnung mit dem Eigentlichen, als eine Geschichte erleidenden Menschen, deren Verständnis die eigentliche histori-
Vertrautheit, die Übertroffenheit einschließt, ist die Erfahrung der Kunst in sche Aufgabe stellt. Der große Sinnzusammenhang der Geschichte, dem das
einem echten Sinne Erfahrung und hat je neu die Aufgabe zu bewältigen, die deutende Bemühen des Historikers gilt, ist es, der verstanden werden will.
Erfahrung stellt: sie in das Ganze der eigenen Weltorientierung und des Die subjektiven Meinungen der im Prozeß der Geschichte stehenden Men-
eigenen Selbstverständnisses zu integrieren. Das eben macht die Sprache der schen sind selten oder nie von der Art, daß eine spätere historische Würdi-
Kunst aus, daß sie in das eigene Selbstverständnis eines jeden hineinspricht - gung der Ereignisse ihre Einschätzung durch die Zeitgenossen bestätigt. Die
und das tut sie als je gegenwärtige und durch ihre eigene Gegenwärtigkeit. Ja, Bedeutung der Ereignisse, ihre Verflechtung und ihre Folgen, wie sie sich im
gerade seine Gegenwärtigkeit läßt das Werk zur Sprache werden. Alles geschichtlichen Rückblick darstellen, lassen die >mens actoris< ebenso hinter
kommt darauf an, wie etwas gesagt wird. Aber das heißt nicht, daß auf die sich, wie die Erfahrung des Kunstwerks die >mens auctoris< hinter sich läßt.
Mittel des Sagens reflektiert würde. Im Gegenteil - je überzeugender etwas Die Universalität des hermeneutischen Gesichtspunktes ist eine umfassen-
gesagt wird, desto mehr scheint die Einmaligkeit und Einzigartigkeit dieser de. Wenn ich einmal formuliert habe2: Sein, das verstanden werden kann, ist
Aussage selbstverständlich und natürlich, d.h., sie konzentriert den Angere- Sprache, so ist das gewiß keine metaphysische These, sondern beschreibt von
deten ganz auf das hin, was ihm da gesagt wird, und verbietet ihm im Grunde, der Mitte des Verstehens aus die unbeschränkte Weite seines Umblicks. Daß
zu einer distanzierten ästhetischen Unterscheidung überzugehen. Die Refle- alle geschichtliche Erfahrung diesem Satz ebenso genügt wie etwa die Erfah-
xion auf die Mittel des Sagens ist ja auch sonst gegenüber der eigentlichen rung der Natur, ließe sich leicht zeigen. Am Ende enthält Goethes universale
Intention auf das Gesagte sekundär und bleibt im allgemeinen aus, wo Wendung »Alles ist Symbol« -und das will doch heißen: ein jegliches deutet
Menschen als Gegenwärtige einander etwas sagen. Denn das Gesagte ist gar auf ein anderes - die umfassendste Formulierung des hermeneutischen
nicht das, was sich wie eine Art Urteilsinhalt in der logischen Form des
Urteils darbietet. Es meint vielmehr das, was einer sagen will und was man 2
>Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 478.
8 Ästhetik und Wahrheit

Gedankens. Goethes »Alles« ist nicht eine Aussage über ein jegliches Seien-
de, was es ist, sondern darüber, wie es dem Verstehen des Menschen
begegnet. Nichts kann sein, was ihm nicht etwas zu bedeuten vermag. Aber
es liegt noch etwas anderes darin: Nichts geht auf in der einen Bedeutung,
die es einem gerade bietet. In Goethes Begriff des Symbolischen liegt
ebensosehr die Unüberschaubarkeit aller Bezüge wie die stellvertretende 2. Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins
Funktion des einzelnen für die Repräsentation des Ganzen. Denn nur weil
die AUbezogenheit des Seins dem menschlichen Auge verborgen ist, bedarf (1958)
es ihrer Entdeckung. So universell der hermeneutische Gedanke ist, der dem
Goetheschen Wort entspricht, in einem eminenten Sinne wird es allein durch
die Erfahrung der Kunst erfüllt. Denn die Sprache des Kunstwerks hat die Das ästhetische Urteil ist eine Funktion des ästhetischen Bewußtseins. Die
Auszeichnung, daß das einzelne Kunstwerk den Symbolcharakter, der allem Frage nach seinen Maßstäben und seiner Gültigkeit ist daher ein Grundpro-
Seienden, hermeneutisch gesehen, zukommt, in sich versammelt und zur blem der Ästhetik. Offenbar können die empirischen Verschiedenheiten des
Erscheinung bringt. Im Vergleich zu aller anderen sprachlichen und sprach- menschlichen Geschmacks, die unser ästhetisches Urteil bedingen, nicht
losen Überlieferung gilt von ihm, daß es für die jeweilige Gegenwart absolu- einfach hingenommen werden. Sie lassen sich aber auch nicht von einem
te Gegenwart ist und zugleich für alle Zukunft sein Wort bereithält. Die Geschmacksideal aus, dessen Gültigkeit unbezweifelt feststeht, in den Un-
Vertrautheit, mit der das Kunstwerk uns anrührt, ist zugleich auf rätselhafte terschied des schlechten, barbarischen und des guten, verfeinerten Ge-
Weise Erschütterung und Einsturz des Gewohnten. Es ist nicht nur das »Das schmacks auflösen.
bist du!«, das es in einem freudigen und furchtbaren Schreck aufdeckt - es Die philosophische Ästhetik ist vielmehr als eine selbständige philo-
sagt uns auch: »Du mußt dein Leben ändern. « sophische Disziplin aus der Frage entstanden, ob das ästhetische Urteil einer
apriorischen Legitimation fähig ist, die es über die empirische Zufälligkeit
der Geschmacksunterschiede erhebt. So hat Kant in der dritten seiner >Kriti-
ken< eine Kritik der Kritik unternommen, die das in aller ästhetischen Kritik
Gültige zu bestimmen versprach.
Gegenüber allen Versuchen, der >cognitio sensitiva< als einer Vorstufe der
>cognitio rationalis< einen relativen Erkenntniswert zu wahren, verzichtet
die Kantische Grundlegung des apriorischen Geschmacksurteils bekanntlich
ganz darauf, daß in der Aussage, etwas sei schön, etwas vom Gegenstande
erkannt werde. Vielmehr betreffe die Aussage lediglich das Verhältnis des
Gegenstandes zu unserem Erkenntnisvermögen überhaupt und besage, daß
er das Spiel von Einbildungskraft und Verstand in uns auf freie Weise
ermögliche.
Diese transzendentale Rechtfertigung des Geschmacksurteils gilt in glei-
cher Weise fur das Naturschöne wie für das Kunstschöne - j a , sie hat ihre
eigentliche metaphysische Pointe im Hinblick auf das Naturschöne1, sofern
dieses von sich aus eine solche Anmessung an das freie Wohlgefallen, d. h.
das Spiel unserer Erkenntnisvermögen, zeigt, daß darin ein Hinweis auf die
übersinnliche Bestimmung der Menschheit im Ganzen der Natur liegt.
Auch die Lehre vom Genie, durch die Kant das Kunstschöne definiert, bleibt

1
Siehe dazu die Ausfuhrungen in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 48ff.
10 Ästhetik und Wahrheit Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins 11

im metaphysischen Verständnishorizont der Natur, die ihren Günstling mit eigentlich gemeint ist, wenn man im ästhetischen Urteil etwas beurteilt,
dem naturhaften Vermögen, Schönes darzustellen, ausgestattet hat. theoretisch zu rechtfertigen, wenn man damit nicht zugleich die Idee eines
Kants Begründung des ästhetischen Geschmacksurteils beruht also ganz einheitlichen und für alle verbindlichen Geschmacks verteidigen will. Genau
auf einem subjektiven Prinzip, aber sie rechtfertigt nicht nur a priori den das aber ist die Sachlage, in der das ästhetische Urteil sich findet. Es weiß sich
Geltungsanspruch ästhetischer Urteile, indem es eben doch eine Eigenschaft über alle Vorlieben der Zeitalter oder der Individuen erhaben. Ja, es unter-
gewisser Gegenstände ist, für die Subjektivität der menschlichen Erkennt- scheidet die von ihm beurteilte Qualität sogar noch von der eigenen ent-
nisvermögen dergestalt belebend zu sein - die transzendentale Abstraktion, schiedenen Vorliebe oder Abneigung. Hier hat also eine Dissoziation von
die ebensowohl vom sinnlichen Reiz des Angenehmen wie von allen ratio- Geschmack und Urteil statt, die eine doppelte Begründung verlangt. Denn
nalen Zweckgedanken abzusehen gebietet, ist auch für die Ausbildung des beliebig soll doch weder das Urteil noch die Wertschätzung des Geschmacks
empirischen Geschmacks und die Schlichtung des Streits der >Kunstrichter< sein. In beiden soll Verbindlichkeit hegen. Die Sonderung des Urteils vom
nach Kants Meinung von produktiver Bedeutung. Wenn alle >Trübungen< Geschmack kann daher keine absolute sein. Vielmehr wird sich am Ende die
des rein Ästhetischen als solche erkannt werden - ohne deswegen in ihrer Anerkennung des Ranges eines Werkes mit der Einsicht in die geschichtli-
höheren, etwa moralischen Begründung angefochten zu werden -, läßt sich chen Konstellationen verbinden müssen, die unsere Empfänglichkeit wech-
nicht nur der Streit der Kunstrichter schlichten, es wird auch der Entwick- selnd bestimmen. Denn es muß beides seine Begründung finden, das Urteil
lung und Verfeinerung des Geschmacks damit vorgearbeitet. Die Idee eines und die Wertschätzung, die Anerkennung der Qualität und die der Bedeu-
vollendeten Geschmacks, auf die sich alle Geschmackserziehung hinbewegt, tung eines Werkes. Es ist ja ein Bewußtsein, das sich so abstrahierend
umschließt das Ganze. Selbst Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung des bewegt, um sich sich selber zuzumuten.
Menschengeschlechts, die den Weg über die schöne Kunst ab Vorbereitung Die Frage läßt sich auch so stellen: Wie sieht die Hermeneutik des ästheti-
der wahren politischen Freiheit fordert, ist von keinem Zweifel beunruhigt, schen Bewußtseins aus? Wie bestimmt sich die >Richtigkeit< der Auffassung
daß das, was ein gebildeter Geschmack und ein Mann von Genie schön von Kunstwerken derart, daß sie beiden Bedingungen gerecht wird?
findet, eindeutig bestimmt ist. ,Das gelingt offenbar nicht, wenn man die Abstraktion des ästhetischen
Man muß sich das bewußt machen, um die völlige Veränderung der Urteils isoliert2. Denn schon die Voraussetzung, die im Begriff der ästheti-
Problemlage zu erfassen, die seither das ästhetische Bewußtsein mit dem schen Qualität liegt, es mit einem Kunstwerk zu tun zu haben, hat nur ein
historischen Bewußtsein in einer spannungsvollen Auseinandersetzung bedingtes Recht. Sie wird durch die >Bedeutung< eingeschränkt, die sehr oft
zeigt. Die Idee eines vollendeten Geschmacks, der alles Schöne im richtigen nicht die eines zum Kunstgenuß bestimmten Kunstwerks ist, sondern die
Grade schön fände, hat von nun an etwas Unsinniges. Mindestens dem eines kultischen oder profanen Monuments, das nur sekundär den Charakter
Naturschönen gegenüber scheint ein toleranter Relativismus unvermeid- eines Kunstwerks besitzt.
lich, der die wilde Erhabenheit des Hochgebirges neben der heiteren Anmut 'Das ist keine leere Spitzfindigkeit historischer Reflexion, sondern eine
einer Kulturlandschaft gelten läßt, ohne die eine als barbarisch oder die Einschränkung, die selbst ästhetisch einlösbar wird. Die ästhetische Ab-
andere als weichlich zu verurteilen. straktion hat ihrerseits den Charakter einer historischen Realität, sofern sie
Eher scheint es sinnvoll, für alle Kunstkritik einen übergeschichtlichen die Kunstwerke aus ihrem geschichtlichen Ort in Raum und Zeit löst und in
Maßstab gelten zu lassen, innerhalb dessen sich die wechselnden Bevorzu- die Zeitlosigkeit des Museums überführt. Die geistige Rückführung dersel-
gungen des einen oder anderen Künstlers oder einer bestimmten Kunstrich- ben ist eine der wichtigsten Aufgaben kunsthistorischer Forschung. Denn es
tung die Besonderheit ihres Geschmackes vorbehalten. Hier wird man gilt, den falschen Bildcharakter aufzuheben, den die Kunstwerke durch ihre
wechselnde Wertschätzungen anerkennen können, auch wenn man über den ästhetische Isolierung in der >Sammlung< empfangen haben, und ihnen ihre
künstlerischen Rang der betreffenden Werke Einigkeit fordert. Man wird wahre Welt ästhetisch zurückzugeben. Die Kunstforschung der letzten Jahr-
damit nicht nur den persönlichen Geschmack als ein individuelles Wertsy- zehnte hat uns auf diese Weise viele Einsichten geschenkt.
stem freizugeben meinen, sondern vor allem die geschichtliche Variation Zugleich aber hat sie damit die eigene Voraussetzung, von der sie ausgeht,
anerkennen, in der die Epochen ihren wechselnden Geschmack ausleben. in Frage zu stellen begonnen. Denn die >Kunst< ist keine selbstverständliche
Gleichwohl werden sich, wenn schon nicht die Kunsthistoriker, so doch die und eindeutige Gegebenheit, durch die sich etwas als ein Kunstwerk be-
Kenner und die Händler im Prinzip darüber einig sein, was >Qualität< ist.
2
Nicht ganz so einfach ist es aber, diesen ästhetischen Qualitätsbegriff, der Vgl. hierzu auch >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 94ff.
12 Ästhetik und Wahrheit Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins 13

stimmt, sondern eine Auffassungsform, die selber ihre geschichtliche Stun- -, gründet hier nicht in einem über es hinausgehenden Sinn. Gleichwohl
de hat. Wie rechtfertigt sich die Abstraktion auf Kunst, die offenbar allem aber folgt aus der Analogie zu dem Handwerker, daß der Hersteller es so
ästhetischen Urteil zugrundeliegt? >gemeint< habe. Für die hermeneutische Seite der Sache bedeutet das, daß
Die Antwort, die die ästhetische Theorie auf diese Frage hat, stammt von dem Verstehenden und Genießenden der Sinn des Werkes durch die Sinnin-
Kant. Schöne Kunst ist Kunst des Genies. Etwas als ein Kunstwerk ansehen tention des Schöpfers vorgeschrieben ist und daher im Nachschaffen als dem
heißt, in ihm das Produkt eines schöpferischen Tuns zu sehen, das keine kongenialen Verstehen seine Erfüllung findet.
schulgerechte Anwendung von Regem ist. Man kann das durchaus in so Es ist nun aber die Frage, ob die Analogie zwischen Kunst und Handwerk
weitem Sinne verstehen, daß damit von allem Kunstwerk das, was an ihm in dieser Theorie nach der richtigen Seite entfaltet wird. Der Begriff der
Kunst ist, beschrieben wird. Der transzendentale Sinn der Genietheorie unbewußten Planung und genialen Produktion soll zunächst nur die Ver-
besteht darin, daß durch sie das, was künstlerisch, das heißt ästhetisch bindlichkeit formulieren, die das Sinnverständnis findet, wenn kein Ge-
wertvoll ist, überhaupt charakterisiert wird - mithin auch an Gebrauchsdin- brauchszweck diesen >Sinn< bestimmt.
gen, soweit mit ihnen etwas ohne Regeln und nachkontrollierbare Berech- Das ist der transzendentale Sinn der idealistischen Ästhetik mit ihrer Lehre
nung Gefallendes hergestellt wird. Psychologisch gesehen ist es das Moment von der produktiven Einbildungskraft des Genies. Aber wird diese Theorie
der Inspiration, zu der ja immer noch die Ausarbeitung nach Können und der Sachlage gerecht? Sie lehrt eine letzte, absolute Konformität von Schaf-
Regeln treten muß und die doch lenkend und bestimmend die rational fen und Genießen und ergänzt so die Apotheose des Künstlers, der als ein
beherrschten Prozesse des Herstellens umgreift. Die hermeneutische Kehr- prometheischer Schöpfer wie ein >alter deus< ist, durch die Apotheose des
seite dazu ist, daß etwas als Kunstwerk anzusehen selbst wieder eine geniale, ästhetischen Bewußtseins, das allerwärts der künstlerischen Genialität mit
eben die kongeniale Fähigkeit des nachschaffenden Genießens verlangt. der kongenialen Souveränität des ästhetischen Genießens und des ästheti-
Indessen ist die Grenze dieser Theorie, die ihren Ursprung in der Kritik schen Urteils begegnet.
am französischen Klassizismus hat und in Goethes dichterischer Produk- Ist diese Konformität phänomenologisch ausweisbar? Man höre die mo-
tionsweise ihre exemplarische Darstellung fand, deutlich genug geworden, dernen Künstler an. Wenn man ihnen folgt, erscheint die Vorstellung von
daß ihre begrifflichen Voraussetzungen einer erneuten Prüfung bedürfen. der nachtwandlerischen Unbewußtheit, mit der das Genie schafft, - eine
Offenbar geht sie von der handwerklichen Produktion aus, die das fertige durch Goethes Selbstbeschreibung seiner poetischen Produktionsweise im-
Stück als das Produkt einer Planung und eines Könnens versteht. Was dem merhin legitimierte Vorstellung - als eine romantische Übertreibung. Der
Handwerker als Eidos vorschwebt, regelt den Produktionsgang. Das Eidos Dichter Paul Valéry erneuert demgegenüber die Maßstäbe eines Künstlers
selber aber ist vom Zwecke des Gebrauches bestimmt, der von dem Werk- und Ingenieurs wie Leonardo da Vinci, in dessen universalem Ingenium
stück gemacht werden soll. Handwerk, mechanische Erfindung und künstlerische Geniah'tat eine unun-
Alles Herstellen stellt für den Gebrauch her. Die Typik der Brauchbarkeit terscheidbare Einheit bilden. Offenbar leben wir im allgemeinen noch im-
verleiht dem Herstellen selbst den Wesenszug der Wiederholbarkeit. Das mer unter den Wirkungen des Geniekultes des achtzehnten Jahrhunderts und
einzelne Stück ist >ein solches<, das seine Gebrauchsbestimmung erfüllt. Es der Sakralisierung des Künstlertums, die für die bürgerliche Gesellschaft des
ist fertig, sofern es in Gebrauch genommen werden kann. 19. Jahrhunderts so charakteristisch ist. Von solchen Vorstellungen können
Diesem Modell gegenüber stellt die Genietheorie insofern eine Abwand- uns die Zeugnisse moderner Künstler zurückbringen, auch wenn sie ihrer-
lung dar, als das Kunstwerk nicht Gebrauchszwecken untergeordnet ist seits eine einseitige Übertreibung in der Richtung auf einen modernen
oder, wo es sich um Gebrauchskunst handelt, das Künstlerische an ihr nicht »cerebralen« Manierismus darstellen mögen. Sie machen uns bewußt, daß
von da aus bestimmt ist. Hier gibt es mithin kein Fertigsein, das von dem der Begriff des Genies, wie er in der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts
Andern des Zweckes her entschieden würde. Ein Kunstwerk ist niemals >ein gedacht wurde, vom Betrachter aus konzipiert war. Nicht dem schaffenden,
solches<. Es ist der Vorgang seiner schöpferischen Hervorbringung allein, sondern dem beurteilenden Vermögen bietet sich dieser antike Begriff als
der es in seinem Sein bestimmt. Somit wird in den Schöpfer - im Sinne der überzeugend dar. Was dem Betrachter als ein Wunder erscheint, wird in das
genialen Inspiration - verlegt, was den Herstellungsvorgang leitet und Wundersame einer Schöpfung durch geniale Inspiration hinausgespiegelt.
begrenzt. Die Vollkommenheit des Gebildes, daß zu ihm nichts hinzugetan Soweit die Schaffenden sich selber zuschauen, mögen sie sich dieser Auffas-
und nichts weggelassen werden darf - ein Begriff der Schönheit, der am sungsform auch selber bedienen können. Daher ist der Geniekult des 18.
Kunstwerk eine viel strengere Erfüllung findet als an jedem Gebrauchsding Jahrhunderts gewiß auch von den Schaffenden genährt worden. Aber im
14 Ästhetik und Wahrheit Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins 15
allgemeinen gehen sie in der Selbstapotheose nie so weit, wie die bürgerliche treffen - als Korrektiv der ästhetischen Genietheorie oder des Erlebnisbe-
Gesellschaft ihnen zugesteht. Das Selbstverständnis des Schaffenden ist weit griffes bleibt etwas daran.
nüchterner. Er sieht auch dort Möglichkeiten des Machens und Könnens Wenn es aber so ist, daß künstlerische Gestaltung mehr ein Zustandekom-
und Fragen der Technik, wo der deutende Betrachter Geheimnis und tiefere men und Geraten als ein Schaffen ist, dann gewinnt die hermeneutische
Bedeutung sucht. Kehrseite der ästhetischen Theorie den methodischen Vorrang. Mag es mit
Damit ist ein zweiter kritischer Punkt dieser Theorie berührt. Das Phäno- der Produktionsweise des Künstlerischen stehen, wie es will - in jedem Falle
men der ästhetischen Kritik fügt sich schlecht in die Theorie der Konformi- kommt es darauf an, die Sinnerfahrung, die das Kunstwerk vermittelt,
tät von Schaffen und Genießen. Nicht nur, daß es eine unauflösliche Span- angemessen zu bestimmen. Hier kann nun der hermeneutische Nihilismus
nung zwischen Kritik und schaffendem Künstlertum gibt, die vielleicht Paul Valérys nicht befriedigen. Es klingt zwar konsequent: Wenn ein Kunst-
nicht nur auf die verletzliche Sensibilität der Künstler zurückgeht, — die werk der zufällige Abbruch eines virtuell fortgehenden Gestaltungsvorgan-
ästhetische Kritik widerlegt geradezu durch ihr eigenes Tun jede Theorie, ges ist, dann enthält es nichts Verbindliches. Es muß dann dem Aufnehmen-
die im Verstehen ein Nachschaffen sieht. Denn wo immer sie sich nachschaf- den überlassen bleiben, was er seinerseits daraus macht. Die eine Art, eine
fende Kompetenz anmaßt, indem sie konkrete kritische Beanstandungen solche Gestaltung zu verstehen, ist dann nicht weniger legitim als die andere.
macht oder gar mit eigenen positiven Gegenvorschlägen kommt, verfällt sie Es gibt keinen Maßstab der Angemessenheit. Auch der Schöpfer des Werkes
unweigerlich der Beckmesserei. Ihr Nachschaffen ist eine offenbare Illusion. besitzt ihn nicht. Jede Begegnung mit dem Werk ist eine neue, originäre
Gewiß erfordern Verstehen und Genießen eine eigene Aktivität, aber diese Produktion. Wenn Valéry in der Tat solche Konsequenzen zieht, um dem
ist von der des Schaffens gänzlich verschieden. So sehr, daß ästhetische Mythos der unbewußten Produktion des Genies zu entgehen, muß man aber
Kritik, wo sie berechtigt erscheint, einen künstlerischen Mangel eher an- feststellen, daß er sich damit erst recht in ihm verfängt. Denn nun überträgt
zeigt, als daß sie ihn wirklich erkennt oder gar zu korrigieren wüßte. Es wird er in Wahrheit dem Leser und Ausleger die Vollmacht des absoluten Schaf-
uns noch zu beschäftigen haben, daß die ästhetische Kritik und das ästheti- fens, die er nicht selber in Anspruch nehmen will.
sche Urteil überhaupt einem sekundären Verhältnis zum Kunstwerk zuge- Vielmehr gilt es, die hermeneutische Verbindlichkeit genauer zu bestim-
hören. men, die dem Kunstwerk zukommt. Ob vom Schaffenden oder Genießen-
Trägt man diesen Einwendungen Rechnung, so bricht das Problem, das den her gesehen, jedenfalls ist es eine Erfahrung von Sinn, in der auch dann
der transzendentale Gebrauch des Geniebegriffs zu lösen wußte, neu auf. nichts beliebig ist, wenn niemand über einen bleibenden Maßstab verfügt.
Wie soll ohne den Geniebegriff die Differenz zwischen dem handwerklich Ja, die Verbindlichkeit der Sinnfindung ist vielleicht gerade dann eine beson-
Gemachten und dem künstlerisch Geschaffenen gedacht werden? Wie soll dere und gesteigerte, wenn sie auf einen solchen Maßstab verzichten muß.
auch nur die Vollendung eines Werkes der Kunst gedacht werden, wenn der So werden wir gewiß der in den reproduktiven Künsten geübten Interpreta-
Vorgang der Gestaltung nicht von einer vorgreifenden Planung umschlos- tion, etwa eines Musikwerks oder eines Dramas, nicht die Freiheit einräu-
sen ist? Stellt sich dann das Fertigsein des Werkes nicht wie der Abbruch men, daß sie den fixierten >Text< zum Anlaß der Erzeugung beliebiger
eines über es hinausweisenden Gestaltungsvorganges dar? Effekte nimmt, und werden doch auch umgekehrt die Kanonisierung einer
In der Tat hat Paul Valéry die Dinge so angesehen, und man muß zuge- bestimmten Interpretation, ζ. Β. durch die Schallplattenaufnahme, die der
ben, daß manches für eine solche Auffassung spricht, etwa die Existenz Komponist dirigiert hat, oder die detaillierten Aufführungsvorschriften, die
verschiedener Fassungen ein und desselben Werkes, die mitunter einen je sich von der kanonisierten Uraufführung herleiten, für eine Verkennung der
eigenen, fertigen Sinn zu haben scheinen. (Ich denke etwa an Hölderlinsche eigentlichen Interpretationsaufgabe halten. Eine dermaßen angestrebte
Kurzfassungen und ihre Ausweitung.) Oder die Existenz derart vollende- >Richtigkeit< würde der wahren Verbindlichkeit des Werkes selbst nicht
ten Fragmente, wie mancher in Goethes Werken zu findender, wo der gerecht, die einen jeden Interpreten auf eigene und unmittelbare Weise
Abbruch eines Gestaltungsvorganges eine wirkliche Vollendung zustande- bindet und ihm die Entlastung bloßer Nachahmung eines Vorbildes vorent-
zubringen scheint. Die Theorie der modernen Lyrik vollends sieht die hält. Es ist auch offenkundig falsch, die >Freiheit< des reproduktiven Belie-
dichterische Gestaltung viel mehr als ein solches Zustandekommen, bei dem bens auf Äußerlichkeiten oder Randerscheinungen zu beschränken und nicht
es die Fügung der Sprache selber ist, die sich im Gedicht zu ihrem Sinn vielmehr das Ganze einer Reproduktion verbindlich und frei zugleich zu
findet. Auch das mag eine nur teilhafte Gültigkeit haben und mehr eine denken. Interpretation ist hier gewiß Nachschaffen, aber dies Nachschaffen
dichterische >Schule< als das allgemeine Wesen der künstlerischen Gestaltung folgt nicht einem vorgängigen Schaffensakt, sondern der Figur des geschaf-
16 Ästhetik und Wahrheit Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins 17

fenen Werks, die es so, wie es Sinn darin findet, zur Darstellung zu bringen Determination der Sinnfigur eines Werkes, würde dann mit dem hermeneu-
hat. Historisierende Darstellungen, ζ. Β. Musik auf alten Instrumenten, sind tischen Geschehen in der Erfahrung des Kunstwerkes zu der Anonymität
daher nicht so getreu, wie sie meinen, weil sie als Nachahmung der Nachah- eines Sinngeschehens zusammengeschlossen, das von keinem genialen oder
mung »dreifach von der Wahrheit abstehen« (Plato). kongenialen Geiste umfaßt würde und das uns doch alle bestimmte. Damit
Nun hat reproduktive Interpretation gewiß ihren eigenen, selbständigen würde freilich die eigentlich ästhetische Frage von Qualität und Rang eines
Stoff und damit eine originäre Formungsaufgabe, die beim verstehendem Werkes zu einem bloßen Moment an dieser geschichtlichen Erfahrung her-
Interpretieren, also z. B. auch beim ästhetischen Urteil, fehlen. Gleichwohl abgesetzt, einem Moment, dem das Kunstwerk seine Kraft der Aussage, die
schließt jede reproduktive Interpretation Verstehen ein, und das oft derart, jeweilige Präsenz seiner Bedeutung, durchaus verdankt - und das doch nur,
daß sie durch sich selbst jede weitere Auslegungsdiskussion überflüssig indem das Werk seine Sagkraft ausübt und es nicht für sich thematisch wird.
macht. Umgekehrt ist aber auch alles Verstehen und Auslegen von Kunst- Ja, im Gegenteil: Sofern es thematisch wird, wird der Seinsverlust sichtbar,
werken auf eine reproduktive Formung aufgebaut, die freilich >in mente< den das Kunstwerk dadurch erlitten hat, daß es nur noch als ein Werk von
bleibt. Das, was man in neuerer Zeit »die zweite Kunstwissenschaft« ge- ästhetischer Qualität gewürdigt wird. Wird es in seinem wahren Sinn und
nannt hat (Sedlmayr), hat darin seine Berechtigung. seiner Bedeutung erfahren, dann wird seine Qualität und sein Rang über-
Die entscheidende Frage ist also für die reproduktive wie fur die verste- haupt nicht als solcher beurteilt, sondern vorgreifend in Anspruch genom-
hende Interpretation die gleiche: Worin besteht ihre Verbindlichkeit und men, das heißt, es wird vorausgesetzt, daß alles an ihm in vollkommener
worin ihre Freiheit? Ist ihre Verbindlichkeit die der Anerkennung einer Weise diesen Sinn erscheinen läßt. Nur wenn dieser Vorgriff der Vollkom-
ästhetischen Qualität, die objektiv vorfindlich ist, und dessen, worauf diese menheit3 uneinlösbar wird, das heißt aber, wenn die Sinnfindung scheitert,
beruht, - und bleibt ihr Freiheit allem Okkasionellen von wechselnder fallt das ästhetische Bewußtsein in der Ausübung seiner kritischen Souverä-
Bedeutung gegenüber, das sich daran heftet? So daß dem eigentlich Künstle- nität gleichsam auf sich selbst zurück. In diesem genauen Sinne ist alle
rischen ein beständiger Sinn für Qualität und Rang zugeordnet wäre, dem ästhetische Kritik sekundär, eine privative Erfahrung, die zu dem Refle-
am Ende doch die Kunstwissenschaft sich approximativ entgegenarbeitete, xionsgenuß des ästhetischen Urteils führt. Den ersten Rang aber hat diejeni-
das Wechselnde dem Wechsel überlassend? Oder liegt die eigentliche Ver- ge Erfahrung der Kunst inne, die sie am Ganzen unserer geistigen Überliefe-
bindlichkeit der Erfahrung eines Kunstwerks nicht zuletzt in diesem Wech- rung mitformen läßt und die geschichtliche Tiefe der eigenen Gegenwart
selnden der Bedeutung, die es uns zuspricht? In Wahrheit würde es sich dann aufschließt.
gar nicht um einen Wechsel handeln, etwa so, daß das, was gestern an einem
Kunstwerk als vorwaltend erfahren wurde, heute »nicht mehr< ebenso erfah-
ren wird. Sondern dieses »Nicht mehr< enthält eine positive Bestimmung: Es
wird gerade deshalb nicht mehr ebenso erfahren, weil es gestern so erfahren
wurde und damit eine neue Erfahrungsmöglichkeit heraufrief. Ist unsere
Erfahrung von Kunst in diesem Sinn verbindlich, daß sie die Geschicht-
lichkeit unserer Existenz engagiert? Dann wäre der Akt der Sinnfindung
zwar gewiß gebunden durch die Verbindlichkeit des Werks - aber nicht nur
durch sie. Er wäre ihr gegenüber zugleich >frei<, sofern er in die Begegnung
mit dem Werk von sich aus ein Sinnmoment hinzubrächte, durch das sich die
potentielle Unabgeschlossenheit seines Sinnes fortbestimmte.
Wenn das so sein sollte - und damit würde nicht nur die Interpretationslei-
stung der Reproduktion, wie sofort einleuchtet, angemessen bestimmt,
sondern es ließe sich an der ganzen Breite der Hermeneutik der Geisteswis-
senschaften zeigen, daß das so ist - , dann würde sich die hermeneutische
Erfahrung, die mit dem Verstehen eines Kunstwerkes gegeben ist, mit der 3
Zu diesem Begriff siehe »Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 299f. sowie
ästhetischen Einsicht in die Sinngenese, durch die es als Kunstwerk zustan- die Ausfuhrungen in Ges. Werke Bd. 2, S. 61ff.und in diesem Band »Philosophie und
dekommt, auf neue Weise verknüpfen. Die künstlerische Gestaltung, als die Literatur, S. 251 f.
Dichten und Deuten 19

zeigen, was ist. Zeigen, was ist, heißt im Denken: etwas sehen lehren, was
wir alle einsehen können.
Die Frage ist also: Was begründet die Nachbarschaft von Dichten und
Deuten? Es liegt auf der Hand, daß beidem etwas gemeinsam ist. Beides
vollzieht sich im Medium der Sprache. Und doch ist da eine Differenz, und
3. Dichten und Deuten es fragt sich, wie tief dieselbe geht. Am eindrucksvollsten hat Paul Valéry
auf den hier waltenden Unterschied hingewiesen: Das Wort der alltäglichen
(1961) und ebenso das der wissenschaftlichen und philosophischen Rede zeigt auf
etwas hin und verschwindet selbst als ein vorübergehendes hinter dem, was
es zeigt. Das dichterische Wort dagegen kommt in seinem Zeigen selber zur
Es gibt eine alte Spannung zwischen dem Tun des Künstlers und dem Tun Erscheinung und bleibt gleichsam stehen. Das eine ist wie eine Scheidemün-
des Deuters. In den Augen des Künstlers gewinnt das Deuten den Schein ze, die man nur statt etwas anderem hin und her reicht, das andere, das
willkürlichen Beliebens, wenn nicht sogar den der Überflüssigkeit. Voll- dichterische Wort, ist wie das Gold selbst. Nun muß unser Nachdenken
ends wenn das Deuten im Namen und im Geiste der Wissenschaft versucht damit beginnen, daß dem Einleuchtenden dieser Feststellung zum Trotz es
wird, verschärfen sich die Spannungen. Daß es möglich sein soll, durch die dennoch Übergänge gibt, die zwischen dem dichterisch gestaltenden und
Methoden der Wissenschaft die Fragwürdigkeiten des Deutens zu überwin- dem bloß meinenden Wort in der Mitte stehen. Gerade unser Jahrhundert ist
den, findet bei dem schaffenden Künstler noch weniger Glauben. Das The- ja mit der inneren Durchdringung beider Weisen des Sprechens besonders
ma >Dichten und Deuten< stellt nun einen Sonderfall dieses allgemeinen vertraut geworden.
Verhältnisses zwischen dem Schaffenden und dem Deutenden dar. Denn Gehen wir von den Extremen aus. Da steht auf der einen Seite das lyrische
wenn es sich um Dichtung und Dichten handelt, vereinigt sich nicht selten in Gedicht (an das auch Paul Valéry vor allem gedacht haben wird). Hier sehen
einer Person das Geschäft des Deutens und das eigene künstlerische Schaf- wir in unserer Zeit ein erstaunliches Phänomen: Das Wort der Wissenschaft
fen. Das weist daraufhin, daß das Dichten in einer engeren Beziehung zum dringt als ein Element von >science< in die Poesie ein, ζ. Β. bei Rilke oder
Deuten steht als das Tun der übrigen Künste. Auch wo das Deuten unter Gottfried Benn, in einer Weise, die noch vor wenigen Jahrzehnten in hoher
dem Anspruch der Wissenschaft geschieht, hat es der Dichtung gegenüber Dichtung unmöglich gewesen wäre. Was geschieht da, wenn ein offenkun-
vielleicht nicht ganz die Fragwürdigkeit, die man ihm im allgemeinen dig meinendes Wort, eine Bestimmung oder gar ein Begriff der Wissen-
zuschreibt. Das Verfahren der Wissenschaft scheint dann kaum über das schaft, in das Melos des dichterischen Wortes eingeschmolzen erscheint?
hinauszugelangen, was in jeder denkenden Erfahrung mit Dichtung am Und nun das andere Extrem, die scheinbar loseste aller Kunstformen, der
Werke ist. Diese Vermutung legt sich besonders nahe, wenn man daran Roman. Hier hat die Reflexion, das über die Dinge und Ereignisse reflektie-
denkt, wieviel philosophische Reflexion in die moderne Dichtung unseres rende Wort, von jeher Heimatrecht, nicht nur im Munde gestalteter Figu-
Jahrhunderts eingegangen ist. Das Verhältnis von Dichten und Deuten stellt ren, sondern auch aus dem Munde des Erzählenden selbst, wer auch immer
sich nicht nur von selten der Wissenschaft oder der Philosophie, es ist auch es sei. Aber hat sich nicht auch hier ein neues Moment gezeigt, selbst noch
ein internes Problem des Dichtens selbst, für den Dichter wie für seinen gegenüber den Kühnheiten der romantischen Romanform, eine Auflösung
Leser. nicht nur der Form des Erzählens, sondern des Begriffes der Handlung
Wenn ich das Thema in diesem Sinne zur Diskussion stelle, so will ich selber, so daß der Unterschied zwischen dem Wort des Erzählers und dem
nicht zu dem Wettbewerb Stellung nehmen, der zwischen dem von der reflektierenden Wort überhaupt hinfällig wird?
Wissenschaft her Sprechenden und dem Künstler des Wortes im Anspruch So scheint es, daß auch der dem Deuten gegenüber widerwilligste Dichter
des Deutens bestehen mag1. Ich will auch nicht versuchen, in der Brillanz sich die Gemeinsamkeit von Dichten und Deuten nicht ganz verbergen
des Sagens mit denen zu rivalisieren, die das Handwerk des Wortes beherr- kann, mag er noch so sehr über die Fragwürdigkeit aller Deutung und
schen. Ich möchte allein mein eigenes Handwerk tun, d.h. durch Denken insbesondere der Selbstdeutung seiner dichterischen Aussagen Bescheid
wissen und Ernst Jünger recht geben, der sagt: »Wer sich selbst interpretiert,
1 geht unter sein Niveau. « Fragen wir zunächst: Was ist Deuten? Sicher ist es
Zu den in der Diskussion erörterten Fragen ist zu verweisen auf die Neuauflagen von
ROMAN INGARDENS grundlegendem Buch >Das literarische Kunstwerk< (Tübingen 41972). nicht Erklären oder Begreifen, eher schon Verstehen und Auslegen. Und
20 Ästhetik und Wahrheit Dichten und Deuten 21

doch ist im Deuten noch etwas anderes. Deuten heißt ursprünglich: in eine ehe Erkenntnis adäquat übersetzbar. Das gilt auch für das dichterische Werk.
Richtung zeigen. Das ist wichtig, daß alles Deuten nicht auf ein Ziel, Und doch ist die Frage, wie sich inmitten der Spannung von Bild und
sondern nur in eine Richtung zeigt, d.h. aber in ein Offenes, das sich Begriff das besondere Verhältnis von Dichten und Deuten darstellt. - Die
verschieden ausfüllen kann. Vieldeutigkeit der Dichtung ist mit der Eindeutigkeit des meinenden Wortes
Nun unterscheiden wir Deuten in einem doppelten Sinne: auf etwas unauflöslich verwoben. Was diese spannungsvolle Interferenz trägt, ist die
deuten und etwas deuten. Beides hängt offenkundig miteinander zusam- besondere Stellung der Sprache gegenüber allen anderen Stoffen, aus denen
men. Auf etwas deuten heißt zeigen und kommt dem Sinne des Zeichens zu. der Künstler gestaltet, dem Stein, der Farbe, dem Ton, selbst der Körperbe-
>Etwas deuten< ist immer schon zurückbezogen auf solches Zeichen, das von wegung im Tanz. Ihre Elemente, aus denen sie sich aufbaut und die in der
sich aus deutet. Etwas deuten heißt also immer: ein Deuten deuten. So Dichtung gestaltet werden, sind reine Zeichen, die nur von ihrer Bedeutung
werden wir zur Bestimmung der Aufgabe und der Grenze unseres deuten- her Elemente der dichterischen Gestaltung zu werden vermögen. Das aber
den Tuns auf die Frage zurückgewiesen, was alles seinem Sein nach Deuten heißt, daß sie im Meinen ihre eigentliche Seinsweise besitzen. Daran ist im
ist. Was alles ist Zeichen? Ist vielleicht alles Zeichen? Ist es so, wie Goethe besonderen in einer Zeit zu erinnern, in der die Ablösung von der gegen-
gemeint hat, durch den der Begriff des Symbolischen zu einem Grundbe- ständlich gedeuteten Welterfahrung wie ein Bildungsgesetz der zeitgenössi-
griff unserer gesamten Ästhetik erhoben wurde: »Alles deutet auf alles.« schen Kunst erscheint. Der Dichter kann hier nicht mit. Das Wort, in dem er
»Alles ist Symbol.« Oder bedarf es hier einer Einschränkung? Gibt es im sich ausspricht und aus dem er gestaltet, will sich von seiner Bedeutung nie
Seienden solches, das deutet, das also ein Zeichen ist, und das deshalb dazu ganz ablösen lassen. Gegenstandslose Dichtung wäre ein Lallen.
herausfordert, als Zeichen genommen und gedeutet zu werden? Gewiß muß Natürlich heißt das nicht, daß das sprachliche Kunstwerk im bloßen
solche Zeichennahme dem Seienden oft gleichsam erst abgewonnen wer- Meinen verbliebe. Es schließt vielmehr immer eine Art Identität von Bedeu-
den. So wollen wir etwa auch deuten, was sich verbirgt, ζ. Β. den Ausdruck tung und Sein ein, so wie das Sakrament Sein und Bedeutung in einem ist.
von Gebärden2. Aber auch dann noch will es doch ein Heraussehen des »Gesang ist Dasein. « Was aber ist da eigentlich da? Alle meinende Rede weist
Zeichens aus einer in sich gebundenen Ganzheit sein, also ein Deuten, das doch von sich weg. Worte sind nicht Lautkomplexe, sondern Sinngebärden,
den Richtungssinn eines Zeichens gleichsam verdeutlicht, indem es aus dem von sich wegweisend wie Winke. Wir wissen alle, wie die Lautgestalt der
Verworrenen, dem Undeutlichen, dem Richtungslosen das heraussieht, Dichtung erst vom Verstandenwerden der Bedeutung her ihren Kontur ge-
worauf es im Grunde deutet. Solches Deuten will also nicht hineindeuten, winnt. Wir wissen es schmerzlich und mit der ganzen Spannung einer Auf-
sondern klar herausheben, worauf das Seiende selber schon deutet. gabe, daß Dichtung sprachgebunden ist und daß die Übersetzung von
Wir sehen am Gegensatz, worauf es hier ankommt. Woran nichts zu Poesie eine ebenso großartige wie qualvolle Unmöglichkeit darstellt.
deuten und woran nicht zu deuteln ist, ist etwa das Eindeutige des Befehls, Das aber heißt, die Einheit von Lautgestalt und Bedeutung, die jedem
der Gehorsam verlangt, oder einer Aussage, deren Sinn festliegt. Zu deuten Worte zukommt, findet in der dichterischen Rede ihre eigentliche Erfül-
ist lediglich das, dessen Sinn nicht festliegt, das also vieldeutig ist. Nehmen lung. Das dichterische Kunstwerk hat als sprachliches allen anderen Kunst-
wir die klassischen Beispiele aller Deutung: den Vogelflug, das Orakel, den arten gegenüber eine spezifische, offene Unbestimmtheit an sich. Die Ge-
Traum, das im Bild Dargestellte, die rätselhafte Schrift. In all diesen Fällen stalteinheit, die das dichterische Kunstwerk so gut wie jedes andere Kunst-
haben wir ein Doppeltes - ein Deuten, das heißt in eine Richtung Weisen, werk besitzt, ist zwar sinnenfällige Präsenz und insofern nicht etwa ein
das Deutung verlangt, und doch auch ein Sichverbergen des in dieser Rich- bloßes Meinen von Bedeutungshaftem. Aber diese Präsenz enthält dennoch
tung Gezeigten. Zu deuten ist also das Vieldeutige. ein Element des Meinens, des Weisens in eine unbestimmte Erfüllungsmög-
Man wird sich nun fragen, ob man das Vieldeutige im Grunde überhaupt lichkeit. Gerade darin liegt der Vorrang der Dichtung vor den anderen
anders deuten kann, als indem man es in seiner Vieldeutigkeit offenbar Kunstarten, durch den sie es ist, die der bildenden Kunst von jeher ihre
macht. Damit kommen wir in die Nähe unseres Themas, das innerhalb des Aufgabe stellt. Denn was sie mit ihren sprachlichen Mitteln evoziert, ist
Verhältnisses von Deuten und Schaffen auf den besonderen Zusammenhang zwar Anschauung, Präsenz, Dasein. Aber in jedem einzelnen, der das dich-
zwischen Deuten und Dichten gerichtet ist. Kunst fordert Deutung, weil sie terische Wort aufnimmt, findet es eine eigene anschauliche und nicht mittei-
von einer unausschöpfbaren Vieldeutigkeit ist. Sie ist nicht in eine begriffli- lungsfahige Erfüllung. So ruft sie den bildenden Künstler zu seiner Aufgabe.
Stellvertretend für alle erfindet er das Bild, das feste Gültigkeit erlangt. Wir
2
Ober den Begriff der Gebärde vgl. unten S. 327 ff. nennen das den Bildtypus, der herrschend wird, bis er etwa in einem neuen
22 Ästhetik und Wahrheit Dichten und Deuten 23

schöpferischen Akt durch einen neuen Typus verdrängt wird. - Des Dich- ten scheint nicht ein Tun und nicht ein Meinen, sondern eine wirkliche
ters eigene Aufgabe ist die gemeinsame Sage. Die Sage aber hat in ihrem Bestimmung im Sein selber.
Gesagtsein ihre absolute Realität. Der griechische Ausdruck dafür ist >My- Es ist wie mit der Zweideutigkeit des Orakels. Auch sie gehört nicht in die
thos<. Die Geschichte von Göttern und Menschen, um die es sich dabei Sphäre unseres Deutens, sondern in die Sphäre des uns Bedeuteten. Es ist
handelt, ist dadurch charakterisiert, daß sie nur im Gesagtsein ihr Dasein hat, nicht der durch eine infame oder verruchte Macht herbeigeführte Irrtum
keine andere Beglaubigungsmöglichkeit besitzt und verträgt als nur die des eines Tölpels, der den Ödipus in sein Verhängnis treibt. Es ist aber auch
Gesagtseins und des Weitergesagtwerdens3. In diesem sehr genauen Sinne nichts Frevelhaftes an seinem Willen, einen göttlichen Spruch zu widerle-
ist nun aber im Grunde alle Dichtung mythisch, denn sie teilt es mit dem gen, auch wenn ihn dieser Versuch schließlich ins Unheil stürzt. Vielmehr
Mythos, ihre eigene Beglaubigung nur im Gesagtsein zu haben. Eben damit ist es der Sinn einer solchen Orakeltragödie, daß jene Gestalt ihres Helden
aber ist sie in einem Element, dem Dichten so gut wie Deuten angehören. Ja die Zweideutigkeit exemplarisch darstellt, die das über den Menschen als
mehr noch, das in alles Dichten immer schon Deuten einschließt. solchen verhängte Verhängnis ist.
Das läßt sich durch den Hinweis auf ein dichterisches Kunstmittel bestäti- Das ist menschliches Sein, sich so im Deuten des Vieldeutigen zu verstrik-
gen, das in früheren Jahrhunderten seine unbestrittene Legitimation hatte ken.
und erst in der neueren Zeit der Erlebnispoesie seinen Kredit verloren hat. An solcher Vieldeutigkeit hat auch das Dichterwort teil. Auch für das
Ich meine die Allegorie4, die etwas durch etwas anderes sagt. Ein solches Dichterwort gilt, daß es mythisch, d. h. keiner Beglaubigung durch irgend
Kunstmittel ist nur dort möglich und nur dort dichterisch, wo die Gemein- etwas außerhalb seiner Gelegenes fähig ist. Die Vieldeutigkeit des dichteri-
samkeit des Deutungshorizontes, in den die Allegorie gehört, gesichert ist. schen Wortes hat ihre eigentliche Würde darin, daß sie der Vieldeutigkeit des
Wo diese Bedingung erfüllt ist, braucht die Allegorie gar nicht >frostig< zu menschlichen Seins im ganzen entspricht. Alles Deuten des dichterischen
sein. Auch wo eine strenge Zuordnung zwischen der Allegorie und ihrer Wortes deutet nur, was die Dichtung selber schon deutet. Das, was die
Bedeutung besteht, kann dennoch das Ganze der dichterischen Rede, in der Dichtung und worauf die Dichtung deutet, ist natürlich nicht das, was der
sie vorkommt, die offene Unbestimmtheit behalten, die sie dichterisch - Dichter meint. Was Dichter meinen, ist um nichts dem überlegen, was
und das heißt: durch den Begriff unausschöpflich - sein läßt. Um es an einem andere Leute meinen. Dichtung besteht nicht im Meinen von etwas, sondern
Beispiel klar zu machen: Die Diskussion um die Romane von Kafka beruht darin, daß das Gemeinte und Gesagte in ihr selber da ist. Das ihr folgende
zuletzt darauf, daß Kafka in seinen Dichtungen auf eine unbeschreiblich deutende Wort bleibt in dieses Dasein einbehalten wie die vieldeutigen
gelassene, kristallen klare und ruhige Art eine alltägliche Welt aufzubauen Deute, die das Gedicht selber sind. Es hebt sich wie sie im Dasein der
weiß, deren scheinbare Vertrautheit, mit einer rätselhaften Fremdheit ge- Dichtung auf. Wie das Gedicht deutet, d. h. in eine Richtung weist, so deutet
paart, den Eindruck erweckt, als wäre da alles nicht es selbst, sondern meinte auch der, der ein Gedicht deutet, in eine Richtung. Wer dem deutenden
etwas anderes. Gleichwohl gibt es hier keine deutbaren Allegorien, weil sich Wort folgt, sieht in solche Richtung, meint aber nicht die bestimmte Deu-
der Zerfall des gemeinsamen Deutungshorizontes geradezu als das Gesche- tung als solche. Das deutende Wort darf sich offenbar nicht an die Stelle
hen dieser großen Erzählkunst vor uns abspielt. Der Anschein, als ziele hier dessen schieben, auf das es hindeutet. Die Deutung, die das für sich bean-
alles auf Bedeutung und Begriff und auf eine Entschlüsselung, wird selbst spruchte, wäre wie der Hund, dem man etwas zu zeigen sucht und der
nochmals gebrochen. Es wird der bloße Schein der Allegorie dichterisch unfehlbar nach der zeigenden Hand schnappt, statt in die Richtung zu sehen,
evoziert, d. h. aber in eine offene Vieldeutigkeit gewendet. in die ihm gedeutet wird.
Das ist ein Deuten, das im Dichten mit da ist und das seinerseits das Genauso scheint es mir aber auch mit dem Deuten zu stehen, das im
Deuten selber fordert. So stellt sich als die eigentliche Frage: Wer deutet hier, Dichten selber geschieht. Es liegt im Wesen der dichterischen Aussage, daß
der Dichter oder der Deuter? Oder ist es so, daß beide, indem sie das Ihre auch an ihr etwas gleichsam von sich weg verweist. Die Kunst und Könner-
tun, deuten? Ist es so, daß in ihrem Meinen und in ihrem Sagen etwas schaft des Sagens, die einer Aussage ästhetisches Qualitätsniveau verleiht,
geschieht, etwas gleichsam bedeutet wird, das sie gar nicht >meinen<? Deu- mag in einer ästhetischen Reflexion beachtet werden, aber ihr wahres Dasein
hat diese Kunst darin, daß sie von sich weg weist und das sehen läßt, wovon
3 der Dichter redet. Nicht der Deutende und nicht der Dichtende besitzen eine
Zum Begriff des Mythos siehe im folgenden >Mythos und Vernunft< (Nr. 13) und die
sich daran anschließenden Beiträge. eigene Legitimation - sie beide werden durch das, was eigentlich ist, wo ein
4
Vgl. dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 76 ff. Gedicht ist, immer schon übertroffen. Sie beide folgen einem Deut, der ins
24 Ästhetik und Wahrheit

Offene deutet. Auch der Dichter muß daher wie der Deuter in dem Sinne an
sich halten, daß er dem, was er bloß meint, überhaupt keine Legitimation
zubilligt. Was seine eigene Selbstauffassung oder seine bewußte Intention
lenkt, ist vielmehr nur eine der vielen Möglichkeiten, sich zu sich selber
reflektierend zu verhalten, und ist ganz unterschieden von dem, was er
^""eigentlich tut, indem sein Gedicht gelingt. 4. Kunst und Nachahmung
Ein Wort des Hesiod, des Dichters, der als erster in seiner berühmten
Musenweihe ein Bewußtsein von der Mission des Dichters formuliert hat, (1967)
kann das Gesagte illustrieren. Dort, in der Einleitung der >Theogonie<,
erscheinen die Musen dem Dichter und sagen ihm: »Wir wissen viel Falsches
zu sagen, das dem Echten gleicht, wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Was bedeutet die moderne gegenstandslose Kunst? Haben die alten ästheti-
Wahres erklingen zu lassen. « Man versteht dies Wort meist als eine kritische schen Begriffe, unter denen wir das Wesen der Kunst zu begreifen gewohnt
Wendung des Dichters gegen die Homerische Gestaltung der Götterwelt, als waren, überhaupt noch Gültigkeit? Die moderne Kunst weist in vielen ihrer
ob der Dichter sich auf eine neue Legitimation berufe, indem die Musen ihm ausgezeichneten Vertreter mit besonderer Ausdrücklichkeit die Bilderwar-
gesagt hätten: »Wir meinen es mit dir gut. Wir werden dir nicht, wenn wir es tung zurück, mit der wir zu ihr herantreten. Es ist eine ausgesprochene
auch wohl könnten, Falsches zu sagen geben - wie dem Homer - , sondern Schockwirkung, die von solcher Kunst auszugehen pflegt. Was ist gesche-
nur Wahres. « Ich glaube aus mehreren Gründen, vor allem auch wegen der hen? Welche neue, welche alle bisherigen Erwartungen und Traditionen
außerordentlichen Symmetrie der beiden Verse, daß der Dichter sagen will: brechende Haltung des Malers, welche Zumutung an uns alle wird da
die Musen haben immer, wo sie etwas geben, Wahres und Falsches zugleich gestellt?
zu geben. Wahres und Falsches zugleich sagen und insoweit ins Offene Es gibt viele Skeptiker, die die >abstrakte< Malerei für eine Mode halten,
deuten, macht das dichterische Wort aus. Seine Wahrheit ist nicht von der und die am Ende gar den Kunsthandel fur den Erfolg dieser Malerei verant-
Unterscheidung von wahr und falsch auf solche Weise beherrscht, wie es die wortlich machen wollen. Aber schon ein Blick auf die Nachbarkünste zeigt,
bösen Philosophen meinen, wenn sie von den Dichtern sagen: »Die Dichter daß die Sache tiefer liegen muß. Es handelt sich um eine wahrhafte Revolu-
aber lügen viel. « tion der modernen Kunst, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte. In
Damit scheint sich eine Antwort auf die von mir gestellte Frage zu derselben Zeit entsteht die sogenannte atonale Musik, die schon in ihrem
ergeben. Ein Element des Meinens und des Deutens ist von jeher in der Worte etwas von derselben Paradoxie enthält wie der Begriff der gegen-
Vieldeutigkeit der Dichtung. Wo aber der gemeinsame Deutungshorizont standslosen Malerei. Ebenso beginnt damals - denken wir an Proust, denken
in sich zerfallen ist, wo keine gemeinsame Sage mehr ist, wo auch die wir an Joyce - die Auflösung der naiven Erzähler-Ichs, welches wie ein Auge
seltsame Einheit, die die mythologische Tradition der Griechen und Römer Gottes den im Verborgenen sich abspielenden Vorgängen zusieht und ihnen
mit der christlichen Religion eingegangen war und die noch vor zwei epischen Ausdruck gibt. Ein neuer Ton kommt in das lyrische Gedicht, das
Jahrhunderten bestand, ihre Selbstverständlichkeit verloren hat, muß sich in den selbstverständlichen Fluß der Melodie staut und bricht und schließlich
der Dichtung die Gebrochenheit der mythischen Gemeinsamkeit reflektie- ganz neue Formprinzipien erprobt. Am Ende wird ähnliches im Theater -
ren. Und so sehen wir gerade in den modernen Romanen - um nur Verstor- vielleicht dort noch am wenigsten, aber unzweifelhaft auch dort - fühlbar,
bene zu nennen: bei Kafka, bei Thomas Mann, bei Musil und bei Broch - das erst nur in der Abkehr von der illusionistischen Bühne des Naturalismus und
Element der deutenden Reflexion immer größeren Platz einnehmen. Die der Psychologie, schließlich in der bewußten Brechung des Bühnenzaubers
Gemeinsamkeit zwischen dem Dichter und dem Deuter ist so in unseren schlechthin durch das sogenannte epische Theater.
Tagen im Wachsen. Am Ende ist sie durch die Gemeinsamkeit unseres Wir werden freilich nicht meinen, daß dieser Blick auf die Nachbarkünste
Menschseins in einer Zeit gegeben, die angesichts aller unermüdlichen Ver- genüge, den revolutionären Vorgang in der modernen Malerei verständlich
suche, das deutende Wort zu finden, von der abweisenden Gewißheit ge- zu machen. Er behält einen Anschein von Willkür und Experimentiersucht.
prägt ist, die Hölderlins >Mnemosyne< ausspricht: »Ein Zeichen sind wir, Aber nein, die Übung des Experimentes, wie wir sie aus der Naturwissen-
deutungslos.« schaft kennen, in der es seinen eigentlichen methodischen Ursprung hat, ist
etwas ganz anderes. Da ist ein Experiment eine Frage, die auf kunstvolle
26 Ästhetik und Wahrheit Kunst und Nachahmung 27

Weise an die Natur gestellt wird, damit sie ihr Geheimnis ausspricht. In der sehe Theorien der Aufgabe am ehesten gewachsen scheinen, das Geheimnis
Malerei handelt es sich nicht um Experimente, bei denen etwas herauskom- der modernen Malerei auszusprechen.
men soll, das man wissen will, sondern hier ist das Experiment mit seinem Der erste der drei Begriffe, von denen aus ich diesem Problem der moder-
Gelingen sozusagen sich selbst genug. Es ist selbst das, was herauskommt. nen Malerei näher zu kommen suche, ist der Begriff der Nachahmung, ein
Wie sollen wir uns vor dieser Kunst, die alle Verständnismöglichkeiten Begriff, der so weit gefaßt werden kann, daß er, wie wir sehen werden, am
hergebrachter Art abweist, denkend zurechtfinden? Ende immer noch seine Wahrheit behält. Dieser Begriff antiken Ursprungs
Als erstes gilt es, die Selbstinterpretation des Künstlers nicht zu ernst zu hatte seine eigentliche ästhetische und kunstpolitische Blüte im französi-
nehmen. Das ist eine Forderung, die nicht gegen die Künstler spricht, schen Klassizismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und wirkte von da
sondern für sie. Denn sie schließt ein, daß die Künstler künstlerisch bilden aus in den deutschen Klassizismus hinein. Er knüpfte an die Lehre von der
müssen. Wenn sie in Worten sagen könnten, was sie sagen wollen, dann Kunst als der Nachahmung der Natur an. Dieser Lehrsatz der antiken
würden sie nicht bilden wollen und gestalten müssen. Gleichwohl ist es Tradition ist nun offenbar mit normativen Vorstellungen verknüpft wie
unvermeidlich, daß das allgemeine Element der Kommunikation, das uns beispielsweise der, daß zu aller Kunstübung eine legitime Erwartung des
trägt und als menschliche Gesellschaft zusammenschließt, die Sprache, im- Wahrscheinlichen gehört. Die Forderung, daß die Kunst nicht gegen die
mer wieder auch das kommunikative Bedürfnis der Künstler motiviert, sich Gesetze des Wahrscheinlichen verstößt, die Überzeugung, daß in dem voll-
in Worten auszusagen, sich selbst zu deuten und im deutenden Wort ver- endeten Kunstwerk die Naturgestalten selber in ihrer reinsten Erscheinung
ständlich zu machen. In Wahrheit begeben sich die Künstler dabei - und das vor unser geistiges Auge treten, der Glaube an die idealisierende Kraft der
ist kein Wunder - in die Abhängigkeit von solchen, deren Handwerk das Kunst, die der Natur ihre wahre Vollendung darreicht - das sind die bekann-
Deuten ist, von Ästhetikern, Kunstschriftstellern aller Art und von der ten Vorstellungen, mit denen der Terminus >Nachahmung der Natun be-
Philosophie. Wenn man etwa das bedeutende und überlegene Buch von setzt ist. Wir schließen dabei die triviale Theorie eines extremen Naturalis-
Kahnweiler1 über Juan Gris als Zeugen für den Zusammenhang von Philo- mus aus, der da meint, daß die bloße Naturähnlichkeit den Sinn der Kunst
sophie und neuer Kunst anfuhrt2 - und Kahnweiler ist ein echter zeitgenössi- ausmache. Das liegt keineswegs in der großen Tradition des Nachahmungs-
scher Zeuge -, so verkennt man, daß auch in diesem Falle die Eule der begriffes.
Minerva ihren Flug erst am Abend beginnt: Es ist die Inspiration der Deu- Dennoch scheint der Begriff der Mimesis für die Moderne nicht auszurei-
tung, nicht die des Schaffens, die von Kahnweilers feinsinnigen Darlegun- chen. Ein Blick in die Geschichte der ästhetischen Theorienbildung lehrt,
gen bezeugt wird. Ähnlich scheint es mir mit der Kunstliteratur im allgemei- daß sich gegen den Begriff der Nachahmung im 18. Jahrhundert ein anderer
nen und insbesondere mit den ständigen Selbstinterpretationen der großen Begriff siegreich und neu durchgesetzt hat: der Begriff des Ausdrucks. Man
Maler unserer Epoche zu stehen. Statt von den Versuchen der Selbstinter- kann es vor allem an der Musikästhetik ablesen - und das ist kein Zufall.
pretation und den zeitgenössischen Deutungen auszugehen, die sich ihrer Denn die Musik ist die Kunstgattung, in der ein solcher Begriff der Nachah-
Voreingenommenheit durch herrschende Doktrinen nicht bewußt sind, mung offenkundig am wenigsten einleuchtet und in seiner Reichweite am
möchte ich mich mit methodischer Bewußtheit an die große Tradition der meisten begrenzt ist. In der Musikästhetik des 18. Jahrhunderts wächst so
ästhetischen Begriffsbildung wenden, die in den Denkleistungen der Philo- der Begriff des Ausdrucks heran, der dann im 19. und 20. Jahrhundert
sophie auf uns gekommen ist, und sie daraufhin abhören, wie sie gegenüber unbestritten die ästhetische Wertung beherrscht3. Ausdruckskraft und Aus-
der neuen Form des Bildes besteht und was sie darüber zu sagen hat. drucksechtheit eines Bildes sind die Legitimation seiner künstlerischen Aus-
Ich möchte diese Besinnung in einem doppelten Dreischritt vollziehen, sage. So meint das allgemeine Bewußtsein, auch wenn es der bangen Frage
indem ich einmal die ästhetischen Begriffe erörtere, die das allgemeine nicht standhalten kann, was Kitsch ist - der ja eine penetrante Art von
Bewußtsein als etwas Selbstverständliches und allen Gemeinsames beherr- Ausdruckskraft besitzt und dessen künstlerische Unechtheit sicherlich
schen, ohne daß man sich von ihrer Herkunft und über ihre Legitimation nichts gegen die subjektive Empfindungsechtheit des Kitsch-Produzenten
Rechenschaft gibt, und sodann einige Philosophen befrage, deren ästheti- oder -Konsumenten sagt. Angesichts der Formzertrümmerung,, die uns die
Moderne beschert hat und der zufolge keine idealisierte Naturgestalt und
1
D.-H. KAHNWEILEH, Juan Gris. Sa vie, son œuvre, ses écrits. Paris 1946, dt. Stuttgart
3
1968. Vgl. das lehrreiche Büchlein von E. FUBINI, L'estetica musicale dal Settecento a oggi.
2
Wie das A. GEHLEN tut, vgl. Gegriffene Malerei?<, in diesem Band (Nr. 27). ' Torino 1968.
28 Ästhetik und Wahrheit Kunst und Nachahmung 29

keine expressiv sich entladende Innerlichkeit mehr den Bildinhalt darstellen, Kompositionselement der Bildkomposition bildet, ist mit einer Abwei-
scheinen jedoch Nachahmung und Ausdruck zu versagen. sung des Sinnes verknüpft. Der Begriff des Zeichens verliert seine eigent-
Ein dritter Begriff bietet sich an: der Begriff des Zeichens und der Zei- liche Bestimmung; und in der Tat kommt seither die Forderung der Les-
chensprache. Auch dieser Begriff hat eine denkwürdige Geschichte. Man barkeit solcher modernen Bilderschrift mehr und mehr zum Verstum-
denke nur daran, daß die Kunst in den frühen Anfangen des christlichen men4.
Weltalters sich für die Schrift- und Leseunkundigen als die Biblia pauperum, Es mag sich in den drei ästhetischen Kategorien, die ich charakterisier-
Darstellung und Feier der heiligen Geschichte und der Heilsverkündigung, te, ein Element des Wahren und Gültigen finden lassen - sie reichen je-
legitimierte. Dort war es die Ablesung einer Folge von bekannten Geschich- denfalls nicht aus, spezifisch auf das Neue zu antworten, das wir an der
ten. Ein ähnliches Ablesen scheinen die modernen Bilder zu verlangen, Kunst unseres Jahrhunderts erfahren.
freilich nicht von Bildern, sondern von Zeichen, wie beim Lesen einer So heißt es, den Blick zurückzuwenden. Denn jeder Blick zurück in die
Schrift. Die Zeichen dieser Schrift sind jedoch bei aller Abstraktion, die in Geschichtstiefe unserer Gegenwart vertieft das Bewußtsein unserer in uns
ihnen liegt, nicht von der Art der Buchstaben. Dennoch besteht eine Ent- heute bereitliegenden begrifflichen Horizonte. Es sind wiederum drei
sprechung. Die Erfindung der Buchstabenschrift machte das Ungeheure Zeugen des philosophischen Gedankens, die ich zur Deutung der moder-
möglich, in abstrakten Einzelzeichen, die sich einer rationalisierbaren Kom- nen Kunst aufrufen möchte: Kant, Aristoteles und schließlich Pythagoras.
binatorik anbieten, die wir Orthographie nennen, alles zu fixieren, was Wenn ich mich zunächst Kant zuwende, so ist der Hauptgrund der, daß
durch den Geist des Menschen zieht - sicher eines der größten revolutionä- nicht nur Kahnweiler und all jene Ästhetiker und Kunstschriftsteller, die
ren Ereignisse in der menschlichen Kultur. Etwas davon ist auf unsere Art, die neue Revolution der Malerei begleitet haben, auf dem Wege über die
Bilder zu sehen, schon von jeher übergegangen. So >lesen< wir jedes Gemäl- neukantianische Zeitphilosophie irgendwie auf Kant zurückweisen, son-
de von links oben nach rechts unten, und bekanntlich führt die spiegelbildli- dern daß auch seitens der Philosophie bis zum heutigen Tage die Versu-
che Umkehrung von rechts und links, die mit modernen technischen Repro- che fortgehen, die Kantische Ästhetik für die Theorie der gegenstandslo-
duktionsmitteln leicht möglich ist, wie Heinrich Wölfflin gezeigt hat, zu den sen Malerei nutzbar zu machen5. Der Ausgangspunkt, den Kants Ästhetik
sonderbarsten kompositorischen Ungereimtheiten und Zerstörungen. bietet, ist, daß der Geschmack, der etwas als schön beurteilt, nicht nur ein
Noch viel mehr von diesen unseren Schreib- und Lesegewohnheiten scheint Wohlgefallen ohne Interesse ist, sondern auch ein Wohlgefallen ohne Be-
auf die Art Bilderschrift übergegangen, als die wir moderne Bilder zu lesen griff. Das heißt, daß nicht ein Ideal des Gegenstandes beurteilt wird,
suchen. Wir sehen sie nicht mehr als Abbilder, die einen einheitlichen wenn man eine bestimmte Vorstellung des Gegenstandes schön findet.
Anblick gewähren, den man in seinem Sinne zu erkennen vermag. Vielmehr Kant fragt daher, was es eigentlich ist, das uns die Vorstellung eines Ge-
wird in diesen Bildern durch bildhafte Zeichen und Schriftzüge bloß ver- genstandes schön nennen läßt. Seine Antwort ist: Wenn die Vorstellung
zeichnet, das heißt nebeneinandergesetzt, was nacheinander aufgenommen eine Belebung unserer Gemütskräfte in einem freien Spiele zwischen Ein-
und schließlich ineinander verschmolzen werden soll. Ich erinnere mich bildungskraft und Verstand hervorruft. Dies freie Spiel unserer Erkennt-
etwa des Bildes von Malewitsch >Dame in der Großstadt London«, in dem nisvermögen, diese Belebung des Lebensgefuhls durch den Anblick des
man noch ganz deutlich das Prinzip der Formzertrümmerung in einer psy- Schönen, ist, so lehrt Kant, kein Begreifen seines gegenständlichen Inhalts
chologistischen Variante erkennen kann. Die einzelnen Inhalte, die die dar- und meint keinerlei Ideal eines Gegenstandes. Kant hat folgerichtig diesen
gestellte Dame - von dem bescheidenen Verkehrssturm des Jahres 1907 Gedanken zunächst am Ornament exemplifiziert. Denn wo ist es klarer
offenbar ganz bestürzt - aufnimmt, eine ganze Flut für sich stehender als beim Ornament, daß man nicht den begrifflichen Inhalt des Darge-
Eindrücke, werden dort gleichsam aufgezählt und zu einem Bildganzen stellten meint (auch wenn man ihn erkennen kann)? Man denke nur an die
komponiert. Dem Sehenden, dem Zuschauenden, dem Betrachter wird unglücklichen Kinder, in deren Schlafzimmer Tapeten bestimmte Gegen-
zugemutet, die Synthesis all dieser Aspekte und Facetten zu leisten, wie wir stände in endloser Wiederholung (zur Begleitung ihrer Fieberträume) er-
das als allgemeines Formprinzip aus dem facettierenden Stile etwa Picassos kennen lassen. Kein Zweifel, daß ein gutes Ornament derartiges eigent-
und Juan Gris' kennen. Darin ist zwar noch Erkennen, aber alles Erkennen
wird zugleich immer wieder zurückgenommen in eine Einheit des Bildes,
4
die sich nicht mehr zu einem anschaulichen und in seinem Bildsinn aussagba- Vgl. schon Picassos kritische Bemerkung zum späten Juan Gris bei KAHNWEILER
ren Ganzen verschmilzt. Diese Bilderschrift, die wie eine Kurzschrift das (a.a.O.).
5
Vgl. etwa W. BRÖCKER in Kant-Studien 48 (1956), S. 485-501.
30 Ästhetik und Wahrheit Kunst und Nachahmung 31
lieh verbietet. Was in der Weise einer dekorativen Stimmungsbegleitung und Furcht die Reinigung von diesen Affekten erfolge. Das sei das Geheim-
den Lebensraum schmücken soll, darf nicht selber auf sich ziehen. nis der tragischen Mimesis. Es geschieht also im Hinblick auf die Tragödie,
Nun ist es aber falsch, aus Kants >Kritik der Urteilskraft< eine Ornament- daß Aristoteles den Begriff der Nachahmung, der Mimesis, gebraucht, den
Ästhetik herauszulesen. Das ist nicht der eigentliche Sinn der Kantischen wir als das Stichwort von Piatos Dichterkritik kennen. Er gewinnt bei
Kunsttheorie. Zunächst einmal hat Kant immer in erster Linie das Natur- Aristoteles eine positive, grundlegende Bedeutung.
schöne im Auge, wenn er fragt, was es eigentlich ist, wenn wir etwas schön Offenbar soll er fur das Wesen der Dichtkunst überhaupt gelten, und
finden. Der Fall des Kunstschönen ist fur ihn kein reiner Fall des ästhetischen Aristoteles wirft dabei auch auf die bildende Kunst, insbesondere die Male-
Problems. Denn Kunst ist ja gemacht, um zu gefallen. Auch ist ein Kunst- rei, analogisierend einen Seitenblick. Was meint er, wenn er sagt, die Kunst
werk immer in einer intellektuierten Weise da, das heißt: es ist stets poten- ist Mimesis, ist Nachahmung? Er beruft sich für diese These zunächst
tialiter ein begreifendes Moment mit darin. Freilich soll schöne Kunst nicht darauf, daß es ein natürlicher Drang des Menschen ist, nachzuahmen, und
die regelrechte Darstellung von Begriffen oder von Idealen sein, die wir mit daß es eine natürliche Freude des Menschen an der Nachahmung gibt. In
unserem sittlichen Verstande als solche hochhalten. Es ist vielmehr so, daß diesem Zusammenhang begegnet nun die Aussage, die in der Moderne
sich die Kunst für Kant dadurch legitimiert, daß sie Kunst des Genies ist, das Kritik und Widerstand erweckt hat, die aber bei Aristoteles rein deskriptiv
heißt einer unbewußten, wie von der Natur inspirierten Fähigkeit ent- gemeint ist, daß die Freude an der Nachahmung die Freude am Wiederer-
springt, mustergültig Schönes zu schaffen, ohne daß bewußte Regeln ange- kennen ist. Der Zusammenhang, in dem das gesagt wird, ist offenkundig ein
wendet würden und ohne daß der Künstler dabei auch nur sagen könnte, wie ganz volkstümlicher. Aristoteles beruft sich auch darauf, daß die Kinder so
er es macht. So bildet der Geniebegriff- und nicht die >freie Schönheit des etwas gerne tun. Was Freude am Wiedererkennen ist, läßt sich an der
Ornaments - die eigentliche Grundlage der Kantischen Kunsttheorie6. Verkleidungsfreude - und insbesondere bei Kindern - beobachten. Es gibt ja
Aber gerade der Geniebegriff ist heute suspekt geworden. Niemand - und für Kinder nichts so Kränkendes, als daß sie nicht für die gehalten werden, in
am allerwenigsten diejenigen, die die neue Kunst mit innerer Anteilnahme die sie sich verkleidet haben. Was an der Nachahmung wiedererkannt wer-
begleiten - ist mehr bereit, die Rede von der traumgleichen, nachtwandleri- den soll, ist also ganz und gar nicht das Kind, das sich verkleidet hat, als
schen Sicherheit des genialen Produzierens für bare Münze zu nehmen. Wir vielmehr der, der dargestellt ist. Das ist der große Antrieb in allem mimi-
wissen heute - und ich meine, daß es wohl immer wahr gewesen ist -, mit schen Verhalten und Darstellen. Wiedererkennung bezeugt und bestätigt,
welcher Nüchternheit und inneren Helligkeit der Maler seine Versuche und daß etwas durch das mimische Verhalten präsent gemacht wird, da ist.
seine Erfahrungen an der Leinwand mit Farbe und Pinsel, aber doch letzten Keineswegs ist es der Sinn der mimischen Darstellung, daß wir im Wieder-
Endes durch die Anstrengung seines Geistes macht. Wir werden also vor- erkennen des Dargestellten auf den Grad der Angleichung und Ähnlichkeit
sichtig sein müssen, wenn wir die Kantische Philosophie auf die moderne mit dem Original sehen sollen.
Malerei unmittelbar anwenden wollen. So steht es freilich in der Platonischen Kritik an den Künsten zu lesen. Die
Nun möchte ich, allen klassizistischen und anti-klassizistischen Vorurtei- Kunst sei deswegen so verwerflich, weil sie von der Wahrheit um mehr als
len zum Trotz, den Kronzeugen der klassizistischen Theorie der Nachah- eine Dimension abstehe. Die Kunst ahme ja nur nach, was die Dinge sind.
mung, Aristoteles, neu zum Sprechen bringen, damit er uns denken helfe, Die Dinge selber seien aber auch nur zufällige, kontingente Nachahmungen
was in der neuen Kunst geschieht. Denn sein Grundbegriff der Mimesis ist, ihrer ewigen Gestalten, ihres Wesens, ihrer Idee. Die Kunst also, dreifach
richtig verstanden, von einer elementaren Evidenz. Um das zu sehen, müs- abstehend von der Wahrheit, sei eine Nachahmung der Nachahmung, im-
sen wir zunächst festhalten, daß Aristoteles keine wirkliche Kunsttheorie im mer durch einen riesigen Abstand von dem geschieden, was wahrhaft ist.
weiteren Sinne des Wortes und am allerwenigsten eine Theorie der bilden- Ich glaube, daß das eine sehr ironische, dialektisch gemeinte Lehre Piatos
den Künste entwickelt hat, obwohl es das vierte Jahrhundert, das Jahrhun- ist, auf die sich Aristoteles mit bewußter Zurechtrückung bezieht. Er will
dert der griechischen Malerei war, in dem Aristoteles seine Gedanken gebil- diesen dialektischen Gedanken Piatos auf seine Füße stellen. Denn es ist gar
det hat. Seine Kunsttheorie kennen wir in Wahrheit nur aus seiner Theorie kein Zweifel: Das Wesen der Nachahmung besteht gerade darin, daß man in
der Tragödie, der bekannten Lehre von der Katharsis, wonach durch Mitleid dem Darstellenden das Dargestellte selbst sieht. Darstellung will so wahr, so
überzeugend sein, daß man überhaupt nicht darauf reflektiert, daß das
6
Siehe dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 48ff.und in diesem Band Dargestellte nicht >wirklich< ist. Nicht Unterscheidung der Darstellung von
den Beitrag >Anschauung und Anschaulichkeit (Nr. 17). dem Dargestellten, sondern Nichtunterscheidung, Identifikation ist die
32 Ästhetik und Wahrheit Kunst und Nachahmung 33

Weise, in der sich das Wiedererkennen als das Erkennen des Wahren voll- verstehen und in der sie sich selbst begegnen. Das ist für das griechische
zieht. Denn was ist eigentlich Wiedererkennen? Wiedererkennen heißt Denken der Mythos. Er ist der gemeinsame Inhalt der künstlerischen Dar-
nicht, eine Sache, die man schon einmal gesehen hat, noch einmal sehen. Es stellung, dessen Wiedererkennung unsere Vertrautheit mit der Welt und mit
ist sicher nicht Wiedererkennen, wenn ich etwas, was ich schon gesehen dem eigenen Dasein vertieft, sei es auch in Mitleid und Furcht. Dieses
habe, noch einmal sehe, ohne zu merken, daß ich es schon einmal gesehen Erkennen »Das bist du!«, das in den schauerlichen Vorgängen auf dem
habe. Wiedererkennen heißt vielmehr, etwas als das schon einmal Gesehene griechischen Theater sich vor unseren Augen abspielt, dies Sich-Erkennen
erkennen. In diesem >als< aber liegt das ganze Rätsel. Ich meine nicht das im Wiedererkennen, war getragen durch die ganze Welt der religiösen
Wunder des Gedächtnisses, sondern das Wunder der Erkenntnis, das sich Überlieferung der Griechen, durch ihren Götterhimmel und durch die Hel-
darin verbirgt. Denn wenn ich jemanden wiedererkenne oder etwas wieder- densage und durch die Herleitung ihres gegenwärtigen Tages aus ihrer
erkenne, dann sehe ich das Wiedererkannte von der jetzigen wie von der mythisch-heroischen Vergangenheit. Was soll das uns? Auch die christliche
damaligen Zufälligkeit befreit. Es liegt im Wiedererkennen, daß man das Kunst hat, wie wir uns nicht verbergen können, ihre mythische Sagkraft seit
Gesehene auf das Bleibende, Wesentliche hin sieht, das von den kontingen- 150 Jahren verloren. Nicht erst die Revolution der modernen Malerei,
ten Umständen des Einmal-gesehen-Habens und des Wieder-gesehen-Ha- sondern bereits das Ende des letzten großen europäischen Stiles, des Barock,
bens nicht mehr getrübt ist. Das macht Wiedererkennung aus, und so ist sie hat ein wirkliches Ende gebracht - das Ende der natürlichen Bildhaftigkeit
in der Freude an der Nachahmung wirksam. Was in der Nachahmung der abendländischen Überlieferung, ihres humanistischen Erbes wie der
sichtbar wird, ist also gerade das eigentliche Wesen der Sache. Das ist sehr christlichen Verkündigung. Gewiß, auch der moderne Beschauer erkennt
fern von jeder naturalistischen Theorie, aber auch von jedem Klassizismus. noch den Gegenstand solcher Bilder - solange er von diesem Erbe noch
Nachahmung der Natur schließt also nicht ein, daß Nachahmung hinter der weiß. Selbst in den meisten modernen Bildern bleibt etwas zu erkennen -
Natur zurückbleiben müßte, weil sie nur Nachahmung sei. Zweifellos wenn auch das, was da wiedererkannt wird und verstanden wird, nur
verstehen wir am besten, was Aristoteles meint, wenn wir an das denken, fragmentarische Gebärden, keine vieles bedeutende Geschichten mehr sind.
was auch wir das Mimische nennen. Wo begegnet das Mimische in der Insofern scheint an dem alten Begriff der Mimesis etwas Wahres zu bleiben.
Kunst, wo ist das Mimische Kunst? Nun, vor allem im Theater. Aber nicht Sogar in dem Aufbau des modernen Bildes aus ins Unkenntliche verschwe-
nur dort. Solche Dinge wie das Wiedererkennen von Puppen erleben wir in benden bedeutungshaften Elementen ahnen wir immer noch etwas, einen
jedem volkstümlichen Feste, etwa im Karneval. Da jubelt jeder im Erkennen letzten Rest von Vertrautheit, und vollziehen ein Stück Wiedererkenntnis.
dessen, der dargestellt wird, und selbstverständlich hat der religiöse Um- Aber trägt das noch? Nehmen wir uns nicht sofort zurück und sehen ein,
zug, das Umhertragen der Götterbilder oder Symbole, die gleiche mimische daß das eigentliche Gebilde, das hier vor uns steht, nicht verstanden wird,
Komponente. Das Mimische ist also, sei es im feierlichen, sei es im profanen wenn man es auf seine rein gegenständliche Abbildhaftigkeit hin abliest?
Zusammenhang, im unmittelbaren Darstellungsvollzug eigentlich da. Was ist das für eine Sprache, die moderne Bilder sprechen? Nun, eine
Im Wiedererkennen liegt aber noch etwas mehr. Nicht nur wird das Sprache, in der Gebärden auf Augenblicke in ihrer Sinntransparenz auf-
Allgemeine sichtbar, sozusagen die bleibende Gestalt, gereinigt von den leuchten, um sich sofort wieder zu verdunkeln, ist eine unverständliche
Zufälligkeiten ihrer Begegnung. Es liegt darin auch, daß man sich in gewis- Sprache. In der Sprache solcher Bilder scheint weniger Aussage als Abwei-
sem Sinne selber miterkennt. Alle Wiedererkennung ist Erfahrung steigen- sung von Sinn zu liegen7. Nachahmung und Wiedererkenntnis kommen
der Vertrautheit, und alle unsere Welterfahrungen sind letzten Endes For- zum Scheitern, und wir bleiben ratlos.
men, in denen wir die Vertrautheit mit dieser Welt aufbauen. Kunst, wie Aber vielleicht läßt sich Mimesis und die mit ihr gegebene Erkenntnis in
auch immer sie sei, das scheint die Aristotelische Lehre durchaus zutreffend einem noch allgemeineren Sinn fassen. Und so wende ich mich bei dem
zu sagen, ist eine Weise der Wiedererkennung, in der mit der Wiedererken- Versuch, in einem tiefer gefaßten Begriff der Mimesis auch für die moderne
nung die Selbsterkenntnis und damit die Vertrautheit mit der Welt tiefer Kunst den Schlüssel zu finden, von Aristoteles noch einen Schritt weiter
wird. zurück, zu Pythagoras - natürlich nicht zu Pythagoras als einer historischen
Aber wieder fragt man sich mit Bestürzung, was die moderne Malerei zu Gestalt, deren Lehren wir etwa besäßen oder rekonstruieren könnten. Die
dieser Aufgabe des Sich-Wiedererkennens in der vertrauten Welt beizutra- Pythagoras-Forschung gehört zu dem Umstrittensten, was es gibt. Aber um
gen vermag. Die Wiedererkennung, wie sie Aristoteles meint, hat zur
Voraussetzung, daß eine verbindende Tradition besteht, in der sich alle 7
Vgl. dazu in diesem Band >Vom Verstummen des Bildes< (Nr. 28).
34 Ästhetik und Wahrheit Kunst und Nachahmung 35

uns auf den rechten Weg zu bringen, genügen ein paar Tatsachen, an denen Seelenordnung. Was bedeutet es nun, daß diese Ordnungen auf Mimesis der
niemand zweifelt. Zahlen, Nachahmung der Zahlen beruhen? Doch offenbar dies, daß es
Dazu gehört, daß Aristoteles einmal sagt8, Plato habe mit seiner Lehre, Zahlen und reine Zahlenverhältnisse sind, was die Wirklichkeit dieser Er-
daß die Dinge an den Ideen teilhätten, nur das Wort verändert fur etwas, was scheinungen ausmacht. Nicht, daß alles nach zahlenmäßiger Genauigkeit
schon die Pythagoreer gelehrt hätten, nämlich daß die Dinge Nachahniun- strebt, sondern daß in allem diese Zahlenordnung Dasein hat. Auf ihr beruht
gen, >Mimeseis<, seien. Was da mit Nachahmung gemeint ist, lehrt der alle Ordnung. Plato war es, der auch die Ordnung der menschlichen Welt in
Zusammenhang. Denn offenbar ist von der Nachahmung die Rede, die der Polis auf die Einhaltung und Reinhaltung der musikalischen Ordnung
darin liegt, daß das Universum, unser Himmelsgewölbe, und ebenso die der Tonarten gründete.
Tonharmonien, die wir hören, sich auf die wunderbarste Weise in Zahlen- Hier möchte ich anknüpfen und fragen, ob nicht auch in aller Kunst -
verhältnissen, das heißt in Verhältnissen ganzer Zahlen, darstellen. Die selbst noch in ihren äußersten Extravaganzen - Ordnung erfahren wird? Die
Saitenlängen stehen in bestimmten Verhältnissen, und sogar der Unmusika- Ordnung, die durch die moderne Kunst erfahrbar wird, hat nun freilich
lische weiß, daß darin eine Genauigkeit ist, die etwas von einer magischen keine Ähnlichkeit mehr mit dem großen Vorbild der Naturordnung und des
Kraft zu haben scheint. Es ist wirklich so, als ob sich diese reinen Intervall- Weltenbaus. Sie spiegelt auch nicht mehr eine in mythischen Inhalten ausge-
verhältnisse von sich aus ordneten, als ob die Töne beim Stimmen des legte menschliche Erfahrung oder eine in vertrauten und liebgewordenen
Instrumentes sich geradezu danach sehnten, in ihre eigentliche Wirklichkeit Dingerscheinungen verkörperte Welt. Das alles ist im Schwinden. Wir leben
zu gelangen, und erst ganz da sind, wenn das reine Intervall ertönt. Nun in der modernen Industriewelt. Diese Welt hat nicht nur die sichtbaren
haben wir mit Aristoteles - gegen Plato — gelernt: Nicht dies Sehnen, Formen von Ritus und Kultus an den Rand unseres Daseins gedrängt, sie hat
sondern seine Erfüllung heißt Mimesis. In ihr ist das Wunder der Ordnung auch darüber hinaus das, was ein Ding ist, zerstört. In dieser Feststellung soll
da, das wir >Kosmos< nennen. Ein solcher Sinn von Mimesis, von Nachah- nichts von der anklägerischen Attitüde eines Laudator temporis acti liegen -
mung und von Wiedererkenntnis in der Nachahmung, scheint mir nun weit sie ist eine Aussage über die Wirklichkeit, die wir um uns sehen und die wir,
genug, um auch das Phänomen der modernen Kunst einen Schritt weit wenn wir nicht Toren sind, akzeptieren müssen. Aber für diese Wirklichkeit
denkend zu verstehen. gilt: Es gibt keine Dinge mehr, mit denen wir umgehen. Ein, jedes ist ein
Was ist es, was nach pythagoreischer Lehre nachgeahmt wird? Die Zah- Stück, das man beliebig oft kaufen kann, weil es beliebig oft - bis die
len, sagten die Pythagoreer, und die Verhältnisse von Zahlen. Aber was ist Produktion dieses Modells ausgelaufen ist - hergestellt wird. So ist moderne
eine Zahl, und was ist ein Verhältnis von Zahlen? Zweifellos ist es nichts Produktion und moderner Konsum. Es ist ganz sachgemäß, daß man diese
Sichtbares, sondern eine nur geistig zu erfassende Relationalität, was im >Dinge< nur noch in der Serienfabrikation herstellt, daß man sie nur noch
Wesen der Zahl gelegen ist. Und was durch die Einhaltung der reinen durch groß angelegte Werbung absetzt und daß man sie, wenn sie kaputt
Zahlen, die >Mimesis< genannt wird, im Sichtbaren zustande kommt, ist sind, wegwirft. Aber die Erfahrung des Dings wird uns an ihnen nicht. Es ist
nicht nur die Ordnung der Töne, die Musik. Vielmehr ist es nach pythago- nichts mehr in ihnen zur Präsenz geworden, das sich der Ersetzbarkeit
reischer Lehre auch die uns wohlbekannte erstaunliche Ordnung am Him- entzieht, kein Stück Leben, kein geschichtlich Teil. So sieht die moderne
melsgewölbe. An ihr sehen wir, abgesehen von der Unordnung, die die Welt aus. Welcher Denkende kann erwarten, daß gleichwohl in unserer
Planeten dabei darstellen, weil sie keine regelmäßigen Kreise um die Erde zu bildenden Kunst die Dinge, die nicht mehr wirklich sind, die uns nicht mehr
vollziehen scheinen, daß alles ständig in der gleichen Ordnung wiederkehrt. beständig umgeben und uns nichts bedeuten, zur Wiedererkennung angebo-
Neben diese beiden Erfahrungen von Ordnung, die der Musik der Töne und ten werden, als ob wir dadurch mit unserer Welt wieder vertraut würden?
die der Musik der Sphären, tritt nun als drittes die Ordnung der Seele - Das bedeutet aber ganz und gar nicht, daß nicht auch von dieser modernen
vielleicht auch das schon ein echter altpythagoreischer Gedanke: Die Musik Malerei und Skulptur, gerade indem sie nicht eine vergehende Vertraulich-
gehört zum Kultus und hilft so zur >Reinigung< der Seele. Reinheitsregeln keit mimt (über die Architektur wäre in diesem Zusammenhang auch viel zu
und die Lehre von der Seelenwanderung gehören offenbar zusammen. Es sagen), Gebilde geschaffen werden, die in sich Bestand haben und die selber
sind also drei Ordnungsmanifestationen, die in diesem ältesten Begriff der nicht ersetzbar sind. Jedes Kunstwerk ist noch so etwas, wie früher ein Ding
Nachahmung impliziert sind: Weltordnung, musikalische Ordnung und war, in dessen Dasein Ordnung im ganzen aufleuchtet und bezeugt ist,
vielleicht keine Ordnung, die sich inhaltlich mit unseren Ordnungsvorstel-
8
lungen zusammenschließen läßt, die ehedem die vertrauten Dinge zur ver-
Met. A6, 987b, 2 .
36 Ästhetik und Wahrheit

trauten Welt einten, aber ein ständig neuer und kraftvoller Einsatz ordnen-
der geistiger Energie ist in ihnen.
Daher ist es am Ende ganz uninteressant, ob ein Maler oder ein Bildhauer
gegenständlich oder ungegenständlich arbeitet. Interessant ist nur, ob wir
einer geistigen Ordnungsenergie darin begegnen - oder ob wir nur an diesen
oder jenen Inhalt unserer Bildung erinnert werden oder gar an diesen oder 5. Von der Wahrheit des Wortes
jenen Künstler. Denn das sind in der Tat Einwendungen gegen den Kunst-
wert eines Werkes. Aber sofern ein Werk das, was es darstellt oder als das es (1971)
sich darstellt, zu einer neuen Formung, zu einem neuen winzigen Kosmos,
zu einer neuen Einheit des in sich Verspannten, in sich Geeinten und in sich
Geordneten erhebt, ist es Kunst, mögen darin Inhalte unserer Bildung, Täuschung durch Sprache, Ideologieverdacht oder gar Metaphysikver-
vertraute Gestalten unserer Umwelt sprechend werden oder nichts als das dacht, das sind heute so gewohnte Wendungen, daß von der Wahrheit des
gänzlich Stumme und dennoch Urvertraute der reinen pythagoreischen Wortes sprechen einer Provokation gleichkommt. Vollends, wenn man von
Form- und Farbharmonien zur Darstellung kommen. Und so möchte ich, >dem< Wort spricht. Denn wenn etwas außer aller Diskussion gesichert
wenn ich eine universale ästhetische Kategorie vorschlagen sollte, die die scheint, so ist es, daß die Rede von der Wahrheit nur beim Zusammengesetz-
eingangs entwickelten Kategorien Ausdruck, Nachahmung und Zeichen in ten (έν συνδέσει αεί), dem Satz, ihre Anwendung hat, und wenn man schon -
sich schließt, an den ältesten Begriff von Mimesis anknüpfen, mit dem mit den Griechen - die Wahrnehmung, die die spezifischen Sinnesqualitäten
Darstellung von nichts anderem gemeint war als von Ordnung. Bezeugung erfaßt, und den Wasgehalt des Gemeinten auch >alethes< nennen mag, so ist
von Ordnung - das scheint von eh und je gültig, sofern jedes Werk der <*s doch jedenfalls sinnlos, von der Wahrheit des Wortes zu sprechen, wo es
Kunst, auch noch in unserer sich immer mehr ins Uniforme und ins Serielle doch ganz in dem aufgeht, was die Rede meint. Es wäre kein Wort mehr,
verändernden Welt, die geistige Ordnungskraft bezeugt, die die Wirklich- wenn es als Wort falsch sein könnte. Die aus Worten gebildete Rede kann
keit unseres Lebens ausmacht. Im Werk der Kunst geschieht beispielhaft, nur in dem Sinne falsch oder wahr sein, in dem die in ihr ausgedrückte
was wir alle tun, indem wir da sind: beständiger Aufbau von Welt. Es steht Meinung über einen Sachverhalt in Frage steht.
mitten in einer zerfallenden Welt des Gewohnten und Vertrauten als ein Indessen, >das< Wort ist nicht nur das einzelne Wort, der Singular zu >den<
Unterpfand von Ordnung, und vielleicht beruhen alle Kräfte des Bewahrens Worten oder den Wörtern, die zusammen die Rede bilden. Vielmehr knüpft
und des Erhaltens, die die menschliche Kultur tragen, auf dem, was uns im der Ausdruck an einen Sprachgebrauch an, wonach >das Wort< eine kollekti-
Tun des Künstlers und in der Erfahrung der Kunst exemplarisch entgegen- ve Bedeutung hat und eine gesellschaftliche Beziehung impliziert. Das
tritt: daß wir immer wieder ordnen, was uns zerfallt. Wort, das einem gesagt wird, auch das Wort, das einem gegeben wird, oder
wennjemand von einer Zusage sagt: »Das ist ein Wort«, meint nicht das eine
Wort, und selbst wenn es nur das einzige eine Ja-Wort ist, sagt es mehr und
unendliches mehr als einer >meinen< kann. Wenn Luther für den Logos des
Johannes-Prologes >Wort< sagt, so steht dahinter eine ganze Theologie des
Wortes, die mindestens bis zu denTrinitätsausdeutungen Augustins zurück-
reicht. Aber es ist auch für den schlichten Leser einlösbar, daß Jesus Christus
für den Glaubenden die lebendige, fleischgewordene Zusage ist. Wenn im
folgenden nach der Wahrheit des Wortes gefragt wird, so ist kein bestimm-
tes Wort, auch nicht das der Heilsverheißung, seinem Inhalte nach gemeint,
aber man muß dennoch im Blicke behalten, daß das Wort »unter den
Menschen lebt« und in allen seinen Erscheinungsformen, in denen es ganz
das ist, was es ist, ein eigenes verläßlich-beständiges Dasein hat. Am Ende ist
es immer das Wort, das >steht<, sei es, daß einer zu dem Wort steht oder dafür
einsteht, als der, der es gesagt hat, oder als der, der einen anderen beim Wort
38 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 39

genommen hat. Das Wort selber steht. Es ist, der Einmaligkeit seines Seienden gesagt werden kann? Wie muß Sein >sein<, wenn das Seiende so
Gesprochenseins zum Trotz, dauernd da, als Heilsbotschaft, als Segen oder >ist<, daß es falsch sein kann?
Fluch, als Gebet - oder auch als Gebot und Gesetz und verkündetes Urteil, Die Antwort wird von der naheliegenden Erfahrung ausgehen müssen: Es
oder als die Sage der Dichter und der Grundsatz der Philosophen. Es scheint kommt heraus, was an ihm ist. Nicht zufällig hat Heidegger dem aristoteli-
mehr als eine äußerliche Tatsache, daß man von solchem Wort sagen kann, schen Begriff der >Physis< besondere Aufmerksamkeit gewidmet, der den
daß es »geschrieben steht« und sich selber dokumentiert. Es soll nun an diese ontologischen Status dessen charakterisiert, was von selber emporwächst.
Weisen des Wortseins, die ihrem eigenen Geltungssinn nach >Dinge tun< und Aber was bedeutet es, daß das Sein selbst so ist, daß das Seiende als das, was
nicht bloß etwas Wahres mitteilen wollen, die Frage gestellt werden, was es es ist, erst herauskommen muß? Und gar, daß es >falsch< sein kann, wie
heißen kann, daß sie wahr sind und als Wort wahr sind. Ich knüpfe damit an falsches Gold? Was für eine Verbergung ist es, die dem Seienden ebenso
die bekannte Fragestellung von Austin an, um das dichterische Wort in zugehört wie die Entbergung, mit der es in die Anwesenheit tritt? Die
seinem Seinsrang sichtbar zu machen. Unverborgenheit, die dem Seienden zukommt und in die es hervorkommt,
Um diese Frage sinnvoll zu machen, müssen wir uns über das verständi- scheint doch in sich selbst wie ein absolutes Da, wie das Licht in des
gen, was hier >Wahrheit< heißen kann. Daß der traditionelle Wahrheitsbe- Aristoteles Beschreibung des >Nous poietikos< und wie die »Lichtung«, die
griff, die >adaequatio rei et intellectus<, dort keine Funktion hat, wo das Wort sich im Sein und als Sein auftut.
überhaupt nicht als Aussage über etwas gemeint ist, sondern als ein eigenes Solange Heidegger noch von einer existenzialen Analytik des Daseins aus
Dasein in sich selbst einen Seinsanspruch erhebt und erfüllt, ist klar. Enthielt die Stellung der Seinsfrage versuchte, war der Konsequenz schlecht auszu-
doch die ausgezeichnete Einzahl, der Singular, die >dem< Wort zukommt, in weichen, daß das eigentliche Dasein es ist, das sein Da ist und für das anderes
sich selbst eine essentielle logische Inadäquatheit, sofern das Wort auf eine >da< ist. Zwar hatte Heidegger alles darauf angelegt, die geschichtliche
innere Unendlichkeit möglicher Ant-worten hinausweist, die alle - und Bewegtheit des Daseins, seine Struktur eines geworfenen Entwurfs, dem
daher keine - >angemessen< sind. Wohl aber wird man an das griechische Idealismus der transzendentalen Subjektivität und seinen verschwebenden
>Aletheia< denken, dessen grundlegende Bedeutung uns Heidegger sehen Vorstellungen entgegenzustellen, und gewiß wollte sich die Sorgestruktur
gelehrt hat. Ich meine nicht nur den privativen Sinn von >A-letheia< als des Daseins von den idealistischen Leitbegriffen eines »Bewußtseins über-
Unverborgenheit bzw. als Entbergung. Das war als solches keine so neue haupt oder eines »absoluten Wissens< grundsätzlich unterscheiden. Man
Behauptung, und schon längst hatte man gesehen, daß im Zusammenhang mochte auch nicht verkennen, daß Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit
mit Verben des Sagens > Aletheia< den Sinn von Unverhohlenheit hat (Hum- »gleichursprünglich« zur Strukturganzheit von Dasein gehören, und daß
boldt): »Hintergeh' mich nicht« (μή με λάδης), sagt Zeus zu Hera, und die daher das Gerede ebenso zum Dasein gehört wie das Wort und das Schwei-
blühende Phantasie sowie die enorme Zungenfertigkeit der Griechen hat gen. Ein Sinn von Eigentlichkeit oder Echtheit mochte von dem her, was
>Aletheia< als Nichtverbergung schon bei Homer zur Auszeichnung kom- der frühe Heidegger »angstbereite Entschlossenheit« genannt hatte, nicht
men lassen. Was Heideggers Erneuerung der Einsicht in den privativen Sinn nur dem Schweigen, sondern auch dem Brechen des Schweigens, dem
des Wortes bedeutsam macht, ist, daß dieses griechische Wort nicht auf die Wort, zufließen. Und gewiß war schon in »Sein und Zeit< die Herausforde-
Rede beschränkt ist, sondern auch dort gebraucht wird, wo es an die rung voll angenommen, die der griechische Logos-Begriff von Anbeginn an
Bedeutungssphäre von >echt< im Sinne von »unverfälscht heranreicht. So für den »christlichen Theologen« Heidegger darstellte. (So nannte sich
sagt man auch im Griechischen: ein wahrer Freund, wahres, d. i. echtes Heidegger noch, als er schon als Privatdozent der Philosophie an der Arbeit
Gold, das nicht den falschen Schein erweckt, Gold zu sein. In solchem seines Lebens war.) Schon dort ist Sprache als ein Existenzial gedacht,
Zusammenhange gewinnt >Entbergung< eine ontologische Bedeutung, d. h. nämlich als eine Bestimmung des durch Seinsverständnis ausgezeichneten
charakterisiert nicht ein Verhalten oder Sich-Äußern von jemandem oder Daseins. Aber wie sich das Wesen der Wahrheit von dem Ansichhalten und
von etwas, sondern sein Sein (wie auch >Aletheia< die Charaktereigenschaft der Insistenz des Daseins her auf das »Geheimnis« und seine absolute Ver-
der Aufrichtigkeit bedeuten kann). Erstaunlich genug, daß nicht nur das borgenheit immer noch wie auf sein Anderes bezog, so konnte auch das
Wesen, das reden und sich verstellen und sogar lügen kann, sich durch >A- Wort und die Sprache zwar den existenziellen Bezug zum Hören und zum
letheia< auszeichnen mag, sondern daß auch Seiendes als solches >wahr< sein Schweigen haben, aber was daran >wahr< war und was da >herauskam<, war
kann, wie Gold. Was kann es sein, das da verbirgt oder verhehlt oder eben die Existenz, das seines Seins vor dem Nichts gewärtige Dasein. Gewiß
verstellt, so daß Nicht-Verborgenheit - und nicht durch unser Tun - vom war auch so das Wort nicht das Ausgesagte der aristotelischen »Apophansis«,
40 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 41

das als Gesagtes in dem, was es sagt und zeigt, aufgeht (iv τψ δηλοϋν), sondern der politischen Rede, bestritten werden. Vielmehr wird so die Frage nach
hatte den Zeitcharakter der Einmaligkeit und eines Ereignisses. Aber was dem, was das Wort als Wort wahr sein lassen kann, methodisch isoliert. Daß
war hier Ereignis? Und was ereignete sich da? Heidegger hat damals sehr auch Texte erst im lebendigen Vollzug ihres Verstehens, Vorlesens, Ver-
wohl gesehen, wie das >Wort< mit innerer Notwendigkeit »ins Gerede kam« kündens ihren Wortcharakter wiedergewinnen, ändert nichts daran, daß es
und daran verfiel, und daß auch das Schicksal des Denkens in diese Zweideu- der Textgehalt ist und sonst nichts, was hier wieder auflebt, also das poten-
tigkeit von Eigentlichkeit und Verfallen, von Sein und Scheinen verfugt ist. tielle Wort, das etwas sagt. Wie das Wort da ist, wenn es >Text< ist, macht
Daß jedoch das Wort als Wort nicht nur Entbergung ist, sondern ebensosehr also sichtbar, was es als sagendes ist, d. h., was sein Sagendsein ausmacht.
auch und gerade deshalb bergend und verbergend sein muß, war von der Ich nenne das so isolierte Sagendsein des Wortes > Aussagen Denn in der
transzendentalen Analytik des Daseins aus nicht zu fassen. Noch in der Tat ist die Aussage, bei aller Problematik ihres Gebrauchs und Mißbrauchs,
berühmten Davoser Konfrontation mit dem Verfasser der >Philosophie der z.B. im Gerichtsverfahren, ihrem Wesen nach fixierbar und wenn auch
symbolischen Formen< bestand Heidegger auf dem Selbstverständnis des nicht unwiderrufbar, so eben doch ohne solchen Widerruf, d.h. bis auf
Daseins gegenüber der Zwischenwelt der Formen. weiteres, gültig. Ihre Geltung schließt ein, daß das in ihr selbst Gesagte und
Indessen, wenn Entbergung und Verbergung wirklich als Strukturmo- nur dies allein gilt, wobei wiederum der Streit um den eindeutigen Gehalt
mente von >Sein< gedacht werden, wenn die Zeitlichkeit dem Sein zukommt einer Aussage und ob die Berufung auf sie berechtigt ist, den Anspruch auf
und nicht nur dem Seienden, das dem Sein den Platz hält, dann bleibt es zwar Eindeutigkeit indirekt bestätigt. Daß die Zeugenaussage vor Gericht in
die Auszeichnung des Menschen, >da zu sein<, und ebenso, nicht nur selber in Wahrheit vom Zusammenhang der Untersuchung aus erst Wahrheitswert
der Sprache zu Hause zu sein, sondern daß in der Sprache, die wir miteinan- gewinnt, ist ohnehin klar. So hat sich gerade auch im hermeneutischen
der sprechen, >Sein< da ist. Und das alles nicht aus einem Existenzentschluß, Zusammenhang, z. B. in der theologischen Exegese oder in der Literarästhe-
den man auch unterlassen könnte, sondern weil Da-sein Entschlossenheit, tik, das Wort >Aussage< durchgesetzt, weil es zu markieren vermag, daß es
Offenständigkeit fur das >Da< ist. Dann aber wird nicht von ihm aus zu sich rein um das Gesagte als solches handelt, ohne den Rückgang auf die
denken sein, in dem Sinne, daß das eigentliche Wort das Wort der Eigent- Okkasionalität des Autors, und daß nichts als die Auslegung des Textes als
lichkeit wäre - und nicht das des Geredes. Vielmehr wird, was das eigentli- eines Ganzen seine Bedeutung sichtbar macht. Weit gefehlt also, daß durch
che Wort - das Wort als wahres Wort - ist, vom Sein her bestimmt sein, als solche Konzentration auf den Text, der als Ganzes die Aussage ist, der
das Wort, in dem Wahrheit geschieht. So läßt sich an Heideggers spätere Ereignischarakter des Wortes abgeschwächt würde - er kommt dadurch erst
Einsicht anknüpfen und die Frage nach der Wahrheit des Wortes stellen. in seiner vollen Bedeutung heraus.
Vielleicht läßt sich im Stellen dieser Frage der Einsicht Heideggers und so Nun gibt es gewiß schriftliche Fixierung von Gesprochenem, auch ohne
rätselhaften Redeweisen wie der von der »Lichtung des Seins« auf konkrete daß es sich um einen Text im Sinne des Wortes, das steht, handelte. So sollen
Weise näherkommen. etwa alle privaten Aufzeichnungen, Notizen, Nachschriften von Gespro-
Was ist das >eigentliche< Wort - das heißt, nicht etwa das Wort, worin chenem lediglich dem Gedächtnis als Stütze dienen. Hier ist klar, daß die
etwas Wahres oder selbst die höchste Wahrheit gesagt wird, sondern das im schriftliche Aufzeichnung erst im Rückgang auf das frische Gedächtnis
eigentlichsten Sinne >Wort< ist? Wort sein heißt sagend sein. Um innerhalb Leben erhält. Ein solcher Text sagt sich nicht selbst aus und wäre daher,
der unendlichen Vielfalt, in der Worte fallen, diejenigen ausfinden zu kön- wenn er für sich publiziert würde, nichts, was etwas >sagt<. Solcher Text ist
nen, die am meisten sagend sind, besinnen wir uns auf den Charakter dessen eben nur die schriftliche Spur einer aus sich lebenden Erinnerung. In der
zurück, was wahrhaft >ein Wort< ist: daß es steht und daß man zu ihm steht. Abhebung dagegen wird deutlich, in welchem Sinne es Texte gibt, die wirk-
Dies enthält offenkundig schon, daß das Wort, mit dem, was es sagt oder lich den Charakter der Aussage haben, d. h., die ein Wort im oben gekenn-
sagend tut, einen dauerhaften Geltungsanspruch erhebt, und ich berief mich zeichneten Sinne sind, ein Wort, das gesagt ist (und nicht nur etwas übermit-
schon darauf, daß das Mysterium der Schriftlichkeit diesen Anspruch bestä- telt). Wir bestimmen also das Wort als das sagende dadurch näher, daß es als
tigt. Es ist daher nicht so willkürlich und absurd, wie es aufs erste klingt, sagendes gesagt ist, und wieder fragen wir, welches Wort, das so gesagtes
wenn ich das Wort, das eigentlich sagend ist, als >Text< bestimme. Das hat Wort ist, am meisten sagend ist und insofern >wahr< heißen kann.
selbstverständlich nur einen methodischen Sinn. Dadurch soll nicht Echt- Wir unterscheiden drei Weisen von Texten, die in diesem Sinne >Aussage<
heit, Ursprünglichkeit, Bedeutungskraft, Entscheidungsgewalt, die in le- sind: den religiösen, den juristischen und den literarischen Text, wobei der
bendiger Rede liegen oder im Gebet, in der Predigt, im Segen und Fluch, in letztere vielleicht noch zu differenzieren ist, um so verschiedene Aussagefor-
42 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 43

men zu umfassen wie das dichterische Wort, den spekulativen Satz der will. Aber wenn der Historiker die Aussage des Textes nicht in ihrem
Philosophen und die logische Grundeinheit des prädikativen Urteils. Denn Zusagecharakter verstehen würde, könnte er von dem Text auch keine
auch das letztere gehört hier so weit hinein, als es der allgemeine Charakter quellenkritisch adäquate Verwendung machen. Wie die Hermeneutik sagt:
des Wortes ist, sagend zu sein, und somit ist kein Wort abtrennbar von dem Der Text hat seinen Scopus, auf den hin man ihn verstehen muß. Wiederum
bloßen zeigenden Gegenwärtigseinlassen, das wir das Urteil nennen, wenn kann man den gleichen Text auch literarisch lesen, etwa auf die Kunstmittel
es im Zusammenhang einer Argumentation steht. hin, die seiner Darstellung Leben und Farbe geben, auf seine Komposition,
Die Differenzierung dieser Weisen des Wortes soll nun aber ausschließlich seine syntaktischen und seine semantischen Stilmittel hin, und ohne Frage
in dem Wortcharakter liegen und ihm nicht erst von außen, von den Um- gibt es, insbesondere im Alten Testament, hohe Dichtung, deren Kunstmit-
ständen seines Gesagtseins her, zufließen. Ein solches zählt in all seinen tel ins Auge fallen. Und doch, selbst ein solcher Text, etwa das Hohelied,
Erscheinungsformen zur >Literatur<. Denn eben das charakterisiert Litera- steht in dem Kontext der Heiligen Schrift, d.h., er fordert, als Zusage
tur, daß ihr Geschriebensein nicht eine Minderung ihres ursprünglichen, verstanden zu werden. Gewiß, hier ist es der Kontext, aber das ist doch
mündlich-lebendigen Seins darstellt, sondern ihre originäre Seinsform ist, wiederum eine rein sprachliche Textgegebenheit, die einem Liebeslied den
die ihrerseits sekundären Vollzug des Lesens oder Sprechens zuläßt und Charakter der Zusage verleiht. Auf den gleichen Scopus sind nun auch
erfordert. Man kann diesen drei Grundweisen von Texten drei Grundfor- literarisch so bescheidene, kunstlose Texte wie die synoptischen Evangelien
men des Sagens zuordnen: die Zusage, die Ansage und die Aussage im zu beziehen. Man wird also den Zusagecharakter solcher Texte aus dem
engeren Sinne, die in einem eminenten Sinne Aus-sage sein mag, d. h. das Scopus abzuleiten haben, den der Kontext anzeigt.
Sagen bis zu seinem wahren Ende führt, und so ist es das am meisten sagende Man kann sich hier kritisch fragen, ob der religiöse Charakter solcher
Wort. Texte, der aus ihnen selbst spricht, als solcher schon ihren Zusagecharakter
Damit soll nicht eingeschränkt sein, daß etwa der religiöse Text, aber auch ausmacht, oder ob es der besondere Charakter von Erlösungs- und Offenba-
der Rechtstext im vollen Umfange unseres Begriffes > Aussage< sind, d. h. in rungsreligionen ist, die im eigentlichen Sinne Buchreligionen sind, wie die
ihrer sprachlich-schriftlichen Gegebenheitsweise den spezifischen Charakter jüdische, christliche und islamische, der ihren Schriften diesen Zusagecha-
ihres Sagens enthalten. Es ist also nicht so, daß eine Aussage, die noch nicht rakter verleiht. In der Tat, es dürfte die Welt des Mythos, d. h. aller religiö-
Zusage wäre, erst dadurch zur Zusage wird, daß jemand sie einem zuspricht, sen Überlieferung, die so etwas wie kanonische Texte nicht kennt, eine ganz
etwa als Trost und Verheißung. Sie ist vielmehr eine solche Aussage, die in andere hermeneutische Problematik eröffnen. Da sind ζ. Β. die >Aussagen<,
sich selbst Zusagecharakter hat und als Zusage verstanden werden muß. Das die man hinter dem poetischen Text der Griechen in ihren Mythen und
heißt aber, daß bei der Zusage die Sprache sich selbst überschreitet. Ob auf Sagen entdecken mag. Sie sind gewiß nicht selbst schon von der Struktur des
den Alten oder auf den Neuen Bund hin, sie erfüllt sich nicht in sich selbst, Textes, d.h. des Wortes, das steht. Aber sie sind dennoch >Sage<, d.h.
wie etwa ein Gedicht sich selbst erfüllt. Daher findet die Zusage einer sprechend durch nichts als ihr Gesagtsein. Ob uns solche Welten religiöser
Verheißung gleichsam ihre Erfüllung in der Annahme des Glaubens — wie ja Überlieferung überhaupt kenntlich wären oder kenntlich würden, wenn sie
auch jedes Versprechen erst, wenn es angenommen ist, bindend wird. nicht in die literarischen Formen von Überlieferung sozusagen hereinstün-
Ähnlich ist auch ein juristischer Text, der ein Gesetz oder ein Urteil formu- den? Die Methoden der strukturalistischen Mythenforschung in Ehren, aber
liert, sobald es erlassen ist, verbindlich, aber es erfüllt sich als erlassenes das hermeneutische Interesse beginnt mit der Frage, was einem die Mythen
nicht in sich selbst, sondern erst in seiner Ausführung bzw. Vollstreckung. nicht so sehr verraten, als was sie einem sagen, wenn sie in Dichtung
Auch ein bloßer>historischer< Bericht unterscheidet sich dadurch von einem begegnen. Was sie einem sagen, liegt in der Aussage, die sie sind und die
dichterischen, daß dieser sich selbst erfüllt. Man nehme etwa das Beispiel des wohl notwendig in die Fixierung drängt, und vielleicht sogar in die kumula-
Evangeliums. Da erzählt der Evangelist eine Geschichte. Auch ein Chronist tive Fixierung durch die mythendeutende Dichtung. So wird das hermeneu-
oder ein Historiker könnte eine solche Geschichte erzählen, oder ein Dich- tische Problem der Mythendeutung unter den Formen des literarischen
ter. Aber der Anspruch des Sagens, der mit der >Lesung< dieser Geschichte Wortes seinen legitimen Platz haben1.
erhoben wird - und jedes Lesen derselben ist im Grunde eine Lesung - ist
1
offenbar von vorneherein ein eigenes Sagen, das ich Zusage nannte. Denn es Welche Bedeutung religiöse Überlieferung fur die dichterische Stilgebung besitzt, ist
ist die Frohe Botschaft. Man kann diesen Text gewiß auch anders lesen, etwa ja seit NORTHROP FRYES > Anatomy of Criticism« ins altgemeine Bewußtsein getreten. Zu
vergleichen ist auch PAUL RICCEURS kritische Einschränkung der strukturalistischen >Geo-
mit dem Interesse des Historikers, der seinen Quellenwert kritisch prüfen
44 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 45

Eine ähnliche Betrachtung ließe sich fur den Charakter der Ansage durch- der traditionellen Ästhetik kein rechtes Heimatrecht gewonnen hat. Gewiß
fuhren. Er scheint spezifisch den Rechtsaussagen zuzukommen. Er umfaßt war die Wortkunst, die Poesie, seit alters ein besonderer Gegenstand der
die breite Skala von Anordnungen, die öffentlich verkündet werden, den Reflexion, jedenfalls lange vor der Thematisierung anderer Kunstarten.
Erlaß von Gesetzen und schließlich sogar Gesetzbücher und geschriebene Wenn man jemanden wie Vitruv hier überhaupt zählen will, oder auf
Verfassungen, Urteilssprüche usw. Die Textstufen, die hier durchlaufen anderem Felde die Theoretiker der Musik, so sind das beides praktische
werden, und der Literaturcharakter, in den die Rechtsüberlieferung hinein- Kunstlehren und so im Grunde alle Ars poetica. - Von den Philosophen ist
wächst, halten aufklare Weise ihren eigenen Charakter des Sagens fest. Sie vor allem die Poesie zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht worden,
sagen Gültiges im Rechtssinn des Wortes und können nur unter dem Scopus und nicht zufällig. Sie war die alte Rivalin des eigenen Anspruches der
dieses Gültigkeitsanspruchs verstanden werden. Hier ist es offenkundig, daß Philosophie. Das bezeugt nicht nur Piatos Dichterkritik, sondern auch das
solcher Anspruch auf Gültigkeit des Wortes ihm nicht erst durch die Schrift- besondere Interesse, das Aristoteles an der Poetik nimmt. Dazu kam die
lichkeit zuwächst, aber daß auch umgekehrt die Kodifizierbarkeit solcher Nachbarschaft der Poesie zur Rhetorik, der sehr früh schon kunstverständi-
Gültigkeiten nicht beiläufig und zufällig ist. In ihnen vollendet sich erst in ge Reflexion zugewandt worden ist2. Sie war in vieler Hinsicht produktiv
gewisser Weise der Sagesinn solcher Aussagen. Denn daß eine Anordnung und fur zahlreiche Begriffsbildungen im Bereiche der Kunstbetrachtung
oder ein allgemeines Gesetz in seinem vollen Wortsinn schriftlich fixierbar grundlegend. Allein schon der Begriff des Stiles, des >stilus scribendi<, legt
ist, beruht offenbar darauf, daß es als unveränderlich und für alle gelten soll. dafür ein beredtes Zeugnis ab.
Was da steht und was da steht, solange es nicht zu Falle gebracht ist, macht Trotzdem muß man sich fragen, ob die Rolle der Poesie innerhalb der
offenbar den wesenhaften Geltungscharakter des Ansagens aus, der solchem Ästhetik je zu ihrem vollen Recht gekommen ist. Da haben wir den fur zwei
Texte zukommt. Man spricht daher von der Verkündung eines Gesetzes Jahrtausende beherrschenden ästhetischen Grundbegriff der Mimesis,
oder der Veröffentlichung als dem Termin seiner Rechtsgeltung. Daß die Imitatio, Nachahmung3. Ursprünglich war er den transitorischen Künsten,
Auslegung solchen Wortes oder Textes eine eigene rechtsschöpferische Tanz, Musik, Poesie eng verbunden und hat vor allem auf die Kunst des
Aufgabe ist, ändert weder etwas daran, daß die Aussage in sich eindeutig Theaters Anwendung gefunden. Aber schon bei Plato werden visuelle Kün-
sein will, noch etwas an ihrer Rechtsverbindlichkeit. Die hermeneutische ste wie Skulptur und Malerei zur Illustration herangezogen und ähnlich von
Aufgabe, die hier gestellt ist, ist eine juristische und mag in sekundärer Weise Aristoteles. Vor allem aber hat Plato durch den okularen Begriff des Eidos
eine rechtshistorische und vielleicht sogar eine literaturhistorische Seite die seiende Welt als Nachahmung interpretiert und die Poesie als deren
haben. Jedenfalls aber bleibt auch in dieser Form der Ansage das Wort Nachahmung, also als eine Nachahmung der Nachahmung. So wurde der
Aussage, d. h., es will als Wort wahr sein. Begriff der Mimesis von seinem Ursprung ganz abgedrängt. Noch in >He-
Wenn wir uns nun den Aussagen im eminenten Sinne des Wortes zuwen- gels< Definition des Schönen als des sinnlichen Scheinens der Idee klingt
den, die vor allem dem engeren Sinne von Literatur zugehören, so ist die Plato weiter, und alle romantische Verkündung der Universalpoesiehat die
Fülle der Aussageweisen, die sich hier finden, verwirrend. Es scheint mir Verlegenheit nicht behoben, die die Wortkunst zwischen Rhetorik und
methodisch gerechtfertigt, unsere Frage auf das Wort der sogenannten Ästhetik gleichsam eingeklemmt hält.
>schönen Literatun einzuschränken. Es ist offenbar kein Zufall, daß >Litera- So ist die Frage nach der Wahrheit des Wortes auf keine reichen Vorberei-
tur< im engeren Sinne >schöne Literatun meint, nämlich Texte, die in keinen tungen zu stützen. In der Romantik, und vor allem in Hegels Systematik der
anderen Bedeutungszusammenhang eingeordnet sind bzw. bei denen man Künste, finden sich nur unausgeführte Ansätze. Heideggers Durchbruch
von allen möglichen Einordnungen absehen kann, z.B. vom kultischen, durch die traditionelle Begrifflichkeit der Metaphysik und der Ästhetik hat
rechtlichen, wissenschaftlichen, ja auch - obwohl das ein Sonderfall sein hier einen neuen Zugang eröffnet, indem er das Kunstwerk als Ins-Werk-
dürfte- vom philosophischen Gebrauch. Das war von alters her der Sinn des Setzen der Wahrheit interpretierte und die sinnlich-sittliche Einheit des
Schönen, des >Kalon<, daß es ein an sich selbst Wünschenswertes ist, d. h. um Kunstwerks gegen alle ontologischen Dualismen verteidigte4. So hat er für
nichts anderen willen einleuchtet als auf Grund seiner eigenen Erscheinung,
2
die auf selbstverständliche Art Beifall fordert. Damit soll das hermeneuti- Man denke an die omarfurpi τεχναν des Aristoteles.
3
sche Problem keineswegs in den Kompetenzbereich der Ästhetik überfuhrt Zum Mimesis-Begriff siehe neben dem vorangehenden auch die folgenden Beiträge
dieses Bandes: >Dichtung und Mimesis< (Nr. 8) und >Das Spiel der Kunst« (Nr. 9).
werden. Im Gegenteil wird hier die Frage nach der Wahrheit des Wortes an 4
Siehe dazu >Die Wahrheit des Kunstwerks< in Ges. Werke Bd. 3, S. 249-261. Zum
das literarische Wort gerade in dem Bewußtsein gestellt, daß diese Frage in folgenden vgl. im vorliegenden Band auch >Philosophie undPocsie< (Nr, 20).
46 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 47

alle Kunst die romantische Einsicht von der Schlüsselstellung des Dichtens ser. Denn ohne Zweifel befinden sich solche Sprecher (selbst wenn es der
neu zu Ehren gebracht. Aber auch von ihm aus scheint es weit leichter, zu Autor selber ist, der sich in die Rolle des Vortragenden oder des Schauspie-
sagen, wie im Bildwerk das wahre Sein der Farbe oder im Bauwerk das des lers begibt) dem Text gegenüber insofern in einer sekundären Funktion, als
Steines herauskommt, als, wie im Dichtwerk das wahre Wort heraus- sie denselben in die Zufälligkeit eines einmaligen Vortrages nötigen. Es ist
kommt. Hier liegt unsere Frage. eine hilflose Verkennung dessen, was Literatur ist, wenn man auch das
Was bedeutet das Hervorkommen des Wortes in der Dichtung? Wie die literarische Gebilde auf den Akt des Meinens zurückführen möchte, dem der
Farben im Bildwerk leuchtender sind, der Stein im Bauwerk tragender ist, Autor Ausdruck gab. Hier ist der Unterschied zu den Notizen, die einer sich
so ist im Dichtwerk das Wort sagender als je sonst. Das ist die These. Wenn macht, oder den Mitteilungen, die er anderen macht, ganz überzeugend.
sie überzeugend gemacht werden kann, dann läßt sich die allgemeine Frage Der literarische Text ist nicht, wie diese, gegenüber einem ersten, ursprüng-
nach der Wahrheit des Wortes von dieser seiner Vollendung her beantwor- lich meinenden Sprechen sekundär. Es ist umgekehrt so, daß sichjede- auch
ten. Aber was heißt das, daß das Wort »sagenden ist? Hierfür ist unsere des Autors eigene - nachträgliche Interpretation auf den Text hinordnet,
methodische Verkettung von Wort und Text eine gute Vorbereitung. und nicht etwa so, daß der Autor eine dunkle Erinnerung an etwas, was er
Selbstverständlich kann nicht der tote Buchstabe der Schrift, sondern nur hatte sagen wollen, durch Rückgriff auf seine Vorarbeiten auffrischen will.
das wiederauferstandene Wort (gesprochen oder gelesen) dem Sein des Rückgang auf die Varianten sind für die Textherstellung oft unentbehrlich.
Kunstwerks zugezählt werden. Aber der Durchgang durch seinen Unter- Jeder Herstellung eines Textes geht aber Verstehen desselben voraus. Wer
gang in Schrift gibt erst dem Wort die Verklärung, die seine Wahrheit heißen angesichts dieser Sachlage für die Objektivität der Interpretation fürchtet,
kann. Dabei kann die Frage der geschichtlichen und genetischen Bedeutung sollte lieber besorgt sein, ob die Zurückführung eines literarischen Textes
der Schriftlichkeit ganz außer Betracht bleiben. Was der Durchgang durch auf die Meinungsäußerung ihres Urhebers nicht den Kunstsinn von Litera-
die Schrift methodisch leistet, ist hier lediglich die Aufdeckung der eigen- tur überhaupt zerstört.
tümlich sprachlichen Seinsart des Wortes, und insbesondere der dichteri- Freilich ist das zunächst nur eine negative Abgrenzung, durch die die
schen Aussage. Wir werden prüfen müssen, ob nicht der Durchgang durch Autonomie des Wortes bzw. des Textes überzeugend gemacht wird. Aber
die Schrift im Falle der >schönen Literatun noch anderes aufdeckt, als für die worauf gründet sie sich? Wie kann das Wort so sehr sagend sein und so
anderen Fälle von wirklichem Text gelten kann. vielsagend, daß selbst der Autor nicht weiß, sondern auf das Wort hören
Zunächst wird freilich Gemeinsames sichtbar, ζ. Β. das Verschwinden des muß? Ein erster Sinn des eminenten Sagendseins eines literarischen Textes
Autors bzw. seine Transformation in die Idealfigur eines Sprechers. Im Falle ist mit der negativen Feststellung der Autonomie des Wortes gewiß gefun-
religiöser Urkunden ist das oft bis zu der Fiktion gesteigert, als wäre der den. Es ist wirklich einzigartig, daß ein literarischer Text seine Stimme
Gott der Sprecher, und im Falle des Rechtsspruches heißt es ausdrücklich: sozusagen von sich aus erhebt und in niemandes Namen spricht, auch nicht
»Im Namen des Gesetzes«. Solche Texte verstehen kann also gewiß nicht im Namen eines Gottes oder eines Gesetzes. Nun behaupte ich: Der ideale
heißen, wie seit Schleiermacher gesagt wird: den produktiven Akt reprodu- Sprecher solchen Wortes ist der ideale Leser. Es wäre hier näher auszufüh-
zieren. Man sollte daraus für den literarischen Text die gleiche Folgerung ren, daß auch dieser Satz keine historische Einschränkung enthält. Selbst für
ziehen, daß auch hier die psychologische Interpretation nicht die hermeneu- vor-literarische Kulturen, etwa für die mündliche Tradition von Epen,
tische Angemessenheit hat, die ihr zugesprochen wird. In allen diesen Fällen bleibt es wahr, daß es einen solchen idealen >Leser< gibt, d. h. einen Hörer,
ist die Aussage des Textes nicht als ein Ausdrucksphänomen seelischer der durch alle (oder eine einzige) Rezitation auf das hindurchhört, das nur
Innerlichkeit zu verstehen (und oft ja nicht einmal auf einen einzigen Urhe- das innere Ohr vernimmt. Er weiß von diesem Maßstab aus sogar den
ber zurück£uhrbar).Gleichwohl sind es offenkundig recht verschiedenartige Rhapsoden zu beurteilen - wie wir ja aus dem alten Motiv des Sängerwett-
ideale Sprecher, die einem eine religiöse Heilsverkündigung zusagen oder kampfes sehen. Ein solcher idealer Hörer ist also wie der ideale Leser5. Es
die im Namen des Gesetzes Recht sprechen oder... - Doch bei diesem wäre weiterhin näher auszuführen, daß und warum Lesen im Unterschied
>oder< stockt man. Soll man wirklich sagen: die als Dichter zu einem spre- zum Vorlesen oder Rezitieren keine Reproduktion des Originals ist, sondern
chen? Wäre es nicht angemessener, wenn man hier nur sagte, daß die die Idealität des Originals unmittelbar teilt, da sich Lesen überhaupt nicht in
Dichtimg spricht? Und ich würde hinzufügen: besser und eigentlicher durch
den Hörenden, den Zuschauer - oder gar nur den Leser - als durch den, der 5
Ausführlicher dazu im folgenden »Stimme und Sprache< (Nr. 22) und »Hören - Sehen
da wirklich etwas spricht, den Rezitator, den Schauspieler oder den Vorle- -Lesern (Nr. 23).
48 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 49
die Kontingenz einer Reproduktion nötigen läßt. Hierfür haben die Unter- Aufführung Interpretation sein, die wie eine eigene Leistung dem Zuschauer
suchungen des pohlischen Phänomenologen Roman Ingarden über den vorgegeben ist.
Schemacharakter des literarischen Wortes die Richtung gewiesen. Von Aber all das muß über der drängenden Frage zurücktreten, die an das
großer Aufschlußkraft wäre es auch, das Problem der absoluten Musik und >sagende< Wort zu richten ist, was es denn sagend macht, wenn es im
der ihr Fixierung gebenden Notenschrift zum Vergleich heranzuziehen. Es eminenten Sinne sagend ist. Hier überfällt uns die ganze Fülle literarischer
würde sich mit dem Musikwissenschaftler Georgiades zeigen lassen, welch Gattungs- und Stilunterschiede: Epos und Drama und Lyrik und künstleri-
ein Unterschied zwischen Schrift hier und Schrift dort besteht, und zwi- sche Prosa, naive Erzählung, liedhafte Einfachheit, mythische, märchenhaf-
schen Wort hier und Ton dort, und damit auch zwischen dem literarischen te, lehrhafte, meditative, reflexive, reportagehafte, hermetische Aussage-
Werk und dem Notensatz. Das Beispiel der Musik hat ohne Frage die formen, bis hin zur poésie pure. Wenn das alles Literatur sein kann, d. h. daß
Besonderheit, daß man Musik machen muß und daß selbst der Zuhörer in ihnen allen das Wort als Wort spricht, mit der oben beschriebenen
von Musik mitmachen muß, fast wie jemand, der bei Liedern mitsingt. Autonomie, dann löst sich der ideale Sprecher oder Leser, den wir zu
Das Lesen eines Notentextes ist nicht wie das Lesen eines sprachlichen konstruieren suchten, vollends auf, und er hilft uns nichts für die Frage, wie
Textes. Das wäre es nur, wenn es ein >inneres< Machen wäre, durch das das Wort sagend ist, dessen Vollzug ihm von uns aufgetragen wurde. Nun
man sich nicht festlegte und die Freiheit des Imaginationsflusses behielte ist es gewiß nicht nur die Vielfalt dessen, was das Wort der Literatur sagt,
wie ein Leser. Im Falle der Musik wird aber die Interpretation durch den und die unterschiedliche Weise, wie es sein Wort sagt, was uns hier stocken
Musiker dem Hörer vorgegeben, so groß auch die Freiheit sein mag, die er ließ. Es scheint vielmehr von vornherein überzeugend, daß das Wort, das
dabei ausübt. Der Musiker, als Spieler und gegebenenfalls als Dirigent, hat aus sich zu sprechen vermag, nicht allein von dem her charakterisiert werden
eine Zwischenstellung: Er hat im wahrsten Sinne ein Interpret zu sein, eben kann, worauf es inhaltlich verweist. Es ist in der bildenden Kunst dasselbe
zwischen dem Komponisten und dem Hörer. Das ist das gleiche, das wir und aus den gleichen Gründen. Wer nur auf den gegenständlichen Darstel-
beim Theater kennen: Da ist die Aufführung eine Interpretation, die zwi- lungsinhalt eines Gemäldes sieht, sieht offenbar an dem vorbei, was es zum
schen dem dichterischen Text und dem Zuschauer steht. Das ist für den Kunstwerk macht, und die »Gegenstandslosen« von heute können das jeder-
Zuschauer nicht eine Leistung wie die des Lesens, wenn man sich selbst mann klarmachen. Der Informationswert, den etwa eine Abbildung in
etwas vorliest. Man ist es ja selber, der hier >reproduziert<, etwas aus sich einem Verkaufskatalog von Blumenpflanzen enthält, ist bestimmt größer
ins Sein setzt. Wenn einer sich selbst mit der eigenen Stimme vorliest, wie als der der Farbenorgie eines Blumenbildes von Nolde. Umgekehrt kann
das im Altertum und bis ins späte Mittelalter beim Lesen immer geschah, man von hier aus verstehen, warum Farbkompositionen, die alles Gegen-
vollzieht man in Wahrheit nur das eigene Lesen und bleibt bei sich selbst, ständliche verlassen haben, dennoch so überzeugend sein können wie etwa
den Text verstehend und nicht einen anderen, der einem vorliest und dabei ein flämisches Blumenstilleben. Es scheint zwar so, als ob immer Sinnwin-
den Text auf seine Weise verstanden hat. Ja selbst dann noch ist ein solches ke, Anklänge, Anknüpfungsmöglichkeiten an unser gewohntes gegen-
Vorlesen kein wirkliches Reproduzieren, sondern ein Dienst am Herrn, der ständliches Sehen im Spiele sind, aber sie lenken nicht auf sich, sondern
verstehen will, als ob er selber läse. Daher klingt es auch ganz anders, wenn wenden unseren Blick zu den neuen Ordnungsgefügen hin, die solche
einer nur vorliest oder rezitiert oder wenn er wie ein Schauspieler den Text Farbkompositionen zu einem Bilde machen, ohne ein Abbild zu sein. So
wahrhaft neu hervorzubringen bemüht ist. Hier gibt es wohl fließende etwas bietet die praktische Lebenswelt unter der Herrschaft ihrer Zwecke
Übergänge. Ein genialer Vorleser wie Ludwig Tieck, vor allem als Shake- nicht. Es scheint bei dem dichterischen Wort ebenso. Es kann freilich
speare-Vorleser, scheint die Variationen der Sprache so vollkommen be- niemals aufhören, aus Worten oder Wortrudimenten, die Bedeutungen
herrscht zu haben, daß es wie ein Ein-Mann-Theater war. haben, zu bestehen und die Einheit eines Redeganzen und Sinnganzen zu
bilden, auch nicht aus poésie pure. Das Ordnungsgefuge, in das sie eingeformt
Aber wie ist es beim wirklichen Theater, dem literarischen Theater, das
sind, ist aber nicht mehr aus der gewohnten Sinngerichtetheit grammatisch-
einen dichterischen Text aufführt? Da haben die Mimen ihre Rollen zu
syntaktischer Rede aufschließbar, die unsere Kommunikationsformen be-
spielen und dabei mehr oder weniger der Auffassung des Regisseurs zu
herrscht.
folgen. Nur im Idealfalle wird ein solcher seine Schauspieler mit dem
Ganzen seiner eigenen Interpretation der Dichtung so bekanntmachen, daß Die extreme Situation der modernen bildenden Kunst scheint mir gleich-
sie die Verkörperung der einzelnen Rollen mitgestaltet. Ob mit oder ob wohl methodisch hilfreich, um bei der Frage nach der Wahrheit des Kunst-
ohne Regisseur, ob mit oder ohne Dirigent, immer wird das Spiel in seiner werkes — und in unserem Falle des dichterischen Wortes - die Fehlorientie-
50 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 51

rang an ihrem kommunikativen Inhalt auszuschließen. Sie bewahrt aber das Idealisierte, von der Blässe des auf das Allgemeine gerichteten Gedan-
auch vor der umgekehrten Verirrung, als käme es auf das Dargestellte und kens angekränkelt. Und wieso hat noch dazu alles, was im dichterischen
Gesagte, das man wiedererkennt, überhaupt nicht an. Das am meisten Wort aufglänzt, an dieser Verklärung ins Wesenhafte teil (das man nur
sagende Wort ist doch gewiß nicht ein Wort, das sich als bloßes Klanggebil- schlecht das >Idealisierte< nennen kann)? Für diese Frage braucht uns die
de aufdrängt und auffällt. Sagen ist nicht bei sich selbst, sondern sagt etwas, vielfältige Differenzierung dichterischer Rede nicht zu beirren. Sie macht
und wenn das durch das Sagen Gesagte ganz da ist, dann ist das Wort sagend, vielmehr die Aufgabe eindeutiger. Nur nach dem, was alle diese Redeweisen
ohne das etwas nicht wäre, und doch ist das Wort verklungen und war nicht zu Texten macht, d. h. ihnen jene >ideale< sprachliche Identität verleiht, die
als es selbst beachtet. Würde die Aufmerksamkeit primär auf die Weise des ganz und gar >Text< zu werden vermag, ist gefragt. Die breite Skala von
Sagens gelenkt, auf das Schöngesagtsein, dann ist, wie in aller Schönredne- Darstellungsweisen, die sich zu Literaturgattungen mit eigenen Stilforde-
rei, die Seinsmacht des Wortes und die Sachgewalt der Rede verloren. Und rungen entwickelt haben, kann dabei ganz übergangen werden. Allem ist
doch muß es am Wie des Gesagtseins als solchen liegen, daß ein Text von gemeinsam, daß es >Literatur< ist. Ganz ohne sprachliche Kohärenz ist aber
sich aus spricht, wenn auch nicht so, daß das Formgefüge als solches, in Geschriebenes kaum je. Es gibt wohl nur einen Typ schriftlich fixierter
Absehung von der Sinnintention der Rede oder (beim Bild) des Dargestell- sprachlicher Äußerung, der diese fundamentale sprachliche Identitätsforde-
ten, die Aussage wäre. Es ist ja gerade auch der gegenständliche Inhalt, der rung, die dem Text zukommt, kaum noch erfüllt, und das ist ein solcher
durch die Sprachkunst oder bildende Kunst zu so absoluter Präsenz erhoben >Text<, dessen sprachliche Form beliebig austauschbar ist, wie das zuweilen
wird, daß aller Bezug auf ein reales Sein oder Gewesensein darüber verblaßt von kunstloser wissenschaftlicher Prosa gelten mag. Man kann statt dessen
-ja, sogar auch alle Ablenkung auf das Wie des Gesagtseins mitverblaßt. Es auch sagen: wo ohne Einbuße Übersetzung - auch durch den Computer -
scheint so, als ob das Wie des Gesagtseins, das doch ohne Zweifel Kunst vor möglich ist, weil es die informative Funktion des Textes allein ist, auf die es
Unkunst auszeichnet, sich nur zeigt, um sich selbst ganz aufzuheben - und ankommt. Ein solcher Fall mag ein idealer Grenzfall sein. Er steht auf der
sei es auch nur für ein scheinbar >nichtssagendes<, aber in sich komponiertes Schwelle zur Nicht-Sprache künstlicher Symbolismen, deren Zeichenge-
Ordnungsgefuge von Bildhaftem oder von Sinn- und Klangelementen, wie brauch ebenso willkürlich ist, wie er den Vorzug (und Nachteil) der Eindeu-
in moderner hermetischer Lyrik. Nicht durch das Vordergründige von tigkeit hat, insofern er in einer festen Zuordnung zu dem Bezeichneten steht.
Form und Inhalt ist das Bildwerk oder das Wort der Dichtung >sagender<: So ist etwa in den Naturwissenschaften die Publikation von Ergebnissen auf
Ars latet arte sua. Die Wissenschaft kann durch ihre Methoden vieles von Englisch erfolgt. Aber auch als Grenzfall ist der Fall aufschlußreich, nämlich
dem Kunstwerk zum Thema machen, aber nicht das Eine und Ganze seiner als der Nullpunkt jenes Kohärenzgrades des einzelnen Wortes, der literari-
> Aussagen — schen Texten offenbar in ausgezeichneter Weise eigen ist. In ihnen hat das
Bleiben wir beim Wort der Dichtung: Was ist es, was da in allem, was es Wort die höchste Kohärenz mit dem Ganzen des Textes. Wir wollen das
sagt, zustande kommt, indem die Aussage sich vollzieht? Ich meine: Selbst- schwierige Problem der differenten Kohärenzgrade innerhalb der Literatur
Präsenz, Sein des >Da<, und nicht das, was es als seinen gegenständlichen hier nicht weiterverfolgen. Ihre Spannungsbreite wird an der Unübersetz-
Befund ausspricht. Es gibt keine poetischen Gegenstände, es gibt nur eine barkeit deutlich, die im lyrischen Gedicht und insbesondere in der poésie pure
poetische Darstellung von Gegenständen (so ließe sich ein bekanntes Nietz- kulminiert. Die folgenden Bemerkungen wollen nur die Bindemittel sicht-
sche-Wort variieren). bar machen, welche Texte zu ihrer sprachlichen Identität zusammenbinden,
und wollen versuchen, den Schluß auf das >Sein< solcher Texte, d.h. auf die
Aber das wäre nur ein erster Schritt zur Entfaltung unseres Problems.
>Wahrheit des Wortes< zu ziehen.
Denn nun erhebt sich die Frage, wie der poetisch dargestellte Gegenstand
durch die Sprache poetisch werden soll. Wenn Aristoteles den überzeugen- Es handelt sich durchweg um sprachliche Mittel, welche die Sprache an
den Satz ausspricht, die Poesie sei philosophischer als die Historie, und das ihr eigenes oder inneres Erklingen zurückbinden, sosehr sie auch im Wegge-
will sagen, sie enthalte mehr wirkliche Erkenntnis, mehr Wahrheit, da sie gebensein an das Gesagte aufgeht, und die gerade bewirken, daß diese
die Dinge nicht darstelle, wie sie geschehen seien, sondern wie sie geschehen Weggegebenheit der einzigartig evokativen Wucht verdankt wird, die lite-
könnten, so stellt sich die Frage: Wie macht das die Poesie? Indem sie rarische Texte auszeichnet. Zu diesen Mitteln gehört der Rhythmus, eine
Idealisiertes statt Konkret-Wirkliches darstellt? Aber dann ist doch gerade reine Gestaltwerdung der Zeit. Er ist auch in der Musik zu Hause, unterliegt
das Rätsel, warum das Idealisierte im dichterischen Wort wie Konkret- aber im Sprachbereich einem eigenen Spannungsverhältnis zum Sinnbezug
Wirkliches herauskommt, ja, wirklicher als Wirkliches und nicht, wie sonst und ist daher meist nicht auf genaue Wiederholungsformen einzuschränken.
52 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 53

Es ist schwer zu sagen, was diesen dichterischen Rhythmus so artikuliert, beweist umgekehrt, wie sehr der geschichtliche Wirklichkeitsstoff auch
daß man beim Vorlesen ganz genau spürt, wo er verfehlt wird. Grundsätz- dort, wo er getreu festgehalten ist, in der dichterischen Formung aufgeho-
lich wird zu sagen sein, daß es sich um eine empfindliche Balance handelt, ben ist. Das unterscheidet den Fall deutlich von dem künstlerischen Ein-
die da zwischen Sinnbewegung und Klangbewegung zu halten ist. Beide schlag, den die Darstellungskunst eines Historikers aufweist.
Bewegungstendenzen, die sich immer - und manchmal nicht zwanglos - zu In der gleichen Linie liegt der wichtige Fall, wie weit die Begrififlichkeit
einer einzigen Bewegung verschmelzen, haben ihre spezifischen syntakti- der Rhetorik für die Bindemittel, die wir charakterisieren, überhaupt an-
schen Mittel. Diese Mittel reichen im Klangbereich von den Extremgestal- wendbar ist. Die Kunstmittel der Rhetorik sind Kunstmittel der Rede, die
ten von Zeitmaß (Metrum) und Reim bis zu Klangfigurationen, die unter als solche ursprünglich nicht >Literatur< ist. Ein Beispiel für die Problematik
jeder Grenze bewußter Bemerkbarkeit bleiben und überdies mehr oder der Sache ist der Begriff der Metapher. Man hat die poetische Legitimation
minder dicht von mehr oder minder unausdrücklichen sinnlogischen Binde- des Begriffs der Metapher mit Recht bestritten - doch wohl nicht in dem
mitteln durchzogen sind. Was so zustande kommt und worin sich die Sinne, daß es nicht in der Dichtung den Gebrauch von Metaphern geben
gestiftete Kohärenz der dichterischen Sprache deutlich darstellt, ist, was ich könne (wie jede andere Redefigur der Rhetorik). Gemeint ist vielmehr, daß
mit Hölderlin den Ton nennen möchte. Es ist das, was sich im Ganzen des nicht in der Metapher und dem Metapherngebrauch das Wesen der dichteri-
sprachlichen Gebildes durchhält, und vor allem das im Störungsfalle durch schen Rede liege. Dichterische Rede wird in der Tat nicht dadurch erreicht,
den entstehenden Mißton seine durchgehende Determinationskraft beweist. daß man unpoetische R«de durch Metapherngebrauch poetisch macht.
Ein Mißton ist eben nicht nur ein falscher Ton, sondern ein Ton, der die Wenn Gottfried Beim gegen den poetisierenden Gebrauch von »wie« im
ganze Stimmung beeinträchtigt. Das ist in der Literatur nicht anders als im Gedicht wettert, so hat er gewiß nicht die großartigen, höchst ausdrücklich
Leben der menschlichen Gesellschaft. Umgekehrt ist der sich durchhaltende durchgeführten Vergleiche bei Homer damit verkannt. In Wahrheit sind bei
Ton so, daß er die Einheit des Gebildes zusammenhält - mit all den Differen- Homer Vergleich und Metapher so vom epischen Tone des Erzählers getra-
zen und Gradunterschieden von Störungsempfindlichkeit und Kohärenz- gen, daß er ganz von einer Welt mit ihnen ist. Die dichterische Ironie, die in
dichte, die möglich sind. Dieser Ton, der sich durchhält, bindet die Elemen- der Kontrastspannung Homerischer Gleichnisse liegt, bezeichnet genau die
te der Rede aneinander. Er schließt das Gebilde als Gebilde derart zusam- Vollkommenheit ihrer Einformung. So kann man nicht nur im Falle von
men, daß es sich gegen andere Rede abhebt (so daß wir z. B. ein Zitat am Ton Kafka, wo der fiktive Realismus der Erzählung es besonders motiviert,
erkennen können). Vor allem aber hebt es sich gegen jede Art Rede ab, die sondern vom dichterischen Wort im ganzen sagen, daß es den Charakter
nicht >Literatur< ist und die ihre Stimmigkeit nicht in sich selbst hat, sondern einer >absoluten< Metapher hat (Allemann), d. h. gegenüber aller Alltagsrede
außerhalb ihrer selbst sucht oder findet. überhaupt. So hat dichterische Rede den Charakter der Schwebe und der.
Grenzfälle sind in kritischen Fragen immer am aufschlußreichsten. So Getragenheit, der durch die Neutralisation aller Seinssetzung zustande
enthält etwa die Weise, wie Pindar in den Kontext seiner Lieder jeweils die kommt und die Verwandlung ins Gebilde bewirkt. Wenn Husserl dafür den
Siegerehrung einfügt, ein okkasionelles Moment. Aber die" Macht und Ausdruck »Neutralitätsmodifikation« gebrauchte und sagt, daß im Falle der
Kohärenz der sprachlichen Formung beweist sich gerade darin, daß das Dichtung die eidetische Reduktion »spontan erfüllt sei«, beschreibt das
dichterische Gebilde diese Widmung voll zu tragen weiß, und ebenso bei freilich die Sachlage noch immer von der Intentionalität des Bewußtseins
Hölderlin, der Pindar in seinen Hymnen folgt. Noch aufschlußreicher als bei aus. Diese ist primär eine positionale. Husserl sieht die Sprache der Dichtung
solchen okkasionellen Partien in einem Text stellt sich die Frage dort, wo der als eine Modifikation der schlichten Seinssetzung. An die Stelle der Objekt-
Text selbst und als ganzer auf außersprachliche Wirklichkeit Bezug nimmt, beziehung soll die SelbstbezügHchkeit des Wortes treten, die man wohl auch
etwa im historischen Roman oder im historischen Drama. Man kann nicht Selbstreferenz nennt. Aber genau hier gilt es umzudenken, und Heideggers
etwa meinen, daß das echte literarische Kunstwerk solchen Bezug überhaupt Kritik der transzendentalen Phänomenologie und ihres Begriffs von Be-
zum Verschwinden bringt. Der historische Wirklichkeitsanspruch klingt in 1 wußtsein erweist sich auch hier als produktiv. Was Sprache als Sprache ist
dem geformten Text unzweifelhaft mit. Die Sache ist nicht einfach >erfun- und was wir als die Wahrheit des Wortes suchen, ist nicht in der Weise
den(, und noch die Berufung auf die dichterische Freiheit, die man dem faßbar, daß man von den sogenannten >natürlichen< Formen sprachlicher
Dichter zugesteht, die realen Verhältnisse, wie sie die Quellen zeigen, zu Kommunikation ausgeht, sondern umgekehrt werden solche Formen der
verändern, bestätigt das. Eben daß er sie verändern darf, ja, bis über jede Kommunikation von jener dichterischen Weise des Sprechens aus in ihren
Grenze der echten historischen Verhältnisse hinaus allerhand erdichten darf, eigenen Möglichkeiten faßbar. Die dichterische Sprachbildung setzt die
54 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 55

Auflösung alles »Positivem, konventionell Geltenden, voraus (Hölderlin). der Sprache, und die höchste Möglichkeit des Sagens besteht darin, sein
Das heißt eben, daß sie Sprachwerdung ist und nicht regelgerechte Anwen- Vergehen und Entgehen zu binden und die Nähe zum Sein festzumachen. Es
dung von Wörtern und Mitaufbau von Konvention. Das dichterische Wort ist Nähe, Präsenz, nicht von diesem oder jenem, sondern von der Möglich-
stiftet Sinn. Wie das Wort im Gedicht >herauskommt<, ist von einer neuen keit zu allem. Das ist es, was das dichterische Wort auszeichnet. Es erfüllt
Sagkraft, die oft im Landläufigsten verborgen liegt. Um ein Beispiel zu sich in sich selbst, weil es das »Halten der Nähe« ist, und es entleert sich zum
geben: Im Deutschen ist >Geräusch< ein ebenso farbloses und kraftloses Wort leeren Wort, wenn es das auf seine Zeichenfunktion reduzierte Wort ist, das
wie Englisch >noise<, dem man freilich überhaupt nicht anhört, daß es von eben deshalb der kommunikativ vermittelten Erfüllung bedarf. Von der
>nausea<, der Seekrankheit, kommt - und wie lebt es neu in Georges Vers: Selbsterfüllung im dichterischen Wort wird so deutlich, warum Sprache
»Und das Geräusch der ungeheuren See«. Es ist alles andere als eine poetisie- Informationsmittel sein kann, und nicht umgekehrt.
rende Verwendung, die ein Alltagswort hier erfährt. Es bleibt das alltägliche Nur ganz im Vorbeigehen sei die schon oben gestreifte Frage noch einmal
Wort. Aber es ist hier so in Bezüge von Rhythmus, Metrum, Vokalisation aufgenommen, ob nicht das mythische Wort, die Sage, und vielleicht auch
verspannt, daß es plötzlich sagender wird, seine ursprüngliche Sagkraft das philosophische Wort, der spekulative Satz, die Auszeichnung des dichte-
zurückgewinnt. So wird durch das »ungeheuren« das »Geräusch« so ver- rischen Wortes, das Sagende schlechthin zu sein, in Wahrheit teilen. Diese
stärkt, daß es wieder rauscht, und durch die Konsonanz des >R< in »Rausch« Überlegung wird uns zu einem letzten Schritt unserer Darlegung fuhren.
und »-heuren« wird beides weiter miteinander verspannt. Diese Verspan- Das Problem ist deutlich: Sage ist nicht Schrift und nicht Text, wenn sie auch
nungen stellen das Wort gleichsam auf sich selbst und geben es damit für sich in Dichtung hineinspricht und in ihr Textgestalt annimmt. Aber als Sage
selbst frei. Sie lassen es sich mit anderem neu ausspielen - und gewiß nicht, scheint sie überhaupt noch nicht in den Festbestand dichterisch-sprachlicher
ohne daß nicht auch die Sinnbezüge, ζ. Β. der Blick auf die nordische Kohärenz eingegangen, sondern treibt auf einem Weisheitsstrom urtümli-
Meeresküste und ihre südliche Gegenwelt, mitspielten6. Dadurch wird das cher Herkunft hin und her, der sich aus dem kultischen Gedächtnis speist.
Wort sagender, und das Gesagte ist wesenhafter denn je >da<. Wie ich in Gleichwohl scheint es vernünftig, >Sage< in ausgezeichnetem Sinne »Aussa-
anderem Zusammenhang von der Seinsvalenz des Bildes sprach7, sofern der ge< zu nennen. Sie ist es freilich nicht in der sprachlichen Organisation ihrer
durch das Bild Dargestellte durch das Bild an Sein gewinnt, so möchte ich Erzählweise, aber wohl in ihrem Kern, den rufenden Namen, deren geheime
auch von einer Seinsvalenz des Wortes sprechen. Freilich ist da ein Unter- Nennkraft das Erzählen der Sage umspült. Denn in den Namen, scheint es,
schied: Es ist nicht so sehr das Gesagte im Sinne des gegenständlichen liegt die Sage verborgen, die durch das Erzählen herauskommt. Es paßt dazu
Inhalts, das an Sein zunimmt, als das Sein im ganzen. Hier liegt ein wesent- die Tatsache, daß der Name jeweils gleichsam der Nullpunkt der Übersetz-
licher Unterschied zwischen der Weise, wie die bunte Welt sich ins Bildwerk barkeit ist, d. h. der Ablösbarkeit des Sagens von dem Gesagten. Aber was
der Kunst verwandelt, und der Weise, wie das Wort sich wiegt und sich ist der Name anderes als die letzte Verdichtung, in der Dasein auf sich hört.
ausspielt. Das Wort ist nicht ein Weltelement, wie Farben oder Formen es Denn das ist der Name, daß einer oder eine auf ihn hört - und der Eigenname
sind, die zu neuer Ordnung gefugt werden. Jedes Wort ist vielmehr selber als das, was einer ist und den er ausfüllt8. So ist auch das Wort der Dichtung
schon Element einer neuen Ordnung und daher potentiell diese Ordnung sich selbst erfüllend - und steht so wie vor seiner Selbstentfaltung in der
selbst und ganz. Wo ein Wort erklingt, ist eine ganze Sprache aufgerufen und Rede des denkenden Wortes. Das ist die >Syntax< der Poesie, »im Wort< zu
alles, was sie zu sagen vermag - und sie weiß alles zu sagen. So kommt im sein. Die Kohärenzgrade der Worte bestimmen auch die Stufengrade der
>sagenderen< Wort nicht so sehr ein einzelnes Sinnelement der Welt hervor, Übersetzbarkeit (vgl. I. A. Richards).
als vielmehr die durch Sprache erstellte Gegenwärtigkeit des Ganzen. Ari- Wie weit auch die philosophische Aussage solche >Sage< ist, soll hier nicht
stoteles hat das Sehen ausgezeichnet, weil dieser Sinn die meisten Unter- allgemein erörtert, sondern nur im Hinweis auf den »spekulativen Satz<
schiede aufnehme, aber erst recht und mit noch mehr Recht das Hören, weil angedeutet werden. Seine Struktur ist ein Analogon zur Selbstbezüglichkeit,
das Hören auf dem Weg über die Rede schlechterdings alles Unterscheidbare die dem dichterischen Worte eigen ist. Hegel hat das Wesen des spekulativen
aufzunehmen vermag. Das universale >Da< des Seins im Wort ist das Wunder Satzes tatsächlich ganz analog beschrieben und damit nicht etwa nur seine
eigene dialektische Methode im Auge gehabt, sondern die Sprache der
6
Zur Interpretation des George-Gedichts im ganzen siehe >Ich und du die selbe seele< in 8
Ges. Werke Bd. 9, S.245ff. Vgl. MAX WARBURG, Zwei Fragen zum Kratylos. Berlin 1929 (Neue Philol. Untersu-
7
Vgl. »Wahrheit und Methode. (Ges. Werke Bd. 1), S. 139ff. chungen, H. 5).
56 Ästhetik und Wahrheit Von der Wahrheit des Wortes 57

Philosophie überhaupt, sofern sie in ihrer eigentlichen Möglichkeit ist. Er dichterische Wort kann nie aufhören, Rede (oder Stammeln) zu werden, um
zeigt, daß im spekulativen Satz das natürliche Ausgreifen der Rede auf das immer aufs neue seine Sinnmöglichkeiten auszuspielen. Wie anders steht der
Prädikat, das als ein anderes dem Subjekt zugesprochen wird, gleichsam Ton im System der Töne! Wie stellt sich das Bildwerk oder das Bauwerk an
gebrochen wird und einen »Gegenstoß« erleidet9. Das Denken findet im seinen Platz! Im An-sich-Halten und Sich-Verhalten des dichterischen Wor-
Prädikat nichts anderes, sondern das eigentliche Subjekt selbst. So geht die tes scheint mir das Wort seinen Bestand zu haben, und das heißt, hier hat es
»Aussage« in sich selbst zurück, und das ist für Hegel philosophische Rede, seine höchste Möglichkeit. Das Wort erfüllt sich im dichterischen Wort -
daß die Anstrengung des Begriffs an ihrer > Aussage< festhält, indem sie die in und geht in das Denken des Denkenden ein.
ihr gelegenen Momente dialektisch herausarbeitet - das heißt aber, sie
kommt nur immer tiefer in die > Aussage< hinein. Das gilt nicht nur für Hegel
und seine dialektische Methode, daß Philosophie nicht fortschreitet, son-
dern auf allen ihren Wegen und Umwegen zurückstrebt. Die Grenze der
Übersetzbarkeit, die die Verwachsung des Sagens mit dem Gesagten be-
zeichnet, ist auch hier schnell erreicht.
Wir nennen das Sagendsein des Wortes »Halten der Nähe« und sahen, daß
nicht dieser oder jener angebbare Inhalt der Rede nahe ist, sondern die Nähe
selbst. Das ist nun gewiß nicht auf das Kunstwerk des Wortes beschränkt,
sondern gilt von aller Kunst. »The silence of the Chinese vase«, die Stille und
die rätselhafte Ruhe, die einem aus jedem überzeugenden künstlerischen
Gebilde entgegenweht, besagt, mit Heidegger zu sprechen, daß Wahrheit
hier »ins Werk gesetzt ist«, und Heidegger hat uns gezeigt, daß die Wahrheit
des Kunstwerkes nicht die Herausgesagtheit des Logos ist, sondern ein Daß
und ein Da zugleich, das im Widerstreit des Entbergens und des Bergens
steht. Die Frage, die uns hier leitete, war, wie das im Falle des Wort-
kunstwerks im besonderen aussieht, wo doch die Bergung im »Gebilde« der
Kunst das In-der-Sprache-Sein und das Insein des Seins in der Sprache schon
voraussetzt. Die Grenze der Übersetzbarkeit bezeichnet genau, wie weit die
Bergung im Wort reicht. In seiner letzten Verborgenheit ist es das Bergende.
Nur wer in einer Sprache zu Hause ist, vermag die an sich haltende und in
sich stehende Aussage des dichterischen Wortes zu erfahren, die noch ein
anderes Zuhause-Sein im Urvertrauten gewährt. Aber wer ist in einer
Sprache zu Hause? Es scheint, daß das, was die moderne Forschung die
»Sprachkompetenz« nennt, mehr das Außerhause-Sein des Sprechens trifft,
die Unbeschränktheit des Gebrauchs der Rede - und das ist ihr allbereites
Verhallen.
Deshalb scheint mir das dichterische Wort gegenüber jedem anderen
Kunstwerk noch eine zusätzliche Bestimmung zu haben. Nicht nur die
atemberaubende Nähe aller Kunst kommt ihm zu, sondern es muß und es
vermag diese Nähe auch zu halten, das heißt, dem Entgänglichen Halt zu
geben. Denn Reden ist Sich-Äußern und entgeht sich selbst. Auch das

9
Vgl. dazu auch im folgenden den Beitrag >Philosophie und Poesie<, S. 237ff.
Zu Poetik und Hermeneutik 59

die unverwandelte Aufgabe von Verstehen und Auslegen und sehen nur ihre
Erfüllbarkeit skeptisch an, die anderen gehen so weit, die >Vieldeutigkeit<
zum methodischen Grundsatz zu erheben.
Der theoretische Beitrag von Hans Blumenberg über die »Poetisierung der
Sprache< würde dem nicht widersprechen, wenn man das ohnehin Erforder-
6. Zu Poetik und Hermeneutik liche sich zugeben läßt, daß diese Beschreibung von >Poetisierung< durch
>Vervieldeutlichung< den Extremfall der Moderne und die Sprachnivellie-
(1968/1971) rung, die sie vorfindet, allein im Auge hat. Indessen läßt sich auch da noch
zweifeln, ob der Ausgangspunkt von der abgeschliffenen Verkehrssprache
des täglichen Lebens und die >poetisierende< Erhebung darüber je an das
>Wort< der lyrischen Poesie heranführen können. Blumenbergs Beschrei-
Lyrik als Paradigma der Moderne
bung scheint mir zu verkennen, daß die Tendenz auf Eindeutigkeit, die er
Die Forschungsgruppe zur Poetik und Hermeneutik hat in einem ersten der >Wissenschaftssprache< zuschreibt, überhaupt nicht eine >Sprache< be-
Bande das Aufkommen des realistischen Romans, ein Ereignis von epocha- trifft, sondern den winzigen Teil eines Vokabulars, den man Terminologie
ler Bedeutung, vor allem im Spiegel der Romantheorie und des in ihr sich nennt. Das >Grenzereignis< der Unverständlichkeit, das er als Gegenpol
reflektierenden veränderten Wirklichkeitsbegriffs auf lehrreiche Weise dis- beschreibt, ist von dem Fiktionsbegriff einer eindeutigen Sprache her konzi-
kutiert. In einem stattlichen zweiten Band wird die Lyrik als Paradigma der piert. Aber ist das wirklich das >Grenzereignis<? Hat es nicht seine wahre
Moderne behandelt. Wieder ist es ein deutlich sich abzeichnendes Ereignis, Stelle am Ende doch bei dem, was Valéry mit seiner Beschreibung der
das der hermeneutischen Theorie und Praxis die Aufgabe stellt, an Schärfe Sprache als der Scheidemünze des Alltags meint? In dieser Funktion nähert
der Abhebung kaum hinter dem Wandel zurückbleibend, den der Übergang sie sich dem Limes eines >sprachlosen< Zeichen- und Gebärdenaustauschs
vom 18. zum 19. Jahrhundert im Spiegel des Romans darstellte. - Diesmal und ist kaum noch >Sprache<? Es scheint mir nun phänomenologisch ein-
ist es die Veränderung des lyrischen Gedichtes, das aus der abendländischen leuchtend: Wenn man von der >Tausch-sprache< ausgeht, deren Funktion
Kunsttradition in den letzten hundert Jahren mit solcher Schroffheit heraus- mitgetragen ist von einem ganzen Bündel von Verständigungsfaktoren,
drängt, daß der Interpret an die Grenze des hermeneutischen Nihilismus bleibt das eigentliche Wesen der Sprache unterbestimmt. Gewiß heißt das
hinausgetrieben wird. Ist das >moderne< lyrische Gedicht überhaupt noch zu nicht, daß man nun mit Vico die Poesie als die ursprüngliche Sprache einfach
verstehen - oder besser: ist es noch eindeutig zu verstehen? Oder steht es voraussetzen darf, ohne in einen umgekehrten unphänomenologischen
verschiedenen gleichberechtigten Ausdeutungen offen, und das so, daß Dogmatismus zu verfallen. Aber es ist methodisch geboten, solche Funk-
dieselben nebeneinander stehen, ja, ineinander verschränkt sind und eben tionsweisen der Sprache aufzusuchen, die nicht in bloßen Verhaltensbezü-
dies hermeneutische Schillern >meinen<? Denn nicht das, was am Ende jedem gen und nicht im bloßen Übermitteln von Informationen aufzugehen ver-
Kunstwerk gegenüber gilt, daß seine Auslegung unendlich, der Maßstab mögen, z. B. Fluch und Segen, vielleicht auch die Anrufung (nicht nur die
angemessener Deutung ungewiß und alle Interpretation einseitig und über- des Gebets, aber doch als eine, die einem Unsichtbaren gilt - das Sichtbare ist
holbar ist, ist hier der Punkt. Es geht vielmehr um die Frage, ob man so auch durch den Wink erreichbar). Wo Sprache so ist, ist sie von der Verwei-
überhaupt vorgehen darf, daß man einen Maßstab der Angemessenheit sungsfunktion auf etwas, das auch auf andere Weise präsentierbar ist, gelöst
sucht oder voraussetzt, oder ob die hermetische Lyrik der Moderne eine und zeigt sich damit in ihrer Eigenfunktion — und mir scheint, hier liegt der
Inkonsistenz ihres >Sinnes< anstrebt, die die Auslegung zu einem völlig Zugang zur poetischen Sprache. Es mag alles richtig sein, was man im
neuartigen Geschäft macht. Vergleich zur Alltagssprache an ihr hervorhebt, insbesondere ihre Vieldeu-
tigkeit. Aber nicht dadurch wird sie poetisch, daß sie bestimmte >Unreinhei-
Es gehört zu dem besonderen Reiz dieses Bandes, daß er - wie das eben bei
ten< des Alltags abstreift und ihre pragmatische Eindeutigkeit aufgibt. Es ist
lyrischer Poesie am ehesten möglich ist - die theoretische Diskussion an
umgekehrt. Weil sie poetisch ist, tut sie das, d. h. weil sie Selbstpräsentation
einem praktischen Exempel zu erproben trachtet. Die gemeinsame Interpre-
übt, macht sie die Polyvalenz geltend, die an sich zur Sprache gehört. Gerade
tation des Gedichts >Arbre< von Apollinaire bringt die theoretischen Antizi-
das moderne Gedicht ist nur von hier aus angemessen zu beschreiben. Denn
pationen, die die Interpreten bei ihrer hermeneutischen Praxis leiten, glän-
>prosaisch< bis zum Reportagefetzen kann das Wortmaterial eines modernen
zend zum Vorschein. Zwei Fronten zeichnen sich ab: die einen glauben an
Poetik und Aktualität des Schönen Zu Poetik und Hermeneutik 61
60
lyrischen Gedichtes wahrhaftig sein und manchmal von einer geradezu Motivik des Hainbundes, seine genaue Stelle empfängt. Die Fülle des »Rekur-
rüden Eindeutigkeit - und doch >steht< am Ende ein sprachliches Gebilde in renten< unterstreicht jedenfalls, wie wenig es hier um >Poetisierung< der -
sich selbst, unnachahmbar, mit sich übereinstimmend, dem Verstehen eine >unpoetisch< - auf Eindeutigkeit gerichteten Sprache geht, sondern daß es
unausschöpfbare, aber bei aller Polyvalenz eindeutige Aufgabe stellend. sich um eine neue Eindeutigkeit handelt, die das dichterische Wort gewinnt.
Wenn man an das Gedicht von Apollinaire denkt, so ist es freilich zum Ich kann die lehrreichen Beiträge zum »dunklen Stil< der Moderne, die der
Verzweifeln, daß z. B. nicht einmal klar scheint, ob der Freund, der Baum Band bringt, allen doktrinfrommen Versicherungen zum Trotz, die das
oder vielleicht ein >alter ego< mit >tuc angeredet wird. Daß man die Komposi- Unvergleichliche der Moderne gegen das Andere, Ältere, Traditionelle abhe-
tionselemente - die Lyon und Leipzig, Transsibirien und den >schönen ben wollen, in diesem Punkte nur mit Zweifel lesen.
Neger< einschließen - nicht von außen her >verstehen< soll, bedeutet nicht, Das Problem der Moderne scheint mir weit eher ein Problem der Ästhetik
daß das Gedicht so vieldeutig ist, wie es in den vorgelegten Deutungsbeiträ- als ein Problem der Kunst selber. Die eigentliche Problematik einer Ästhetik
gen erscheint. Mir fehlt in dieser Diskussion der Gegenversuch zu all diesen der Moderne, wie sie sich dieser Gruppe von vorwiegend an der Poesie
differenten Beiträgen, nämlich: das, worüber man nicht uneinig war, eigens orientierten Forschern darstellt, sehe ich in der von weither kommenden
herauszustellen. Das hat m.E. am ehesten Henrichs Bemerkung geleistet - Führungsstellung begründet, die die bildende Kunst im ästhetischen Denken
ohne daß deswegen dem »Prima vista<-Eindruck ein hermeneutischer Primat der Neuzeit einnimmt und die der Poetik schwer einzulösende Auflagen
einzuräumen ist. macht. Es ist die griechische Okularität und der Gebrauch, den Plato von den
Jauß' kritische Wendung: als ob es sich um eine >klassische< Kunstform Begriffen >Eidos< und >Mimesis< macht, der das gesamte ästhetische Denken
handelte - und wenn es sich darum handelte? Oder besser: auch wenn die beherrscht. Nun ist aber Sprache nicht in der gleichen Weise »Material· wie
Flucht aus dem Vorgeformten mit dem Grenzereignis der Unverständlich- Marmor und Bronze oder Zeichnung und Farbe, aus denen die optische Welt
keit ihr Spiel zu treiben beginnt und wenn das Zwielicht der Deutungsmög- wie die Bildwelt der Kunst sich aufbaut. Gewiß ist auch dies nicht ein »totes«
lichkeiten barocke Effekte anstrebt, ist das wirklich >der< Fall der modernen Material. Denn es gibt eine Geschichte des Sehens und der ihm zugeordneten
Lyrik und ließe deren Wesen erkennen? Das wäre genauso, wie wenn man optischen Reizwerte und Bildwirkungen, und mit dieser Geschichtlichkeit
Vasarely für >die< moderne Malerei erklärte. Und selbst dann: der Reiz auch den Rhythmus von Abnutzung und Kontrastempfindlichkeit, der das
solcher verunsichernder Überschneidungsphänomene, wie sie bei Vasarely künstlerische Schaffen wie die Geschichte des Geschmacks durchzieht. Aber
das Alphabet bilden, macht als solcher noch kein Bild. Sonst böte ein Lehr- das optische »Material· läßt sich gleichwohl ganz und gar zum Material
buch der Gestaltpsychologie einen Kunstgenuß. Die hermeneutische Aufga- bildnerischer Komposition machen. In Malerei und Plastik ließ sich die
be gegenüber Bild und Gedicht, die mit solchen Reizeffekten arbeiten, Vorgeformtheit durch die Inhaltsgebundenheit der Bildtradition völlig auf-
besteht eben gar nicht in der deskriptiven Erfassung dieser Reize, sondern in lösen oder wenigstens ganz zum Verschweben bringen, bis zur beliebig
der deskriptiven Auslegung dessen, was ein mit solchen Reizwirkungen gewordenen Bild-Unterschrift der Moderne. Eine entsprechend weite Ablö-
arbeitendes Bild zum Bild und das Gedicht zum Gedicht'macht. Das scheint sung der Sprache von ihren gegenstandsbedeutenden Bezügen scheint dage-
mir keine >klassische< Voraussetzung, die nicht mehr gilt, sondern die Impli- gen nicht möglich.
kation der Sinnerwartung, die mit jedem Sprachgebilde, ja mit jedem An- Die Komposition aus Bedeutungsfetzen, die das dunkle Gedicht der Mo-
spruch auf >Kunst< wie eh und je gegeben ist. derne charakterisiert, ist zwar auch so etwas wie ein Verschweben aller
W. Preisendanz' Trakl-Interpretation mischt ein anderes Problem ein, das gegenständlichen Bedeutungen, und gewiß reicht die Gemeinsamkeit aller
ähnlich liegt: die Variation und Neuverdichtung von dichterisch Vorgeform- Kunstarten weit - weiter, als wir je heute erkennen. Aber es geht um
tem, die bis zum Zitat als Element neuer Gestaltung gehen kann (E. Pound). ästhetische Theorie und die Unangemessenheit, die der Begriff des Materials
Hier wird man zustimmen, daß >Bedeutung< nicht auf ein Gemeintes hinaus- und seiner Formung dort erhält, wo diese Formung immer schon im Gange
deutet, und festhalten, daß die Eindeutung des neuen >Gebildes< durch solche ist, im Redegebrauch und in der Allintegration alles Gesagten und aller
Vorformungen nicht beeinträchtigt wird. Und gerade Preisendanz' Nach- Sagweisen in den >Geist< der Sprache. Hier spielt die Bedeutung des Vorge-
weis des Einflusses Heines auf den frühen Trakl - und die nicht mit Namen formten eine fundamentale Rolle. Mag Kunst sonst auch ohne den Begriff der
genannte, aber geradezu überdeutliche Vorprägung eines Gedichtes wie Mimesis deutbar und denkbar sein - Sprache ist es gewiß nicht. Wir lernen
>Verfall< (1913) durch den >Ton< Stefan Georges - lassen den späteren eigenen sprechen durch Nachsprechen und werden aus dieser Lehre unser Leben lang
Ton Trakls zur Abhebung gelangen, in dem alles Vorgeprägte, auch die nicht entlassen. Daher scheint es mir nicht nur ein Rhythmus von Abnutzung
62 Poetik und Aktualität des Schönen Zu Poetik und Hermeneutik 63

und Kontrastempfänglichkeit, der das Dichten durchwaltet, diese ständig Um das aus Hegels Ansatz zu gewinnen, prägt Henrich den Begriff der
sich mehrende Exempel-Sammlung von Sprache, die im Diktat der Dichter »unvordenklichen Vermittlung von Sein und Selbst«. Aus ihm folgert er den
angelegt wird, sondern ineins damit eine beständige Bewegung wachsender partialen Charakter der modernen Kunst. In ihr vereinige sich der Darstel-
Vertraulichkeit und des Zuhauseseins. Obscuritas ist selbst nichts anderes als lungsanspruch der platonischen Tradition - allerdings so, daß nicht mehr das
die Einladung zu solcher Einhausung. Offenbar hat Sprache einen anderen, Wesen zur Erscheinung komme - mit dem reinen Vollzugscharakter des
innerlicheren Bezug zu Memoria als alles Optische. Zwar zeigt auch ein lang Schaffens, an dem sich die positivistische Ästhetik orientiert habe. Als unvor-
betrachtetes Bild, wenn man es nach Jahren oder Jahrzehnten unerwartet denkliche Einheit von Selbst und Sein nimmt sie weder die Selbstbewegung
wiedersieht, eine mächtige Vertrautheit, genau wie das Wiedersehen mit des Selbst noch eine vorfindliche Wirklichkeit beruhigt in Anspruch, son-
einem Menschen, mit einer Stadt, mit einer Landschaft. Aber das alles ist dern deckt die Problematik auf, die das Selbstsein sich selber ist. Das wird an
Wiedersehen. Dagegen ist das Gedicht und das sprachliche Kunstwerk über- modernen Gestaltungsformen illustrierbar, etwa der Erzählung, die rein als
haupt, als der gehörte oder gelesene Text, immer schon beim ersten Hören innere Bewegung der Subjektivität vor sich geht, ohne den »Weg über die
oder Lesen so etwas wie Wiedererinnerung für jedes einzelne Wort. Das will zweite Wirklichkeit der Dinge«, oder umgekehrt an der Tendenz, alle Wirk-
sagen, das Wort ist immer schon in den Schatzhäusern der Memoria zu lichkeit ins Selbst zurückzuführen, wie ζ. Β. in den Collagen. Die Reflektiert-
Hause und hat dort eine Stelle, die es nie verläßt: die Stelle des Denkens. heit wird eine Reflektiertheit des Kunstwerkes selber, indem es sich selbst
Poesie ist als Kunst des Wortes auf eine andere Weise Kunst als die anderen zum Thema hat.
Künste, und Poetik ist in einem anderen Sinne Kunstlehre. Poesie, auch die Nun geht Henrich nicht so weit, die neue Potentialität, die in das Kunst-
unverständlichste, ist im Begreifen und für ein Begreifen da. Darauf beruht werk der Moderne eingedrungen ist, von allen Formbedingungen loszu-
der enge Bezug von Poesie und Philosophie1. Er scheint mir für die Ästhetik sprechen, die von jeher und überall die künstlerische Qualität ausmachen. Er
noch längst nicht genügend ausgewertet. Er wird mindestens im Gebrauch nennt als solche beständigen Konnotationen des Kunstcharakters des Wer-
der Begriffe nicht fruchtbar. Das gilt auch und gerade für Hegels Ästhetik. kes: Ruhe, Ordnung, Gefugtsein der Dinge zur Einheit von Leben und Sinn,
Ihr hat Henrich einen höchst anregenden und originellen Beitrag gewidmet, Harmonie, Versöhnung. Aber die Kunst der Moderne gelte der Anstren-
in dem Bestreben, Hegels Ästhetik auf die Moderne anwendbar zu machen - gung der Form gegen sich selbst. »Formbrüche werden so zum Komposi-
oder besser: von der Moderne aus umzudenken. tionsprinzip« (30). Das leuchtet deskriptiv ein. Trotzdem muß ich gestehen,
Henrich geht von dem Doppelmotiv der Hegeischen Ästhetik aus, einer- daß die theoretische Bedeutung dieser modernen Formen von Kunst mir
seits den Vergangenheitscharakter der Kunst nur in dem Sinne zu lehren, daß nicht ganz so groß erscheint. Am Ende sind die Elemente einer jeden
die Kunst nicht mehr die höchste Darstellung der Wahrheit sei, da diese im künstlerischen Schöpfung immer so geplant gewesen, daß sie eine Reizwir-
christlichen Glauben und Denken ihre eigentliche Heimat gefunden habe. kung ausüben sollten, und alle Reizwirkung untersteht gewissen Gesetzen
Das bedeute aber andererseits, daß Kunst etwas anderes werde, nachdem die der Abstumpfung, des Kontrastes, des Anklangs, der Gesuchtheit und
Versöhnung von Sein und Selbst im spekulativen Begriffe geschehen" sei. Im Erlesenheit. -Kurz, die Wandelbarkeit der Reizvalenz gehört zum Wesen des
Besitze der vollendeten Selbstgewißheit des Geistes sei die Kunst notwendig Reizes. So ist die Moderne von der Besonderheit der Mittel her, durch die sie
etwas Neues: die Selbstbewegung und der Selbstgenuß des Geistes ergehe ihre Reizwirkung erzielt, recht gut beschreibbar. Aber mögen dieselben
sich in der spielenden Darstellung im Medium der Anschauung. Das sei die noch so wenig herkömmlich sein - wie daraus Kunst wird und was Kunst
Gegenwart und Zukunft der Kunst. Dieses prognostische Motiv liege auch in ist, scheint mir nicht anders als ehedem. Preisendanz' besorgte Frage, was
Hegels Ästhetik und sei eines Ausbaus fähig, der nicht Rücken oder Over- aus der älteren Kunst werde, scheint mir nur allzu berechtigt, wenn man die
beck, sondern die heutige >Moderne< zu begreifen gestatte. Die Moderne sei hier vertretene Theorie der Moderne hört - und ist doch in Wahrheit
in einem bedingten Sinne wirklich etwas Neues gegenüber der klassischen gegenstandslos. Auch Henrich hat den Begriff der Moderne angesichts
Tradition der Kunst - wie ja auch die Philosophie nicht mehr dieselbe sein dieser Frage ins Unbestimmt-Unendliche erweitern müssen.
könne nach Hegels Vollendung des spekulativen Idealismus. Die Moderne So bin ich im Zweifel, ob Henrich nicht besser getan hätte, an Schelling
sei aber bei aller Neuheit die klare Erfüllung dessen, was seit Hegels und anzuknüpfen, dem er jedenfalls die Rede von der Unvordenklichkeit ver-
Goethes Tod angehoben habe. dankt und der in der Kunst das Organon der Philosophie sah. Hegels höchst
beiläufige Prognose der zeitgenössischen Kunst scheint mir jedenfalls ein zu
1
Siehe dazu im vorangehenden >Dichten und Deuten< (Nr. 3).
64 Poetik und Aktualität des Schönen Zu Poetik und Hermeneutik 65
2
schmaler Ausgangspunkt für eine Aktualisierung Hegels . Das Schwerge- Die nicht mehr schönen Künste
wicht von Hegels Ästhetik liegt im Begreifen der Kunst als einer Gestalt der
Wahrheit - oder besser: als einer Gestaltenfolge, d. h. als Differenzierung Der Titel >Die nicht mehr schönen Künste< ist ein Programm, ja eine
und Integration der »Weltanschauungsweisen« in einer philosophischen Provokation. Es spricht sich in ihm die Tendenz aus, den Begriff des
Geschichte der Kunst. Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst ist keine Ästhetischen und den herkömmlichen Begriff der Kunst aufzugeben, um
historische These, sondern eine philosophische Wahrheit, deren begriffliche den Phänomenen der Gegenwart eine neue Gerechtigkeit zuteil werden zu
Implikationen man entfalten sollte. Dabei scheint sich mir ein Gesichtspunkt lassen.
zu ergeben, der besser geeignet ist, Hegels Ästhetik über sich selbst hinaus zu Die nicht mehr schönen Künste: der Auftakt des Bandes ist von der an
steigern und für die Moderne zu aktualisieren. Ich meine die bei Hegel seinem Ende sichtbaren Tendenz denkbar weit entfernt. Zwei gelehrte
anklingende, aber nicht wirklich durchgeführte Beziehung von Poesie und Referate von Gerhard Müller und Manfred Fuhrmann gehen dem Häßli-
Philosophie. chen, insbesondere dem Ekelhaften und dem Grausigen, in der antiken
Literatur nach. In der Diskussion wird die Tendenz deutlich, die ästhetische
Offenbar gilt für die Poesie der Vergangenheitscharakter der Kunst nicht
Integration, die diese Grenzphänomene des Ästhetischen auf die Mitte des
ganz im selben Sinn wie für die griechische Skulptur. Die Argumente des
Kunstwerks bezieht, nach Kräften abzubauen und eine Art Vorstufe zu den
Klassizismus treffen auf sie nicht recht zu. Hegel hat immer die Kunstreli-
nicht mehr schönen Künsten zu gewinnen. In Wahrheit ist es für die Klassi-
gion der Griechen in erster Linie im Auge, indem er an Winckelmann denkt,
ker, für Homer, Aischylos, Sophokles, höchst bemerkenswert, wie groß
obwohl doch nach seiner eigenen Theorie Malerei, Musik und Poesie - in
der Spielraum ist, innerhalb dessen der Kanon des Schönen, Vornehmen,
dieser Folge - den Vorrang erhalten. Man kann sich fragen, ob das den
Heldischen oder Göttlichen durch das Häßliche, das Grausame, das Grausi-
Vergangenheitscharakter dieser Künste und vor allem den der Poesie nicht
ge grundiert und variiert werden kann. Noch viel mehr gilt das bekanntlich
modifizieren muß. Wenn man anerkennt, daß der Begriff und damit das
von der Alten Komödie, die aus dem Häßlichsten eine göttliche Heiterkeit
philosophische Wissen der Maßstab aller Wahrheit ist, so liegt darin, daß das
hervorzauberte. Offenkundig ist es für das Verständnis dieser Phänomene
Wort der Dichtung kraft seiner impliziten Begriölichkeit dem philo-
notwendig, die platonisch-aristotelische Moralisierung (und was ihr durch
sophischen Begriff besonders nahe ist. Die Hierarchie der Künste ist keine
die christliche Überlieferung hindurch entspricht) abzustreifen. Das war
beliebige. Sie begründet auf ihre Weise den Maßstab für Wahrheit mit, der
insbesondere die Forderung von Gerhard Müller, und die Diskussion ging
hier gilt. Das wird.bei Hegel greifbar genug. Wenn es auch meist Shakespea-
entsprechend um den >theologischen< Sinn der griechischen Dichtung und
re ist, an dem sich für ihn die Wahrheit der Dichtkunst dokumentiert - auch
die Frage, wie es zur Freisetzung des Häßlich-Realistischen kommt. Die
als »objektiver Humor«, dessen Bedeutung Henrich so stark anhebt - , so
genauere theologische Deutung des Problems blieb reichlich kontrovers,
bleibt doch die Nähe von Wort und Begriff eine allgemeine Auszeichnung
vor allem zwischen Blumenberg und Taubes. - Der zweite Beitrag, gediege-
der Poesie. Wie hier mit einem geistigen Zeichenmaterial von verschweben-
ne Einzelstudien zur silbernen Latinität, die Manfred Fuhrmann vorlegte,
der Sinnlichkeit gearbeitet wird, ohne daß deswegen auch die Bedeutungen
gab wohlabgewogene Feststellungen über das Ekelhafte und Grauenhafte,
verschweben, wäre wert, einmal als Gegenmodell gegen die Bildbegrifflich-
wie es vor allem in der römischen Literatur begegnet. Für das Problem der
keit, die die Ästhetik beherrscht, ausgewertet zu werden.
nicht mehr schönen Künste scheint mir das gar nichts herzugeben. Es kann
Besonders interessant bildet sich in der Diskussion die Frage ab, die den nur ein eingefleischter Klassizismus und eine entsprechende Deformation
theoretischen Avantgardismus der romantischen Poetik und die praktische des Christlichen sein, die hier Schwierigkeiten entdecken. Formuliert man
Rückständigkeit der romantischen Poesie angeht. Aber auch hier kann ich die Alternative: entweder ist das alles >theologisch< bzw. sozialkritisch ge-
den Zweifel nicht unterdrücken, ob nicht die offene Virtualität begrifflicher meint - ζ. Β. Lucans >Pharsalia< oder die christlichen Märtyrergreuel - , oder
Aussagen einen Effekt erzielt, der zu Unrecht als ein Vorsprung der Theorie es ist ästhetisch integriert, so gibt man jede vernünftige Einsicht aus der
wirkt. Gemeintes ist immer unbestimmt und daher mannigfacher Ausfül- Hand. Offenbar ist es selbst für einen historisch geschulten Verstand nicht so
lung fähig - das Ausgeführte dagegen ist fixiert und damit dem Veralten leicht, die eigenen wohlanständigen Begriffe zu suspendieren und das Bäu-
stärker preisgegeben. erlich-Selbstverständliche mit all seinen Metamorphosen so selbstverständ-
lich zu finden, wie es ist. Mit dem aktuellen Thema >Die nicht mehr schönen
2
Vgl. dazu die beiden Hegel-Beiträge dieses Bandes (Nr. 18 und 19), die die These Künste< hat das alles wenig zu tun.
vom Vergangenheitscharakter der Kunst in ihrem Kontext thematisieren.
66 Poetik und Aktualität des Schönen Zu Poetik und Hermeneutik 67

Das zweite Thema war die Illegitimität des Lehrgedichts. Fabian stellt Historismus die völlige Verbannung des Zufalls zuschreibt. Hier scheint mir
höchst überzeugend dar, wie die aristotelische Verweisung des Empedokles eine ehedem gewonnene, vor allem von Erich Rothacker zur Geltung ge-
aus der Gattung des Epischen und wie der aristotelische Mimesis-Begriff die brachte Erkenntnis über die geheime Verwandtschaft zwischen den feindli-
poetische Anerkennung des Lehrgedichts erschweren und wie die Theorie chen Brüdern Hegel und die historische Schule zu einer falschen Selbstver-
hier erst mit der Renaissance-Poetik ins Freie gelangt. Man darf wohl ständlichkeit zugespitzt.
folgenden Schluß ziehen: Mag das Lehrgedicht auch ein Grenzphänomen Es hegt wohl weniger an den >Vorlagen< als an der Fragestellung selber,
des Ästhetischen sein, so ist es doch von großer Beliebtheit und verweist daß man aus der Diskussion über die Rolle des Zufalls in der Geschichte
dadurch indirekt darauf, daß >Kunst< gar nicht so >rein< ästhetisch ist, auch nicht recht klug wird. Was >Zufall< ist, wird hier wie eine klare Entität
wenn sie noch >schöne Kunst< ist. behandelt. Der >reine Zufall« wird auf so absurde Weise allem Verursachten
Ein bevorzugtes philosophisches Interesse darf das dritte Thema bean- entgegengesetzt, daß er dann natürlich aus dieser künstlichen Reinigkeit
spruchen: das Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie. Die Vorlage befreit werden muß. So wird er bei Herodot als bloße poetische Aus-
Kracauers diskutiert die Problematik der allgemeinen Geschichte gegenüber schmückung anerkannt oder weil er nur in bestimmter Perspektive Zufall sei
der Tatsache, daß >spezielle< Geschichtsdarstellungen den Ansprüchen ge- und >eigentlich< die Dinge doch recht wohlverständliche Ursachen hätten -
lehrter Forschung besser entsprechen. Im Gegensatz zu der bekannten Cro- oder gar: daß die Dinge auch ohne den Zufall so gekommen wären, wie es zu
ceschen Kritik an dem Geschichtsanspruch aller Geschichte, die speziell und erwarten war. Hier hätte die Erinnerung an die Analyse des Zufalls in der
nicht Universalgeschichte ist, verfolgt Kracauer die genau umgekehrte Per- Aristotelischen >Physik< vor einem solchen abstrakten Zufallsbegriff warnen
spektive. Weil im engeren Fragebereich einer >speziellen< Geschichte die sollen, der weder eine ästhetische noch eine geschichtliche Realität hat,
Determinanten eher überschaubar und nachprüfbar sind, erscheint diese als sondern allein die gespenstische einer schlechten und unwirklichen Abstrak-
wissenschaftlich legitim, während die allgemeine Geschichte sich als eine tion. Zufall wird immer nur in ursächlich verständlichen Zusammenhän-
bloße ästhetisch aufgehöhte Erzählung darstellt. Aber hat Croce am Ende gen, als eine Art akzidenteller Ursache, gedacht werden können.
nicht doch recht? Ist nicht, was uns bei einer speziellen Geschichte, die ein In welchem Sinne zeigt sich nun hier das Ästhetische als Grenzerschei-
partikulares Thema verfolgt, überhaupt von »Geschichtet reden läßt, doch nung der Historie? Es ist doch wohl die alte Kritik, die schon Graf Yorck an
am Ende weniger die >logische< Datenfolge einer Entwicklung, z.B. der Ranke geübt hat, daß ihm »nichts zu Wirklichkeiten zu werden vermochte«.
eines Stils, als eben das zeitliche Moment darin, um dessentwillen sie, ob Das tritt im Gegensatz zu der moralischen Paradigmatik, die im Zeitalter der
>general< oder >particular<, ohne das erzählende »Und nun ...« nicht aus- Aufklärung den >Geschichten< zukam, als das Eigene des Historismus her-
kommt? Es scheint mir eine seltsame Folge der positivistischen Wissen- aus, daß »die Geschichte« zwar von allen ideologischen Endgedanken, die
schaftstheorie, daß hier das essentiell Geschichtliche ganz ins Ästhetische der kritischen Auflösung verfallen sind, befreit wird - so daß jede Erschei-
abgedrängt wird. Doch sei ausdrücklich gerühmt, daß Kracauer bei aller nung und Epoche unmittelbar zu Gott ist - und daß eben damit die Einheit
Problematisierung der >general history< nicht blind dagegen ist, daß sie eine der Geschichte nur mehr eine ästhetische Konsistenz behält. Das bedeutet
legitime Bedeutung für >non historical ends< besitzt. Nur freilich: Was wären aber, daß die essentielle Inkonsistenz, die dem Lauf der Geschichte zu-
>historical ends<? >Means<? kommt, ästhetisch verdeckt wird. Jauß sagt in der Diskussion: »Hier erweist
Die Vorlage Kracauers wird eingerahmt von zwei Beiträgen von Histori- es sich, daß - entgegen der ursprünglichen Fragestellung des Kolloquiums -
kern. Christian Meier schildert Herodots >religiöse< Gelassenheit, mit der er nicht der Zufall (fortuna) im historiographischen Kontext, sondern gerade
im großen Geschehen der Perserkriege sowohl der Notwendigkeit als dem das »Ausräumenjeder Zufälligkeit« als ästhetische Grenzerfahrung im Histo-
Zufall ihr Recht läßt, und nennt das »Deckungslücken im historischen rischen angesehen werden muß.« Dieser Satz legt die falsche Abstraktheit
Haushalt«. Aber was heißt hier eigentlich >religiös<? Taubes hat fur Herodot des rahmenbildenden Begriffs des Zufalls bloß: Ohne die teleologischen
mit Recht Zweifel an der Angemessenheit dieses Begriffs geäußert. - Rein- Vorbegriffe des Verstehens - den »Lauf der Dinge«, das »Heil«, den »Endzu-
hard Koselleck prüft (an dem nicht ganz so großen Gegenstand des Histori- stand«, die Entfaltung der kreatürlichen Möglichkeiten, die Kontinuität des
kers Archenholtz) den Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschrei- Bewahrens, oder auch die »klassenlose Gesellschaft« oder den Staat ohne
bung - mit feinem Sinn für den Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert. Etwas Herrschaft - hat die ganze Rede vom Zufall überhaupt keinen bestimmten
verblüffend ist, daß er für den Historismus des 19. Jahrhunderts nur an die Sinn mehr, und »Zufall« hat jedenfalls nicht den, das Ursachlose schlechthin
Geschichtstheologie (Hegels und Droysens) denkt und demzufolge diesem zu sein.
68 Poetik und Aktualität des Schönen Zu Poetik und Hermeneutik 69
Was man den weiteren Verhandlungen entnimmt, vor allem, wenn man sten, die sich hier auf Hegel berufen) nimmt die grundsätzliche Bedeutung
die Beiträge von Jauß und Taubes zur christlichen Ästhetik oder die Beiträge von Hegels Satz, der die gesamte nachklassische Kunst mitmeint, nicht ernst
von Hempel, Tschizewskij, Rotermund, Dieckmann, Maurer liest, scheint genug.
mir in der Tat der eigentlichen Frage des Kolloquiums nicht recht zu
entsprechen. Die nicht mehr schönen Künste von heute werden aus der
Geschichte der abendländischen Kunst, wie sie uns hier vor Augen gerückt
wird, nicht verständlicher. Was überall siegreich bewiesen wird, ist ledig-
lich, daß es allerhand Kunst und Kunsttheorie gab, die außerhalb eines
klassizistischen Schönheitskanons beheimatet ist. Aber wer hat das eigent-
lich bezweifelt? Auerbachs Mimesis-Forschung ist offenbar auf fruchtbaren
Boden gefallen. Indessen scheint mir die Problematik der nicht mehr schö-
nen Künste von heute dadurch nicht recht geklärt. Überdies ist die begriffli-
che Basis oft recht schwankend und läßt einen im unklaren, was eigentlich
hier der Begriff des Ästhetischen meint. So etwa bei der Erörterung der
mittelalterlichen Obszönität. Das »reine Wesen des Obszönen« kommt mir
abermals wie ein Begriffspopanz vor, den es nicht gibt. Die Frage »Läßt sich
das Obszöne ästhetisieren?« scheint mir merkwürdig. Ist nicht das Obszöne
als Inhalt der Aussage - und erst recht der obszöne Witz - schon immer
ästhetisch?
Andere Beiträge, die folgen, kommen der angestrebten Aktualität wohl
näher, insbesondere die Beiträge von Preisendanz, Marquard, Iser und
Imdahl. So sind Heines >Reisebriefe< in der Tat ein neues »Genre«, in dem
sich »keine integrale Einheit einer Kunstwelt ausbreitet«, so sehr sucht
Heine sein politisches Wollen in seine Schriftstellerei einzuweben. Preisen-
danz' Analyse dieser Einwebungen macht indirekt deutlich, welche Höhe
der Kunst Heine dabei erreicht. Preisendanz tut m. E. recht, sich hier gegen
die Rede von Grenzphänomenen des Ästhetischen zu wehren. Wo soll
eigentlich das Kernland des Ästhetischen liegen? Im französischen Klassizis-
mus?
Mir scheint, am ehesten in dem, was Hegel die >Kunstreligion< nannte,
d.h. bei den Griechen, die die volle Äußerlichkeit und Sichtbarkeit des
Göttlichen erreicht hatten. Man mag es auch Darstellung der >heilen Welt<
nennen. Aber für die Hegeische Theorie der romantischen Kunst, die »die
Äußerlichkeit sich frei ergehen« läßt (und das heißt: die kein Ideal kennt), ist
damit eben der Vergangenheitscharakter der Kunst gegeben. Es scheint mir
nicht berechtigt, den Begriff der >nicht mehr schönen Künste< von dem einen
Gesichtspunkt der Auflösung der Genieästhetik aus festzulegen. Entweder
ist mit Hegels Parole vom Vergangenheitscharakter der Kunst das Ende der
klassischen Kunstreligion gemeint - und das entspricht dem stofflichen
Umkreis der hier vorgelegten Studien -, oder es ist die >Moderne< der
nachhegelschen Epoche gemeint. Dann aber ist Hegels Theorie der romanti-
schen Kunstform nicht mehr der rechte Rahmen. Marquard (wie die mei-
Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit 71

heit bestätigt der Einwand die Selbstverständlichkeit ihres Anspruchs. Wer


lügt, will, daß man ihm glaube. Der Dichter erhebt seinen Anspruch auf-
grund seiner Kunst, und seine Kunst ist die der Sprache.
Was Sprache überhaupt ist und was den sprachlichen Kommunikations-
vorgang ausmacht, wird nun gewiß auch für den besonderen Fall von Sprache
gelten, den man Dichtung nennt. Ich möchte aber auch das Umgekehrte
7. Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche behaupten, nämlich daß Dichtung in einem eminenten Sinne Sprache ist.
nach der Wahrheit Wenn man das überzeugend machen will, muß man freilich an der Sprache,
die wir täglich sprechen, eine andere Seite ins Licht rücken als die des bloßen
(1971) Informationsaustausches. Die Art, wie wir die Möglichkeit des Miteinander-
sprechens wirklich wahrnehmen, ist, daß wir einander etwas sagen. Das ist
ein Sprachvorgang, der gegenüber allen Formen bloßer Informationsüber-
mittlung - die auch durch >Zeichen< geschehen kann - ausgezeichnet ist. Daß
Der klassische Titel für die Überlegungen, die wir dieser Frage widmen, jemand einem anderen etwas sagt, ist nicht schon dann der Fall, wenn der
stammt von Goethe, und gewiß ist schon bei Goethe das Verhältnis der beiden sogenannte Rezipient da ist, welcher die Information aufnimmt. Was darüber
Begriffe >Wahrheit< und >Dichtung< kein bloßes Gegensatzverhältnis, son- hinaus verlangt ist, ist vielmehr die Bereitschaft, sich etwas sagen zu lassen.
dern es ist eine Interferenz beider im Spiel. Er betitelt so seine Selbstbiographie Nur dadurch wird das Wort sozusagen verbindlich, d.h., es verbindet den
und meint damit nicht nur die dichterischen Freiheiten, die er sich im Erzählen einen mit dem anderen. Das geschieht überall dort, wo wir miteinander
seines Lebens nimmt, sondern gewiß auch den positiven Anteil, den die sprechen, uns auf ein wirkliches Gespräch miteinander einlassen.
dichterische Erinnerung für die Wahrheit hat. Vollends gilt das für die frühen Was ist eigentlich vorausgesetzt, wenn einer sich etwas sagen lassen kann?
Zeiten der Kultur, insbesondere die Epoche der epischen Poesie der Völker, Offenbar ist die oberste Bedingung dafür, daß er nicht alles besser weiß und
daß der Wahrheitsanspruch der Dichtung ganz unumstritten ist. Herodot daß ihm etwas, was er zu wissen meint, fraglich zu werden vermag. In der Tat
sagt: Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben - so beruht die Möglichkeit des Gesprächs auf dem wechselseitigen Zuspiel von
selbstverständlich war es noch fur einen Schriftsteller an der Schwelle der Frage und Antwort. Nun gibt es überhaupt keine Aussage, die nicht ihren
Aufklärung, daß diese frühe griechische Poesie den Wahrheitsgehalt religiö- letzten Sinn, d. h. das, was sie einem sagt, von der Frage her empfängt, auf die
ser Erkenntnis besitze. Oder bezeugt sich in dem Satz des Herodot schon ein sie eine Antwort gibt. Das nenne ich den hermeneutischen Charakter des
erster Zweifel? Nun, jedenfalls hat sich in der klassischen Ästhetik das Sprechens: Wir übermitteln einander im Sprechen nicht wohlbestimmte
Belehren neben dem Erfreuen in voller Geltung erhalten, und das bleibt, bis in Sachverhalte, sondern versetzen unser eigenes Trachten und Wissen durch
unser neuzeitliches Wissenschaftsdenken hinein, gültig - wenn heute nicht das Gespräch mit dem anderen in einen weiteren und reicheren Horizont. Jede
mehr in der naiven Lernbereitschaft früher Epochen, so doch in einer reflek- verständliche und verstandene Aussage wird in die eigene Bewegtheit des
tierten und indirekten Weise. Fragens hineingeholt, d.h. als eine motivierte Antwort verstanden. Sprechen
Was mir unbestreitbar scheint, ist, daß die dichterische Sprache ein beson- istMiteinandersprechen. Getroffenwerden von einem Wort oder harthöriges
deres, ihr ganz eigenes Verhältnis zur Wahrheit hat. Das zeigt sich einmal da- Vorbeihören an dem gesagten Wort - das sind die eigentlichen Spracherfah-
rin, daß sie nicht zu jeder Zeit jedem beliebigen Inhalt angemessen ist. Aber rungen.
auch darin, daß dort, wo ein solcher Inhalt dichterische Wortgestalt annimmt, Aber es gibt noch eine andere Erfahrung von Sprache, die einen ausgezeich-
er damit eine Art Legitimation erfahrt. Es ist die Kunst der Sprache, die nicht neten Charakter besitzt, und das ist die Erfahrung von Dichtung. Hier haben
nur über das Gelingen oder Mißlingen der Dichtung entscheidet, sondern wir eine ganz andere hermeneutische Situation. Wer ein Gedicht verstehen
auch über ihren Anspruch auf Wahrheit. Gewiß, »die Dichter lügen viel« - will, meint nur das Gedicht selbst. Solange es gegenüber einem Gedicht ein
dieser alte platonische und naive Einwand gegen Dichtung und Dichter und Zurückfragen auf einen Sprechenden gibt, der damit etwas meint, sind wir
ihre Glaubwürdigkeit stellt sich dem Glauben an die Wahrhaftigkeit der überhaupt noch nicht bei dem Gedicht. Wir wissen alle aus eigener Erfahrung,
Kunst entgegen und scheint gegen den Glauben an die Wahrheit der Kunst zu was für ein fundamentaler Unterschied zwischen einem wirklichen Gedicht
sprechen. Doch will dieser Wahrheitsanspruch nicht verstummen. In Wahr- oder etwa jenen mehr oder minder gut gemeinten Formen dichterischer
72 Poetik und Aktualität des Schönen Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit 73

Mitteilung besteht, die junge Leute aus vollem Herzen zu Papier zu bringen Möglichkeit, die uns geschenkt ist, unsere Gedanken zu verbergen. - Dieser
pflegen. Daist gewiß Echtheit und drängende Macht des Empfindens, wenn erste Sinn von Wahrsein meint also, daß man das Wahre sagt, das heißt, das
einer ein Liebesgedicht schreibt, und ein solches Versgebilde ist aus seiner sagt, was man meint. Er ergänzt sich aber, und insbesondere im Sprachge-
Motivation bestens verständlich. Dagegen sind der Dichter und das Gedicht, brauch der Philosophie, durch den anderen Sinn, daß eine Sache das >sagt<, was
die solchen Namen verdienen, von allen Formen motivierten Redens wesen- sie >meint<. Wahr ist, was sich als das, was es ist, zeigt. Wenn wir etwa sagen
haft unterschieden. Es kommt niemandem in den Sinn, wenn er ein Gedicht >echtes Gold<, dann meinen wir: Das blitzt nicht nur so wie Gold, das ist Gold.
liest, verstehen zu wollen, wer da etwas sagen möchte und warum. Hier ist Wir können dafür auch sagen, es sei >wahres< Gold, und der Grieche sagt in
man ganz auf das Wort, wie es da steht, gerichtet und empfängt nicht eine diesem Falle >alethes<. Noch besser entspricht dem in unserem eigenen
Mitteilung, die von diesem oderjenem in dieser oder in einer anderen Form zu Sprachgebrauch, wenn wir von jemandem sagen, er sei ein >wahrer Freund<.
einem gelangen kann. Das Gedicht steht vor uns nicht als etwas da, womit Wir meinen damit, er sei einer, der sich als Freund bewährt hat, der einem
jemand etwas sagen möchte. Es steht in sich da. Dem Dichtenden wie dem nicht nur den Anschein freundschaftlicher Verbundenheit und Gesinnung
Aufnehmenden steht es in gleicher Weise gegenüber. Abgelöst von allem entgegenbrachte. Es hat sich vielmehr herausgestellt, daß er ein wirklicher
Meinen ist es ganz, ganz Wort! Freund ist, »unverborgen«, wie Heidegger sagt. In diesem Sinne frage ich
Fragen wir, in welchem Sinne an einem solchen Wort Wahrheit sein kann. nach der Wahrheit der Dichtung.
Das dichterische Wort ist offenbar von der Art, daß es einzig und unaus- Was ist mit der Sprache geschehen, wenn sie Sprache der Dichtung ist? Was
tauschbar ist. Nur dann nennen wir etwas ein Gedicht. Wo uns das nicht so kommt an ihr heraus, wie an einem Menschen herauskommt, daß er sich als
vorkommt, sondern die Worte beliebig scheinen, finden wir ein Gedicht Freund bewährt? Ich kann es auch so formulieren. Wenn ich sage >ein wahrer
mißlungen. Das eigentlich Merkwürdige aber ist, daß ein Gedicht, das uns als Freund<, dann meine ich: Hier entspricht das Wort seinem Begriff. Dieser
dichterische Leistung überzeugt, uns auch mit dem überzeugt, was es sagt. Es Mensch ist wirklich in Übereinstimmung mit dem Begriffeines Freundes.
ist eine allgemeine Erfahrung, daß nicht alles zu allen Zeiten in dichterischer Genauso frage ichjetzt, was ist das dichterische Wort in seiner Wahrheit? Wie
Weise gesagt werden kann. Das Versepos etwa, das von Homer über Vergil, entspricht es dem Begriffeines Wortes?
Dante, Milton eine große Tradition der Dichtung war und schließlich in Mit dieser Frage sind wir sehr weit von der Fragestellung der Kommunika-
>Hermann und Dorothea< eine Art letzter, »bürgerlicher« Erfüllung fand, ist tions- und Informationstheorie entfernt. Zwar gilt auch für das dichterische
keine wahre Möglichkeit des dichterischen Sprechens mehr. Ebenso ließe sich Wort, daß es in der Möglichkeit ist, ein Text zu sein, geschrieben zu sein. Als
fragen, ob es das Drama zu jeder Zeit geben kann oder ob es nicht für geschriebenes ist es in einem besonderen und ausgezeichneten Sinne ein Wort,
bestimmte Epochen charakteristisch ist, daß in ihnen bestimmte Weisen des nämlich ein Wort, das geschrieben steht<. Ich benutze diesen lutherischen
dichterischen Sagens vorwalten und andere gar ausgeschlossen und unmög- Ausdruck, weil er etwas deutlich macht. Was heißt denn das: Es steht
lich sind. So haben wir über 1500 Jahre christlicher Geschichte hindurch geschrieben? Das meint doch offenbar nicht nur, daß esfixiertist, so daß man
eigentlich kein Drama. Hier drängt sich die Frage auf: Was drückt sich darin seinen Inhalt wieder erneuern kann. Das trifft aufalle möglichen schriftlichen
aus, daß gewisse Formen des Sagens möglich sind und gewisse nicht? Was für Fixierungen zu. So steht etwa in meinen Notizen, die ich bei einem Vortrag
eine >Wahrheit< liegt darin? vor mir habe, etwas geschrieben. Aber das ist kein Wort, das geschrieben
Aber was heißt hier >Wahrheit<? Es ist eine alte Regel, daß, wenn man eine stehfc. Warum nicht? Offenbar ist es lediglich so da, und nur dazu da, daß es
Frage nicht genau profilieren kann, man gut tut, die negative Form der Frage aufeinen Gedanken weist, den ich vor meinen Hörern etwa ausfuhren wollte.
zu suchen. So würde ich hier fragen: Was bedeutet es, daß gewisse Formen Der Wert dieser Notiz ist also ausschließlich der der dienstbaren Unterord-
dichterischer Aussage nicht mehr >wahr< sind? Was ist das für ein Sinn von nung unter den Gedanken und gehört nicht zur >Literatur<. Ein Gedicht
Wahrheit? >Wahrheit< hat schon in der ältesten griechischen Philosophie einen dagegen ist nicht eine Erinnerung an den ursprünglichen Vollzug eines
doppelten Sinn. Der griechische Ausdruck >Aletheia< wird so, wie er im Gedankens, nur für seinen Neuvollzug dienlich. Es ist umgekehrt, und so sehr
lebendigen Sprachgebrauch der Griechen lebte, am besten übersetzt mit umgekehrt, daß der Text viel mehr Wirklichkeit hat als jede seinermöglichen
>Unverhohlenheit<. Denn immer mit Worten des Sagens ist dieses Wort Darbietungen je für sich beanspruchen kann. Ob ein Dichter seine Werke
verknüpft. Unverhohlenheit heißt aber: sagen, was man meint. Sprache ist selber vorliest, ob ein anderer sie spricht, jeder weiß, daß das Gesprochene
eben nicht in erster Linie, wie das berühmte Wort eines Diplomaten lautet, die hinter dem zurückbleibt, was man eigentlich meint und woran man all«
74 Poetik und Aktualität des Schönen Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit 75

Darbietungen mißt. Was ist das für eine Möglichkeit des Wortes, daß es so für daß man als Zeuge sogar belehrt wird, man müsse vollständig alles sagen,
sich selbst stehen kann?1 was man weiß, ohne etwas zu verschweigen, ohne etwas hinzuzufügen.
Nun ist es nicht nur das dichterische Wort, das in diesem Sinne >autonom< Das nennt man im Gerichtsleben >Aussage<. Ich sehe hier davon ab, wie
ist, so daß wir uns ihm unterordnen und auf es in seiner Gestalt als >Text< unser fragwürdig die Funktion des vor Gericht Aussagenden aus anderen herme-
Bemühen konzentrieren müssen. Es gibt, wie ich meine, noch zwei andere neutischen Gründen ist. Hier möchte ich zunächst nur dies Perfektionisti-
Weisen solcher Texte. Das eineist der religiöse Text. Das ist klar genug. Ich sche, diesen Vollendungscharakter im Worte >Aussage< bewußt machen.
zitierte die Luthersche Übersetzung: »Es steht geschrieben«. Was ist der Sinn Darin liegt die Entsprechung zur dichterischen >Sage<. Sie ist eine Sage, die
dieses »Es steht geschrieben« ? Im Lutherschen Sprachgebrauch liegt in dieser sich voll aussagt, die also so ist, daß nichts, was nicht in ihr selber gesagt
Wendung oft ein besonderer Sinn von Sagen, den ich Zusage nennen möchte. ist, zur Aufnahme und zu ihrer Sprachwirklichkeit hinzugenommen wer-
Man kann sich auf etwas Zugesagtes berufen, z. B. im Fall des Versprechens, den muß. Sie ist >autonom< im Sinne der Selbsterfullung. Ebenso ist das
das einer dem anderen gibt. Wer ein Versprechen gibt, sagt etwas zu. Ich kann Wort des Dichters. Das dichterische Wort ist also in dem Sinne Aussage,
mich darauf verlassen und mich daraufberufen. Das ist nicht bloß Mitteilung, daß diese Sage sich selbst bezeugt und nichts anderes, das sie verifiziert,
sondern ein verbindliches Wort, das gegenseitige Verbindlichkeit voraus- zuläßt. Sonst mögen wir eine Aussage kontrollieren, etwa die vor Gericht,
setzt. Es steht nicht bei mir allein, ob ich etwas versprechen kann. Das hängt ob das stimmt, was der Zeuge sagt oder was der Angeklagte sagt oder wer
auch davon ab, daß der andere das Versprechen annimmt. Erst dann ist es ein immer. Diesen Sinn hat offenkundig das dichterische Wort nicht mehr,
Versprechen. Man stelle sich etwa folgende Situation vor: Ein Mann ver- und die Frage, die uns beschäftigen muß, ist: Wie kann das sein, daß ein
spricht seiner Frau, daß er nie wieder über seinen Durst trinken will. Aber Sagen so ist, daß es sinnlos und in einer überzeugenden Weise verkehrt ist,
vielleicht hat die Frau es längst begriffen, daß er dies Versprechen nie halten über das Gesagtsein hinaus nach einer anderen Instanz der Verifikation
kann. Daher nimmt sie das Versprechen nicht an, sondern sagt: Ich kann dir auch nur zu fragen - und daß der Dichter es ein unumstößliches Zeugnis
nicht glauben. - Zum Wesen der Zusage gehört eben, daß sie ein gegenseitiges nennen kann und alle schlechten Gedichte >Meineide< heißen können? (P.
Verhältnis des Sagens und Antwortens ist. In diesem Sinn sind die Texte der Celan).
Offenbarungsreligion >Zusage<, d.h., sie gewinnen ihren Sagecharakter Ich möchte über den religiösen Gebrauch des Wortes, etwa die Analo-
allein durch das Angenommenwerden seitens des Gläubigen. gien, die hier zur Erfahrung des Gebetes vorliegen, nichts sagen. Das ent-
Eine andere Form eines solchen >eminenten< Textes scheint mir im moder- zieht sich meiner Kompetenz. Aber es liegt auf der Hand, daß hier etwas
nen Staat der Rechtstext. Das Gesetz, das in einer bestimmten Weise durch Analoges vorliegt, wenn es auch auf ganz anderer Basis beruht. Wahrheit
sein Geschriebenstehen bindet, hat auch einen spezifischen Charakter, den ich in der Dichtung, das meint: Wie macht es das Wort des Dichters, daß es
Ansage nennen möchte. Der Rechtstext ist bekanntlich durch seine Verkün- sich selbst einlöst und geradezu abweist, daß man Verifikationen von au-
dung erst gültig. Ein Gesetz muß verkündet werden. Der Charakter der ßen sucht? Nehmen wir ein ganz beliebiges literarisches Beispiel, etwa
Ansage, in dem das Wort durch sein Gesagtsein sein Rechtsdasein gewinnt einen Roman von Dostojewski). Da spielt eine bestimmte Treppe eine
und ohne solches Gesagtsein nicht, macht seine Rechtsgeltung erst aus. So große Rolle, die Smerdjakow vorgeblich heruntergefallen ist. Jeder, der die
war es ζ. Β. eine der schrecklichsten Rechtskatastrophen, als in dem bösen Fall >Karamasows< gelesen hat, hat diese Szene nicht vergessen und »weiß« ganz
des Gesetzes Lubbe im Jahr 1933 ein Gesetz mit rückwirkender Kraft erlassen genau, wie die Treppe aussieht. Keiner von uns hat dabei dieselbe Vorstel-
wurde. Jeder empfindet sofort, ein Gesetz mit rückwirkender Kraft wider- lung; jeder von uns glaubt sie dennoch in ganz konkreter Weise zu haben.
spricht dem eigentlichen Sinn von »Gesetz«, geschrieben zu stehen. Verkün- Es wäre sinnlos zu fragen: Und wie sah die Treppe wirklich aus, die
dung von Gesetzen gehört zum Wesen des Rechtsstaates. Dostojewski) >meinte<? Der Dichter hat es hier vermocht, durch die Art
Die beiden Formen der >Zusage< und der > Ansage< sollen nun zum Hinter- seines Erzählens, durch seine erzählerische Gestaltung, eine Imagination zu
grund für den dichterischen Text dienen, den ich in einer entsprechenden wecken, die nun in jedem Leser etwas aufbaut, und zwar so aufbaut, daß er
Formel > Aussage< nennen möchte. Die Vorsilbe >aus< drückt einen Anspruch genau zu sehen glaubt, wie die Treppe da rechts herum und dann ein paar
aufVollständigkeit aus. Eine Aussage sagt vollständig, was der Sachverhalt Stufen heruntergeht, und dann verliert sich die Treppe im Dunkeln. Wenn
ist. Die Aussage ζ. Β., die wir vor Gericht machen, hat solchen Charakter, so ein anderer sagt, sie geht links herum und dann kommen sechs Stufen und
dann wird es dunkler, so ist er offenbar genauso im Recht. Dostojewski),
1
Siehe dazu in diesem Band auch den Beitrag >Von der Wahrheit des Wortes« (Nr. 5). sofern er es nicht genauer sagt, weckt nur dies, daß wir die Treppe in uns
76 Poetik und Aktualität des Schönen Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit 77

aufbauen. An dem Beispiel sieht man, daß der Dichter es fertigbekommt, die Selbsterfullung. Das Positive, das Gesetzte, das, was man auch woanders
Selbsterfüllung von Sprache herzuzaubern. Aber wie macht das der Dichter, antreffen kann, so daß man zu prüfen vermag, ob unsere Aussage damit
mit welchen Mitteln? übereinstimmt - all das wird im dichterischen Wort suspendiert.
Ich möchte eine kleine Zwischenüberlegung einschalten. Offenbar ist das Und doch ist es irreführend, dies als ein geschwächtes Realitätsbewußtsein
Wort der Dichtung aufeine unlösbare Weise mit der Seite des Klanges und der zu fassen, etwa als eine verringerte Setzungskraft des Bewußtseins. Es ist
Seite der Bedeutung verwebt. Der Grad dieser Verwobenheit kann mehr oder umgekehrt. Die durch das Wort geschehende Realisierung schlägt allen
minder groß sein, bis zu dem Extrem, daß es gewisse sprachliche Kunstarten Vergleich mit anderem, das mit da "wäre, aus und hebt das Gesagte über die
gibt, in denen diese Verwobenheit absolut unlösbar wird. Ich meine das Partikularität hinaus, die wir sonst Wirklichkeit nennen. Daß es das tut, daß
lyrische Gedicht. Hier haben wir den Fall der Unübersetzbarkeit in seiner wir nicht hinaussehen in eine bestätigende Welt, sondern daß wir umgekehrt
vollen Unbedingtheit vor unser aller Augen. Es gibt keine Übersetzung im Gedicht die Welt des Gedichtes aufbauen, istja unbestritten. Ich frage, wie
lyrischer Gedichte, die das usprüngliche Werk zur Wirkung bringt. Es gibt im macht es das Wort, daß es das kann, daß wir plötzlich eine Verifikation des
besten Fall einen Dichter, der über einen Dichter kommt und sozusagen ein Gesagten zu suchen ablehnen? Das ist etwa bei Hölderlin, der die Rückkehr
neues dichterisches Werk an diese Stelle stellt, eine Entsprechung in neuem der Götter verkündet, ganz deutlich. Wer ernstlich glaubt, auf die Rückkehr
Sprachstoff schafft. Nun gibt es gewiß Abstufungen der Unübersetzbarkeit. der griechischen Götter wie auf etwas für die Zukunft Versprochenes warten
Ein Roman ist übersetzbar - und wir fragen uns: Woran liegt das, daß der zu sollen, der hat nicht begriffen, was die Dichtung Hölderlins ist. »Im Liede
Roman übersetzbar ist und daß wir etwa Dostojewskijs Treppe, ohne Rus- wehet ihr Geist. « Wie macht es der Dichter? Was macht die Dichtung mit dem
sisch zu können, so vor Augen sehen, daßich mich mitjedem streiten möchte, Dichter, daß sein Wort als ein Wortgebilde plötzlich >so< ist, und ich meine
wo herum sie geht? Wie macht das die Sprache? Offenbar ist das Verhältnis damit:so, daß es nicht etwas meini, sondern daß es das Dasein dessen ist, wases
von Klang und Bedeutung hier ein wenig mehr nach der Seite der Bedeutung meint - und das so sehr, daß selbst der Dichter, wenn er es hört, nicht etwa
hin verschoben - und doch bleibt auch dies dichterisches Wort. Es erfüllt sich meinen kann, daß er es ist, der es sagt?
nicht von anderem her, ζ. Β. durch bestätigende Nachprüfung einer Informa- Was bedeutet es, daß ein Gedicht gelingt? Was bedeutet es, daß ein
tion oder durch neue Erfahrung, sondern aus sich selbst. Selbsterfullung bestimmter Inhalt, etwas bestimmt Gemeintes, dadurch, daß es ein Gedicht
meint, daß man nicht mehr hinausgewiesen wird auf andere Instanzen. Dann gibt, auf dem Weg dieses hervorkommenden wahren Wortes sozusagen zum
aber ist es die höchste Erfüllung des Offenbarmachens (δηλοϋν), das die Stehen kommt?
generelle Leistung des Sprechens ist, was die dichterische Sprache auszeich- Denken wir nochmals an unsere Anfangsüberlegung. Dort sagten wir uns:
net. Es scheint mir daher eine abwegige ästhetische Theorie, das dichterische Jedes Sprechen sagt etwas. Sich etwas sagen lassen können oder jemandem
Wort dadurch zu interpretieren, daß man es als eine Zusammenballung von etwas sagen können setzt voraus, daß es offen Fragliches für einen gibt, das das
emotionalen und Bedeutungsmomenten auffaßt, die zum Alltagswort hinzu- Wort als Antwort anzunehmen nötigt. Wie sieht es beim dichterischen Werk
treten. Das mag zwar stets so sein. Aber nicht dadurch wird ein Wort aus? Hier handelt es sich nicht darum, was der Dichter meint oder was ihn
dichterisch, sondern weil es die Kraft der >Realisierung< gewinnt. So trifft motiviert, das oder jenes zu sagen. Es geht um die Frage, die durch das im
selbst Husserls feine Bemerkung, daß im Falle des Ästhetischen die eidetische Gedicht Gekonnte oder Vermochte beantwortet ist, und um nichts >dahinter<.
Reduktion spontan erfüllt sei, sofern die »Position«, das heißt das Setzen, Was ist das für eine Frage ? Wie kommt es, daß etwa in unserer Zeit das Gedicht
immer schon aufgehoben sei, nur zur Hälfte die Sache. Husserl spricht da von bestimmte Inhalte abweistund andere Inhalte bevorzugt? Und wie kommt es,
»Neutralitätsmodifikation«. Wenn ich jetzt, zum Fenster hinausweisend, wenn es ein Gedicht ist, daß diese neue Welt von Inhalten sich genauso zum
sage: Seht mal das Haus da - dann sieht jeder, der meinem Zeigen folgt, das Stehen bringt, daß wir mit dem selben wachen und empfänglichen dichteri-
Haus daals die Erfüllung meines Sagens, indem er hinsieht. Wenn ein Dichter schen Sinn dies Heutige hören wie etwa das dichterische Wort Schillers oder
in seinen Worten ein Haus schildert oder die Vorstellung >Haus< heraufruft, Shakespeares oder Goethes? Welche Überwindung gelegenheitlicher Moti-
sehen wir dagegen nicht auf irgendein Haus hin, sondern ein jeder baut >sein< vation oder zeitgeschichtlicher Gebundenheit gelingt hier und auf welche
Haus auf, und zwar so, daß >das Haus< für ihn da ist. Es ist also eine eidetische Weise? Ich kann es auch anders formulieren: Auf welche Frage bleibt ein
Reduktion darin wirksam. Es ist das Allgemeine des Hauses, das in den dichterisches Gebilde immer eine Antwort ? Ich glaube nicht, daß es ausreicht,
Worten wie eine spontane »Intentionserfullung« zur Gegebenheit kommt. In wenn man sagt: In allen dichterischen Gebilden kommen letzte Fragen
diesem Sinne ist das Wort hier > wahre, das heißt >aufdeckend<. Es leistet solche unseres menschlichen Erlebens zur Beantwortung, und dadurch sprechen sie
78 Poetik und Aktualität des Schönen Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit 79
uns an. Das gilt zwar in gewissen Bereichen. Es ist vernünftig zu sagen, daß eine steigende Vertrautheit2. Jeder weiß, was das heißt, Sprachgefühl haben.
Grenzsituationen wie Tod oder Geburt, Leiden oder Schuld und was immer- Etwas klingt fremd, etwas ist nicht >richtig<. Das erleben wir ja etwa bei
all das, was etwa die große Tragödie zu ihrer besonderen Kunstform erhoben Übersetzungen ständig. Welche Vertrautheit wird da enttäuscht? Welche
hat - beständig offene Fragen sind, auf die wir Menschen Antwort suchen. Nähe wird da verfremdet? Das heißt aber: Welche Vertrautheit trägt uns,
Aber müssen wir die Frage nicht umfassender stellen? Müssen wir nicht wenn wir Sprechende sind, welche Nähe umgibt uns? Es ist offenbar so, daß
fragen: Auf welche Frage ist ein jedes dichterische Gebilde immer eine nicht nur Wörter und Wendungen unserer Sprache uns immer vertrauter
Antwort ? Vielleicht zeichnet sich eine Antwort ab, wenn ich an das anknüpfe, werden, sondern auch das in Worten Gesagte. Das Hereinwachsen in eine
was einleitend als das Gemeinsame alles Sprechens beschrieben wurde: daß Sprache bedeutet insofern immer schon, daß uns die Welt nahegebracht wird
das da ist, was durch das Wort evoziert wird. Ob es in dieser oderjener Zeit, in und in einer geistigen Ordnung zum Stehen kommt. Worte sind immer
unserer Zeit für spezifische Inhalte, die in unserer Zeit zur Sprache kommen, wieder die gleichen Grundartikulationen, die unser Weltverständnis leiten.
gilt, ist dabei nicht entscheidend, sondern daß das Wort so Da-sein be- Es gehört zur Vertrautheit der >Welt<, daß sie sich im Miteinanderreden
schwört, daß es zum Greifen nahe ist. Das ist die Wahrheit der Dichtung, daß tauscht.
sie solches »Halten der Nähe« zustande bringt. Was Halten der Nähe meint, Das Wort des Dichters nun setzt diesen Prozeß der >Einhausung< nicht
wird am Gegenbeispiel deutlich. Wenn wir in einem Gedicht etwas vermis- einfach fort. Es tritt ihm eher gegenüber, wie ein hingehaltener Spiegel. Aber
sen, dann ist es kein sich in sich haltender Bau. So verhallt es, weil etwas was in ihm erscheint, ist nicht die Welt, erst recht nicht dieses oder jenes, das in
Konventionelles oder Abgenütztes darin ist. Ein wirkliches Gedicht dagegen der Welt ist, sondern die Nähe selbst, die Vertrautheit selbst, in der wir eine
bringt Nähe zur Erfahrung, und zwar so, daß diese Nähe durch das Gedicht Weile stehen. Im literarischen Wort, und in höchster Vollendung im Gedicht,
und seine sprachliche Gestalt gehalten wird. Welche Nähe und wovon? Was gewinnt dies Stehen und diese Nähe Bleiben. Es ist nicht eine romantische
wird da gehalten? Wenn man etwas halten muß, dann ist das, was man halten Theorie, sondern einfache Beschreibung wirklicher Zusammenhänge, daß
muß, entgänglich, d.h., es möchte entgehen. In der Tat ist das unsere die Sprachlichkeit den universalen Weltzugang öffnet und daß sich in diesem
Grunderfahrung als zeitliche Wesen, daß alle Dinge uns entgehen, daß alle sprachlichen Weltzugang ausgezeichnete Formen menschlicher Erfahrung
Inhalte unseres Lebens uns mehr und mehr verblassen, so daß sie aus fernster herausheben: die religiöse Botschaft verkündigt das Heil; das Urteil spricht,
Erinnerung höchstens noch in einem fast unwirklichen Schimmer leuchten. was Recht und Unrecht in unserer Gesellschaft ist; das dichterische Wort
Aber das Gedicht verblaßt nicht. Das dichterische Wort bringt gleichsam die bezeugt uns unser Dasein, indem es selbst Dasein ist.
Zeitentgänglichkeit zum Stehen. Auch es >steht geschrieben^ nicht als Ver-
heißung oder Versprechen, nicht als >Zusage<, sondern als >Sage<, indem es
seine eigene Gegenwart ausspielt. Es mag gerade mit dieser Macht des
dichterischen Wortes zusammenhängen, daß der Dichter sich herausgefor-
dert fühlt, auch das in Wort zu verwandeln, was überhaupt der Sphäre des
Wortes verschlossen scheint. Im lyrischen Gedicht erscheint diese Selbster-
füllung am rätselhaftesten, wo sich nicht einmal die Sinneinheit der dichteri-
schen Rede verifizieren läßt, und das ist der Fall der poésie pure seit Mallarmé.
Fragen wir erneut, wie das lyrische Gedicht sich selbst erfüllt und mit
welchen Mitteln. Solches >Stehen des Wortes« scheint mir aufjene Grundsi-
tuation des Menschen hinzudeuten, die Hegel als das Heimischwerden
beschrieben hat. Es ist die Grundaufgabe, die wir alle aus unserer Lebenser-
fahrung kennen, daß man sich in dem flutenden Strom der Eindrücke
>einhaust<. Das geschieht vor allem im Erlernen der Muttersprache, durch das
eine steigende Ordnung eines sprachlich ausgelegten Erfahrungsganzen sich
aufbaut. Und damit gewinnt die Muttersprache, indem sie diese erste Weltar-
tikulation vollbringt, in der wir ständig uns weiterbewegen, zugleich selber
2
Zum Thema Vertrautheit der Welt durch Sprache siehe in diesem Band >Heimat und
Sprache< (Nr. 34).
Dichtung und Mimesis 81
griff des Stiles, wie das Wort anzeigt, aus der Kunst des Schreibens ge-
schöpft, die den Stilus, den Griffel, fuhrt. Aber bis ins 18. Jahrhundert hinein
konnte man die Lehre von der Nachahmung im Sinne der Darstellung der
religiösen und der profanen Vorbildlichkeiten festhalten. Erst im 18. Jahr-
hundert trat eine Wendung ein, die die Beengung durch einen solchen
8. Dichtung und Mimesis Nachahmungsbegriff durchbrach: Der Begriff des Ausdrucks stieg zu be-
herrschender Bedeutung auf. Er hat seine ursprüngliche Anwendung in der
(1972) Musikästhetik. Die unmittelbare Sprache des Herzens, die die Töne spre-
chen, wird nun das Vorbild, nach dem die allem Begriffsrationalismus sich
verweigernde Sprache der Kunst überhaupt gedacht wurde.
Daß Kunst Nachahmung der Natur sei, ist eine Lehre, die sich zwar auf Damit zerriß der alte Zusammenhang von Poetik und Rhetorik, die beide
antiken Ursprung und selbstverständliche Geltung berufen kann, aber ihre als Künste des schönen Redens verstanden wurden. Insbesondere nachdem
eigentliche kunstpolitische Rolle erst in der klassizistischen Ästhetik der im Anblick der großen Phantasiedichtung Shakespeares die Genieästhetik
Neuzeit zu spielen begann. Der französische Klassizismus so gut wie Win- den Begriff der Regeln und am Ende gar den Begriff der poetischen Mittel
ckelmann und Goethe sahen in dem treuen Studium der Natur die eigentli- diskreditiert hatte, konnte der alte Verbund zwischen Rhetorik und Poetik
che Schule des Künstlers. Damit rückte auch die Lehre von der Nachah- im Denken der Ästhetik keinen rechten Platz mehr einnehmen.
mung in einen Reflexionszusammenhang, der der bildenden Kunst einen An seine Stelle trat eine neue Nähe zwischen der Musik, die sich damals zu
entschiedenen Vorrang für die Ästhetik verlieh. Als >klassische Kunst< galt ihrer klassischen Entfaltung erhob, und der Poesie. In der deutschen Ro-
nun im 18. Jahrhundert seit Winckelmann nicht so sehr die dichterische mantik gilt die Dichtkunst als die Universalsprache des Menschenge-
Klassik als vielmehr das, was Hegel >Kunstreligion< genannt hat: das Zeital- schlechts. Die alte Nachahmungsästhetik verliert ihre Oberzeugungskraft,
ter der griechischen Plastik, in der die griechische Götterwelt, das Göttliche wenn der poetische Sprachgeist sich nicht so sehr in der Vergegenwärtigung
in Menschengestalt, Gegenwart war. Das war in Hegels Augen Kunst ab anschaulich erfüllter Bilder als in der Stimmungskraft auslebt, die von der
Religion, und wenn er seit dem Untergang der antiken Religion diesen unendlichen Bewegung des dichterischen Wortes erzeugt wird - ganz zu
Einklang von Göttlichem und Menschlichem vermißt und damit der Kunst schweigen von der radikalen Wortkunst der poésie pure. Der Begriff der
überhaupt nachsagt, sie gehöre der Vergangenheit an, so ist es die bildende Mimesis scheint unanwendbar geworden.
Kunst, die er, als sinnliche Erscheinung des Absoluten, zum Maßstab Indessen, der Begriff der Mimesis läßt sich ursprünglicher fassen, als es
nimmt. von den Ideen des Klassizismus her naheliegt. Ich möchte zeigen, daß der
Die antike Nachahmungstheorie beherrscht freilich auch die Poetik. Doch ursprüngliche Begriff der Mimesis in Wahrheit den essentieUen Vorrang der
besaß sie ihre überzeugendste Ausweisung anscheinend in der bildenden Poesie gegenüber den anderen Künsten gerade zu legitimieren vermag.
Kunst. Dort drängt sich die Rede von Abbild und Urbild geradezu auf, die Wenn man von dem antiken Begriff der >Poesie< als solchem ausgeht,
Plato dann zum Instrument seiner Dichterkritik gemacht hat. Es hat etwas kann das nicht überraschen. Denn schon das Wort >Poiesis< und >Poietës< hat
unmittelbar Oberzeugendes, daß in der bildenden Kunst das Abbild von im Griechischen eine besondere Auszeichnung. Das Wort meint nicht nur
seinem Urbild fundamental geschieden bleibt, sofern es das lebendig Be- das herstellende Machen beziehungsweise den Hersteller selbst, sondern
wegte in das bewegungslose Bild bannt. So wendet Plato den Begriff der gerade auch im spezifischen Sinne das poetische Schaffen und den Poeten.
>Mimesis< an, um den ontologischen Abstand von Urbild und Bild zu Ein bezeichnender Doppelsinn, der eine ausgezeichnete Art des Machens
betonen. Wenn er das gegen das dichterische und insbesondere das dramati- und Herstellens mit dem sonstigen Machen und Herstellen semantisch
sche Wort ausspielt, so hat das einen gewaltsamen, polemischen Sinn. zusammenschließt. Dem entspricht auf der anderen Seite unter gesellschaft-
Aristoteles brachte den Begriff der Mimesis in einem anderen, positiven lichem Gesichtspunkt, daß der Dichter neben dem Redner und dem König
Sinne zur Geltung, und das >Gesamtkunstwerk< der antiken Tragödie stand seinen Platz hatte und der einzige Künstler war, der nicht als >Banause< galt.
im Blick seiner >Poetik<, die die Ästhetik der Folgezeit beherrschte. Das gemeinsame Verständnis beider Formen von >Techne<, der handwerkli-
Wie sehr die Poetik (und die Rhetorik) die ästhetische Reflexion leitete, ist chen und der poetischen, ist offenbar durch die Weise ihres Wissens gege-
bekannt. So ist der fur die moderne Kunstwissenschaft beherrschende Be- ben. Es ist ein Können und Wissen, das dem Handwerker wie dem Dichter
82 Poetik und Aktualität des Schönen Dichtung und Mimesis 83

sein herstellendes Tun leitet. Nun liegt es im Wesen aller herstellenden Dazu bedarf es nicht einmal besonderer wortgeschichtlicher Untersuchun-
Künste, wie insbesondere Plato eindringlich betont, daß sie Maß und Ziel gen, um zu erkennen, daß der Sinn von Mimesis lediglich darin besteht,
ihres Wissens und Könnens im allgemeinen nicht in sich selbst tragen. Es ist etwas dasein zu lassen, ohne daß irgend etwas damit angefangen wird. Die
das Werk, das >Ergon<, auf das ihr Tun gerichtet ist, und dieses Werk Freude am mimischen Verhalten und an der mimischen Wirkung ist eine
seinerseits ist für den Gebrauch bestimmt. Von den Zwecken des Gebrau- ursprüngliche Freude des Menschen, die schon Aristoteles am Verhalten der
ches hängt es also ab, wie die Arbeit des Herstellens und das Aussehen des Kinder zur Ausweisung bringt. Die Freude an der Verkleidung, die Freude
Werkes zu sein haben. daran, einen anderen darzustellen, als man ist, und die Freude dessen, der im
Nun gilt gewiß von allem, was wir >Kunstwerk< nennen, daß es nicht Dargestellten das Dargestellte erkennt, zeigen, was der eigentliche Sinn der
eigentlich zum Gebrauch da ist, das poetische Werk, das gesungen oder nachahmenden Darstellung ist: keineswegs die Vergleichung und die Beur-
gespielt wird, so wenig wie das Bildwerk des Gottes, dem man Opfer teilung der mehr oder minder großen Annäherung der Darstellung an das in
bringt, oder das Schmuckwerk am Gerät. Die Absicht des Herstellens der Darstellung Gemeinte. Zwar gibt es dieses kritische Beurteilen und
vollendet sich hier nicht darin, einem Gebrauche zu dienen, sondern offen- Würdigen bei jeder Darstellung, aber doch als ein sekundäres Phänomen.
bar nur darin, daß das so Hergestellte da ist. Gewiß war auch das von Ihre eigentliche Vollendung findet eine jede Darstellung in nichts anderem,
Gebrauchszwecken freie Werk gleichwohl in den Gebrauchszusammenhang ab daß das Dargestellte in ihr recht eigentlich da ist. Wenn Aristoteles
des Lebens eingefügt und hatte in ihm seinen Platz, das Bildwerk im religiö- beschreibt1, wie der Zuschauer erkennt: »Das ist der«, so meint er nicht, daß
man hinter der Verkleidung den erkennt, der die Verkleidung trägt, sondern
sen oder öffentlichen Lebensvollzug oder das Dichtwerk in Vortrag oder
umgekehrt, daß man durch die Verkleidung das, was sie darstellen soll,
Aufführung. Aber auf diese Erscheinungen wird niemand den Begriff >Ge-
erkennt. Erkennen heißt hier wiedererkennen. Man erkennt wieder, was
brauchskunst< anwenden wollen. In diesem modernen Begriff liegt ja, daß
man kennt, den Gott oder den Helden - oder auch den lächerlichen Zeitge-
ihm eine von allem Gebrauche freie Kunst vorausläge und übergeordnet
nossen -, von denen man weiß. Mimesis ist Darstellung, bei der der Was-
wäre. Das aber ist ein militaristischer Modernismus. Wenn ein Kunstwerk
Gehalt des Dargestellten allein im Blick ist, das, was man vor sich hat und
anderen Zwecken, religiösen oder politischen oder dergleichen, dient, so
das man >erkennt<.
ordnet sich das Werk damit nicht einem anderen, fremden Zwecke unter,
sondern kommt in seinem eigenen Wesen zur Erscheinung. Solcher >Ge- Es klingt bei Aristoteles noch durchaus an, daß die mimetische Darstel-
brauch< dient seinem Dasein als Werk und nicht umgekehrt. Wir reden daher lung ein Teil eines kultischen Vorgangs ist, etwa der Prozession, wie wir sie
mit Recht auch angesichts religiös gebundener Kunst von den >freien< oder im Karnevalsumzug kennen. Es ist ein Akt der Identifizierung und nicht der
>schönen< Künsten, für die die Freiheit vom Nutzen und der selbständige Unterscheidung, in dem hier etwas erkannt wird. Der Abstand von Abbild
Sinn ihres Daseins und Erscheinens, das heißt ihr Schönsein, das Auszeich- und. Urbild, so unaufhebbar er sein mag und so sehr daher seine Betonung
nende ist. möglich ist, hat für den eigentlichen Seinssinn der Mimesis etwas Schiefes.
Nun ist es die besondere Auszeichnung der Dichtung, daß ihr Wort Das Paradigma, auf das nach Plato jede Darstellung abbildend bezogen ist
überhaupt nicht im selben Sinne da ist wie die >Werke< der bildenden Kunst. und hinter dem sie notwendig zurückbleibt, ist als solches gerade nicht das,
Da steht nichts in sich. Da ist kein Stoff, der als die dumpfe Widerständigkeit wo ein Kunstwerk überzeugt. Niemand wird auf es zeigen ab auf das, was
der Materie durch die Form gebändigt wäre. Das dichterische Werk hat ein sichneben der Darstellung zeigt (>Paradeigma< heißt: das daneben Gezeigte).
Sein idealer Art. Es ist auf Reproduktion angewiesen, sei es im eigentlichen So wenig der Spieler sich selbst von der Rolle unterscheidet, die er spielt,
Sinne des szenischen Spiels, sei es im Sinne der Rezitation oder des Lesens. sondern vielmehr ganz in ihr aufgeht, so wenig sieht auch der Zuschauer in
Daß nun gerade hier der allgemeine Sinn von >Poet<, der >Macher< zu sein, der Darstellung etwas anderes als das Dargestellte selbst.
die Wendung ins Eminente nimmt, versteht sich gut. Durch nichts als durch Etwas als etwas erkennen heißt wohl: wiedererkennen. Aber Wiederer-
Worte etwas dasein zu lassen, erfüllt offenbar das Ideal des Herstellens. Denn kennen ist nicht ein bloßes zweites Erkennen nach einem ersten Kennenler-
das Wort ist von unbeschränkter Macht und idealer Perfektion. Das ist nen. Es ist etwas qualitativ anderes. Wo etwas wiedererkannt wird, da hat es
Dichtung, daß sie so >gemacht< wird, daß sie keinen anderen Sinn hat, als sich schon aus der Einmaligkeit und Zufälligkeit der Umstände, in denen es
dasein zu lassen. Was als Sprachwerk ein Kunstwerk ist, hat in gar keinem begegnete, befreit. Es ist nicht das von damals und nicht das von jetzt,
Betracht zu etwas da zu sein. So ist es im eigentlichen Sinne da.
Es erfüllt aber damit auch in besonderer Weise, was >Mimesis< meint. Poet. 4,1448 b,
84 Poetik und Aktualität des Schönen Dichtung und Mimesis 85
sondern dasselbe und gleiche. Es beginnt damit, sich zu seinem bleibenden des Komischen überfällt und alle Unterscheidung zwischen Spiel und Wirk-
Wesen zu erheben und von der Zufälligkeit seines Begegnens gelöst zu lichkeit, Schein und Sein zunichte werden läßt. Der Abstand von Zuschauer
werden. Nicht umsonst hat Plato die Erkenntnis des bleibenden Wesens der und Spieler hebt sich darin ebenso auf wie der von Darstellung und Darge-
Idee Wiedererinnerung genannt und im Mythos Erkenntnis als Wiedererin- stelltem.
nerung an ein früher gelebtes Leben expliziert. Aristoteles hat recht, wenn er Der Begriff der Mimesis, der solcher >ästhetischen< Erfahrung Ausdruck
das Wesen der mimischen Darstellung und damit das der Kunst in solcher gibt, braucht also nicht erst künstlich auf eine Ursprungssituation zurückbe-
Erkenntnis erblickt. Er gelangt von da aus zu der berühmten Unterschei- zogen zu werden, in der alle Künste noch gleichsam beisammen waren - ich
dung von Dichtung und Historie, wonach die Dichtung »philosophischer« meine: auf die rituelle Darstellung im religiösen Kult durch Wort, Ton, Bild
sei als die Historie, weil diese nur die Dinge erkenne, wie sie wirklich und Gebärde. Das Mimische ist und bleibt ein Urverhältnis, in dem nicht so
gewesen seien, die Dichtung dagegen sie so schildere, wie sie geschehen sein sehr Nachahmung als vielmehr Verwandlung geschieht. Es ist, wie ich es in
könnten, das heißt, wie es ihrem allgemeinen und bleibenden Wesen ent- anderem Zusammenhang 5 mit bewußter Künstlichkeit genannt habe, die
spricht2. Die Poesie hat teil an der Wahrheit des Allgemeinen. ästhetische Nichtunterscheidung, die die Erfahrung der Kunst ausmacht.
Wenn Plato in seiner Dichterkritik umgekehrt den nachahmenden Kün- Wenn wir diesen ursprünglichen Sinn von Mimesis erneuern, werden wir
sten den untersten Rang anweist, weil sie nicht einmal wie die wirklichen von der ästhetischen Beengung befreit, die die klassizistische Nachah-
Dinge einfache Nachahmungen der Wesensgestalten seien, sondern Nach- mungstheorie für das Denken bedeutet. Mimesis ist dann nicht so sehr, daß
ahmungen von Nachahmungen, so stellt er das eigentliche Wesen der künst- etwas auf ein anderes verweist, das sein Urbild ist, sondern daß etwas in sich
lerischen Nachahmung offenbar auf den Kopf. Man wird daraus nicht selbst als Sinnhaftes da ist. Kein vorgegebener Maßstab des Natürlichen
schließen wollen, er habe das Wesen der künstlerischen Darstellung nicht entscheidet dabei über Wert und Unwert einer Darstellung. Wohl aber stellt
besser verstanden3. In Wahrheit begeht er eine ironische Verzerrung, durch jede Darstellung, die sprechend ist, bereits eine Antwort auf die Frage dar,
die er den Anspruch der Philosophie, das heißt der Dialektik, auf die Er- warum sie ist — mag sie etwas darstellen oder >nichts<. Die mimische Urer-
kenntnis der wahren Wesenheiten hervorkehrt. Daß dort, wo wir von Kunst fahrung bleibt in diesem Sinne das Wesen allen bildenden Tuns in Kunst und
reden, gerade nicht der Seinsunterschied von Darstellung und Dargestell- Poesie.
tem, sondern die volle Identifikation mit dem Dargestellten das Wesen der So darf man wohl das Fazit ziehen: Wer meint, Kunst sei nicht mehr mit
Darstellung ausmacht, hat er in anderem Zusammenhang sehr wohl aner- den Begriffen der Griechen angemessen zu denken, denkt nicht griechisch
kannt. So spricht er etwa im >Philebos< (48a) von dem Vergnügen der genug - und nicht gut genug.
Zuschauer an der Verblendung, in der sich der komische Held über sich
selbst und seine Umwelt bewegt, und interpretiert tiefsinnig die Quelle des
komischen Entzückens, das sich im stürmischen Gelächter der Zuschauer
bei solchem Schauspiel entlädt. Dabei gilt ihm das komische Geschehen auf
der Szene gleich viel wie die ganze »Komödie und Tragödie des Lebens«4.
Auch Aristoteles beobachtet den gleichen Zusammenhang. Es ist nicht
erst in der Sphäre der künstlerischen Darbietung so, sondern im Leben der
Gesellschaft selber: Wo das Lächerliche einsetzt, stehen wir bereits im freien
Genuß eines Schauspiels und erfreuen uns daran als an etwas Harmlosem
und Unschädlichem. Aber im Hintergrund solcher >ästhetischen Freiheit
liegt eine tiefe, allen Abstand aufhebende Gemeinsamkeit. Es ist die Identifi-
kation, die abgründige und schreckhafte Selbstbegegnung, die uns, wie in
der tragischen Erschütterung, in dem befreienden Gelächter beim Anblick

2
Poet. 9, 1451 b 4.
3
Siehe dazu >Plato und die Dichten in Ges. Werke Bd. 5, S. 187-211.
4 >Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff.
Phüeb. 50 b 3 .
Das Spiel der Kunst 87

jenes Spiel, sondern nichts als ihr Spielen, ihren Oberschuß an Leben und
Bewegung, den sie ausleben. Dagegen trägt das Spiel, das einer anfängt,
erfindet oder erlernt, eine Bestimmtheit in sich, die man >meint<. Man ist
sich der Regem und Bedingungen des, Spielverhaltens bewußt, sei es, daß es
sich um Spiele handelt, die man miteinander spielt, sei es in der Weise des
9. Das Spiel der Kunst sportlichen Wettbewerbs, der in einem indirekten Sinne den Charakter des
Spieles trägt. Durch solche Bestimmtheiten grenzt sich das Spielverhalten
(1977) aus allem sonstigen Weltverhalten in scharfer Weise aus1 - weit schärfer als
bei Tieren, deren Spiele mit ihren sonstigen Verhaltensweisen leicht verflie-
ßen. Es macht den Spielcharakter menschlicher Spiele aus, daß Regeln und
Das elementare Phänomen des Spiels und des Spielens durchherrscht die Forderungen aufgestellt werden, die nur in der Geschlossenheit der Spiel-
gesamte Tierwelt. Daß auch das Naturwesen, das der Mensch ist, davon welt gelten. Jeder Spieler vermag sich ihnen zu entziehen, indem er aus dem
bestimmt wird, ist selbstverständlich. Teilt doch das Menschenkind mit all Spiele ausscheidet. Innerhalb des Spieles freilich haben diese Regeln und
den Arten von Tierkindern, deren Spielfreude wir bewundern, auch sonst Forderungen ihre eigene Verbindlichkeit, die man so wenig verletzen kann
sehr vieles - so vieles, daß den menschlichen Beobachter beim Studium des wie irgendwelche uns bestimmenden und verbindlichen Regeln des Zusam-
Verhaltens von Tieren, insbesondere von höheren Tieren, ein Entzücken zu menlebens sonst. Was ist das für eine Geltung, die auf solche Weise verbind-
befallen pflegt, das mit Erschrecken gemischt ist. Wenn Tier und Mensch in lich und eingeschränkt zugleich ist? Ohne Zweifel prägt sich in dieser
so vielem einander so ähnlich sind, kommt dann nicht die Grenze zwischen Besonderheit der menschlichen Spiele, Geltungsforderungen zu enthalten,
Tier und Mensch überhaupt ins Schwimmen? Die moderne Verhaltensfor- eine Art von Sachlichkeit und Sachbezug aus, die dem Menschen eigentüm-
schung hat in der Tat die Fragwürdigkeit solcher Grenzziehung gegenüber lich ist. Die Philosophen nennen das die Intentionalität des Bewußtseins.
dem Tier mehr und mehr zum Bewußtsein gebracht. Wir haben es nicht Das ist freilich ein so ^ dverselles Strukturmoment menschlichen Daseins,
mehr so einfach, wie das 17. Jahrhundert es sich machte. Damals, berauscht daß man gerade die Sachhaltigkeit des menschlichen Spielens und Spielen-
von der menschlichen Auszeichnung des Selbstbewußtseins, die Descartes' könnens als eine spezifisch menschliche Auszeichnung ansehen möchte.
bestimmende Einsicht war, sah man im Tier den bloßen Automaten und nur Bekanntlich redet man von dem Spielelement, das aller menschlichen Kultur
im Menschen das durch Selbstbewußtsein und freien Willen ausgezeichnete eigen ist. Man entdeckt Spielformen im ernstesten menschlichen Betreiben,
Geschöpf Gottes. im Kult, in der Rechtspflege, im Sozialverhalten, wo man geradezu vom
Dieser Rausch ist gründlich verflogen. Seit einem Jahrhundert ist der Rollenspiel spricht usw. Eine gewisse Selbstbeschränkung freier Beliebig-
Verdacht im Wachsen, daß menschliches Verhalten — das des Einzelnen und keit scheint zum Aufbau von Kultur als solcher zu gehören.
mehr noch das der Gruppe—in weit stärkerem Maße von Naturdeterminan- Aber heißt das, daß nur, wo menschliche Kultur ist, das Spielen sich in der
ten bestimmt ist, als es dem Bewußtsein des frei Wählenden und frei Han- Bestimmtheit eines >gemeinten< Verhaltens objektiviert? In einem noch
delnden entspricht. Längst nicht alles, was wir mit dem Bewußtsein unserer tieferen Sinne scheinen^piel und Ernst miteinander verwoben. Es leuchtet
Freiheit begleiten, ist wirklich Folge einer freien Entscheidung. Unbewußte unmittelbar ein, daß mit jeglicher Form von Ernst wie dessen eigener
Faktoren, Triebzwänge und Interessen, steuern nicht nur unser Verhalten, Schattenwurf ein mögliches Spielverhalten verbunden ist. >So tun als ob<
sondern determinieren auch unser Bewußtsein. scheint bei allem Tun, das kein bloßes Triebverhalten ist, sondern etwas
Man fragt sich, ob nicht vieles von dem, was wir für unsere menschlich >meint<, speziell möglich. Das Als-ob ist eine so universale Modifikation,
bewußte Willenswahl in Anspruch nehmen, weit besser von den Instinkt- daß selbst das Spielverhalten von Tieren manchmal wie von einem Anhauch
zwängen des Tierverhaltens aus >verstanden< werden kann. Nimmt nicht am von Freiheit belebt scheint, insbesondere wenn sie sich auf spielerische Weise
Ende auch das menschliche Spielen an solcher Naturbestimmtheit teil, und den Anschein geben, anzugreifen, zu schrecken, zu beißen oder dergleichen.
ist vielleicht selbst das künstlerische Schaffen Auslebung eines Spieltriebes?
Zwar meinen wir stets, >etwas< zu spielen, und glauben uns damit von 1
Zum Begriff des Spiels und des Spielens siehe auch das in >Wahrheit und Methode<
dem Spielverhalten der Tiere und Kleinkinder wohl unterschieden. Diese (Ges. Werke Bd. 1), S. 107ff. Ausgeführte und im folgenden >Die Aktualität des Schö-
spielen wohl auch >mit etwas<, aber sie >meinen< nicht eigentlich dieses oder nen<, S. 113ff.
88 Poetik und Aktualität des Schönen Das Spiel der Kunst 89
Und was bedeutet jene Unterwerfungsgebärde, die man als die Entschei- Ausdruck bringt, ist auch das Werk der Kunst nicht nur es selbst als dieses
dung und Beendung von Kämpfen zwischen Tieren beobachten kann? Auch Gemachte. Man kann es geradezu dadurch definieren, daß es kein Mach-
da handelt es sich allem Anschein nach um Befolgung von Spielregeln. Kein werk ist, das heißt nichts, was man bloß gemacht hat und wieder machen
siegreiches Tier, dem die Unterwerfungsgebärde geboten wird, beißt wirk- kann, sondern etwas, das auf unwiederholbare Weise zustande kam und zu
lich zu. Das ist ein merkwürdiger Tatbestand. Hier treten symbolische seiner einmaligen Erscheinung herausgekommen ist. Es scheint mir daher
Handlungen an die Stelle von Ausführung derselben. Wie stimmt das dazu, fast richtiger, es nicht ein Werk, sondern ein Gebilde zu nennen. Denn in
daß dort alles Instinktzwängen gehorcht und beim Menschen alles der freien diesem Wort >Gebilde< liegt, daß die Erscheinung auf eine seltsame Weise
Entscheidung folgt? den Prozeß ihrer Entstehung hinter sich gelassen oder ins Unbestimmte
Es scheint mir methodisch geboten, gerade solche Obergangsphänomene verbannt hat und sich, ganz auf sich selbst gestellt, in ihrem eigenen Ausse-
zwischen Mensch und Tier aufzusuchen, wenn man das Deutungsschema hen und Erscheinen darstellt.
eines dogmatischen Cartesianismus des Selbstbewußtseins vermeiden will. Das Gebilde weist nicht so sehr zurück auf den Prozeß seiner Bildung, als
Derartige Übergangsphänomene von Spiel und Spielen erlauben, die Linien daß es fordert, als reine Erscheinung in sich selbst wahrgenommen zu
in einen Bereich zu verlängern, der nicht mehr unmittelbar, sondern nur in werden. Das ist besonders greifbar bei den transitorischen Künsten. Dicht-
dem, was dadurch bewirkt und bewerkstelligt wird, zugänglich ist. Ich kunst, Musik und Tanz haben ja überhaupt nichts von der Greifbarkeit eines
meine den Bereich der Kunst. Dabei scheint es mir kein überzeugendes Dinges an sich, und dennoch baut sich der flüchtige und flüssige Stoff, aus
Übergangsphänomen, wenn man den allgemeinen Kunsttrieb in den Bil- dem sie gemacht sind, zur festen Einheit eines Gebildes - immer des gleichen
dungen der Natur ins Auge faßt, an dem man vielleicht auch einen Über- — auf. Wir sagen daher, daß diese Gebilde, Texte, Kompositionen, Tanz-
schußcharakter bemerken kann, der über das Notwendige und Zweckmäßi- schöpfungen als solche sehr wohl Kunstwerke sind, aber in der Selbigkeit
ge hinaus das bildnerische Spiel der Natur charakterisiert. Gerade nicht der ihres Wesens auf Reproduktion angewiesen bleiben. Das Gebilde, das das
Triebcharakter des Kunsttriebes, sondern der Freiheitshauch, der seinen Kunstwerk ist, muß in den reproduktiven Künsten immer wieder'neu
Bildungen anhaftet, ist das Erstaunliche. Daher sind symbolische Handlun- aufgebaut werden. Wasso in den transitorischen Künsten ganz handgreiflich
gen wie die beschriebenen von besonderem Interesse. Im menschlichen ist, belehrt in Wahrheit darüber, daß nicht nur diese reproduktiven Künste
Bilden besteht ja das entscheidende Moment von Kunstfertigkeit auch nicht Darstellung verlangen, sondern in gewisser Weise jedes Gèoilde, das wir ein
darin, daß da etwas von trefflicher Brauchbarkeit oder von überflüssiger Kunstwerk nennen. Es verlangt von dem Betrachter, vor dem es sich
Schönheit zustande gekommen ist, sondern darin, daß menschliches Her- darbietet, aufgebaut zu werden. Es ist ja nicht, was es ist. Es ist etwas, was es
stellen sich derart verschiedene Aufgaben stellen kann und nach Plänen nicht ist, kein bloßes Zweckbestimmtes, das man in Gebrauch nimmt, oder
vorgeht, die ein Moment freier Beliebigkeit auszeichnet. Menschliches Ma- gar materielles Ding, aus dem man etwas anderes machen kann, sondern
chen kennt eine gewaltige Variabilität von Probieren und Verwerfen, Gelin- etwas, das sich im Betrachtenden erst zu dem erbaut, als das es erscheint und
gen und Mißlingen. Erst da beginnt eben die >Kunst<, wo man auch anders sich ausspielt.
kann. Vollends dort, wo wir von Kunst und künstlerischem Schaffen im Ein eigentümliches Übergangsphänomen kann das veranschaulichen, das
eminenten Sinne reden, ist nicht das Zustandekommen von etwas Gemach- Lesen. Im strengen Sinne ist es, sofern es kein lautes Lesen oder gar Vorlesen
tem das Entscheidende, sondern daß das Gemachte von ganz besonderer ist, keine Produktion in der Art der reproduktiven Künste. Es erzeugt keine
Eigenart ist. Es >meint< etwas und ist doch nicht das, was es meint. Es ist selbständige neue Wirklichkeit - und doch ist es wie unterwegs dazu - und
nicht ein Werkstück, das wie alle Werkstücke menschlicher Arbeit durch auf alle Weise.
seine Dienlichkeit zu etwas bestimmt ist. Zwar ist es ein Produkt, das heißt
So hat es immer nahegelegen, die Erfahrung der Kunst mit dem Begriff
etwas, was durch menschliches Machen hergestellt worden ist und nun da
des Spieles zusammenzubringen. Kant hat die Interesselosigkeit, Zweckfrei-
ist, zur Verfugung und zum Gebrauch. Aber gerade jeglichen Gebrauch
heit und Begrififlosigkeit des Wohlgefallens am Schönen als einen Gemüts-
verweigert das Kunstwerk. Es ist so nicht >gemeint<. Es hat etwas von dem
zustand beschrieben, in dem unsere geistigen Vermögen,· Verstand und
Charakter des Als-ob, den wir als einen Grundzug im Wesen des Spielens
Einbildungskraft, in einem freien Spiele miteinander spielen. Schiller hat
erkannten. Es ist ein >Werk<, weil es wie ein Gespieltes ist. Es ist nicht das, als
diese Beschreibung auf die Basis der Fichteschen Trieblehre übertragen und
was sonst solches begegnet, sondern steht fur etwas. So wie eine symboli-
das ästhetische Verhalten einem Spieltrieb zugewiesen, der in der Mitte
sche Gebärde nicht nur sie selbst ist, sondern etwas anderes dadurch zum
zwischen dem Stofftrieb und dem Formtrieb seine eigene freie Möglichkeit
90 Poetik und Aktualität des Schönen Das Spiel der Kunst 91

entfaltet. Insofern ist durch das ästhetische Denken der Neuzeit >der Anteil Ganzen so mit mir teilt, daß wir beide sie ganz haben. Das unterscheidet
des Subjekts< beim Aufbau der ästhetischen Erfahrung zu seiner vollen offenbar echte Mitteilung von der heuchelnd gespielten Teilnahme. Deren
Beachtung gekommen. Aber die Erfahrung der Kunst bietet auch jene >Schein< ist gerade nicht der mir und dir gemeinsame Schein, sondern der
andere Seite, in der der Spielcharakter des Gebildes als solcher, sein bloßes falsche Anschein, der nur für den andern geweckt werden soll. Wahrer
Gespieltsein, in den Vordergrund rückt. Dafür ist immer noch der alte Schein - das ist das Gebilde der Kunst. Es ist so sehr allen gemeinsam, daß
griechische Begriff der >Mimesis< die eigentliche Basis2. selbst der Schöpfer solcher Gebilde kein Privileg vor dem Aufnehmenden
Die Griechen unterscheiden zwischen zwei Formen des Herstellens, dem behält. Eben weil er sich geäußert hat, behält er nichts für sich, sondern hat
handwerklichen Herstellen, das Brauchbares fabriziert, und dem mimeti- sich vollständig mitgeteilt. Das >Werk< spricht für ihn.
schen Herstellen, das nichts >Wirkliches< schafft, sondern nur etwas zur Man muß diesen Seinssinn von Mimik und Mimesis im Auge behalten,
Darstellung bringt. Auch in unserem eigenen Sprachgebrauch haben wir wenn man einsehen soll, in welchem essentiellen Sinne Kunst den Charakter
etwas von dieser letzteren Erscheinungsform des Herstellens uns bewahrt, des Spieles hat. Mimik ist Nach-Ahmung. Das hat nichts zu tun mit einem
nämlich dort, wo wir vom >Mimischen< sprechen. Wir gebrauchen dieses Verhältnis von Abbild und Urbild oder gar mit einer Kunsttheorie, derzu-
Wort ja nicht nur dort, wo wir das Mienenspiel, die Gestik von jemandem folge die Kunst eine Nachahmung der >Natun, das heißt des von sich aus
charakterisieren wollen, sondern insbesondere, wo es sich um die bewußte Seienden sei - ein krasses naturalistisches Mißverständnis. Gerade die Rück-
Nachahmung des ganzen Verhaltens einer Person handelt, sei es im kunstlo- besinnung auf das Wesen des Mimischen kann davor bewahren. Das mimi-
sen Nachmachen eines anderen, sei es in der kunstvollen Verkörperung einer sche Urverhältnis ist nicht ein abbildendes Nachmachen, bei dem man sich
>Rolle< durch den Schauspieler. Im Sinne des Mimischen ist gelegen, daß der anstrengt, einem Urbild möglichst nahe zu kommen - es ist vielmehr
eigene Körper Träger des mimischen Ausdrucks ist und als Kunst etwas zur Zeigen. Zeigen heißt nicht, etwas vorzeigen, wie ein Beweisstück, an dem
Darstellung bringt, was er nicht ist. Die Rolle ist >gespielt<. Das schließt etwas bewiesen wird, was auf andere Weise nicht mehr zugänglich ist.
einen eigenartigen Seinsanspruch ein. Es ist etwas anderes als ein gespieltes Zeigen heißt überhaupt nicht, ein Verhältnis zwischen dem Zeigenden und
Erstaunen oder eine gespielte, geheuchelte Teilnahme, die im menschlichen dem Gezeigten als solches meinen. Es weist von sich selber gerade weg. Wer
Umgang begegnen. Die mimische Darstellung ist kein Spiel, das vor- auf das Zeigende sieht, wie der Hund auf die ausgestreckte Hand, dem kann
täuscht, sondern ein Spiel, das sich als Spiel mitteilt, so daß es für nichts man nichts zeigen. Vielmehr meint Zeigen, daß der, dem man etwas zeigt,
anderes genommen wird, als es sein möchte: bloße Darstellung. Das ist der selber und richtig sehen soll. In diesem Sinne ist Nachahmen Zeigen. Denn
deutliche Unterschied. Die heuchlerisch gespielte Teilnahme zum Beispiel im Nachahmen wird immer etwas mehr sichtbar, als was die sogenannte
will geglaubt sein - selbst dann besteht dieser Anspruch fort, wenn sie in Wirklichkeit bietet. Das Gezeigte ist sozusagen heraus-gelesen aus dem
ihrer Unechtheit oder Gekünsteltheit spürbar wird. Die mimische Nachah- Andrang des Vielen. All das andere ist nicht gemeint - nur das Gezeigte ist
mung dagegen will nicht >geglaubt<, sondern als Nachahmung verstanden gemeint. Es wird als das Gemeinte ins Auge gefaßt und damit in eine Art
werden. Sie ist nicht geheuchelt, ist nicht falscher, sondern aufklare Weise Idealität erhoben. Es ist nicht länger dieses oder jenes Sichtbare, sondern als
>wahrer< Schein, ist als Schein >wahr<. Sie wird als Schein wahrgenommen, etwas gezeigt und bezeichnet. Wenn man sieht, was einer einem zeigt, ist das
wie sie gemeint ist. stets ein Akt der Identifikation und damit der Wiedererkenntnis.
Auch wenn wir das schwierige Problem beiseite lassen, was das Sein von Wo es sich um Kunst handelt, ist das merkwürdigerweise oft noch bei
Schein eigentlich ist, so ist doch jedenfalls klar, daß dort, wo der Sinn von reproduktiven Wiederholungen unverkennbar. Es ist erstaunlich, mit wel-
Gespieltsein impliziert ist, der so erscheinende Schein in die Dimension cher Unfehlbarkeit wir bei den oft hervorragenden fotografischen Repro-
dessen gehört, was man Mitteilung nennt. Das Spiel des Kunst-Scheins duktionen in illustrierten Tageszeitungen die wirkliche fotografische Repor-
spielt zwischen mir und dir. Ich nehme das Gebilde genauso als ein bloßes tage und die Reproduktion eines gemalten Porträts oder sogar einer - noch
Gebilde wie du, und gerade das nennen wir >Mitteilung<, daß der andere an so realistischen - Filmszene zu unterscheiden wissen. Das meint nicht, daß
dem, was ich ihm mitteile, teilbekommt, und zwar nicht etwa nur einen Teil die Filmszene doch irgendwo unnatürlich geblieben ist oder das realistische
von dem empfängt, was da mitgeteilt wird, sondern die Kenntnis des Porträt nicht realistisch genug gemalt war. Es schlägt vielmehr etwas ande-
res dabei durch, selbst in diesem Medium der Zeitungsreproduktion. Ari-
2
Siehe dazu auch im vorhergehenden >Kunst und Nachahmung* (Nr. 4) sowie »Dich- stoteles hat recht: Die Poesie macht mehr das Allgemeine sichtbar, als je die
tung und Mimesis« (Nr. 8). Historie, das heißt die getreue Schilderung von Tatsachen und wirklichen
92 Poetik und Aktualität des Schönen Das Spiel der Kunst 93

Ereignissen, es vermag. Im Als-ob der poetischen Erfindung, der plasti- kehrte gewußt und in der göttlichen Leichtigkeit des Spieles die schöpferi-
schen oder malerischen Bildgestaltung wird offenbar eine Teilhabe möglich, sche Macht des Lebens - und der Kunst - gefeiert.
die den Zufallswirklichkeiten mit ihren einschränkenden Bedingungen nicht Es ist die Erfahrung einer entfremdeten Welt, wenn auf dem Gegensatz
in der gleichen Weise erreichbar ist. Die fotografische Dokumentation sol- zwischen Leben und Kunst bestanden wird3, und es ist eine Abstraktion, die
cher zufälliger Wirklichkeit, etwa die fotografische Aufnahme eines amtie- gegen die Verwobenheit von Kunst und Leben blind macht, wenn man die
renden Staatsmannes, gewinnt ihre Bedeutung erst aus einem zuvor bekann- universale Reichweite und die ontologische Dignität des. Spieles verkennt.
ten Zusammenhang. Die Reproduktion eines künstlerischen Porträts Es ist nicht so sehr die andere Seite des Ernstes, als vielmehr der wahre
spricht ihre eigene Bedeutung aus - auch dann noch, wenn man nicht weiß, Lebensgrund der Natürlichkeit des Geistes, Bindung und Freiheit zugleich.
wer der Dargestellte ist. Sie läßt nicht nur das Allgemeine erkennen, sondern Gerade weil es nicht bloße Freiheit der Beliebigkeit und des blinden Natur-
vereinigt uns eben dadurch auf das allen Gemeinsame hin. Gerade weil das überschusses ist, was in den schöpferischen Gestaltungen der Kunst vor uns
Reproduzierte >nur< ein Gemälde ist und nicht eine >wirkliche< Fotografie, steht, vermag es alle Ordnungen unseres sozialen Lebens zu durchdringen,
weil es also nur >Gespieltes< ist, umfaßt es uns als Mitspieler. Wir wissen, wie durch alle Klassen, Rassen, Bildungsstufen hindurch. - Denn diese Gestal-
es gemeint ist, und nehmen es so. tungen unseres Spielens sind Formungen unserer Freiheit.
Man mag von hier aus ermessen, wie unangemessen das Kunstverständnis
und der Kunstbetrieb im Zeitalter der Kulturindustrie geworden ist, die den
Mitspieler zum bloßen auszubeutenden Konsumenten degradiert. Es ist ein
falsches Selbstverständnis, das einem da zugemutet wird. Den bloßen Zu-
schauer gibt es gar nicht, der sich im Theater oder Konzertsaal, im Museum
oder in der Abgeschiedenheit des Lesens einem ästhetischen oder Bildungs-
genuß in unberührbarer Distanz hingibt. Er mißversteht sich selbst. Es ist
eine Fluchtbewegung des ästhetischen Selbstverständnisses, in der Begeg-
nung mit dem Kunstwerk bloße Entrückung oder Verzauberung - das heißt
eine bloße Befreiung vom Druck der Wirklichkeit - zu erblicken und den
Genuß solcher Scheinfreiheit zu genießen.
Was wir am Vergleich zwischen den Spielen, welche die Menschen sich
erfunden und geschaffen haben, und der unbezogenen Spielbewegung des
reinen Lebensüberschusses zu lernen haben, ist eben dies, daß das im Spiel
der Kunst Gespielte keine Ersatz- oder Traumwelt ist, in der wir uns
vergessen. Das Spiel der Kunst ist vielmehr ein durch die Jahrtausende
hindurch immer aufs neue vor uns auftauchender Spiegel, in dem wir uns
selber erblicken - oft unerwartet genug, oft fremdartig genug -, wie wir
sind, wie wir sein könnten, was es mit uns ist. Ist es nicht am Ende immer ein
falscher Schein, wenn man Spiel und Ernst so voneinander trennt, daß das
Spiel nur in ausgegrenzten Bereichen, in Randgebieten unseres Ernstes,
zugelassen wird - in der >Freizeit<, die wie ein Renkt von verlorener Freiheit
zeugt? Spiel und Ernst, die Lebensbewegung aus Überschuß und Ober-
schwang und die gespannte Kraft unserer Lebensenergie, sind in Wahrheit
zutiefst ineinander verwoben. Das eine wirkt auf das andere zurück. Daß
Spielenkönnen die Ausübung eines höchsten Ernstes ist, haben tieferblik-
kende Kenner der menschlichen Natur nicht verkannt. So lesen wir bei
Nietzsche: »Reife des Mannes, das heißt, den Ernst wiedergefunden haben,
den man als Kind hatte - beim Spiel. « Nietzsche hat aber auch das Umge- Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 88ff.
Die Aktualität des Schönen 95

gebung für die Formensprache der bildenden Künstler und später auch für
die Redeformen der Poesie und der Erzählkunst, die der Kunst eine neue
Legitimation brachte. Das war insoweit eine begründete Entscheidung, als
es ja nur der neue Inhalt der christlichen Verkündigung war, in dem sich die
tradierte Formensprache neu legitimieren konnte. Die >Biblia pauperum<,
10. Die Aktualität des Schönen die Bibel für die Armen, die nicht lesen oder kein Latein können und
deswegen die Sprache der Verkündigung nicht mit vollem Verständnis
Kunst als Spiel, Symbol und Fest aufnehmen, war — als Bild-Erzählung — eines der maßgebenden Leitmotive
für die Rechtfertigung der Kunst im Abendland.
(1974) Wir leben in unserem Bildungsbewußtsein weitgehend von den Früchten
dieser Entscheidung, d. h. von der großen Geschichte der abendländischen
Kunst, die über die christliche Kunst des Mittelalters und die humanistische
Erneuerung der griechischen und römischen Kunst und Literatur eine ge-
Es scheint mir sehr bedeutungsvoll, daß es sich bei der Frage der Rechtferti-
meinsame Formensprache für die gemeinsamen Inhalte unseres Selbstver-
gung der Kunst nicht nur um ein aktuelles, sondern um ein sehr altes Thema
ständnisses entwickelt hat - bis in die Tage des ausgehenden 18. Jahrhun-
handelt. Ich habe meine eigenen Anfänge als Gelehrter dieser Frage gewid-
derts, bis zu der großen gesellschaftlichen Umschichtung und politischen
met, indem ich eine Schrift >Plato und die Dichten (1934) veröffentlichte1. In
und religiösen Veränderung, mit der das 19. Jahrhundert einsetzte.
der Tat war es die neue philosophische Gesinnung und der neue Anspruch
Im österreichischen und im Süddeutschen braucht man die Synthese
auf Wissen, den die Sokratik erhob, unter dem zum erstenmal in der Ge-
antik-christlicher Inhalte, die in den gewaltigen Brandungswellen barocken
schichte des Abendlandes, soweit wir wissen, Kunst vor ihre Legitimations-
Kunstschaffens so lebendig vor uns aufschäumt, nicht mit Worten vor
forderung gestellt wurde. Zum erstenmal wurde hier sichtbar, daß es sich
Augen zu stellen. Freilich hatte auch dieses Weltalter der christlichen Kunst
nicht von selbst versteht, daß die Weitergabe traditioneller Inhalte in bildne-
und der christlich-antiken, christlich-humanistischen Tradition seine An-
rischer oder erzählerischer Form, die auf eine vage Weise Aufnahme und
fechtungen und erfuhr Umwandlungen, zu denen nicht zuletzt der Einfluß
Ausdeutung erfahren, das Recht auf Wahrheit besitzt, das sie beansprucht.
der Reformation gehörte. Sie stellte ihrerseits eine neue Kunstart in besonde-
So ist es in der Tat ein ernstes altes Thema, das immer dann aufgeworfen
rer Weise in den Mittelpunkt: die durch den Gemeindegesang getragene
wird, wenn ein neuer Anspruch auf Wahrheit sich der Traditionsform
Form einer Musik, die vom Wort her die Formensprache der Musik neu
entgegenstellt, die sich in der Gestalt dichterischer Erfindung oder künstleri-
beseelte — man denke an Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach — und
scher Formensprache fortspricht. Man denke an die spätantike Kultur mit
damit die ganze große Tradition christlicher Musik in ein Neues hinein
ihrer oft beklagten Bilderfeindlichkeit. Damals, als die Wände durch Inkru-
fortsetzte, eine Tradition ohne Bruch, die mit dem Choral, d. h. letzten
station und Mosaik und Dekoration bedeckt wurden, klagten die bildenden
Endes mit der Einheit der lateinischen Hymnensprache und der gregoriani-
Künstler der Zeit, daß ihre Zeit vorüber sei. Ähnliches gilt für die Beschrän-
schen Melodie, anhob, die dem großen Papst als Gabe gegeben war.
kung und Beendung der Rede- und dichterischen Gestaltungsfreiheit, die
mit dem römischen Imperium über die spätantike Welt gekommen ist und Das Problem, d. h. die Frage nach der Rechtfertigung der Kunst, gewinnt
die Tacitus in seinem berühmten Dialog über den Verfall der Redekunst, auf diesem Hintergrund eine bestimmte erste Orientierung. Wir können uns
dem >Dialogus de oratoribus<, beklagte. Man denke aber vor allem - und für diese Fragestellung der Hilfe derer bedienen, die über die gleiche Frage
damit nähern wir uns bereits unserem Heute mehr, als uns im ersten Augen- ehedem nachgedacht haben. Dabei sei nicht geleugnet, daß die neue Situa-
blick vielleicht bewußt ist - an die Stellung, die das Christentum zur Tradi- tion der Kunst, die wir in unserem Jahrhundert erleben, nun wirklich als
tion der Kunst einnahm, die es vorfand. Es ist eine Entscheidung säkularer Bruch einer einheitlichen Tradition zu gelten hat, deren letzte große Nach-
Art gewesen, als der Bildersturm abgewehrt wurde, der in der späteren welle das 19. Jahrhundert dargestellt hat. Als Hegel, der große Lehrer des
Entwicklung der christlichen Kirche des ersten Jahrtausends, im 6. und spekulativen Idealismus, in Heidelberg zum erstenmal und dann in Berlin
7. Jahrhundert vor allem, einsetzte. Damals fand die Kirche eine neue Sinn- seine Ästhetikvorlesungen hielt, war eines seiner einleitenden Motive die
1
Jetzt in Ges. Werke Bd. 5, S. 187-211.
96 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 97

Lehre von dem »Vergangenheitscharakter der Kunst«2. Wenn man die rung, wie wir sie heute als Zeitgenossen am Schaffen der abstrakten und
Hegeische Fragestellung rekonstruiert und neu durchdenkt, entdeckt man gegenstandslosen bildenden Kunst erleben. Es war auch sicherlich nicht
mit Erstaunen, wie sehr sie unsere eigenen Fragen an die Kunst vorformu- Hegels eigene Reaktion, die jedem Besucher des Louvre heute widerfährt,
liert. Ich möchte das in einer einleitenden Betrachtung in aller Kürze vorfuh- wenn er in diese großartige Sammlung der hohen und reifen Malkunst des
ren, damit wir die Motivation einsehen, warum wir im Fortgang unserer Abendlandes eintritt und als erstes mit den Révolutions- und Krönungsbil-
Überlegungen hinter die Selbstverständlichkeit des herrschenden Kunstbe- dern der Revolutionskunst des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts
griffs zurückfragen müssen und die anthropologischen Fundamente aufzu- überfallen wird.
decken haben, auf denen das Phänomen der Kunst aufruht und von denen Hegel meinte sicher nicht - wie sollte er auch? - , daß mit dem Barock und
her wir seine neue Legitimation erarbeiten müssen. seinen späten Rokokoformen der letzte abendländische Stil über die Bühne
»Der Vergangenheitscharakter der Kunst« — das ist eine Formulierung der Menschheitsgeschichte geschritten war. Er wußte nicht, was wir in der
Hegels, mit der er in radikaler Zuspitzung den Anspruch der Philosophie Rückschau wissen, daß nun das historisierende Jahrhundert einsetzte, und
formulierte, der dahin geht, unser Erkennen der Wahrheit selber noch zum ahnte nicht, daß im 20. Jahrhundert die kühne Selbstbefreiung aus den
Gegenstand unseres Erkennens zu machen, unser Wissen des Wahren selber historischen Banden des 19. Jahrhunderts es in einem anderen, gewagten
zu wissen. Diese Aufgabe und dieser Anspruch, den Philosophie von jeher Sinne wahr machen würde, daß alle bisherige Kunst als etwas Vergangenes
erhob, ist in Hegels Augen nur dann vollendet, wenn sie die Wahrheit, wie erscheint. Er meinte vielmehr, wenn er vom Vergangenheitscharakter der
sie in der Zeit in geschichtlicher Entfaltung zutage getreten ist, in einer Kunst sprach, daß sich die Kunst nicht mehr in der Weise von selber
großen Summe und Ernte in sich begreift. Daher war es der Anspruch der verstehe, wie sie sich in der griechischen Welt und ihrer Darstellung des
Hegeischen Philosophie, gerade auch und vor allem die Wahrheit der christ- Göttlichen mit Selbstverständlichkeit verstanden hatte. In der griechischen
lichen Verkündigung in den Begriff zu erheben. Das gilt selbst für das tiefste Welt war es die Erscheinung des Göttlichen in der Skulptur und im Tempel,
Geheimnis der christlichen Lehre, das Geheimnis der Trinität, von dem ich der im südlichen Licht offen in die Landschaft hineinstand, sich gegen die
persönlich glaube, daß es als Herausforderung für das Denken wie als ewigen Mächte der Natur niemals verschließend. Es war die große Skulp-
Verheißung, die die Grenzen menschlichen Begreifens ständig überschrei- tur, in der das Göttliche sich in der Gestaltung durch Menschen und in der
tet, den Gang des menschlichen Nachdenkens im Abendland beständig Gestalt von Menschen anschaulich darstellte. Die eigentliche These Hegels
belebt hat. ist, daß der Gott und das Göttliche für die griechische Kultur in der Form
Es war in der Tat der verwegene Anspruch Hegels, daß seine Philosophie ihres eigenen bildnerischen und gestalterischen Sagens eigens und eigentlich
selbst dieses äußerste Geheimnis christlicher Lehre, an dem sich das Denken offenbar wurde und daß bereits mit dem Christentum und seiner neuen und
der Theologen wie der Philosophen seit vielen Jahrhunderten abarbeitete, vertieften Einsicht in die Jenseitigkeit Gottes ein adäquater Ausdruck ihrer
zuschärfte, verfeinerte und vertiefte, umfaßt und die volle Wahrheit dieser eigenen Wahrheit in der Formensprache der Kunst und in der Bildersprache
christlichen Lehre in der Form des Begriffes versammelt "habe. Ohne diese dichterischer Rede nicht mehr möglich war. Das Werk der Kunst ist nicht
dialektische Synthese einer sozusagen philosophischen Trinität, einer stän- mehr das Göttliche selbst, das wir verehren. Der Vergangenheitscharakter
digen Auferstehung des Geistes, in der Weise, wie Hegel das versucht hat, der Kunst stellt eine These dar, welche einschließt, daß mit dem Ende der
hier vorzufuhren, mußte ich dieselbe doch erwähnen, damit Hegels Stellung Antike Kunst rechtfertigungsbedürftig erscheinen muß. Ich deutete bereits
zur Kunst und seine Aussage über den Vergangenheitscharakter der Kunst an, daß die Leistung dieser Rechtfertigung durch die christliche Kirche und
überhaupt verständlich wird. Was Hegel meint, ist nämlich in erster Linie die humanistische Verschmelzung mit antiker Tradition im Laufe der Jahr-
nicht das Ende der abendländisch-christlichen Bildtradition, das damals in hunderte auf die großartige Weise erbracht worden ist, die wir die christliche
der Tat erreicht war — wie wir heute meinen. Was er als Zeitgenosse Kunst des Abendlandes nennen.
empfand, war erst recht nicht ein Sturz in Verfremdung und Herausforde- Es ist überzeugend, daß Kunst damals, als sie in einem großen Rechtferti-
2
gungszusammenhang mit der Welt um sich stand, eine selbstverständliche
Vgl. dazu meine beiden Hegel-Studien in diesem Band (Nr. 18 u. 19) sowie den Integration zwischen Gemeinschaft, Gesellschaft, Kirche und dem Selbst-
Aufsatz >Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rücksicht auf
verständnis des schaffenden Künstlers vollbrachte. Unser Problem ist aber
Hegel< von DIETER HENKICH in: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als
Paradigma der Moderne, hrsg. von WOLFGANG ISER (München 1966) und meine Rezen- gerade, daß diese Selbstverständlichkeit und damit die Gemeinsamkeit eines
sion in: Philosophische Rundschau 15 (1968)^ jetzt in diesem Band S. 62ff. umfassenden Selbstverständnisses nicht weiterbesteht - und zwar schon im
98 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 99

19. Jahrhundert nicht mehr. Das drückt sich in Hegels These aus. Schon Zentralperspektive nicht eine selbstverständliche Gegebenheit bildnerischen
damals begann es, daß sich die großen Künstler mehr oder minder ortlos in Sehens und bildnerischen Schaffens. Es gab sie im christlichen Mittelalter
einer sich industrialisierenden und kommerzialisierenden Gesellschaft wuß- überhaupt nicht. Es war in der Renaissance, in diesem Zeitalter des starken
ten, so daß der Künstler den alten Ruch und Ruf der fahrenden Leute neuen Auflebens naturwissenschaftlicher und mathematischer Konstruk-
sozusagen am eigenen Bohemeschicksal bestätigt fand. Es war bereits im tionsfreude, daß die Zentralperspektive als eines der großen Wunder des
19. Jahrhundert so, daß jeder Künstler in dem Bewußtsein lebte, daß die menschlichen Fortschritts in Kunst und Wissenschaft für das Malen verbind-
Selbstverständlichkeit der Kommunikation zwischen ihm und den Men- lich wurde. Das langsame Ende der Selbstverständlichkeit dieser Erwartung
schen, unter denen er lebt und für die er schafft, nicht mehr fortbestand. Der der Zentralperspektive hat uns überhaupt erst so ganz die Augen für die
Künstler des 19. Jahrhunderts steht nicht in einer Gemeinde, sondern er große Kunst des hohen Mittelalters geöffnet, für die Zeit, in der das Bild
schafft sich eine Gemeinde, mit all der Pluralität, die dieser Situation ange- noch nicht wie ein Auslug durch ein Fenster vom nahen Vordergrund bis in
messen ist, und mit all der übersteigerten Erwartung, die damit notwendig den fernen Horizont hinein verdämmert, sondern klar lesbar wie eine Zei-
verknüpft ist, wenn eingestandene Pluralität sich mit dem Anspruch ver- chenschrift, eine Schrift aus Bildzeichen, unsere geistige Belehrung in eins
knüpfen muß, daß allein die eigene Schaffensform und Schaffensbotschaft mit unserer geistlichen Erhebung leistete.
die wahre sei. Das ist in der Tat das messianische Bewußtsein des Künstlers So war die Zentralperspektive nur eine historisch gewordene und vor-
im 19. Jahrhundert. Wie eine Art »neuer Heiland« (Immermann) fühlt er sich übergehende Gestaltungsform unseres bildnerischen Schaffens. Aber ihre
in seinem Anspruch an die Menschen. Er bringt eine neue Botschaft der Durchbrechung war der Vorläufer viel weitergehender und unsere Formtra-
Versöhnung, und wie ein Außenseiter der Gesellschaft bezahlt er diesen dition weitgehend verfremdender Entwicklungen modernen Schaffens. Ich
Anspruch, indem er mit seinem Künstlertum nur noch Künstler für die erinnere an die kubistische Formzertrümmerung, an der sich um 1910
Kunst ist. herum fast alle großen Maler der Zeit mindestens eine Zeitlang versuchten,
Aber was ist das alles gegen die Befremdung und den Stoß, den das neuere und an die Umwandlung dieses kubistischen Traditionsbruches in die voll-
Kunstschaffen unseres Jahrhunderts unserem öffentlichen Selbstverständnis ständige Aufhebung des Gegenstandsbezuges bildnerischer Formung über-
zumutet? haupt. Ob diese Aufhebung unserer gegenständlichen Erwartungen wirk-
Ich möchte taktvoll davon schweigen, wie prekär es etwa für den repro- lich total ist, mag dahingestellt sein. Doch eines ist sicher: Die naive Selbst-
duzierenden Künstler ist, moderne Musik im Konzertsaal zu Gehör zu verständlichkeit, daß das Bild ein Anblick ist — so wie der Anblick, den uns
bringen. Er kann das ja meist nur als Mittelstück eines Programms tun - unsere tägliche Lebenserfahrung von der Natur oder der von Menschen
sonst kommen die Zuhörer entweder nicht rechtzeitig oder gehen zu früh- gestalteten Natur verschafft—, ist offenkundig gründlich zerstört. Man kann
zeitig: Ausdruck einer Situation, die es früher nicht geben konnte und über ein kubistisches Bild oder ein Bild der Gegenstandslosen nicht mehr >uno
deren Bedeutung wir nachdenken müssen. Was darin zum Ausdruck intuitiK, mit einem lediglich aufnehmenden Blick, sehen. Man hat dazu eine
kommt, ist der Zwiespalt zwischen Kunst als Bildungsreligion auf der einen besondere Leistung des Tätigseins zu vollbringen: Man hat die verschiede-
Seite und Kunst als Provokation durch den modernen Künstler auf der nen Facetten, deren Risse auf der Leinwand erscheinen, in eigener Arbeit zu
anderen Seite. Ansätze dessen und die allmähliche Zuspitzung dieses Kon- synthetisieren, und dann mag man am Ende von der tiefen Stimmigkeit und
fliktes lassen sich etwa an der Geschichte der Malerei des 19. Jahrhunderts Richtigkeit einer Schöpfung genauso ergriffen und erhoben werden, wie das
leicht verfolgen. Es war schon eine Vorbereitung der neuen Provokation, als in früheren Zeiten auf der Basis einer gemeinsamen Bildinhaltlichkeit frag-
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der Grundvoraussetzungen los geschah. Was das für unser Nachdenken bedeutet, wird zu fragen sein4.
des Selbstverständnisses der bildenden Kunst in den letzten Jahrhunderten Oder ich erinnere an die moderne Musik, an das völlig neue Vokabular von
brüchig wurde: die Geltung der Zentralperspektive3. Harmonie und Dissonanz, das da benutzt wird, an die eigentümliche Ver-
Das ist zuerst in Bildern von Hans von Marées zu beobachten, und später dichtung, die durch den Bruch mit den alten Kompositionsregeln und der
knüpfte sich daran die große revolutionäre Bewegung, die vor allem in der Satzarchitektur der großen musikalischen Klassik erreicht wird. Man kann
Meisterschaft von Paul Cézanne Weltgeltung erworben hat. Gewiß ist die sich dem so wenig entziehen, wie man sich der Tatsache entziehen kann, daß

3 4
Vgl. GOTTFRIED BOEHM, Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der Vgl. dazu in diesem Band die Beiträge >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4) und >Vom
Frühen Neuzeit. Heidelberg 1969. Verstummen des Bildes< (Nr. 28).
100 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 101

man, wenn man durch ein Museum geht und in die Säle der neuesten wenn er in Museen geht und von einem Saal in den andern tritt oder wenn er
künstlerischen Entwicklung eintritt, etwas wahrhaft hinter sich läßt. Wenn - vielleicht gegen seine Neigung — in einem Konzertprogramm oder in
man sich auf das Neue einläßt, dann bemerkt man bei der Rückkehr zu dem einem Theaterstück mit moderner Kunst oder auch nur mit modernistischer
Älteren ein eigentümliches Verblassen unserer Aufhahmebereitschaft. Das Reproduktion von klassischer Kunst konfrontiert wird. Er ist es immer.
ist gewiß nur eine Kontrastreaktion und durchaus nicht die bleibende Erfah- Unser tägliches Leben ist ein beständiges Schreiten durch die Gleichzeitig-
rung eines bleibenden Verlustes, aber gerade die Schärfe des Kontrastes keit von Vergangenheit und Zukunft. So gehen zu können, mit diesem
zwischen diesen neuen Formen von Kunst und den alten wird daran deut- Horizont offener Zukunft und unwiederholbarer Vergangenheit, ist das
lich. Wesen dessen, was wir >Geist< nennen. Mnemosyne, die Muse des Gedächt-
Ich erinnere an die hermetische Poesie, der seit jeher das besondere Inter- nisses, die Muse der erinnernden Aneignung, die darin waltet, ist zugleich
esse der Philosophen gilt. Denn wo kein anderer versteht, scheint der die Muse der geistigen Freiheit. Das Gedächtnis und die Erinnerung, welche
Philosoph berufen. Die Poesie unserer Zeit ist in der Tat an die Grenze des die vergangene Kunst und die Tradition unserer Kunst in sich aufnimmt, so
bedeutungshaft Verständlichen vorgedrungen, und vielleicht sind gerade wie die Kühnheit des neuen Experimentierens mit unerhörten formwidri-
die größten Leistungen der Größten unter diesen Künstlern des Wortes von gen Formen sind die gleiche Betätigung des Geistes. Wir werden uns fragen
dem tragischen Verstummen im Unsagbaren gezeichnet5. Ich erinnere an müssen, was aus dieser Einheit von Gewesenem und Heutigem folgt.
das neue Drama, für das die klassische Lehre von der Einheit von Zeit und Diese Einheit ist aber nicht nur eine Frage unserer ästhetischen Selbstver-
'Handlung längst wie ein vergessenes Märchen klingt und in dem selbst die ständigung. Es ist nicht nur die Aufgabe, uns bewußtzumachen, wie eine
Einheit des Charakters bewußt und betont verletzt wird, ja wo die Verlet- tiefere Kontinuität vergangene Formsprachen mit dem Formbruch der Ge-
zung dessen zum Formprinzip neuer dramatischer Gestaltung wird, wie genwart verbindet. Es ist ein neues gesellschaftliches Agens in dem An-
etwa bei Bertolt Brecht. Und ich erinnere an die moderne Architektur: Was spruch des modernen Künstlers. Es ist eine Art Frontstellung gegen die
für eine Befreiung - oder Versuchung? - ist es geworden, den hergebrachten bürgerliche Bildungsreligion und ihr Zeremoniell des Genusses, die den
Gesetzen der Statik mit Hilfe der neuen Materialien etwas entgegensetzen zu Künstler von heute in mannigfaltiger Weise auf den Weg gelockt hat, unsere
können, was mit Bauen, mit dem Schichten von Stein auf Stein, keine Aktivität in seine eigenen Ansprüche einzubeziehen, so wie es bei jedem
Ähnlichkeit mehr hat, vielmehr eine völlig neue Schöpfung darstellt - diese Aufbau eines kubistischen oder ungegenständlichen Bildes geschieht, in
Gebäude, die sozusagen auf der Spitze stehen oder auf dünnen, schwachen dem die Facetten der wechselnden Anblicke vom Beschauer schrittweise
Säulen, und wo die Mauer, die Wände, das schützende Gehäuse durch synthetisiert werden sollen. Es liegt im Anspruch des Künstlers, die neue
Öffnung zu zeltgleichen Bedachungen und Bedeckungen ersetzt sind. Die- Kunstgesinnung, aus der er schafft, zugleich als eine neue Solidarisierung,
ser kurze Überblick sollte nur bewußtmachen, was eigentlich geschehen ist als eine neue Form der Kommunikation aller mit allen, ins Werk zu setzen.
und warum Kunst heute eine neue Frage stellt — ich meine: warum verste- Ich meine damit nicht nur, daß die großen schöpferischen Leistungen der
hen, was Kunst heute ist, eine Aufgabe für das Denken stellt. Kunst auf tausend Wegen in die Gebrauchswelt und die dekorative Gestal-
Ich möchte diese Aufgabe auf verschiedenen Ebenen entfalten. Zunächst tung unserer Umwelt absinken — oder sagen wir: nicht absinken, sondern
ist ein oberster Grundsatz, von dem ich ausgehe, daß man im Denken über diffundieren, sich ausbreiten und so eine gewisse Stileinheit unserer mensch-
diese Frage die Maße so zu nehmen hat, daß sie beides umfassen: die große lich erarbeiteten Welt bereiten. Das ist immer so gewesen, und es ist kein
Kunst der Vergangenheit und der Tradition und die Kunst der Moderne, die Zweifel, daß auch die konstruktive Gesinnung, die wir in der bildnerischen
sich ihr ja nicht nur entgegenstellt, sondern auch ihre eigenen Kräfte und Kunst von heute und in der Architektur finden, bis tief in die Gerätschaften
Impulse aus ihr gezogen hat. Eine erste Voraussetzung ist, daß beides als hinein wirkt, mit denen wir täglich in Küche, Haus, Verkehr und öffentli-
Kunst verstanden werden muß und daß beides zusammengehört. Nicht nur, chem Leben Umgang haben. Es ist durchaus nicht von ungefähr, daß der
daß kein Künstler von heute ohne die Vertrautheit mit der Sprache der Künstler in dem, was er schafft, eine Spannung zwischen den vom Herkom-
Tradition seine eigenen Kühnheiten überhaupt hätte entwickeln können, men gehegten Erwartungen und den neuen Gewohnheiten überwindet, die
und nicht nur, daß auch der Aufnehmende von der Gleichzeitigkeit von er mitbestimmend einführt. Die Situation unserer zugespitzten Moderne,
Vergangenheit und Gegenwart ständig umgeben ist. Er ist es ja nicht nur, wie ja auch die Art des Konfliktes und der Spannung zeigt, ist hervorste-
chend. Sie stellt das Nachdenken vor sein Problem.
5
Vgl. meinen Aufsatz >Verstummen die Dichter?«, jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S. 362ff. Zwei Dinge scheinen hier einander entgegenzukommen: unser histori-
102 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 103

sches Bewußtsein und die Reflektiertheit des modernen Menschen und bestimme ich als einen ersten Schritt unserer Besinnung die Aufgabe, sich
Künstlers. Die historische Bewußtheit, das historische Bewußtsein ist die Begriffe für die Fragestellung zu erarbeiten. Ich werde zunächst an der
nichts, womit man allzu gelehrte oder weltanschauliche Vorstellungen ver- Situation der philosophischen Ästhetik die begrifflichen Mittel darstellen,
binden sollte. Man hat einfach an das zu denken, was allen selbstverständlich durch die wir das exponierte Thema bewältigen wollen, und werde dann
ist, wenn sie mit irgendeiner künstlerischen Schöpfung der Vergangenheit zeigen, daß dabei die im Thema angekündigten drei Begriffe eine führende
konfrontiert werden. Es ist so selbstverständlich, daß sie sich dessen nicht Rolle spielen werden: der Rückgang auf das Spiel, die Ausarbeitung des
einmal bewußt sind, daß sie mit historischem Bewußtsein daran herantre- Begriffes des Symbols, d.h. der Möglichkeit der Wiedererkennung unser
ten. Sie erkennen das Kostüm einer Vergangenheit als historisches Kostüm, selbst, und schließlich das Fest als der Inbegriff wiedergewonnener Kommu-
akzeptieren Bildinhalte der Tradition in wechselnden Kostümen, und kein nikation aller mit allen.
Mensch wundert sich, wenn Altdorfer in der >Alexanderschlacht< selbstver- Es ist die Aufgabe der Philosophie, das Gemeinsame auch unter dem
ständlich mittelalterliche Recken und >moderne< Truppenformationen auf- Differenten zu finden. »Auf eines hin zusammensehen lernen«7, das ist nach
marschieren läßt, als ob Alexander der Große die Perser in diesem Gewand Plato die Aufgabe des philosophischen Dialektikers. Welche Mittel stellt uns
besiegt hätte6. Dies ist eine solche Selbstverständlichkeit für unsere histori- nun die Tradition der Philosophie bereit, um die Aufgabe zu lösen oder auch
sche Gestimmtheit, daß ich zu sagen wage: Ohne solche historische Ge- nur einem klareren Selbstverständnis entgegenzuführen, die wir uns hier
stimmtheit würde die Richtigkeit, d. h. die Meisterschaft in der Gestaltung gestellt haben, nämlich die Aufgabe, den ungeheuren Bruch zwischen der
früherer Kunst, vielleicht gar nicht wahrnehmbar sein. Wer sich noch von formalen und inhaltlichen Tradition abendländischer bildender Kunst und
dem anderen als anderem befremden ließe, wie das der historisch Unerzoge- den Idealen der heute Schaffenden zu überbrücken? Die erste Orientierung
ne (den es kaum noch gibt) tun würde oder getan hätte, der würde eben jene wird uns vom Wort >Kunst< gegeben. Wir dürfen nie unterschätzen, was ein
Einheit von Inhalt und Formgestaltung, die offenbar zum Wesen alles wah- Wort uns sagen kann. Das Wort ist ja die Vorleistung des Denkens, die vor
ren künstlerischen Gestaltens gehört, nicht in ihrer Selbstverständlichkeit uns vollbracht worden ist. So ist hier das Wort >Kunst< der Punkt, an dem
erfahren können. wir mit unserer Orientierung zu beginnen haben. Von diesem Wort >Kunst<
Das historische Bewußtsein ist also nicht eine besondere gelehrte oder weiß jeder ein wenig historisch Erzogene sofort, daß es erst seit noch nicht
weltanschaulich bedingte methodische Haltung, sondern eine Art Instru- 200 Jahren den ausschließenden und auszeichnenden Sinn trägt, den wir
mentation der Geistigkeit unserer Sinne, die unser Sehen und unser Erfahren heute damit verbinden. Noch im 18. Jahrhundert war es selbstverständlich,
von Kunst schon im vorhinein bestimmt. Damit geht offenbar zusammen — daß man, wenn man die Kunst meinte, »die schöne Kunst« sagen mußte.
auch dies eine Form der Reflektiertheit - , daß wir keine naive Wiedererken- Denn ihr zur Seite standen, als der selbstverständlich weitaus größere Be-
nung verlangen, die uns unsere eigene Welt in einer zur Dauer verfestigten reich menschlicher Kunstfertigkeit, die mechanischen Künste, die Künste
Gültigkeit noch einmal vor Augen stellt, sondern daß wir die ganze große im Sinne der Technik, der handwerklichen und industriellen Arbeitspro-
Tradition unserer eigenen Geschichte, ja die Traditionen und Formungen duktion. Einen Begriff von Kunst in unserem Sinn werden wir daher in der
ganz anderer Welten und Kulturen, die nicht die abendländische Geschichte Tradition der Philosophie nicht antreffen. Was wir bei den Vätern des
bestimmt haben, in der gleichen Weise in ihrer Andersheit reflektieren und abendländischen Denkens, bei den Griechen, zu lernen haben, ist gerade
eben dadurch uns zu eigen machen können. Es ist eine hohe Reflektiertheit, dies, daß Kunst in den Gesamtbegriff dessen gehört, was Aristoteles >Poieti-
die wir alle mitbringen und die den Künstler von heute zu seiner eigenen kë Episteme< nannte, d. h. das Wissen und Können des Herstellens8. Was
produktiven Gestaltung ermächtigt. Wie das auf so revolutionäre Weise zwischen dem Herstellen des Handwerkers und dem Schaffen des Künstlers
gelingen kann und warum sich das historische Bewußtsein und seine neue gemeinsam ist und was solches Wissen von dem der Theorie oder des
Reflektiertheit mit dem niemals aufgebbaren Anspruch verknüpfen, daß all praktisch-politischen Wissens und Entscheidens unterscheidet, ist die Ablö-
das, was wir sehen, da ist und uns unmittelbar anspricht, als wären wir es sung des Werkes vom eigenen Tun. Das gehört zum Wesen des Hersteilens,
selbst, das zu erörtern ist offenbar die Aufgabe des Philosophen. Und so und man wird es wohl im Sinne behalten müssen, wenn man die Kritik am
Werkbegriff, die von den heutigen Modernen gegen die Kunst der
6
Vgl. REINHART KOSELLECK, >Historia magistra vitae<. In: Natur und Geschfchte. Karl
7
Löwith zum 70. Geburtstag, hrsg. von HERMANN BRAUN und MANFRED RIEDEL. Stuttgart Phaidr. 265 d 3: εις μίαν ίδέαν owopâv.
8
1967, S. 196-219. Met. E l , 1025 b ,8ff.
104 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 105

Tradition und gegen den bürgerlichen Bildungsgenuß, der mit ihr ver- ist Kunst, weil sie das Allgemeine meint, philosophischer als die Historie.
knüpft ist, gerichtet wird, verstehen und in seinen Grenzen ermessen will. Das ist immerhin ein erster Wink, den uns das antike Erbe gibt.
Jedenfalls kommt ein Werk dabei heraus. Das ist offenkundig ein gemeinsa- Einen Wink von noch weit größerer Tragweite, der auch über die Gren-
mer Zug. Das Werk, als der intentionale Zielpunkt einer geregelten Arbeits- zen unserer zeitgenössischen Ästhetik hinausweist, gibt uns der zweite Teil
anstrengung, wird als das, was es ist, freigesetzt, aus dem Verband des unserer Verständigung über das Wort >Kunst<. Kunst meint >schöne Kunst«.
herstellenden Tuns entlassen. Denn das Werk ist per definitionem für den Was aber ist das Schöne?
Gebrauch bestimmt. Plato pflegte zu betonen, daß das Wissen und Können Der Begriff des Schönen begegnet uns auch heute noch in mannigfaltigen
des Herstellers dem Gebrauch untergeordnet ist und vom Wissen dessen Verwendungen, in denen etwas von dem alten und letzten Endes griechi-
abhängt, der den Gebrauch übernimmt 9 . Der Schiffer gibt an, was der schen Sinn des Wortes >Kalon< weiterlebt. Auch wir verbinden mit dem
Schiffsbauer zu bauen hat. Das ist das alte Platonische Beispiel. Der Begriff Begriff des Schönen noch unter Umständen, daß etwas in der Öffentlichkeit
des Werkes weist also auf eine Sphäre des gemeinsamen Gebrauches und anerkannt ist, durch Brauch und Sitte oder was immer sonst; daß es - wie
damit auf gemeinsames Verstehen, auf Kommunikation in Verständlich- wir sagen — sich sehen lassen kann und auf das Ansehen hin determiniert ist.
keit. Nun ist es aber die eigentliche Frage, wie sich denn innerhalb dieses Es lebt noch in unserem Sprachgedächtnis die Wendung von der »schönen
Gesamtbegriffes herstellenden Wissens die >Kunst< von den mechanischen Sittlichkeit« fort, durch die der deutsche Idealismus die griechische Staaten-
Künsten unterscheidet. und Sittenwelt gegenüber dem seelenlosen Mechanismus der modernen
Die antike Antwort darauf, die uns noch zu denken geben wird, ist, daß es Staatsmaschine charakterisiert hat (Schiller, Hegel). Da meint »schöne Sitt-
sich hier um imitatives Tun handelt, um Nachahmung. Nachahmung ist lichkeit« nicht, daß es eine Sittlichkeit voll Schönheit ist, d. h. voll von Pomp
dabei auf den Gesamthorizont der >Physis<, der Natur, bezogen. Weil die und dekorativer Pracht, sondern daß sie sich in allen Formen des gemeinsa-
Natur in ihrem bildnerischen Tun noch etwas zu gestalten übrigläßt, einen men Lebens darstellt und darlebt, das Ganze durchordnet und auf diese
Leerraum von Gestaltung dem menschlichen Geist auszufüllen überläßt, ist Weise den Menschen sich in seiner eigenen Welt beständig selbst begegnen
Kunst »möglich«. Da nun aber die Kunst, die wir >Kunst< nennen, dieser läßt. Es ist auch für uns noch eine überzeugende Bestimmung des »Schönen«,
allgemeinen bildenden Tätigkeit des Hersteilens gegenüber mit allerhand daß es so von der Anerkennung und Zustimmung aller getragen wird.
Rätselhaftem belastet ist, sofern das >Werk< ja nicht >wirklich« das ist, was es Daher gehört auch für unser natürlichstes Empfinden zum Begriff des
darstellt, sondern nur imitativ fungiert, verknüpft sich damit eine ganze »Schönen«, daß man nicht fragen kann, warum es gefallt. Ohne jede Zweck-
Menge höchst subtiler philosophischer Probleme und vor allen Dingen das beziehung, ohne jeden zu erwartenden Nutzen erfüllt sich das Schöne in
Problem des seienden Scheins. Was bedeutet es, daß hier nichts Wirkliches einer Art von Selbstbestimmung und atmet die Freude an der Selbstdarstel-
hergestellt wird, sondern etwas, dessen »Gebrauch« kein wirkliches Gebrau- lung. Soviel über das Wort.
chen ist, sondern sich im betrachtenden Verweilen beim Schein eigentüm- Wo begegnet nun das Schöne so, daß sich dieses sein Wesen überzeugend
lich erfüllt? Wir werden darüber noch etwas zu sagen haben. Aber zunächst erfüllt? Um von vornherein den ganzen wirklichen Horizont des Problems
ist es klar, daß keine unmittelbare Hilfe von den Griechen erwartet werden des Schönen und vielleicht auch dessen, was »Kunst« ist, zu gewinnen, ist es
kann, wenn sie im besten Falle das, was wir >Kunst< nennen, als eine Art nötig, daran zu erinnern, daß für die Griechen der Kosmos, die Ordnung des
Nachahmung der Natur verstehen. Solche Nachahmung hat freilich nichts Himmels, die eigentliche Anschaulichkeit des Schönen darstellt. Es ist ein
von der naturalistischen oder realistischen Kurzschlüssigkeit moderner pythagoreisches Element im griechischen Gedanken des Schönen. In der
Kunsttheorie. Das möge ein berühmtes Zitat aus der >Poetik< des Aristoteles regelmäßigen Ordnung des Himmels haben wir eine der größten Anschau-
bestätigen, wo Aristoteles sagt: »Die Poesie ist philosophischer als die lichkeiten von Ordnung, die es überhaupt gibt. Die Perioden des Jahreslau-
Geschichtskunde.«10 Während nämlich die Geschichtskunde nur erzählt, fes, des Monatslaufes und des Tag- und Nachtwechsels bilden die zuverlässi-
wie es zugegangen ist, erzählt uns die Poesie, wie es immer zugehen kann. gen Konstanten von Ordnungserfahrung in unserem Leben - gerade im
Sie lehrt uns, das Allgemeine im menschlichen Tun und Leiden zu sehen. Kontrast zu der Zweideutigkeit und Wechselhaftigkeit unseres eigenen
Nun ist aber das Allgemeine offenbar die Aufgabe der Philosophie, und so menschlichen Tuns und Treibens.
In dieser Orientierung gewinnt der Begriff des Schönen, insbesondere im
' Politeia 601 d, e. Denken Piatos, eine weit in unsere Problematik hineinleuchtende Funktion.
10
Poet. 9,1451b 4 ff. Im Dialog »Phaidros« beschreibt Plato in Gestalt eines großen Mythos die
106 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 107

Bestimmung des Menschen, seine Begrenztheit gegenüber dem Göttlichen ι Ein dritter Schritt führt uns unmittelbar an das heran, was wir in der
und seine Verfallenheit an die Erdenschwere unseres leiblichen, triebhaften Geschichte der Philosophie >Ästhetik< nennen. Die Ästhetik ist eine ganz
Daseins. Er beschreibt den großartigen Aufzug aller Seelen, in dem sich der späte Erfindung und fallt - bedeutungsvoll genug - etwa mit der Entlassung
nächtliche Aufzug der Gestirne spiegelt. Das ist eine Art Wagenfahrt auf die des eminenten Sinnes von Kunst aus dem Zusammenhang der Kunstfertig-
Spitze des Firmaments, angeführt von den olympischen Göttern. Die keiten zusammen und mit ihrer Freisetzung zu der fast religiösen Funktion,
menschlichen Seelen fuhren ebenfalls Wagen mit einem Gespann und folgen die Begriff und Sache der Kunst für uns haben.
den Göttern, die diesen Aufzug täglich fahren. Oben an der Spitze des Die Ästhetik ist als philosophische Disziplin erst im 18. Jahrhundert, d. h.
Firmaments tut sich dann der Blick auf die wahre Welt auf. Was man dort im Zeitalter des Rationalismus, entstanden, offenbar herausgefordert durch
sehen kann, ist nicht mehr dieses wechselvoll ordnungslose Treiben unserer den neuzeitlichen Rationalismus selbst, der sich auf der Basis der konstrukti-
irdischen sogenannten Welterfahrung, sondern die wahren Konstanten und ven Naturwissenschaften erhebt, wie sie im 17. Jahrhundert entwickelt wur-
bleibenden Konfigurationen des Seins. Während nun die Götter bei dieser den und bis heute das Gesicht unserer Welt bestimmen, indem sie sich in
Begegnung mit der wahren Welt sich ihrem Anblick voll hingeben, sind die einem immer atemberaubenderen Tempo in Technik umsetzen.
menschlichen Seelen, da sie ein unordentliches Seelengespann sind, gestört, Was veranlaßte die Philosophie, sich auf das Schöne zu besinnen? Ange-
weil das Triebhafte in der menschlichen Seele den Blick verwirrt, können sie sichts der rationalistischen Gesamtorientierung an der mathematischen Ge-
nur einen augenblickshaften, flüchtigen Blick auf jene ewigen Ordnungen setzmäßigkeit der Natur und ihrer Bedeutung fur die Meisterung der Natur-
werfen. Dann aber stürzen sie auf die Erde hinab und sind von der Wahrheit kräfte scheint die Erfahrung des Schönen und der Kunst ein Bereich der
getrennt, an diesienureine ganzvage Erinnerung behalten. Undnunkommt, äußersten subjektiven Beliebigkeit. Das war der große Aufbruch des
was ich zu erzählen habe. Es gibt für die in die Schwere des Irdischen gebannte 17. Jahrhunderts. Was kann das Phänomen des Schönen hier überhaupt
Seele, die sozusagen ihr Gefieder verloren hat, so daß sie nicht mehr zu der beanspruchen? Die antike Erinnerung vermag uns immerhin klarzumachen,
Höhe des Wahren sich aufschwingen kann, eine Erfahrung, bei der das daß im Schönen und in der Kunst eine über alles Begreifliche hinausgehende
Gefieder wieder zu wachsen beginnt und die Erhebung wieder eintritt. Das ist Bedeutsamkeit begegnet. Wie wird ihre Wahrheit erfaßt? Alexander Baum-
die Erfahrung der Liebe und des Schönen, der Liebe zum Schönen. In garten, der Begründer der philosophischen Ästhetik, sprach von einer >co-
wunderbaren hochbarocken Schilderungen denkt Plato dieses Erlebnis der gnitio sensitiva<, einer sinnlichen Erkenntnis. >Sinnliche Erkenntnis« ist für
erwachenden Liebe mit der geistigen Gewahrung des Schönen und der die große Tradition von Erkenntnis, die wir seit den Griechen pflegen,
wahren Ordnungen der Welt zusammen. Dank dem Schönen gelingt es auf zunächst ein Paradox. Erkenntnis ist etwas immer erst, wenn es die subjekti-
die Dauer, sich an die wahre Welt wiederzuerinnern. Das ist der Weg der ve sinnliche Bedingtheit hinter sich gelassen hat und die Vernunft, das
Philosophie. Er nennt das Schöne das am meisten Hervorscheinende und Allgemeine und das Gesetzhafte in den Dingen begreift. Das Sinnliche in
Anziehende, sozusagen die Sichtbarkeit des Idealen. Das, was derart vor seiner Einzelheit tritt dann nur als ein bloßer Fall einer allgemeinen Gesetz-
allem anderen hervorleuchtet, was ein solches Licht der überzeugenden lichkeit auf. Es ist nun sicherlich nicht die Erfahrung des Schönen, weder in
Wahrheit und Richtigkeit an sich hat, ist es, was wir alle als das Schöne in Natur noch in Kunst, daß wir das uns Begegnende nur als das Erwartete
Natur und Kunst gewahren und das uns die Zustimmung »Das ist das verrechnen und als einen Fall von etwas Allgemeinem verbuchen. Ein
Wahre!« abnötigt. Sonnenuntergang, der uns bezaubert, ist nicht ein Fall von Sonnenuntergän-
Was wir aus dieser Geschichte als wichtigen Hinweis entnehmen, ist, daß gen, sondern ist dieser einmalige Sonnenuntergang, der uns »der Himmel
das Wesen des Schönen gerade nicht darin besteht, der Wirklichkeit nur Trauerspiel« vorfuhrt. Im Bereich der Kunst ist es erst recht selbstverständ-
gegenüber und entgegengesetzt zu sein, sondern daß Schönheit, wie unver- lich, daß das Kunstwerk nicht als solches erfahren ist, wenn es nur in andere
hofft sie auch begegnen mag, wie eine Bürgschaft ist, daß in aller Unordnung Zusammenhänge eingeordnet wird. Seine >Wahrheit<, die es für uns hat,
des Wirklichen, in all ihren Unvollkommenheiten, Bosheiten, Schiefheiten, besteht nicht in einer an ihm zur Darstellung kommenden allgemeinen
Einseitigkeiten, verhängnisvollen Verwirrungen dennoch das Wahre nicht Gesetzlichkeit. Vielmehr meint >cognitio sensitiva<, daß auch in dem, was
unerreichbar in der Ferne liegt, sondern uns begegnet. Es ist die ontologische scheinbar nur das Partikulare der sinnlichen Erfahrung ist und das wir
Funktion des Schönen, den Abgrund zwischen dem Idealen und dem Wirkli- immer auf ein Allgemeines hin zu beziehen pflegen, plötzlich angesichts des
chen zu schließen. So gibt uns das Beiwort zur Kunst, >schöne Kunst< zu sein, Schönen uns etwas festhält und-nötigt, bei dem individuell Erscheinenden zu
einen zweiten wesentlichen Wink fur unsere Besinnung. verweilen.
108 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 109

Was geht uns darin an? Was ist es, das darin erkannt wird? Was ist wichtig versucht, um die Erfahrung der Kunst zu fassen, in die Tiefen des mysti-
und bedeutsam an diesem Vereinzelten, daß es den Gegenanspruch erheben schen Sprachschatzes zurückzutauchen und neue Worte zu wagen, wie etwa
kann, auch Wahrheit zu sein, und daß nicht nur das >Allgemeine<, wie die das > Anbild<, ein Ausdruck, in den sich der Anblick des Bildes zusammenzie-
mathematisch formulierbaren Naturgesetze, wahr ist? Auf diese Frage eine hen ließe. Denn es ist ja so - und es ist ein und derselbe Vorgang -, daß wir
Antwort zu finden ist die Aufgabe der philosophischen Ästhetik11. Für die aus den Dingen das Bild gleichsam heraussehen und daß wir in die Dinge das
Besinnung auf diese ihre eigene Problemstellung scheint es mir nützlich, sich Bild einbilden. So ist es die Einbildungskraft, die Kraft des Menschen, sich
die Frage zu stellen: Welche der Künste verspricht uns auf diese Frage die ein Bild einzubilden, an der sich das ästhetische Nachdenken vor allen
angemessenste Antwort zu geben? Wir wissen, wie verschiedenartig das Dingen orientiert.
Spektrum der menschlichen Kunstschöpfungen ist, wie verschieden etwa Hier liegt nun die große Leistung Kants, durch die er den Begründer der
die redenden Künste oder die Musik als transitorische von den statuarischen Ästhetik, den rationalistischen Vor-Kantianer Alexander Baumgarten, weit
Künsten, d. h. den bildenden Künsten und der Architektur, sind. Die Me- hinter sich ließ. Er hat als erster in der Erfahrung des Schönen und der Kunst
dien, in denen hier menschliche Gestaltung tätig wird, lassen dieselbe in sehr eine eigene Fragestellung der Philosophie erkannt. Er suchte eine Antwort
verschiedenem Lichte erscheinen. Eine Antwort deutet sich vom Histori- auf die Frage, was eigentlich an der Erfahrung des Schönen, wenn wir >etwas
schen her an. Baumgarten definierte die Ästhetik auch einmal als die >ars schön finden<, verbindlich sein soll und nicht eine bloß subjektive Ge-
pulchre cogitandi<, die Kunst, schön zu denken. Wer ein Ohr hat, spürt in schmacksreaktion zum Ausdruck bringt. Da gibt es doch keine Allgemein-
diesem Fall sofort, daß diese Formulierung eine Analogiebildung ist, und heit wie die der Naturgesetzlichkeit, die die Einzelheit des sinnlich Begeg-
zwar zur Definition der Rhetorik als der >ars bene dicendi<, der Kunst, gut zu nenden als Fall erklärbar macht. Welche Wahrheit, die kommunikabel wird,
reden. Das ist nicht zufällig. Rhetorik und Poetik gehören seit alters zusam- begegnet uns im Schönen? Nun, sicher keine Wahrheit und keine Allge-
men, und in gewisser Weise hat die Rhetorik dabei den Vorrang. Sie ist die meinheit, für die wir die Allgemeinheit des Begriffes oder des Verstandes
Universalform menschlicher Kommunikation, die selbst heute noch unser einzusetzen vermöchten. Trotzdem erhebt die Art Wahrheit, die uns in der
gesellschaftliches Leben unvergleichlich viel tiefer bestimmt als die Wissen- Erfahrung des Schönen begegnet, auf eindeutige Weise den Anspruch, nicht
schaft. Für die Rhetorik ist ihre klassische Definition als >ars bene dicendi<, bloß subjektiv gültig zu sein. Das hieße ja, ohne alle Verbindlichkeit und
als die Kunst, gut zu reden, sofort überzeugend. An diese Definition der Richtigkeit zu sein. Wer etwas schön findet, meint aber nicht nur, daß es ihm
Rhetorik hat Baumgarten offenbar die Definition der Ästhetik angelehnt gefallt, so wie ihm etwa eine Speise nach seinem Geschmack ist. Wenn ich
und sie als die Kunst, schön zu >denken<, definiert. Darin liegt ein wichtiger etwas schön finde, dann meine ich, daß es schön ist. Um mich mit Kant
Hinweis darauf, daß die sprachlichen Künste vielleicht für die Lösung unse- auszudrücken: ich »sinne jedermann Zustimmung an«. Dies Ansinnen, daß
rer Aufgaben, die wir uns gestellt haben, eine besondere Funktion besitzen. jedermann zustimmen soll, heißt nicht etwa, daß ich ihn überzeugen kann,
Das ist um so wichtiger, als die leitenden Begriffe, unter denen wir ästheti- indem ich ihm Reden halte. Das ist nicht die Form, in der selbst ein guter
sche Betrachtungen anstellen, in der Regel umgekehrt orientiert sind. Es ist Geschmack allgemein zu werden vermag. Vielmehr muß der Sinn eines
fast immer die bildende Kunst, an der sich unser Nachdenken orientiert und jeden einzelnen fur das Schöne kultiviert werden, so daß fur ihn das Schöne
auf die wir unsere ästhetische Begrifflichkeit am leichtesten anwenden. Das und das weniger Schöne unterscheidbar wird. Das geschieht nicht so, daß
hat seine guten Gründe, nicht nur wegen der einfachen Hinzeigbarkeit auf man gute Gründe für den eigenen Geschmack zu erbringen vermöchte oder
das statuarische Werk, im Unterschied zu dem transitorischen Vorgang gar zwingende Beweise. Das Feld der Kunstkritik, die solches unternimmt,
eines Theaterstücks, einer Musik oder eines dichterischen Werkes, das nur schillert zwischen >wissenschaftlicher< Feststellung und einem durch keine
im Vorüberrauschen da ist, sondern vor allem doch wohl, weil für unser Verwissenschaftlichung ersetzbaren Qualitätssinn, der das Urteil bestimmt.
Denken über das Schöne das platonische Erbe immer allgegenwärtig ist. >Kritik<, d. h. Unterscheiden des Schönen vom weniger Schönen, ist nicht
Von Plato wird das wahre Sein als das Urbild und alle Erscheinungswirk- eigentlich ein nachkommendes Urteil, weder eines der wissenschaftlichen
lichkeit als Abbild solcher Urbildlichkeit gedacht. Das hat für die Kunst Unterordnung des >Schönen< unter Begriffe noch eines der vergleichenden
etwas Überzeugendes, wenn man jeden Trivialsinn fernhält. So ist man Qualitätseinschätzung - es ist die Erfahrung des Schönen selbst. Es ist
bedeutungsvoll, daß das »Geschmacksurteil«, d. h. das aus der Erscheinung
11
herausgesehene und einem jeden angesonnene Schönfinden, von Kant in
Vgl. ALFRED BAEUMLER, Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Syste-
erster Linie am Naturschönen illustriert wird und nicht am Kunstwerk. Es
matik, Bd. 1. Halle 1923, Einleitung.
110 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 111

ist diese >bedeutungslose< Schönheit, die uns warnt, das Schöne der Kunst Moment darstellt. Als nivellierendes Moment ist er jedoch auch ausgezeich-
auf Begriffe zu bringen12. net als der »Gemeinsinn«, wie Kant mit Recht sagt13. Der Geschmack ist
Die philosophische Tradition der Ästhetik ziehen wir hier nur als Hilfe für kommunikativ - er stellt das dar, was uns alle mehr oder minder prägt. Ein
die Fragestellung heran, die wir uns ausgearbeitet haben: In welchem Sinn nur individuell-subjektiver Geschmack ist auf dem Gebiet des Ästhetischen
kann man das, was Kunst gewesen ist und was sie heute ist, auf einen offenkundig etwas Sinnloses. Insofern verdanken wir Kant ein erstes Ver-
gemeinsamen, beides umfassenden Begriff bringen? Das Problem liegt dar- ständnis des ästhetischen Anspruchs, zu gelten und doch nicht unter Zweck-
in, daß man weder von einer großen Kunst sprechen kann, die ganz der begriffe subsumiert zu werden. Aber freilich, welche Erfahrungen sind es,
Vergangenheit angehört, noch von einer modernen Kunst, die erstmals nach an denen sich dieses Ideal eines >freien< und interesselosen Wohlgefallens am
Abstoßung alles Bedeutungsmäßigen >reine< Kunst sei. Das ist ein merk- meisten erfüllt? Kant denkt an das >Naturschöne<, etwa die schöne Zeich-
würdiger Sachverhalt. Wenn wir uns einen Augenblick in die Reflexionshal- nung einer Blume, oder auch an etwas von der Art einer dekorativen Tapete,
tung versetzen, darüber nachzudenken, was wir mit >Kunst< meinen und deren Linienspiel uns eine gewisse Erhöhung des Lebensgefühls verleiht.
wovon wir als von >Kunst< reden, dann ergibt sich ein Paradox. Sofern wir Darin besteht die Aufgabe dekorativer Kunst, so beiher zu spielen. Schön
die sogenannte klassische Kunst im Auge haben, so war das eine Produktion und nichts als schön heißen entweder Dinge der Natur, in die überhaupt kein
von Werken, die selber nicht in erster Linie als Kunst verstanden wurden, Sinn von Menschen gelegt wird, oder Dinge der eigenen menschlichen
sondern als in jeweils religiösen oder auch weltlichen Lebensbereichen be- Gestaltung, die sich bewußt jeder Sinneintragung entziehen und lediglich
gegnende Gestaltungen, als eine Ausschmückung der eigenen Lebenswelt ein Spiel von Formen und Farben sind. Hier soll nichts erkannt oder wieder-
und ihrer herausgehobenen Akte: des Kultes, der Repräsentation der Herr- erkannt werden. Es gibt ja nichts Schrecklicheres als eine aufdringliche
scher und dergleichen. In dem Augenblick aber, in dem der Begriff >Kunst< Tapete, deren einzelne Bildinhalte als bildliche Darstellung wirklich die
die uns eigene Klangfarbe annahm und das Kunstwerk begann, ganz auf sich Beachtung auf sich ziehen. Die Fieberträume unserer Kindheit wissen davon
selbst zu stehen, herausgelöst aus allen Lebensbezügen, und Kunst zur etwas zu erzählen. Worauf es in dieser Beschreibung ankommt, ist, daß hier
Kunst, d. h. zur musée imaginaire im Sinne Malraux' wurde, als Kunst nichts nur die ästhetische Bewegung des Gefallens ohne ein Begreifen ins Spiel
als Kunst sein wollte, setzte die große Revolution in der Kunst ein, die sich in kommt, d. h. ohne daß etwas als etwas gesehen oder verstanden wird. Das ist
der Moderne bis zur Ablösung von allen Bildinhaltstraditionen und ver- aber doch nur die korrekte Beschreibung eines extremen Falles. An ihm wird
ständlichen Aussagen gesteigert hat und nach beiden Seiten fragwürdig deutlich, daß etwas mit ästhetischer Befriedigung aufgenommen wird, ohne
wurde: Ist das noch Kunst? Und: Will das überhaupt noch Kunst sein? - Was daß es auf irgend etwas Bedeutsames, letzten Endes begrifflich Kommuni-
steckt hinter dieser paradoxen Sachlage? Ist Kunst je Kunst, nichts als Kunst? zierbares bezogen würde.
Um auf diesem Wege weiterzukommen, hatten wir eine gewisse Orien- Das ist jedoch nicht die Frage, die uns bewegt. Denn unsere Frage lautet,
tierung erreicht, sofern Kant als erster die Selbständigkeit des Ästhetischen was Kunst ist - und gewiß denken wir dabei nicht in erster Linie an die
gegenüber dem praktischen Zweck und dem theoretischen Begriff vertei- Trivialform des dekorativen Handwerks. Designer können selbstverständ-
digt hat. Er tat dies in der berühmten Wendung von dem »interesselosen lich bedeutende Künstler sein, aber sie haben ihrer eigenen Funktion nach
Wohlgefallen«, das die Freude am Schönen sei. »Interesseloses Wohlgefal- eine dienende Aufgabe. Nun hat Kant genau dies als die eigentliche Schönheit
len« meint hier selbstverständlich: an dem Dargestellten oder Erscheinenden oder, wie er sie genannt hat, als die »freie Schönheit« ausgezeichnet. »Freie
nicht praktisch interessiert zu sein. »Interesselos« meint also nur die Aus- Schönheit« meint also begriffsfreie und bedeutungsfreie Schönheit. Auch
zeichnung des ästhetischen Verhaltens, daß niemand mit Sinn die Frage nach Kant hat selbstverständlich nicht sagen wollen, es wäre das Ideal der Kunst,
dem Wozu der Dienlichkeit stellen kann: »Wozu dient es, daß man Freude an solche bedeutungsfreie Schönheit zu schaffen. Im Falle der Kunst befinden
dem hat, woran man Freude hat?« wir uns in Wahrheit immer schon in einer Spannung zwischen der reinen
Das bleibt freilich die Beschreibung eines relativ äußerlichen Zugangs zur Aspekthaftigkeit des Anblicks und Anbilds - wie ich es nannte - und der
Kunst, nämlich der Erfahrung des ästhetischen Geschmacks. Jedermann Bedeutung, die wir im Kunstwerk ahnend verstehen und die wir an dem
weiß, daß der Geschmack in der ästhetischen Erfahrung das nivellierende Gewicht erkennen, das jede solche Begegnung mit der Kunst für uns hat.
Worauf beruht diese Bedeutung? Was ist das Mehr, das hinzukommt, wo-
12
Vgl. dazu in diesem Band > Anschauung und Anschaulichkeit (Nr. 17) sowie >Wahr-
heit und Methode. (Ges. Werke Bd. 1), S. 48ff. Kritik der Urteilskraft, §§ 22,40.
112 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 113
durch offenkundig Kunst erst zu dem wird, was sie ist? Kant hat dieses Mehr deutsche Idealismus im ganzen hat die Bedeutung oder die Idee - oder wie
nicht inhaltlich bestimmen wollen; das ist aus Gründen, die wir noch einse- man es sonst nennen will - in der Erscheinung erkannt, ohne deswegen den
hen werden, wirklich unmöglich. Sein großes Verdienst war aber, daß er Begriff zum eigentlichen Bezugspunkt der ästhetischen Erfahrung zu ma-
nicht bei dem bloßen Formalismus des »reinen Geschmacksurteils« stehen- chen. Aber kann man damit unser Problem lösen, das Problem der Einheit
geblieben ist, sondern den »Standpunkt des Geschmacks« zugunsten des zwischen der klassischen Kunsttradition und der modernen Kunst? Wie will
»Standpunkts des Genies« überwand14. Mit >Genie< bezeichnete das 18. Jahr- man die Formbrüche des modernen Kunstschaffens verstehen, das Spiel mit
hundert aus eigener lebendiger Anschauung den geschmackswidrigen Ein- allen Inhalten, das so weit getrieben wird, daß unsere Erwartungen ständig
bruch Shakespeares in den durch den französischen Klassizismus geprägten gebrochen werden? Wie wül man das verstehen, was die heutigen Künstler
Geschmack der Zeit. Da war Lessing, der gegen die klassizistische Regel- oder gewisse Richtungen der heutigen Kunst geradezu als Anti-Kunst be-
ästhetik der französischen Tragödie - übrigens auf sehr einseitige Weise - zeichnen - das Happening? Wie will man von da verstehen, daß Marcel
Shakespeare als die Stimme der Natur feierte, deren Schaffensgeist als Genie Duchamp einen Gebrauchsgegenstand plötzlich isolierend darbietet und
und im Genie inkorporiert sei15. In der Tat wird auch von Kant das Genie als damit eine Art ästhetischen Schockreiz ausübt? Man kann nicht einfach
Naturkraft verstanden — er nennt das Genie den »Günstling der Natur«, d. h. sagen: »Was für ein grober Unfug!« Duchamp hat damit etwas von den
den von der Natur so Begünstigten, daß er wie die Natur, nicht in der Bedingungen ästhetischer Erfahrung aufgedeckt. Aber wie will man ange-
bewußten Anpassung an Regeln, etwas schafft, das so ist, als ob es nach sichts dieses experimentierenden Kunstgebrauchs unserer Tage sich mit den
Regeln gemacht wäre - ja mehr noch, als ob es als ein noch nie Gesehenes Mitteln der klassischen Ästhetik helfen wollen? Dafür bedarf es offenbar
nach noch nie erfaßten Regeln geschaffen wäre. Das ist Kunst: daß sie eines Rückgangs auf mehr grundlegende menschliche Erfahrungen. Was ist
Musterhaftes schafft, ohne bloß Regelgerechtes herzustellen. Dabei ist offen- die anthropologische Basis unserer Erfahrung von Kunst? An den Begriffen
bar die Bestimmung der Kunst als das Schaffen des Genies von der Kongenia- >Spiel<, >Symbol< und >Fest< soll diese Frage entwickelt werden.
lität des Aufnehmenden niemals wirklich zu trennen. Beides ist ein freies
Spiel.
Ein derartiges freies Spiel von Einbildungskraft und Verstand war auch der I
Geschmack. Es ist das gleiche freie Spiel, das im Schaffen des Kunstwerks nur
anders gewichtet ist, sofern hinter den Schöpfungen der Einbildungskraft Insbesondere geht es um den Begriff >Spiel<. Die erste Evidenz, die wir uns
bedeutsame Inhalte sich artikulieren, die dem Verstehen aufgehen, oder wie da verschaffen müssen, ist, daß Spiel eine elementare Funktion des menschli-
Kant es ausdrückt: die »unnennbar Vieles hinzuzudenken« gestatten. Selbst- chen Lebens ist, so daß menschliche Kultur ohne ein Spielelement überhaupt
verständlich soll das nicht heißen, daß es vorgefaßte Begriffe sind, die wir nicht denkbar ist. Daß menschliche Religionsübung im Kult ein Spielele-
einfach nur an die Darstellung der Kunst anlegen. Das würde ja heißen, daß ment einschließt, ist seit langem von Denkern wie Huizinga, Guardini und
wir das anschaulich Gegebene als einen Fall des Allgemeinen unter das anderen betont worden. Es ist lohnend, sich die elementare Gegebenheit des
Allgemeine subsumieren. Das aber ist nicht die ästhetische Erfahrung. Es ist menschlichen Spielens in ihren Strukturen zu vergegenwärtigen, damit das
vielmehr so, daß die Begriffe überhaupt erst im Anblick des Besonderen, des Spielelement der Kunst nicht nur negativ, als Freiheit von Zweckbindun-
individuellen Werkes, wie Kant sich ausdrückt, »in Anschlag gebracht« gen, sondern als freier Impuls sichtbar wird. Wann reden wir von Spiel, und
werden — ein schönes Wort, das aus der Musiksprache des 18. Jahrhunderts was ist darin impliziert? Sicherlich als erstes das Hin und Her einer Bewe-
stammt und insbesondere auf die eigentümliche, nachhallende Schwebewir- gung, die sich ständig wiederholt - man denke einfach an gewisse Redewei-
kung des Lieblingsinstrumentes des 18. Jahrhunderts, des Klavichords, an- sen, wie etwa »das Spiel der Lichter« oder »das Spiel der Wellen«, wo ein
spielt, dessen besonderer Effekt darin besteht, daß der Ton weit länger solches ständiges Kommen und Gehen, ein Hin und Her vorliegt, d. h. eine
nachhallt, als die Saite überhaupt berührt ist. Kant meint offenbar, daß es die Bewegung, die nicht an ein Bewegungsziel gebunden ist. Das ist es offenbar,
Funktion des Begriffes sei, eine Art von Resonanzboden zu bilden, der das was das Hin und Her so auszeichnet, daß weder das eine noch das andere
Spiel der Einbildungskraft zu artikulieren vermag. So weit, so gut. Auch der Ende das Ziel der Bewegung ist, in der sie zur Ruhe kommt. Es ist ferner
14
klar, daß zu einer solchen Bewegung Spielraum gehört. Das wird uns für die
Vgl. meine Analyse in »Wahrheit und Methode« (Ges. Werke Bd. 1), S. 58ff. Frage der Kunst besonders zu denken geben. Die Freiheit der Bewegung, die
15
Vgl. MAX KOMMERELL, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der
Tragödie. Frankfurt 41970. hier gemeint ist, schließt ferner ein, daß diese Bewegung die Form der
114 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 115

Selbstbewegung haben muß. Selbstbewegung ist der Grundcharakter des die >participatio<, die innere Teilnahme an dieser sich wiederholenden Bewe-
Lebendigen überhaupt. Das hat schon Aristoteles, das Denken aller Grie- gung. Bei höheren Formen des Spieles wird das oft sehr anschaulich: Man
chen formulierend, beschrieben. Was lebendig ist, hat den Antrieb der braucht sich nur einmal, im Fernsehen z. B., das Publikum bei einem Ten-
Bewegung in sich selber, ist Selbstbewegung. Das Spiel erscheint nun als nisturnier anzusehen! Es ist eine reine Halsverrenkung. Keiner kann es
eine Selbstbewegung, die durch ihre Bewegung nicht Zwecke und Ziele unterlassen, mitzuspielen. — Es scheint mir also ein weiteres wichtiges
anstrebt, sondern die Bewegung als Bewegung, die sozusagen ein Phäno- Moment, daß Spiel auch in dem Sinne ein kommunikatives Tun ist, daß es
men des Überschusses, der Selbstdarstellung des Lebendigseins, meint. Das nicht eigentlich den Abstand kennt zwischen dem, der da spielt, und dem,
ist es in der Tat, was wir in der Natur sehen - das Spiel der Mücken etwa oder der sich dem Spiel gegenübersieht. Der Zuschauer ist offenkundig mehr als
all die bewegenden Schauspiele des Spiels, die wir in der Tierwelt, insbeson- nur ein bloßer Beobachter, der sieht, was vor sich geht, sondern ist als einer,
dere bei Jungtieren, beobachten können. All das entstammt offenkundig der am Spiel >teilnimmt<, ein Teil von ihm. Natürlich sind wir bei solchen
dem elementaren Überschußcharakter, der in der Lebendigkeit als solcher einfachen Spielformen noch nicht bei dem Spiel der Kunst. Aber ich hoffe
nach Darstellung drängt. Nun ist es das Besondere des menschlichen Spie- gezeigt zu haben, daß das kaum noch ein Schritt ist, was da vom kultischen
les, daß das Spiel auch die Vernunft, diese eigenste Auszeichnung des Tanz zu der als Darstellung gemeinten Begehung des Kultes führt. Und daß
Menschen, sich Zwecke setzen und sie bewußt anstreben zu können, in sich es kaum ein Schritt ist, der von da zu der Freisetzung der Darstellung führt,
einzubeziehen und die Auszeichnung der zwecksetzenden Vernunft zu über- etwa zum Theater, das aus diesem Kultzusammenhang als seine Darstellung
spielen vermag. Das nämlich ist die Menschlichkeit des menschlichen Spiels, herauswuchs. Oder zur bildenden Kunst, deren Schmuck- und Ausdrucks-
daß es in dem Bewegungsspiel sich seine Spielbewegungen sozusagen selbst funktion im Ganzen eines religiösen Lebenszusammenhanges erwächst. Das
diszipliniert und ordnet, als ob da Zwecke wären, ζ. Β. wenn ein Kind zählt, geht ineinander über. Aber daß es ineinander übergeht, bestätigt ein Ge-
wie oft der Ball auf den Boden schlagen kann, bevor er ihm entgleitet. meinsames in dem, was wir als Spiel erörterten, nämlich daß da etwas als
Was sich hier in Form des zweckfreien Tuns selber Regem setzt, das ist etwas gemeint ist, auch wenn es nichts Begriffliches, Sinnvolles, Zweckhaf-
Vernunft. Das Kind ist unglücklich, wenn der Ball schon beim zehnten Male tes ist, sondern etwa die reine selbstgesetzte Bewegungsvorschrift.
wegrutscht, und stolz wie ein König, wenn es dreißigmal geht. Diese Das scheint mir für die heutige Diskussion der modernen Kunst außeror-
zweckfreie Vemünftigkeit im menschlichen Spielen bedeutet einen Zug im dentlich bedeutsam. Es geht am Ende um die Frage des Werkes. Es ist einer
Phänomen, der uns weiterhelfen wird. Es zeigt sich nämlich hier, insbeson- der Grundantriebe der modernen Kunst, daß sie den Abstand durchbrechen
dere am Phänomen der Wiederholung als solcher, daß Identität, Selbigkeit möchte, in dem sich eine Zuschauerschaft, eine Konsumentenschaft, ein
gemeint ist. Das Ziel, auf das es hier herauskommt, ist zwar ein zweckloses Publikum gegenüber dem Werk der Kunst hält. Es ist kein Zweifel, daß die
Verhalten, aber dieses Verhalten ist als solches selber gemeint. Es ist das, was bedeutenden unter den schaffenden Künstlern der letzten 50 Jahre ihre
das Spiel meint. Mit Anstrengung und Ehrgeiz und ernstester Hingabe wird Anstrengung gerade darauf richteten, diesen Abstand zu durchbrechen.
in dieser Weise etwas gemeint. Dies ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Man denke etwa an die Theorie des epischen Theaters bei Bert Brecht, der
menschlichen Kommunikation: Wenn hier etwas dargestellt wird — und sei ausdrücklich das Versinken in den Bühnentraum als einen schwächlichen
es nur die Spielbewegung selber —, so gilt auch fur den Zuschauer, daß er es Ersatz für das menschliche und gesellschaftliche Solidaritätsbewußtsein be-
>meint<—so wie ich mir selbst im Spielen wie ein Zuschauer gegenübertrete. kämpfte, indem er den Szenenrealismus, die Charaktererwartung, kurz die
Es ist die Funktion der Spieldarstellung, daß nicht irgend etwas Beliebiges, Identität dessen, was man in einem Schauspiel erwartete, bewußt zerstörte.
sondern die so und so bestimmte Spielbewegung am Ende steht16. Spiel ist Aber man könnte in jeder Form modernen Experimentierens mit Kunst das
also letzten Endes Selbstdarstellung der Spielbewegung. Motiv erkennen, den Abstand des Beschauers in das Betroffensein als Mit-
Ich darf sofort hinzufügen: Solche Bestimmung der Spielbewegung be- spieler zu verwandeln.
deutet zugleich, daß Spielen immer Mitspielen verlangt. Selbst der Zuschau- Heißt das nun, daß es das Werk nicht mehr gibt? So verstehen sich in der
er, der etwa einem Kind zuschaut, das da mit dem Ball hin und her spielt, Tat viele Künstler von heute — und auch die Ästhetiker, die ihnen folgen —,
kann gar nicht anders. Wenn er wirklich >mitgeht<, ist das nichts anderes als als ob es darum ginge, die Einheit des Werkes aufzugeben. Aber wenn wir an
unsere Feststellungen über das menschliche Spiel zurückdenken, so fanden
16
Vgl. dazu im vorhergehenden >Das Spiel der Kunst« (Nr. 9) und die entsprechenden wir selbst da eine erste Erfahrung von Vernünftigkeit, etwa im Befolgen
Seiten in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1, S. 107ff.). selbstgesetzter Regeln, in der Identität dessen, was man zu wiederholen
116 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 117

sucht. So war schon hier so etwas wie die hermeneutische Identität im Spiele daran >zu verstehen< ist, daß es als das, was es >meint< oder >sagt<, verstanden
- und diese bleibt erst recht für die Spiele der Kunst unantastbar. Es ist ein werden will. Das ist eine von dem >Werk< ergehende Forderung, die auf ihre
Irrtum zu meinen, daß die Werkeinheit Abgeschlossenheit gegenüber dem, Einlösung wartet. Sie verlangt eine Antwort, die nur von dem gegeben
der sich dem Werk zuwendet und von ihm erreicht wird, bedeutet. Die werden kann, der die Forderung annahm. Und diese Antwort muß seine
hermeneutische Identität des Werkes liegt weit tiefer begründet. Selbst das eigene Antwort sein, die er selber tätig erbringt. Der Mitspieler gehört zum
Flüchtigste und Einmaligste ist, wenn es als ästhetische Erfahrung erscheint Spiel.
oder gewertet wird, in Selbigkeit gemeint. Nehmen wir den Fall einer Wir wissen alle aus eigenster Erfahrung, daß etwa der Besuch eines
Improvisation auf der Orgel. Nie wieder wird man diese einmalige Impro- Museums oder das Zuhören bei einem Konzert eine Aufgabe höchster
visation hören. Der Organist selbst weiß nachher kaum noch, wie er spielte, geistiger Aktivität ist. Was tut man denn da? Gewiß liegen hier Unterschiede
und niemand hat es aufgezeichnet. Trotzdem sagen alle: »Das war eine vor: Das eine ist eine reproduktive Kunst, im anderen Falle handelt es sich
geniale Interpretation oder Improvisation«, oder in einem anderen Falle: nicht einmal um Reproduktion, sondern man tritt unmittelbar vor die
»Das war heute etwas leer«. Was meinen wir damit? Offenbar beziehen wir Originale, die da an den Wänden hängen. Und wenn man durch ein Mu-
uns auf diese Improvisation zurück. Es >steht< etwas für uns, es ist wie ein seum gegangen ist, tritt man nicht mit demselben Lebensgefuhl, mit dem
Werk, es ist keine bloße Fingerübung des Organisten. Andernfalls würde man in es eingetreten ist, aus ihm wieder heraus. Wenn man wirklich eine
man nicht über die Qualität oder den Qualitätsmangel urteilen. So ist es die Erfahrung von Kunst erfuhr, ist die Welt lichter und ist die Welt leichter
hermeneutische Identität, die die Werkeinheit stiftet. Als der Verstehende geworden.
muß ich identifizieren. Denn da war etwas, was ich beurteilte, das ich Die Bestimmung des Werkes als des Identitätspunktes der Wiederer-
>verstand<. Ich identifiziere etwas als das, was es war oder was es ist, und kenntnis, des Verstehens, schließt ferner mit ein, daß solche Identität mit
diese Identität allein macht den Werksinn aus. Variation und mit Differenz verknüpft ist Jedes Werk läßt gleichsam für
Wenn das richtig ist—und ich meine, es hat die Evidenz des Wahren an sich jeden, der es aufnimmt, einen Spielraum, den er ausfüllen muß. Ich kann es
-, dann kann es gar keine mögliche Kunstproduktion geben, die nicht in der selbst an klassizistischen theoretischen Ideen zeigen. Kant z.B. hat eine
gleichen Weise immer das >meint<, was sie produziert, als das, was es ist. höchst merkwürdige Lehre. Er vertritt die These, an der Malerei sei der
Selbst dieses Extrembeispiel irgendeines Gerätes - es war wohl ein Flaschen- eigentliche Träger des Schönen die Form. Die Farbe dagegen sei bloßer Reiz,
ständer - , das da plötzlich mit einem so großen Effekt als ein Werk angebo- d. h. eine sinnliche Angerührtheit, die subjektiv bleibe und insofern nicht die
ten wurde, bestätigt das. In seiner Wirkung und als diese Wirkung, die es eigentliche künstlerische oder ästhetische Gestaltung betreffe17. Wer etwas
einmal war, hat es seine Bestimmtheit. Wahrscheinlich wird es nicht ein von klassizistischer Kunst weiß — man denke etwa an Thorvaldsen -, wird
bleibendes Werk im Sinne klassischer Dauerhaftigkeit sein, aber im Sinne für diese marmorbleiche klassizistische Kunst zugestehen, daß dort in der
der hermeneutischen Identität ist es sehr wohl ein >Werk<. Tat die Linie, die Zeichnung, die Form im Vordergrund steht. Kants These
Der Werkbegriff ist eben ganz und gar nicht an klassizistische'Harmonie- ist zweifellos ein historisch bedingtes Urteil. Wir würden niemals unter-
Ideale gebunden. Wenn es auch gänzlich andere Formen gibt, in denen sich schreiben, daß Farben bloße Reizwirkungen sind. Denn wir wissen, daß
Identifizieren in Zustimmung ereignet, werden wir uns weiter zu fragen man auch mit Farben bauen kann und daß Komposition nicht notwendig auf
haben, wodurch dieses Angesprochenwerden eigentlich zustande kommt. die Linie und die Umrißform der Zeichnung beschränkt ist. Aber das
Aber noch ein weiteres Moment liegt darin. Wenn das die Identität des Einseitige dieses historisch bedingten Geschmacks interessiert hier nicht.
Werkes ist, so hat es immer nur für den ein wirkliches Aufnehmen, eine Was interessiert, ist nur, was Kant dabei offenkundig im Auge hat. Warum
wirkliche Erfahrung eines Kunstwerks gegeben, der >mitspielt<, d.h. der ist denn die Form so ausgezeichnet? Die Antwort ist: weil man sie zeichnen
eine eigene Leistung aufbringt, indem er tätig ist. Wodurch kommt das muß, wenn man sie sieht, weil man sie aktiv aufbauen muß, wie jede
eigentlich zustande? Doch nicht durch bloßes Festhalten von etwas im Komposition das verlangt, die zeichnerische Komposition so gut wie die
Gedächtnis. Auch dann ist Identifikation gegeben, aber nicht die besondere musikalische, so gut wie das Schauspiel, so gut wie die Lektüre. Es ist ein
Zustimmung, durch die das >Werk< etwas für uns bedeutet. Was ist es, ständiges Mit-Tätigsein. Und offenkundig ist es gerade die Identität des
wodurch ein >Werk< als Werk seine Identität hat? Was macht seine Identität, Werkes, das zu dieser Tätigkeit einlädt, die keine beliebige ist, sondern
wie wir auch sagen können, zu einer hermeneutischen? Diese andere Formu-
lierung meint offenkundig, daß seine Identität eben darin besteht, daß etwas 17
Kritik der Urteilskraft, § 13.
118 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 119

angeleitet ist und für alle möglichen Erfüllungen in ein gewisses Schema Aus diesem Grunde scheint es mir ein falscher Gegensatz, zu meinen, es
gedrängt wird. gebe eine Kunst der Vergangenheit, die man genießen kann, und es gebe eine
Man denke etwa an Literatur. Es ist ein Verdienst des großen polnischen Kunst der Gegenwart, bei der man durch raffinierte Mittel der künstleri-
Phänomenologen Roman Ingarden gewesen, das zuerst herausgearbeitet zu schen Gestaltung zum Mitmachen gezwungen werden soll. Die Einführung
haben18. Wie sieht etwa die evokative Funktion einer Erzählung aus? Ich des Begriffes des Spieles hatte gerade die Pointe, zu zeigen, daß jeder bei
nehme ein berühmtes Beispiel: »Die Brüder Karamasow<. Da ist die Treppe, einem Spiel Mitspieler ist. Das soll auch für das Spiel der Kunst gelten, daß es
die Smerdjakow angeblich hinunterstürzt. Das wird bei Dostojewskij auf hier prinzipiell keine Trennung zwischen dem eigentlichen Werkgebilde der
irgendeine Weise beschrieben. Ich weiß dadurch ganz genau, wie diese Kunst und dem, von dem dieses Werkgebilde erfahren wird, gibt. Was das
Treppe aussieht. Ich weiß, wie sie anfangt, es wird dann dunkel, und dann bedeutet, habe ich in der ausdrücklichen Forderung zusammengefaßt, daß
geht es nach links. Das ist für mich handgreiflich klar, und doch weiß ich, man auch die uns vertrauteren und durch inhaltliche Traditionen bedeu-
daß niemand anderer die Treppe so >sieht< wie ich. Und doch wird jeder, der tungsgeladenen Werke der klassischen Kunst lesen lernen muß. Lesen ist
diese meisterhafte Erzählungskunst auf sich wirken läßt, seinerseits die aber nicht nur buchstabieren und ein Wort nach dem anderen ablesen,
Treppe ganz genau >sehen< und überzeugt sein, daß er sie sieht, wie sie ist. sondern heißt vor allem, die beständige hermeneutische Bewegung vollzie-
Das ist der Freiraum, den das dichterische Wort in diesem Fall läßt und den hen, die von der Sinnerwartung des Ganzen gesteuert wird und sich vom
wir ausfüllen, indem wir der sprachlichen Evokation des Erzählers folgen. Einzelnen her im Sinnvollzug des Ganzen schließlich erfüllt. Man denke
Ähnlich ist es in der bildenden Kunst. Es ist ein synthetischer Akt. Wir daran, wie es ist, wenn jemand einen Text vorliest, den er nicht verstanden
müssen vereinigen, vieles zusammenbringen. Ein Bild >liest< man, wie man hat. Dann kann kein anderer wirklich verstehen, was er da vorliest.
zu sagen pflegt, so wie man Schrift liest19. Man beginnt ein Bild zu >entzif- Die Identität des Werkes ist nicht durch irgendwelche klassizistischen
fern< wie einen Text. Es ist nicht erst das kubistische Bild, das diese Aufgabe oder formalistischen Bestimmungen garantiert, sondern wird durch die
- nun allerdings mit drastischer Radikalität - stellt, indem es verlangt, Weise, in der wir den Aufbau des Werkes selbst als eine Aufgabe auf uns
verschiedene Facetten des Gleichen, verschiedene Anblicke sozusagen nach- nehmen, eingelöst. Wenn dies die Pointe der künstlerischen Erfahrung ist,
einander aufzublättern, so daß am Ende das Dargestellte in seiner Multiplizi- dann dürfen wir uns der Leistung Kants erinnern, der bewies, daß es sich hier
tät von Facetten und damit in einer neuen Buntheit und Plastik auf der nicht um ein Beziehen oder Unterstellen eines in seiner Besonderheit er-
Leinwand erscheint. Es ist aber nicht nur bei Picasso oder Braque und all den scheinenden sinnfälligen Gebildes unter einen Begriff handelt. Der Kunsthi-
anderen Kubisten von damals so, daß wir das Bild >lesen<. Es ist immer so. storiker und Ästhetiker Richard Hamann hat das einmal so formuliert: es
Wer z. B. einen berühmten Tizian oder Velazquez, irgendeinen Habsburger geht um die »Eigenbedeutsamkeit der Wahrnehmung«20. Das soll heißen,
zu Pferde, bewundert und dabei nur denkt : » Ah, das ist Karl V. «, der hat gar daß die Wahrnehmung nicht mehr in pragmatische Lebensbezüge eingestellt
nichts von dem Bild gesehen. Es gilt, es aufzubauen, so daß es sozusagen und in ihnen zur Funktion gebracht wird, sondern sich in ihrer eigenen
Wort für Wort als Bild gelesen wird und am Ende dieses zwingenden Bedeutung hergibt und darstellt. Um die Formulierung mit vollgültigem
Aufbaus zu dem Bild zusammengeht, in dem die mit ihm anklingende Sinn zu erfüllen, muß man sich freilich darüber klar sein, was Wahrneh-
Bedeutung gegenwärtig ist, die Bedeutung eines Weltherrschers, in dessen mung bedeutet. Wahrnehmung darf nicht, wie das etwa für Hamann in der
Reich die Sonne niemals unterging. Zeit des ausgehenden Impressionismus noch nahelag, so verstanden wer-
Ich möchte also grundsätzlich sagen: Es ist immer eine Reflexionslei- den, als sei sozusagen die »sinnliche Haut der Dinge« das, worauf es ästhe-
stung, eine geistige Leistung, ob ich mich mit tradierten Gestalten her- tisch allein ankomme. Wahrnehmen ist nicht, daß man lauter verschiedene
kömmlichen Kunstschaffens beschäftige oder vom modernen Schaffen ge- Sinneseindrücke sammelt, sondern wahrnehmen heißt, wie das schöne
fordert •werde. Die Aufbauleistung des Reflexionsspieles liegt als Forderung Wort ja selber sagt, etwas >für -wahr nehmen<. Das heißt aber: Was sich den
im Werk als solchem. Sinnen bietet, wird als etwas gesehen und genommen. So habe ich von der
Überlegung her, daß es ein verkürzter, dogmatischer Begriff von Sinnes-
wahrnehmung ist, den wir im allgemeinen als den ästhetischen Maßstab
18
ROMAN INCARDEN, Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972. Vgl. auch im vor- anlegen, in meinen eigenen Untersuchungen die etwas barocke Formuüe-
hergehenden >Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, S. 75 f.
19
Siehe dazu auch im folgenden den Beitrag >Über das Lesen von Bauten und Bildern<
20
(Nr. 30). RICHARD HAMANN, Ästhetik. Leipzig 1911.
120 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 121
rang gewählt, die die Tiefendimension der Wahrnehmung zum Ausdruck menspiel ersteht, sofern zweifellos jeder an dem eigentlichen Kunstwerk
bringen sollte: die »ästhetische Nichtunterscheidung«21. Ich meine damit, vorbeisähe, der etwa fragen würde: Ist das Pferd gut getroffen? Oder gar: Ist
daß es eine sekundäre Verhaltensweise ist, wenn man von dem abstrahieren Karl V., dieser Herrscher, in seiner individuellen Physiognomie getroffen?
sollte, was einen durch ein künstlerisches Gebilde bedeutsam anspricht, und Dieses Beispiel mag bewußtmachen, daß das Problem außerordentlich
man sich gänzlich darauf beschränken wollte, es >rein ästhetisch< zu würdi- kompliziert ist. Was verstehen wir eigentlich? Wieso spricht es, und was sagt
gen. uns das Werk? Um hier eine erste Schutzwehr gegen alle Nachahmungs-
Das wäre so, wie wenn der Kritiker einer Theateraufführung sich aus- theorie aufzurichten, tun wir gut, uns zu erinnern, daß wir ja nicht nur
schließlich mit dem Wie der Regieleistung, mit der Qualität der einzelnen angesichts von Kunst diese ästhetische Erfahrung haben, sondern auch vor
Rollenbesetzungen und dergleichen auseinandersetzte. Es ist ganz gut und der Natur. Es ist das Problem des >Naturschönen<.
richtig, daß er das tut ·- aber das ist nicht die Weise, wie das Werk selber und Kant, der deutlich die Autonomie des Ästhetischen herausgearbeitet hat,
die Bedeutung, die es für einen in der Aufführung gewann, sichtbar werden. war sogar in erster Linie am Naturschönen orientiert. Es ist gewiß nicht
Gerade die Nichtunterscheidung zwischen der besonderen Art, wie ein ohne Bedeutsamkeit, daß wir Natur schön finden. Es ist eine ans Wunderba-
Werk zur Reproduktion gebracht wird, und der Identität des Werkes dahin- re grenzende sittliche Erfahrung des Menschen, daß in der generativen
ter macht die künstlerische Erfahrung aus. Und das gilt nicht nur für die Potenz der Natur uns Schönheit entgegenblüht, so, als ob die Natur für uns
reproduktiven Künste und die Vermittlung, die sie enthalten. Daß das Werk ihre Schönheiten zeigte. Bei Kant hat diese Auszeichnung des Menschen,
in dem, was es ist, auf eine je besondere Weise dennoch als dasselbe spricht, daß ihm die Schönheit der Natur entgegenkommt, einen schöpfungstheolo-
gilt immer, selbst bei wiederholter und variierter Begegnung mit dem gischen Hintergrund, und das ist auch die selbstverständliche Basis, von der
gleichen Werk. Im Falle der reproduktiven Künste muß sich freilich die aus Kant das Schaffen des Genies, das Schaffen des Künstlers, wie eine
Identität in der Variation auf eine doppelte Weise erfüllen, sofern die Repro- höchste Steigerung der Potenz darstellt, die die Natur, die göttliche Schöp-
duktion wie das Original je für sich der Identität und Variation ausgesetzt fung, besitzt. Aber offenkundig ist das Naturschöne von einer eigentümli-
sind. Was ich so als die ästhetische Nichtunterscheidung beschrieb, macht chen Unbestimmtheit seiner Aussage. Im Unterschied zu jedem Kunst-
offenbar den eigentlichen Sinn des Zusammenspiels von Einbildungskraft werk, in dem wir doch immer etwas als etwas zu erkennen oder zu deuten
und Verstand aus, das Kant im »Geschmacksurteil« entdeckte. Daß man sich suchen - wenn auch vielleicht, um zur Aufgabe dessen genötigt zu werden - ,
bei dem, was man sieht, um auch nur etwas zu sehen, etwas denken muß, ist ist es eine Art unbestimmter Seelenmacht der Einsamkeit, die uns aus der
immer wahr. Aber hier ist es ein >freies<, nicht auf Begriff zielendes Spiel. Natur bedeutsam anspricht. Erst eine tiefere Analyse dieser ästhetischen
Dieses Zusammenspiel zwingt uns vor die Frage, was das eigentlich ist, was Erfahrung des Schönfindens der Natur belehrt uns, daß dies in gewissem
sich auf diesem Wege des freien Spieles zwischen dem bilderschaffenden und Sinn ein falscher Schein ist und daß wir in Wahrheit die Natur heute nicht
dem begreifend-verstehenden Vermögen aufbaut. Was ist die Bedeutsam- mit anderen Augen ansehen können, da wir künstlerisch erfahrene und
keit, in der uns da etwas als bedeutsam erfahrbar und erfahren wird? Jede erzogene Menschen sind. Man erinnere sich daran, wie etwa noch im
pure Imitationstheorie oder Abbildtheorie, jede naturalistische Kopiertheo- 1&. Jahrhundert Reiseberichte die Alpen schildern: grausige Berge, deren
rie geht offenbar an der Sache ganz vorbei. Es ist sicherlich niemals das gräßliche und erschreckende Wildheit wie eine Ausstoßung aus der Schön-
Wesen eines großen Kunstwerkes gewesen, daß es der >Natur< voll und heit, Humanität, Heimlichkeit des Daseins empfunden wurde. Heute dage-
getreu zum Abbild, zum Konterfei verhalf. Es war ganz gewiß immer so — gen ist die ganze Welt der Überzeugung, daß sich in den Großformationen
wie ich das etwa in der Erinnerung an Velâzquez' Karl V. zeigte - , daß sich unserer Hochgebirge nicht nur die Erhabenheit der Natur, sondern ihre
im Aufbau eines Bildes eine eigentümliche Stilisierungsleistung vollbringt. eigentliche Schönheit darstellt.
Da sind die Velâzquezschen Pferde, die so etwas Besonderes an sich haben,
Es ist klar, was sich hier ereignet hat. Wir sahen im 18. Jahrhundert mit
daß man immer erst an das Schaukelpferd der eigenen Kindheit denkt. Aber
den Augen einer durch rationale Ordnung geschulten Einbildungskraft. Die
dann dieser leuchtende Horizont und der spähende Feldherrn- und Impera-
Gärten des 18. Jahrhunderts, bevor der englische Gartenstil eine Art neuer
torenblick des Kaisers dieses großen Reiches - wie das zusammenspielt, wie
Naturähnlichkeit oder Naturhaftigkeit vorspiegelte, waren immer geome-
hier die Eigenbedeutsamkeit der Wahrnehmung gerade aus diesem Zusam-
trisch konstruiert wie eine Fortsetzung der Konstruktion des wohnlichen
Hauses in die Natur hinaus. So sehen wir also in Wahrheit Natur, wie das
21
>Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff. Beispiel lehrt, mit durch die Kunst erzogenen Augen. Hegel hat richtig
122 Die Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 123

begriffen, daß das Naturschöne ein Reflex des Kunstschönen ist22, so daß stück, in der Begegnung erfüllt. Dieses tiefsinnige Gleichnis fur Seelenfin-
wir das Schöne in der Natur, geleitet durch das Auge und das Schaffen des dung und Wahlverwandtschaft läßt sich auf die Erfahrung des Schönen im
Künstlers, gewahren lernen. — Die Frage bleibt freilich, was uns das heute in Sinne der Kunst umdenken. Es ist offenkundig auch hier so, daß die Bedeut-
der kritischen Situation der modernen Kunst hilft. Von ihr geleitet, würden samkeit, die dem Schönen der Kunst, dem Kunstwerk, anhaftet, auf etwas
wir schwerlich angesichts einer Landschaft zu erfolgreicher Wiedererken- verweist, was nicht unmittelbar in dem sichtbaren und verständlichen An-
nung des Schönen in der Landschaft gelangen. Es ist in der Tat so, daß wir blick als solchem liegt. - Aber was ist das für ein Verweisen? Die eigentliche
heute die Erfahrung des Naturschönen fast als ein Korrektiv gegenüber den Funktion von Verweisen geht auf etwas anderes, auf etwas, das man auch
Ansprüchen eines durch Kunst erzogenen Sehens empfinden müßten. Wir auf unmittelbare Weise haben oder erfahren kann. Wäre es so, dann wäre
werden durch das Naturschöne erneut daran erinnert, daß das, was wir in Symbol das, was wir mindestens seit dem klassischen Sprachgebrauch Alle-
einem Kunstwerk erkennen, das gar nicht ist, worin die Sprache der Kunst gorie nennen: daß etwas anderes gesagt wird, als gemeint ist, daß man aber
spricht. Es ist gerade die Unbestimmtheit des Verweisens, durch die wir von das, was gemeint ist, auch unmittelbar sagen kann. Die Folge des klassizisti-
moderner Kunst angesprochen werden und die uns mit dem Bewußtsein der schen Symbolbegriffs, der nicht in dieser Weise auf etwas anderes verweist,
Bedeutsamkeit, der ausgezeichneten Bedeutung dessen, was wir vor Augen ist, daß wir bei Allegorie die an sich ganz ungerechte Konnotation des
haben, erfüllt23. Was ist es mit diesem Verwiesenwerden ins Unbestimmte? Frostigen, des Unkünstlerischen haben24. Es spricht ein Bedeutungsbezug,
Wir nennen mit einem insbesondere durch die deutschen Klassiker - durch der vorgewußt sein muß- Das Symbol dagegen, das Erfahren des Symboli-
Schiller und Goethe - geprägten Wortsinn diese Funktion das Symbolische. schen meint, daß sich dies Einzelne, Besondere wie ein Seinsbruchstück
darstellt, das ein ihm Entsprechendes zum Heilen und Ganzen zu ergänzen
verheißt, oder auch, daß es das zum Ganzen ergänzende, immer gesuchte
andere Bruchstück zu unserem Lebensfragment ist. Diese >Bedeutung< der
II
Kunst scheint mir nicht, wie die der spätbürgerlichen Bildungsreligion, an
gesellschaftliche Sonderbedingungen gebunden, sondern die Erfahrung des
Was heißt >Symbol<? Es ist zunächst ein technisches Wort der griechischen
Schönen, und insbesondere des Schönen im Sinne der Kunst, ist die Be-
Sprache und meint die Erinnerungsscherbe. Ein Gastfreund gibt seinem
schwörung einer möglichen heilen Ordnung, wo immer es sei.
Gast die sogenannte >tessera hospitalis<, d. h., er bricht eine Scherbe durch,
behält die eine Hälfte selber und gibt die andere Hälfte dem Gastfreund, Wenn wir das einen Augenblick weiterdenken, so wird gerade die Multi-
damit, wenn in dreißig oder fünfzig Jahren ein Nachkomme dieses Gast- plizität dieser Erfahrung bedeutsam, die wir ebensosehr als eine geschichtli-
freundes einmal wieder ins Haus kommt, man einander im Zusammenfugen che Wirklichkeit wie als eine gegenwärtige Simultaneität kennen. In ihr
der Scherben zu einem Ganzen erkennt. Antikes Paßwesen - das ist der spricht uns immer und immer wieder und in den verschiedensten Besonde-
ursprüngliche technische Sinn von Symbol. Es ist etwas, woran man jeman- rnngen, die wir Werke der Kunst nennen, die gleiche Botschaft des Heilen
den als Altbekannten erkennt. an. Das scheint mir in der Tat die präzisere Auskunft auf die Frage: Was
Es gibt da eine sehr schöne Geschichte in Piatos Dialog >Symposion<, die, macht die Bedeutsamkeit des Schönen und der Kunst aus ? Sie besagt, daß im
wie ich meine, noch tiefer auf die Art von Bedeutsamkeit weist, die die Besonderen der Begegnung nicht das Besondere, sondern die Totalität der
Kunst fur uns darstellt. Da erzählt Aristophanes eine bis heute faszinierende erfahrbaren Welt und der Seinsstellung des Menschen in der Welt, gerade
Geschichte über das Wesen der Liebe. Er sagt, daß die Menschen ursprüng- auch seine Endlichkeit gegenüber der Transzendenz, zur Erfahrung wird. In
lich Kugelwesen waren; dann haben sie sich schlecht benommen, und die diesem Sinn können wir nun einen wichtigen Schritt weitergehen und sagen:
Götter haben sie entzweigeschnitten. Nun sucht jede dieser Hälften einer Das heißt nicht, daß die unbestimmte Sinnerwartung, die uns ein Werk
vollen Lebens- und Seinskugel ihre Ergänzung. Das ist das σύμβσλον τον bedeutsam macht, je eine volle Erfüllung finden kann, so daß wir das volle
όνθρώηον, daß jeder Mensch gleichsam ein Bruchstück ist; und das ist die Sinnganze uns verstehend und erkennend zu eigen machten. Das war es, was
Liebe, daß sich die Erwartung, etwas sei das zum Heilen ergänzende Bruch- Hegel lehrte, wenn er von dem »sinnlichen Scheinen der Idee« als der
Definition des Kunstschönen sprach. Ein tiefsinniges Wort, demzufolge in
22
Vorlesungen über die Ästhetik, hrsg. von HEINRICH GUSTAV H O T H O . Berlin 1835,
Einl. 1,1.
23 24
Das hat THEODOR W. ADORNO in seiner >Ästhetischen Theorie< (zuerst erschienen in: Zur Rehabilitierung der Allegorie vgl. »Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1),
Gesammelte Schriften, Bd. 7. Frankfurt 1970) ausfuhrlich beschrieben. S. 76ff.
124 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 125

der sinnlichen Erscheinung des Schönen in Wahrheit die Idee, zu der man klarzuwerden, daß es nicht bloße Offenlegung von Sinn ist, die durch die
nur hinausblicken kann, gegenwärtig wird. Trotzdem scheint mir das eine Kunst vollbracht wird. Eher schon wäre zu sagen, daß es die Bergung von
idealistische Verführung. Sie wird nicht dem eigentlichen Tatbestand ge- Sinn ins Feste ist, so daß er nicht verfließt oder versickert, sondern in der
recht, daß das Werk als Werk und nicht als der Übermittler einer Botschaft Gefügtheit des Gebildes festgemacht und geborgen ist. Wir verdanken am
zu uns spricht. Die Erwartung, daß man den Sinngehalt, der uns aus Kunst Ende die Möglichkeit, uns dem idealistischen Sinnbegriff zu entziehen und
anspricht, im Begriff einholen kann, hat Kunst immer schon auf gefährliche sozusagen die Seinsfülle oder Wahrheit, die uns aus der Kunst anspricht, in
Weise überholt. Eben das war aber Hegels leitende Überzeugung, die ihn zu der Doppelwendung von Aufdecken, Entbergen, Offenlegen und von Ver-
der These von dem Vergangenheitscharakter der Kunst führte. Wir haben borgenheit und Geborgensein zu vernehmen, dem Denkschritt, den Hei-
sie als eine prinzipielle Aussage Hegels interpretiert, sofern in der Gestalt des degger in unserem Jahrhundert getan hat. Er zeigte, daß der griechische
Begriffes und der Philosophie alles eingeholt werden könne und einzuholen Begriff von Entborgenheit, >Aletheia<, nur die eine Seite der Grunderfah-
sei, was uns in der partikularen sinnlichen Sprache der Kunst dunkel und rung des Menschen in der Welt ist. Neben der Entbergung und untrennbar
unbegrifflich anspricht. von ihr steht gerade die Verhüllung und die Verbergung, die Teil der
Das ist jedoch eine idealistische Verführung, die von jeder künstlerischen Endlichkeit des Menschen ist. Diese philosophische Einsicht, die dem Idea-
Erfahrung widerlegt wird, insbesondere aber von der Kunst der Gegenwart, lismus einer reinen Sinnintegration ihre Schranken setzt, schließt ein, daß im
die es ausdrücklich ablehnt, Sinnorientierung solcher Art, die man in der Werk der Kunst noch mehr ist als nur eine auf unbestimmte Weise als Sinn
Form des Begriffes fassen könnte, vom Kunstschaffen unserer Zeit zu erfahrbare Bedeutung. Es ist das Faktum dieses einen Besonderen, das dies
erwarten. Ich setze dem entgegen, daß das Symbolhafte, und insbesondere >Mehr< ausmacht: daß es so etwas gibt—um mit Rilke zu sprechen: »So etwas
das Symbolische der Kunst, auf einem unauflöslichen Widerspiel von Ver- stand unter den Menschen.« Dieses, daß es das gibt, die Faktizität, ist
weisung und Verbergung beruht. Das Werk der Kunst, in seiner •Unersetz- zugleich ein unüberwindlicher Widerstand gegen alle sich überlegen glau-
lichkeit, ist nicht ein bloßer Sinnträger - so daß der Sinn auch anderen bende Sinnerwartung. Das anzuerkennen, zwingt uns das Kunstwerk. »Da
Trägern aufgeladen werden könnte. Der Sinn eines Kunstwerks beruht ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. « Es ist ein
vielmehr darauf, daß es da ist. Um jede falsche Konnotation zu vermeiden, Stoß, ein Umgestoßen-Werden, was durch die Besonderheit geschieht, in
sollten wir daher das Wort >Werk< durch ein anderes Wort ersetzen, nämlich der uns jede künstlerische Erfahrung entgegentritt26.
durch das Wort >Gebilde<. Das bedeutet etwa, daß der transitorische Vor- Das erst führt zu einer angemessenen begrifflichen Selbstverständigung
gang des davoneilenden Redestromes im Gedicht auf eine rätselhafte Weise über die Frage, was eigentlich die Bedeutsamkeit der Kunst ist. Ich möchte
zum Stehen kommt, ein Gebilde wird, so wie wir von der Formation eines den Begriff des Symbolischen, wie er durch Goethe und Schiller gewählt
Gebirges sprechen. Das >Gebilde< ist vor allen Dingen nichts, von dem man worden ist, in der Richtung vertiefen bzw. in der ihm eigenen Tiefe entfal-
meinen kann, daß es jemand mit Absicht gemacht hat (wie das mit dem ten, daß ich sage: Das Symbolische verweist nicht nur auf Bedeutung,
Begriff des Werkes noch immer verknüpft ist). Wer ein Kunstwerk geschaf- sondern läßt sie gegenwärtig sein. Es repräsentiert Bedeutung. Bei dem
fen hat, steht in Wahrheit vor dem Gebilde seiner Hände nicht anders als Begriff >Repräsentieren< hat man an den kirchenrechtlichen und staatsrecht-
jeder andere. Es ist ein Sprung zwischen Planen und Machen einerseits und lichen Begriff der Repräsentation zu denken. Repräsentation meint dort
dem Gelingen. Nun >steht< es, und damit ist es ein für allemal >da<, antreffbar nicht, daß etwas stellvertretend oder uneigentlich und indirekt da ist, als ob
für den, der ihm begegnet, und einsehbar in seiner >Qualität<. Es ist ein es ein Substitut, ein Ersatz, wäre. Das Repräsentierte ist vielmehr selber da,
Sprung, durch den sich das Kunstwerk in seiner Einzigkeit und Unersetz- und so, wie es überhaupt da sein kann. In der Anwendung auf Kunst wird
barkeit auszeichnet. Es ist das, was Walter Benjamin die Aura des Kunstwer- etwas von diesem Dasein in Repräsentation festgehalten. So, wenn etwa eine
kes genannt hat 25 und was wir alle kennen, etwa in der Empörung über das, bekannte Persönlichkeit, die eine bestimmte Publizität bereits besitzt, im
was man Kunstfrevel nennt. Die Zerstörung eines Kunstwerkes hat für uns Porträt repräsentativ dargestellt ist. Das Bild, das in der Halle des Rathauses
noch immer etwas von religiösem Frevel. oder im kirchlichen Palast oder wo immer aufgehängt ist, soll ein Stück ihrer
Diese Überlegung soll uns vorbereiten, uns über die Tragweite dessen
26
Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Der Ursprung des Kunstwerks. Stuttgart 1960 (jetzt auch
25 in der Gesatntausgabe Bd. 5: Holzwege. Frankfurt 1977). Siehe dazu auch meinen Beitrag
WALTER BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-
keit. Frankfurt 1969 (édition suhrkamp 28). >Die Wahrheit des Kunstwerks< in Ges. Werke Bd. 3, S. 249-261.
126 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 127

Gegenwart sein. Sie ist selbst in der repräsentativen Rolle, die sie hat, in dem sinnlicher Fülle gegenwärtig ist. Der antike Gebrauch dieses Wortes ist von
repräsentativen Porträt da. Wir meinen, daß das Bild selbst repräsentativ ist. dem Sternentanz her gewählt27. Die Sterne sind die Darstellung der reinen
Natürlich bedeutet das nicht eine Bilder- und Götzenverehrung, wohl aber, mathematischen Gesetzlichkeiten und Proportionen, die die Ordnung des
daß es nicht ein bloßes Erinnerungszeichen, Verweis auf und Ersatz für ein Himmels ausmachen. In diesem Sinne hat die Tradition, glaube ich, recht,
Dasein ist, wenn es sich um ein Werk der Kunst handelt. wenn sie sagt: Kunst ist immer Mimesis, d. h., sie bringt etwas zur Darstel-
Mir ist - als Protestant - der in der protestantischen Kirche ausgefochtene lung. Wobei wir uns nur vor dem Mißverständnis hüten müssen, zu meinen,
Abendmahlsstreit immer sehr bedeutsam gewesen, insbesondere zwischen dieses Etwas, das da zur Darstellung kommt, wäre noch auf andere Weise
Zwingli und Luther. Mit Luther bin ich der Überzeugung, daß die Worte erfaßbar und >da< als dadurch, daß es sich in so sprechender Weise darstellt.
Jesu: »Dies ist mein Fleisch, und dies ist mein Blut« nicht meinen, daß Brot Auf dieser Basis halte ich die Frage, ob gegenstandslose Malerei oder gegen-
und Wein dies bedeuten. Luther hat, glaube ich, das ganz recht gesehen und ständliche Malerei, für eine kurzschlüssige kultur- und kunstpolitische Ma-
hat in diesem Punkt, soviel ich weiß, durchaus an der alten römisch-katholi- che. Vielmehr gibt es sehr viele Formen des Gestaltens, in denen >es< sich
schen Tradition festgehalten, daß Brot und Wein des Sakramentes das darstellt, jeweils in der Verdichtung eines nur so und einmalig Gestalt
Fleisch und das Blut Christi sind. — Ich nehme dieses dogmatische Problem gewordenen Gebildes und bedeutsam als ein Unterpfand von Ordnung, so
nur zum Anlaß, um zu sagen, so etwas können wir denken und müssen wir verschieden von unserer täglichen Erfahrung das auch sein mag, was sich so
sogar denken, wenn wir die Erfahrung der Kunst denken wollen - daß im darbietet. Die symbolische Repräsentation, die Kunst leistet, bedarf keiner
Kunstwerk nicht nur auf etwas verwiesen ist, sondern daß in ihm eigentlicher bestimmten Abhängigkeit von vorgegebenen Dingen. Gerade darin liegt
da ist, worauf verwiesen ist. Mit anderen Worten: Das Kunstwerk bedeutet vielmehr die Auszeichnung der Kunst, daß das, was in ihr zur Darstellung
einen Zuwachs an Sein. Das unterscheidet es von all den produktiven kommt, ob reich oder arm an Konnotationen oder ein reines Nichts dersel-
Leistungen der Menschheit in Handwerk und Technik, in denen die Geräte ben, uns zum Verweilen und zur Zustimmung bewegt wie ein Wiedererken-
und Einrichtungen unseres praktisch-wirtschaftlichen Lebens entwickelt nen. Es wird zu zeigen sein, wie sich gerade von dieser Charakteristik her die
wurden. Zu ihnen gehört es offenkundig, daß jedes Stück, das wir machen, Aufgabe ausnimmt, die die Kunst aller Zeiten und die Kunst von heute für
lediglich als Mittel und Werkzeug dient. Wir sagen nicht, daß es ein >Werk< jeden von uns stellt. Es ist die Aufgabe, das, was da sprechen will, hören zu
ist, ,wenn wir einen praktischen Haushaltsgegenstand erwerben. Es ist ein lernen, und wir werden uns eingestehen müssen, daß Hörenlernen vor allem
>Stück<. Es gehört zu ihm die Wiederholbarkeit der Herstellung desselben meint, sich aus dem alles einebnenden Überhören und Übersehen zu erhe-
und damit die grundsätzliche Ersetzbarkeit eines jeden solchen Gerätes oder ben, das eine immer reizmächtigere Zivilisation zu verbreiten am Werk ist.
Gerätestückes fur den bestimmten Funktionszusammenhang, für den es Wir haben uns die Frage gestellt, was eigentlich durch die Erfahrung des
gedacht ist. Schönen und insbesondere die Erfahrung der Kunst übermittelt wird. Die
entscheidende Einsicht, die man dabei gewinnen muß, war, daß man nicht
Umgekehrt ist das Werk der Kunst unersetzlich. Selbst im Zeitalter der
von einer einfachen Übertragung oder Vermittlung von Sinn sprechen
Reproduzierbarkeit, in dem wir stehen, in dem Kunstwerke höchster Art in
kann. Mit dieser Erwartung würde man das, was da erfahren wird, von
außerordentlich guter Qualität der Abbildung uns begegnen, bleibt das
vornherein in die allgemeine Sinnerwartung der theoretischen Vernunft
wahr. Die Fotografie oder die Schallplatte sind Reproduktion, aber nicht
einbeziehen. Solange man mit den Idealisten, etwa mit Hegel, das Kunst-
Repräsentation. In der Reproduktion als solcher ist nichts mehr von dem
schöne als das sinnliche Scheinen der Idee definiert - an sich eine geniale
einmaligen Ereignis, das ein Kunstwerk auszeichnet (selbst noch, wenn es
Wiederaufnahme platonischer Winke über die Einheit des Guten und des
sich bei der Schallplatte um das einmalige Ereignis einer >Interpretation<,
Schönen —, setzt man notwendigerweise voraus, daß man über diese Art des
d. h. selber einer Reproduktion, handelt). Wenn ich eine bessere Reproduk-
Erscheinens des Wahren hinausgehen kann und daß eben der philosophische
tion finde, werde ich die ältere durch sie ersetzen; wenn sie mir abhanden
Gedanke, welcher die Idee denkt, die höchste und angemessenste Form der
kommt, erwerbe ich eine neue. Was ist dies andere, das im Kunstwerk noch
Erfassung dieser Wahrheiten sei. Es schien uns der Irrtum oder die Schwäche
gegenwärtig ist - anders als in einem beliebig oft herstellbaren Werkstück?
einer idealistischen .Ästhetik zu sein, daß sie nicht sieht, daß es gerade die
Es gibt eine antike Antwort auf die Frage, die man nur wieder richtig
verstehen muß: In jedem Kunstwerk ist so etwas wie >Mimesis<, wie Imita-
tio. Mimesis heißt hier freilich nicht, etwas schon Vorbekanntes nachah- 27
Vgl. HERMANN KOLLER, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung,
men, sondern etwas zur Darstellung bringen, so daß es auf diese Weise in Ausdruck. Bern 1954 (Dissertationes Bemenses 1,5).
128 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 129

Begegnung mit dem Besonderen und der Erscheinung des Wahren nur in Zwitterformen der Programmusik oder auch der Oper und des Musikdra-
der Besonderung ist, worin sich die Auszeichnung der Kunst für uns als eine mas, die eben als Sekundärformen auf die Tatsache der absoluten Musik
nie zu überbietende ergibt. Das war der Sinn von »Symbol· und >symbo- zurückweisen, diese große Abstraktionsleistung der Musik des Abendlan-
lisch<, daß hier eine paradoxe Art von Verweisung erfolgt, die die Bedeu- des, und ihren Höhepunkt, die auf dem Kulturboden Alt-Österreichs er-
tung, auf die es verweist, zugleich in sich selber verkörpert und sogar wachsene Wiener Klassik. Gerade an der absoluten Musik läßt sich der Sinn
verbürgt. Nur in dieser gegen das pure Begreifen widerständigen Form unserer Frage illustrieren, die uns ständig in Atem hält: Warum ist ein
begegnet Kunst - es ist ein Stoß, den das Große in der Kunst uns erteilt -, Musikstück so, daß wir von ihm sagen können: »Es ist etwas flach«, oder:
weil wir immer unvorbereitet, immer wehrlos gegen das Übermächtige »Das ist wirklich große, tiefe Musik«, etwa ein spätes Beethovensches
eines überzeugenden Werkes ihm ausgesetzt werden. Daher besteht das Streichquartett. Worauf beruht das? Was trägt hier diese Qualität? Sicherlich
Wesen des Symbolischen oder des Symbolhaften gerade darin, daß es nicht nicht irgendein bestimmter Bezug auf etwas, das wir als Sinn namhaft
auf ein intellektuell einzuholendes Bedeutungsziel bezogen ist, sondern seine machen können. Aber auch nicht eine quantitativ bestimmbare Masse an
Bedeutung in sich einbehält. Informationen, wie die Informationsästhetik uns weismachen will. Als ob es
So schließt sich die Darlegung über den Symbolcharakter von Kunst mit nicht gerade auf die Varietät im Qualitativen ankäme. Warum kann ein
unseren Eingangsüberlegungen über das Spiel zusammen. Auch dort ent- Tanzlied zum Passionschoral umgestaltet werden? Ist da immer eine gehei-
wickelte sich die Perspektive unserer Fragestellung von da aus, daß das Spiel me Zuordnung zum Wort im Spiel? Mag sein, daß so etwas im Spiel ist, und
immer schon eine Art Selbstdarstellung ist. Das fand bei der Kunst seinen die Interpreten der Musik sind immer wieder versucht, solche Anhalts-
Ausdruck in dem spezifischen Charakter des Seinszuwachses, der >reprae- punkte zu finden, sozusagen letzte Restmomente von Begrifflichkeit. Auch
sentatkx, des Gewinnes an Sein, den ein Seiendes dadurch erfährt, daß es sich beim Sehen der ungegenständlichen Kunst werden wir ja niemals ganz
darstellt. In diesem Punkte scheint mir die idealistische Ästhetik revisionsbe- ausschalten können, daß wir in unserer täglichen Weltorientierung auf Ge-
dürftig, da es darum geht, diesen Charakter der Erfahrung der Kunst ange- genstände hin sehen. So hören wir auch in der Konzentration, in der Musik
messener zu fassen. Die allgemeine Folgerung, die daraus zu ziehen sein fur uns Erscheinung wird, mit demselben Ohr, mit dem wir sonst das Wort
wird, ist längst vorbereitet, nämlich daß Kunst, in welcher Form immer, ob zu verstehen suchen. Es bleibt ein unaufhebbarer Zusammenhang zwischen
in der Form gegenständlicher und vertrauter Traditionen oder der Tradi- der wortlosen Sprache der Musik, wie man zu sagen hebt, und der Wort-
tionslosigkeit des >Unvertrauten< von heute, in jedem Falle eine eigene sprache unserer eigenen Rede- und Kommunikationserfahrungen. Genauso
Aufbauarbeit von uns verlangt. bleibt vielleicht ein Zusammenhang zwischen dem gegenständlichen Sehen
Ich möchte daraus eine Folgerung ziehen, die uns einen wirklich zusam- und Sich-Orientieren in der Welt und der künstlerischen Forderung, plötz-
menfassenden und Gemeinsamkeit bildenden Strukturcharakter der Kunst lich aus den Elementen einer solchen gegenständlich sichtbaren Welt neue
vermitteln soll. Daß es sich bei der Darstellung, die ein Kunstwerk ist, nicht Kompositionen aufzubauen und an deren Spannungstiefe teilzugewinnen.
darum handelt, daß das Kunstwerk etwas darstellt, das es nicht ist, daß es An diese Grenzfragen noch einmal erinnert zu haben ist eine gute Vorbe-
also in keinem Sinn Allegorie ist, d. h. etwas sagt, damit man etwas anderes reitung, den kommunikativen Zug sichtbar zu machen, den Kunst von uns
dabei denkt, sondern daß man gerade in ihm selbst das, was es zu sagen hat, verlangt und in dem wir uns vereinigen. Ich sprach am Anfang davon, wie
allein finden kann, sollte als eine allgemeine Forderung und nicht nur als eine sich die sogenannte Moderne mindestens seit dem Beginn des 19. Jahrhun-
notwendige Bedingung für die sogenannte Moderne verstanden werden. Es derts in einem Herausfallen aus der selbstverständlichen Gemeinsamkeit der
ist eine erstaunlich naive Form gegenständlicher Verbegrifflichung, wenn humanistisch-christlichen Tradition befindet; wie nicht mehr die ganz
man vor einem Bild in erster Linie nach dem fragt, was da dargestellt ist. selbstverständlich verbindenden Inhalte vorliegen, die in der Form der
Natürlich verstehen wir das mit. Es ist immer in unserem Wahrnehmen künstlerischen Gestaltung einzubehalten sind, so daß ein jeder sie als selbst-
einbehalten, sofern wir es erkennen können; aber es ist sicherlich nicht so, verständliches Vokabular der neuen Aussage kennt. Das ist in der Tat das
daß wir das als den eigentlichen Zielpunkt unserer Aufnahme des Werkes im andere, wie ich es formulierte, daß nämlich der Künstler seitdem nicht die
Auge haben. Um dessen gewiß zu sein, braucht man nur an die sogenannte Gemeinde ausspricht, sondern durch sein eigenstes Sich-Aussprechen sich
absolute Musik zu denken. Das ist gegenstandslose Kunst. Da ist es sinnlos, seine Gemeinde bildet. Trotzdem bildet er eben seine Gemeinde, und der
feste, bestimmte Verstehens- und Einheitshinsichten vorauszusetzen - auch Intention nach ist diese Gemeinde die >Oikumene<, das Ganze der bewohn-
wenn das gelegentlich versucht wird. Auch kennen wir die Sekundär- und ten Welt, ist wahrhaft universal. Eigentlich sollte sich jeder — das ist die
130 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 131

Forderung aller künstlerisch Schaffenden - der Sprache öffnen, die in einem feiern. Darin waren uns ältere Zeiten und primitivere Kulturen weit überle-
Kunstwerk gesprochen wird, und sie sich als seine eigene aneignen. Ob eine gen. Man fragt sich: Worin besteht diese Kunst eigentlich? Offenbar in einer
vorbereitende selbstverständliche Gemeinsamkeit unserer Wettsicht die nicht recht bestimmbaren Gemeinsamkeit, einem Sich-Versammeln auf
Formung und Gestaltung des Kunstwerkes trägt oder ob wir uns erst an dem etwas, wovon niemand sagen kann, worauf man sich eigentlich dabei sam-
Gebilde, mit dem wir konfrontiert werden, sozusagen >einbuchstabieren< melt und versammelt. Das sind Aussagen, die wohl nicht zufällig der
müssen, das Alphabet und die Sprache dessen lernen müssen, der uns hier Erfahrung des Kunstwerkes ähnlich sind. Das Feiern hat bestimmte Darstel-
etwas sagt - es bleibt dabei, daß es in jedem Falle eine gemeinsame Leistung, lungsweisen. Es gibt dafür feste Formen, die wir Bräuche nennen, alte
die Leistung einer potentiellen Gemeinsamkeit ist. Bräuche, und keiner davon ist ein Brauch, der nicht alt, d. h. zu einer festen
Ordnungsgewohnheit geworden ist. Es gibt da auch eine Form des Redens,
die der Feier und dem Fest entspricht und zugeordnet ist. Man spricht von
Festreden. Aber viel mehr noch als die Form der festlichen Rede gehört das
III Schweigen zur Feierlichkeit des Festes. Wir reden von einem feierlichen
Schweigern. Wir können vom Schweigen sagen, daß es sich sozusagen
Das ist der Punkt, an dem ich als dritten den Titel >Fest< einfuhren möchte. ausbreitet, und so geht es jedem, der unversehens vor ein Monument
Wenn etwas mit aller Erfahrung des Festes verknüpft ist, dann ist es dies, daß künstlerischer oder religiöser Gestaltung gestellt wird, das ihn >erschlägt<.
es jede Isolierung des einen gegenüber dem anderen verweigert. Das Fest ist Ich erinnere mich an das Nationalmuseum in Athen, wo so alle zehn Jahre
Gemeinsamkeit und ist die Darstellung der Gemeinsamkeit selbst in ihrer einmal ein neues Wunder aus Bronze aus den Tiefen der Ägäis gerettet und
vollendeten Form. Fest ist immer für alle. So sagen wir, jemand schließt neu aufgestellt wird. Wenn man zum erstenmal in einen solchen Raum
sich aus<, wenn er am Fest nicht teilnimmt. Es ist nicht leicht, sich über eintritt, befallt einen ein absolutes feierliches Schweigen. Man spürt, wie alle
diesen Charakter des Festes und die mit ihm verknüpfte Struktur von gemeinsam auf das hin versammelt sind, das einem da begegnet. Daß das
Zeiterfahrung klare Gedanken zu machen. Man fühlt sich da nicht getragen Fest gefeiert wird, besagt also, daß dieses Feiern abermals eine Tätigkeit ist.
und gestützt durch die bisherigen Wege der Forschung. Doch gibt es einige Mit einem Kunstausdruck kann man es eine >intentionale Tätigkeit« nennen.
bedeutende Forscher, die ihr Auge in diese Richtung gelenkt haben. Ich Wir feiern — und das wird dort besonders deutlich, wo es sich um die
erinnere an Walter F. Otto 28 , den klassischen Philologen, oder an Karl Erfahrung der Kunst handelt - , indem wir uns auf etwas versammeln. Es ist
Kerényi29, den deutsch-ungarischen klassischen Philologen, und selbstver- nicht einfach das Beisammensein als solches, sondern die Intention, die alle
ständlich ist es von jeher ein theologisches Thema, was eigentlich das Fest eint und die sie hindert, in Einzelgespräche zu zerfallen oder sich in Einzeler-
und die Zeit des Festes ist. lebnisse zu isolieren.
Vielleicht dürfte ich von folgender erster Beobachtung ausgehen. Man
Fragen wir nach der Zeitstruktur des Festes und ob wir von ihr aus an die
sagt: Feste werden gefeiert; Festtag ist Feiertag. — Aber was heißt das? Was
Festlichkeit der Kunst und die Zeitstruktur des Kunstwerks herankommen.
heißt >Feiern eines Festes<? Heißt >Feiern< nur etwas Negatives: nicht arbei-
Ich darf wieder den Weg über eine sprachliche Beobachtung gehen. Es
ten? Und wenn - warum? Die Antwort muß doch wohl sein: weil offenbar
scheint mir die einzig gewissenhafte Art, philosophische Gedanken kom-
die Arbeit uns trennt und teilt. In der Richtung auf unsere tätigen Zwecke
munikabel zu machen, daß man sich dem unterordnet, was die Sprache
vereinzeln wir uns, bei aller Zusammenfassung, die die gemeinsame Jagd
schon weiß, die uns alle verbindet. So erinnere ich daran, daß wir von einem
oder die arbeitsteilige Produktion seit jeher nötig machte. Dagegen ist das
Fest sagen, man >begeht< es. Die Begehung des Festes ist offenbar eine ganz
Fest und das Feiern offenbar dadurch bestimmt, daß hier nicht erst vereinzelt
spezifische Vollzugsweise in unserem Verhalten. >Begehung< - man muß
wird, sondern alle versammelt sind. Diese Sonderauszeichnung des Feierns
sein Ohr für Worte schärfen, wenn man denken will. Begehung ist offenbar
ist freilich eine Leistung, die wir nicht mehr gut können. Es ist eine Kunst, zu
ein Wort, das die Vorstellung eines Zieles, auf das hingegangen wird,
28 ausdrücklich aufhebt. Die Begehung ist so, daß man nicht erst gehen muß,
WALTE« F. O T T O , Dionysos. Mythos und Kultus. Frankfurt 1933.
29
K A M . KERÉNYI, Vom Wesen des Festes. In: Gesammelte Werke Bd. 7: Antike Reli- um dann dort anzukommen. Indem man ein Fest begeht, ist das Fest immer
gion. München 1971. Z u m Begriff des Festes und des Feierns siehe auch die Ausführun- und die ganze Zeit da. Das ist der Zeitcharakter des Festes, daß es >begangen<
gen in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1, S. 128fF.) und meinen Essay >Die
wird und nicht in die Dauer einander ablösender Momente zerfallt. Gewiß
Kunst des Fcierns< in: J. SCHULTZ (Hrsg.), Was der Mensch braucht. Stuttgart 1977,
S. 61-70. macht man ein Festprogramm, oder man ordnet einen festlichen Gottes-
132 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 133

dienst in artikulierter Weise und stellt sogar einen Zeitplan auf. Das ge- was man Eigenzeit nennen kann und was uns allen aus eigener Lebenserfah-
schieht aber alles nur, weil das Fest begangen wird. Man kann dann auch die rung bekannt ist. Grundformen der Eigenzeit sind Kindheit, Jugend, Reife,
Formen seines Begehens noch disponibel gestalten. Aber die Zeitstruktur Alter und Tod. Hier wird nicht gerechnet, und es wird nicht eine langsame
von Begehung ist gewiß nicht die des Disponierens von Zeit. Folge von leeren Momenten zur ganzen Zeit zusammengestückt. Die Konti-
Zum Fest gehört - ich will nicht sagen: unbedingt (oder vielleicht doch in nuität des gleichmäßigen Flusses der Zeit, den wir mit der Uhr beobachten
einem tieferen Sinne?) - eine Art Wiederkehr. Wir reden zwar von wieder- und berechnen, sagt uns nichts über Jugend und Alter. Die Zeit, die jeman-
kehrenden Festen im Unterschied zu einmaligen Festen. Die Frage ist, ob das den jung oder alt sein läßt, ist nicht die der Uhrzeit. Es ist offenkundig eine
einmalige Fest nicht eigentlich selbst immer nach seiner Wiederholung Diskontinuität darin. Plötzlich ist jemand alt geworden, oder plötzlich sieht
verlangt. Wiederkehrende Feste werden nicht so benannt, weil sie in eine man an jemandem: das ist kein Kind mehr. Wessen man da gewahr wird, ist
Zeitanordnung eingetragen werden, sondern umgekehrt, die Zeitanord- seine Zeit, die Eigenzeit. Das scheint mir nun auch für das Fest charakteri-
nung entsteht durch die Wiederkehr der Feste. Das Kirchenjahr, das Geistli- stisch, daß es durch seine eigene Festlichkeit Zeit vorgibt und damit Zeit
che Jahr, aber auch die Formen, in denen wir selbst in unserer abstrakten anhält und zum Verweilen bringt. Das ist das Feiern. Der berechnende,
Zeitrechnung nicht einfach von der Zahl der Monate und dergleichen reden, disponierende Charakter, in dem man sonst über seine Zeit verfügt, wird im
sondern eben von Weihnachten und Ostern und was es sein mag — das alles Feiern sozusagen zum Stillstand gebracht.
repräsentiert in Wahrheit den Primat dessen, was zu seiner Zeit kommt, was Der Übergang von solchen Zeiterfahrungen des gelebten Lebens zum
seine Zeit hat, und unterliegt nicht einer abstrakten Berechnung oder Aus- Kunstwerk ist einfach. Die Erscheinung der Kunst hat in unserem Denken
füllung von Zeit. immer eine große Nähe zur Grundbestimmung des Lebens, welches die
Es scheint zwei Grunderfahrungen von Zeit zu geben, um die es sich hier Struktur des organischem Wesens hat. So ist es für jeden verständlich, daß
handelt30. Die normale pragmatische Erfahrung von Zeit ist >Zeit für etwas<, wir sagen: Ein Kunstwerk ist irgendwie eine organische Einheit. Was damit
d. h. die Zeit, über die man disponiert, die man sich einteilt, die man hat oder gemeint ist, läßt sich schnell erklären. Man meint damit, daß man spürt, wie
nicht hat oder nicht zu haben meint. Es ist ihrer Struktur nach >leere< Zeit, hier jede Einzelheit, jedes Moment an dem Anblick oder an dem Text oder
etwas, was man haben muß, um etwas hineinzufüllen. Extremes Beispiel was es sonst ist, mit dem Ganzen geeint ist, so daß es nicht wie etwas
der Erfahrung dieser Leere der Zeit ist die Langeweile. Da wird Zeit gewis- Angestücktes wirkt oder herausfallt wie ein Stück Totes, in dem Strom des
sermaßen in ihrem gesichtslosen Wiederholungsrhythmus als eine quälende Geschehens Mitgeschlepptes. Es ist vielmehr zentriert auf eine Art Mitte
Präsenz erfahren. Gegenüber der Leere der Langeweile steht die andere Leere hin. Wir verstehen ja auch unter einem lebendigen Organismus, daß er
der Geschäftigkeit, d. h., nie Zeit zu haben und immerfort etwas vorzuha- solche Zentrierung in sich hat, so daß alle seine Teile nicht einem bestimm-
ben. Etwas vorhaben erscheint hier als die Weise, in welcher Zeit erfahren ten dritten Zweck untergeordnet sind, sondern der eigenen Selbsterhaltung
wird als die, die dazu notwendig ist oder für die man den rechten Augenblick und Lebendigkeit dienen. Kant hat das sehr schön bezeichnet als die
erwarten muß. Die Extreme der Langeweile und der Betriebsamkeit visie- »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, die dem Organismus ebenso eigen ist wie
ren Zeit in der gleichen Weise an: als etwas, das mit nichts oder mit etwas offenkundig dem Kunstwerk 31 . Es entspricht dem eine der ältesten Bestim-
»ausgefüllt ist. Zeit ist hier als das erfahren, was >vertrieben< werden muß mungen, die es über das Kunstschöne gibt: Etwas ist schön, »wenn nichts zu
oder vertrieben ist. Zeit ist hier nicht als Zeit erfahren. -Daneben gibt es eine ihm hinzugefügt und nichts von ihm weggenommen werden kann« (Aristo-
ganz andere Erfahrung von Zeit, und sie scheint mir sowohl mit der des teles)32. Selbstverständlich ist das nicht buchstäblich, sondern cum grano
Festes wie mit der der Kunst aufs tiefste verwandt. Ich möchte sie, im salis zu verstehen. Man kann diese Definition sogar umdrehen und sagen:
Unterschied zu der auszufüllenden leeren Zeit, die erfüllte Zeit oder auch die Daran gerade erweist sich die Spannungsdichte dessen, was wir >schön<
Eigenzeit nennen. Jeder weiß, daß, wenn das Fest da ist, dieser Augenblick nennen, daß es einen Variabilitätsbereich möglicher Veränderungen, Erset-
oder diese Weile vom Fest erfüllt ist. Das ist nicht durch jemanden gesche- zungen, Hinzufügungen, Hinweglassungen zuläßt, aber von einer Kern-
hen, der eine leere Zeit auszufüllen hatte, sondern umgekehrt, die Zeit ist struktur aus, die nicht angetastet werden dar£ wenn das Gebilde seine
festlich geworden, wenn die Zeit des Festes gekommen ist, und damit hängt lebendige Einheit nicht verlieren soll. Insofern ist ein Kunstwerk in der Tat
unmittelbar der Charakter der Begehung des Festes zusammen. Das ist das,
31
Kritik der Urteilskraft, Einleitung.
32
30
Vgl. >Über leere und erfüllte Zeit<, jetzt in Ges. Werke Bd. 4, S. 137-153. Eth. Nie. Β 5, 1106 b 1 0 .
134 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 135

ähnlich wie ein lebendiger Organismus: eine in sich strukturierte Einheit. Genuß steckt. Nur weil wir in dem Transzendieren der kontingenten Mo-
Das aber heißt, es hat auch seine Eigenzeit. mente tätig sind, ersteht das ideale Gebilde. Um ein Gedicht in reiner
Natürlich meint das nicht, daß es seine Jugend und seine Reife und sein Aufnahmehaltung angemessen zu hören, dürfte der Vortrag keine individu-
Alter hat wie der wirkliche lebendige Organismus. Wohl aber heißt es, daß elle Stimmfarbe haben. Eine solche steht nicht im Text. Aber jeder hat eine
das Kunstwerk ebenfalls nicht durch kalkulierbare Dauer seiner zeitlichen individuelle Stimmfarbe. Keine Stimme der Welt kann die Idealität eines
Erstreckung, sondern durch seine eigene Zeitstruktur bestimmt ist. Man dichterischen Textes erreichen33. Eine jede muß in gewissem Sinn durch ihre
denke an die Musik. Jeder kennt die vagen Tempoangaben, die der Kompo- Kontingenz beleidigen. Sich von dieser Kontingenz zu befreien, macht die
nist zur Bezeichnung der einzelnen Sätze eines Musikstückes verwendet. Kooperation aus, die wir als Mitspieler in diesem Spiel zu leisten haben.
Damit ist etwas sehr Unbestimmtes angegeben, und doch ist es nicht etwa Das Thema der Eigenzeit des Kunstwerkes läßt sich besonders schön an
eine technische Anweisung des Komponisten, von dessen Belieben es abhin- der Erfahrung des Rhythmus beschreiben. Was ist das für eine merkwürdige
ge, daß etwas schneller oder langsamer >genommen< wird. Man muß die Sache, der Rhythmus. Es gibt psychologische Forschungen, die uns zeigen,
Zeit richtig nehmen, d. h. so, wie es von dem Werk verlangt wird. Die daß die Rhythmisierung eine Form unseres Hörens und Begreifens selber
Tempoangaben sind nur Winke, um das >richtige< Tempo einzuhalten oder ist34. Wenn wir eine Folge von gleichmäßig sich wiederholenden Geräu-
sich auf das Ganze des Stückes richtig einzustellen. Das richtige Tempo ist schen oder Tönen ablaufen lassen, so kann kein Hörer unterlassen, diese
niemals meßbar, kalkulierbar. Es ist eine der großen Verirrungen, die durch Folge zu rhythmisieren. Wo ist nun eigentlich der Rhythmus? Ist er in den
die Maschinenkunst unseres Zeitalters möglich geworden ist und die in objektiven physikalischen Zeitverhältnissen und den objektiven physikali-
gewissen Ländern besonders zentralistischer Bürokratie auch auf den Kunst- schen Wellenvorgängen oder Tonwellen und dergleichen - oder ist er im
betrieb übergegriffen hat, daß man hier normt, z.B. die >authentische< Kopf des Hörenden? Nun, sicherlich ist das eine Alternative, die man als
Aufnahme durch den Komponisten oder eine vom Komponisten autorisier- solche in ihrer unzureichenden Roheit sofort erfassen kann. Es ist ja so, daß
te >authentische< Aufnahme mit all ihren Tempi und Rhythmisierungen man den Rhythmus heraushört und daß man ihn hineinhört. Dieses Beispiel
kanonisch macht. Die Durchfuhrung dessen wäre der Tod der reprodukti- des Rhythmus einer monotonen Folge ist natürlich kein Beispiel von Kunst
ven Kunst und ihre volle Ersetzung durch eine mechanische Apparatur. — aber es zeigt an, daß wir auch einen in der Gestaltung selbst gelegenen
Wenn in der Reproduktion nur noch nachgeahmt wird, wie ein anderer die Rhythmus nur hören, wenn wir von uns aus rhythmisieren, d. h. wirklich
authentische Wiedergabe ehedem gemacht hat, dann ist das in ein unschöp- selber tätig sind, um ihn herauszuhören.
ferisches Tun herabgemindert, und der andere, der Zuhörer, merkt es — Jedes Kunstwerk hat also so etwas wie eine Eigenzeit, die es uns sozusagen
wenn er überhaupt noch etwas merkt. auferlegt. Das gilt nicht nur von den transitorischen Künsten, von Musik
Hier geht es wiederum um die uns schon lange bekannte Differenzierung und Tanz und Sprache. Wenn wir auf die statuarischen Künste hinüberblik-
des Spielraums zwischen Identität und Differenz. Es ist die Eigenzeit des ken, erinnern wir uns, daß wir ja auch Bilder aufbauen und lesen oder daß
Musikstückes, es ist der Eigenton eines dichterischen Textes, "was man wir eine Architektur >ergehen<, >erwandern<. Das sind auch Zeit-Gänge. Ein
finden muß, und das kann nur im inneren Ohr geschehen. Jede Reproduk- Bild wird nicht genauso (schnell oder langsam) zugänglich wie das andere.
tion, jedes laute Aufsagen oder Hersagen eines Gedichtes, jede Theaterauf- Und gar erst Architektur. Es ist eine der großen Fälschungen, die durch die
fuhrung, in der noch so große Meister der mimischen und Sprechkunst oder Reproduktionskunst unserer Zeit aufgekommen ist, daß wir die großen
Gesangskunst auftreten, vermittelt eine wirkliche künstlerische Erfahrung Bauwerke der menschlichen Kultur dann, wenn wir sie erstmals im Original
des Werkes selber nur dann, wenn wir mit unserem inneren Ohr noch etwas sehen, oft mit einer gewissen Enttäuschung aufnehmen. So malerisch, wie
ganz anderes hören als das, was wirklich vor unseren Sinnen geschieht. Erst sie aus den fotografischen Reproduktionen uns vertraut sind, sind sie dann
das in die Idealität dieses inneren Ohres Erhobene — nicht die Reproduktio- gar nicht. In Wahrheit bedeutet diese Enttäuschung, daß man überhaupt
nen, Darstellungen oder mimischen Leistungen als solche — liefert die Bau- noch nicht über die bloße malerische Anblicksqualität des Bauwerks hinaus
steine fur den Aufbau des Werkes. Das ist eine Erfahrung, die jeder von uns zu ihm als Architektur, als Kunst, hingelangt ist. Da muß man hingehen und
macht, ζ. Β. wenn man ein Gedicht besonders im Ohr hat. Keiner kann 33
einem das Gedicht auf eine befriedigende Weise laut sagen, auch man selber Ausfuhrlicher dazu im folgenden »Stimme und Sprache< (Nr. 22) und >Hören - Sehen
-Lesen<(Nr.23).
nicht. Warum ist das so? Nun, offenbar treffen wir wiederum auf die 34
Vgl. RICHARD HÖNIGSWALD, Vom Wesen des Rhythmus. In: Die Grundlagen der
Reflexionsarbeit, die eigentlich geistige Arbeit, die in dem sogenannten 2
Denkpsychologie. Studien und Analysen. Leipzig/Berlin 1925.
136 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 137

hineingehen, da muß man heraustreten, da muß man herumgehen, muß sich des Haltens des Entgänglichen ist, was wir in unserem Verhalten zur Welt
allmählich erwandern und erwerben, was das Gebilde einem für das eigene und in unserer gestalterischen Anstrengung - formend oder im Formen-
Lebensgefühl und seine Erhöhung verheißt. So möchte ich in der Tat die spiel mitspielend - meinen.
Konsequenz dieser kurzen Überlegung zusammenfassen: Es geht in der Insofern ist es nicht zufällig, sondern das geistige Siegel auf die Innen-
Erfahrung der Kunst darum, daß wir am Kunstwerk eine spezifische Art des transzendenz des Spiels, diesen Überschuß in das Beliebige, in das Gewählte,
Verweilens lernen. Es ist ein Verweilen, das sich offenbar dadurch auszeich- in das Freigewählte, daß sich in dieser Tätigkeit in besonderer Weise die
net, daß es nicht langweilig wird. Je mehr wir verweilend uns darauf Erfahrung der Endlichkeit des menschlichen Daseins niederschlägt. Was für
einlassen, desto sprechender, desto vielfältiger, desto reicher erscheint es. den Menschen der Tod ist, ist ja Hinausdenken über die eigene Weile. Die
Das Wesen der Zeiterfahrung der Kunst ist, daß wir zu weilen lernen. Das ist Bestattung der Toten, der Kult der Toten und der ganze ungeheure Aufwand
vielleicht die uns zugemessene endliche Entsprechung zu dem, was man an Totenkunst, an Weihegaben, ist ein Festhalten des Vergänglichen und
Ewigkeit nennt. Entgänglichen in einer eigenen neuen Dauer. Das scheint mir nun der Schritt
Fassen wir nun den Gang unserer Überlegungen zusammen. Wie bei vorwärts, den wir vom Ganzen unserer Überlegungen aus tun, wenn wir
jedem Rückblick gilt es, sich bewußtzumachen, welchen Schritt wir im nicht nur den Überschußcharakter des Spielens als die eigentliche Basis für
Ganzen unserer Überlegungen vorwärts getan haben. Die Frage, vor die uns unsere schöpferisch gestaltende Erhebung zur Kunst bezeichnen, sondern als
Kunst heute stellt, enthält von vornherein die Aufgabe, Auseinanderfallen- das tiefere anthropologische Motiv dahinter das erkennen, was das Spiel des
des und in Spannung Gegeneinanderstehendes zusammenzubringen: auf der Menschen, und insbesondere das Kunstspiel, von allen Spielformen der
einen Seite den historischen Schein und auf der anderen Seite den progressi- Natur abhebt und ihnen gegenüber auszeichnet. Es verleiht Dauer.
ven Schein. Der historische Schein läßt sich als die Verblendung der Bildung Das war der erste Schritt, den wir getan hatten. Und an ihn schloß sich dann
bezeichnen, derzufolge nur das aus der Tradition der Bildung Vertraute die Frage, was es eigentlich ist, was uns in diesem Formenspiel und seiner
bedeutungsvoll ist. Der progressive Schein lebt umgekehrt in einer Art Gestaltwerdung und >Feststellung< zu einem Gebilde bedeutsam anspricht.
ideologiekritischer Verblendung, indem der Kritiker glaubt, die Zeit sollte Da war es der alte Begriff des Symbolischen, an den wir anknüpften. Auch
mit Heute und Morgen neu anfangen, und damit den Anspruch erhebt, die hier wieder möchte ich jetzt einen Schritt weiter tun. Wir sagten: Symbol ist
Tradition, in der man steht, durch und durch zu kennen und hinter sich zu dasjenige, -woran man etwas wiedererkennt — so, wie der Gastfreund den
lassen. Das eigentliche Rätsel, das das Thema der Kunst uns aufgibt, ist Gastfreund an der >tessera hospitalis< wiedererkennt. Aber was ist Wiederer-
gerade die Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem. Nichts kennen? Wiedererkennen ist nicht: etwas noch einmal sehen. Wiedererken-
ist bloße Vorstufe und nichts bloße Entartung, vielmehr müssen wir uns nungen sind nicht eine Serie von Begegnungen, sondern Wiedererkennen
fragen, was derartige Kunst als Kunst mit sich selbst vereinigt und auf heißt, etwas als das, als was man es schon kennt, erkennen. Es macht den
welche Weise Kunst eine Überwindung der Zeit ist. Wir haben das in drei eigentlichen Prozeß menschlicher »Einhausung« aus - ein Wort Hegels, das
Schritten versucht. Der erste Schritt suchte eine anthropologische"Grundle- ich in diesem Falle gebrauche -, daß jede Wiedererkenntnis von der Kontin-
gung im Phänomen des Spielüberschusses. Es ist eine menschliches Dasein genz der ersten Kenntnisnahme bereits gelöst und in das Ideelle erhoben
zutiefst bestimmende Auszeichnung, daß der Mensch in seiner eigenen worden ist. Wir kennen das alle. In Wiedererkenntnis liegt immer, daß man
Instinktarmut, in seinem eigenen Mangel an Festgelegtheit durch triebhafte jetzt eigentlicher erkennt, als man in der Augenblicksbefangenheit der Erst-
Funktionen, sich in Freiheit versteht und zugleich von der Gefahrdung der begegnung vermochte. Wiedererkennen sieht das Bleibende aus dem Flüchti-
Freiheit weiß, die eben das Menschliche ausmacht. Ich folge darin Einsichten gen heraus. Das ist nun die eigentliche Funktion des Symbols und des
der von Nietzsche inspirierten philosophischen Anthropologie, die von Symbolgehalts aller künstlerischen Sprachen, diesen Prozeß zu vollenden.
Scheler, Plessner und Gehlen entwickelt worden ist. Ich habe zu zeigen Nun war es freilich gerade die Frage, um die wir uns mühen. Was erkennen
versucht, daß hier die eigentlich menschliche Qualität des Daseins erwächst, wir denn eigentlich noch wieder, wenn es sich um Kunst handelt, deren
die Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart, die Gleichzeitigkeit Sprache, deren Vokabular und Syntax und Stil so eigentümlich leer sind und
der Zeiten, der Stile, der Rassen, der Klassen. Das alles ist menschlich. Es ist die uns so fremd oder von den großen klassischen Traditionen unserer
- wie ich es eingangs nannte - der strahlende Blick der Mnemosyne, der Bildung fern erscheinen? Ist es nicht gerade das Kennzeichen der Moderne,
Muse des Behaltens und Festhaltens, der uns auszeichnet. Es war eines der daß sie in so tiefer Symbolnot steckt, daß uns in all dem atemlosenProgressis-
Grundmotive meiner Darlegungen, bewußtzumachen, daß es eine Leistung
138 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 139

mus technischer, ökonomischer und sozialer Fortschrittsgläubigkeit die zu nieinen, wir fingen neu an. Das ändert an der Macht der Traditionen über
Möglichkeiten der Wiedererkennung geradezu verweigert werden? uns gar nichts. Wohl aber ändert es etwas fur unsere Einsicht, ob wir den
Ich habe versucht zu zeigen, daß es nicht so ist, als könnten wir hier einfach Traditionen, in denen wir stehen, und den Möglichkeiten, die sie uns für die
von reichen Zeiten der allgemeinen Symbolvertrautheit und von armen Zukunft gewähren, ins Gesicht sehen oder ob man sich einbildet, man könne
Zeiten der Symbolentleerung sprechen, als ob Gunst der Zeiten und Ungunst sich von der Zukunft, in die wir hineinleben, abwenden und uns neu
der Gegenwart einfache Gegebenheiten wären. In Wahrheit ist das Symbol programmieren und konstruieren. Tradition heißt freilich nicht bloße Kon-
eine Aufgabe des Aufbaus. Es gilt, die Wiedererkennungsmöglichkeiten zu servierung, sondern Übertragung. Übertragung aber schließt ein, daß man
leisten, und das in einem sicherlich sehr weiten Umkreis von Aufgaben und nichts unverändert und bloß konservierend beläßt, sondern daß man ein
gegenüber sehr verschiedenen Angeboten der Begegnung. So ist es gewiß ein Älteres neu sagen und erfassen lernt. So gebrauchen wir auch das Wort
Unterschied, ob wir aufgrund unserer historischen Bildung und in der »Übertragung« für Übersetzung.
Gewöhnung an den bürgerlichen Kulturbetrieb ein Vokabular, das früheren Das Phänomen Übersetzung ist in der Tat ein Modell für das, was Tradition
Zeiten das selbstverständliche Vokabular ihres Sprechens war, nun in histori- wirklich ist. Es muß zur eigenen Sprache werden, was die erstarrte Sprache
scher Aneignung uns vertraut machen, so daß das gelernte Vokabular histori- von Literatur war. Dann erst ist Literatur Kunst. Das gilt genauso von der
scher Bildung bei der Begegnung mit Kunst mitspricht, oder ob auf der bildenden Kunst und genauso von der Architektur. Man denke daran, was es
anderen Seite das neue Buchstabieren unbekannter Vokabulare steht, das es fur eine Aufgabe ist, große Bauwerke der Vergangenheit mit dem modernen
bis zum Lesenkönnen zu steigern gilt. Leben und seinen Verkehrsformen, Sehgewohnheiten, Beleuchtungsmög-
Wir wissen doch, was Lesenkönnen heißt. Lesenkönnen heißt, daß die lichkeiten und dergleichen fruchtbar und sachangemessen zu vereinigen. Ich
Buchstaben ins Unmerkliche verschwinden und es der Sinn der Rede allein darfals Beispiel erzählen, wie es mich berührt hat, als ich aufeiner Reise auf der
ist, der sich aufbaut. In jedem Falle ist es erst die Sinnkonstitution in Iberischen Halbinsel endlich einmal in einen Dom kam, in dem noch kein
Stimmigkeit, die uns sagen läßt: »Ich habe verstanden, was hier gesagt wird.« elektrisches Licht die eigentliche Sprache der alten Dome Spaniens und
Das allererst bringt eine Begegnung mit der Sprache der Formen, mit der Portugals durch Erhellung verdunkelte. Die Fensterluken, in die man wie in
Sprache der Kunst zu ihrer Vollendung. Ich hoffe, es ist nun klar, daß es sich die Helle hinausblickt, und das geöffnete Portal, durch das hinein das Licht in
um ein Wechselverhältnis handelt. Der ist verblendet, der glaubt, daß er das das Gotteshaus flutet, das war offenkundig die eigentlich angemessene Form
eine haben und das andere abstoßen kann. Man kann es sich nicht entschieden der Zugänglichkeit dieser gewaltigen Gottesburgen. Das soll nun nicht
genug klarmachen: Wer glaubt, moderne Kunst sei entartet, wird große heißen, wir könnten unsere Sehgewohnheiten einfach ausschalten. Wir kön-
Kunst früherer Zeiten nicht wirklich erfassen. Es gilt zu lernen, daß manjedes nen das so wenig, wie wir unsere Lebensgewohnheiten, Verkehrsgewohn-
Kunstwerk erst buchstabieren, dann lesen lernen muß, und dann erst beginnt heiten und all das ausschalten können. Aber die Aufgabe, das Heute undjenes
es zu sprechen. Die moderne Kunst ist eine gute Warnung zu glauben, man steinerne Verbliebene von Vergangenheit zusammenzubringen, ist eine gute
könnte, ohne zu buchstabieren, ohne lesen zu lernen, die Sprache auch der Veranschaulichung fur das, was Tradition immer ist. Sie ist nicht Denkmal-
alten Kunst hören. pflege im Sinne der Bewahrung. Sie ist eine ständige Wechselwirkung
Freilich ist es eine Aufgabe des Leistens, die eine kommunikativ gemeinsa- zwischen unserer Gegenwart und ihren Zielen und den Vergangenheiten, die
me Welt nicht einfach voraussetzt oder dankbar wie ein Geschenk annimmt. wir auch sind.
Wir haben eben diese kommunikative Gemeinsamkeit aufzubauen. Das Daraufkommt es also an, das, was ist, sein zu lassen. Aber Seinlassen heißt
»imaginäre Museum «, diese berühmte Formulierung von André Malraux fur nicht, das, was man schon weiß, nur wiederholen. Nicht in der Form eines
die Gleichzeitigkeit aller Epochen der Kunst und ihrer Leistungen in unserem Wiederholungserlebnisses, sondern durch die Begegnung selber bestimmt
Bewußtsein, ist - wenngleich in einer vertrackten Form - eine sozusagen läßt man das, was war, sein für den, der man ist.
unfreiwillige Anerkennung dieser Aufgabe. Es ist eben unsere Leistung, diese Endlich der drittePunkt, das Fest. Ich möchte nicht mehr wiederholen, wie
>Sammlung< in unserer Imagination zusammenzubringen, und die Pointe ist, sich die Zeit und die Eigenzeit der Kunst zu der Eigenzeit des Festes verhält,
daß wir sie nie besitzen und nicht vorfinden, wie man etwa in ein Museum sondern mich aufden einen Einzelpunkt konzentrieren, daß das Fest das alle
geht, um zu besichtigen, was andere gesammelt haben. Oder anders gespro- Vereinigende ist. Es scheint mir die Kennzeichnung des Feierns, daß es für
chen: Wir stehen als endliche Wesen in Traditionen, ob wir diese Traditionen keinen etwas ist als nur fur den, der daran teilnimmt. Das scheint mir eine
kennen oder nicht, ob wir uns ihrer bewußt sind oder verblendet genug sind besondere und mit aller Bewußtheit zu vollziehende Anwesenheit. Daran
140 Poetik und Aktualität des Schönen Die Aktualität des Schönen 141

erinnern schließt ein, daß damit unser Kulturleben mit seinen Stätten des • . Nun behaupte ich in allem Ernst: Die >Dreigroschenoper< oder Schallplat-
Kunstgenusses und seinen Episoden der Entlastung vom täglichen Da- ten, von denen moderne Songs erschallen, die von der Jugend heute so sehr
seinsdruck als Form der Bildungserfahrung kritisch befragt wird. Zum geliebt werden, sind genauso legitim. Sie haben ebenfalls eine alle Klassen und
Begriff des Schönen gehörtja, wie ich erinnerte, daß es Öffentlichkeit meint, alle Bildungsvoraussetzungen überspielende Möglichkeit der Aussage und
Stehen im Ansehen. Das aber schließt ein, daß da eine Lebensordnung ist, die der Kommunikationsstiftung. Ich meine damit nicht den Rausch der mas-
u. a. auch die Formen künstlerischer Gestaltung, die Dekoration, die archi- senpsychologischen Ansteckung, die es auch gibt und die gewiß immer ein
tektonische Formung unseres Lebensraumes, die Ausschmückung dieses Begleiter echter Gemeinschaftserfahrung war. In unserer Welt der starken
Lebensraumes mit allen möglichen Formen von Kunst umfaßt. Wenn Kunst Reize und oft unverantwortlich kommerziell gesteuerten Experimentier-
in Wahrheit etwas mit Fest zu tun hat, dann heißt das, daß sie die Grenze einer sucht ist ohne Frage vieles von der Art, daß wir nicht sagen können, daß es
solchen Bestimmung, wie ich sie beschreibe, und damit auch die Grenzen des wirklich Kommunikation stiftet. Rausch als solcher ist keine bleibende
Bildungsprivilegs übersteigen muß, ebenso wie sie gegen die kommerziellen Kommunikation. Aber es hat etwas zu sagen, daß unsere Kinder sich auf
Strukturen unseres gesellschaftlichen Lebens immun bleiben muß. Damit sei selbstverständlichste Weise in einem gewissen Bespieltwerden durch Musik,
nicht bestritten, daß man mit Kunst Geschäfte machen kann und daß Künstler wie man es nennen muß, oder in oft sehr kahl wirkenden Formen abstrakter
vielleicht auch der Kommerzialisierung ihres Schaffens erliegen können. Kunst leicht und unmittelbar ausgedrückt fühlen.
Aber das ist eben nicht die eigentliche Funktion der Kunst, heute und von ' Wir sollten uns klar sein, daß das, was wir hier als harmlosen Kampf um das
jeher. Ich darf an einige Tatsachen erinnern. Da ist etwa die große griechische zu hörende Programm oder die aufzulegende Platte im Generationenzwie-
Tragödie - noch heute für die bestgeschulten und scharfsinnigsten Leser eine spalt, oder sagen wir besser, in der Kontinuität zwischen den Generationen,
Aufgabe. Gewisse Chorlieder des Sophokles oder des Aischylos wirken in der 1
erfahren—denn wir Älteren lernen ja —, auch im Großen unserer Gesellschaft
Gedrungenheit und Pointiertheit ihrer hymnischen Aussagen fast hermetisch vor sich geht. Wer meint, unsere Kunst sei eine bloße Kunst der Oberschicht,
verschlüsselt. Und dennoch war das attische Theater die Vereinigung aller. irrt sich gewaltig. Wer so denkt, vergißt, daß es Sportstadien, Maschinenhal-
Und der Erfolg, die ungeheure Popularität, die die kultische Integration der len, Autobahnen, Volksbibliotheken, Berufsschulen gibt, die mit gutem
Spiele im attischen Theater gewann, bezeugt, daß das nicht die Repräsenta- Recht oft viel luxuriöser ausgestattet sind als unsere trefflichen alten humani-
tion einer Oberschicht war oder zur Befriedigung eines Festkomitees diente, stischen Gymnasien, in denen der Schulstaub fast ein Bildungselement war -
welches dann die Preise für die besten Stücke verlieh. und denen ich persönlich aufrichtig nachtrauere. Schließlich vergißt er auch
Eine ähnliche Kunst war und ist sicherlich die aus der gregorianischen noch die Massenmedien mit ihrer Diffusionswirkung über das Ganze unserer
Kirchenmusik sich herleitende große Geschichte der abendländischen Poly- Gesellschaft. Wirsolltennichtverkennen, daß es immer auch einen vernünfti-
phonie. Eine dritte Erfahrung ist eine, die wir alle heute noch machen können, gen Gebrauch solcher Dinge gibt. Gewiß liegt eine ungeheure Gefahr für die
genau wie die Griechen - und am selben Gegenstand. Das ist antike Tragödie. menschliche Zivilisation in der Passivität, die durch Benutzung allzu beque-
Der erste Leiter des Moskauer Künstlertheaters (1918 oder 191^ nach der mer Multiplikatoren der Bildung eintritt. Das gilt vor allem für die Massen-
Revolution) wurde gefragt, mit welchem revolutionären Stück er das revolu- medien. Aber gerade da stellt sich an jeden die humane Forderung, an den
tionäre Theater eröffnen wolle - und er hat mit ungeheurem Erfolg >König Älteren, der anzieht und erzieht, wie an die Jüngeren, die angezogen und
ödipus< gespielt. Die antike Tragödie in jeder Zeit und für jede Gesellschaft! erzogen •werden, zu lehren und zu lernen durch das eigene Tun. Was von uns
Der gregorianische Choral und seine kunstvolle Entfaltung, aber auch die verlangt wird, ist ebendies, die Aktivität unseres eigenen Wissenwollens und
Passionsmusiken Bachs sind das christliche Gegenstück dazu. Niemand kann Wählenkönnens angesichts von Kunst wie von allem, was auf dem Wegeder
sich da täuschen. Hier geht es nicht mehr um einen bloßen Konzertbesuch, Massenmedien verbreitet wird, einzusetzen. Dann erst erfahren wir Kunst.
hier geht etwas anderes vor. Als Besucher eines Konzertes wird einem Die Untrennbarkeit von Form und Inhalt wird als die Nichtunterscheidung
deutlich, daß es sich da um eine andere Form von Gemeinde handelt, als sie wirklich, durch die uns Kunst als das, was uns etwas sagt und uns aussagt,
sich anläßlich der Aufführung einer Passionsmusik in großen Kirchenräumen begegnet.
versammelt. Da ist es wie bei einer antiken Tragödie. Solches reicht von dem Wir brauchen uns nur die Gegenbegriffe klarzumachen, an denen sich diese
höchsten Anspruch künstlerischer, musikalischer, historischer Bildung bis Erfahrung sozusagen niederschlägt. Ich möchte zwei Extreme beschreiben.
zu der einfachsten Bedürftigkeit und Empfänglichkeit des menschlichen Das eine ist die Form des Genusses einer Bekanntheitsqualität. Hier liegt, wie
Herzens. ich glaube, die Geburt von Kitsch, von Unkunst. Man hört heraus, was man
142 Poetik und Aktualität des Schönen

schon weiß. Man will gar nichts anderes hören, und man genießt diese
Begegnung als eine, die einen nicht umstößt, sondern auf eine welke Weise
bestätigt. Das ist gleichbedeutend damit, daß der für die Sprache der Kunst
Bereite gerade die Gewolltheit dieser Wirkung spürt. Man merkt, hier wird
etwas mit einem gewollt. Aller Kitsch hat etwas von dieser oft sehr gut
gemeinten, sehr gutwilligen und gutgesinnten Angestrengtheit an sich - und 11. Ästhetische und religiöse Erfahrung
doch zerstört das gerade die Kunst. Denn Kunst ist etwas nur, wenn es des
eigenen' Aufbauens des Gebildes im Lernen des Vokabulars, der Formen und (1964/1978)
der Inhalte bedarf, damit sich Kommunikation wirklich vollbringt.
Die zweite Form ist das andere Extrem zum Kitsch: das ästhetische
Geschmäcklertum. Man kennt es im besonderen im Verhalten zu den repro- Wie alle Erfahrung drängt auch die ästhetische und die religiöse Erfahrung
duktiven Künstlern. Man geht in die Oper, weil die Callas singt, nicht weil nach dem Wort. Dem entspricht der griechische Ursinn der betreffenden
diese bestimmte Oper aufgeführt wird. Ich verstehe, daß das so ist. Aber ich Ausdrücke: Poesie ist >Machen< durch das Wort, und Theo-logia ist >Reden<
behaupte, daß das nicht eine Erfahrung von Kunst zu vermitteln verspricht. vom Göttlichen. Daß es sich hier um zweierlei handelt, um dichterische oder
Offenkundig ist es eine Sekundärreflexion, sich den Schauspieler oder den religiöse Rede, darf aber nicht einfach vorausgesetzt werden. Jedem, der die
Sänger und überhaupt den Künstler in seiner Mittlerfunktion bewußtzuma- griechische >Theologie< und Poesie kennt, ist klar, daß man dort zwischen
chen. Die vollendete Erfahrung eines Kunstwerkes ist so, daß man gerade vor der Sprache der Dichtung und der mythologischen Überlieferung nicht
der Diskretion der Akteure mit Bewunderung steht, wenn sie sich nicht selbst leicht unterscheiden kann. Es waren nur die Dichter, die uns die mythologi-
zeigen, sondern das Werk, seine Komposition und seine innere Kohärenz bis sche Überlieferung überhaupt vermittelten. Noch weniger könnten wir eine
zur ungewollten Selbstverständlichkeit evozieren. Hier handelt es sich um solche Frage wie die, ob dichterische oder religiöse Sprache, etwa an die
zwei Extreme, das >Kunstwollen< zu bestimmten manipulierbaren Zwecken, indische oder an die chinesische Überlieferung richten, wo wir sogar nicht
das sich im Kitsch darstellt, und die völlige Ignorierung der eigentlichen einmal fragen könnten: Ist es Dichtung, ist es Religion oder ist es Philo-
Anrede, die ein Werk der Kunst an uns richtet, zugunsten einer ästhetischen sophie? Es ist offenbar das Auszeichnende der abendländischen Entwicklung
Sekundärschicht von Geschmacksfreuden. des Geistes, daß dort erst, und offenbar im Zusammenhange mit dem
Zwischen diesen Extremen scheint mir die eigentliche Aufgabe zu liegen. Erwachen von Wissenschaft und Philosophie, eine spannungsvolle Ausein-
Sie besteht darin, anzunehmen und einzubehalten, was sich uns dank der andersetzung mit der religiösen und dichterischen Überlieferung einsetzte,
Formkraft und Gestaltungshöhe echter Kunst übermittelt. Am Ende ist es die am Ende zur Unterscheidung von dichterischer und religiöser Rede
eine Art Schwundproblem oder eine sekundäre Frage, wieviel durch histori- führte. So werden wir dichterische und religiöse Erfahrung nicht in abstrak-
sche Bildung vermitteltes Wissen dabei überhaupt in Anschlag gebracht ter Zeitlosigkeit thematisieren können, sondern aus unserer eigenen abend-
wird. Die Kunst der älteren Zeiten erreicht uns nur im Durchgang durch den ländisch-christlichen Tradition heraus die Frage nach den verschiedenen
Filter der Zeit und der lebendig erhaltenden, lebendig verwandelnden Über- Weisen der Rede und der ihnen zugrunde liegenden Erfahrung stellen müs-
lieferung. Die gegenstandslose Kunst der Moderne kann — sicherlich nur in sen.
ihren besten, von uns heute kaum von den Imitationen unterscheidbaren Es scheint mir ferner, daß sich diese Frage erst dadurch stellt, daß erstmals
Produkten — genau die gleiche Dichtigkeit ihrer Fügung und die gleiche in der jüdisch-christlichen Tradition eine Religion des heiligen Buches be-
Möglichkeit unmittelbaren Ansprechens haben. Im Werk der Kunst wird gegnet, so daß >die Schrift< kanonische Geltung erlangt, wie man auf eng-
das, was nochnichtin der geschlossenen Kohärenz eines Gebildes, sondernim lisch geradezu >Scripture< ohne jeden Zusatz sofort auf die Bibel hin versteht.
Vorüberfluten da ist, in ein bleibendes, dauerndes Gebilde verwandelt, so daß Es ist also so, daß es mit dem Auftreten dieser Form von Religion zusam-
in es hineinzuwachsen zugleich auch heißt, über uns hinauszuwachsen. Daß menhängt, in deren Tradition wir stehen — wie unter der des humanisti-
»in der zaudernden Weile einiges Haltbare sei« — das ist Kunst heute, Kunst schen« Erbes der Griechen und Römer —, daß nicht nur Philosophie und
gestern und von jeher. Poesie, sondern auch Poesie und Religion für uns auseinandertreten und
damit die gesamte literarische Überlieferung des klassischen Altertums als
>heidnisch< um ihren eigenen Wahrheitsanspruch gebracht ist. Von da aus
144 Die Transzendenz des Schönen Ästhetische und religiöse Erfahrung 145
erhält unser Thema die Spannung einer möglichen Frage. Es wäre sinnlos zu hier mit Recht von der Kunst des Schreibens, wenn das bei Dichtung und
fragen, ob Lao-Tse mehr Dichter oder mehr religiöser Künder oder mehr Literatur gelingt, daß sie >sprechen<. Wir fragen uns: Wie macht es der
Philosoph war. Künstler des Schreibens, daß sein Text von sich aus spricht, so daß man gar
So handelt es sich bei unserem Thema um eine Frage, die sich nicht von nicht mehr daran denkt, auf den ursprüngÜchen Sprachakt des lebendigen
selbst versteht, sondern ein bestimmtes Vorverständnis enthält, um dessen Wortes zurückzugehen? Bei den religiösen Texten unserer jüdisch-christli-
Klärung es geht. Sofern es sich um Rede und Schrift handelt, ist es ein chen Überlieferung ist die Sachlage freilich anders. Was in der Heiligen
hermeneutisches Thema. >Hermeneutik< ist ein Wort, das im achtzehnten Schrift zu uns spricht, beruht nicht primär auf der Kunst des Schreibens,
Jahrhundert recht üblich geworden war, um dann ein Jahrhundert lang fast sondern auf der Autorität der Synagoge oder der Kirche, die dort spricht.
zu verschwinden. Damals war es geradezu ein Wort der Umgangssprache. So haben wir es mit zwei Arten ausgezeichneter Texte zu tun, wenn wir
Man konnte von der >Hermeneutik< eines Mannes reden, der verständnisvoll den Unterschied von dichterischer und religiöser Rede analysieren wollen.
ist, der auf einen anderen einzugehen und das Verborgene, Unausgespro- Wir müssen die besonderen Implikationen dessen, was diese beiden Arten
chene im anderen mitwahrzunehmen versteht. Noch Schleiermacher, der von Texten sind, ins Auge fassen. Da ist zunächst der Text, den wir im
Begründer der allgemeinen Hermeneutik, beruft sich immer wieder darauf, engeren Sinne >Literatur< nennen. Ich nenne ihn den »eminentem Text1. Das
daß die Kunst der Hermeneutik auch für das gesellige Leben im Grunde sind nicht irgendwelche Notizen, die man sich macht, etwa wenn man einen
unentbehrlich ist. »Wer könnte«, so sagt er, »mit ausgezeichnet geistreichen Vortrag schriftlich festhält oder auch anstelle einer mündlichen Mitteilung
Männern umgehen, ohne daß er ebenso bemüht wäre, zwischen den Worten einen Brief schreibt. In all diesen Fällen will das Schriftliche gar nichts
zu hören, wie wir in geistvollen und gedrängten Schriften zwischen den anderes, als auf ein ursprünglich Gesprochenes zurückzuweisen. Ein emi-
Zeilen lesen; wer wollte nicht ein bedeutsames Gespräch, das leicht nach nenter Text ist dagegen ein Text, den wir als Text lesen, so daß wir geradezu
vielerlei Seiten hin auch bedeutende Tat werden kann, ebenso genauer umgekehrt darauf verwiesen werden, daß es »geschrieben steht«.
Betrachtung wert halten, die lebendigen Punkte darin herausheben...?« Es ist zwar zuzugeben, daß der Sprachgebrauch nicht nur in solchen
So ist die hermeneutische Gabe in der Tat nichts als dies, was uns schwer eminenten Fällen wie dem Text der Bibel, dem Gesetzestext oder dem
verständlich und fremdartig erscheint, dennoch verstehen zu können. »literarischem Text die Anwendung des Wortes >Text< kennt. Aber man
Im Ganzen unserer Lebenserfahrung begegnet diese Aufgabe in ihrer meint damit sonst nur die »technische« Fixierung von Rede durch Schrift
höchsten Anforderung immer dort, wo es darum geht, sich etwas sagen zu überhaupt, die der Anschrift, der Vorschrift, dem Gesetzestext normative
lassen. Das ist eine nie beendete Aufgabe im Leben jedes einzelnen Men- Gültigkeit verleiht und jedenfalls nicht Autonomie im Sinne von »Literatur«.
schen, das genügend zu lernen. Aber auch wenn wir von solcher morali- Ein literarischer Text ist dagegen, wie das Wort schon sagt, etwas, das aus
schen Blockade durch die Selbstliebe absehen, kann man gewiß sagen, daß Fäden so gewebt ist, daß es in sich selbst zusammenhält. Solche Rede muß,
sich die Aufgabe des Verstehens unter auftretenden Schwierigkeiten stellt. wenn sie wirklicher Text ist, so in sich selbst zusammenhalten, daß sie in sich
So stellt sie sich in besonderer Weise, wo gefrorene Sprache,- in Schrift >dasteht< und nicht mehr auf ein eigentlicheres Sagen zurückweist. Dort, wo
erstarrte Sprache, wieder sprechen soll. Insofern ist es klar, daß Texten das ohne den tragenden Zusammenhang juristischer oder kirchlicher Praxis
gegenüber und überall dort, wo Schriftlichkeit begegnet, das Verstehen eine der Fall ist, ist ein Text »autonome
schwierige Aufgabe ist. Es gilt, einen Text wieder zum Reden zu bringen. Wir gingen davon aus, daß es innerhalb der griechischen Überlieferung
Nun ist gewiß dabei das Entscheidende nicht die äußere Tatsache der unmöglich ist, eigens dichterische und religiöse Sprache unterscheiden zu
Schriftlichkeit. Das ist zwar wahr, daß jede Art von Schriftlichkeit Ver- wollen. Es gab gewiß Kultus und sprachliche Ausdrucksformen im Kultus.
wandlung in ein Sprechen verlangt. Der normale Gebrauch von Schrift ist Aber die religiöse Überlieferung der Griechen, die wir kennen, geschah
ohnehin ein Zurückverweisen auf ein ursprüngliches Sagen. Der Text er- durch die Dichtung. Wir nennen das eine mythische Überlieferung, weil sie
hebt in diesem Sinne gar nicht den Anspruch, aus eigener Kraft zum Reden keine andere Beglaubigung kennt als die des Erzähltwerdens. Am Anfang
gebracht zu werden. Nicht der Text, scheint es, der Sprecher will und soll stehen Götter- und Heldengeschichten. Die Form, in der die Götter- und
wieder reden, wenn ich seine Aufzeichnung lese. Im Falle »literarischen Heldengeschichten erzählt, wiedererzählt und wieder wiedererzählt wer-
Texte (im weitesten Sinne) ist es nun aber sicher nicht der Sprecher, der
wieder sprechen soll, sondern der Text, die Kunde, die Botschaft soll 1
Siehe dazu auch den Beitrag »Der »eminente« Text und seine Wahrheit«, in diesem
sprechen. Das ist ein Problem für sich, wie das geschehen kann. Wir reden BandS. 286 ff.
146 Die Transzendenz des Schönen Ästhetische und religiöse Erfahrung 147

den, ist immer eine neue Interpretation. Darin vollzieht sich die Freiheit des Geh Gesagten auf etwas jenseits seiner Gelegenes hin. Die Sphäre des Göttli-
Erzählens. Sie kann sogar noch die Götterkritik einschließen, die wir bei den chen, von der man Geschichten erzählt - das Verhalten der Götter, das
großen Dichtern der Griechen, die auf das epische Zeitalter folgen, finden, Zusammenhängen von Menschen und Helden mit Göttern - , all das ergibt
etwa die Kritik am Gebaren der Homerischen Götter. Die unlösbare Einheit eine unendliche Reihung von Geschichten. Die epische Form der Literatur
religiöser und dichterischer Rede zeigt sich nicht zuletzt darin, daß selbst die ist der Ausdruck dieser Erzählungen.
Kritik an den Dichtern seitens der griechischen Philosophie in letztem Sinne Ein anderer, damit eng zusammenhängender Gebrauch von Rede scheint
noch Theologie bleibt. Wenn Plato seine Mythen mit besonderer Meister- die Anrufung zu sein, oder vielleicht sollte man geradezu sagen: das Nennen.
schaft aus einer barocken Mischung traditioneller religiöser Motive und Denn dies Nennen — zum mindesten in dem Sinne, in dem ich es hier in der
philosophischer Begriffe zu gestalten weiß, so entspricht das dem, was fur Verbindung mit Anrufen gebrauche - ist offenbar nicht zu verwechseln mit
diese gesamte Überlieferung charakteristisch ist: Wahres und Falsches zu jener adamitischen Besitzergreifung der Schöpfung, als Adam allen Dingen
mischen, Kunde von Höherem und zugleich Freiheit des Spieles zu sein. den Namen gab. Die Erfahrung, um die es hier geht, ist vielmehr die der
Am Anfang des Selbstverständnisses der griechischen Dichtung steht das Anrufung, die der Mensch an den Gott richtet. Homer bezeugt das ständig,
Hesiodsche Proömium, in dem die Musen dem Dichter erscheinen und ihm daß die Sterblichen zwar die Götter mit Namen rufen, aber in dem Bewußt-
Versprechungen machen, sie seien imstande, viel Falsches zu lehren und viel sein, nicht zu wissen, ob sie sie mit dem rechten Namen rufen. »Zeus oder
Wahres. Es spricht eine eigentümliche Unverbindlichkeit aus diesen Versen. wie immer du gerufen sein willst. . . « ist etwa eine der üblichen Floskeln
Wer für Verse ein Ohr hat, kann nicht zweifeln, daß es heißen soll: Sie sagen epischer Anrufung. Auch solche Anrufung weist offenbar über das, was wir
immer beides, Wahres und Falsches (die Muse behält sich Freiheit vor). Das wissen, hinaus und läßt etwas sichtbar werden, was unserem eigenen Zu-
Problem ist offenbar schon hier: Was ist das fur eine Art Anspruch auf griff und Begriff entzogen bleibt und was jedenfalls nicht in dem aufgeht,
Wahrheit, wenn er so mit der Freiheit des Erfindens gepaart ist? Das ist eine was wir wissen. Gleichwohl ist die Freude des Nennens, das > Aufzählen« von
uns wohlvertraute Frage. Wir sollten uns nicht von einem modernistischen Namen, ein wesentliches Moment in der »epischen« Haltung des >Erzählers<,
Begriff des Ästhetischen oder des Nur-Dichterischen täuschen lassen, als ob wie beide, Homer und Hesiod, deutlich bekunden.
es je anders gewesen wäre. Dichtung bestand nie nur in der formalen Nun ist der Schritt zur »Literatur«, den solche mythische, dichterische
Meisterschaft wohlklingender sprachlicher Gestaltung allein, sondern darin, Überlieferung tut, wenn ich es in einer Formel komprimieren solL der
daß sie etwas zur Aussage bringt, das wahr sein will. Ich habe das in meinen Schritt von der Sagenerzählung zum Werk. Der Begriff des Werks und des
Untersuchungen in einer nicht gerade schönen Formgebung die ästhetische Kunstwerks ist freilich nicht ohne Probleme. Bekanntlich versucht man in
Nichtunterscheidung< genannt2. Es ist zum Wesen des dichterischen Verste- heutiger progressiver Ästhetik den Werkbegriff zu eliminieren. Man meint,
hens gehörig, daß man die >Exergasia<, die Art der Ausarbeitung - das ist ein es ' komme gerade nicht auf das Werk an, das dem »Konsumenten« den
Terminus der griechischen Malerei - , nicht eigens beachtet. Durch die Abstand der Betrachtung und des Genusses läßt, sondern auf den Akt der
zwingende Gestaltung des Sprachlich-Formalen werderr vielmehr Inhalte einmaligen Begegnung, den Stoß, den man empfangt. Gleichwohl glaube
übermittelt und zu greifbarer, anschaulicher Präsenz erhoben, die uns ganz ich, daß es hermeneutische Gründe gibt zu sagen, das Werk bleibt das Werk.
erfüllen. Das heißt, jede Gestaltung, die überhaupt identifizierbar ist, so daß wir für
Nun fragen wir uns •wieder: Wie sieht das in den griechischen Anfangen sie Ausdrücke gebrauchen wie »schön«, »dicht«, »vielsagend«, ist schon, in-
aus? Wie steht der Mythos zwischen Dichtung und Wahrheit? Das erste am dem sie so charakterisiert wird, »Ergon« — ein Werk. Im religiösen Kult als
Mythos ist: 'Erzählen3. Und wir sollten immer wissen, was Erzählen ist. solchem gibt es nicht diesen Übergang zum Werk. Der Ritus, die Zeremo-
Erzählen ist ein in sich offen-unendlicher Vorgang und ein sich in sich nie, die Formen und Formeln des religiösen Verhaltens können fest und
niemals erschöpfender Vorgang. Ein Erzähler, der nicht den Eindruck er- fixiert sein und beständig wiederholt werden, weil es so Brauch ist. Da hat
weckt, als könnte er immer weiter erzählen, ist kein Erzähler. Das bedeutet man nicht den Abstand des Urteils, sondern man geht im Vollzug auf. Wohl
aber: wenn in der Form des Erzählens vom Göttlichen gesprochen wird, so aber hat selbst ein Mobile oder eine Spielanweisung seine Identität — so gut
liegt in dieser Form der Übermittlung selber eine Überschreitung des wirk- wie ein einmaliger Tanz, den wir als meisterhaft bewundern, und selbst eine
Improvisation auf der Orgel kann ein »Werk« sein. Es heißt uns »schön« oder
auch »leer« und »nichtssagend«. Es ist etwas, über das geurteilt wird, auch
2 »Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff.
3
Vgl. dazu in diesem Band Mythologie und OfFenbarungsreligion«, S. 175 ff. wenn es nur einmal gesehen oder gehört worden ist. Es ist für uns eine
148 Die Transzendenz des Schönen Ästhetische und religiöse Erfahrung 149

Werkgestaltung. Nun möchte ich sagen: ein solcher Obergang vom wieder- Sprecher entspricht: Das Ideal solchen Sprechendwerdens von Texten als
holten Vollzug zum >Werk< scheint sich in der griechischen Literatur Schritt Texten schließt in letzter Konsequenz die Unübersetzbarkeit ein.
für Schritt zu vollziehen und vollendet sich schließlich in der Wendung zum Daß >Literatur< sich vor allem, was sonst geschrieben wird oder schriftlich
Text, dem gelesenen Werk. Man kann es verfolgen, wie alle Formen dichte- überliefert ist, dadurch auszeichnet, daß es auf ihre sprachliche Erscheinung
risch-religiöser Rede, in denen wir das Dichterische vom Religiösen nicht — und nicht nur auf den >Sinn< — ankommt, liegt auf der Hand. Übersetzung
scheiden können, sich zur Werkgestalt erheben, sei es im rhapsodischen literarischer Texte ist eben selber wieder eine literarisch-dichterische Aufga-
Vortrag, der sicher nicht mehr Kult war, sei es in der Aufführung der be, die nur in Annäherung gelingen kann. Das Extrem einer >Literatur<, das
Chorlyrik und ihres Tanzes - ohne Zweifel herausgehoben aus den >Nomoi< sich der vollen Unübersetzbarkeit nähert, ist offenbar das Ideal der symboli-
der täglichen Kultverrichtung. So stellt die Tragödie, von der wir alle stischen Lyrik, der poésie pure. Sie stellt so die äußerste Konsequenz einer
wissen, daß sie bei aller Einfügung in den Gesamtrahmen religiöser Ord- sprachlichen Gestaltung dar, die überhaupt alle Mitteilung von Inhalten
nungen ein Schauspiel war, eine in sich geschlossene Veranstaltung dar, über zugunsten des Vollzuges hinter sich läßt. Wenn Bedeutung und Klang wie
die ein Preisgericht urteilte. Man ist überall bereits auf dem Wege zur eigene Gravitationszentren einander die Waage halten, und das so, daß die
Autonomie des Textes, so daß der Übergang in das wirklich Geschriebene Einheit einer Rede ohne jedes andere syntaktische Mittel gelingt—und das ist
und der Übergang in das nur noch Gelesene nicht überraschend ist. in gewissem Sinn Mailarmes Ideal gewesen - , heißt das also nicht, daß der
Was aber ist darin eigentlich impliziert, daß etwas >Literatur< wird, d. h. so Einheitssinn der Rede gefährdet oder aufgehoben wäre. Das scheint mir ein
sehr Werk oder Text geworden ist, daß es als dieses, als >Literatur<, zum Mißverständnis. Wohl aber erweist dieses Ideal der >reinen< Poesie, daß
Sprechen gebracht werden kann? Daß es wirklich das autonom gewordene Sprache in ihrer vollen sinnlichen Idealität spricht, in der Sinn und Klang
Werk selbst ist, das da zum Sprechen gebracht werden muß - und nicht der eins geworden ist. Hier scheint das Herauswachsen des dichterischen Werks
Autor als dieser Sprechende-, zeigt sich etwa daran, daß jede Reproduktion, aus der vorliterarischen Sprache der Sagenerzählung und des Liedes zu einer
auch die durch das eigene Sprechen des Lesers oder Autors, ein mißliches Höhe gelangt, in der >alks Symbol· ist.
Moment des Kontingenten erhält. Ein wirklicher Text, der in diesem emi- ι Nun möchte ich dieser Form des eminenten Textes >die Schrift< und das
nenten Sinne Text ist, wird nicht an der ursprünglichen Art gemessen, in der heilige Buch zur Seite stellen, in dem die erzählte Urgeschichte zur Urkunde
er erstmals oder ursprünglich gesagt war. Immer hat es etwas Peinliches, wird. >Urkunde< soll hier den vollen Sinn des deutschen Wortes, den Sinn
wenn man einen Dichter seine eigenen Werke vortragen hört. Warum hat er des gültigen Dokumentes haben. Das ist, offenbar ein Neues. Welcher Be-
denn gerade diese Stimme, warum hat er denn gerade diese Betonung beim zeugung durch eine Urkunde bedarf es da? Keine antike Religion, die wir aus
Vortrag der Sache? Meinem inneren Ohr kann keine mögliche Sprachver- unserer westlichen Tradition kennen, hat eigentlich den Begriff der falschen
wirklichung, auch nicht die durch meine eigene Stimme, voll genügen4. Das Götter gekannt. Die Götter - das war dieses Dasein >jenseits< des Alltägli-
weiß jeder Sprecher eines >Textes<. Der Text hat eine Idealität erworben, die chen, die Sphäre des Göttlichen, zu der immer neue Interpretationen und
durch keine Realisierung voll gedeckt werden kann. " ~ ~ Illustrationen dichterischer und >philosophischer< Art den Weg suchten. Die
Das Theaterproblem, die >Reproduktion< im Sinne der szenischen Realisa- Voraussetzung war dabei die eindeutige Realität der religiösen Erfahrung:
tion, ist wiederum etwas anderes und bestätigt gleichwohl die Idealität von Fremde Völker konnten auch nichts anderes meinen als diese übermächtige
>Literatur<. Da kommt wie eine zweite Schöpfung eine neue Wirklichkeits- Wirklichkeit des Göttlichen, so daß etwa die bekannte Hinzunahme der
schicht ins Spiel. Auch ein dramatischer Text bleibt vermöge der Idealität Götter unterworfener Völker oder eroberter Städte zu den eigenen römi-
seiner literarischen Gestaltung der Maßstab für solche >zweite< Schöpfung. schen Göttern gar nichts Besonderes war. Nicht so sehr Staatsweisheit
Man denke etwa an die Auffassung einer Rolle, an die Grenze des Spiel- spricht daraus, als daß sich darin ein ganz allgemeines Verhältnis zur Univer-
raums, der ihr durch den dichterischen Text gewährt ist. Das ist ein kompli- salität des Göttlichen ausdrückt. Das wird mit den Offenbarungsreligionen
ziertes Problem der Überlagerung einer Idealität über die andere, auf das anders. Auch dieses Wort läßt sich nur auf die jüdische und die christliche
noch weiter einzugehen wäre. Ich würde aber eine allgemeine Konsequenz Religion anwenden—wobei ich vom Islam absehe, dessen religiöse Urkunde
aus der Idealität dieses >Sprechendseins< von Texten ziehen, denen kein ein ganz besonderes Problem darstellt, das ich nicht erörtern kann, da ich
leider des Arabischen nicht mächtig bin. Beide haben Urkunden, die eine
Geschichte nicht nur erzählen, sondern geradezu bezeugen. Die Urgeschich-
* Ausfuhrlicher dazu in diesem Band >Stimme und Sprache< (Nr. 22) und >Hören -
te des auserwählten Volkes erzählt nicht nur Geschichten von einer ,νοη
Sehen-Lesen<(Nr.23).
150 Die Transzendenz des Schönen Ästhetische und religiöse Erfahrung 151

Gottesnähe erfüllten Urzeit, wie das in den mythischen Überlieferungen sagen will. Darum muß sie weitergesagt werden, aber so, daß sie den
anderer Religionen geschieht. Das Alte Testament nimmt in Anspruch, das anderen richtig erreicht. Zum Ausrichten einer Botschaft gehört also deren
Wort Gottes zu sein: ein Gesetz, das verpflichtet und eine auf das Einhalten Verständnis und verständnisvolle Weitergabe. Das heißt in letzter Konse-
des Gesetzes begründete Zusage bedeutet - der Zorn Gottes und Gottes quenz: Sie verlangt >Übersetzung<. Insofern gehört zum Wesen der christli-
Treue gehören zusammen. Es ist Vertragstreue, ein Verhältnis von Gesetz chen Botschaft universale Übersetzbarkeit. Das Missionsgebot der christli-
und Gesetzesgehorsam, was die Schrift bezeugt, und bereits im zweiten chen Kirche folgt aus dem Charakter des Evangeliums, und wenn eine
vorchristlichen Jahrhundert war es die Schrift, die die religiöse Gemeinschaft Botschaft wirklich ausrichten heißt, dem anderen die Botschaft so zu sagen,
der Juden wie eine Stiftungsurkunde zusammenhielt. daß er sie versteht, dann ist es in der Tat eine vernünftige und wesentliche
Stellen wir dieser Urgeschichte des Volkes Israel nun die christliche Konsequenz, daß die Bibel in die Volkssprache übersetzt wurde und daß das
Urgeschichte zur Seite. Der >Neue Bund< ist nicht mehr ein solcher Vertrag. Evangelium am Ende in allen Sprachen ausgerichtet werde. Die griechische
Statt >Gesetz< und >Gehorsam< muß man hier >Kerygma< — >Botschaft< - und Abfassung der Geschichten von Jesus, die Veranstaltung der lateinischen
>Glaube< sagen. Wenn ich nun das Verhältnis zwischen Botschaft und Glau- Übersetzungen, die Übersetzung ins Gotische usw. sind in dieser Linie, und
be auf eine profane Weise abbilden soll, um es gegen das alttestamentliche am Ende hat die reformatorische Bewegung die Bibelübersetzung in den
Verhältnis von Gesetz und Gehorsam abzuheben, so würde ich auf das Volkssprachen verbreitet.
Wesen des Versprechens hinweisen. Ein Versprechen hat zwar auch seine Das scheint mir das Fundament, von dem aus sich alle Formen religiöser
Verbindlichkeit. Aber das Versprechen ist nicht wie ein Gesetz, das den Rede und religiösen Sprachgebrauchs in der christlichen Tradition bestim-
anderen verpflichtet, daß man dem Gesetz gehorchen soll. Es ist auch nicht men lassen. Alle Formen christlichen Gottesdienstes, im katholischen wie
wie die Vertragstreue zwischen den Partnern eines Vertrages, was den im protestantischen Bereich, dienen letzten Endes der einen Aufgabe, die
Neuen Bund bildet. Wer verspricht, geht freiwillig eine Bindung ein. Jedes paradoxe Botschaft des Glaubens »auszurichtend Hier erreicht die für jeder-
Versprechen ist seinem eigenen Wesen nach auf Freiheit gestellt. Nicht nur, mann schwierige Aufgabe, sich etwas sagen zu lassen, ihre äußerste Zuspit-
daß seine Erfüllung nicht, wie beim Vertrag, durch Rechtsmittel selbstver- zung. Denn es ist eine unglaubliche Botschaft, die hier ergeht. Sie knüpft
ständlich erzwungen werden kann. In Wahrheit ist es überhaupt erst dann nicht an das natürliche Selbstverständnis von Tod und Unsterblichkeit, Heil
ein Versprechen, wenn es angenommen wird. So kennen wir es, wenn und Erlösung an. Die christliche Botschaft stellt vielmehr eine Zumutung
jemand zuviel verspricht und man es mit ihm gut meint, sagt man: »Ver- dar, die alle natürliche Erwartung bricht, indem sie nicht dem Verständnis
sprich das lieber nicht!« In der Annahme entsteht die verbindliche Gültig- von Verdienst und Lohn, Schuld und Strafe folgt. Flacius, der Begründer
keit, aber eben nicht durch eine Gegenleistung, sondern durch nichts als der protestantischen Hermeneutik im Wittenbergischen Schulzusammen-
durch die Annahme. Das scheint mir eine gute profane Analogie zu dem hang, hat, wir mir scheint, sehr richtig gezeigt, daß in dieser Eigenart der
Begriff des Glaubens. Die Botschaft des Evangeliums ist ein freies und christlichen Verkündigung die letzte Aufgabe der Hermeneutik hegt. Alle
offengehaltenes Angebot, und nur wer sie annimmt, fur*den ist es die Frohe die vielen sonstigen Fremdheiten, die in der Heiligen Schrift begegnen, die
Botschaft. Vergangenheitsferne der Sprache, der Grammatik, der Realien und alles
Wenn es erlaubt ist, auch ohne theologische Kompeteiy- in dieser Form die dergleichen, verlangen gewiß Kenntnisse, um ein besseres Verständnis des
Dinge zu beschreiben, so ließe sich eine hermeneutische Folgerung daraus fremdartigen Textes zu ermöglichen. Aber die eigentliche Aufgabe der
ziehen. Ich meine: wenn die christliche Botschaft eine solche Art freien Hermeneutik, die das Christentum stellt, ist die fundamentale Fremdheit
Angebots ist — ein freies Versprechen —, auf das kein Mensch irgendeinen und Befremdung, die in der christlichen Botschaft als solcher liegt. Sie
Anspruch hat, dann ist es an jedermann gerichtet, dann liegt darin für den, gipfelt darin, daß die Erlösung und der Glaube selbst ganz und gar als
der selbst diese Botschaft angenommen hat, zugleich der Auftrag, diese göttliche Gnade verstanden wird, so daß Verdienst und Würdigkeit ihre
Botschaft anderen auszurichten. Das Wort >ausrichten< ist ein sehr interes- Geltung verlieren. Das ist gegen jede Erwartung der menschlichen Natur
santes Wort. Eine Botschaft ausrichten heißt nicht, sie wiederholen. Wer gerichtet, und weil es immer nur um dies Eine, um die Zumutung des
sozusagen eine Botschaft so >sinnlos<, d.h. bezuglos-wörtlich ausrichtet, Glaubens geht, wollen alle Formen religiöser Rede, die im Christentum
daß sie in der konkreten Situation einen falschen Sinn bekommt, richtet sie begegnen, Glaubenshilfe sein.
eben nicht wirklich aus. Das ist ein wohlbekanntes Eulenspiegelmotiv. Eine Im protestantischen Gottesdienst drückt sich das in der zentralen Stellung
Botschaft ausrichten verlangt, daß man verstanden hat, was die Botschaft der Predigt aus. Doch sind auch alle anderen Formen des christlichen Gottes-
Die Transzendenz des Schönen
Ästhetische und religiöse Erfahrung 153
152
dienstes und das gesamte kirchliche Leben in letztem Betracht Glaubenshil- heimisch zu werden, die dem Menschen als die nie bis zu Ende lösbare
fe: Das Leben der Gemeinde meint das Zusammenstehen im Glauben, wie Aufgabe seiner Existenz gestellt ist.
das seinen Ausdruck in der Lehre vom Heiligen Geist gefunden hat. Demge- Wie anders ist demgegenüber die Verkündigung und messianische Ver-
genüber hat das Wort der Predigt die Auszeichnung, das Wort des Einzelnen heißung! Was bedeutet im Inkarnationsgeschehen und in der Osterbotschaft
zu sein, der sich zu den Glaubensinhalten der Kirche bekennt und als Zeuge die Wiedererkennung im Sinne des »Das bist du!«? Doch gewiß nicht einen
und als Glaubenshelfer zu Worte kommt. Daher ist die Predigt der eigentli- weiteren Schritt des Heimischwerdens des Menschen in der Welt, wie sie
che Höhepunkt der kirchlichen Rhetorik, in der einer zu vielen spricht und selbst noch die Reinigung von Furcht und Mitleid in der tragischen Wehmut
ihnen die Heilsbotschaft zu vermitteln sucht. gewährt. Nicht der unendliche Reichtum von Lebens- und Weltmöglichkei-
ten begegnet in solchem »Das bist du!«, sondern gerade die äußerste Armut
Wir ziehen die Konsequenz: Dichterische Rede und religiöse Rede sind in
des Ecce homo. Man muß dem Wort eine ganze andere Betonung geben:
der christlichen Tradition zwei verschiedene Arten von Text. Das schließt
»Das bist du!« - dieser dem Leiden und dem Tode hilflos Ausgesetzte.
nicht aus, daß durch Dichtung religiöse Gehalte vermittelt werden können,
Angesichts dieser unendlichen Verweigerung der Todesqual soll offenkun-
und umgekehrt, daß religiöse Texte auch einen dichterisch-literarischen
dig die Osterbotschaft zur Botschaft werden.
Aspekt haben können, der sie vor anderen religiösen Texten auszeichnet.
Daraus leitet sich die abschließende Aufgabe ab, die Interferenz beider Die Symbolstruktur erscheint in beiden Erfahrungen als Wiedererken-
Aspekte verständlich zu machen. Zu diesem Zwecke möchte ich den sowohl nung die gleiche. Und doch ist der Stil der Bekanntheit, auf dem die
in der Kunsttheorie wie in der Phänomenologie der Religion zentralen Wiedererkennung hier und dort beruht, ein grundverschiedener. Das war ja
Begriff des Symbolischen durch den Gegenbegriff des Zeichens ergänzen, der Anspruch der christlichen Botschaft, und das verleiht ihr ihre Aus-
dem ich eine neue Dignität zusprechen möchte. schließlichkeit, daß nur die christliche Botschaft den Tod wirklich überwun-
den hat, indem sie das stellvertretende Leiden und Sterben Jesu als Erlö-
Das Symbol ist dadurch definiert, daß etwas an ihm erkannt und wieder-
sungstat verkündet. Von diesem ausschließenden Anspruch her wirkt die
erkannt wird5. Das entspricht dem ursprünglichen Wortsinn, der im antiken
erhabene Feierlichkeit und festliche Verklärung des Totenglaubens, den die
Paßwesen seine allgemein bekannte Funktion hatte. In einem ähnlichen
älteren religiösen Kulturen gepflegt haben, wie eine einzige große Verwei-
Sinne reden wir offenbar auch von religiösen Symbolen. Die Gemeinde
gerung des Todes. Man denke daran, wie das Novalis in seinen >Hymnen an
erkennt und bestätigt sich in der Anerkennung ihrer Symbole. Wenn die
die Nacht< zum Ausgangspunkt seiner geschichtsphilosophischen Vision
klassische deutsche Ästhetik dem ursprünglich dem christlichen Platonis-
gemacht hat.
mus entstammenden und später im neuzeitlichen Streit der Konfessionen
üblich gewordenen Begriff des Symbols eine neue universale Ausweitung Dieser Doppelsinn und Unterschied im »Das bist du!« läßt sich mit Hilfe
gegeben hat, so folgt sie der ursprünglichen Bedeutung des Wortes >Sym- des Begriffs des Zeichens artikulieren. Selbstverständlich muß man in die-
bol<, etwas zu sein, woran etwas erkannt und wiedererkannt wird. War das sem Zusammenhang völlig von dem sogenannten Zeichengebrauch abstra-
im Räume der Kirche die Gemeinsamkeit der Glaubensinhalte," so wird jetzt hieren und von der ganzen Kunst und Wissenschaft solchen Zeichenge-
die Symbolkraft des Kunstwerkes dadurch definiert, nicht auf etwas Ge- brauchs, die wir Semantik oder Semiotik oder wie immer nennen. Zeichen
meinsames stellvertretend zurückzuverweisen, sondern durch seine eigene ist hier im religiösen Sinne gemeint. Es scheint mir nicht nur eine pietistische
Aussagekraft etwas als Gemeinsames bewußt zu machen. Die Erfahrung des Tradition des Bibellesens, in der die religiöse Rede der Heiligen Schrift in der
»Das bist du!« mag von der höchsten schreckhaften Ausdrücklichkeit der Erwartung gelesen wird, daß einem daraus ein Zeichen zuteil werde. Es
tragischen Erschütterung bis zu einem verschwebenden Hauch von Bedeut- scheint mir vielmehr eine allgemeine Forderung des Annehmens der christli-
samkeit variieren, von der Begegnung mit König ödipus bis etwa ange- chen Botschaft, was Luther in die Formel des >pro me< gefaßt hat. Hier
sichts eines dieser in Stummheit brütenden Bilder von Mondrian - es ist handelt es sich um mehr als um eine bloße Gemeinsamkeit in der Versamm-
gleichwohl etwas Gemeinsames: Wiedererkennung6. Ohne Zweifel bereitet lung um Symbole. Eine solche mag daraus folgen und ist gewiß ein Bestand-
das Werk der Kunst etwas wie Wiedererkennung, die uns aufs neue hilft, teil allen Kultes, und das in jeder Religion. Aber das Zeichen ist etwas, das
nur dem gegeben wird, der es als ein solches zu nehmen imstande ist.
5
Ein Freund hat mir einmal eine Geschichte erzählt, die zwar nicht unbe-
Zum Begriffdes Symbols siehe >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 76 ff. dingt für Pastoren schmeichelhaft ist, aber doch irgendwie trostreich: Ein
und in diesem Band >Die Aktualität des Schönem, S. 122ff.
6 auf seine Weise ebenso einfacher wie frommer Mann, der als Schriftbildner
Vgl. >Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 119ff.
154 Ästhetische und religiöse Erfahrung Ästhetische und religiöse Erfahrung 155
einen internationalen Namen besaß, war eines Tages mit meinem Freunde in den wurde. Am Ende sollte man aber auch der Erzählweise, die den ur-
einem protestantischen Gottesdienst. Als sie aus der Kirche herausgingen, sprünglichen Quellen des Neuen Testamentes eigen ist, zubilligen, daß in
sagte der andere zu ihm: »Hat der Pastor nicht wieder furchtbar gelabert?« ihnen Kunst des Erzählens steckt. Sie mag mit dem hohen Rang mancher
(>Labern< ist ein unedler Ausdruck für Quatschen.) Da erhielt er die erstaunte alttestamentlichen Texte nicht wetteifern können, aber es gibt auch dort
Antwort: »Ach so, kann sein, das habe ich gar nicht bemerkt.« Der Mann Partien von eindringlicher Dichtigkeit des Erzählens, wie etwa manche
hatte offenbar auf die Predigt gehört, auf das, was ihm durch die Botschaft Gleichnisse bei Markus. Das ändert nichts daran, daß im biblischen Zusam-
gesagt werden sollte. So war sie nur für ihn da, und nur so war sie, was sie menhang das nicht Literatur und kein autonomer Text ist. Die so erzählte
ist. Das ist eine Illustration für das, was ich mit >Zeichen< meine: nichts, Botschaft will als Botschaft genommen werden. Das aber heißt: nicht so
worauf man sich berufen kann, nichts, was doch alle gesehen haben, und sehr als eine symbolische Form der Wiedererkennung, sondern als ein
doch von der Art, daß es, wenn es als Zeichen genommen wird, seine eigene Zeichen, das mir wird.
unstreitige Gewißheit hat. Es gibt ein Heraklitwort, das diesen Zusammen- Gleichwohl scheint es mir sinnlos, einen Gegensatz von Kunst und Reli-
hang gut beleuchtet: »Der delphische Gott spricht weder aus, noch verbirgt gion, ja auch nur von dichterischer und religiöser Rede zu konstruieren und
er, aber er zeigt. «7 Man muß nur verstehen, was >Zeigen< heißt. Es ist kein überhaupt, was die Kunst einem sagt, von allem Wahrheitsanspruch abzu-
Ersatz fur >Sehen< und von aller Aussage oder ihrer Verweigerung (dem drängen. In jeder Aussage der Kunst wird etwas kundgetan, etwas erkannt
Verschweigen) eben dadurch unterschieden, daß das Gezeigte nur dem und wiedererkannt. Es ist auch immer so etwas wie Bestürzung, was mit
zugänglich wird, der selber hinsieht und sieht. solcher Wiedererkennung verknüpft ist, ein Staunen und fast ein Erschrek-
Mir scheint, daß ohne eine solche Einführung des Zeichenbegriffs der ken, daß solches geschah oder daß Menschen solches gelang. Gleichwohl
wahre Unterschied von dichterischer und religiöser Rede nicht wirklich geht der Anspruch der christlichen Botschaft darüber hinaus. Er weist in die
beschrieben werden kann — jedenfalls nicht so, wie er in der christlichen umgekehrte Richtung. Sie zeigt, was Menschen nicht gelingen kann, und
Geschichte zur Ausformung gekommen ist und in der Ausweitung des gewinnt gerade daraus ihren Anspruch und die Radikalität ihres Angebots.
Symbolbegriffs auf außerreligiösen Gebrauch seinen Ausdruck gefunden Wenn man es als die Auszeichnung des Evangeliums versteht, daß man diese
hat. Innerhalb eines christlich geordneten Ganzen bedeutete die Anerken- Botschaft gegen alles Erwarten und Erhoffen annehmen soll, wird die
nung von Kunst, die in der antiken Übung ein selbstverständliches Weiter- Radikalität der aus dem Christentum erwachsenen Aufklärung verständlich.
tragen religiöser Kunde und Wahrheit war, bekanntlich ein sehr ernstes Zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit wird Religion überhaupt
Problem. Insbesondere die bildende Kunst war schon durch das jüdische als überflüssig erklärt und als Betrug oder Selbstbetrug denunziert.
Erbe, das in der christlichen Kirchengeschichte steckt, eine problematische
Sache. Die christliche Entscheidung ist schließlich fur das Bild, das heißt für
die bildende Kunst gefallen, aber mit einer Begründung, die den Vorrang
der Schriftverkündigung und damit das Prinzip der Glaubenshilfe ausdrück-
lich in den Vordergrund stellt. Die bildende Kunst fungiert als die >Biblia
pauperum<, das heißt: als die Schrift für diejenigen, die des Lesens und
Verstehens des Bibeltextes nicht fähig sind. Ähnlich spielte die Musik im
christlichen Kult eine bedeutende Rolle - als ein Teil des Kultes selber, als
eine Bekundung und Bekennung der Gemeinde, sei es im Choral der Messe
und seiner immer kunstvolleren Ausformungen, sei es in der treuherzigen
Form des immer etwas schleppenden Gemeindegesangs des protestanti-
schen Gottesdienstes. Auch Dichtung und dichterische Qualität kann im
religiösen Sprachzusammenhang begegnen. So bewundern wir den hohen
Rang der hebräischen Poesie, die mit der Sprache der religiösen Überliefe-
rung eine so starke innere Verflößung einging, daß keine Spannung empfun-

7
Fr. 9 3 : . . . οϋτε λέγει οΰτε κρύπτει άλλα σημαίνει.
Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft 157
ge aber weit komplizierter. Beobachter der heutigen Weltlage können vieles
aufrühren, das das Fortleben religiöser Energien und neuerstarkende religiö-
se Motivationen auch in unserem Zeitalter der Wissenschaft bezeugt.
An sich sollte das nicht überraschen, wenn man an die überzeugende Art
denkt, in der Kant den Ausgleich zwischen der Idee der modernen Wissen-
12. Reflexionen über das Verhältnis schaft und der älteren Tradition der Metaphysik gesucht hat. Seine >Kritik
von Religion und Wissenschaft der reinen Vernunft< bedeutete ja die kritische Begrenzung des Wahrheitsan-
spruches der Wissenschaft. Hier möchte ich anschließen und die Frage
(1984) stellen: Wieweit bestimmt der Ausgang vom modernen Wissenschaftsbe-
griff all unser Nachdenken über das Wesen und die Zukunft der Religion?
Daß der Begriff der Entzauberung, der ja sein Gegenteil einschließt, von der
Es ist eine einmalige Situation, in der sich in unserer Gegenwart die Religion rationalen Weltbewältigung her gedacht ist, liegt auf der Hand. Aber gerade
befindet. Zum ersten Male geht es nicht mehr um das Für und Wider, das Max Webers Begriff der wissenschaftlichen Aufklärung und des unumkehr-
von jeher mit dem Anspruch verknüpft ist, den die Religionen erheben. Es baren Prozesses der Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens weiß um
ist nicht mehr der Kampf für Gott gegen die Götzen oder die Verteidigung die Grenzen. So redet Max Weber von der Rolle des Charismatikers und
der eigenen Religion gegen den Ansturm der Ungläubigen, die einem erkennt selbst, daß es Wahlsituationen gibt, die alle rationalen Entschei-
anderen Glauben folgen, und sei es dem des wissenschaftlichen Atheismus. dungsmöglichkeiten übersteigen und in denen ein jeder seinem Gotte folgen
Heute geht es vielmehr um die Frage, ob die Menschheit überhaupt der müsse. Nun ist das offenkundig ganz vom Begriffe der wissenschaftlichen
Religion bedarf. Zwar hatte die Religionskritik im Sinne von Epikur, Feuer- Rationalität her gedacht. Was heute zur Diskussion steht, sind nicht so sehr
bach und Marx oder im Sinne von Freud diese Frage seit langem gestellt und die Grenzen der Wissenschaft, die Max Weber nicht verkannte, sondern die
die Antwort vorweggenommen. Aber das Einmalige der heutigen Situation Frage, ob ein angemessener denkender Zugang zu dem, was Religion ist,
scheint mir zu sein, daß sogar die Frage nach dem Sinn von Religion vom Wissensbegriff der modernen Aufklärung her überhaupt noch gefun-
gegenstandslos wird, wenn mehr und mehr Menschen tatsächlich ohne den werden kann.
Religion leben. Der Atheismus der Indifferenz kennt die religiöse Frage Der Schattenwurf des wissenschaftlichen Weltzugangs reicht in Wahrheit
überhaupt nicht mehr. Ist das Ende einer Illusion gekommen? Oder ist über alle Grenzziehungen hinaus. Sofern die Wissenschaft alles Erfahrbare
gerade das die Illusion, zu meinen, daß es menschliches Leben ohne Religion als ihren möglichen Gegenstand ansieht, muß sie all das, was von da aus
geben kann? gesehen >jenseits< ist, der subjektiven Seite zurechnen - und eben damit diese
Die Frage hat sich mit der Ausbreitung der wissenschaftlich-technischen subjektiven Verhaltensweisen selber wiederum zum Gegenstand machen.
Zivilisation über die ganze Erde selber gewandelt. Wonach fragt man ei- Nun haben wir als Repräsentanten des Nur-Subjektiven den Sammelbegriff
gentlich, wenn man >Religion< meint? Die Apologie des Christentums, wie des Gefühls, und ein solcher Begriff ist von so unbestimmten Konturen, daß
sie von Pascal oder von Dostojewskij geführt worden ist, meinte den christ- er in der tatsächlichen Welterfahrung völlig verschwimmt. Man denke an
lichen Glauben und antwortete auf die besondere Anfechtung, die die Anti- den ganzen Bereich des emotionalen Denkens oder an Carnaps berühmte
Theologie der neuzeitlichen Aufklärung darstellte. Das war im Grunde ein Polemik gegen Heideggers Rede vom Nichts, aber auch an die Kritik an
Glaubensstreit. Die durch die Wissenschaft eingeleitete Aufklärungsbewe- Schleiermachers Gefühlstheologie.
gung hatte offensichtlich selber einen ideologischen Zug. Nun befindet sich aber auch der Begriff des Glaubens in einer eigentümli-
Nun könnte man meinen, daß der Wissenschaftsglaube der Moderne die chen Schwebe zwischen einem Für-wahr-Halten, das hinter dem Wissen
spezifische Frontstellung gegen die christliche Kirche, in der er sich formiert zurückbleibt, und einer Gewißheit, hinter der das Wissen zurückbleibt
hat, in Wahrheit von sich aus weit überschreitet und deswegen den Begriff (»Nicht zweifeln an dem, was man nicht siehet«). Das ist ein höchst frag-
der Religion als GegenbegrifF von Aufklärung zu bestimmter Einheit zu- würdiger Platz für den Begriff des Glaubens. Gewiß ist der religiöse Sinn
sammenschließt. Vom Standpunkt der modernen Wissenschaft aus ist das dieses Begriffes nicht erst durch die moderne cartesianische Wissenschafts-
konsequent, und so hat Max Weber in seiner berühmten These von der idee artikuliert worden. Das Verhältnis von Credo und Intelligo, Pistis und
Entzauberung der Welt diese Konsequenz gezogen. Offenbar ist die Sachla- Gnosis ist der jüdisch-christlichen Tradition inhärent. Das gerade ist es ja,
158 Die Transzendenz des Schönen Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft 159
was die Geschlossenheit, aber auch die Problematik der Wissenschaftskultur der Religion und die Kritik des Christentums im besonderen das Prinzip des
der Gegenwart ausmacht, daß sie den ganzen Erdball erfaßt hat und doch Selbstbewußtseins wirklich verlassen hätten. Immer steht ja das richtige
vom Christentum geprägt ist, in dem sich jüdische Personalität und griechi- Bewußtsein einer emanzipierten Menschheit oder einer wiedergewonnenen
sche Rationalität vereinigt haben. Die auf die Wissenschaft gegründete Unschuld des Werdens oder einer sich selbst ganz durchsichtig gewordenen
moderne Zivilisation hat eine solche technische Überlegenheit in der Be- Menschennatur dahinter. Aber gerade hier setzt unsere Frage ein, ob nicht
herrschung der Naturkräfte erreicht, daß sich keine andere Kultur dem die methodische Prämisse, die der modernen Wissenschaft zugrunde liegt,
entziehen kann, auch wenn sie in einer ganz anderen religiösen Tradition das Ideal der Methode und der Objektivierung, die Phänomene mit Not-
wurzelt. wendigkeit verstellt, um die es hier geht. Die Wissenschaft von der Religion
Was bedeutet das für uns heute? Der Begriff des Glaubens kann schwerlich wird ja auf diesem Wege zur Wissenschaft der Illusionsfähigkeit des Be-
die gleiche planetarische Geltung in Anspruch nehmen, die der Begriff der wußtseins, und das heißt, sie kann und will nur Wissenschaft von dem sein,
Wissenschaft besitzt. Selbst in unserer eigensten europäischen Tradition was Menschen in verschiedenen Religionen, Kulturen, Zeiten >geglaubt<
stecken da Probleme. Die griechischen religiösen Lebensformen entziehen haben.
sich der Frage nach dem Glauben weitgehend. Die Befolgung von Kultge- Da gerät man nun freilich oft in Verlegenheit. So finden wir etwa in der
setzen, die Verehrung der Götter können sogar mit atheistischen Lehren Oberlieferung des griechischen religiösen Denkens ein merkwürdiges Ne-
zusammengehen, wie das erstaunliche Phänomen des Lukrezischen Lehrge- beneinander, etwa vom Handeln der Götter am Menschen und bewußtem
dichts zeigt, und selbst in der römisch-katholischen Kirche ist nicht nur der menschlichem Handeln. Das hat Lesky im Anschluß an B. Snell an Homer
rechte Glaube ganz durch die Lehrautorität der Kirche definiert, das Ent- schön gezeigt. Oder wir finden im Bereich der christlichen Theologie ein
scheidende ist überhaupt die Teilnahme an den Gnadenmitteln der Kirche. mythologisches oder auch ein existentiales Verständnis der Verheißung des
Die kultische Praxis ist aller subjektiven Gewißheit vorgeordnet, die man Neuen Testamentes und in letzter grundsätzlicher Zuspitzung ein welthaftes
Glaubensgewißheit nennen könnte. Erst das reformatorische Christentum und transzendentes menschliches Selbstverständnis. Das Aufklärungssche-
hat die ursprüngliche christliche Botschaft derart ins Extrem des Glaubens ma der Entzauberung der Welt, des unumkehrbaren Weges vom Mythos
oder des Zweifeins getrieben, daß das Wagnis des Glaubens (wie der Un- zum Logos, scheint zu einfach.
glaube) von dem Einzelnen getragen werden muß - wie das >Wahr< oder Versuchen wir es einmal mit der Gegenthese, daß die moderne wissen-
>Falsch< der Erkenntnis. Aber während es für die theoretische Erkenntnis die schaftliche Aufklärung nur einen partialen Weltaspekt darstellt, der zu einem
Wissenschaft gibt, durch die sich der Einzelne potentiell getragen und inso- universalen Wissenschaftsglauben nur aufgesteigert ist und somit unter
fern entlastet weiß, ist der protestantische Mensch für das Wagnis des Ideologieverdacht· steht. Dafür spricht, daß allenthalben gegen eine solche
Glaubens ganz auf sich selbst gestellt - das heißt: auf den Erweis der göttli- Einseitigkeit formlich ihr Gegenteil herausgetrieben wird, wie durch eine
chen Gnade, die ihn erleuchtet. Der Begriff der Offenbarung ist zwar mit Irreleitung religiöser Energien. Jedenfalls tritt der Begriff der Religion und
dem der Kirche, der Gemeinde der Heiligen, auch im protestantischen des religiösen Verhaltens unter eine neue Zweideutigkeit. Vom Standpunkt
Christentum verbunden. Aber noch der Gottesdienst ist als Verkündigung des Aufklärers aus spiegelt die Religion lediglich die Kindheit der Mensch-
der Heilsbotschaft von der Menschwerdung Gottes und der Erlösungstat heit wider. Aber überall zeigen sich Kräfte, die einen gegen die Wissenschaft
Jesu auf das Glaubenszeugnis des Predigers gegründet. anderen Sinn auf die verschiedenste Weise legitimieren. Da ist etwa die
Das ist eine sehr schmale Basis für das Verständnis von Religion. Eine Berufung auf das Fortleben der religiösen Bekenntnisse in der gesellschaftli-
solche Reduktion des Religiösen auf die Glaubensgewißheit ist zwar mit chen Bewegung unserer Tage. Das meint nicht nur die ungebrochene Tradi-
dem Subjektivitätsdenken der Moderne in gutem Einklang. Auch leuchtet tion großer religiöser Gemeinschaften wie die der römisch-katholischen
es ein, daß man im Prinzip des Selbstbewußtseins, einen Gesichtspunkt oder der griechisch-orthodoxen Kirche. Es meint auch die fast unbegreifli-
einnimmt, der wirklich universale Reichweite in Anspruch nehmen kann che Unberührtheit des Islam, die die Einheit von politischer, rechtlicher und
und der daher alle anderen möglichen Verhaltensweisen des Menschen religiöser Buchstabentreue festhält und damit alle Rezeption der modernen
umfaßt, zu denen auch das Verhalten zum Heiligen gehört. Aber es ist Wissenschaftskultur begrenzt. Es gibt darüber hinaus die ganz undurchsich-
ebenso evident, daß der Primat des Selbstbewußtseins nicht mehr unange- tigen Traditionsbestände Asiens, auf die sich das wissenschaftlich-techni-
fochten gilt, sondern durch die Ideologiekritik, durch Nietzsche, durch sche Denken des Westens einfach auflagert, und wir sehen im eigenen
Freud in seiner Basis erschüttert ist. Das besagt freilich nicht, daß die Kritik christlichen Kirchenleben Erneuerungsbewegungen der vielfaltigsten Art.
160 Die Transzendenz des Schönen Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft 161

Oft muß man sich fragen, wieweit es wirklich religiöse Motive sind, die der Ökologie, der Energiewirtschaft, der Welternährung, die gewiß nicht an
solche Erneuerungen aus sich hervortreiben, oder ob es sich mehr um die politischen Grenzen halt machen und die den Interessengegensätzen gegen-
Ausnutzung solchen solidarischen Empfindens für andersartige Solidari- über mehr und mehr an Gewicht gewinnen. Auch wenn dieselben nicht zu
täten handelt, fur nationalistische, rassische, politische oder wirtschaftliche dramatischen Druck- und Notlagen fuhren sollten, läßt sich aus den Erfah-
Ziele. Aber selbst wenn es so wäre, würde solche Ausnutzbarkeit etwas rungen des Industriezeitalters doch eine Einsicht ableiten, die die Begrenzt-
bedeuten. Man wird immer offenlassen müssen, ob es sich etwa um einen heit aller Möglichkeiten und damit die Notwendigkeit der Begrenzung und
einfachen gesellschaftlichen Funktionswandel handelt, der seinen religiösen Einschränkung lehrt. In letzter Wurzel steht der Menschheit eine Desillusio-
Hintergrund durchaus nicht diskreditiert. Daß religiöse Bewegungen sich nierung bevor, die die Macht des Menschen über die Natur betrifft, und
mit gesellschaftlichen Antrieben verbinden, ist immer wieder der Fall gewe- vielleicht noch mehr eine, die die Beherrschbarkeit der menschlichen Lei-
sen. denschaften betrifft. Daß damit das Denken auf die Urfragen zurückgeführt
Aber man muß auch der anderen Überlegung Raum geben, wieweit man wird, auf die die Religionen von jeher ihre Antworten anbieten, zeichnet
Ersatzreligionen mit ins Auge fassen muß, etwa den Solidaritätssturm der sich ab. So ist die Frage zu stellen, ob wir am Ende überhaupt unangemesse-
modernen Sportbewegung oder den Fanatismus politischer Demonstratio- ne Begriffe gebrauchen, wenn wir im Blick auf die Religionen von dem
nen, ja, selbst die künstliche Einübung politischer Weltanschauungen etwa Wissen der Wissenschaft ausgehen und die Religionen unter die Frage stel-
in der Form des Führerkults oder unter der Parole des Klassenkampfs, deren len, wieweit ihre Gewißheiten einem >echten< Glauben entspringen, der
außerreligiöse Zwecksetzung auf der Hand liegt. Muß man nicht zugeben, doch immer wissenschaftlich unausweisbar bleiben muß.
daß solche Bewegungen zu Solidarisierungseffekten fuhren können, die im Es ist dieser Zweifel, der hinter dem Begriffsgegensatz von Glauben und
Erscheinungsbild - und vielleicht nicht nur in ihm — mit überlieferten Wissen auf den alten Gegensatz von Mythos und Logos zurückzugehen
religiösen Traditionen ganz übereinstimmen? Wenn man sagt, sie seien einlädt. Mythos und Logos scheinen besser miteinander verträglich, ja
gemacht und nicht echt - von wo aus wird da geurteilt? Die ungeheuerlichen scheinen einander geradezu zu ergänzen. Der aus der Antike stammende
Erfahrungen, die wir in unserem Jahrhundert mit der sogenannten Gehirn- Begriff des Mythos ist mit dem antiken Begriff des Göttlichen unlösbar
wäsche gemacht haben, die nicht notwendig mit Drogen oder mit Foltern verknüpft. Der Mythos erzählt vom Göttlichen. Aber er erzählt nur von
arbeitet, mahnen zur Vorsicht. ihm. Es sind Geschichten von Göttern oder Geschichten von Göttern und
Endlich muß man echte Formen religiöser Solidarisierung anerkennen, Menschen, die auf die Dimension des Göttlichen hinausweisen. Es ist dabei
die sich aus der Einsicht in den Aufbrauch religiöser Traditionen bilden, selbstverständlich und wohl nicht auf das griechische Altertum beschränkt,
etwa moralische oder politische Solidarisierungen oder solche aus mystisch- daß das in solchen Geschichten Erzählte nicht Gegenstand eigener Erkennt-
pantheistischer Frömmigkeit oder werktätiger Caritas. Es mag sein, daß nis ist, eines Für-wahr-Haltens oder eines Glaubens, der ein NichtZweifeln
solche intellektuellen Bewegungen institutionsunfähig sind oder so kurzle- wäre. Es ist vielmehr wie ein lebendiges Gedächtnis, das in das geschichtli-
big wie das Sektenwesen in Subkulturen — man darf die Bedeutung solcher che Gedächtnis der Dynastien, der Stämme und der Städte, der Orte und der
Bewegungen der Intellektuellen im gesellschaftlichen Leben unserer Zeit Landschaften unmittelbar hineinragt. Der Übergang vom Geschichtlichen
nicht unterschätzen. Dank der Massenmedien wächst ihnen ein enormer zum Mythischen ist fließend, und fließend sind auch die Geschichten selbst,
Multiplikationskoeffizient zu. Die Formbarkeit des öffentlichen Bewußt- die eine fast schrankenlose dichterische Erfindungskraft immer neu aus-
seins von außen her ist maßlos gestiegen. Man muß sich grundsätzlich schmückt, ähnlich wie bei dem genialen Märchenerzähler, den wir kennen.
fragen, wieweit rein empirische Forschung religiöse Erscheinungen über- Aber daß es die als Welt bekannten Götter sind, von denen da erzählt wird,
haupt als solche erfassen kann und wieweit sie nicht immer nur deren steht fest.
gesellschaftliche Auswirkungen zu beobachten vermag. So fragt es sich, was Gewiß ist das Verhältnis von Mythos und Logos nicht ganz ohne Span-
dann noch >echt< heißt. nung 1 . Ein Mythos ist immer nur glaublich und nicht >wahr<. Aber die
Man mag sich im besonderen fragen, ob sich nicht gemeinsame Überzeu- Glaublichkeit eines Mythos ist nicht bloße Wahrscheinlichkeit, die der gesi-
gungen auf vielfachen Wegen neu zu bilden vermögen und durchaus nicht in cherten Gewißheit ermangelt, sondern hat ihren eigenen Reichtum in sich,
die weltgeschichtliche Alternative einmünden müssen, die durch den totali-
tären Zentralismus und den ökonomischen Liberalismus gebildet werden. 1
Vgl. die folgenden Beiträge >Mythos und Vernunft< (Nr. 13) und >Mythos und
Gibt es nicht übergreifende Erfahrungen? Da haben wir heute die Probleme Logos. (Nr. 14).
162 Die Transzendenz des Schönen

den Schein des Wahren, das Gleichen des Gleichnissinnes, in dem das Wahre
erscheint. Dies Wahre ist dann freilich nicht die erzählte Geschichte selber,
die auf verschiedene Weise erzählt werden kann, sondern das in ihr Erschei-
nende - nicht etwa bloß das Gemeinte, das immer auf Verifikation angewie-
sen wäre, sondern das darin Gegenwärtige.
Hier gewinnen Aspekte auch der christlichen Kultur eine neue Bedeu- 13. Mythos und Vernunft
tung. Ich denke dabei vor allem an die Denkform des Narrativen und an die
Sprachform des Rituellen, die mich als philosophische Probleme seit langem (1954)
beschäftigen2.
Jedenfalls ist es eine eigene philosophische Aufgabe - wenigstens für die
europäische Tradition der Philosophie, die im Blick auf die Wissenschaft Das moderne Denken hat einen doppelten Ursprung. Es ist seinem wesent-
lebt - , dieser Dimension des Mythischen gerecht zu werden. Wir erinnern lichen Grundzug nach Aufklärung — denn mit dem Mut des Selberdenkens
uns dabei des von Schelling gebrauchten Wortes »das Unvordenkliche«. beginnt, wer heute Wissenschaft treibt, und die grenzenlose Ausbreitung
Wir sehen darin das eigentliche Problem, wie die objektivierende Tendenz der Erfahrungswissenschaften wie das Ganze der von ihnen ausgehenden
des Bewußtseins (und nicht nur die der modernen Wissenschaft) mit der Umgestaltung des menschlichen Lebens im Zeitalter der Technik bezeugen
mythischen Erfahrung in Ausgleich gebracht werden soll. Schellings Wort und bestätigen diesen Mut. Gleichwohl ist es noch ein anderer Ursprung,
läßt das, was wir suchen, wenn wir von der mythischen Erfahrung spre- aus dem wir heute leben. Es ist die Philosophie des deutschen Idealismus, die
chen, gewiß anklingen. Aber das Wort >unvordenklich< ist doch von der romantische Poesie und die in der Romantik erfolgte Entdeckung der ge-
Sehnsucht des Denkens aus als ein für es Unerreichbares artikuliert und nicht schichtlichen Welt, die sich innerhalb des Aufklärungszuges der Moderne als
in seinem eigensten Sein und Erscheinen beschrieben. Am ehesten scheint eine bis heute wirksame Gegenbewegung erwiesen haben. Blickt man auf
mir noch Heideggers Begriff des »Andenkens«, der in Hegels Religionsphi- das Ganze der zivilisierten Welt, so wird man allerdings Ernst Troeltsch
losophie seinen Vorfahr hat, in die rechte Richtung zu weisen, und vor allem vorerst recht geben müssen, der einmal gesagt hat, der deutsche Idealismus
der Zusammenhang des Heilen mit dem Heiligen. Da wird auf Erfahrung sernur eine Episode. Die gesamte angelsächsische Welt, aber ebenso der von
hingedeutet, auf die es offenbar ankommt. Wie das Heile nicht in der Weise der kommunistischen Doktrin beherrschte Osten, sind von dem Ideal der
gewußt ist, wie das Wunde oder das Kranke, ist vielleicht auch das Heilige Aufklärung, dem Glauben an den Fortschritt der Kultur unter der Herr-
mehr ein Dasein als ein Geglaubtsein. schaft der menschlichen Vernunft, geprägt. Daneben gibt es einen Welt-
kreis, der von der Unveränderlichkeit der natürlichen Maße und Ord-
nungen so tief durchdrungen ist, daß das moderne Denken diese Überzeu-
gung nicht zu erschüttern vermag. Es ist die lateinische Welt, die, durch den
Katholizismus geformt, ein beständiger Anwalt des naturrechtlichen Den-
kens bleibt. In Deutschland aber und von ihm aus hat sich die moderne
Aufklärung mit romantischen Zügen zu einer dauerhaften Wirkungseinheit
verbunden, deren äußerste Pole radikale Aufklärung und romantische Kritik
der Aufklärung sind.
Eines der Themen, an dem sich diese Doppelpoligkeit des modernen
Denkens besonders ausprägt, ist das Verhältnis von Mythos und Vernunft.
Denn es ist selbst ein Aufklärungsthema, eine Formulierung der klassischen
Kritik, die der moderne Rationalismus an der religiösen Überlieferung des
Christentums geübt hat. Mythos ist dabei als Gegenbegriff gegen die ratio-
nale Welterklärung gemeint. Das wissenschaftliche Weltbild versteht sich
2
Siehe dazu jetzt vor allem den letzten Beitrag dieses Bandes, >Zur Phänomenologie als die Auflösung des mythischen Weltbildes. Als mythologisch aber gilt
von Ritual und Sprachen dem wissenschaftlichen Denken alles, was sich nicht durch methodische
164 Die Transzendenz des Schönen Mythos und Vernunft 165

Erfahrung verifizieren läßt. So verfällt mit fortschreitender Rationalisierung ganzes weites Feld neuer Forschung geöffnet hat. Man treibt Mythenfor-
auch alle Religion der Kritik. Max Weber sah geradezu in der Entzauberung schung und Märchenforschung um der Bedeutung, das heißt der Weisheit
der Welt das Entwicklungsgesetz der Geschichte, die vom Mythos zum der Mythen und Märchen willen. Aber auch sonst erkennt die Vernunft die
Logos, zum rationalen Weltbild, mit Notwendigkeit hintreibt. Die Geltung Grenze der von ihr beherrschten Wirklichkeit, ζ. Β. des Mechanismus der
dieses Schemas ist aber fragwürdig1. Zwar läßt sich in jeder Kulturentwick- Gesellschaft, indem sie organische Bilder für das gesellschaftliche Leben
lung ein solcher Zug zur Intellektuierung, also eine Aufklärungstendenz gebraucht oder indem sie das >finstere< Mittelalter im Glänze seiner Christ-
erkennen. Aber noch nie vor dieser letzten, der modernen europäischen lichkeit gewahrt oder indem sie nach einer neuen Mythologie sucht, die
christlichen Aufklärung, verfiel die gesamte religiöse und sittliche Oberlie- echte Volksreligion wäre, wie ehedem der Zustand der Völker der heidni-
ferung der Kritik der Vernunft, und so ist das Schema von der Entzauberung schen Antike war. Es ist nur ein kleiner Schritt weiter, den Nietzsche tat, als
der Welt kein allgemeines Entwicklungsgesetz, sondern selbst ein histori- er in der >Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung< im Mythos die Lebensbe-
sches Faktum. Es ist das Resultat dessen, was es aussagt: die Säkularisation dingungen jeder Kultur sah. Nur in einem von Mythen umstellten Horizont
des Christentums erst hat diese Rationalisierung der Welt gezeitigt - und wir könne eine Kultur gedeihen. Die Krankheit der Gegenwart, die historische
verstehen heute, warum. Krankheit, bestehe eben darin, diesen geschlossenen Horizont durch ein
Denn das Christentum ist es gewesen, das in der Verkündigung des Übermaß an Historie, das heißt durch die Gewöhnung an das Denken unter
Neuen Testaments als erstes eine radikale Kritik am Mythos geübt hat. Die immer wieder anderen Werttafeln, zu zerstören. Und wieder nur ist es ein
gesamte heidnische Götterwelt, nicht nur die dieses oder jenes Volkes, wird kleiner Schritt, der von dieser Schätzung des Mythos zur Prägung eines
angesichts des jenseitigen Gottes der jüdisch-christlichen Religion als eine politischen Begriffes des Mythos führt, wie er im mouveau christianisme<
Welt der Dämonen entlarvt, das heißt der falschen Götter und teuflischen Saint-Simons anklingt und ausdrücklich von Sorel und seinen Nachfolgern
Wesen, und zwar deshalb, weil das alles Weltgötter sind, Gestalten der entwickelt wird. Die Würde einer alten Wahrheit wird dem politischen Ziel
übermächtig erfahrenen Welt selber. Die Welt aber wird im Lichte der einer Zukunftsordnung zugesprochen, die so gemeinsam geglaubt sein soll
christlichen Botschaft gerade als das unwahre, der Erlösung bedürftige Sein wie ehedem die mythisch verstandene Welt.
des Menschen verstanden. Nun droht gewiß durch die vernünftige Welter- Es gilt, den Zusammenhang dieser beiden Aspekte des Problems aufzu-
klärung vom Standpunkt des Christentums der Wissenschaft ein Abfall von hellen, um eine geschichtliche Erkenntnis daraus zu gewinnen. Eine Analyse
Gott, sofern sich der Mensch in ihr vermißt, der Wahrheit von selber der Begriffe >Mythos< und >Vernunft<, die wie jede echte begriffliche Analy-
mächtig zu sein. Aber darin hat das Christentum der modernen Aufklärung seselbst eine Geschichte von Begriffen und ein Begreifen von Geschichteist,
vorgearbeitet und ihre unerhörte Radikalität, die auch vor dem Christentum soll das vorbereiten.
selber nicht haltmachen sollte, erst ermöglicht, daß es die radikale Zerstö- I. >Mythos< bezeichnet zunächst nichts als eine Beglaubigungsart. Mythos
rung der mythischen, das heißt der von Weltgöttern beherrschten Weltan- ist das Gesagte, die Sage, aber so, daß das in dieser Sage Gesagte keine andere
sicht geleistet hat. Erfahrungsmöglichkeit zuläßt als eben die des Gesagtbekommens. Das
Das Verhältnis von Mythos und-Vernunft ist aber ebensosehr ein roman- griechische Wort, das die Lateiner als >fabula< wiedergeben, tritt daher in
tisches Problem. Verstehen wir unter Romantik alles Denken, bei dem mit begrifflichen Gegensatz zum Logos, der das Wesen der Dinge denkt und
der Möglichkeit gerechnet wird, daß die wahre Ordnung der Dinge nicht daraus ein jederzeit ableitbares Wissen um die Dinge besitzt.
heute ist oder einst sein wird, sondern ehedem gewesen ist und daß ebenso Aus diesem formalen Begriff des Mythos folgt aber auch ein inhaltlicher.
die Erkenntnis von heute oder morgen die Wahrheiten nicht erreicht, die Denn was grundsätzlich keiner Beglaubigung durch die eigene denkende
ehedem einmal gewußt waren, so fallen die Akzente ganz anders. Der Vernunft unterworfen und durch Wissenschaft nicht verfügbar gemacht
Mythos wird zum Träger einer eigenen, der rationalen Welterklärung uner- werden kann, ist ja alles einmalige Geschehen, das nicht anders gewußt
reichbaren Wahrheit. Statt als Priesterbetrug oder Ammenmärchen ver- werden kann als von Augenzeugen und der auf diese gegründeten Überliefe-
höhnt zu werden, gilt er ihr als die Stimme einer weiseren Urzeit. In der Tat rung. Was so in der Sage lebt, ist aber vor allem die Urzeit, in der die Götter
ist es die Romantik gewesen, die mit dieser Umwertung des Mythos ein noch sichtbarer mit den Menschen Umgang gehabt haben sollen. Mythen
sind vornehmlich Geschichten von Göttern und ihrem Handeln an Men-
1
Siehe dazu im vorhergehenden >Reflexionen über das Verhältnis von Religion und schen. >Mythos< heißt aber auch die Geschichte der Götter selbst, wie sie
Wissenschaft (Nr. 12). etwa Hesiod in seiner >Theogonie< erzählt. Sofern nun die griechische Reli-
166 Die Transzendenz des Schönen Mythos und Vernunft 167

gion im öffentlichen Kultus ihr Wesen hat und die mythische Oberlieferung Wesen der Vernunft liegt also, absoluter Selbstbesitz zu sein, auf keine
nichts anderes will als die Ausdeutung dieser beständigen und bleibenden Schranke des Fremden und Zufälligen bloßer Fakten zu stoßen. So ist die
Kulttradition, ist der Mythos der Kritik und Umbildung beständig ausge- mathematische Naturwissenschaft, soweit sie das Naturgeschehen in Rech-
setzt. Die griechische Religion ist keine Religion der richtigen Lehre. Sie nungen einsichtig darstellt, Vernunft, und die höchste Vollendung der sich
kennt kein heiliges Buch, dessen adäquate Auslegung Priesterwissen wäre, selbst seienden Vernunft wäre, daß auch der Lauf der menschlichen Ge-
und gerade deshalb ist das, was die griechische Aufklärung übt, nämlich schichte nirgends das >factum brutum< von Zufall und Willkür als seine
Kritik am Mythos, kein wirklicher Gegensatz zur religiösen Oberlieferung. Schranke erführe, sondern (mit Hegel) die Vernunft in der Geschichte
Nur so versteht sich, wie es der großen attischen Philosophie und vor allem einsichtig werden ließe.
Plato möglich war, Philosophie und religiöse Überlieferung ineinanderzu- Die Uneinlösbarkeit dieser Forderung, alles Wirkliche als vernünftig zu
binden. Piatos philosophische Mythen bezeugen, wie die alte Wahrheit und erkennen, bedeutet das Ende der abendländischen Metaphysik und führt zu
die neue Einsicht eines sind. einer Abwertung des Begriffs von Vernunft selber. Sie ist nicht mehr das
Die durch das Christentum geübte Kritik am Mythos fuhrt dagegen im Vermögen der absoluten Einheit, nicht mehr das Vernehmen der letzten
neuzeitlichen Denken dazu, das mythische Weltbild als Gegenbegriff zum unbedingten Zwecke, sondern vernünftig heißt nunmehr die Findung der
wissenschaftlichen Weltbild zu denken. Sofern das wissenschaftliche Welt- rechten Mittel zu gegebenem Zwecke, ohne daß die Vernünftigkeit dieser
bild dadurch charakterisiert ist, daß die Welt durch Wissen berechenbar und Zwecke selbst ausgewiesen wäre. Die Rationalität des modernen Zivilisa-
beherrschbar wird, gilt nun alle Anerkennung unverfügbarer und unbe- tionsapparates ist daher in ihrem letzten Kerne eine rationale Unvernunft,
herrschbarer Mächte, die unser Bewußtsein begrenzen oder überwältigen, eine Art Aufstand der Mittel gegen die beherrschenden Zwecke - kurz, die
als Mythologie. Denn was so anerkannt wird, kann ja nicht wirklich Seien- Freisetzung dessen, was wir auf allen Lebensgebieten >Technik< nennen.
des sein. Das bedeutet aber, daß alle Erfahrung, die nicht von der Wissen- Mythos und Vernunft haben, wie diese Skizze lehrt, eine gemeinsame, aus
schaft verifiziert wird, in die Unverbindlichkeit der Phantasie abgestellt gleichen Gesetzen verlaufende Geschichte. Es ist nicht so, als ob die Vernunft
wird, so daß die mythenbildende Phantasie so gut wie die ästhetische Einbil- den Mythos entzaubert hätte und nun seine Stelle einnähme. Die Vernunft,
dungskraft nicht mehr den Anspruch auf Wahrheit erheben können. die den Mythos ins Unverbindliche der spielenden Einbildungskraft verwies,
II. Der Begriff >Vernunft< ist dem Worte nach ein neuzeitlicher Begriff. Er sieht sich selbst nur zu bald aus ihrem Führungsanspruch gedrängt. Die
meint ebensosehr ein Vermögen des Menschen wie eine Verfassung der radikale Aufklärung des achtzehntenJahrhunderts erweist sich als eine Episo-
Dinge. Aber gerade diese innere Entsprechung des denkenden Bewußtseins de. Sofern sich nun die Bewegung der Aufklärung in dem Schema >Vom
und der vernünftigen Ordnung des Seienden ist es, die in dem griechischen Mythos zum Logos< selbst aussagt, bedarf auch dieses Schema einer Revision.
Urgedanken des Logos gedacht war, der dem Ganzen der abendländischen Vom Mythos zum Logos, Entzauberung der Wirklichkeit wäre nur dann der
Philosophie zugrunde liegt. Die höchste Weise, in der das Wahre offenbar eindeutige Richtungssinn der Geschichte, wenn die entzauberte Vernunft
ist, in der sich also die Logoshaftigkeit des Seins im menschlichen Denken ihrer selbst mächtig wäre und sich in absoluter Selbstsetzung realisierte. Was
offenbart, heißt bei den Griechen >Nous<. Diesem Begriff des >Nous< ent- wir aber sehen, ist die tatsächliche Abhängigkeit der Vernunft von überlege-
spricht im neuzeitlichen Denken die Vernunft. Sie ist das Vermögen der ner wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, staatlicher Macht. Die Idee einer
Ideen (Kant). Ihr Grundbedürfhis ist das Bedürfnis nach Einheit, in der sich absoluten Vernunft ist eine Illusion. Vernunft ist nur als reale geschichtliche.
das Disparate der Erfahrung zusammenschließt. Die bloße Vielheit des »Das Das anzuerkennen kommt unser Denken hart an. So groß ist die Herrschaft,
und das« befriedigt die Vernunft nicht. Sie will, wo Vielheit ist, einsehen, die von der antiken Metaphysik über das Selbstverständnis des sich endlich
was sie erzeugt und wie sie sich bildet. Daher ist die Zahlenreihe das Vorbild und geschichtlich wissenden Daseins des Menschen geübt wird. Wie die
des vernünftigen Seins, des >ens rationis<. In der traditionellen Logik bedeu- Griechen, indem sie das wahre Sein in der Gegenwärtigkeit und Gemeinsam-
tet Vernunft das Vermögen zu schließen, das heißt die Fähigkeit, aus reinen keit des Logos dachten, die Seinserfahrung des Abendlandes begründet und
Begriffen ohne Zuhilfenahme neuer Erfahrung Erkenntnisse zu gewinnen. entschieden haben, haben wir aus der philosophischen Arbeit Martin Heideg-
Der gemeinsame Grundzug, der sich in allen solchen Begriffsbestimmungen gers gelernt. Sein heißt Immersein. Was die Vernunft als wahr erkennt, soll
von >Vernunft< abzeichnet, ist, daß Vernunft dort ist, wo das Denken bei immer wahr sein. So muß immer Vernunft sein können, die das Wahre
sich selber ist, im mathematischen und logischen Gebrauch und auch sonst erkennt. In Wahrheit ist die Vernunft aber, sooft sie sich als sie selbst-und das
im Zusammenschluß eines Mannigfaltigen in der Einheit eines Prinzips. Im heißt der Vernünftigkeit von etwas—bewußt wird, sich nicht selbst gegenwär-
168 Die Transzendenz des Schönen Mythos und Vernunft 169

tig und verfügbar. Sie erfährt sich an etwas, ohne ihrer selbst darin vorgängig Verbindlichkeit ist die gleiche. Denn beide sind nicht beliebige Bildungen
Herr zu sein. Ihre Selbstermöglichung ist stets bezogen auf etwas, das ihr unserer Einbildungskraft, wie Phantasien oder Träume, die aufsteigen und
selbst nicht zugehört, sondern widerfahrt, und insofern ist sie selber ebenso- vergehen. Sie sind zustande gebrachte Antworten, in denen sich das mensch-
sehr nur Antwort, wie jene anderen mythischen Antworten waren. Auch sie liche Dasein dauernd versteht. Das gerade ist das Vernünftige an solcher
ist stets Auslegung eines Glaubens, nicht notwendig einer religiösen Überlie- Erfahrung, daß sich in ihr ein Selbstverständnis gewinnt-und es fragt sich, ob
ferung oder eines Mythenschatzes aus dichterischer Tradition. Aber alles die Vernunft je vernünftiger ist als in solchem Gewinn eines Selbstverständ-
Wissen des geschichtlichen Lebens von sich selber ist getragen von dem sich nisses an etwas, das sie selbst übersteigt.
selber glaubenden Leben, dessen Vollzug es ist.
Damit erhält das romantische Bewußtsein, das die Illusionen der aufgeklär-
ten Vernunft kritisiert, auch im Positiven ein neues Recht. Es gibt zu jenem
Aufklärungszug auch eine Gegenbewegung des sich selber glaubenden Le-
bens, eine Bewegung zum Schutz und zur Schonung des mythischen Zaubers
im Bewußtsein selbst, ja die Anerkennung seiner Wahrheit.
Daß im Mythos eine eigene Wahrheit vernehmlich wird, verlangt freilich
die Anerkennung der Wahrheit von Erkenntnisweisen, die außerhalb der
Wissenschaft liegen. Sie dürfen nicht in die Unverbindlichkeit bloßer Phanta-
siegestaltungen abgedrängt bleiben. Daß der Welterfahrung der Kunst eine
eigene Verbindlichkeit zukommt und daß diese Verbindlichkeit der künstle-
rischen Wahrheit der mythischen Erfahrung gleicht, zeigt sich in ihrer
strukturellen Gemeinsamkeit. Ernst Cassirer hat in seiner >Philosophie der
symbolischen Formen< innerhalb der kritizistischen Philosophie einen Weg
zur Anerkennung dieser außerwissenschaftlichen Formen der Wahrheit ge-
bahnt. Die mythische Götterwelt stellt als welthafte Erscheinungen die
großen geistigen und sittlichen Mächte des Lebens dar. Man braucht nur
Homer zu lesen, um die überwältigende Vernünftigkeit zu erkennen, mit der
die griechische Mythologie das menschliche Dasein deutet. Das überwältigte
Herz sagt seine Erfahrung aus - als die Übermacht eines handelnden Gottes.
Was aber ist die Poesieje anderes als eben eine solche Darstellung einer Welt, in
der sich ein selber unweltliches Wahres bekundet? Auch dort, wo keine festen
religiösen Traditionen mehr binden, sieht die dichterische Welterfahrung
mythisch. Das heißt, das wahrhaft übermächtig Wirkliche stellt sich als
lebend und handelnd dar. Man denke an die Ding-Gedichte Rilkes. Die
Seligkeit der Dinge ist nichts als die Entfaltung ihres überlegenen Seinssinnes,
mit dem sie ein Bewußtsein übermächtigen und erschüttern, das sich selbst im
absoluten Besitz seiner selbst zu sein einbildet. Und was ist etwa die Engelge-
stalt bei Rilke anderes als die Sichtbarkeitjenes Unsichtbaren2, das im eigenen
Herzen, im »hochaufschlagenden«, seinen Ort hat, als die Unbedingtheit des
reinen Fühlens, in das es sich hingibt? Die wahre Welt der religiösen Überlie-
ferung ist mit diesen dichterischen Gestalten der Vernunft von einer Art. Ihre

2
Ausfuhrlicher dazu mein Beitrag >Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser
Elegien<, jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S. 289-305.
Mythos und Logos 171

knüpft. Wir werden es als eine besondere Herausforderung ansehen müssen,


daß gerade die letzte, radikalste Welle der Aufklärung zu Formen und
Strategien menschlicher Überzeugungsbildung geführt hat, die künstlich,
d. h. zu Staatszwecken und zu Zwecken der Herrschaft, eingeführt werden
Und denen sozusagen zu Unrecht die Würde mythischer, und d. h. keiner
14. Mythos und Logos weiteren Ausweisung bedürftiger Geltung übertragen wird. Um so wichti-
ger ist die Frage, worauf mythische Überlieferung ihren Wahrheitsanspruch
(1981) zu gründen vermag. Gibt es etwas wie einen unechten Mythos - und was ist
ein echter Mythos? Was heißt >Mythos<?

1. Das Problem des Mythos in der Situation


des Aufklärungsdenkens 2. Begriffliche Profilierung des >Mythos< im griechischen Denken
Worte erzählen unsere Geschichte. Daß das Wort >Mythos< über die Sprache Das Wort >Mythos< ist ein griechisches Wort. Im frühen homerischen
der Gelehrten hinausgedrungen ist und seit nahezu zweihundert Jahren Sprachgebrauch meint es nichts als >Rede<, >Verkündung<, »Kundgaben
seinen eigenen Klang hat, vorwiegend einen positiven, ist eine überaus •Bringung von Kunde<. Nichts deutet im Sprachgebrauch darauf, daß etwa
nachdenkenswerte Tatsache. Im Zeitalter der Wissenschaft, in dem wir solche Rede, die >Mythos< genannt wird, besonders unzuverlässig wäre und
leben, hat der Mythos und hat das Mythische kein wahres Heimatrecht, und bloße Lüge oder Erfindung sei, ebensowenig aber, daß sie überhaupt mit
doch ist es eben dieses Zeitalter der Wissenschaft, in dem das griechische dem Göttlichen zu tun habe. Dort, wo Mythologie — in der späteren Bedeu-
Wort als gewählter Ausdruck für ein Jenseits des Wissens und der Wissen- tung des Wortes — zum ausdrücklichen Thema wird, in der >Theogonie< des
schaft in das Leben der Sprache und der Sprachen eindrang. Hesiod, wird der Dichter von den Musen zu seinem Werk berufen, und diese
So ist das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft dem Wort >Mythos< sind sich der Zweideutigkeit ihrer Gaben -wohl bewußt: »Wir wissen viel
geradezu eingeboren - und doch, man kann sich kaum ein spannungsvolle- Falsches, das dem Wahren gleichsieht, zu erzählen . . . , aber auch Wahres«
res Verhältnis denken und kaum eines, das eine so bedeutende Geschichte zu (Theog. 26). Das Wort >Mythos< kommt jedoch in diesem Zusammenhang
erzählen hat. Daß »Wissenschaft das Zeichen ist, unter dem sich das grie- überhaupt nicht vor. Es ist erst Jahrhunderte später, im Zuge der griechi-
chisch-christliche Abendland zur beherrschenden Weltzivilisation von heute schen Aufklärung, daß das epische Vokabular von >Mythos< und >mythein<
entwickelt hat, schließt ja ein, daß >Wissenschaft< selber eine Geschichte außer Gebrauch kommt und durch das Wortfeld von >Logos< und >legein<
durchlaufen hat und erst im Laufe dieser Geschichte »die Wissenschaft verdrängt wird. Eben damit aber setzt die Profilierung ein, die den Begriff
wurde. Hinter deren Autorität und Anonymität rettet sich aller Anspruch des Mythos prägt und >Mythos< als eine besondere Redeweise gegen >Lo-
auf Wahrheit. So hat auch das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft, von gos<, die erklärende, beweisende Rede, abhebt. Das Wort bezeichnet nun
den griechischen Anfängen unserer Wissenschaftskultur an, eine vielsagende vor allem das, wovon man nur erzählen kann, Geschichten von Göttern und
und vieles in sich bergende Geschichte. Göttersöhnen.
Blickt man auf die Entstehung der westlichen Zivilisation, so scheint der Auch das Wort >Logos< erzählt unsere Geschichte, von Parmenides und
Trieb zur Aufklärung wie in drei Wellen über diese Geschichte hinwegge- Heraklit an. Die ursprüngliche Wortbedeutung, »aufsammeln^ »aufzählen^
gangen zu sein: die Aufklärungswelle, die in der radikalen Sophistik des weist auf den rationalen Bereich der Zahlen und Zahlverhältnisse, in dem
späten 5. Jahrhunderts vor Christus in Athen gipfelte, die Aufklärungswelle sich der Begriff des Logos zuerst konstituiert. Das begegnet uns in der
des 18. Jahrhunderts, die in dem Rationalismus der französischen Revolu- Mathematik und Musiktheorie der pythagoreischen Wissenschaft. Von die-
tionsepoche ihren Höhepunkt fand, und, so wird man wohl sagen dürfen, sem Sachfelde her führt sich das Wort >Logos< als Gegenbegriff zu >Mythos<
die Aufklärungsbewegung unseres Jahrhunderts, die mit der »Religion des ein. Im Gegensatz zu dem, was durch bloße Erzählung vermittelte Kunde
Atheismus< und ihrer institutionellen Fundierung in modernen atheistischen meint, ist »Wissenschaft das Wissen, das auf Begründung und Beweis
Staatsordnungen ihre vorläufige Spitze erreicht hat. Das Problem des My- beruht.
thos ist mit diesen drei Etappen des Aufklärungsdenkens aufs engste ver- Mit der steigenden Sprachbewußtheit, die im späten 5. Jahrhundert das
172 Die Transzendenz des Schönen Mythos und Logos 173
neue rhetorisch-dialektische Erziehungsideal begleitet, wird damit >Mythos< eigenen Ausweisungsmöglichkeiten hinaus in den Bereich, in den nur Er-
fast zu einem rhetorischen Begriff für erzählende Darstellungsweise über- zählen hineinreicht. So tritt in Piatos Dialogen an die Seite des Logos und oft
haupt. Erzählen ist ja nicht >beweisen<, sondern will nur überzeugen und als seine Krönung der Mythos. Piatos Mythen sind Erzählungen, die zwar
glaubhaft sein. Meister der Rhetorik machen sich nun anheischig, je nach nicht volle Wahrheit in Anspruch nehmen, aber eine Art Umspielung der
Wunsch ihre Sache in Gestalt eines Mythos oder in der Form des Logos Wahrheit darstellen und den wahrheitssuchenden Gedanken ins Jenseitige
darzulegen (Piatos >Protagoras<). Es zeichnet sich hinter solcher virtuosen- hinein erweitern. Es mag für den heutigen Leser erstaunlich sein, wie sich
hafter Beliebigkeit der neue Gegensatz zwischen gut gefundener oder erfun- hier frühzeitliche Überlieferung mit der zugespitzten Schärfe begrifflicher
dener Geschichte und der aufzählbaren, aufzeigbaren, beweisbaren Wahr- Reflexion durchmischt und wie sich ein Gebilde aus Scherz und Ernst vor
heit ab. Der Mythos wird zur >Fabel< - soweit er nicht durch einen Logos uris aufbaut, das sich nicht nur ohne Bruch, sondern sogar mit einer Art von
seine Wahrheit erlangt. religiösem Anspruch über das Ganze des wahrheitssuchenden Denkens
So etwa sah es für Aristoteles aus. Für ihn ist >Mythos< ein natürlicher breitet.
Gegensatz zum Logos und zu dem, was wahr ist. Doch kennt auch er den Für den griechischen Leser war es gewiß nicht so einzigartig und verblüf-
rhetorisch-poetischen Gebrauch des Wortes. Herodot erscheint in seinen fend, wie es für das moderne, durch das Christentum hindurchgegangene
Augen als der Geschichtenerzähler (>Mythologikos<), und in seiner Theorie Denken erscheinen mag. Vollzog sich doch die gesamte religiöse Überliefe-
der Tragödie bezeichnet er mit dem Wort >Mythos< den erzählbaren Inhalt rung der Griechen in einer nie abreißenden Kette solcher Versuche, das
der Handlung. Von der Schärfe des Gegensatzes zwischen Mythos und eigene Erfahrungspotential und die eigene denkende Einsicht mit der in Kult
Wissenschaft, der uns vertraut ist, kann in solchem Zusammenhang auch bei und Sage fortlebenden Kunde in Übereinkunft zu setzen. Aufgabe des
Aristoteles keine Rede sein. Die erfundenen Geschichten haben gleichfalls epischen Sängers war es offenbar, wie die des tragischen Dichters, ja selbst
Wahrheit. Ja, Aristoteles hat es gültig formuliert: Sie haben mehr Wahrheit des Komödiendichters, dies Ineinander von religiöser Überlieferung und
als die von wirklichem Geschehen berichtende Kunde, die die Historiker eigenem Denken immer neu zu gestalten. Selbst Aristoteles sieht in der
überliefern. Unter dem Wissensbegriff der Antike, demzufolge >Wissen- >mythischen< Überlieferung über die Götter eine Art Kunde verschollener
schaft< (>Episteme<) die reine Rationalität meint und überhaupt nicht Empi- Erkenntnisse, in denen er seine Metaphysik des ersten Bewegers wiederer-
rie, ist das von völliger Evidenz. Was die Dichter erzählen oder erfinden, hat kennt (Met. Λ8, 1074b i).So ist es geboten, sich zu fragen, was eigentlich
im Vergleich zu historischem Bericht etwas von der Wahrheit des Allgemei- mythische Überlieferung zu solcher Rationalisierung fähig macht, und um-
nen. Der Vorrang des rationalen Denkens gegenüber der poetisch-mythi- gekehrt, warum im Zeichen der Offenbarungsreligionen das Verhältnis von
schen Wahrheit wird dadurch keineswegs eingeschränkt. Wir sollten uns Glauben und Wissen antagonistische Züge annimmt. Die Frage ist allgemein
nur hüten, Mythen in unserem Sinne >erfundene Geschichten* zu nennen. Sie zu stellen und nach beiden Seiten zu entwickeln. Denn wenn auch der Weg
sind >gefunden< - oder besser: innerhalb des schon längst und von alters her zur Rationalisierung des mythischen Weltbildes allein von den Griechen bis
Bekannten findet der Dichter Neues, das das Alte erneuert. Der Mythos ist zur Wissenschaft durchschritten worden ist—die sich >Philosophie< nannte - ,
in jedem Fall das Bekannte, die Kunde, die verbreitet ist, ohne irgendeiner mythische Überlieferung enthält in sich selbst überall ein Moment denken-
Herkunftsbestimmung und Beglaubigung zu bedürfen. der Aneignung und vollzieht sich in deutender Weitersage der Sage.
Das Verhältnis von Mythos und Logos begegnet uns im griechischen
Denken eben nicht nur in der Schärfe des Aufklärungsgegensatzes, sondern
gerade auch in der Anerkennung eines Zueinander und einer Entsprechung,
die zwischen dem rechenschaftsgebenden Denken und dem fraglos überlie-
ferten Sagengut fortbesteht. Das zeigt sich insbesondere an der eigentümli-
chen Wendung, mit der Plato das rationale Erbe seines Meisters Sokrates mit
der mythischen Überlieferung der Volksreligion zu verbinden wußte. In-
dem er gleichzeitig den Wahrheitsanspruch der Dichter zurückwies, nahm
er dennoch auf dem Boden seiner eigenen rationalen und begrifflichen
Einsicht die Erzählform des Geschehens auf, die dem Mythos eigen ist. Die
rationale Argumentation verlängerte sich gleichsam über die Grenzen ihrer
Mythologie und Offenbarungsreligion 175

alte Problem der biblischen Theologie. Auf der einen Seite drängt sich alles
in die eine große Botschaft von der Auferstehung vom Tode zusammen,
und selbst das Alte Testament mit seinem eigenständigen Messianismus
ordnet sich für den Christen dieser Botschaft ein. Auf der anderen Seite aber
ist es doch ein buntes Erzählgut, in dem sich das Heilsgeschehen des Alten
15. Mythologie und Offenbarungsreligion wie des Neuen Testaments in reicher Variation vor uns ausbreitet. Es ist
nicht leicht, die Beziehungen zwischen Heilslehre, Heilsgeschichte und all
(1981) den erzählten Geschichten richtig zu bestimmen. Das Thema der Mytholo-
gie und seine Anwendbarkeit auf das Neue Testament sollte das zentrale
Problem der neuzeitlichen Theologie werden.

1. Mythische Kunde und schriftlichfixierteHeilsgeschichte


Man hört es dem Wort >Mythos< förmlich an - und die Wiederaufnahme des 2. Logik und Wahrheit mythischer Erzählformen
Wortes im 18. Jahrhundert ging davon aus - , daß das eigentliche Leben des
Mythos sich als Sage und Weitersage vollzieht und mit kanonischer Schrift- Um die Sachgründe dafür klar zu erkennen, wird es gut sein, auf die
lichkeit im Wesen unverträglich ist. Daß in Griechenland die Dichter, die des elementaren Erfahrungen zu blicken, die mit dem Erzählen als solchem
Epos wie die der Tragödie, ihre >Texte< schriftlich fixiert hatten, bedeutete verbunden sind. Die Form der Erzählung, die dem Mythos eigen ist, hat ihre
überhaupt nicht, daß die mythische Kunde, die sie, ein jeder mit neuen eigene Logik. Gewiß spielt auch der Name und das Nennen dabei eine
Erfindungen bereichernd, zu Gehör brachten, dadurch kanonische Geltung eigentümliche Rolle. Etwas von Anrufung und rätselhafter Präsenz ist in das
beanspruchte oder gewann. So stellt schon die Auszeichung der heiligen Geheimnis mythischer Namen eingesenkt, und so war es kein bloßer Irr-
Schriften im Judentum wie im Christentum eine Absage an alle Mythologie tum, wenn moderne kritische Historiker wie Usener den Zugang zum
dar. Es ist gewiß kein Zufall, daß diese Offenbarungsreligionen Religionen Geheimnis der Mythologie von den Götternamen her suchten. Nun hat der
des Buches sind. Es ist etwas von der Geltung eines Gesetzes in dem Name seine eigentliche Funktion dort, wo er als Ruf und Anrede erscheint.
Absolutheitsanspruch solcher religiösen Offenbarungen - ein Moment, das So sind die Namen des Göttlichen nur dann ganz das, was sie sind, wenn
im Islam wohl zu seinem Extrem entwickelt worden ist und die Kulturform einer das Göttliche anruft. Aber wo die Namen von Göttern und Heroen in
des Islam auf eigene Weise geprägt hat. Für die jüdische Gemeinde wie für Hymnen und Liedern oder im epischen Gesang begegnen, ist es wie ein
die christliche Kirche gilt das erste Gebot: »Du sollst nicht andere Götter Anruf. Es wird von ihnen erzählt, und das, wovon so erzählt wird, gewinnt
haben neben mir. « AU das, was ringsum in mythischen Erzählungen lebt eine besondere Art von Gegenwart. Nennen ist wie ein Hindeuten auf
und in kultischen Bräuchen verehrt wird, gilt als Götzendienst und als wider Erzählbares.
Gott. Wie der Alte Bund eine Auszeichnung des auserwählten Volkes dar- Der wörtlichen Bedeutung nach ist Erzählen Aufzählen, so als ob man
stellt, die alle anderen Völker ausschließt, so erhebt der Neue Bund den durch Aufzählen das Ganze erfassen könnte. So sagen wir etwa zu jeman-
missionarischen Anspruch, die einmalige Heilsgeschichte des Gekreuzigten dem, der etwas erlebt hat, er möge es einmal genau erzählen, und das heißt,
und Auferstandenen allen Völkern zu verkünden und damit alle diejenigen daß er alles erzählt, was er erlebt hat. Aber mit diesem Anspruch ist zugleich
auszuschließen, die >Heiden< bleiben. Es ist die Botschaft des Evangeliums, auch der Abstand gesetzt. Zwischen dem, was geschah, und dem, was in der
die frohe Botschaft von der Überwindung des Todes durch das stellvertre- Erzählung vermittelt wird, bleibt ein unüberbrückbarer Abstand. Das ist
tende Leiden und Sterben Jesu, die den Glauben fordert, daß er der Aufer- nicht nur etwas Negatives. Erzählung ist immer Erzählung von etwas. Das
standene und Gott selbst ist, und dieser Glaube ist selbst die wahre Gnaden- ist nicht nur ein objektiver, sondern auch ein partitiver Genitiv. In allem
tat Gottes. Erzählen liegt, daß auch noch anderes davon erzählt werden könnte. Wir
Und doch enthalten die heiligen Bücher der beiden Testamente Ge- bezeichnen den als einen guten Erzähler, der immer noch etwas zu erzählen
schichtserzählungen. Man muß sich fragen, was diese Erzählungen sein weiß und sein Garn sozusagen endlos fortspinnen könnte. Es ist eine ganze
wollen, wie sie Erzählungen sind und zugleich als Offenbarungen - des Welt, in die der Erzähler den mitgerissenen Zuhörer hineinführt. An dieser
Schöpfergottes und der Erlösung durch Christus - gelten können. Es ist das Welt nimmt der teilnehmende Zuhörer offenkundig teil wie an einer Art von
176 Die Transzendenz des Schönen Mythologie und Offenbarungsreligion 177

Gegenwart des Geschehens selbst. Er sieht alles förmlich vor sich. - Be- In beiden Formen des Erzählens steht der andere, dem man erzählt,
kanntlich ist ja auch das Erzählen selber ein eigentümlicher Wechselvor- beständig im Blick, und das Interesse, das die Erzählung weckt, inspiriert
gang. Niemand kann erzählen, wenn er nicht den dankbaren Zuhörer hat, den Erzähler selbst. Nicht nur Dickens suchte, wenn er seine Fortsetzungs-
der ganz mitgeht. Erzählen ist niemals ein sacherschöpfender Bericht, der romane schrieb, etwas über die Erwartungen zu erfahren, die er in seinen
wie ein Protokoll aktenkundig« wird. Freiheit der Auswahl liegt darin und Lesern geweckt hatte, wenn er die Erzählung weiterzuführen hatte. Solche
Freiheit in der Wahl der bezeichnenden und bedeutenden Gesichtspunkte. moderne literarische Produktionsweise macht vielmehr nur deutlich, wie
Das gerade macht die Erzählung zu einer Art anonymer Zeugenschaft. wichtig das ursprüngliche Wechselspiel zwischen Erzähler und Zuhörer in
Noch im modernen Roman tritt der namenlose Erzähler gleichsam an die allem Erzählen ist. Das Interesse des mitgehenden Zuhörers bindet den
Stelle des Geschehens selbst, von dem er Kunde gibt. Erzähler und läßt ihn sich mitteilen und den anderen teilnehmen. Er antwor-
So gehört es zum Wesen der Erzählung, daß es von ihr Varianten gibt. tet auf den Wissensdurst oder die Neugier des anderen, dessen Weltlust,
Wenn wir von der wuchernden Fabulierlust früher epischer Sangesweisen Daseinslust, Erfahrungslust er befriedigt.
und Sangeskulturen sprechen, so meinen wir dabei weniger die Unverbind- Sofern es sich nun um mythische Erzählungen handelt, um Sage und um
lichkeit der dichterischen Erfindung als die dichte Gegenwart dessen, wo- Vorzeit, ist offenbar noch ein anderes Interesse am Erzählten im Spiele, nicht
von erzählt wird und wovon alle hören wollen.Das öffnet gleichsam einen nur die Erweiterung der eigenen Weltkenntnis, sondern ein über alles Er-
Freiheitsraum, der im Erzählen selber geschaffen wird und zu Erfindung fahrbare hinausgehendes »transzendentales« Interesse. Zwar ist das Erzählte
und Ausschmückung einlädt. Es ist keine Schwächung der Präsenz des immer als ein Geschehenes behandelt und ist insofern ein Vergangenes. Aber
Erzählten, daß es solche Möglichkeiten verschiedenartigen Erzählens von zugleich ist der Bezug auf die Gegenwart und den Hörer der mythischen
demselben gibt. Denn immer steht dahinter die Voraussetzung, daß die Kunde konstitutiv. In allen Götter- und Heldengeschichten ist das so. Selbst
Fülle dessen, wovon erzählt werden soll und was geschehen ist, unaus- in Hesiods >Theogonie<, in der die grausige Vorgeschichte der olympischen
schöpfbar ist. Insofern ist es mit dem Wesen des Erzählens verknüpft, daß Zeusherrschaft in wuchernder epischer Fabulierlust erzählt wird, reicht ein
eine Erzählung kein dokumentarischer Report sein will. Die Musen wissen >Erzählgedanke< bestimmend in die eigene Gegenwart hinein: Es ist mit der
um ihre eigene Zweideutigkeit, wie uns das Hesiodproömium lehrt. Die Herrschaft des Zeus die des Rechtes und der Ordnung, in die diese Vorge-
Freiheit, die das Erzählen erlaubt (und die später dichterische Freiheit« schichte von Blut und Grauen mündet. Ebenso sind die sogenannten kos-
heißt), ist keine bloße Beliebigkeit. Der Erzähler setzt voraus, daß der andere mologischen Mythen von solchem Bezug bestimmt. Wenn die Erzählungen
davon hören will. Derselbe hat sozusagen von vornherein seine Bereitschaft in die Urfernen des Beginns und des Anfangs der Welt zurückreichen,
und Offenheit für die Kunde erklärt. Er wird gefesselt sein, wenn man zu meinen sie doch auf unverkennbare Weise den Bestand dieser unserer Welt
erzählen weiß. Damit scheinen sich die Dinge gerade umzukehren. Man ist und meinen uns selbst in dieser Welt. Die Kosmogonie ist mit der Kosmolo-
bereit, dem zuzuhören, der etwas zu erzählen weiß. Warum fesselt er einen? gie, das heißt mit der Einsicht in das geordnete und bestandhafte Gleichge-
Gewiß ist dabei ein Moment im Spiele, das. wir das Erzeugen von Span- wicht des Ganzen, unlösbar verknüpft. Es handelt sich keineswegs um eine
nung nennen. Der Erzähler ist gleichsam im Besitz der ganzen Geschichte, Alternative zwischen kosmogonischer oder kosmologischer Weltdeutung.
die er erzählen will, und läßt das fühlen. Er weckt Erwartungen und erfüllt Geschichte mündet in Gegenwart. Auch die mythische Urgeschichte einer
sie, indem er neue Erwartungen weckt. Die Folge der Erzählung ist durch Stadt, eines Geschlechtes oder eines Heros mündet, ob Fluch, ob Segen, in
die Geschichte, die der Erzähler sozusagen weiß, vorgezeichnet und bleibt die gemeinsame Ordnung kultischer Verehrung, in der sich alle vereint
doch frei - sogar für immer neu Zuströmendes. Vorgriffe erregen Span- wissen. Der Übergang von mythischer Urgeschichte in die ihren geschicht-
nung, Rückgriffe suggerieren Vertrautheit und Einverständnis mit dem lichen Horizont mit sich führende Gegenwart ist bruchlos. Es macht die
Erzählten, und alle Obergänge sind sanft, ohne den Zwang logischer Folge- Dichte des Bewußtseins von Herkunft und Abstammung aus, daß Götter
rung. und Göttersöhne das dynastische und politische Bewußtsein geschichtlicher
Zeiten bestimmen.
All das gilt von allem einfachen Erzählen. Wer dasselbe gut, gekonnt,
meisterhaft vermag, ist sozusagen schon auf dem Wege zur schriftlichen Es gilt allgemein, vor der Bedeutsamkeit des Erzählten verstummt die
Fixierung seiner Erzählungen. Die literarische Kunst des Erzählens baut die Frage nach Authentizität und Verläßlichkeit des Berichtes. Das, wovon
Mittel des einfachen Erzählens nur aus und paßt sie dem literarischen Zuhö- erzählt wird, gewinnt im Erzählen eine Art Anerkennung, die über alles
rer bzw. dem Leser an. hinausgeht, was im einzelnen davon berichtet werden mag. Darin liegt der
178 Die Transzendenz des Schönen Mythologie und Offenbarungsreligion 179

Grund, daß auch die Verschiedenheit der Erzähler und die Variationen des scher Kritik untersteht. Das gilt auch für die Überlieferung des Alten Testa-
von ihnen Erzählten dieselbe nicht schwächen. Ja, sie bedeuten weit eher ments, da sie für den Christen im Lichte der Erfüllung der Verheißung ihren
eine Bekundung und Beurkundung von eigenem Wirklichkeitswert, als daß Wahrheitswert erst gewinnt. Umgekehrt darf aber auch die Einzigartigkeit
sie, wie ein Bericht, sich an dem auszuweisen hätten, was wirklich gesche- der Offenbarungsverkündigung nicht aus dem besonderen Verständniszu-
hen oder gewesen ist. So stehen verschiedene Fassungen einer Sage neben- sammenhang herausgerissen werden, der in der allgemeinen Möglichkeit
einander und mögen gerade dadurch zu neuer dichterischer Gestaltung des Menschen liegt, sich über sich selbst und das Unheimliche seiner Tod-
einladen - ihre Glaubwürdigkeit steht als solche nicht in Frage. Was sich von verfallenheit klar zu werden. Darauf beruht das Paradox des Glaubens. Es ist
dem Geltungsrang mythologischer Erzählung im allgemeinen sagen läßt, in Wahrheit erst mit der Herausforderung in die Welt getreten, die mit dem
gilt ebenso für die Ausgestaltung solcher Sagen der Völker zu kunstvoller Gedanken der Inkarnation und der Auferstehung von den Toten verbunden
Epik, wie etwa der Homerischen. Es geht da nicht um Glaube, sondern um ist. Es hat keinen Sinn, vom Glauben an einen Mythos oder an mythische
die Wiedererkennung und gedenkende Vergegenwärtigung einer überwälti- Geschichten zu reden, weil vom Glauben her gesehen mythische Erzählun-
genden Gewißheit. gen jenseits der Frage liegen, ob etwas wirklich geschehen ist oder nicht.
Eher schon hat es Sinn, den Begriff des Glaubens mit dem jüdischen Alten
Testament zu verbinden. Abrahams >Gehorsam< gegenüber Gott erscheint
in der Septuaginta als >Pistis< und rückt damit in die Nähe des neutestament-
3. Verbindlicher Glaubensanspruch der biblischen Offenbarung lichen Glaubensbegriffs. Aber erst die christliche Botschaft hat das unent-
Nun begegnet aber die Heilige Schrift nicht als eine beliebige Sammlung von wirrbare Gemisch von Freiheit und Bindung, von Wahrheit und Erfindung,
Sagen, die eine mythische Überlieferung weiterreichen, oder als ein kunst- das alles Erzählen auszeichnet, zu der Verbindlichkeit einer Verkündigung
volles Epos, sondern als die Schrift, die »geschrieben steht«. Als solche gesteigert, deren Annahme Sache des Glaubens und der Gnade ist. Diese
gehört sie zum Gottesdienst, d. h., sie ist selber ein Teil der Kultwirklich- Einzigartigkeit, die mit dem Glaubensanspruch der christlichen Offenba-
keit, die die gesamte Tradition unserer Kultur geprägt hat. Es ist sozusagen rung verknüpft ist, setzt den Mythos der Wahrheitsfrage aus und nimmt ihm
ein unvollziehbar abstrakter Gedanke, sich als ein in einer religiösen Tradi- die Erfüllung seines Wahrheitsanspruchs. Alles, was nicht im geschichtli-
tion Erzogener, sei es als Jude oder als Christ, zu der Schrift so verhalten zu chen Zusammenhang der Heilsgeschichte seinen Platz hat, verliert vom
sollen, wie etwa ein in griechischer oder römischer Kultwirklichkeit Stehen- Glauben her gesehen die Verbindlichkeit, und die mythologische Vermitt-
der sich zu der in Dichtung oder Theater überlieferten eigenen Mythologie lung wird zur heidnischen Verirrung. Das hat für ein Jahrtausend christli-
verhalten mochte. Die Heilige Schrift ist ihrem Anspruch nach mehr als die cher Kirche gegolten.
bloße Überlieferung einer mythischen Kunde. Das, wovon sie erzählt, will Damit bereitete sich aber zugleich die einzigartige Radikalität der moder-
Gottes Wort sein, und die Erzähler und die Hörer sind nicht Erfinder oder nen Aufklärung vor, die sich scharf von der griechischen Aufklärungsbewe-
Zuhörer von Gesängen, sondern sind selber die Kirche-Christi. -Es entspricht gung unterscheidet. Als das Christentum selber in das Feuer der Vernunft-
dem, daß die Gründungsakten der christlichen Kirche, die Paulinischen kritik geriet, mußte der Anspruch der Religion überhaupt zum Gegenstand
Briefe, die wahrhaft historische Dokumente sind, selber einen Bestandteil der Kritik werden. So kennt erst die Neuzeit den radikalen Atheismus, der
der Heiligen Schrift bilden. sich auf >die Wissenschaft gründet und eine vollendete Diesseitigkeit ver-
Insofern liegt es in der Natur der Sache, daß die moderne historisch- tritt. Dazu kam, daß das Zeitalter des Rationalismus dem narrativen Ele-
kritische Forschung in der Anwendung auf die biblischen Texte eine eigen- ment nicht gerecht werden konnte, das zur christlichen Verkündigung, der
tümliche Zweideutigkeit behält. Als Erforschung einer literarischen Über- Kunde von einem einmaligen Geschehen, unaufhebbar gehört.
lieferung und ihrer historischen Wahrheit ist sie aller anderen Forschung Nun hat die Radikalität der neuen Vernunftreligion, die in der Französi-
gleichgestellt, aber der eigentliche Inhalt der christlichen Botschaft bleibt schen Revolution formell auf den Thron erhoben wurde, eine Gegenwir-
von kritischer Forschung unerreichbar. Das Paradox des Glaubens gewinnt kung ausgelöst, die die Grenzen der modernen Aufklärung ins Bewußtsein
geradezu an Schärfe, je klarer das >Mythische< der Heilsgeschichte ins Licht rief. Es fiel nicht nur auf die Heilswahrheit des Christentums, sondern in
der historischen Kritik tritt. einem universalen Sinne auf die mythische Überlieferung aller Völker ein
Die Wahrheit der mythischen Überlieferungen kann also nicht mit der neues Licht. Das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft trat in ein neues
bloßen Beliebigkeit geschichtlicher Kunde gleichgesetzt werden, die histori- Stadium.
Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft 181

In die gleiche Richtung wirkte auch Humes skeptische Kritik an der


Metaphysik und die geschichtliche Erfahrungsperspektive, die er seiner
)Natural History of Religion< (1755) zugrunde legte. Die neuzeitliche Meta-
physik hatte in ihren Systemkonstruktionen zwischen der traditionellen
Metaphysik der Kirchenlehre und dem modernen Wissenschaftsgedanken
16. Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft zu vermitteln gesucht. Jetzt, auf der Spitze der Aufklärung, verschmolz der
Erfahrungsstandpunkt der Wissenschaft mit dem langsam erwachenden
(1981) Geschichtsdenken.
Nach dem einsamen Vorgang von Vico war es vor allem die klassische
Altertumswissenschaft, die das mythische Weltbild der Antike in seinem
1. Wiederentdeckung der Mythologie durch die historische Denkweise eigenen Sinn entdeckte. Das geschah gewiß nicht, ohne alles immer in bezug
auf die christliche Offenbarung zu sehen. So kam es, daß der englische
Die Geschichte der Wiedererweckung des religiösen Geltungsanspruchs des Präromantiker Lowth das Alte Testament >heilige Poesie< nannte und es als
Mythos ist wohlbekannt. Nach der Vorläuferschaft eines Vico und eines die'Krone und höchste Vollendung dichterischer Mythologie pries. «Das hat
Herder hat vor allem die romantische Bewegung ihre Kritik am Rationalis- auf Deutschland, und vor allem auf Göttingen, großen Einfluß geübt. Wir
mus der Aufklärung und ihrer »tristen atheistischen Halbnacht« (Goethe) in verdanken einer theologisch motivierten Arbeit2 die Erkenntnis, daß die
die Anerkennung der religiösen Bedeutung der Mythen umgewendet. Zu- Wiedergeburt des Mythos in Deutschland vor allem dem Göttinger Philolo-
gleich gewann die mythische Leuchtkraft, die in der heiligen Geschichte des gen Heyne verdankt wird. Er tat den entscheidenden Schritt, nicht länger
Christentums steckte, neuen Glanz. Man spürt einen neuen Sinn für das vol* mythischer Poesie zu sprechen, sondern im Mythos echte religiöse
Mythische in den dichterischen Schöpfungen des Zeitalters, sei es bei Nova- Erfahrung zu erkennen. Zu den Füßen von Heyne saßen damals in Göttin-
lis und vielen seiner Freunde und Folger im Lobpreis des christlichen Weltal- gen die beiden Schlegel, Friedrich Creuzer, Friedrich August Wolf, Johann
ters, sei es in der Entdeckung Dantes, sei es bei Hölderlin in der dichterischen Heinrich Voß, Wilhelm von Humboldt. Herder nannte er seinen »teuren
Erweckung der griechischen Götterwelt, zu der >der Einzige< versöhnend Freund« (wenn Herder auch mehr ein enthusiastischer Verkünder als ein
hinzutritt1. originärer Entdecker der mythischen Erfahrungswelt gewesen sein mag).
Gewiß hatte im Bereich der Dichtung wie in dem der bildenden Kunst die Tatsächlich müssen wir in Heyne nicht nur den Vermittler der englischen
heidnische Mythologie schon längst neben den biblischen Stoffen ihr Da- Vorromantik an die deutsche Wissenschaft sehen, sondern in ihm· den gro-
seinsrecht gewonnen. So war die selbstverständliche Wirkungseinheit des ßen Lehrer mythengeschichtlichen Denkens anerkennen, der das Wort >My-
christlichen Humanismus zustandegekommen. Das allegorische Konzept thos< zu neuen Ehren brachte. Er gründete eine ganze >mythische Schule<,
gestattete ja, die heidnische Götterlehre und Heldensage der christlichen und die Wirkung dieser Göttinger Altertumswissenschaft reicht weit über
Kultur einzuverleiben, ohne die fraglose Überlegenheit der christlichen die Bibelwissenschaft hinaus. Der Sermo mythicus, den die >mythische
Weltsicht anzutasten. Aber jetzt, im neuen Selbstbewußtsein des Vernunft- Schule< zu erforschen suchte, ist nicht mehr ästhetisch-literarisch gemeint.
zeitalters, war in der berühmten >querelle des anciens et des modernes< über Darin geht die >mythische Schule< weit über die englische Frühromantik
diese Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit eine neue Problematik ge- eines Lowth hinaus. Sie sieht in der mythischen Rede die Sprache der
kommen. Die >querelle< hatte es mit dem humanistischen Vorbildgedanken Kindheit des Menschengeschlechts, die aller dichterischen und vor allem
aufzunehmen, der jetzt nicht mehr allein mit dem Christentum einen Aus- aller schriftlichen Redeweise noch vorausliegt. Hier zuerst finden die groß-
gleich finden mußte, sondern mit dem Fortschrittsstolz der Aufklärung in artigen Visionen eines Vico in der Wissenschaft ihre Aufnahme. Heyne hat
Konflikt geriet - eine literarische Fehde, gewiß. Aber was sich in der Lösung damit für lange Zeit die Leitlinie für den wissenschaftlichen Zugang zu den
des literarischen Konfliktes herausbildete, war etwas fundamental Neues: Mythen festgelegt. Der Mythos liegt aller direkten Überlieferung voraus.
das Aufkeimen einer historischen Denkweise. Das konnte nicht ohne Folgen Mit der anthropologischen Fundierung in der Kindheit des Menschenge-
für die religiöse Aufwertung der heidnischen Mythologie sein.
1
Siehe dazu die ersten beiden meiner Hölderlin-Studien in Ges. Werke Bd. 9, Hölder- 2
CHMSTIAN HARTLICH / WATTER SACHS, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der
lin und die Antike* und >Hölderlin und das Zukünftige«. modernen Bibelwissenschaft. Tübingen 1952.
182 Die Transzendenz des Schönen Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft 183

schlechtes wird die mythische Rede in ihr geschichtliches Recht eingesetzt der spekulativen Versöhnung von Vorstellung und Begriff, von Religion
und behauptet fortan gegenüber der philosophischen und der dichterischen und Philosophie, wie im System Hegels. Hegels Lösung war die des christli-
Rede ihren eigenen Rang. chen Spiritualismus. Er deutete das Heilsgeschehen der Menschwerdung
Gottes, des Kreuzestodes und der Auferstehung von der Struktur des >Gei-
stes< her, der ständig aus der Entäußerung und dem Anderssein zu sich selbst
zurückkehrt. Damit hebt sich nicht nur alles mythische Geschehen, sondern
2. Schwierigkeiten einer historischen Rekonstruktion des Mythos
auch die Einmaligkeit der Gnadentat Gottes in der begriffenen Notwendig-
Freilich stellt solches mythisches Urwissen der historischen Forschung be- keit des Gedankens und des Geistes auf. - Schellings eigener Anspruch ging
sondere Schwierigkeiten entgegen. Es gilt hier eine Überlieferung zu rekon- nicht ganz so weit. Doch sah auch er in einer Art Religion der Zukunft, die
struieren, die überhaupt nicht direkt zugänglich ist und die immer schon, eine philosophische Religion wäre, die Vollendung der Gotteserfahrung. Im
soweit wir überhaupt von ihr wissen, durch philosophische und dichterische Unterschied zu Hegel war seine >Philosophie der Mythologie und der Of-
Einflüsse hindurchgegangen ist. Der Mythos ist seinem eigensten Wesen fenbarung< jedoch eine »positive« Philosophie. Das heißt, er sah in beidem
nach niemals in ursprünglicher Reinheit greifbar. Damit waren dem Denken nicht die Notwendigkeit des Begriffs, sondern die geschichtliche Freiheit am
neue Aufgaben gestellt. Sie mußten sich auf den verschiedensten Wegen Werk. Die Entwicklung des Polytheismus so gut wie seine Überwindung in
moderner Wissenschaftlichkeit verschieden darstellen: fur den Philosophen der christlichen Offenbarung sind für ihn Stadien eines Prozesses. »Die
anders als für den Theologen und ebenso für die moderne Altertumsfor- Vorstellungen, durch deren Aufeinanderfolge unmittelbar der [. . .] Poly-
schung. Die Philosophie hatte ihren Anspruch auf die Macht der Vernunft theismus entsteht, erzeugen sich dem Bewußtseyn ohne sein Zuthun, ja
und das Vorrecht des Begriffs zu verteidigen und konnte im mythischen gegen seinen Willen. «3 Die Pointe dieser Philosophie der Mythologie liegt
Bewußtsein nur eine unentwickelte Form von Wahrheit anerkennen. Damit darin, daß im Mythos keinerlei Erfindung mehr wirksam ist. Die philo-
geriet sie zugleich in Wettbewerb mit der christlichen Theologie, die ihrer- sophische Einsicht, die Schelling vertritt, befreit den Mythos von der »poe-
seits auf dem Absolutheitsanspruch der christlichen Offenbarung bestehen tischen Ansicht« und gibt ihm seine volle religiöse Geltung zurück. Jede
und die religiöse Wahrheit des Mythischen, wenn sie die schon anerkennen Unterscheidung von Inhalt und Form, Stoff und Einkleidung, Lehre und
sollte, in sich aufheben mußte. Und schließlich hatte die historisch-kritische Geschichte verkennt die Wirklichkeit des theogonischen Prozesses, »der sich
Forschung, im Wettbewerb mit der vergleichenden Religionswissenschaft, herschreibt von einem wesentlichen Verhältniß des menschlichen Bewußt-
Wege zu suchen, wie man historische Methoden auf ein Material anwenden seyns zu Gott« 4 .
konnte, das als originaler Inhalt der mythischen Erfahrung zwar den Gegen- Das ist das Erbe der Romantik, daß seither Wort und Begriff des Mythos
stand bildete und doch nur in literarischer Form, und das heißt in dichteri- mit neuer Bedeutung aufgeladen sind. Das Mythische stellt einen neuen
scher Gestaltung und Deutung, überliefert war. So wenigstens mußte sich Wertbegriff dar. Josef Görres' >Mythengeschichte der alten Welt< und Creu-
die Sache fur ein wissenschaftliches Bewußtsein darstellen, das keine ande- zers >Symbolik< waren die ersten gelehrten Früchte des romantischen Den-
ren >Tatsachen< kannte als auf der einen Seite die Glaubenstatsachen der kens, die freilich bald der Kritik weiterer historischer Forschung verfallen
Heilsgeschichte, auf der anderen Seite den Tatsachenbegriff der modernen sollten. Doch hat sich die romantische Aufwertung des Mythischen auch im
Wissenschaft. semantischen Bereich ausgewirkt. Neben >der Mythos< wurde vor allem
von Dichtern—bis hin zu Uhland—der Ausdruck >die Mythe< gebraucht, der
wohl auf das lateinisch-französische >fabula< zurückgeht (vgl. >Fabelwesen<).
Der Ruf nach einer neuen Mythologie, einer Volksreligion, war allgemein.
3. Mythos und Philosophie Die Generation der Schelling, Hegel und Hölderlin teilte ihn von Grund auf,
Daß das teleologische Schema der älteren Heilsgeschichte auch im Zei- und es war offenkundig, daß für diesen Ruf und für dieses Verlangen die
chen der angestrebten Synthese von Religion und Philosophie, die die letzte antike Welt ein Vorbild war. Aber nicht nur die klassische Antike, auch
Figur der neuzeitlichen Metaphysik bilden sollte, gültig blieb, war selbstver-
ständlich. Die spekulativen Philosophen mußten den Mythos dem Begriff 3
Einleitung in die Philosophie der Mythologie (Sämmdiche Werke, hrsg. von K. F. A.
unterordnen, sei es, daß sie in ihm eine sinnliche Vorstufe der christlichen SCHELUNG. Bd. XI). Stuttgart und Augsburg 1856, S. 193.
Offenbarung anerkannten, wie Schelling, oder gar eine sinnliche Vorstufe * A.a.O., S. 198.
184 Die Transzendenz des Schönen Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft 185

andere - orientalische, islamische, indische - Überlieferung wies in die den, solche >Umdrehungen< auf chemische Einwirkungen reduzieren zu
gleiche Richtung. Freilich mußte eine neue ästhetische Mythologie, die können. Die >Dialektik der Aufklärung< trifft die wahre Sachlage.
zugleich eine Mythologie der Vernunft sein würde und die geistige und die
sinnliche Seite der Religion harmonisch zu vereinigen vermöchte, ein bloßes
Programm bleiben. Das sogenannte >Systemprogramm<, das dieses Ideal 4. Wissenschaftliche Erforschung des Mythos
formulierte und das gewiß eine flüchtige Privatarbeit war — wer immer der
Verfasser sein mag -, hatte jedoch ein richtiges Bedürfnis der Zeit ausge- Am Ende ist das Thema >Mythos und Wissenschaft in die Frage umgeschla-
drückt. Der Mythos des Sozialismus (Saint-Simon), der Mythos der Gewalt gen, in welchem Sinne es eine Wissenschaft vom Mythos geben kann. Der
(Sorel) und andere politische Ideologien, die sich in religiösen Nimbus gemeinsame Hintergrund aller Spielarten historischen Zugangs zum Wesen
hüllten, sind eine Bestätigung dafür. Aber etwa auch alle jene Erweckungen des Mythos ist dabei die Psychologie. Es ist eine Tatsache des Bewußtseins,
und Umprägungen der germanischen Mythologie durch die Kunst und ihre eben die der mythenschaffenden Einbildungskraft, die als ein Resultat der
Anwälte, Richard Wagner wie Nietzsche, stellen weithin wirkende Reprä- modernen Aufklärung aller Erforschung des Mythischen zugrunde liegt.
sentanten solcher alt-neuen Mythologie dar. Insofern kann als ein gemeinsamer Zug in der Forschung des 19. und
Mit dem Namen Nietzsche ist das Stichwort gefallen, unter dem das 20. Jahrhunderts festgehalten werden, daß es eine Frage der Wahrheit des
Thema >Mythos und Wissenschaft eine völlig neue Dimension gewann. Mythos nicht mehr gibt und daß daher auch eine Erklärung des mythischen
Der Gebrauch des Wortes und der Begriffsklang, den es trägt, ist seither wie Bewußtseins im Sinne einer rationalen Mythenerklärung keine Geltung
von zwei entgegengesetzten Polen bestimmt. Sie prägen sich in zwei ver- beansprucht. Aufs Große gesehen darf man die Erforschung des Mythos im
schiedenen Ableitungen vom Wort >Mythos< aus. Das Wort >mythologisch< 19. Jahrhundert in zwei wesentliche Strömungen einteilen. Auf der einen
hat vorwiegend eine negative Bedeutung. Was >mythologisch< heißt, kann Seite steht die vergleichende Religionswissenschaft. Sie schien zeitweise die
nach ihm fur den Theologen gegenüber dem Wahrheitsanspruch des Evan- einzige und universale Methode auf diesem Gebiet zu sein und zog auch die
geliums keine Geltung beanspruchen und für den Historiker erst recht nicht historischen Geisteswissenschaften klassischen Typs in ihren Bann. Für sie
gegenüber dem Tatsachen- und Wirklichkeitsbegriff, den die moderne Wis- stellt die klassische Antike nur einen Einzelfall innerhalb eines größeren
senschaft zugrunde legt. >Mythisch< dagegen hat einen ganz anderen Klang. Ganzen dar. Auf der anderen Seite steht die klassische Altertumswissen-
Es erweckt nicht nur die Anschauung vorweltlicher Größe, wie sie in keiner schaft, deren wohlerforschte Überlieferung gegen jede konstruktive Deu-
Erfahrung der Gegenwart begegnet, eines Jenseits der Erfahrung, das inner- tung der mythischen Überlieferung mit der nötigen historischen Skepsis
halb der wirklichen Welt geschehen ist und doch alle Erfahrung hinter sich ausgerüstet war. Gleichwohl hat sich beiden Grundtendenzen gegenüber in
läßt, zum Beispiel große Taten, Siege, Untergänge, die in aller Munde sind unserem Jahrhundert ein neues Interesse der Mythenforschung zugewandt.
und auf diese Weise fortleben. >Mythisch< heißt in einem noch weit umfas- Es entsprach der christlichen Herkunft der modernen Wissenschaft und
senderen Sinne all das, was dem Leben einer Kultur seine eigentliche Sub^ gerade auch der modernen Altertumswissenschaft, daß sie in der literari-
stanz bewahrt. Nietzsche weiß mehr von dem Nachteil als von dem Nutzen schen Überlieferung, dem Epos und dem Nachhall des Mythischen in
der Historie für das Leben zu sagen. anderen Dichtungsarten, keinen legitimen Zugang zum ursprünglichen my-
thischen Bewußtsein erblickte. »Die Dichter lügen zu viel. « So wenigstens
Solches Bekenntnis zum Mythos ist auf eine fatale Weise zweideutig,
dachte - mit Plato - die in den christlichen Begriffen von Glauben und
wenn es sich, wie bei Nietzsche, mit der Preisung des neuen Mythos
Wissen erzogene historische Forschung des 19. Jahrhunderts. Unter diesen
verbindet, den Richard Wagner für ihn darstellt und der in Nietzsches Vision
Umständen gewannen zwei Aspekte der Überlieferung eine methodische
die tragische Kunst der Griechen in unserem Jahrhundert erneuern sollte.
Vorrangstellung. Auf der einen Seite war es die Sprache, diese Prähistorie
Das Fatale der Zweideutigkeit, die damit in den Begriff des Mythischen
des menschlichen Geistes, die hinter die literarischen Überformungen, die
kommt, liegt darin, daß - wie eben im Falle des Theatergenies Richard
der Phantasie der Dichter entstammen, zurückzukommen verhieß, und auf
Wagner - bewußt auf die Geburt eines neuen Mythos abgezielt wird. Damit
der anderen Seite die in mancherlei Formen auf uns gekommenen Reste des
büßt der Mythos die Unvordenklichkeit seiner Frühe und seiner Geltung
tatsächlich geübten Kultus: Kultstätten, Kultbräuche, Feste. Sie reichen
ein. Das wird deutlich, wenn wir an die Führerkulte totalitärer Staaten
dank der Beharrungskraft allen Brauchtums weit hinter alle literarische
denken und - unheimlicher noch - an die Rätsel der Gehirnwasche. Nur ein
Überlieferung zurück.
wissenschafts-abergläubisches Bewußtsein konnte sich eine Weile einbil-
186 Die Transzendenz des Schönen Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft 187
So wurde die vergleichende Religionswissenschaft weitgehend nach dem selbst und ihren Wandel gesagt wird, erhebt sich nicht über die allgemeine
Muster der vergleichenden Sprachwissenschaft aufgebaut. Die sprachliche Vorstellung von Kräften und Mächten, zu denen auch kein Mensch beten
Gemeinsamkeit in dem religiösen Vokabular der indo-europäischen Völker kann.
erschien einem Max Müller als das greifbare Fundament für die Rekonstruk- Hier hat die Arbeit von Walter F. Otto eingesetzt. Er suchte die dichteri-
tion einer gemeinsamen religiösen Urerfahrung dieser Völkergruppe, und sche Gestaltung, die wir in der literarischen Oberlieferung der Griechen
bald sollte die ethnologische Forschung auch über Sitten und Bräuche und finden, in ihrem religiösen Anspruch ernst zu nehmen 6 . Nicht von den
religiöse Vorstellungswelten anderer Kulturen neue Aufschlüsse bringen. Kräften, sondern von den Gestalten, die in der großen Dichtung erscheinen,
Eine besondere Faszination übten in der Sprachforschung der Religionswis- geht sein Deutungsversuch aus, und er knüpft dabei an Schellingsche Ein-
senschaften die Götternamen aus. Bei Hermann Usener traten sie ganz in sichten an. Der griechische Polytheismus sei die notwendige Form des
den Vordergrund. Sie stellten fur ihn gleichsam das reife Ergebnis einer religiösen Prozesses, in dem sich die Erfahrung des Göttlichen artikuliert. Es
Gestaltwerdung der Götter dar. Die hinter ihnen stehende religiöse Urerfah- sind Aspekte der Wirklichkeit selbst, deren Realität zu bezweifeln unsinnig
rung erklärte sich dem durch die Religionswissenschaft erzogenen Forscher wäre, die sich in den Gestalten der Götter des Olymp zur sinnenfalligen
als ein Akt primärer Namengebung in der Plötzlichkeit des inspirierten Anschauung ausgestaltet haben. Daß die Liebe als eine überwältigende
Augenblicks. Von solchen >Sondergöttern< aus habe sich die religiöse Be- Leidenschaft, daß die Kampfeswut als eine selbstvergessene Ekstase, daß
griffsbildung entwickelt. Es konnte nicht ausbleiben, daß gegen eine solche glückliche Findigkeit oder List, daß strahlende Geistigkeit und Heiterkeit
Theorie der Einwand erhoben wurde: »Zu Begriffen betet kein Mensch.« über den Menschen kommen wie Erfahrungen übermächtiger Wirklichkeit,
Das war der Einwand, den vor allem Wilamowitz gegen Useners Theorie das sind nicht rationalistische Erklärungen der Göttergestalten der Überlie-
von den Sondergöttern erhoben hat. ferung, sondern die Beschreibung ihrer erfahrenen Wirklichkeit selber.
Wilamowitz selber hat die riesige Reichweite seiner mythengeschichtli- Auch Dionysos, der Gott des Weines und des Rausches, ist eine solche
chen Forschung in einem großartigen Alterswerk zusammengefaßt, das den machtvolle Wirklichkeit, die verzaubernd und mitreißend über den Men-
vielsagenden Titel trug >Der Glaube der Hellenem. Hier wird in voller schen kommt und gewiß keiner Rechtfertigung ihrer mächtigen Realität
Selbstverständlichkeit ein am Christentum gewonnener Begriff des Glau- bedarf.
bens in die Frühe der mythischen Erfahrungen zurückprojiziert. Man moch- Ein methodisches Argument für die religiöse Realität dieser Göttergestal-
te sich fragen, ob die Griechen diesen Titelbegriff des >Glaubens< in ihrer ten bietet dabei die Tatsache, die wir oben erwähnten, daß die dichterische
eigenen Sprache überhaupt wiedergegeben hätten. Man könnte an >Nomos< Überlieferung, in deren Lichte diese mythische Welt von Walter F. Otto und
und an νομίζειν denken, wenn nur nicht in diesem Worte Konvention, seinem Schüler Karl Kerényi gedeutet wird, in bruchloser Kontinuität zu
Brauch und Gesetz den Vorrang eingenommen hätten. Man könnte umge- dem rationalen Weltdenken hinüberfuhrt, in dem sich der griechische Welt-
kehrt an >Eusebeia< denken s , an jene Grundhaltung frommer Verehrung, die gedanke vollendet. - Es mag auffallen, daß in dem farbigen Spektrum
sich in der Erfüllung der öffentlichen religiösen Bräuche betätigte. Nach griechischer Göttergestalten, das hier entfaltet wird, die Gestalt des obersten
beiden Richtungen wird aber die eigentliche konkrete Gegenständlichkeit Gottes, Zeus, der Vater der Götter und Menschen, fehlt. Gewiß kein Ver-
der mythischen Überlieferung der Griechen verfehlt. Darüber konnte die säumnis eines Forschers, der sehr wohl wußte, wie gerade die Zeusreligion
immense Anschauungskraft, mit der der große Forscher Wilamowitz die und ihr Sieg erst das Ganze der olympischen Götterfamilie zur Einheit
konkreten Gegebenheiten von Landschaft und Stammestum, von geschicht- zusammengefügt hat. Es liegt darin vielmehr die fast unwillkürliche Wir-
lichen Ereignissen und von Kultwirklichkeiten aufzuspüren wußte, nicht kung der Tatsache, daß sich in der großen Einheitsfigur des Göttervaters die
täuschen. Hier kommt eben eine unaufhebbare Grenze der historischen Vielheit des Universums wie in einer einzigen machtvollen Wirklichkeit
Forschung zutage. Was Wilamowitz für sich in Anspruch nahm, nämlich zusammenfaßt. So war es die philosophische Religion der Transzendenz, die
das »herzliche Verhältnis« der Griechen zu ihren Göttern verständlich zu hier anknüpfen konnte und die dann im hellenistischen Zeitalter die Linien
machen, konnte von hier aus nicht gelingen. Was über die Göttergestalten der göttlichen Wirklichkeit in die Jenseitigkeit des Einen hinein auszieht.
Schellings Konzept des theogonischen Prozesses findet eine neue Deutung.
5
Zur Problematik dieser Begriffe in ihrer Anwendung auf die griechische Religion
6
siehe auch meinen Beitrag >Sokrates' Frömmigkeit des Nichtwissens< in Ges. Werke WALTER F. OTTO, Die Götter Griechenlands (Bonn 1929); Dionysos. Mythos und
Bd. 7, S. 83 ff. Kultus (Frankfurt 1933).
188 Die Transzendenz des Schönen

Der griechische Polytheismus stellt sich gleichsam als eine Etappe auf dem
Wege zum >Geist< und zu der Wahrheit des Einen Gottes dar.
In den letzten Jahrzehnten hat dann der französische Strukturalismus eine
aufsehenerregende Anwendung auf die Wissenschaft vom Mythos gefun-
den. Noch einmal hat sich der Vorrang der Sprache für das Verständnis des
Mythischen als fruchtbar erwiesen. Aber nicht mehr in der Form, daß 17. Anschauung und Anschaulichkeit
einzelne Namengebungen oder mit Namen verknüpfte Ausgestaltungen
mythischer Erfahrung zum Leitfaden einer Rekonstruktion mythologischer (1980)
Zusammenhänge genutzt werden. Es ist jetzt das Bildungsprinzip der Spra-
che selber, das eine neue analogisierende Methode anbietet. Die bahnbre-
chenden Untersuchungen de Saussures hatten gezeigt, daß die generative Daß Kunst und Literatur mit dem Begriff der Anschauung und—mindestens
Kraft der Sprache sich polarisierender Setzungen bedient. Worte rufen ihre die1 letztere - mit dem Wertbegriff der Anschaulichkeit verbunden sind, lehrt
Gegenworte hervor, und so entfaltet sich das sprachliche Vokabular in jeder Blick in die Geschichte der Ästhetik. Zwar ist diese eines der jüngsten
einem Bildungsprozeß, dessen strukturelle Gesetzmäßigkeit aller Verschie- unter den Problemgebieten der Philosophie, aber daß ihre Begründung mit
denheit des menschlichen Sprachbaus gegenüber eine Konstante darstellt. Es der Begrenzung des Begriffs und mit der Kritik der >reinen< Vernunft, die
gelang nun Lévi-Strauss und seinen Freunden, gleichsam eine generative nur durch Begriffe zu Erkenntnis zu gelangen glaubt, zusammengeht, ist
Grammatik des mythischen Bewußtseins zu konstruieren. Sie erlaubt, in der unverkennbar. Denn damit erfahrt der Begriff der Anschauung eine Auf-
mythischen Überlieferung Konstanten und Gesetzmäßigkeiten zu gewah- wertung. Schon Baumgartens Formulierung einer >cognitio sensitiva«, die
ren, die sich jenseits aller Beliebigkeit sowohl im geschichtlichen Wandel als das >pulchre cogitare< auszeichnet, weist in diese Richtung, und Kants K r i -
auch gegenüber der Erfindungskraft der Phantasie wie unverbrüchliche tik ider Urteilskraft* vollends charakterisiert das ästhetische Wohlgefallen als
Gesetze durchhalten. Das war eine ebenso unerwartete Rationalisierungs- »ohne Begriff« und hebt das Vermögen der Einbildungskraft im Spiel der
möglichkeit der mythischen Wolkengebilde wie diejenige, die in unserem Erkenntniskräfte, die das ästhetische Wohlgefallen ausmachen, hervor. An-
Jahrhundert durch die Psychologie des Unbewußten aufgeschlossen worden schauung heißt hier nichts als Vorstellung der Einbildungskraft.
ist. In der Analyse des mythischen Bewußtseins durch Freud werden ebenso Von wirklich terminologischer Prägung ist der Kantische Begriff der
verblüffende Gesetzmäßigkeiten in der Vorgeschichte der Seele sichtbar, Anschauung allerdings nicht im Zusammenhang der Ästhetik, sondern
und ähnliches gilt von den Archetypen, die C. G. Jung hinter dem Traumle- steht im Zentrum der >Kritik der reinen Vernunft. Er ist dort das kritische
ben unseres Unbewußten als Konstanten ausgemacht hat. Gegenstück zu dem Begriff des Begriffs und das Korrektiv der rationalisti-
So kann man auch über das romantische Erbe der historischen Geisteswis- schen Metaphysik. Kants Lehre von Raum und Zeit als den Formen der
senschaften hinaus von einer Wissenschaft vom Mythos sprechen, soweitres Anschauung, in denen allein dem endlichen Menschen etwas »gegeben« sein
gelingt, das Geheimnis der mythischen Erfahrung zu rationalisieren. Aber kann, läßt daher auch die »intellektuelle Anschauung«, von der die idealisti-
nochmals scheint sich der unaufhebbare Antagonismus zwischen Mythos schen Nachfolger Kants so viel Wesens machten, lediglich als die Auszeich-
und Wissenschaft zu bestätigen. Das Jenseits des Bewußtseins hebt sich nung des dem Menschen nicht gegebenen »unendlichen Intellekts« zu. Nur
weder in der einen noch in der anderen Richtung je ganz in das Bewußtsein ein solcher vermag seine Gedanken »ins Sein zu schauen«, so wie Fichtes
seiner selbst auf. transzendentale Reflexion später das Anschauen als ein Hinschauen (in akti-
Man mag die Wege der mythenschaffenden Phantasie ein Stück weit ver Bedeutung) versteht. All das gehört in Kants Kritik der metaphysischen
aufhellen - ihre Schöpfungen und die aus ihnen sich aufbauenden Gestaltun- Erkenntnis. Ihr wird durch die >Kritik der reinen Vernunft< nachgewiesen,
gen der Kunst und der religiösen Kunde verlieren dadurch nicht ihre Aussa-r daß Begriffe ohne Anschauung leer sind und keine Erkenntnis ermöglichen.
gekraft. Man mag in das Dunkel der Frühgeschichte der menschlichen Seele Ober dieser kritischen Abgrenzung, die auf die sinnliche Gegegenheit in
noch so viel Licht bringen, ihre Traumfahigkeit bleibt ihre stärkste Kraft. der Wahrnehmung zurückweist, darf man aber nicht vergessen, daß die
Einbildungskraft nicht auf ihre Funktion fur die theoretische Erkenntnis
beschränkt ist, sondern die allgemeine Fähigkeit darstellt, »Anschauung
(Vorstellung) auch ohne Gegenwart des Gegenstandes« zu haben, und das
190 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 191

allein ist der Gesichtspunkt, unter dem Anschauung im Bereich der Kunst die Gottesschau der Mystik auf das >videre deum per essentiam< zurück, das
und der Ästhetik zum Problem wird. den >status beatitudinis« auszeichnet, und damit auf die lateinischen Äquiva-
Man verfehlt also von vornherein den Ort des Problems, wenn man von lente für den griechischen Nous: >intellectus< und >intelligentia<. Damit sind
dem Wahrnehmungsbegriff oder gar von dem Begriff des Wahrneh- wir in die klassische Begriffswelt von Logos, Nous, Dianoia, Theoria und
mungsurteils seinen Ausgang nimmt, und man darfauch im Hinblick auf die Phronesis sowie ihre lateinischen Entsprechungen versetzt, und es wird
theoretische Erkenntnis nicht übersehen, daß für Kant Anschauung ebenso nützlich sein, auch diese semantischen Felder mitzusehen, um dem Begriff
wie Begriff analytische Momente des Erkenntnisurteils sind und nur in ihrer der Anschauung seine rechte Weite zu sichern.
Kooperation Erkenntnis vollbringen. Diese Kooperation steht freilich im Zwar mag es zunächst nach einer Verengung aussehen, was uns aus
Rahmen der »Kritik der reinen Vernunft< im Dienste der theoretischen solchem Rückgang auf das Griechische droht. Die Entgegensetzung von
Erkenntnis - im Falle des ästhetischen Wohlgefallens dagegen handelt es sich sinnlicher und intellektualer Anschauung, von >Aisthesis< und >Noesis<, die
um ein freies Spiel der Erkenntniskräfte. Kooperation mit dem Verstande auf Plato zurückgeht, erinnert an die Erblast des Piatonismus, die — mehr
und seinen Begriffen gehört gleichwohl zu den selbstverständlichen Bedin- oder minder unbewußt - auf dem neuzeitlichen Denken liegt. Die große
gungen auch des ästhetischen Wohlgefallens und der Kunst des Genies. Leistung der Unterscheidung von Sinnlichem und Intelligiblem, durch die
Anschauung geht hier jedoch nicht auf einen gegebenen Gegenstand. Plato erstmals der Mathematik zu einem echten Verständnis ihrer selbst
Es ist daher nicht ohne Bedacht, daß ich dem Begriff >Anschauung< im verhalf, bedeutete auf der anderen Seite die Einführung eines Begriffes von
Titel meines Beitrages den der >Anschaulichkeit< beigeordnet habe. Es ist >Anschauung<, der nach dem Strukturmodell der Sinneswahrnehmung ge-
damit bereits angezeigt, daß das kunsttheoretische Problem der Anschauung bildet war und damit den ausschließenden Gegensatz zum begrifflichen
nicht von der erkenntnistheoretischen Fragestellung aus anvisiert werden Denken zu implizieren schien. Tatsächlich stellt die Kantische kritische
darf, sondern auf den weiteren Bereich der Einbildungskraft in ihrem Wendung gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts, wie schon der
»freien« Spiele und in ihrer Produktivität bezogen ist. Dafür scheint es mir Titel seiner Dissertation zeigt, die bewußte Aufnahme eines solchen Plato-
von vornherein geboten, den Blick nicht auf die »visuellem Gegenstände msmus dar. Die Anwendung dieser Begriffe des Sinnlichen und des Intelligi-
oder Werke der Kunst zu beschränken, sondern die sprachlichen Künste, blen auf die Erfahrung der Kunst scheint aber nicht recht sinnvoll. Kant hat
also vor allem Dichtung, im Blick zu behalten. Dort, im Gebrauch von denn auch vermieden, das zu tun, indem er auf das Spiel der Erkenntniskräf-
Sprache, in Rede- und Dichtkunst, ist ja das Wort >anschaulich< zu Hause, te abhob und den Gegenstand des ästhetischen Wohlgefallens durchaus nicht
und zwar als eine besondere Qualität des Beschreibens und Erzählens, so daß von dem Gegensatz der Sinne und der Vernunft aus bestimmt. Das fallt an
man das, was man nicht selbst sieht, sondern was einem nur erzählt wird, den ersten Paragraphen der »Kritik der Urteilskraft (§3 und §4) geradezu
sozusagen >vor sich< sieht. auf. Das platonische Erbe bleibt freilich überall dort fühlbar, wo der an der
Das ist offenbar eine >ästhetische< Qualität. Anschauen, schauen, to show, Sinneswahrnehmung orientierte Begriff der Anschauung auf die begriffliche
hat auch sprachlich etwas mit dem >Schönen< zu tun. So weist es zwar, wie so Erkenntnis ausgedehnt und von intellektualer Anschauung oder intellektu-
viele unserer Worte, in die visuelle Sphäre des Zeigens auf Sichtbares, aber eller Anschauung kritisch gesprochen wird. Gerade aus dieser Übertragung
mit einer eigentümlich offenlassenden Weisung auf das, was da zu sehen ist. scheinen mir nun die Mißverständnisse zu entspringen, die dem Begriff des
So wurde das Wort zunächst von der Gottesschau des Mystikers gebraucht, Anschauens im Bereich der ästhetischen und der Kunsttheorie anhaften.
und es begegnet in solchem Sinne in heutigen Wendungen wie >Schauplatz< In Wahrheit ist >Anschauung< als die Unmittelbarkeit des sinnlich oder
und >Schaubühne<, in Phrasen wie >etwas anschauen<, »etwas beschauen< geistig Gegebenseins (die Husserl leibhaftige Gegebenheit bzw. anschauli-
oder gar >zuschauen<. In all diesen Verwendungen des Wortes ist die zeitliche che Erfüllung der Intention nennen würde) ein reiner Grenzbegriff, eine
Komponente des Weilens und Verweilens unüberhörbar, wie sie das Ver- Abstraktion von den Vermittlungen, in denen sich die menschliche Welt-
sunkensein im Anschauen an sich hat. Ich erinnere an die dichterische. orientierung vollzieht. Das kann man schon an Aristoteles verifizieren. Er
Bemühung Hegels in dem Gedicht >Eleusis<, wo es heißt: »Der Sinn verliert kann von der »Aisthesis«, so sehr er sie sonst als spezifische Sinneswahrneh-
sich in dem Anschaun... Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es. « mung vesteht, sagen, daß sie immer auf ein Allgemeines gehe - man sieht
Nun sind freilich im Reflexionszusammenhang und Oberlieferungsge- eben einen Menschen und nicht »etwas Weißes< —, und er kann umgekehrt
schehen der Philosophie die deutschen Worte mehr oder weniger künstliche auch nicht von dem >Nous< wie von einer eigenen ausgezeichneten Seins ver-
Zuordnungen zu den griechisch-lateinischen Worten und Begriffen. So geht fassung reden, wie er etwa vom Wissen, von der >Techne<, von der Vernünf-
192 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 193

tigkeit der >Phronesis< oder von der Weisheit reden kann. Denn das letzte in der Kunsttheorie unserer Tage im Schwange ist. Beides scheint mir eine
>Innesein< der Prinzipien begegnet nicht für sich, sondern nur im Vollzug des unzulässige Verkürzung der Fragestellung. Die Fragestellung der Theorie
vermittelnden Denkens. Der Mensch lebt im Logos, und der Logos, die der Kunst muß auf das Ganze gehen, auf >Kunst<, bevor sie überhaupt sich als
Sprachlichkeit seines In-der-Welt-Seins, hat seine Bestimmung im An- >Kunst< verstand, und ebenso, nachdem sie sich nicht länger so verstehen
schaulichmachen von etwas, so daß der andere es sieht. Das aristotelische möchte. Was ist es, was solche Gebilde, Bildwerke oder selbst Bauwerke,
Wort dafür heißt δηλονν, in dem der Stamm δη- des deiktischen Verhaltens, Gesänge oder Texte oder Tänze, >schön< erscheinen läßt (oder >nicht mehr
des Zeigens, steckt. schön<, aber noch als >Kunst<)? >Schön< - das heißt nicht, ein bestimmtes
Damit ist der abstrakte Gegensatz von sinnlicher und geistiger Anschau- Ideal von Schönheit, ein klassisches oder barockes, erfüllen, sondern defi-
ung - bzw. von Anschauung und Begriff— in Wahrheit überschritten, und niert Kunst als Kunst, nämlich als Herausstehen aus allem, was man sonst
das kann uns helfen, von >Anschauung< und >anschaulich< ihre ausschließli- zweckvoll einrichtet und nutzt, und was zu nichts als zum Anschauen
che Bindung an theoretische Erkenntnis und wissenschaftliche Erfahrung einlädt. Das nennen wir ein >Werk<.
abzustreifen und ihre Funktion im ästhetischen und kunsttheoretischen Be- Anschauen aber, und das ist der Punkt, auf den die ganze Überlegung
reich erkennbar zu machen. An diesem antiken wortgeschichtlichen Hinter- zielt, ist in Wahrheit nicht jenes Ideal theoretischer Erkenntnis, der mnus
grund ist greifbar, daß es nicht eigentlich der Bezug auf die Sinnlichkeit ist, intuitus<, in dem ein sonst nur schrittweise Zugängliches in Einem >präsent<
was den Begriff der Anschauung definiert. Der Ausgangspunkt von der ist. Anschauung entspricht auch nicht jener Prägung Epikurs, auf die der
sinnlichen Gegebenheit fuhrt das moderne Denken in die Irre. Der Erkennt- Begriff der Intuition zurückgeht, jene αθρόα έηιβολή. Anschauung ist viel-
nistheoretiker, der die formende Kraft des Unterscheidens, die in aller mehr etwas, was man, wie man im Deutschen sagt, sich zu bilden hat, eben
Wahrnehmung am Werke ist, nicht wahrhaben will, erliegt einem dogmati- durch das Anschauen, das immer einen Fortgang vom einen zum anderen
schen Begriff des objektiv Gegebenen, und der Kunsttheoretiker vollends einschließt. Kant sagt es selbst ausdrücklich, daß die Zeitfolge von dem
läßt sich leicht von dem rationalistischen Begriff und Gegenbegriff einer Begriff der Anschauung nicht zu trennen ist (Kr. d. U. Β 100). Anschauen
>cognitio sensitiva< beirren. Die Erfahrung der Kunst kann nicht von dem baut etwas auf, so daß es eine Weile >steht<. Man darf daher nicht denken, daß
abstrakten Gegensatz zur begrifflichen Erkenntnis aus verstanden werden. die sogenannten bildenden Künste, weil sie sich in visuellen Objekten ver-
Das lehrt nicht zuletzt die Tatsache, daß die Dichtkunst zur nicht mehr wirklichen und nicht im flüchtigen Vorbeigang von Klang oder Wort,
Lautgestalt annehmenden Literatur zu werden vermochte, ohne ihr eigentli- deshalb in bevorzugtem Sinne den Charakter von >Anschauung< haben und
ches Wesen aufzugeben. Nicht die Unmittelbarkeit sinnlicher Gegebenheit, daß die andern, transitorischen Künste dem nur nahekommen können,
sondern der Prozeß des Bildens der Anschauung und die aus ihm hervorge- sofern sie >anschaulich< sind. Es ist zwar wahr, daß man von sprachlichen
hende gebildete Anschauung, diese »Vorstellung der Einbildungskraft«, ist Darlegungen vorzugsweise — und so im besonderen von Erzählungen —
das Fundament, auf dem alle Künste ruhen. Der angemessene Ausdruck für rühmt, sie seien anschaulich, und das nicht ebenso bei Bildwerken tut,
den Gegenstand der Ästhetik, die Theorie der Kurist sein will, wäre also offenbar, weil diese ipso facto >anschaulich< sind und es deshalb nur von
>cognitio imaginativa<. Um eine Art von >cognitio< handelt es sich freilich jenen zu rühmen sein kann, wenn auch sie >anschaulich< sind.
auch hier. Doch ist es von der Kantischen Voraussetzung aus schwer, den In Wahrheit kommt es hier überhaupt nicht auf den Unterschied von
Erkenntnischarakter der Kunst anzuerkennen. Man kann sich dafür kaum >statischen< und >transitorischen< Künsten an, sondern auf den Bezug von
auf die klassischen Unterscheidungen berufen, mit denen Kants >Analytik Wort und Begriff auf Anschauung, der nur im Bereich des Sprachlichen zum
des Schönem einsetzt. Was dort den Ausgangspunkt darstellt, ist lediglich Problem wird. Schon die Tatsache sagt etwas, daß man von Musikwerken
der »Standpunkt des Geschmacks«, und das heißt das Ideal der »freien« kaum sagen würde, sie seien >anschaulich<. Dagegen wird man allenfalls eine
Schönheit, zu der das Dekorative und das Naturschöne das Muster abgibt. Zeichnung, ζ. Β. eine Planskizze, anschaulich nennen, wenn man sich das so
Daraus würde folgen, Kunst nicht als Kunst, sondern als Dekoration zu- Dargestellte »anschaulich vorstellen< kann. Offenbar ist es der beschreibende
sehen. Hier scheint mir Adornos >ÄsthetischeTheorie< dessen nicht gewahr, Charakter der Skizze oder des Planes, der dann wie bei einer in Worten
daß und warum Kants Analytik des Schönen dem kunsttheoretischen Be- gegebenen Beschreibung eine gewisse Bildhaftigkeit festhält, was uns so
dürfnis nicht genügen kann und warum uns Hegel trotz allem System- reden läßt. Diese >ästhetische< Qualität einer Beschreibung kann also durch-
zwang r dem er unterliegt, näher bleibt. aus in dem Dienst einer praktischen Orientierung stehen - wie ja auch die
Ähnlich scheint es mir mit der Preisgabe des Werkbegriffes zu stehen, die anschauliche Erzählung eines Historikers, so sehr sie ästhetische Würdigung
194 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 195

verdienen mag, im Dienste der geschichtlichen Erkenntnis und ihrer Mittei- sein, vermag das Wesentliche dieser Übergänge gut zu illustrieren. Zur
lung steht. Ebenso wird man von einem dramatischen Dialog, der für die Anekdote gehört zwar ein Wesensbezug auf die Geschichte und ihre Akteu-
Bühne geschrieben ist, nicht sagen, er sei anschaulich. Er wird ja wirklich re, aber kein Wahrheitsbezug im Sinne der historischen Verbürgtheit. Auch
>dargestellt<, und nur mit Einschränkung wird man an Lyrik ihre Anschau- fur den historischen Roman trifft das übrigens zu - j a sogar für das Histo-
lichkeit rühmen. Denn ihre Klang- und Stimmungswerte sind weit wichti- rienbild und in gewissem Umfange für das Porträt. Anschaulichkeit einer
ger als die Beschreibung des Gegenständlichen. »Füllest wieder Busch und Erzählung mißt sich nicht an abbildlicher Treue.
Tal still mit Nebelglanz« ist zwar >anschaulich<, aber es ist doch zugleich viel Nun wird man gewiß die Rolle, die Anschauung im Bereich der Kunst
mehr, ein Ganzes von Stimmung, in das alles Anschauliche, die Landschaft spielt, nicht auf den Wertbegriff der Anschaulichkeit einengen dürfen. Wir
wie das träumerische Ich, getaucht und eingehüllt ist. So etwas ist nicht sahen ja, daß wir nur dort die Anschaulichkeit rühmen, die unsere Anschau-
mehr Beschreibung, die etwas anschaulich sehen läßt. Eine solche dichteri- ungskraft in Bewegung setzt, wo ein >symbolisches< oder >begriffliches<
sche Aussage ist weit eher eine Beschwörung, ja ein Ritual der Seele, das alle Verständnis dadurch besondere Belebung erfahrt. Aber es geht um mehr. Es
Distanz aufhebt. geht um die konstitutive Rolle, die Anschauung überall dort spielt, wo das
So ist also »Anschaulichkeit zunächst ein Wertprädikat von Beschreibun- Werk der Kunst zum Sprechen kommt. Man wird daher jede nur zusätzliche
gen, die auch in abstrakter Form durch Bezeichnungen, durch Schema oder Funktion von Anschauung, erst recht also das, was den Charakter der
begrifflichen Ausdruck, zustande kommen können. Was man von solchen bloßen Veranschaulichung hat, hier ausschalten müssen. Kants eigene Be-
>Beschreibungen< im allgemeinen verlangt, ist nur, daß sie klar und ver- handlung des Verhältnisses von Begriff, Idee und Anschauung in der >Kritik
ständlich sind, nicht daß sie anschaulich sind. Die zusätzliche Auszeichnung, der Urteilskraft« läßt manchmal zu sehr an >Veranschaulichung« denken,
daß Beschreibungen anschaulich zu sein vermögen, gehört offenbar zur sofern das freie Spiel der Einbildungskraft »zur Darstellung des gegebenen
>Kunst< der Rede - vor allem beim Erzählen und im besonderen im Falle der Begriffs« zweckmäßig sein soll (B 199). Durch den Übergang zum Begriff
Literatur. Da ist Anschaulichkeit wie eine eigene Präsenz des Erzählten: des Genies sucht Kant sich zwar von diesem Primat des »gegebenen« Be-
»Man sieht es förmlich vor sich. « Und doch wissen wir auch hier, daß es erst griffs zu befreien, aber das gelingt nur in Grenzen. Jedenfalls handelt es sich
die Einbildungskraft des Lesers und Hörers ist, die solche Präsenz zustande bei >Veranschaulichung< in Wahrheit um Erkenntnisprozesse. Dort kann es
bringt, und welch sonderbare Form von Präsenz! Doch wahrlich nicht die geschehen, daß die Grenzen der Anschauung überschritten werden und
einer eindeutig fixierbaren Bildhaftigkeit. Die Ästhetik der Buchillustration Veranschaulichung - z. B. durch anschauliche Vergleiche - eintritt, weil die
weiß von den Problemen der graphischen Begleitung eines erzählenden Dinge nur symbolisch darstellbar sind, wie wir das etwa von großen Zahlen
Textes allerhand zu vermelden (wie übrigens in anderem Falle auch die oder von vier- oder mehrdimensionalen Räumen sagen dürfen. Solche
Bühnenmalerei). Was Illustration ist, muß den »fruchtbaren Augenblick< in >Veranschaulichung< hat offenbar nichts mit der Rolle der Anschauung in
ein Bild versammeln und soll dabei zwischen Bildautonomie und Abbild- der Kunst zu tun.
funktion die Mitte halten. Auf beides kommt es an. Die Anschaulichkeit, die Dort nämlich ist >Anschauung< nicht ein sekundäres Moment. Es ist
wir an einem erzählenden Texte rühmen, ist dagegen durchaus nicht die vielmehr das wahrhaft Auszeichnende der Kunst, Anschauung, und zwar
eines durch Worte erzeugten Bildes, das sich wiedergeben läßt. Sie ähnelt Welt->Anschauung<, zu sein1. Das meint nicht nur, daß die Kunst gegenüber
weit mehr einem ruhelosen Fluß von Bildern, die das Verstehen des Textes der Erkenntnis der Wissenschaft einen eigenen Wahrheitsanspruch vertei-
begleiten und in keiner festwerdenden Anschauung wie in einem Resultate digt, sofern das freie Spiel der Einbildungskraft auf »Erkenntnis überhaupt«
enden. Und doch ist es eben die >Kunst< der Sprache, die Einbildungskraft zu geht, sondern auch, daß die hier spielende >innere< Anschauung die Welt -
Anschauungen anzuregen, welche das sprachliche Kunstwerk derart auf sich 1
selbst stellt und zum >Werk< macht - wie durch eine Art selbstgebender Das Wort >Weltanschauung< begegnet in diesem ursprünglichen Sinne bei Kant
selbst, wenn er in der >Kritik der Urteilskräfte von dem Unendlichen als dem Noumenon
Anschauung - , so daß solche Rede allen Wirklichkeitsbezug, den Rede sonst spricht, »welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als
hat, aufzuheben oder vergessen zu lassen vermag. Da mögen mannigfache bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird« (B 92). Natürlich muß man hier, wie
Übergänge vorkommen. Sprachliches kann sich auch dann auszeichnen und bei Schleiermacher und Hegel, unseren abgegriffenen Begriff von >Weltanschauung<
>anschaulich< heißen, wenn es nicht Kunst sein will, sondern einfacher fernhalten. Immerhin sei die Bemerkung gestattet, daß auch diese uns gewohnte Prägung
Bericht von wahrem Geschehen ist. Indessen, so etwas wie die Kunst der des Begriffs >Weltanschauung< nicht so sehr einen Inbegriff von Ansichten als eine
Perspektive meint. Siehe auch den Hinweis in >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke
Anekdote, von der wir zu sagen versucht sind, sie sei zu schön, um wahr zu Bd. 1), S. 104.
196 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 197
und nicht nur Gegenständliches in ihr - zur Anschauung bringt. Die >Weisen Anschauung und Begriff zu befreien. Wenn er bei der Einführung des
der Weltanschauung< hat Hegel in seiner Ästhetik-Vorlesung darzustellen Geniebegriffs — und dort erst hat man es mit >Kunst< zu tun, nicht bereits auf
gesucht. Damit ist gesagt, daß noch vor aller begrifflich-wissenschaftlichen dem Standpunkt des Geschmacks — das Genie auf der einen Seite darin sieht,
Erkenntnis die Weise, wie man in die Welt schaut und auf das Ganze des In- » zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden «, so wird man den falschen
der-Welt-Seins, in der Kunst ihre Gestaltung findet. Druck des theoretischen Paradigmas und die Enge der künstlerischen Erfah-
Der Ausgangspunkt von der >Anschaulichkeit<, den wir nahmen, zeigt rung Kants darin spüren. Aber auf der anderen Seite weist Kant ins Freie,
jetzt seine positive Bedeutung. Er bewahrt uns vor der Verführung, den wenn er das Vermögen des Genies darin erblickt, »das schnell vorüberge-
Begriff der sinnlichen Anschauung und damit den abstrakten erkenntnis- hende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen und in einen Begriff (der eben
theoretischen Gegensatz von Anschauung und Verstand hier einzumengen, darum original ist und zugleich eine neue Regel eröffnet...) zu vereinigen,
statt auf diese >Weisen des Anschauens< und damit auf die Bildungsvorgänge der sich ohne Zwang der Regeln mitteilen läßt« (B199). Da ist der Begriff
zu blicken, die solche Anschauung gestalten, mit anderen Worten, statt auf wahrlich kein »gegebener«. Er ist »original«. Das heißt ein Doppeltes, er ist
die Produktivität der Einbildungskraft und ihr Zusammenspiel mit dem selbst keine Nachahmung - und: er mag zwar selber ein Muster aufstellen,
Verstande zu blicken. Nun war es gewiß die eigentliche Absicht der Kanti- aber eines, das doch keiner wirklich als eine »neue Regel« gebrauchen kann,
schen Begründung der Ästhetik, die Unterordnung der Kunst unter die wenn er nicht seinerseits in bloße Nachahmung verfallen will. Dieser >Be-
begriffliche Erkenntnis aufzulösen und gleichzeitig den bedeutungsvollen griff< ist am Ende die Einheit der Anschauung selbst, eine originale >Weise<
Bezug auf das Begreifen nicht abzuschneiden. Doch liegt hier, scheint mir, der Anschauung, die das Werk der Kunst »eröffnet«.
eine Schwäche der Kantischen Unterscheidung des Kunstschönen und des Ähnlich scheint die Sache zu liegen, wenn Kant der Dichtkunst den
Naturschönen. Im Falle der Kunst wird nach Kant das »freie« Spiel der obersten Rang zuweist, weil sie »die Einbildungskraft in Freiheit setzt«
Einbildungskräfte auf den »gegebenen« Begriff bezogen. Alle Kunstschön- (B215). Auch da erinnert er freilich sogleich: »innerhalb der Schranken eines
heit ist dann nicht »freie«, sondern »anhängende« Schönheit. Damit gerät gegebenen Begriffs«. Aber wenn man näher zusieht, kann das nicht meinen,
Kant in die falsche Alternative gegenständlicher Kunst und gegenstandsloser daß der Begriff durch die Erhebung zu ästhetischen Ideen bloß »erweitert«
Natur, statt die Freiheit vom Gegenständlichen (vom >Begriff<) als eine wird. Denn die Dichtkunst »spielt mit dem Schein«. Sie läßt das Gemüt
immanente Variation im Kunstschaffen selber und in seinem Eigenbezug auf »sein freies, selbsttätiges [...] Vermögen fühlen [. . .], die Natur, als Er-
Wahrheit zu verstehen. Allein die Existenz der klassischen Musik seiner Zeit scheinung, nach Ansichten zu betrachten und zu beurteilen, die sie nicht von
hätte ihn vor dieser Einseitigkeit bewahren können 2 . selbst, weder für den Sinn noch den Verstand in der Erfahrung darbietet«.
Immerhin definiert Kant Genie und Geist »in ästhetischer Bedeutung« als Auch für den Verstand nicht!
das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen. Wenn dieser Begriff der Wenn die Natur, als Erscheinung, hier »gleichsam zum Schema des
>ästhetischen Idee< auch allzusehr am Gegensatz der Vernunftidee orientiert Übersinnlichen« gebraucht wird, so erinnert das an das Gefühl des Erhabe-
ist und vor allem dem Begriff eines Objektes allzusehr zugeordnet bleibt, nen, Auch dort handelt es sich um den Bezug auf Vernunftideen und nicht
den die Idee »erweitert« (was sich etwa in der Lehre von den Attributen bei auf den Verstand. Das heißt aber doch, daß die Dichtkunst nicht an die
Kant niederschlägt), so darf man doch sagen, daß der Begriff der ästheti- Schranken eines gegebenen Begriffes gebunden ist, sondern über den Be-
schen Idee auch unabhängig von solchem Gegensundsbezug etwas Richti- reich des Begriffs, und das heißt des Verstandes, hinausweist. Jedoch meint
ges formuliert. Eine Idee ist kein Begriff, aber doch etwas, auf das hinauszu- das nicht, daß das freie Spiel der Einbildungskraft ein assoziatives Dahin-
sehen ist, und das auch dann, wenn kein bestimmter Begriffeines Objektes strömen ist. Die Freiheit der Einbildungskraft, die ihr per definitionem eigen
durch die Idee zur Darstellung kommt, so daß die Rede von der >Erweite- ist, hat darin eine wirkliche Bindung, daß sie, ihrem freien Spiel zum Trotz,
rung< eines gegebenen Begriffs gegenstandslos wird. »zum Erkenntnis überhaupt zusammenstimmt«. »Zum Erkenntnis über-
Hier - und nicht in der Rückkehr zum Geschmacksurteil - scheint mir die haupt«, das heißt »auf den Verstand, um mit dessen Begriffen überhaupt
eigentliche Aufgabe zu liegen, Kants philosophische Leistung weiterzuent- (ohne Bestimmung derselben) zusammenzustimmen« (B95). »Ohne Be-
wickeln und seine Einsichten von den Fesseln einer Entgegensetzung von stimmung« - es erscheint als eine wirklich angemessene Beschreibung des
Spielens mit dem Schein, daß die Einbildungskraft innere Anschauung
2
Vgl. die Rolle der Wiener Satztechnik, die die Autonomie des musikalischen Kunst-
produziert, ohne die Bestimmtheit eines gegebenen Begriffs vorauszuset-
werks vollendet. zen, und daß sie gleichwohl dabei nicht bloß vagen Assoziationen folgt, wie
198 Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 199

das angesichts des Naturschönen auftreten mag, sondern wirklich »zu den- zeichnet — mit Kant zu reden, sein »übersinnliches Substrat«, die »transzen-
ken gibt«. Was Kant hier von der Subjektseite aus als die Leistung der dentale Freiheit« - das allein Bedingende ist? Und definiert das nicht wirk-
ästhetischen Urteilskraft bzw. als Genie und Geist beschreibt, läßt sich von lich die >Kunst<, daß in ihr der Mensch sich selbst begegnet, was immer auch
der anderen Seite aus als das Anschauen von Welt, das in jedem Werk der dargestellt sein mag?
Kunst zur Darstellung kommt, formulieren. Nicht ein in der Anschauung Wenn das so ist, dann erlaubt dies eine bei Kant nicht klar vollzogene
gegebenes bestimmtes Objekt schränkt dies Anschauen ein. Das im inneren Eingliederung der Ästhetik des Erhabenen in die Theorie der Kunst. Daß das
Anschauen sich aufbauende >Bild< läßt über alles in Erfahrung Gegebene Gefühl des Erhabenen zunächst auf dem Standpunkt des Geschmacks begeg-
hinaussehen. Kants »die schöne Vorstellung eines Gegenstandes« ist dafür net und lediglich als das Erhabene der Natur (dessen Darstellung dann auch
ein etwas zu enger Ausdruck. Jedenfalls muß man das geradezu als seine in der Kunst vorkommen mag) behandelt wird, ist zwar richtig. Aber das
Erscheinung verstehen. Erhabene weist doch eindeutig über den Standpunkt des Geschmacks hin-
Immer wieder muß einen in diesem Zusammenhange Kants merkwürdi- aus. Man muß sich fragen, ob nicht gerade durch das Erhabene, und insbe-
ger § 17 »Vom Ideale der Schönheit« beschäftigen. Dort scheint der Begriff sondere das dynamisch-Erhabene in der Natur, an dem uns die »übersinnli-
des Naturschönen, der an sich im Zusammenhang der Analytik des Ge- che« Bestimmung des Menschen zur Erfahrung kommt, der Übergang von
schmacks bei Kant den Vorrang hat, unmerklich in den der Kunst überzuge- dem Standpunkt des Geschmacks auf den des Genies vorbereitet wird3.
hen. Daß Kant es hier nicht mit dem Begriff der Idee als eines Musters des Dazu stimmt, daß nach Kant »das Erhabene der Natur nur uneigentlich so
Geschmacks bewenden läßt, sondern ein »Ideal« des Schönen annimmt, als genannt werde« und daß die Deduktion der Geschmacksurteile nur die »der
etwas, das wir »in uns hervorzubringen streben«, ließe sich allenfalls noch Urteile über die Schönheit der Naturdinge« ist (B 133). Allerdings ist hier
als >Darstellung< in der Einbildungskraft verstehen, die der >Beurteilung< von Kunstdingen überhaupt noch nicht die Rede. Aber wie man bei dem
von etwas, in Natur oder Kunst, dient. Aber nicht nur, daß die Normalidee Erhabenen der Natur die Natur nur als den Anlaß der Erhebung des Gemüts
des Schönen von der »schulgerechten« Darstellung redet, also nicht nur zu seiner übersinnlichen Bestimmung anzusehen hat und dabei ein über die
Beurteilung durch den Geschmack, sondern Darstellung als Kunst meinen Unlust der Erfahrung der eigenen Kleinheit und Machtlosigkeit sich erhe-
muß. Auch das Ideal der Schönheit, das Kant »lediglich an der menschlichen bendes Wohlgefallen erfahrt, ist man doch schon von einem intellektuellen
Gestalt«, weil sie »Ausdruck des Sittlichen« zu sein vermag, anerkennt, Interesse erfüllt. Das aber ist dem intellektuellen Interesse am Schönen
gerät ihm am Ende wie eine Aufgabe für den Künstler: »Dazu gehören reine verwandt, das das Werk der Kunst, das Erzeugnis des Genies, erregt. Gewiß
Ideen der Vernunft und große Macht der Einbildungskraft in demjenigen ist es dort nicht die Formlosigkeit und die Unangemessenheit des Anblicks,
vereinigt, welcher sie nur beurteilen, viel mehr noch, wer sie darstellen wie ihn die Natur beim Erhabenen bietet, der eine paradoxe Lust in der
will«, und er schließt, »daß die Beurteilung nach einem solchen Maßstabe Unlust erregt. Aber es ist doch auch nicht die bloße Gefälligkeit der >Form
niemals rein ästhetisch sein könne«. des Objektes<, die uns das Werk der Kunst >schön< finden läßt. Was nur in
Hier scheint — ganz gleich, ob Natur oder Kunst — das Wohlgefallen am dieser Weise gefällig ist, wird im Kunsturteil vielmehr als >bloß dekorativ<
Schönen in gleicher Weise »ein großes Interesse« zu nehmen, und beides herabgesetzt.
ganz ohne »Sinnenreiz«. Ist es ein moralisches Interesse — wie es das Natur- Dagegen hat es immer etwas mit der »transzendentalen Freiheit« zu tun,
schöne zu erwecken vermag (§42) - oder ein künstlerisches, das natürlich mit Kant zu reden, wenn uns das Produkt des Genies »erhebt«. Daß das
auch ein moralisches, nicht bloß ein ästhetisches sein muß? Soll die Annähe- Kunstwerk nicht nur gefallt, sondern uns »erhebt«, schließt offenbar ein,
rung an das Ideal der Schönheit an einem schönen Menschen, der uns daß es nicht nur Lust, sondern auch »Unlust« erregt. Das ist nicht nur
begegnet, oder an einer künstlerischen Darstellung eines solchen erfahren zuweilen so, bei der ausdrücklichen Darstellung von Erhabenem in der
werden? Der Gedankenzusammenhang und die Schlußfolgerung lassen im Kunst, etwa in der großen Tragödie. Das wirkliche Kunstwerk, das sich
Grunde nur das letztere zu: »unter der Bedingung eines bestimmten Be- nicht dekorativ dem Lebenszusammenhange einschmiegt, sondern von ei-
griffs« (Überschrift von § 16!). Aber dieser Begriffeines ideal-schönen Men- gener Mitte her aus ihm heraussteht, hat immer etwas von einer Herausfor-
schen ist ein einzigartiger, sofern in ihm nicht irgendeine Vollkommenheit
eines Gegenstandes, sondern das Sittliche zum Ausdruck kommt. Ist das 3
Die Dissertation von JOH. H. TREDE, Die Differenz von theoretischem und prakti-
nicht der Übergang in eine ganz neue Dimension, in der in Wahrheit kein schem Vernunftgebrauch und dessen Einheit innerhalb der >Kritik der Urteilskraft< (Hei-
bestimmter Begriff, sondern der Inbegriff dessen, was den Menschen aus- delberg 1965), hat darauf zuerst aufmerksam gemacht.
200 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 201

derung an sich. Es gefallt nicht bloß, es übt geradezu eine Nötigung aus, bei produktiven Einbildungskraft besitzt, gerade auch für die Theorie der Kunst
ihm zu verweilen, es wie eine Zumutung >uns gefallen zu lassen«. Heidegger fundamentale Bedeutung gewinnt. Von hier aus läßt sich die Rolle der
hat von dem Stoß gesprochen, den das Werk der Kunst einem versetzt. In Anschauung in diesem Bereich entdogmatisieren. Das aber schließt ein,
der Tat sieht die Welt anders aus, wenn wir mit dem Werk und seinen Augen gewisse überkommene Einseitigkeiten der Kunsttheorie zu überwinden. Es
in die Welt schauen. Wir mögen die Kantischen Begriffe, insbesondere auch gilt, den Vorrang, den die bildenden Künste gegenüber der Dichtkunst in
den des Genies und seine Verwurzelung in einem letztlich schöpfungstheo- der ästhetischen Begriffsbildung besitzen, aufzuheben. Ich würde nicht mit
logisch begründeten Naturbegriff, zu eng und beengend finden. Aber hier Manfred Frank sagen4, daß in der Metapher die Anschauung aufgehoben
tritt Kants Analyse des Gefühls des Erhabenen als Erweiterung hilfreich ein. wird - sie wird vielmehr durch die Metapher neu gebildet. Für die Theorie
Dort wird der »Standpunkt des Geschmacks« mit Notwendigkeit über- der Metapher scheint mir Kants Hinweis im §59 noch immer der tiefste, daß
schritten. Das geschieht angesichts der scheiternden Aufgabe, das Übergro- die Metapher im Grunde nichts Inhaltliches in Vergleich setzt, sondern die
ße in einer Anschauung zu erfassen oder das Übermächtige zu ermessen und »Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf
ihm standzuhalten. Daran wird der Mensch sich seiner >übersinnlichen< einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt
Bestimmung bewußt. Ist nicht auch die >Anschauung<, zu der sich die korrespondieren kann«, vornimmt. Tut das der Dichter nicht mit jedem
Einbildungskraft im Anschauen des Kunstwerks zu erheben sucht, von einer Wort? Er hebt jede direkte Korrespondenz auf und weckt gerade dadurch
ähnlichen Übergröße (und einer ähnlichen Übermächtigkeit), sofern sie für Anschauung.
den Begriff >inexponibel< ist? Die Übereinstimmung der Erkenntnisvermö- Es klingt fast wie Verlegenheit, wenn Hegel von dem unmittelbaren und
gen zur »Erkenntnis überhaupt«, die nach Kant die ästhetische Erfahrung eben darum sinnlichen Wissen der Kunst ausgeht und von der Einheit des
auszeichnet, gewinnt zwar im Falle der Kunst eine eigentümliche Bestimmt- Begriffs in seiner Allgemeinheit mit der individuellen Erscheinung spricht
heit, aber nicht in einem >Begriff<, sondern in dem Strom innerer Anschau- und dann fortfährt (1132): »Nun vollbringt sich diese Einheit allerdings in
ungen, in denen sich Schauen der Welt für uns aufbaut. der Kunst auch im Elemente der Vorstellung und nicht nur in dem sinnlicher
Blickt man zurück, so erscheint Kants Beitrag zur Klärung der Dinge, Äußerlichkeit, besonders in der Poesie. « Hegel weiß natürlich sehr wohl,
trotz allem Abstand, den Zeit und Zeitgeschmack, Problemlage und Be- daß in der Poesie »jeder Inhalt in unmittelbarer Weise gefaßt und an die
grifflichkeit zwischen uns und Kant legen, in einem Punkte wahrhaft aktu- Vorstellung gebracht« wird. Aber »die besonderen Naturgegenstände als
ell, und das ist seine Entwicklung der Zeitstruktur, die dem Begriff der solche« sind es nicht. Sie wären zwar »sinnliche Existenzen, aber vereinzelte,
Anschauung zukommt. Gewiß hat er dieselbe seiner Theorie der Kunst welche für sich genommen die Anschauung des Geistigen nicht gewähren«.
nicht wirklich dienstbar gemacht. In der >Kritik der reinen Vernunft< (A120) Der methodische Vorrang, der der Poesie eben deshalb vor allen anderen
steht die berühmte Anmerkung: »Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Künsten zukommt - es ist gewiß nichts, was deren Rang und humane
Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psycho- Bedeutung mindert - , liegt eben in der Eindeutigkeit, mit der die Poesie auf
loge gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen teils nur auf die »Anschauung des Geistigen« gestellt ist.
Reproduktionen einschränkte, teils, weil man glaubte, die Sinne lieferten Wenn man Kants >Kritik der Urteilskraft« nach ihrer Bedeutung für die
uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch so gar zusammen, Philosophie der Kunst befragt, nimmt man sie in ein einseitiges Verhör. So
und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel, außer war es auch, als ich seinerzeit den Entwurf meiner hermeneutischen Philo-
der Empfänglichkeit der Eindrücke, noch etwas mehr, nämlich eine Funk- sophie an Kant anknüpfte und die herkömmliche Gegenüberstellung von
tion der Synthesis derselben erfordert wird. « Die Synthesis der Einbildungs- Kant und Hegel, im Sinne von formaler und Inhaltsästhetik, in Frage zu
kraft, die Kant hier als die Einheit der >Apprehension< konstituierend er- stellen suchte. Das hält in meinen Augen soweit stand, als Kants Analyse des
weist, bleibt freilich an die Vorgegebenheit des Objekts in der Mannigfaltig- Geschmacksurteils nicht mit Recht fur eine Ästhetik der gegenstandslosen
keit der Empfindungen gebunden. Gleichwohl müßte das Spiel des Synthe- Malerei unseres Jahrhunderts in Anspruch genommen wird. So mußte ich
tisierens als ein in der Zeitfolge sich vollziehendes, als ein >Lesen< verstanden damals betonen, daß die ästhetische Urteilskraft und Kants Analyse des
werden — genau wie die Temporalstruktur der Synthesis der >Apperzeption< Geschmacksurteils am Naturschönen orientiert war und nur in abgewandel-
durch Husserls phänomenologische Analyse aufgeklärt worden ist. Immer-
hin hat der Sonderfall des mathematisch-Erhabenen bereits in diese Rich- 4
MANFRED FRANK, Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher. In: Neue
tung gewiesen, in der die Zeitgestalt, die erst recht das »freie Spiel« der Hefte für Philosophie 18/19 (1980), S. 58-78.
202 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 203

ter Form aufgrund des Geniebegriffs, den Kant aufgegriffen hatte, der des· Bürgertums. Mir lag nun daran zu zeigen, daß es nicht angeht, die Frage
idealistischen Philosophie der Kunst Pate gestanden hat. der Kunst von der Frage nach der Wahrheit abzulösen und die Kunst um all
Jedenfalls ist die traditionelle Einordnung der »Kritik der Urteilskraft« in das zu verkürzen, was sie uns an Erkenntnis vermittelt. Auf den ersten Blick
die Ästhetik und Kunstphilosophie einseitig und mißlich. Kants dritte »Kri- scheint das wie eine Stellungnahme zu den alten Streitpositionen zwischen
tik< wollte nicht eine Ästhetik neu begründen5. Sie hatte vielmehr eine Frage Formästhetik und Inhaltsästhetik und als eine Option für Hegel gegen Kant.
von weit mehr grundsätzlicher Bedeutung im Auge. Das hegt in der Kom- Nun habe ich aber gerade die Berufung auf Kant und seine Lehre vom
position der >Kritik der Urteilskraft offen zutage, zumal in der Einleitung, Geschmacksurteil, wegen ihres Mißbrauchs dieser Lehre für die Kunsttheo-
wo nicht so sehr die ästhetische Urteilskraft als die ideologische Urteilskraft rie, kritisch im Auge und habe deswegen die »ästhetische Nichtunterschei-
im Blick steht. Es entspricht dem auch, daß Kants dritte >Kritik< mehr als die dung« als Warntafel aufgestellt. Ich verkenne damit nicht die besondere
beiden anderen für das idealistische Denken im ganzen wirksam geworden Entwicklung, die die Kunst unseres Jahrhunderts genommen hat, also etwa
ist. Das gilt nicht so sehr fur Schiller, der in seinen >Briefen über die iri der gegenstandslosen Malerei. Der Sache nach stellt sich das Problem aber
ästhetische Erziehung« sich weitgehend an Fichte orientiert, sondern vor seit langem der Philosophie der Kunst, nämlich mit der durch die Wiener
allem für Schelling und Goethe. Ihm hat die teleologische Urteilskraft Klassik erreichten Gestaltungshöhe der absoluten Musik. Dort ist die ur-
besonders viel bedeutet. Überhaupt aber hat die dritte >Kritik< als Ganzes den sprüngliche Einheit von sprachlichem Wort und musikalischer Tonsprache
Systemgedanken legitimiert, den die »deutsche Bewegung« von Fichte bis ebenso aufgelöst wie in der modernen Malerei die Bindung an die Abbild-
Hegel zu wahrem Glanz entfaltet hat. So lag es nahe, daß die Idealisten nicht lichkeit. Noch etwas zeigt sich in der modernen Musik ähnlich, nämlich eine
dem Naturschönen, sondern der Kunst angesichts ihrer Nachbarschaft zur neue Freigabe für die Reproduktion, das heißt für die musikalische Interpre-
Philosophie den methodischen Vorrang eingeräumt haben. Das wirkt fort in tation. Sie erscheint wie ein freies Nachbilden einer Vorlage, das etwa der
den Geisteswissenschaften und daher auch in der Hermeneutik und der in Freiheit des Lesens entspricht, das seinen Text akzentuieren kann, wie man
den Geisteswissenschaften implizierten Philosophie. In diesem Zusammen- will—es sei denn, daß man verstehen will. Auch die absolute Musik verlangt
hang war auch nicht die scharfe Unterscheidung von Anschauung und so etwas wie »Verstehen«. Es ist doch ohne Zweifel ein anderes Hören, als
Begriff zu befolgen, wie sie die >Kritik der reinen Vernunft« vornimmt. wenn man auf einen Vogelgesang hört. Kant hat zur Schilderung des Reizes
Daran hatte seit Fichte auch der Neukantianismus festgehalten, und Ernst des Naturschönen die hübsche Geschichte erzählt, wie ein findiger Wirt eine
Cassirer hat das in seiner Philosophie der symbolischen Formen fortentwik- künstliche Nachtigall aufstellte, aber damit nur allen Reiz und Zauber zer-
kelt. Unter Anschauung ist all das zu verstehen, was im Bereich der Einbil- störte. Kants Geschichte wiederholt sich jetzt in der umgekehrten Richtung,
dungskraft liegt und im Blick auf die Kunst von Hegel »die Anschauung des in dem jetzt nicht die Natur, sondern die Kunstausübung der Musik den
Geistigen« genannt wird. Das will keineswegs als Gegensatz zu Kants Kritik Zauber des Schöpferischen ausübt. Eine noch so vollkommene Reproduk-
der ästhetischen Urteilskraft verstanden werden. Es bedurfte meinerseits tion von Musik, wie wir sie heute besitzen, ist eben doch nicht >hve<. So
einer genaueren Analyse, wie ich sie in »Wahrheit und Methode« vorgelegt fragen wir uns: Was ist es, wenn wir dem Spiel der Tonfolgen zuhören? Was
habe, um zu erkennen, daß die Auszeichnung des Geschmacksurteils durch ist es, wenn wir Bildgestaltungen betrachten, die nichts-bedeutenden Far-
den berühmten Begriff des »interesselosen Wohlgefallens« keineswegs auf ben-und Linienspielen nachspielen? Sind es nicht wie in Anschlag gebrachte
eine Dekorationsästhetik hinausläuft. Wenn Kant die Kunst als >Kunst des Begriffe? Was ist das für ein Hören? Was ist es für ein Sehen? Wenn da nichts
Genies« definiert, so schließt das ebenso selbstverständlich wie ausdrücklich ist, das man wiedererkennt - oder besser: eigentlich erkennt - , ist das dann
ein intellektuelles Interesse ein, das mit Kunst verbunden ist, vielleicht wie ein nur in Anschlag gebrachter Begriff?
Kants Lehre vom interesselosen Wohlgefallen hat gleichwohl in die ästhe- Nun scheint mir freilich, daß angesichts dieser Erfahrungen die Subjekti-
tischen Untersuchungen über Kunst im 19. Jahrhundert überall Eingang vitit des Gefühls, auf die sich Kant für das Apriori im Zusammenhang der
gefunden, nicht zuletzt dank der Inanspruchnahme dieser Lehre durch Scho- »Kritik der Urteilskraft« beruft, nicht ausreicht, um das Wesen der Kunst zu
penhauers Willensmetaphysik und deren Eindringen in die Bildungskultur begreifen. So fallen auch die späteren Kapitel in der »Kritik der Urteilskraft«
(§50 und die folgenden) durch ihre Zeitgebundenheit auf, insbesondere
5 seine Lehre von den ästhetischen Attributen, ganz zu schweigen von seiner
Das hat WOLFGANG WIELAND in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung von 1985
näher ausgeführt. Inzwischen veröffentlicht in der Deutschen Vierteljahrsschrift Bd. 64 geselligen Einschätzung von Musik. Gewiß hat Kant sonst nicht versäumt,
(1990), S. 604-623. die Freiheit des Genies der Disziplinierung durch den Geschmack unterzu-
204 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Anschauung und Anschaulichkeit 205

ordnen. Indessen hat die Genielehre und der Subjektivismus der ästhetischen Unterscheidung. Ich habe in der Analyse des Begriffes der Anschaulichkeit
Thematik zur Folge gehabt, daß die Benutzung des Spielbegriffs durch die Gelegenheit wahrgenommen, vom Wort her, das heißt von der sprachli-
Schiller in diese Richtung ging. Der Mensch, der spielt, ist gar nicht das chen Darstellung aus, ob rhetorisch oder dichterisch, das in >Wahrheit und
wirkliche Thema, auf das es ankommt. Kant meint vielmehr, daß unsere Methode<7 als Ontologie des Bildes Dargelegte neu zu beleuchten. Dort
Einbildungskraft spielt und sich mit dem sonstigen geistigen Vermögen kommt das Urbild zur Darstellung, und zwar gerade dadurch, daß es kein
vereint ergeht, so daß es auf diese Weise zu Gebilden kommt, die nicht durch Abbild ist, sondern wirklich ein Bild ist. So ist es auch hier im Sprachlichen.
verständige Regelanwendung konstruiert werden. Das war es ja, was an Die noch so realistische Geschichte, die da erzählt wird, oder die Situation,
Kants Beschreibung der Erfahrung des Schönen als Belebung des Lebensge- die da durch ein Gedicht evoziert wird, bildet nichts Wirkliches ab. Viel-
fühls durchaus richtig scheint. Unsere oberen Erkenntnisvermögen, Einbil- mehr erhebt sich das Dargestellte zu gültiger Allgemeinheit und bleibendem
dungskraft und Verstand, werden durch die Erfahrung des Schönen in freies Bestand. Es erreicht die Dimension des Gültigen und des Wahren, gerade
Spiel versetzt. Darin liegt nun aber ein Bezug auf das Erkenntnisvermögen weil es kein Abbild ist. Es ist wie ein Bild, das seine eigene Bildhoheit hat,
im ganzen, und das ist der Punkt, auf dem man für die Beziehung der Kunst und als Dichtung hat es seine eigene dichterische Freiheit, in der sie viel
auf Wahrheit bestehen muß. Die freie Einbildungskraft, um die es sich hier Unnennbares in Anschlag bringt. So hat das Werk der Kunst eine Art von
handelt, ist zwar nicht die transzendentale, die sich dem Begriff unterordnet. Selbstbeglaubigung, wie sie sonst der Mythos hat, dem man ja auch nicht
So gilt es, die bildenden Künste und die literarischen Künste aus ihrem eigentlich >glaubt<, sondern in dessen Seinsmacht man steht8. So ist Kunst da
gemeinsamen Grunde heraus als Kunst zu verstehen, und dazu genügt es - für den Zuhörer, Leser, Sänger, Spieler und Zuschauer. Der englische
nicht allein, das allen Künsten Gemeinsame von der Hebung des Lebensge- Ausdruck >fiction< suggeriert einen Wirklichkeitsbegriff, der einen solchen
fuhls her zu interpretieren, die auch das Schöne und Erhabene in der Natur Seinsanspruch selber aufhebt. Es scheint mir das Gleichgewicht wieder
bewirkt. Dazu bedarf es eines stärkeren Eindringens in das, was ich in der herzustellen, wenn ich dafür den staatsrechtlichen Begriff der Repräsenta-
Kritik am ästhetischen Bewußtsein als ästhetische Nichtunterscheidung6 tion einführte, der dem Bild wie dem dichterischen Wort eigen ist.
unterstrichen habe. Ich kann denen nicht folgen, die, wie manche Interpre-
ten, nun die Erfahrung der Kunst auf ästhetischen Genuß einschränken
wollen (H. R. Jauß), aber auch nicht denen, die mir Geschichtsgläubigkeit
nachsagen, die den autonomen Anspruch der Kunst verkennt (O. Becker).
Beides widerspricht ganz und gar dem Sinn der ästhetischen Nichtunter-
scheidung. Oskar Becker stellt mir geradezu die Frage, wie ich etwa die
Erscheinungen der gegenstandslosen Kunst verstehen wolle. Becker wollte
damit nicht eigentlich meine Untersuchungen zur hermeneutischen Grund-
legung der Geisteswissenschaften anfechten. Um so entschiedener wollte er
aber die Rolle zurückweisen, die ich der Kunst in meinem hermeneutischen
Entwurf zugewiesen hätte. Er sah darin den Ausdruck einer dogmatischen
Geschichtsgläubigkeit und fand mich geradezu in Geschichtsgläubigkeit
ertrunken. Da mußte sich Becker dann selber verwundern, daß ich mich in
meinen phänomenologischen Analysen zur Kunst in so vernünftiger Weise
zum Spielbegriff geäußert hätte. In der Tat paßt meine Behandlung des
Spielbegriffs überhaupt nicht zu dieser angeblichen Geschichtsgläubigkeit.
Ich befinde mich in Wahrheit durchaus in der Nähe zu Kant selbst, wenn
dieser von dem freien Spiel der Erkenntnisvermögen spricht.
Es gilt, die innere Verschränkung des Formalen und des Inhaltlichen in der
Erfahrung der Kunst festzuhalten. Das ist der Sinn der ästhetischen Nicht- 7
Ges. Werke Bd. 1, S. 139ff. (>Die Seinsvalenz des Bildes<).
8
6
Ausführlicher zum Begriff des Mythos siehe im vorhergehenden > Mythos Und Ver-
Zu diesem Begriff siehe >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff. nunft« (Nr. 13) und die sich daran anschließenden Beiträge.
Ende der Kunst? 207

frei sein sollte und daß es keine Sklaven und keine Versklavung geben sollte,
darüber kann nicht mehr gestritten werden. Geschichte besteht in dem
Versuch, dieses Ideal zu verwirklichen; so hat Hegel gelehrt, und deswegen
geht die Weltgeschichte im Zeitalter der Revolutionen, die diese Verwirkli-
chung anstreben, erst recht weiter, als der Kampf von Herrschaft gegen
18. Ende der Kunst? Herrschaft und um Befreiung von Herrschaft — ein Kampf, dessen Ende
nicht abzusehen ist.
Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst Es ist aber nicht nur das Ende der Geschichte, das vor unserer wirklichen
bis zur Anti-Kunst von heute Erfahrung in zweifelhaftem Lichte erscheint. Ähnlich ist es mit dem Ende
der Metaphysik, das im beginnenden 19. Jahrhundert unter dem Stichwort
(1985) des >Positivismus<, der >philosophie positivem durch August Comte zuerst
proklamiert worden ist: »Das Zeitalter der Metaphysik ist zu Ende. Wir sind
in das Zeitalter der Wissenschaft eingetreten. « So hieß es und wurde immer
Das Thema >Ende der Kunst« bedeutet fur uns nicht einfach das gleiche, was wieder versichert. In unserem Jahrhundert hat zuletzt Martin Heidegger die
es so oft im Leben und in der Entfaltung der Kunst des Abendlandes bedeutet gleiche These sozusagen bis ans Ende durchgezogen, indem er - wie Nietz-
hat, nämlich die Reaktion einer Generation auf den Wandel der Dinge und sches Vision des letzten Menschen — auch das Ende der Philosophie über-
vor allem der Geschmacksdinge, welche eine jüngere Generation als das haupt meint und darin sieht, daß eine allgemeine Unbedürftigkeit in bezug
Richtige präsentiert. Es sind meist die älteren Jahrgänge, die die neue Kunst auf die Frage nach dem Sein im Zeitalter der technischen Weltvollendung
mit Kopfschütteln zurückweisen, als sei sie das Ende allen guten Ge- herannahe und daß ein anderes Denken not tue.
schmacks und wirklicher Kunst. Heute handelt es sich offenkundig um Es sind diese drei End-Ansagen - der Geschichte durch Hegel, der Meta-
einen tieferen Bruch und Einbruch, um eine radikalere Fraglichkeit und physik durch Comte, der Philosophie durch Nietzsche und Heidegger -, an
Fragwürdigkeit, die uns alle fordert, der Situation denkend gerecht zu die ich anknüpfen möchte. Besonders will ich mich der Denkhilfe zuwen-
werden. den, die Hegels Behauptung von dem Vergangenheitscharakter der Kunst
Es ist im Grunde der Niedergang der Bildungsgesellschaft und ihrer darstellt. Es ist eine sehr schwäbische Formulierung, wie man wohl zugeben
ästhetischen Kultur, was uns im industriellen Zeitalter von heute vor unsere muß, nicht gerade blitzend von Witz und blendend durch Eleganz, wohl
Frage nötigt. Wir suchen Denkhilfen für diesen Vorgang. Auch dieser Bruch aber von schockierender Schroffheit. Sie trifft etwas Wesentliches und wird
ist gewiß nicht nur ein Abbruch, sondern wie jeder Bruch etwas, was auch uns vielleicht noch wesentlicher vorkommen, wenn wir sie einmal länger
Keimstätte für neues Wachsen zu werden vermag. Wenn wir uns fragen, wo bedenken und unsere heutige Frage in ihr wiedererkennen. Wenn es nach
wir denkende Hilfen finden, um mit dieser Aufgabe zurecht zu kommen, so Hegel Wissen und Wissenschaft ist, was >die Kunst< zu etwas Vergangenem
legt sich Hegel im besonderen nahe. Von ihm ist das Thema des Endes, nicht mache, so ist freilich für ihn >Wissenschaft< nicht dieser atemberaubende
nur für die Kunst, sondern in einem viel weiteren Sinne, zuerst formuliert Fortschritt der Erfahrungswissenschaften, den wir mit der Parole des Positi-
worden. Hegel, dieser tapfere Schwabe, hat behauptet, in seinem eigenen vismus verbinden, sondern die begreifende Zusammenfassung alles unseres
Denken die Vollendung der gesamten Denk- und Seelengeschichte des Wissens, die in einem letzten Sinne als die Wissenschaft des Begriffs, als
Abendlandes, nein, der Menschheitsgeschichte überhaupt, begriffen zu ha- >Philosophie<, selbst noch die Aufgabe der Kunst überholt habe und eine
ben. Er war der Überzeugung, daß die Geschichte in einem gewissen Sinn zu höhere Form der geistigen Bewußtheit darstelle. Die These von dem Ver-
Ende sei, sofern über das Prinzip, unter dem der Gang der Weltgeschichte gangenheitscharakter der Kunst meint bei Hegel diese Tatsache, daß sich in
seinen Lauf genommen hat, keinerlei Zweifel und Diskussion mehr möglich der klassischen Epoche der griechischen Skulptur das Göttliche in der Er-
sei - es sei der Weg zur Freiheit aller, der die Vernunft in der Geschichte scheinung der Kunst unmittelbar als die Wahrheit selbst dargestellt habe.
ausmache. Das ist die bekannte Lehre Hegels, von der wir sagen dürfen, sie Noch das Zeitalter des überweltlichen Gottes, also des Christentums und
hat mit sicherem Urteil ein Prinzip wahrhaft bewußt gemacht, das mit der seiner Botschaft, konnte in der Form der Erinnerung und der Pflege des
Französischen Revolution zu seinem letzten Siege gekommen, aber im Gedächtnisses an dieser Wahrheit des Göttlichen teilhaben. Es sind die
Grunde mit dem Christentum in die Welt getreten war. Daß jeder Mensch sogenannten romantischen Künste, wie es im Sprachgebrauch der Hegel-
208 Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel Ende der Kunst? 209

sehen Zeit hieß, insbesondere also Malerei und Musik und gewiß auch die chen Bewußtseins, das im Grunde in der christlichen Konzeption der Heils-
allgemeine Kunst, die Poesie, die in dem christlichen Zeitalter diesen Nach- geschichte seine erste Prägung erfahren hat und in der säkularisierten Heils-
klang des Gedächtnisses der Götter bewahren. So verstanden, meint Hegels geschichte des Zeitalters der Aufklärung seine letzte Ausprägung fand, der
Lehre von dem Vergangenheitscharakter der Kunst nicht in erster Linie, daß auch Hegels Gesamtkonstruktion der Weltgeschichte noch zuzurechnen ist.
die Kunst keine Zukunft mehr habe, sondern daß sie in ihrem Wesen immer Was sich in der romantischen Kritik an der Aufklärung meldet, ist etwas
schon vergangen ist, wenn sie auch fortblühen mag, bis in welche Zukunft anderes. Es ist das neue Bewußtsein der Andersartigkeit aller Vergangenhei-
immer. Sie ist von vornherein schon durch eine andere Möglichkeit der ten, das sich am Ende einer langen Tradition der Metaphysik wie der
geistigen Erfassung des Wahren überholt, die Hegel der Sache nach in der heilsgeschichtlichen Gesamtperspektive Bahn bricht. In diesem Augenblick
Botschaft des Neuen Testamentes sah, wenn dieses von dem »Anbeten im bedeutet >die Kunst/ etwas Neues. Durch die essentielle Gleichzeitigkeit aller
Geist und in der Wahrheit« sprach. Die Wahrheit des Christentums in den Kunst wird etwas bewußt, das eine letzte Überlegenheit über die Geschichte
Begriff erhoben zu haben, war daher der Anspruch seiner eigenen philo- darstellt. Das hat in der Hegeischen These in gewissem Sinne sein erstes,
sophischen Lehre. Die kühne These vom Vergangenheitscharakter der verstecktes Selbstbewußtsein gefunden.
Kunst will weit weniger, als man im allgemeinen herumerzählt, eine Kritik Es ist jedenfalls etwas entscheidend Neues, das damals im 19. Jahrhundert
der Kunst seiner eigenen Zeit sein. aufkam und den Fortgang der Kunst bestimmt hat. Es war das Ende der
Indessen ist es doch kein Zufall, daß gerade in dieser Epoche, in die Hegel großen Selbstverständlichkeit der christlich-humanistischen Tradition. Was
gehört und die für uns vor allem die Epoche Goethes ist und für die damit verloren ging, war der allen gemeinsame Mythos. Dabei verstehe ich
Philosophie den Zeitraum der philosophischen Bewegung von Kant bis unter >Mythos< nicht das Feierliche, was der Laie mit diesem Wort im
Hegel meint, der Kunst im Ganzen des Haushalts menschlicher Wahrheits- allgemeinen zu verbinden pflegt, und auch nicht den religiösen Gegenbegriff
suche ein bevorzugter Platz des Interesses eingeräumt worden ist. Hegels gegen den wahren Gott des Christentums. Mythos soll hier nur heißen: das,
Vorlesungen zur Ästhetik gehören zu den Werken Hegels, die das Denken was man erzählt, und zwar so erzählt, daß keiner daran auch nur zweifeln
der kommenden Zeit am tiefsten bestimmt haben. In jedem Falle sind es mag, so sehr sagt es uns etwas1. Mythos ist das, wovon man erzählen kann,
diejenigen seiner Vorlesungen, die durch eine schriftstellerisch glänzende ohne daß jemand auf die Frage gerät, ob das auch wahr sei. Es ist die alle
Bearbeitung von einem seiner Schüler so lesbar gestaltet sind, daß Hegel wie verbindende Wahrheit, in der sich alle verstehen. Genau das ist es, was
ein Lehrer zu sprechen vermag, der auf die lebendigen Fragen seiner Zuhörer damals zu Ende ging - die Selbstverständlichkeit der christlich-humanisti-
eine Antwort hat. Wenn Hegel seine Bücher schrieb, seine >Phänomenologie schen Tradition.
des Geistes< und seine >Logik<, war es für einen sehr engen Kreis von der Daß das so ist, dafür brauchen wir nur um uns zu blicken. Es ist das Ende
Hingabe an das Denken fähigen Männern. Es war ähnlich wie etwa bei des letzten gemeinsamen Baustiles unserer abendländischen Zivilisation, das
Heidegger, als er in seiner späten Phase seine rätselvollen Essays in die Welt Ende des Barock und seines Ausläufers im Rokoko. Seitdem gibt es kaum
sandte, die weitgehend verschlüsselt blieben — im Vergleich* zu der Wucht noch mehr etwas ebenso allgemein Verbindendes und für eine ganze Epoche
seiner gegenwärtigen Stimme, mit der er lehrend und redend seine Zuhörer Verbindliches, das in der Baugesinnung sich bekundet und als Baustil
ansprach. herrscht. Es ist eine Vielfalt von Bauformen und Stilformen, die nebenein-
Die Vorlesungen Hegels zur Ästhetik stellen als Ganzes eine Antwort dar, ander stehen. Bezeichnend, daß die erste Bauform, die wie ein Stil die
die auch der Wendung von dem Vergangenheitscharakter der Kunst ihre öffentlichen Bauten geprägt hat, damals der Klassizismus war. Schon der •
Bestimmtheit zu geben vermag. Hegel sieht in der Kunst die Gegenwart der Name zeigt die künstliche Anlehnung an ein älteres Vorbild. Man denkt an
Vergangenheit. Das ist die große neue Auszeichnung, die die Kunst in unser München und an Klenze. Dieser ersten Bauform folgen andere Wiederan-
aller Bewußtsein in der Tat gewonnen hat. Es bestätigt uns das nicht zuletzt knüpfungen, sei es an das Barock, sei es an die Renaissance, sei es an die neue
der Sprachgebrauch. Jetzt erst, im 19. Jahrhundert, beginnt der Ausdruck Gotik und gar an die Romanik in unseren Bahnhöfen.
>die Kunst« seinen engeren und eindeutigen Sinn zu gewinnen, nämlich das Was uns hier die Baukunst verrät, gilt allgemein. Die Selbstverständlich-
zu bezeichnen, was man früher als die >schöne Kunst< von den anderen keit, in der ein öffentliches Bewußtsein sich in öffentlichen Bauten Ausdruck
menschlichen Künsten, der Handwerkskunst und mechanischen Kunst, gibt, ist dahin. Ob es sich nun um Lebensordnungen des Kultus oder der
ausdrücklich unterscheiden mußte. >Die Künste als die Gegenwart der Ver-
gangenheit ist nicht einfach ein Aspekt jenes Aufkommens eines geschichtli- 1
Siehe dazu im vorhergehenden Mythologie und Offenbarungsreligion<, S. 175 ff.
210 Vom Schönen zur Kunst—von Kant zu Hegel Ende der Kunst? 211

Herrschaft handelt oder auch nur um das neue Lebensgefühl von Gewerbe- und die sich in unserem Jahrhundert immer mehr verschärft. Man denke nur
fleiß und bürgerlicher Tugend - es sind fur uns Werke der Kunst, aber an die Explosion der Malerei im Anfang unseres Jahrhunderts, die Entste-
ehedem waren es zugleich Werke, in denen sich alle wiedererkannten. Daher hung der gegenstandslosen Malerei, oder an die Parole der Anti-Kunst, die
war es im Grunde keine ästhetische Unterscheidung, die den Kenner und heute dem Widerstand sowohl gegen unsere Industriegesellschaft und die
Geschulten zur urteilsmäßigen Distanz befähigte, an den Schöpfungen von allgemeine Reproduzierbarkeit Ausdruck gibt wie gegen die Bildungsge-
Baukunst, Malerei, Musik die Kunst, die hier am Werke war, von der sellschaft von gestern.
Botschaft und Aussage zu unterscheiden, die hier Präsenz gewann. Der Wieder wollen wir Hegel befragen. In seiner Ästhetik hat sich der Stand-
Mythos - nochmals in dem nüchternsten Sinne, den von mir vorgeschlage- punkt der Kunst voll durchgesetzt. Das zeigt sich sogleich an der Behand-
nen Begriff hier zu verwenden — galt für sie alle. Ich habe in meinen eigenen lung, die der Begriff des Naturschönen erfährt. Vom Standpunkt der Kunst
Untersuchungen dafür den künstlichen Ausdruck der ästhetischen Nichtun- aus besitzt es gar keinen selbständigen Charakter mehr. Wir sehen immer
terscheidung eingeführt2 - und gerade darum handelt es sich, nicht um die nur mit den Augen der bildenden Künstler auf die Natur. Das ist ein tiefer
Frage, ob einer so unterschied und ein anderer nicht. Beide hatten teil an dem Wandel. Der schöpfungstheologische oder kosmologische Hintergrund der
gleichen. So fragen wir, was das Neue ist, wenn die Kunst sich als Kunst Naturerfahrung hat sich so völlig aufgelöst, daß es nicht mehr die Schöp-
weiß. Wir müssen uns so fragen, wenn wir unsere Frage von heute klären fung ist, deren Größe und Erhabenheit die Menschen anrührt, sondern die
wollen, ob Kunst aufhört, Kunst sein zu dürfen. Es stellt sich in einem neuen Seelenantwort, die die Natur uns zu geben vermag, und zwar in ihrer
Sinne die Frage nach der Wahrheit der Kunst, sowie dieselbe nicht mehr Unberührbarkeit vom menschlichen Wollen. Daß das Naturschöne und die
anderen Bedürfnissen des Geistes eingeordnet ist, sondern sich ihrer selbst Bestimmungen, die Kant von ihm abgelesen hat, auch der ästhetischen
und wir ihrer als Kunst bewußt sind. Erst seit wir Kunst als Kunst denken, Theorie der Gegenwart ungefragt und ungewollt ihre Dienste anbieten, wie
wird zur Frage, was ehedem sich selbst beantwortete. etwa das Beispiel Adornos zeigt, beruht nur auf der Verwechslung* von
So ist es auch zu verstehen, wenn Heidegger im Zuge der Destruktion der Geschmack und Kunst.
metaphysischen Tradition des Abendlandes die Frage nach der Wahrheit der Das sogenannte Schöne der Kunst aber hat Hegel als das »sinnliche
Kunst erneuert und von dem Ins-Werk-Setzen der Wahrheit spricht. Was Schemen der Idee« definiert. Das soll gewiß kein bestimmtes Stilideal for-
dabei im Blick steht, ist das Ganze der Vergangenheit und Gegenwart der mulieren, sondern eine philosophische Aussage über das sein, was Kunst als
Kunst. Heute, wo sich alles in globale Dimensionen erweitert, wird in einer Kunst immer ist. Insofern wird zu fragen sein, wie diese Definition auch für
neuen Weite gefragt, weil alle Fernen - der Zeiten wie der Räume - in die die nachhegelsche Epoche und für unsere Zeit verstanden werden muß. Wie
Nähe einer neuen Gegenwärtigkeit gerückt sind und ihren Anspruch alle in dieser Definition der Begriff des Schönen durch Begriffe umgrenzt wird,
zugleich erheben. Von nun an haben wir mit einer Doppelgestalt zu tun, in enthält offenbar ein Äußerstes an Gegensatz, das Sinnliche und die Idee. Es
der uns Kunst begegnet. Im Zeitalter des historischen Bewußtseins muß sie ist die Unterscheidung des Piatonismus, die Trennung von »mundus sensibi-
sozusagen nach beiden Seiten blicken, einmal auf die Gegenwart der Ver- hs< und >mundus intelligibilis<, von sinnlicher und geistiger Welt, was offen-
gangenheit, die alle Kunst gleichzeitig sein läßt, und auf der anderen Seite auf kundig der Hegeischen Begriffssprache zugrundehegt. Mehr noch ist es die
die Kunst der eigenen Zeit, die allein mit uns zeitgenössisch ist. Das ist ein Versöhnung der beiden Welten, die im Schönen liegen soll, was eine unmit-
spannungsvolles Verhältnis geworden. Je mehr die ästhetisch-historische telbare Anknüpfung an Plato darstellt. Das Schöne ist eben die Erscheinung
Bildung sich im 19. Jahrhundert und in unserem Jahrhundert ausgebreitet des Guten, ist das sinnliche Scheinen, der sinnliche Schein, der Splendor, der
hat, desto mehr wird die Spannung empfunden. Das zeitgenössische Schaf- über das Erscheinende ausgegossen ist, so daß es als eine ideale Gestalt
fen tritt mehr und mehr in den Schatten der großen Vergangenheit der erscheint und scheint. Das sinnliche Scheinen der Idee verkündet also im
Kunst, die uns als Gegenwart umgibt. Man denke etwa daran, wie die Grunde die Deckungseinheit von an sich gänzlich Geschiedenem, von Idee
zeitgenössische Musik vorsichtshalber in die Mitte des Programms gerückt und Erscheinung. Das ist es auch wirklich, was wir alle an den großen
wird, damit niemand zu spät kommt und niemand zu früh geht. Das ist ein Stilepochen der Vergangenheit der Kunst bewundern und was wir ebenso
Symptom. Es drückt sich darin etwas aus, das niemandem zur Last zu legen angesichts des Gelungenen in der Gegenwart erleben, diese ununterscheid-
ist. Es ist die Spannung, in die unser gesamtes Kunstbewußtsein geraten ist barey nichtunterschiedene Einheit von Erscheinung und Gehalt. Gewiß
klingt das zunächst wie das Stilideal der klassischen Kunst: daß der Gott in
2
>WahrheitundMethode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff. der Erscheinung der Skulptur gegenwärtig ist. Doch versteht sich die Ge-
212 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Ende der Kunst? 213
genwart des allen Gemeinsamen auch heute in der Erscheinung der Kunst Oder an das Heiligenbild, das in allem Wechsel der Auffassung niemals wie
über alle Bildungsstufen und intellektuellen Niveaus hinweg und erfährt in eine Verkleidung oder Maskierung wirkt, weil es als selbstverständlicher
der Gestalt der göttlichen, der mythischen Gehalte die gleiche Gegenwart. Ausdruck von frommer Verehrung das Selbstverständliche der sinnlichen
Ob wir dabei an eine Bachsche Passion denken, die im Kirchenraum die Erscheinung einschließt. Erst seit solche Selbstverständlichkeit nicht mehr
Liebhaber der hohen Musik wie die wirklichen Mitglieder der christlichen besteht, gibt es das Vorausgreifen auf den Effekt, das wir mir dem Phäno-
Gemeinde zu gemeinsamer Erfahrung versammelt, oder ob wir an das men des Kitsches verbinden. Es mag ein noch so edles Ziel sein^ das man auf
griechische Theater denken, dessen Textbücher noch der Bildung von Ge- diese Weise anzielt und das man verbreiten möchte. Der guten Zwecken
nerationen und dem Scharfsinn der Gelehrten unerschöpflichen Stoff bieten dienstbar gemachte Kitsch ist nicht besser als der nur kommerziell gemeinte.
und das dennoch durch das Ganze des attischen Theaterpublikums hin- Man darf >Kitsch< daher nicht einfach als einen negativen Quahtätsbegriff
durch, vom Handwerker bis zu den Spitzen der Gesellschaft, alle in seinen ansehen. Ein Werk minderer Qualität braucht nicht Kitsch zu sein. So
Bann schlug. Es ist die ästhetische Nichtunterscheidung, die Teilhabe an glaube ich, daß es dort, wo es keinen Kunstbegriff gibt, der sich als eigener
dem Gemeinsamen, was diese Solidarität im Empfangen allein möglich Standpunkt, in Loslösung von allen anderen Gemeinsamkeiten, etabliert
macht. hat, keinen Kitsch geben kann. Es hat das nichts zu tun mit dem Gestaltungs-
Die Deckungseinheit zwischen Idee und Erscheinung bleibt in gewissem niveau als solchem. In der Bauerrikunst hegt bei aller Imitation, die da
Sinne eine gültige Definition des Schönen der Kunst. Als eine selbstver- spürbar ist, kein Kitsch. Darin spiegelt sich vielmehr, etwa in der Hinter-
ständliche, vom allgemeinen Konsensus getragene, besteht sie freilich im 19. glasmalerei, die Selbstverständlichkeit gemeinsamer Inhalte, sei es religiö-
und 20. Jahrhundert nicht mehr. Auch nicht durch die Umwege einer künst- ser, sei es profaner Natur. Der Reiz solcher naiven Kunstübung liegt gerade-
lichen Politisierung, etwa im Zuge des aufstrebenden Nationalismus des zu darin, daß hier wie von selbst in Erscheinung tritt, was in dem Bemühen
19. Jahrhunderts, kommt eine derart selbstverständliche Gemeinsamkeit in des Künstlers in unserer heutigen Welt nur in der Seltenheit des Gelingens
die Aussagen der Kunst. Das ist ohne Zweifel ein Verlust - und wie allem eines Werkes seine Erfüllung findet. Ein Kunstwerk, das gelungen ist, ist
empfundenen Verlust entspricht ihm auch ein Bedürfnis und eine Anstren- immer ein gelungener Versuch der Einigung von Auseinanderfallendem.
gung, das Verlorene wiederzugewinnen. Das prägt die Kunst der Moderne, Ich darf es an einem Beispiel illustrieren: an dem dichterischen Werk von
nach dem Gemeinsamen und Selbstverständlichen auf der Suche zu sein. Mit Paul Celan, dessen gestalterische Kraft sich an seiner Aufgabe formlich
>moderner Kunst< meine ich hier nicht nur die Post-moderne von heute, verzehrt hat. Es war die Aufgabe, aus Sinnfragmenten, Klangfragmenten,
auch nicht nur die >Moderne< des frühen 20. Jahrhunderts. Ich meine all das die wie Trümmer beieinander liegen, dennoch so etwas wie Musik, ein
mit. Gewiß gehört dies Moderne und Modernste dazu. Was sich aus dem neues Ineinanderspiel des Unvereinbaren, hervorgehen zu lassen. In den
Pseudohistorismus des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat - all das sind seltenen Augenblicken, in denen dann ein Leser das Gedicht in seiner inneren
neue Wege des Wagens, neue Wege des Schaffens. Der Künstler ist getragen Einheit wirklich versteht, ist plötzlich ein Allgemeines da, etwas, das nun
von dem Bewußtsein, daß eine >Aussage<, eine neue Versammlung auf das wie selbstverständlich gilt. Ich lese daran ab, was sich verändert hat und was
Gemeinsame, auf das Wahre hin, das alle eint, gelingen muß. Man versteht geblieben ist. Da ist keine gemeinsame Stileinheit mehr, wie sie selbst der
von da, was zu der Bildungsgesellschaft, dieser Erscheinungsform der bür- gebildete Laie etwa gegenüber großen Kunstperioden der Vergangenheit so
gerlichen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, führen mußte, nachdem die stark empfindet, daß er den Personalstil des jeweiligen Künstlers überhaupt
Selbstverständlichkeit der Aussagen des zeitgenössischen Kunstschaffens nicht auszumachen vermag. Jetzt scheint es vielmehr so, daß der Stil nicht da
verlorengegangen war. ist, sondern das Gesuchte wird, und es ist ein langer Suchvorgang, bis ein
Man versteht sogar - ein untrügliches Symptom für diesen Verlust —. heutiger Künstler, seit eine selbstverständlich geltende Tradition nicht mehr
warum gerade unter diesen Bedingungen das Phänomen des Kitsches aufge- bindet, seine eigene Handschrift zu finden weiß - eben eine, die die seine ist
treten ist. Wenn ich recht sehe, gibt es erst Kitsch, seit es das Verlangen nach und doch lesbar sein soll. Es ist offenbar für beide Seiten eine Aufgabe, für
einem Gemeinsamen gibt, das nicht mehr wie eine selbstverständliche Vor- den Künstler, der die lesbare Handschrift sucht, und für den Leser, der sich
aussetzung für alle da ist. Man denke etwa an die Selbstverständlichkeit, mit in diese Handschrift und das, was sie sagt, sozusagen einlesen muß.
der in der großen Geschichte der Malerei das repräsentative Imperatorenbild Das Beispiel lehrt, gerade das Auseinanderbrechen und Auseinanderfal-
mit all seinen uns so fernen Attributen des Pferdes und der Rüstung und des len, vor dem wir heute stehen, stellt der Kunst ihre Aufgabe. Um es an
Marschallstabes dennoch hautnah an die kaiserliche Gestalt angepaßt ist. einigen großen Künstlern des 19. Jahrhunderts zu illustrieren: Da können
214 Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel Ende der Kunst? 215

selbst klassische Themen eine neue Realisierung erfahren, wie wir das heute - man denke an Monets Kathedralen oder an Picassos 40 Varianten zu den
nicht so sehr bei den Nazarenern als etwa bei Feuerbach oder bei Marées Ninas des Velazquez. Vollends will die aufputschende Vitalität der neuen
bewundern mögen. Umgekehrt konnte etwa dem Bahnhof ein neuer Far- Rhythmen, die Steigerung des Plakativen, des Karikaturhaften, des Signal-
benzauber abgewonnen werden. So wird das entfremdete Klassische oder haften die in sich ruhende Selbigkeit des Werkes hinter sich lassen.
das befremdende Moderne in neue Einheit eingeholt — und das wird freilich Gleichwohl ist es, wie mir scheint, voreilig, dem Begriff des Werkes
eine Aufgabe nicht nur für den Schaffenden, sondern auch für den Aufneh- deshalb seine Legitimität zu bestreiten. Es bleibt doch wahr: Während das
menden. Es ist die NichtSelbstverständlichkeit, die hier durch die künstleri- Werkstück handwerklicher oder industrieller Fertigung sich im Gebrauch
sche Werkgestalt neue Überzeugungskraft erlangen soll. erfüllt und verzehrt, mag das Kunstwerk noch so sehr in Lebenszwänge und
Das kann zunächst von Hegels Aussagen her durchaus verstanden wer- Lebenszwecke eingefügt werden — es hebt sich heraus. Es gewinnt Bestand.
den, und deshalb setzte ich mit Hegels Antworten ein. An der Malerei wird »Einmal stand es doch unter den Menschen« (Rilke). Da ist zunächst der
es am deutlichsten. Da ist eine neue Beliebigkeit experimenteller Art schon Künstler selbst, der unter den unzähligen Arbeitsversuchen, die seinem
in der Wahl des Motivs gegeben, und selbst wenn alte Weltinhalte wieder Handwerk dienen, dieses oder jenes als zu seinem Werke gehörig bezeich-
auftreten oder alte Formen umformend übernommen werden, fordern sie zu net Das nennt man dann sein Œuvre. Da ist aber auch der Aufnehmende.
neuen Wagnissen heraus. Immer wird nicht nur von dem Schaffenden, auch Ich erinnere mich mancher Orgelimprovisationen Günther Ramins nach der
von dem Aufnehmenden die Überwindung von Fremdheit gefordert. Die Motette der Thomaskirche in Leipzig. Nicht immer, aber zuweilen mochte
Geschichte der modernen Malerei mutet dem Maler eine lange Reihe von man gar nicht hinausgehen, so hielt die Improvisation des Orgelnachspieles
Arbeitsversuchen zu und dem Beschauer das Sich-Einlesen in die Hand- einen fest. Flüchtig, einmalig, unwiederholbar - im Urteil gewann es Be-
schrift des Künstlers. Wenn auch Hegel meinte, daß alles erprobt und stand, als dies eine vom Hörer ausgezeichnet. Das heißt ja >urteilen<: auslesen
durchmessen sei und der Fortgang der Malerei sich in bloßen Variationen (oder verwerfen), ins Licht des Gültigen herausstellen. Das ist wahrlich
bewegen werde — in Wahrheit hat die Geschichte der Malerei geradezu keine leblose Identität des Werkes, gegen die man Differenz aufbieten müß-
Revolutionen durchlebt. Mit jeder neuen Wendung steigerte sich dabei die te. Stets ist da Eintritt in ein Neues von Gültigkeit, in eine bleibende und
Zumutung an den Aufnehmenden so sehr, daß am Ende das Kunstwerk zugleich in sich verwandelnde Gültigkeit. Mag sein, daß die Tage des
selber angesichts des Zugriffs der reproduzierenden Künste und angesichts Tafelbildes sich ihrem Ende zuneigen, daß der große Wanddekor eines
der enorm gesteigerten Anforderungen an den Aufnehmenden seine Identi- Tapies oder eines Miro, oder daß die ins Freie drängenden Skulpturen und
tät zu verlieren scheint. In Wahrheit ist, wie ich gezeigt habe, die innere Male eines Henry Moore oder Serra eine eigene Bildhoheit der großen
Logik dieser Entwicklung bereits in Hegels Ausgangspunkt angelegt. Flächen und Räume gewinnen und dem Eilen und Hasten unserer Lebens-
welt tiefer entsprechen, als es im Rahmen von Galerien möglich ist - alles,
Damit haben wir uns dem Diskussionsstande genähert, der heute die
was als ein Kunstwerk Bestand hat, hält uns fest, läßt uns verweilen, mitten
Szene beherrscht. Das Experiment hat alle Grenzen gesprengt. Die Bild-
im Sturmgebraus.
erwartung des Laien wird aufs äußerste strapaziert. Wir stehen am Ende
einer langen Herausforderung, die durch kubistische Formzertrümmerung, Machen wir die Probe, indem wir altem phänomenologischem Brauch
durch expressionistische Gestaltverformung, durch surrealistische Verrätse- folgen und von den Extremen auf die gemeinsame Mitte hinzielen. Was läßt
lung, durch wachsende Bildentleerung ins Gegenstandslose hinein schließ- etwas Kunst sein, ehedem wie heute und morgen? Als solche Extreme sehe
lich zu einem resoluten Bildzweifel und Kunstzweifel überhaupt geführt ich (mit Hegel) die Architektur und die Poesie an. Die eine steht unverrück-
hat3. Das Kunstwerk soll nicht länger einem Konsumenten zu unverbindli- bar in die Zeiten, Verwitterungen und den Verfall hinein — und auf der
chem Genuß vorgelegt sein. Der Künstler möchte provozieren, irritieren, anderen Seite tradiert sich die alle Räume und Zeiten überlebende, überwin-
und mancher möchte sein Werk nur noch wie eine Art Vorschlag verstehen, dende Kunst des Wortes, die Dichtkunst. Fragen wir, wie in diesen extre-
der andere zu nachgestaltendem, fortführendem Tätigwerden einlädt. So men Formen von Kunst zwischen Schaffendem und Aufnehmendem das
wird etwa in der seriellen Musik dem Interpreten die Reihenfolge der Werk seinen Stand hat und sein Leben gewinnt. Die Frage so stellen heißt
Darbietung überlassen. So muß der Beschauer eines Bildes sich von oft von vornherein der falschen Alternative von Produktion und Rezeption,
wechselnden Lesarten des gleichen Bildes überzeugen und verwirren lassen von Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik den Boden entziehen.
Nicht nur, daß von beiden Seiten die jeweils andere Seite immer mit umfaßt
3
Siehe dazu in diesem Band >Vom Verstummen des Bildes< (Nr. 28). wird: Da ist von Seiten des Künstlers der Vorblick auf die Wirkung als
216 Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel Ende der Kunst? 217
Erfüllung einer Erwartung, als Übertrumpfung einer Erwartung oder als etwas, das man wie eine Antwort versteht und worin man sich selbst
Kontrastwirkung zu einer Erwartung. Auf der anderen Seite begegnet das erkennt. Die Entwöhnung vom Blick auf das Vorgegebene, die der kon-
Werk der Kunst stets so, daß ihm oder dem Künstler, der sein Schöpfer ist, struktiven Abstraktionskraft der modernen Technik entspricht, hat in
so etwas wie eine Intention oder eine Idee seitens des Aufnehmenden zuge- Wahrheit viel zerstört, Städte und Straßen, Räume und Plätze, und erst recht
schrieben wird, und das so, daß unter Umständen das Werk selbst hinter die Aufnehmenden blind werden lassen — als ob ein Bauwerk je ein isoliertes
seiner Idee zurückbleiben mag. Beide Übergriffe von der anderen Seite her Kunstwerk sein darf und keine andere Bestimmung hat, als seiner Zeit
bleiben aber ihrerseits Antizipationen, und die eigentliche Wirklichkeit sieht Ausdruck zu geben, als ob es nicht vielmehr immer in eine von weither
anders aus. Als das gelungene, geglückte ist das Werk weder die bloße vorbestimmte Lebenswelt hineingebaut würde.
Erzielung einer geplanten Wirkung, noch auch, von der anderen Seite her
Selbst das ist noch nicht %enug, den Blick auf das Vorgegebene zu richten,
gesehen, darf die Idee, die der Aufnehmende darin erkennt, beanspruchen,
von dem aus ein Bauwerk als die rechte Lösung erscheinen mag. Es steht ja
die Sache ganz zu erfassen. Es ist wie ein echter Dialog, daß Unvoraussehba-
auch Weiterhin in die Lebensfluten hinein, die es umrauschen, und da sind
res eintritt und dem Fortgang des Gespräches seine Richtung weist.
immer Menschen, die es nicht nur bewundern, sondern in ihr Leben einbe-
So sprechen wir in der Architektur vom Bauplan des Baumeisters und von ziehen. Etwas, das am Rande lag, wird in die Stadt eingesogen, unvoraus-
der Bauidee, die der Bewunderer in dem Bau erkennt. Oder wir sprechen sehbar — und wieder wird, wo es der Stadt oder der Landschaft gelingt, das
von dem, was der Dichter in seinem Gedicht gemeint hat, und von dem, was Gebaute in sich einzufügen, ein neuer Akzent gesetzt, durch den das Alte ein
uns daraus anspricht. Auch das Gedicht sagt mehr, als der eine oder andere Neues wird. So sah ich einmal in Bordeaux, wie dort die mittelalterliche
heraushört. Das Verstehen will nicht wiedererkennen, was einer gemeint Stadt im 18. Jahrhundert durch Neubebauung und durch die neue Gewkh-
hat. Es geht um mehr — um etwas, was weder der Dichter weiß, noch tung der engen, geraden Straßen, die sich vom Hafen in die Stadt hineinzie-
irgendein anderer sagen kann, und was doch nicht beliebig oder subjektiv hen, ein neues Gesicht erhalten hat, und allbekannt ist die Baugestaltung von
ist. Wie es ist, wird zu fragen sein. Paris, dessen Wachstum noch die phantastischsten Pläne eines Napoleon
Da ist der Bauherr und der Architekt. Nicht eine Inspiration, ein Traum- übertroffen hat. Vor einigen Jahren war ich in meiner Heimatstadt Breslau.
bau, wie ihn gewiß jeder Baukünstler träumt oder in der Schublade hat, Als ich dort aus dem unzerstörten Hauptbahnhof heraustrat, fiel mein Blick
sondern da ist ein gegebener Platz und ein bestimmter Zweck und eine sofort auf eine riesige Kirche, die ich mein Leben lang nie gesehen hatte. In
vorgegebene Umgebung, städtische oder ländliche, und ganz gewiß ist es Wahrheit war inzwischen allerhand Schreckliches des späten 19. Jahrhun-
erst das, worin sich die Kunst des Architekten erfüllt: sich in die Raumgege- derts in Trümmer gegangen, und die Kirche war neu zu sehen. So gewinnt
benheiten fugen und neue Raumordnung stiften. Bauten sind niemals Uto- ein Bauwerk neue Raumkräfte, die niemand voraussah. Auch der heutige
pien. Im Bauwesen hat sich stärker als in anderen Kunstbereichen gehalten, Architekt, der über ungeahnte neue Mittel verfugt und vor Aufgaben ge-
welche Führungsfunktion allem Schaffen durch Bedarf und Zweckbestim- stellt ist, die ganz aus der eigenen Zeit erwachsen, steht mit seiner Kunst im
mung und den Auftrag zuteil wird. Wir sagen dann, der Künstler sei hier Dienste dieser Kontinuität zwischen Gestern und Morgen, die seine Schöp-
weniger frei, und das mag wahr sein. Vor allem mag die moderne Selbstauf- fung aufnimmt und weitergibt.
fassung des Architekten nicht unberührt gebheben sein von dem allgemei-
Dagegen scheint die Poesie, und insbesondere seit sie Literatur ist und
nen Wandel, den der Aufstieg der Kunst zur Autonomie gebracht hat. Es ist
einer Epoche der Lesekultur zugehört, deren Ende wir uns vielleicht nähern,
vor allem das Vorherrschen des freien Bildschaffens und die Verbreitung
von all solchen Raum- und Zeitbedingungen unabhängig. So sieht es zu-
dessen durch die Reproduktionstechnik unseres Jahrhunderts, die auch noch
nächst aus. Aber vielleicht verbirgt sich hinter diesem Schein eine tiefere
auf den Baukünstler und die Erfahrung der Baukunst durch den Aufneh-
Abhängigkeit. Man braucht sich nur zu fragen: Sind die Freiräume und die
menden zurückwirkt. Wer Gebäude wie Bilder sieht (oder gar nicht mehr
Freizeiten, die das moderne Arbeitsleben gewährt, noch eine Einladung zum
hinsieht, sondern nur noch knipst), der vergißt, daß sie im Räume stehen
Lesen, und gar zum Lesen von Gedichten? Da mag man gewiß Zweifel
und Räume schaffen; daß man um sie herum und in sie hineingeht und daß
hegen. Aber wer weiß, ob in dem gesamten Haushalt menschlicher Kräfte,
sie nicht primär zu touristischer Besichtigung dastehen, sondern im Lebens-
die sich heute mit solcher Einseitigkeit auf die technische Zivilisationsform
vollzug ihren Platz haben - als Kirche, Rathaus, Bank, Bad, Sporthalle und
unseres Daseins richten, nicht auch wieder Bedürfnisse entstehen werden,
was immer — und daß einem plötzlich doch bewußt wird, wie fast unmerk-
die ein neues Gleichgewicht herstellen. Niemand wird voraussagen können,
lich etwas anderes nebenherspielt, etwas, das einen zum Verweilen nötigt;
ob nicht vielleicht über das Interesse an erzählender Literatur hinaus, gerade-
218 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Ende der Kunst? 219
zu als eine Gegenwirkung, Offenheit für Dichtung, ja ein neues Bedürfnis eines, so verschieden seine Ausfüllung auch ist. Dafür hat Roman Ingarden,
danach erwachen wird. Sei es, wie dem sei - die innere Unabhängigkeit der der große polnische Phänomenologe, den wichtigen Begriff des >Schemas<
Literatur von äußeren Vorgegebenheiten und Daseinsbedingungen hat auf vorgeschlagen, das gleichsam vorzeichnet und seine freie Ausfüllung fordert
alle Fälle eine bedeutende Kehrseite, und das ist der Grad von Aktivität, von und gestattet, in der ein jeder sich selbst wiedererkennt4. Hieran schließt sich
echter Anstrengung und Selbsttätigkeit, den sie zumutet wie keine andere nun, wie ich meine, eine dritte Form von Wiedererkennung, die ich nicht
Kunstform sonst. >Erfüllen< — wie das von Bedeutungen — noch auch >Ausfüllen< — wie das des
Nirgends sonst wird doch wohl die Mitarbeit des Aufnehmenden so anschaulichen Schemas - nennen möchte, sondern >Auffüllen<. Das scheint
sichtbar gefordert wie von der sprachlichen Kunst. Das Lesen ist insofern die mir eine der wesentlichsten Einsichten in bezug auf das Wesen aller Kunster-
eigentliche und die repräsentative Form, in der der Anteil des Aufnehmen- fahrung überhaupt zu sein. >Auffüllen< meint hier, daß der Leser (oder
den an der Kunst zum Greifen kommt. In Wahrheit gilt es für alle Kunst, daß Hörer) noch über das hinausgreift, was in dem sprachlichen Gebilde selber
sie erst in der Wiedererkennung zur Erfüllung kommt, die sich der Dicht- wie greifbar ist und zur Erscheinung kommt und das gleichsam in der
kunst gegenüber mit einer besonderen Differenziertheit expliziert. Richtung dessen, was es sagen will, über es hinausgeht. Dies Auffüllen
Ich möchte drei Arten solcher Wiedererkennung unterscheiden, die sich vermögen wir alle, wenn uns ein sprachliches Gebilde dichterischer Art
uns in ihrer Ineinanderfügung prototypisch für alle Künste darstellen. Da ist gepackt hat. Dann lassen wir unsere eigene, subjektiv-private Erfahrungs-
zunächst die Forderung des Lesenkönnens überhaupt. Das heißt nicht nur welt ganz in ihm aufgehen. Wir sehen und hören über schwächere oder
die Fähigkeit des Buchstabierens (und des ihm entsprechenden Schreibens), dünnere Stellen eines Gebildes hinweg. Wir füllen es auf- und erst in dieser
sondern gerade auch die Fähigkeit, den zu entziffernden Text als eine sinn- zwingenden Auffüllung gewinnt das Kunstwerk seine eigentliche Wirklich-
volle Redeeinheit zu vollziehen. Das ist eine erste Bedingung, wenn man keit. Dann erst verschwindet jeder Gegensatz von Meinen und Sein, jeder
überhaupt an das Kunstwerk in seiner eigentlichen Qualität herankommen Gegensatz zwischen dem, was der Künstler sagen möchte, und dem, was der
will. Jeder weiß es etwa aus der Unmöglichkeit, lyrische Gedichte aus Aufnehmende daraus aufnimmt. Sie sind eins geworden. Das ist der Grund,
fremden Sprachen in die eigene Sprache zu übersetzen oder in Übersetzung warum sie jeden Rest von Privatheit verloren haben, so daß etwa auch der
voll zu erfassen. Hier ist ein so innig verwobenes Bedeutungs- und Klangge- biographisch-okkasionelle Aspekt eines dichterischen Werks ins Allgemeine
schehen im originalen dichterischen Text verwirklicht, daß sein Vollzug gewandelt ist. Das ist der Grund, warum Werke der Kunst allen, die in ihren
eine erste Erfüllung von Wiedererkennung bedeutet. Wir hören alle unsere Bannkreis treten, eine echte Selbstbegegnung gewähren. Wenn ein sprachli-
eigene Muttersprache und Texte unserer eigenen Sprache in einer solchen ches Kunstwerk auf solche Weise für uns da ist, mag viel Vorgeformtes in
Fülle, in einem solchen Reichtum und mit einer solchen Strahlkraft, daß sie die Fügung des Gebildes mit eingegangen sein. Darin hat das Studium der
als dichterisches Wort, als dichterische Rede allem sonstigen Sprachge- Intertextualität, wie es die französischen Poststrukturalisten heute betrei-
brauch gegenüber wie eine Wiedererkennung unser selbst erscheinen. Und ben, sicherlich Richtiges im Auge. Und doch ist etwas erst ein dichterisches
doch weiß jeder, der etwa längere Zeit in einer fremden Sprachwelt gelebt Gebilde, wenn alles Vorgeformte in die neue, einmalige Form eingegangen
hat, wie ihn bei seiner Rückkehr die ersten einfachsten Laute der eigenen ist, die uns das Gedicht so sein läßt, als wäre es noch nie gesagt worden und
Muttersprache als eine echte Wiedererkennung rühren. Wieviel mehr das als wäre es eigens uns erstmals gesagt. Hier liegt die prototypische Bedeu-
dichterische Wort. tung dieses Begriffs des Auffüllens. Auch allen anderen Kunstarten gegen-
über bedeutet erst diese Erfahrung die volle Verwirklichung des Kunst-
Ein dichterischer Text verlangt aber nicht nur den Vollzug des Bedeu-
werks, so daß wir nicht mehr in ästhetischer Urteilsdistanz verharren,
tungshaften der Rede. Immer wird noch etwas anderes erweckt, worin wir
sondern ganz darin aufgehen. Das hatte Hegel im Auge, wenn er die Kunst
uns selber wiedererkennen. Es sind freie Anschauungsräume, die durch die
als >Anschauung< neben die Andacht und den philosophischen Gedanken
dichterische Sprache geöffnet werden und die der vollziehende Leser aus-
rückte.
füllt. Solche Ausfüllung geschieht durch einen jeden auf seine Weise, und
trotzdem ist die Identität der Dichtung dadurch nicht betroffen. Mir wer- In Zeiten, in denen Informationstechnik und Reproduktionstechnik eine
den, wenn ich im Augenblick mich des berühmten Gedichtes Goethes >An beständige Reizflut über die Menschen ausgießen, ist diese Verwirklichung
den Mond< erinnere, die Nebelschwaden und die Lichtwogen, die der »Ne- des Kunstwerks freilich eine schwere Aufgabe geworden. Ein heutiger
belglanz« evoziert, sicherlich ganz anders vor Augen schimmern als irgend
jemand anderem oder mir selbst ein andermal. Das Wort des Gedichtes ist ROMAN INGARDEN, Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972.
220 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel

Künstler, welcher Kunst auch immer, hat gegen eine Flut zu kämpfen, die
jede Empfänglichkeit abstumpft. Eben deshalb muß jeder heutige Künstler
Verfremdungen aufbieten, damit die Überzeugungskraft seiner Gestaltung
zur Ausstrahlung kommt und die Verfremdung in eine neue Heimatlichkeit
zurückbildet. Der Pluralismus des Experimentierens ist daher in unserer
Epoche unvermeidlich geworden. Verfremdung bis an die Grenze der Un- 19. Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik
verständlichkeit ist das Gesetz, unter dem sich die bildende Kraft der Kunst und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst
in einem Zeitalter wie dem unsrigen am ehesten erfüllen kann. Die ideale
Deckungseinheit zwischen vertrauten Inhalten darstellender oder dichteri- (1986)
scher Kunst und ihrer gestalteten Form kann in unserer Epoche nicht mehr
wie in traditionsgebundenen Zeiten erwartet werden. Jetzt gilt es, in das
schrecklich fragmentierte Dasein, in dem sich die heutige Welt ständig
bewegt, Kunst hineinzubilden. Wenn sich die Formen des Lebens in sol- Wer die Hothosche Redaktion von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik
chem Tempo ändern, wie das in unserer Gegenwart der Fall ist, dann liest, wird sich dem zwingenden Eindruck eines überaus lesbar gestalteten
werden sich auch die künstlerischen Antworten auf diese Gegenwart in Textes nicht entziehen können - insbesondere, wenn man diese Vorlesung
besonders befremdlicher Stärke absetzen müssen. Doch vielleicht ist der mit den anderen Vorlesungen aus der großen Hegel-Ausgabe der Freunde
Unterschied zwischen heutiger Kunst und früherer Kunst nicht so groß, wie des Verewigten vergleicht. Nun haben wir durch die neueren Untersuchun-
er meistens dann erscheint, wenn eine Gegenwart über ihre Gegenwart oder gen einsehen gelernt, daß die Authentizität dieses Textes entsprechend
ihre jüngste Vergangenheit nachdenkt. Ein Ende der Kunst, ein Ende des nie geringer ist, als wir bisher unwillkürlich angenommen haben. Offenbar hat
rastenden Gestaltungswillens menschlicher Träume und Sehnsüchte, wird ein gewandter Kunstschriftsteller und Stilist wie Hotho in dem Bestreben,
es so lange nicht geben, wie überhaupt Menschen ihr eigenes Leben gestal- Hegels für ihn so bestimmende Lehren dem Zeitgeschmack seiner eigenen
ten. Jedes vermeintliche Ende der Kunst wird Anfang neuer Kunst sein. Generation mundgerecht zu machen, manches aus Eigenem hinzugefügt,
das nicht mit Hegels Ansichten übereinstimmt1.
Am wenigsten dürfte das noch für die eigentlich begrifflichen Konstruk-
tionselemente der Hegeischen Vorlesung gelten, daß es ihnen an Authentizi-
tät fehlt. Einen schwerwiegenden Eingriff Hothos gibt es allerdings, den wir
schon seit dem (an sich gescheiterten) Versuch von Lasson, die Ästhetikvor-
lesung neu zu edieren, realisiert haben. Ich meine die Verselbständigung des
Abschnittes über das Naturschöne zu einem dem Abschnitt über das Kunst-
schöne parallelen und vorausgehenden eigenen zweiten Kapitel. Das ist
irreführend. Hegel hat seine Ästhetik in Wahrheit ganz vom Standpunkt der
Kunst aus konzipiert und die Naturschönheit bekanntlich als einen Reflex
des Kunstschönen diesem eingeordnet. Dieser gewichtige Eingriff Hothos,
der etwas Wesentliches verdeckt, wiegt um so schwerer, als die begriffliche
Schematik, mit der Hegel in seiner Ästhetik arbeitet - neben dem Unbeha-
gen, das sie bereitet-für den Philosophen ein erhöhtes Interesse behält. Dem
1
Für anregende Informationen über die Nachschriften von Hegels tatsächlich gehalte-
nen Vorlesungen zur Ästhetik bin ich der Bearbeiterin dieser Dinge am Hegel-Archiv,
Frau Dr Α . GETHMANN-SIEFERT ZU Dank verpflichtet. Vgl. bes. die folgenden Veröffent-
lichungen der Autorin: Einleitung und Edition der Nachschrift Hothos von 1823: Die
Philosophie der Kunst. Nach dem Vortrage des Herrn Professor Hegel. Im Sommer 1823.
Berlin Nachgeschrieben von H. Hotho. Hamburg 1986; Die Funktion der Kunst in der
Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25).
222 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik 223

entspricht, mit welchem Eifer und mit welcher Beharrlichkeit Hegel in allen lesung spricht er in sehr freier Weise von Anschauen, Vorstellen, Empfinden
einzelnen Kapiteln seiner Vorlesung immer wieder die Grundgedanken und dergleichen, ohne sich an seine eigene begriffliche Schematisierung zu
seiner Schematik rekapituliert. Hegel hat die konstruktive Schematik seiner binden. Die Sonderstellung, die Hegel der Poesie zuweist, wird nun beson-
Vorlesung so oft und so genau wiederholt, daß wir dieselbe als authentisch ders deutlich, wenn die Begriffe von Form, Inhalt und Materie, die Hegel fur
ansehen dürfen und deshalb ihren Implikationen besondere Aufmerksam- seine schematische Konstruktion gebraucht, auch auf die Poesie angewendet
keit schuldig sind. werden, wo sie besonders unangemessen sind (vgl. III226f.). Formung von
Da fallt nun bei der leitenden Begriffsbildung, der Einteilung der Epochen Material läßt sich im Falle der Poesie offenkundig nur in einem sehr unei-
der Kunst in die symbolische, klassische und romantische Kunst, auf, daß sie gentlichen Sinne behaupten. Schon bei der Musik ist die Rede vom Tonma-
an der Poesie keine rechte Bestätigung findet, sondern offenbar an den terial unbefriedigend. Im Falle der Poesie verändert sich vollends, wie Hegel
sinnlich-anschaulichen Künsten, der Architektur, der Skulptur, der Malerei ausdrücklich sagt, das ganze Verhältnis zum Material, sofern das >Material<
und der Musik. Das hat seinen guten Grund. Die sinnlich-anschaulichen überhaupt nicht etwas sinnlich Erscheinendes ist, sondern das in der inneren
Künste unterstehen weit mehr der Äußerlichkeit des Geschmacks. Dessen Einbildungskraft zur Erscheinung Gebrachte (III 231). Hegel rechtfertigt
Wandel liegt offen zutage und bietet sich daher zur Artikulation der Ge- hier den Anspruch der Poesie, die allgemeine Kunst zu sein, mit diesen
schichte der Kunst besonders an. Der Geschmack ist, wie Hegel gesehen hat, Begriffen. Sie sei in ihren Verwirklichungsbedingungen durch kein sinnli-
in Wahrheit nicht das Wesentliche an der Kunst, sondern bildet gleichsam ches Material überhaupt eingeschränkt.
die sinnliche Haut, die wir gegen die Herausforderung und den Andrang In seinen Vorlesungen scheint Hegel den Zugang zur Einteilung der
von allem, was uns begegnet, und die wir so auch gegen die Herausforde- Künste und die Vorzugsstellung der Poesie nicht nur so, sondern in vielfa-
rung unserer eigenen Konstrukte, unserer Werke und Kunstwerke, benöti- chen Variationen seinen Hörern plausibel gemacht zu haben. Um nur ein
gen. Diese »Haut« des Geschmacks ist in einem weit höheren Grade durch Beispiel zu geben: Er geht einmal von Raum und Zeit als den allgemeinen
Sinnlich-Anschauliches verletzbar, als es durch noch so krasse Kruditäten Formen der Anschauung aus, denen Malerei und Musik noch verhaftet sind.
geschieht, die sprachlich-literarischer Gestalt sind. Das sinnliche Element des Raumes gehört der Malerei an, das sinnliche
Das ist eine seit Lessings >Laokoon< wohlbekannte Tatsache. Es entspricht Element der Zeit der Musik. Beide zeigen sich in der Poesie als »Punkt des
dem, daß Hegel bei »Kunst« nie im besonderen die Poesie im Auge hat, Geistes, als das denkende Subjekt, das in sich den unendlichen Raum der
wenn er das allgemeine Thema der Kunst in systematischen Zusammenhän- Vorstellung mit der Zeit des Tones verbindet« (Hotho 1823, Ms. 421).
gen erörtert, sondern sei es die Architektur, sei es die bildenden Künste. Die Damit folgt Hegel in Wahrheit nicht nur Kant, sondern einer wohlbekann-
Poesie ist eben in besonderem Maße die »allgemeine Kunst«, wie Hegel ten Topik der aristotelischen Philosophie. Wenn Aristoteles indem berühm-
wohl sieht. Gleichwohl nimmt die Poesie in der Schematik der Ästhetikvor- ten Einleitungssatz zur >Metaphysik< dem Sehen den Vorzug vor allen
lesung eine ausgezeichnete Stellung ein. In dieser Hierarchie der steigenden anderen Sinnen gibt, weil es die meisten Unterschiede erfasse, so kommt
Entsinnlichung und wachsenden Vergeistigung stellt sie die letzte Stufe dar. doch in anderem Betracht, wie er sieht, gerade dem Hören ein noch höherer
Sie hat, wie Hegel sagt, ihr Dasein nur in dem Bewußtsein selbst. Es sind die Vorrang zu. Denn weil das Hören Sprache, den Logos, zu hören vermag,
Formen des inneren Vorstellens und Anschauens, die hier das Kunstwerk werden ihm nicht nur die meisten, sondern auf diese Weise schlechterdings
zum Kunstwerk machen oder als Kunstwerk erweisen. Die Poesie ist inso- alle Unterschiede zugänglich. Hieran knüpft Hegel an, und er gebraucht in
fern das extreme Gegenstück zur Architektur, die kaum noch, nur symbo- ähnlicher Weise für die Auszeichnung der Poesie ausdrücklich den Begriff
lisch und andeutend, Geist ist und ihrer Natur nach nur zur Umgebung des der Totalität, durch den sie sich gegenüber allen anderen Kunstformen
Geistes gehört. auszeichnet.
In Hothos Ästhetik-Redaktion scheint Hegel die terminologische Prä- Damit bekommt die Stellung der Poesie im Aufbau der Ästhetik ihre nach
gung, die wir aus dem Schlußkapitel der >Phänomenologie des Geistes< vorne weisende Bedeutung. In ihr bahnt sich bereits der Übergang zur
kennen, wonach die Kunstreligion auf dem Standpunkt der Anschauung, religiösen Vorstellungsweise der offenbarten Religion und zur Prosa des
die Offenbarungsreligion auf dem Standpunkt der Vorstellung und die wissenschaftlichen Denkens, das heißt der Philosophie, an, welche letzteren
Philosophie auf dem Standpunkt des Begriffes steht, in seinem Sprachge- sinnlichkeitsloseres Erfassen des Absoluten sind (III 233). Der unschöne
brauch nicht festgehalten zu haben, obwohl er der Sache nach dieses Kon- Komparativ zu >sinnlichkeitslos< unterstreicht indirekt, daß nicht nur die
zept offenkundig durch sein ganzes Werk aufrechterhält. In der Ästhetikvor- Poesie, sondern auch noch die Prosa des Gedankens in Laut- und Zeichenge-
224 Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel Die Stellung der Poesie un System der Hegeischen Ästhetik 225

stalt eine reale, sinnliche Basis haben. Die ganze Betrachtungsweise folgt Kunst eine Weise des absoluten Geistes ist, eine Hierarchie der Geistigkeit.
eben der aristotelischen metaphysischen Begriffstradition. Die Gesamtdefi- Sie läßt ihn von der Poesie sagen, »sie geht in der negativen Behandlung der
nition der Kunst, die Hotho in seiner Redaktion der Ästhetikvorlesung sinnlichen Elemente so weit, daß sie das Entgegengesetzte der schweren
anführt, das »sinnliche Scheinen der Idee« (1144) zu sein, soll damit gewiß räumlichen Materie, den Ton, statt ihn, wie es die Baukunst mit ihrem
nicht abgeschwächt werden, wenn auch Hegel im Vergleich zu den anderen Material tut, zu einem andeutenden Symbol zu gestalten, vielmehr zu einem
Künsten der Poesie steigende Geistigkeit und sich mindernde Sinnlichkeit bedeutungslosen Zeichen herabbringt. Dadurch löst sie aber die Verschmel-
zuschreibt. zung der geistigen Innerlichkeit und des äußeren Daseins in einem Grade
Es ist wichtig zu erfahren, daß diese im Grund platonische Formel auf, welcher dem ursprünglichen Begriffe der Kunst nicht mehr zu entspre-
(Phaidr. 250d) in Hegels Berliner Vorlesungen offenbar nicht nachweisbar chen anfängt«. Hegel ist der darin hegenden Gefahr offenbar selber nicht
ist. Hotho gebraucht die schöne Wendung in der Tat in einem traditionalisti- ganz entgangen, wenn er sich zu der erstaunlichen Aussage versteigt, daß es
schen Zusammenhang, nämlich bei der Erörterung des Verhältnisses von für die Poesie »gleichgültig sei, ob ein Dichtwerk gelesen oder angehört
Wahrheit und Schönheit. Dieses platonische Grundthema will nicht eigent- wird« (III227). Das läßt sich allenfalls akzeptieren, wenn man bei »Lesen« so
lich auf das Kunstschöne und auf die Kunstarten angewendet werden, etwas wie inneres Hören mitdenkt. Aber Hegel geht noch weiter, bis zu der
sondern umfaßt das Naturschöne mit — und ist obendrein für die Poesie nur These, daß die Übersetzung eines Dichtwerks ein Kunstwerk ohne wesent-
in ungenauem Sinne zutreffend. Denn es ist klar, daß sich das »sinnliche lichen Verlust des eigentlich Poetischen in andere Sprache hinüber zu ver-
Scheinen der Idee« hier nur in der Gestalt der Vorstellung, also in der mitteln vermag. Man muß wohl annehmen, daß das wirklich Hegel gedacht
Einbildungskraft, vollzieht. hat und nicht etwa Hotho. Das mag mit dem neuen Enthusiasmus des
Doch ist gerade die Rand- und Übergangsstellung, die der Poesie als der romantischen Zeitalters für die Weltliteratur zusammenhängen. Auch gilt es
geistigsten aller Künste zukommt, unser eigentliches Thema, und so lohnt gewiß für narrative Dichtungsformen und für das Drama, daß sie übersetz-
es, bei den durch die Nachschriften besser beglaubigten Formulierungen des bar sind, aber nicht für das lyrische Gedicht - und Hegel hat gewiß diese
»Ideals des Schönen« zu verweilen. Wenn Hegel das Ideal als das Dasein der Unterschiede gesehen. Aber in jedem Falle bleibt es eine erstaunliche Aussa-
Idee oder als Existenz der Idee beschreibt, folgt er im Grunde dem Kanti- ge. Im Falle der Übersetzung von Lyrik wird die sinnliche Erscheinung in
schen Sprachgebrauch. Das Ideal ist nach Kant » die Idee in individuo «. Diese Sprache offenkundig so tief verändert, daß die Hegeische Aussage über-
Ideale sind freilich so, daß »man ihnen gleich nicht objektive Realität (Exi- haupt nur verständlich — gewiß nicht gerechtfertigt — ist, wenn man die in
stenz) zugestehen möchte« (Kr. d. r. V. Β 597). Das gilt gewiß auch für das der Einbildungskraft durch Sprache geweckte Anschaulichkeit, und gar
»Ideal der Schönheit«, das in der >Kritik der Urteilskraft (§ 17) als ein Ideal nicht die Unmittelbarkeit des in Sprachlauten Tönenden, dabei im Auge hat.
der Einbildungskraft bezeichnet wird. Man wird auch im Sprachgebrauch Aber auch dann bleibt es doch, daß es das in Sprachlauten Tönende ist, was
Hegels »Existenz« niemals im Sinne der Kantischen »objektiven Realität« vor allem die Anschaulichkeit des Gedichteten zu seiner unwiderstehlichen
verstehen dürfen, sondern eben wie das Dasein der Idee-»in individuo«, und Evidenz und Präsenz erhebt.
wenn Kant nur an der menschlichen Gestalt das Ideal der Schönheit findet, Offenbar muß man die fragwürdige Hegeische Übertreibung von seiner
nämlich in dem Ausdruck des Sittlichen, so ist das eine klassizistische Absicht aus verstehen, die Abhebung gegenüber der vorausbehandelten
Verengung, der Hegel in Wahrheit die ganze Weite des Geistes und die Musik recht deutlich zu machen. Das ist gewiß richtig, daß der Ton der
Geistigkeit der Schönheit abgewonnen hat. Schon bei Kant deutet sich in Musik von dem Bauelement dichterischer Texte, dem Wort, grundsätzlich
diesem Zusammenhang die Wendung vom Geschmack zur Geistigkeit der unterschieden ist. Ein Ton gewinnt seine anschauliche Bestimmtheit über-
Kunst an, wenn es heißt, daß die Kunst die sittlichen Ideen »in körperlicher haupt nur durch sein Verhältnis zu anderen Tönen. Das Wort dagegen ist
Äußerung (als Wirkung des Inneren) gleichsam sichtbar zu machen« ver- schon immer das Wort einer Sprache und hat damit innerhalb dieser Sprache
mag. Was so sichtbar wird, ob anschaulich oder »vorgestellt«, ist jedenfalls in sich selbst eine Bestimmtheit, die, wenn auch noch so vage, noch so
Idee, und es kann kein Zweifel sein, daß für Hegel im Falle der Poesie die vanationsfahig, doch auf gewisse Bedeutungen eingeschränkt und bezogen
Idee in der Vorstellung erscheint, das heißt, als sinnlich-anschaulich vorge- ist Daher gehört zur Musik aus guten Gründen die tatsächliche Ausfüh-
stellt ist. Sie ist »in individuo« als einem Vorgestellten - wie das Ideal des rung. Sie gewinnt damit erst ihren ontologischen Status - und nicht schon
Weisen, das Kant in der >Kritik der reinen Vernunft< als Beispiel anführt. im inneren Besitz der Einbildungskraft. Die >Notation< ist eben nicht ver-
Hegel entwickelt nun freilich auf dem Boden der Grundannahme, daß die gleichbar mit der schriftlichen Fixierung von dichterischer Sprache. Wenn
226 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik 227

man es als einen rückständigen Status der Musikkennerschaft ansieht, daß nämlich, wie es dort heißt, »mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem
die Menschen sich Musik überhaupt noch anhören, statt selber nur die Element des Denkens als der bloßen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß
Partituren zu lesen, und wenn man sich darauf beruft, daß man doch in der der konkrete Mensch sich nun auch gedrungen finden kann, den Inhalt und
Poesie schon längst Gelesenes im inneren Ohr zu hören gelernt hat, so bleibt die Resultate seines philosophischen Bewußtseins in konkreter Weise als
das eine Übertreibung, die in diesem Fall von Adorno gewagt worden ist. durchdrungen von Gemüt und Anschauung, Phantasie und Empfindung
Offenkundig ist es die gleiche Übertreibung und aus der gleichen Absicht, auszusprechen, um darin einen totalen Ausdruck des gesamten Inneren zu
die Hegels Behauptung zugrundeliegt, daß ein lyrisches Gedicht in der haben und zu geben.« Was Hegel hier im Auge hat, sind vermutlich die
Übersetzung keine •wesentliche Einbuße erfahrt. philosophischen Gedichte Schillers. Es bleibt aber eine erstaunliche Äuße-
Hegels eigene Stellung zur Musik bestätigt indirekt, daß er den poetischen rung, wenn er hier dem spekulativen Gedanken eine Einschränkung zumu-
Verlust nicht als sehr mindernd empfunden hat, den die Übersetzung von tet und sagt: »nur in dem Elemente des Denkens«. Dies »nur« steht im
Dichtung hinnehmen muß. Offenbar sind ihm die Worte als die eigentlichen krassen Gegensatz zu seiner systematischen Grundkonzeption, zeigt aber
Sinnträger das Wesentliche. Das kommt gegenüber der absoluten Musik umgekehrt, wie sehr er zur Anerkennung von reflektierten Formen der
sozusagen im umgekehrten Sinne heraus. Ihr gegenüber betont er seine Poesie in ihrer Unvergänglichkeit bereit war. Auch seine Preisung des
Distanz, weil ihr das Wort fehlt: »Ich muß es für ein Unglück ansehen, daß >West-östlichen Divans< gehört hierher.
die Musik sich so selbständig konstituiert« (Marb. Bibl. 1826, Ms. 80). Die Prüfung der systematischen Eingliederung der Poesie in das Gesamt-
Offenbar ist er der Meinung, daß dort, wo der geistige Rückhalt des Wortes gefüge der Ästhetikvorlesung hat also ergeben, daß die allseitige Reflexion,
fehlt, der Mensch zu sehr »seinen Vorstellungen . . . freien Spielraum« läßt. als deren Meister sich Hegel auch hier bewährt, die uns leitende Frage
Wie hier das sinntragende Wort fehlt, ist ihm im Falle der Übersetzung von offenläßt. Eine unmittelbare Antwort auf die vieldiskutierte Frage, was
Dichtung das sinntragende Wort beinahe alles. Das wird sofort deutlich, Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst meint, läßt sich aus
wenn man das Verhältnis der Poesie zum spekulativen Denken, wie es Hegel dem systematischen Ort der Poesie am Rande der Ästhetik kaum erhoffen.
in der Ästhetik schildert, ins Auge faßt. Da sagt er etwa, daß das spekulative Bekanntlich steht ja das Kapitel über die Poesie am Schluß der Ästhetikvor-
Denken mit der poetischen Phantasie in enger Verwandtschaft steht, und lesung überhaupt und wird in der Hothoschen Fassung so dargeboten, ohne
artikuliert den Unterschied in folgender Weise: »Das Denken verflüchtigt daß es sich ausdrücklich als Übergang bekennt. Das ist ein redaktioneller
die Form der Realität zur Form des reinen Begriffs. Dadurch entsteht der Mangel - der vielleicht die Authentizität dieses Schlusses wahrscheinlich
erscheinenden Welt gegenüber ein neues Reich, das wohl die Wahrheit des machen kann? Jedenfalls schließt die Vorlesung nicht mit dem Übergang in
Wirklichen ist, aber eine Wahrheit, die nicht wieder im Wirklichen selbst als die Religion, wie das der Hegeischen Systematik entspräche. Wahrschein-
gestaltende Macht und eigene Seele desselben offenbar wird. Das Denken ist lich drückt sich darin aus, daß Hegel damals ausdrücklich die Trennung von
also nur eine Versöhnung des Wahren und der Realität im Denken. Das Ästhetik und Religionsphilosophie — man könnte auch sagen: die religiöse
poetische Schaffen und Bilden dagegen ist eine Versöhnnng in der Form Aufhöhung der schönen Künste zur >Kunst< — einführte, als er in Berlin seine
realer Erscheinung selbst, wenn diese Ordnung geistig vorgestellt ist« (III Ästhetikvorlesung wieder aufnahm, deren erstes Auftreten wir auf die Hei-
243). Äußerungen dieser Art müssen die junghegelianische Kritik an der delberger Zeit datieren können.
Versöhnung in Gedanken besonders inspiriert haben. Für sie wurde ja Hier darf man sich wohl daran erinnern, daß das Verhältnis zwischen
gerade die Folgenlosigkeit der Versöhnung im Gedanken zum Stein des Kunst und Religion bei Hegel von Anfang an ziemlich eigentümlich verwik-
Anstoßes. Aber auch Kierkegaards Kritik am ästhetischen Stadium rückt das kelt ist. In der >Phänomenologie< begegnet die Kunst durchaus nur als die
Hegeische Argument ins Zwielicht. Kunstreligion. Die gegenseitige Wechselbindung, die zwischen der Kunst
Das ist typisch Hegel. Die Allseitigkeit der Reflexion erlaubt ihm, selbst und der Religion von Hegel gesehen wird, läßt daher die systematische
die Poesie gegenüber der Prosa des Gedankens auszuzeichnen, die doch als Frage eines Übergangs recht schwierig werden. Aus seiner geschichtsphilo-
die Wahrheit des Begriffs für ihn den höheren Rang einnimmt. Das Gleiche sophischen Auszeichnung der griechischen »Kunstreligion« folgt eben kei-
zeigt sich, wenn Hegel die poetische Welt der inneren Betrachtung und neswegs ein klassizistisch beengtes Kunsturteil. Man denke nur an die
Empfindung, in der die lyrische Poesie lebendig wird, ausdrücklich mit dem Hegeische Schätzung der Niederländer. Dagegen ist es sinnvoll, den Über-
philosophischen Denken konfrontiert und in erstaunlicher Weise auch hier gang von der Kunst und damit vor allem von der Poesie zur Philosophie -
das philosophische Denken zurücksetzt. Das philosophische Denken sei und das heißt: zum spekulativen Denken - ausdrücklich zu erörtern. Das ist
228 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik 229

der Sache nach in Hothos Redaktion der Ästhetikvorlesung an mehreren Hegel meint, im spekulativen Denken zugleich die Form des Begriffs er-
Stellen geschehen. So muß man von da aus die Lehre vom Vergangenheits- reicht hat.
charakter der Kunst erneut ins Licht stellen. Ich habe wiederholt die These Der Vergangenheitscharakter der Kunst, wenn er so verstanden ist, be-
verfochten, daß die Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst in deutet deswegen durchaus nicht das Ende der Kunst, sondern schließt nur
Wahrheit die Freisetzung der Kunst als Kunst bedeutet2, wofür ich zu- ein, daß die Kunst nunmehr innerhalb eines höheren Wahrheitsanspruches
nächst die sprachliche Evidenz auf meiner Seite hatte. Der Sprachgebrauch ihre Funktion ausübt. Diese Unterordnung hat in der Tat die frühe Ge-
lehrt, daß erst in Hegels Zeit sich das Band zwischen Kunstfertigkeit aller schichte der Kunst des Abendlandes sogleich nach dem Auftreten des Chri-
Art und >der Kunst< so weit gelockert hat, daß der Zusatz >schöne<, also die stentums bestimmt. Die Kunst hat ihre Berechtigung in mühsamen Kämp-
Wendung >schöne Kunst<, überflüssig wurde. Wenn man die Lehre vom fen gegenüber dem Bilderverbot der Juden und der christlichen Offenba-
Vergangenheitscharakter der Kunst von hier aus beleuchten will, muß man rung, dem Heilsanspruch der Kirche, erworben. In Hegels Ästhetik hat sie
sich grundsätzlich darauf besinnen, daß auch Hegels Äußerungen über die den allgemeinen Namen der »romantischen« Kunst - was sagen will, daß sie
Übergänge von einer Kunstform zur anderen etwas über den Sinn des auf eine höhere Gestalt der Wahrheit hinauszielt. Hier darf man sich daran
Endes der Kunst und den Vergangenheitscharakter der Kunst bedeuten erinnern, was die romantische Kunstform in Hegels Augen im Grunde war.
müssen. Denn auch diese Äußerungen zielen auf einen solchen >Übergang<. Die romantische Welt hat in Wahrheit, wie er sagt, nur ein einziges absolutes
Dann lernen wir aber, daß diese Aussagen nicht Aussagen über den Verlauf Werk vollbracht, und das ist die Ausbreitung des Christentums. Dieses
des Geschehens sind, sondern über die Ordnung im philosophischen Nach- Neue, daß das Christentum in die Welt gekommen ist und das Ende der
denken. Sie meinen die Wahrheit, die das philosophische Erkennen in den klassischen Kunst heraufgeführt hat, bedeutet für die romantische Kunst,
erscheinenden Realitäten herauszufinden vermag. Damit steht die Frage d. h. für die mannigfaltigsten Gestalten des künstlerischen Schaffens, daß
der Vergangenheit der Kunst auf einer Linie etwa mit der Anfangsstellung ihre Wahrheit eine romantische, das heißt nicht mehr absolute Wahrheit,
der Architektur oder der Endstellung der Poesie im System der Künste - nicht mehr Übereinstimmung von Erscheinung und Sein ist. Deswegen
und am Ende gar mit dem bekannten Problem des Endes der Geschichte. sind Malerei und Musik in besonderem Grade — und natürlich vor allem die
Das ist eine höchst lehrreiche Analogie. Niemand kann hier zweifeln, daß Poesie — Formen der Vergeistigung und Entsinnlichung, auch wenn ihre
das Ende der Geschichte nur meinen konnte, daß kein neues überlegenes eigene Darstellungsform wiederum die des »sinnlichen Scheinens der Idee«
Prinzip das Ideal der »Freiheit aller« überbieten kann. Nicht daß die Ge- ist und bleibt. Was Hegel die romantische Kunst nennt, umfaßt also die
schichte zu Ende ist, ist damit gesagt, sondern daß Geschichte nicht mehr gesamte Geschichte der Kunst seit dem Auftreten des Christentums, und
als ein Fortschritt im Sinne des Bewußtseins der Freiheit vor sich gehen diese Geschichte der Kunst ist geradezu dadurch charakterisiert, daß in ihr
kann. Ja, vielleicht darf die Geschichte überhaupt nicht als Fortschritt gese- kein absolutes Kunstwerk erscheint, das heißt kein Werk, in dem das Göttli-
hen werden, sondern ist die sich nie vollendende Anstrengung, das in der che selbst sinnlich so da ist wie in der klassischen Kunst die Göttergestalten.
Wirklichkeit herbeizuführen, was dem Selbstbewußtsein der Freiheit ent- Darin liegt zugleich, daß sich die Geschichte der Kunst nunmehr in eine
spräche. Man kann also sagen, daß die Geschichte sich seitdem ganz als das Mannigfaltigkeit von endlichen Formen auseinanderfaltet, in denen jeweils
>äußerliche< Geschehen mit allen seinen Wechselfällen, Rückschlägen und ein Volksgeist sich aufgrund seiner eigenen Erfahrung der Welt im Lichte
illusionären Fortschritten abspielt — im Kampfe um die Freiheit aller. Ähn- der christlichen Offenbarung und des Gedankens seinen künstlerischen Aus-
lich scheint es mir nun mit dem Ende der Kunst, wie es Hegel in seiner druck gibt.
Ästhetik behauptet. Es sagt etwas für das philosophische Nachdenken aus Die Geschichte der Kunst, die sich hier entfaltet, strebt nun in gewissem
und nichts über die Zukunft als die geschehende. Es kann damit nur ge- Sinne einem Ende zu, das durch die Gegenwart, in der Hegel schreibt,
meint sein, was Hegel ja auch ausspricht, daß die Kunst nicht mehr das charakterisierbar wird. Dieses Ende, das Hegel auch die »Auflösung der
höchste Bedürfnis des Geistes erfüllt. Sie ist nur das sinnliche Erscheinen romantischen Kunstform« nennt, ist vollends die Freisetzung der künstleri-
des Göttlichen, und nicht das Göttliche, wie es durch die Offenbarung - in schen Energie, die vollständige Loslösung von den Vorgegebenheiten sub-
der christlichen Kirche - als der wahre Gott und das wahre Heil aufgegan- stantieller Inhalte, denen gegenüber der Künstler ehedem keine freie Wahl
gen ist und wie es am Ende einer langen Anstrengung des Begreifens, wie hatte. Das Durchlaufensein des gesamten Bereiches welthafter Erfahrung im
Schaffen von Kunst, das man auch mit Hegel romantische Selbstüberschrei-
2
Vgl. auch den vorangehenden Beitrag »Ende der Kunst?«, S. 208f.
tung von Kunst nennen kann, bedeutet aber, wie Hegel sagt, »eben so sehr
230 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik 231
ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine »Das Ende der romantischen Kunstform« (II228ff.), das am meisten seinem
eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen be- Heute Ausdruck gibt, keineswegs an betonter Stelle steht. Der objektive
stimmten Kreis des Inhaltes und der Auffassung von sich abstreift und zu Humor, den Hegel dem dichterischen Schaffen seiner Zeit zubilligt und der
ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des sich auf seine scharfe Kritik an dem subjektiven Humor Jean Pauls zurückbe-
menschlichen Gemüts als solchen, das allgemein Menschliche in seinen zieht, gilt ihm in dem Araber- und Perserbild Rückerts und des >West-
Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen.« Im östlichen Divans< Goethes als verwirklicht. Was er daran rühmt, ist gewiß in
Zusammenhang dieser enthusiastischen Schilderung wird ausdrücklich ge- gutem Einklang mit der neuen ungebundenen Beliebigkeit des von aller
sagt, daß die Kunst nicht mehr darauf beschränkt ist, nur das darzustellen, Traditionsbindung freigewordenen Künstlergeistes, die er beschrieben hat.
das auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist, sondern alles, Es bleibt aber doch erstaunlich, wie die Zeitbezogenheit von Hegels Kunst-
worin der Mensch überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat (II235). urteil weit weniger an seiner Zukunft, auf die wir heute als unsere Vergan-
So kann Hegel sagen: »Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und genheit zurückbücken, vorbeizielt als etwa sein geschichtsphilosophischer
eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Traum von dem Endziel der Geschichte in der Freiheit aller. Wenn man die
Künstler etwas Vergangenes, und die Kunst ist dadurch ein freies Instru- Rede von dem objektiven Humor, deren Bedeutung Henrich 3 so stark
ment geworden, das er nach Maßgebe seiner subjektiven Geschicklichkeit in angehoben hat, wirklich zu einem ganz allgemeinen Begriff ausweiten will,
bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben findet man im Blick auf unsere Gegenwart und ihre Zukunftserwartungen
kann. « Im selben Zusammenhang heißt es: »Es gibt heutigen Tages keinen einen erstaunlichen Grad von Übereinstimmung.
Stoff, der an und für sich über dieser Relativität stände.« Hier liegt der Ton
Nicht nur der Historismus der Stile, nicht nur die Multiplizität der Schu-
auf dem »an und für sich«. Offenbar soll das heißen, daß es eben auch nicht
len und Richtungen, nicht nur die Partikularität der jeweils sich bildenden
möglich ist, in freier Willkür vergangene Formen des künstlerischen Gestal-
Gemeinden, von denen ein jeder schaffende Künstler umgeben ist, haben
tens wieder zu erneuern. Gegen diesen Wahn hat sich Hegels bekannte Kritik
Hegel bestätigt. Wichtiger noch ist, daß, was wir das historische Bewußt-
an dem Katholischwerden aus künstlerischen Gründen und an solchem Sich-
sein nennen, Künstler wie Kunstliebhaber in einer beständigen Erfahrung
Hineinleben in eine nicht mehr wirklich gemeinsame, umfangende religiöse
auch der Kunst vergangener Zeiten und fremder Kulturwelten vereinigt.
»Weltanschauung« deutlich genug ausgesprochen.
Grundsätzlich ist das alles in Hegels Charakteristik seines »Heute« schon
Hier mag der Anklang an die Rede von dem Vergangenheitscharakter der vorweggenommen. Wenn das noch Humor ist, aus der Zufälligkeit das
Kunst verwirren. Gewiß ist auch die christliche Kunst des Mittelalters in Substantielle hervorgehen zu lassen, so ist das wohl die bleibende Bestim-
Hegels Augen »vergangen« und keiner Erneuerung aus romantischem mung aller Kunst in Zeiten unbedingter Freiheit der Erfindung und des
Heimweh fähig. In Wahrheit geht es aber bei der Rede von dem Vergangen- wagenden Versuchs. In Hegels Darstellung ist dagegen die Kunst »von
heitscharakter der Kunst nicht um die Endstufe der romantischen Kunst, heute« wieder nur eine Übergangsform, in der die Poesie die klar gesehene
und deshalb ist es verkehrt, den Sinn dieser Rede in die Richtung auf ein Schlüsselstellung hält. Wenn Hegel Goethes reflektierte Form der Poesie im
Ende der Kunst überhaupt zu verschieben. Vielmehr ist es für Hegel kein >West-östlichen Divan* bewunderte, der erst weit später zum literarischen
Zweifel, daß die Kunst »vergangen« ist und doch zu hoffen ist, daß sie in Welterfolg aufsteigen sollte, und wenn er in unserem Jahrhundert die Wie-
ihrer ganzen universalen Wirklichkeit immer wieder Neues schaffen wird. derentdeckung des Barock und der Allegorie erlebt hätte und all die anderen
Nun hat gewiß auch Hegel — bei aller seiner spekulativen Distanz-zu den Formen, in denen moderne Kunst und Anti-Kunst in gedanklichen Netzen
schlimmen Tatsachen - innerhalb der Erwartungen und Hoffnungen seiner hängen, wäre er vielleicht gar in den Irrtum verfallen, auch in dem Über-
Zeit aus seinem Denken bestimmtere Folgerungen zu ziehen als Zeitgenosse gang von der Poesie in die Philosophie einen geschichtlichen Übergang zu
nicht unterlassen können. Der Standpunkt des absoluten Geistes fällt der sehen. Indessen - das Ende der Kunst wird sich so nicht vorschreiben lassen.
menschlichen Bedingtheit eben schwer. So hat ihn das Ereignis der Juli-
Revolution von 1830 tief bestürzt. Es ist nicht auszudenken, wie er auf die
Ereignisse des 20. Jahrhunderts und seine »Fortschritte« zur »Freiheit aller«
3
reagiert hätte. Ähnlich darf man sich auch mit seinen beiläufig bleibenden DIETER HENRICH, Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit
Urteilen über Gegenwart und Zukunft der Kunst nur in historischer Per- Rucksicht auf Hegel. In: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradig-
ma der Moderne, hrsg. von WOLFGANG ISER. München 1966, S. 11-32. Siehe dazu auch in
spektive beschäftigen. Es bleibt bezeichnend, daß das oben erwähnte Kapitel diesem Band S. 62ff.
Philosophie und Poesie 233

zwischen Poesie und Philosophie, zwischen Bild und Begriff aufteilen woll-
te, was das Alte und das Neue Testament und das Millennium christlicher
Weltdeutung und Weltdichtung in sich vereinen.
So ist es eine Frage von eh und je, warum und aufweiche Weise Sprache,
das einzige Medium des Gedachten wie des Gedichteten, dies Gemeinsame
20. Philosophie und Poesie und dies Différente auszurichten vermag. Gewiß ist es nicht der alltägliche
Gebrauch der Sprache, in dem sich solche Affinität hervorkehrt oder gar bis
(1977) zur Interferenz vollendet. Zwar vermag jegliche Rede stets beides zu evozie-
ren, Bild und Gedanke. Aber das Reden der Menschen gewinnt im allgemei-
nen sinnvolle Bestimmtheit und Eindeutigkeit aus einem Zusammenhang
Es ist eine rätselhafte Nähe, die zwischen Philosophie und Poesie waltet und des Lebens, der durch Situation und Adresse seine Konkretion erhält. Das in
die zuletzt, seit Herder und seit der deutschen Romantik, ins allgemeine solchem konkreten Handlungszusammenhang gesprochene Wort steht also
Bewußtsein getreten ist. Nicht immer mit Zustimmung. Das durfte freilich nicht fur sich. Es >steht< überhaupt nicht, sondern >geht üben — hin zu dem
eher als ein Armutszeugnis des nachhegelschen Zeitalters gelten. Die Uni- Gesagten. Selbst schriftliche Fixierung solchen Sprechens ändert daran
versitätsphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts büßte - nicht erst in der nichts, wenn auch die Aufgabe des Verstehens des so abgelösten Textes
Folge von Schopenhauers Schimpftiraden - gegenüber den großen Außen- eigene hermeneutische Schwierigkeiten hat. Dagegen ist das poetische Wort
seitern und großen Schriftstellern vom Schlage eines Kierkegaard und so gut wie das philosophische imstande, zu stehen und sich in der Abgezo-
Nietzsche, mehr noch durch die Beschattung, die ihr von den leuchtenden genheit des >Textes<, in dem es sich artikuliert, mit eigener Autorität auszu-
Gestirnen der großen Romanliteratur, insbesondere den Franzosen Stend- sagen. Wie kann Sprache solches tun?
hal, Balzac, Flaubert und den Russen Gogol, Dostojewski), Tolstoi wider- Es ist unbestritten, daß Sprache, so wie sie in täglicher Anwendung
fuhr, ihren Rang ein. Sie verlor sich in die Gefilde philosophiegeschichth- begegnet, dazu nicht imstande ist, aber auch, daß sie dessen nicht bedarf.
cher Forschung oder verteidigte in der Sterilität erkenntnistheoretischer Mag sie dem Ideal eindeutiger Bezeichnung des Gemeinten nahekommen
Problematik ihre Wissenschaftlichkeit. Aber wenn in unserem Jahrhundert oder noch so weit von solchem Ideal entfernt sein - man denke etwa an die
die Universitätsphilosophie eine gewisse Geltung zurückgewann - ich nen- politischen Reden—, in jedem Falle steht sie nicht für sich, sondern für etwas,
ne nur die sogenannten Existenzphilosophen Jaspers, Sartre, Merleau-Pon- das in der Praxis des erfahrenen Lebens oder der Erfahrung der Wissenschaft
ty, Gabriel Marcel und vor allen anderen Martin Heidegger - , so geschah das begegnet und woran sich geäußerte Ansichten bewähren oder woran sie
nicht, ohne daß man sich in die Randgebiete poetischer Sprache wagte - und scheitern. Die Worte >stehen< nicht in sich selber. Es ist erst der Lebenszu-
das stieß oft auf herbe Kritik. Der Faltenwurf des Propheten stehe dem sammenhang, der sie - gesprochen oder geschrieben — voll einlösbar werden
Philosophen schlecht, der im Zeitalter der Wissenschaft ernst genommen läßt. Paul Valéry hat in einem geistreichen — allerdings an die alten Zeiten der
werden wolle. Warum läßt man die großen Errungenschaften der modernen Goldwährung anspielenden — Gleichnis das dichterische Wort gegen den
Logik, die in den letzten 100 Jahren ehedem unvorstellbare Fortschritte über alltäglichen Gebrauch der Sprache abgehoben. Das letztere sei wie das
Aristoteles hinaus getan hat, beiseite und dunkelt sich in immer stärkerem Kleingeld der Scheidemünze (und wie unser gesamtes Papiergeld), daß es
Maße hinter poetischen Wolkenschatten ein? den Wert, den es symbolisiere, nicht selbst besitze - wogegen das berühmte
Indessen, Nähe und Ferne, fruchtbare Spannung zwischen Poesie und alte Goldstück vor dem Ersten Weltkrieg den seinem Aufdruck entspre-
Philosophie - das ist nicht erst ein Problem von gestern und vorgestern. Es chenden Metallwert selber besaß. So sei das dichterische Wort keine bloße
begleitet den ganzen Weg des abendländischen Denkens, das sich eben Anweisung für etwas anderes, sondern sei - wie das Goldstück - das, was es
dadurch von aller östlichen Weisheitsrede abhebt, daß es diese Spannung in darstelle.
sich auszutragen hat. Plato spricht von der alten Zwietracht (παλαιά διαφο- Eine ähnliche Aussage für das Wort des Philosophen kenne ich nicht -
ρά) von Poesie und Philosophie, verweist die Poesie aus seinem Reiche der wenn es nicht etwa verborgen liegt in Piatos berühmter Kritik an der Schrift
Ideen und des Guten - und nimmt sie zugleich in sich auf, ein Mythenerzäh- und ihrer Ohnmacht, sich des Mißbrauchs dessen, der sie benutzt, zu
ler, der Feierlichkeit und Ironie, Sagenferne und Helligkeit des Denkens auf erwehren. Denn diese Kritik weist ja auf eine Seinsweise des philo-
unnachahmliche Weise zu mischen weiß. Ebenso mag man fragen, wer sophischen Gedankens hin, die Dialektik des Dialogs, die ihrerseits für sich
234 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Philosophie und Poesie 235

steht, so sehr, daß sie sogar in der dichterischen Mimesis des platonischen verhalten, der in sich stehende Text der Poesie und die sich selbst aufheben-
Dialogs zum Stehen zu kommen vermochte - in einem Texte freilich sehr de, alles Geschehen hinter sich lassende Sprache des Begriffs.
besonderer Art, der den Leser erneut in den Dialog verstrickt, den er Nach einem guten phänomenologischen Prinzip wollen wir diese Frage
darstellt. Denn es baut sich erst im Dialoge oder seiner schweigenden von den Extremen her angehen und wählen daher als Ausgangspunkte das
Verinnerlichung, die wir Denken nennen, Philosophie auf- Philosophie, die lyrische Gedicht und den dialektischen Begriff. Das lyrische Gedicht ist ein
unendliche Anstrengung des Begriffs. Sie läßt die alltägliche Rede mit ihren Extrem, weil es ohne Zweifel am reinsten die Unablösbarkeit des sprachli-
hin und her gereichten Meinungen (δόξαι) hinter sich. Heißt das nicht: Sie chen Kunstwerks von der originalen Spracherscheinung impliziert - wie die
läßt das bloße Wort hinter sich? Unübersetzbarkeit des lyrischen Gedichts in andere Sprachen es beweist.
So scheint die Nähe zwischen Poesie und Philosophie, die in ihrer beider Innerhalb der Lyrik wenden wir uns an deren radikalste Gestalt, die poésie
Absetzung von dem Worttausch der Praxis und dem Anspruch der Erfah- pure, wie sie von Mallarmé programmatisch gestaltet worden ist. Schon die
rungswissenschaften liegt, am Ende doch ganz zu zerfallen. Sind sie nicht Frage der Übersetzbarkeit - mag sie noch so negativ beantwortet werden -
Extreme, das stehende und das am Unsagbaren vergehende Wort? Indes, beweist, daß es sich freilich auch im Extremfalle, bei einer aufs höchste
ihre Nähe behält ihr Recht und läßt sich begründen. Dem ist die folgende gesteigerten Musikalität des dichterischen Wortes, um Musikalität der Spra-
Erörterung gewidmet. che handelt. Es ist das ständig umspielte Gleichgewicht von Klang und Sinn,
Dazu mag als erster Hinweis dienen, daß der Begründer der phänomeno- das sich als dichterische Gestaltung aufbaut. Wenn wir der Analogie folgen,
logischen Philosophie, Edmund Husserl, in der Abwehr aller naturalisti- die Heidegger nahegelegt hat, wenn er sagt, eine Farbe sei nie so sehr Farbe,
schen und psychologistischen Mißverständnisse der Philosophie, die das als wenn sie in dem Gemälde eines großen Malers erscheint, ein Stein nie so
späte 19. Jahrhundert verbreitet hatte, fur das Wesen der Philosophie ein sehr Stein, als wenn er der Säule zugehört, die den Giebel eines griechischen
methodisches Selbstverständnis entwickelte, das er die »eidetische Reduk- Tempels trägt - und jeder von uns weiß ja, daß der Ton der Musik überhaupt
tion« nannte. Die Erfahrung der kontingenten Wirklichkeit wird metho- erst >Ton< ist - , stellt sich die Frage, was es heißen soll, daß das Wort und die
disch ausgeklammert. Das geschieht de facto in allem wirklichen Philo- Sprache im Gedicht am meisten Wort und Sprache sind. Was besagt das för
sophieren. Denn nur die apriorischen Wesensstrukturen aller Wirklichkeiten die Seinsverfassung der dichterischen Sprache? Die Strukturierung der
bilden—von eh und je—das Reich des Begriffs oder, wie Plato es nannte, der Klänge, Reime, Rhythmen, Vokalisation, Assonanz usw. bilden die stabili-
>Ideen<. Wer nun die rätselhafte Besonderheit der Kunst, und damit auch und sierenden Faktoren, die das verhallende und von sich wegweisende Wort
vor allem die der Poesie, zu beschreiben sucht» wird es nicht vermeiden zurückholen und zum Stehen bringen. Sie konstituieren auf diese Weise eine
können, sich ähnlich auszudrücken. Er wird von ihrer idealisierenden Ten- Einheit des >Gebildes<. Aber es ist ein Gebilde, das doch zugleich die Einheit
denz sprechen. Selbst wenn ein Künstler einer noch so realistischen oder einer Rede ist. Das bedeutet, daß im Gedicht die anderen logisch-grammati-
umgekehrt in volle Abstraktheit strebenden Richtung folgt, wird er die schen Bauformen sinnvoller Rede mit am Werke sind, wenn sie auch zugun-
Idealität seiner Schöpfung, ihre Enthobenheit in eine ideelle, geistige Wirk- sten dieser Aufbaumomente des Gebildes zurückzutreten vermögen. Die
lichkeit, nicht leugnen. Husserl, der die eidetische Reduktion, die die Aufhe- syntaktischen Mittel der Sprache können äußerst sparsam eingesetzt wer-
bung aller Wirklichkeitssetzung einschließt, als Methode der Philosophie den. Die einzelnen Worte gewinnen durch ihr Fürsichstehen an Präsenz und
lehrte, konnte daher sagen, daß im Bereich der Kunst diese eidetische an Strahlkraft. Die Konnotationen, die dem Worte seine Inhaltsfulle geben,
Reduktion »spontan erfüllt« sei. Die Einklammerung der Wirklichkeitsset- mehr noch die semantische Gravitation, die jedem Worte von sich aus
zung, die sogenannte »Epoche«, ist immer schon geschehen, wo Kunst innewohnt, so daß seine Bedeutung vieles anzieht, d. h. sich vielfaltig zu
erfahren wird - wie ja in der Tat niemand etwa ein Gemälde oder eine Statue bestimmen weiß, vermögen sich dank dieser syntaktischen Unterbestimmt-
für wirklich hält, nicht einmal im extremen Falle der Illusionsmalerei, die heit frei auszuspielen. Die dadurch zustande kommende Vieldeutigkeit und
noch die Wirklichkeitsillusion in die Idealitätssphäre erhebt und als ästheti- Dunkelheit des Textes mag die Verzweiflung des Interpreten sein - sie ist ein
schen Reiz ausspielt. Man denke etwa an die Deckengewölbe in S. Ignazio in Strukturelement solcher Poesie.
Rom, die diesen Punkt gut illustrieren. All das führt die Rolle des Wortes in der Rede auf ihre ursprünglichste
So stellt sich dort, wo Sprache das Medium ist, die Frage, die insbesondere Möglichkeit zurück, auf das Nennen. Mit dem Nennen ist stets etwas in die
zwischen Philosophie und den sprachlichen Künsten spielt, wie sich diese Gegenwart gerufen. Zwar kann niemals ein einzelnes Wort als solches, ohne
zwei eminenten und zugleich konträren Formen von Sprache zueinander Kontextbestimmtheit, die Einheit eines Sinnes evozieren, der erst im Gan-
236 Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegel Philosophie und Poesie 237

zen einer Rede erzeugt wird. Und wenn gar noch, wie im modernen Stilmittel des Gesanges, Strophe und Refrain etwa, teilt, oder das politisch
Gedicht, die Einheit einer Bildvorstellung gebrochen und überhaupt jede engagierte Gedicht, das die gleichen und dazu noch andere ausgesprochen
beschreibende Haltung verlassen wird — zugunsten überraschender Bezie- rhetorische Formen nutzt. Dennoch bleibt auch in diesen Fällen von der
hungsfülle des Unverbundenen und Ungleichartigen —, fragt man sich, was sprachlichen Erscheinungsweise her der reine Fall der poésie pure bestim-
die Worte, die da nennen, eigentlich meinen. Was wird da genannt? Gewiß mend - so sehr, daß das lyrische Genos des Liedes selten die bruchlose
steht solche Lyrik in der Nachfolge des Barockgedichtes, aber sie läßt doch Übertragung in das Medium der Musik erlaubt, und dort am wenigsten, wo
auch wieder den einheitlichen Hintergrund einer gemeinsamen Bild- und es sich selbst am meisten in sich stellt. Es hat alsdann, mit Hölderlin zu
Bildungstradition vermissen, wie ihn das Barockzeitalter besaß. Wie soll sprechen, zu sehr seinen >Ton<, als daß es sich in eine andere Melodie
sich aus Klangfiguren und Sinnfetzen ein Ganzes bilden? Das führt zu dem transponieren lassen will. Selbst für die >engagierte< Poesie gilt das gleiche
hermetischen Charakter der poésie pure. Maß1. Dort erst recht. Denn alles Gutgemeinte, ζ. Β. in Kriegs- oder Revolu-
Am Ende ist der hermetische Charakter solcher Lyrik in einem Zeitalter tionsdichtung, hebt sich von dem, was >Kunst< ist, deutlich ab, und offenbar
der Massenkommunikationsmittel eine einsehbare Notwendigkeit. Wie soll durch nichts anderes als durch die poetische Formdichte des Gekonnten, die
sich das Wort aus den Fluten des Mitgeteilten noch herausheben? Wie soll es dem bloß Gutgemeinten abgeht. Auch die Simultaneität der Dichtung durch
auf sich versammeln, wenn nicht durch die Befremdung der allzu gewohn- die Zeiten hindurch, ihre Filterung durch den Zeitenabstand, ihre kontinu-
ten Redeerwartungen? Das Nebeneinander der Wortblöcke schichtet sich ierliche Erneuerung und Wiederkehr im Laufe der Zeiten, beruht darauf. In
langsam zum Ganzen des Baues und nicht ohne die Konturen jedes dieser allem Absterben der zeitgenössischen Relevanzen—im Falle der griechischen
Blöcke eigens hervorzukehren. Das geht so weit, daß von manchen bei sehr Tragödie sogar ohne alle musikalisch-choreographische Begleitung - ist der
modernen Gedichten die Einheit des Redesinnes zuweilen überhaupt als reine Text am Leben geblieben, weil er als Sprachgestalt in sich steht.
unangemessene Forderung abgewiesen wird. Ich meine: zu Unrecht. Die Was aber hat das alles mit Philosophie und der Nähe von Gedicht und
Einheit von Sinn ist nicht aufgegeben, wo Rede ist. Aber sie ist auf komplexe Gedanke zu tun? Was ist Sprache in der Philosophie? Es scheint nur sinnvoll,
Art verdichtet. Fast scheint es, als dürfte man die durch Nennung aufgerufe- unter dem gleichen phänomenologischen Grundsatz der Extremfalle die
nen >Sachen< gar nicht wirklich in den Blick nehmen, da die Wortfolge sich Dialektik, insbesondere in ihrer Hegeischen Form, zum Gegenstand zu
gewiß nicht zur Einheit einer Gedankenfolge fügen oder sich in die Einheit machen. Gewiß handelt es sich dabei um eine ganz andere Art von Abstand-
einer Anschauung verschmelzen läßt. Und doch ist es gerade die Feldstärke nahme von der alltäglichen Rede. Nicht deren Prosa droht sich in die
der Worte, die Spannung ihrer Klang- und Sinnenergien, die sich begegnen Sprache des Begriffs einzuschleichen, sondern es ist die Logik des Satzes, die
und tauschen, welche das Ganze bilden. Was Worte heraufrufen, sind An- in die Irre fuhrt - um mich mit Hegel auszudrücken: » Die Form des Satzes ist
schauungen - freilich sich häufende, sich kreuzende, sich aufhebende — aber nicht geschickt, spekulative Wahrheiten auszudrücken.«1 Was Hegel mit
Anschauungen. Kein Wort eines Gedichts meint das nicht, was es besagt. dieser Aussage beschreibt, ist durchaus nicht auf die Besonderheit seiner
Aber es stellt sich zugleich auf sich selbst zurück, damit das Abgleiten in die eigenen dialektischen Methode beschränkt. Im Gegenteil, er stellt damit den
Prosa der Rede und die ihr zugehörige Rhetorik ferngehalten wird. Das ist gemeinsamen Zug alles Philosophierens — mindestens seit Piatos >Wendung
der Anspruch und die Legitimation der poésie pure. zu den Logoi« — heraus. Innerhalb dessen bildet seine eigene Methode der
Es versteht sich, daß der Extremfall der poésie pure auch die anderen Dialektik nur eine besondere Spielart. Die gemeinsame Voraussetzung allen
Formen dichterischer Rede beschreibbar werden läßt. Es ist ja eine ganze Philosophierens ist, daß die Philosophie als solche keine Sprache hat, die
Skala ansteigender Übersetzbarkeit, die vom lyrischen Gedicht über das ihrem eigenen Auftrag angemessen ist. Die Form des Satzes, die logische
Epos und die Tragödie — ein Sonderfall des Übergangs in die Sichtbarkeit, Struktur der Prädikation, der Zuordnung eines Prädikats zu einem gegebe-
•μετάβασις εις äXL· γένος - bis hin zum Roman und zu anspruchsvoller Prosa nen Subjekt, ist zwar unvermeidbar, wie in aller Rede. Aber sie macht die
reicht. Hier überall sind es nicht allein die oben genannten sprachlichen irreführende Voraussetzung, als wäre der Gegenstand der Philosophie gege-
Mittel, die die Stabilität des Werkes tragen. Es gibt die Rezitation oder es ben und bekannt wie die beobachtbaren Dinge und Vorgänge in der Welt.
gibt die Bühne. Oder es gibt einen Erzähler oder gar einen Autor, der - wie Die Philosophie bewegt sich jedoch ausschließlich im Medium des Begriffs,
ein Redner - schreibend spricht. Eben deshalb ist es um die Übersetzbarkeit
bei diesen Formen entsprechend besser bestellt. Aber selbst innerhalb der 1
Vgl. dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 470ff. und meinen Beitrag
lyrischen Gattung gibt es Formen, wie das Lied, das mit dem Gesang die »Die Idee der Hegeischen Logik< in Ges. Werke Bd. 3, S. 65-86.
238 Vom Schönen zur Kunst — von Kant zu Hegel Philosophie und Poesie 239

»in Ideen, durch Ideen, hin zu Ideen« (Plato)2. Die Beziehung der Begriffe telnde Fortbestimmung des Gedankens diese Grenze einzuholen, bleibt
zueinander expliziert sich nicht in einer »äußeren« Reflexion, die einen selber eine bloße Annäherung und vielleicht auf ähnliche Weise begrenzt,
Subjektbegriff von außen, d.h. unter dieser oder jener Hinsichtnahme, die wie die Auslegung eines jeden Gedichts. Jedenfalls war sich Hegel dessen
einer wählt, anvisiert. Hegel hat diese »äußere Reflexion« geradezu als die durchaus bewußt, daß das gediegene Ganze des Gedankens eine nie ganz
»Sophisterei der Wahrnehmung« bezeichnet, eben wegen der Willkürlich- erreichbare Aufgabe bleibt. Er hat selbst von der Verbesserungsmöglichkeit
keit solcher Anvisierung einer Sache, die als die Prädizierung dieser oder seiner Logik gesprochen und hat häufig neue dialektische Ableitungen an die
jener Eigenschaft von einem Subjekt ausgesagt wird. Das Medium der Stelle früherer treten lassen. Das Kontinuum des Gedankens ist, wie jedes
Philosophie ist vielmehr die Spekulation, die Spiegelung der Gedankenbe- Kontinuum, ins Unendliche teilbar. Und wie ist es bei der Poesie? Uner-
stimmungen ineinander, in der und durch die das Denken der Sache sich in reichbare Aufgabe ist hier nicht nur die interpretatorische Ausschöpfung
sich selbst bewegt und artikuliert. In sich selbst - das meint: auf den Begriff eines Gedichts - die Idee der poésie pure bleibt fur das Dichten selbst eine nie
hin, das im Denken Gemeinte in der Totalität und Konkretion, die es ist - ganz erreichbare Aufgabe. Das gilt am Ende furjedes Gedicht. Der Schöpfer
Sein und Geist. Der platonische >Parmenides< galt Hegel als das größte der poésie pure, Mallarmé, scheint von dieser Entsprechung gewußt zu
Kunstwerk der antiken Dialektik, eben weil Plato in dieser Schrift die haben. Jedenfalls wissen wir, daß er Jahre einem intensiven Hegel-Studium
Unmöglichkeit bewies, eine Idee für sich selbst, abgelöst von dem Ganzen gewidmet hat, und es waren die kostbarsten Gebilde seiner Poesie, in denen
der Ideen, zu bestimmen, und Hegel hat richtig erkannt, daß auch bei er die Begegnung mit dem Nichts wie die Beschwörung des Absoluten ins
Aristoteles die Logik der Definition, das Instrument aller begreifenden Wort bannt. Sich gebend, sich entziehend? Es scheint für den Dichter wie für
Klassifikation der Erfahrung, an der eigentlichen Dimension der philo- den Philosophen, von Plato bis Heidegger, die gleiche Dialektik von Ent-
sophischen Prinzipien ihre Grenze findet. Sie sind Erste (άρχαί), nicht klassi- deckung und Entzug im Geheimnis der Sprache zu walten.
fizierbar, sondern einer andersartigen Reflexion allein zugänglich, die er mit Beide Weisen des Redens, das dichterische wie das philosophische, teilen
Plato >Nous< nannte. Diese >ersten<, größten, transzendentalen, d. h. jeden daher einen gemeinsamen Zug. Sie können nicht >falsch< sein. Denn da ist
gattungsmäßig begrenzbaren Sachbereich übersteigenden Gedankenbe- kein Maßstab außerhalb ihrer gegeben, an dem sie sich messen, dem sie
stimmungen bilden in all ihrer Vielfalt eine Einheit. Hegel nennt sie mit entsprechen könnten. Und doch sind sie alles andere als beliebig. Sie sind ein
einem bezeichnenden Singular »die Kategorie«. Sie alle sind »Definition des Wagnis eigener Art — sie können sich selbst verfehlen. Das geschieht in
Absoluten«, nicht Definitionen von Sachen oder Sachbereichen im Stile der beiden Fällen nicht so, daß eine Entsprechung in den Sachen ausbliebe,
klassifikatorischen Logik des Aristoteles, derzufolge sich das Wesen einer sondern so, daß das Wort >leer< wird. Im Falle der Dichtung heißt das, daß
Sache durch einen Gattungsbegriff und die spezifische Differenz bestimmt. es, statt zu klingen, >anklingt<, sei es an andere Dichtung, sei es an die
Sie sind in einem weit wörtlicheren Sinne von >Horos< Grenze und begren- Rhetorik des täglichen Lebens. Im Falle der Philosophie heißt es, daß die
zend. Es sind Abgrenzungen, die sich in der Totalität des Begriffs gegenein- philosophische Rede im Formalen des bloßen Argumentierens steckenbleibt
ander abheben und die nur alle insgesamt die ganze Wahrheit des Begriffs oder in leere Sophisterei verfallt.
sind. Solche Sätze spiegeln somit die Aufhebung ihres eigenen Setzens in In beiden Verfallsformen von Sprache - dem Gedicht, das keines ist, weil
sich selber. Sie heißen spekulative Sätze, Spiegelsätze, wie Heraklits Sprü- es keinen >eigenen< Ton hat, und der leeren Formel des Denkens, die nicht
3
che, die im Gegensatz das Eine, das Weise (εν το σοψόν) sagen . Sie halten den zur Sache kommt — verfehlt das Wort sich selbst. Wo es sich erfüllt, das
Gedanken in sich fest, holen ihn aus aller Äußerung zurück, so daß er >in sich< heißt, wo es Sprache wird, haben wir es beim Wort zu nehmen.
reflektiert wird. Die Sprache der Philosophie ist so sich selbst aufhebende
Sprache - nichtssagend und aufs Ganze gehend zugleich.
Wie die Sprache der poésie pure, die alle Prosa - oder besser: alle gewohnten
Figuren des Rhetorischen - hinter sich läßt, ein Grenzfall ist und ein Maß, so
ist auch die Hegeische Dialektik ein Grenzfall und zugleich ein Maß. Hegels
eigener Versuch, in cartesianischer Methodik durch sich dialektisch vermit-

2
Politeia 511 c 2: εϊδεοιν αύιοϊς Si' αύταν εις σύτά.
3
Siehe dazu meine >Heraklit-Studien< in Ges. Werke Bd. 7, S. 43-82.
Philosophie und Literatur 241

gebenheit erfaßt, hatten bereits der amerikanische Pragmatismus und - in


anderer Weise - die Gestaltpsychologie zum Gegenstand ihrer Studien ge-
macht. Alles Sehen ist immer schon >Auffassen als<. Aber was wir seit
Heidegger erst einsehen, ist, daß es die metaphysische Erbschaft der Grie-
chen war, die den Dogmatismus der >reinen Wahmehmung< heraufgeführt
21. Philosophie und Literatur und unsere Erkenntnistheorie in diese Enge getrieben hat.
Was Heidegger seine radikale Einsicht ermöglichte, beruhte auf dem
(1981) einzigartigen Zusammentreffen, daß Heidegger zugleich in die Schule Hus-
serls und die des Aristoteles gegangen war. Im Unterschiede zu den anderen
Phänomenologen und erst recht im Unterschiede zum Neukantianismus,
Daß das literarische Kunstwerk innerhalb aller sprachlichen Phänomene ein der damals in meiner Jugend die deutsche Szene völlig beherrschte, war
privilegiertes Verhältnis zur Auslegung besitzt und damit in die Nachbar- Heidegger, durch Herkunft und Erziehung vorbereitet und durch die gesun-
schaft zur Philosophie rückt, scheint mit phänomenologischen Mitteln er- de Kraft seines Denkens unterstützt, durch die hohe Qualität einiger seiner
weisbar. Um das überzeugend zu machen, muß man davon ausgehen, daß akademischen Lehrer in der theologischen Fakultät in Freiburg gefördert, zu
sich die zentrale Stellung des Auslegens erst aus der späteren Entfaltung der einem radikal neuen, konkreten Verständnis des Aristoteles gelangt. Das
phänomenologischen Forschung ergeben hat. Für Husserl war das Etwas- sollte Epoche machen. Ich selbst komme aus der neukantianischen Schule
ak-etwas-Auffassen oder gar es auf seine Bedeutung hin, auf seinen Wert hin von Marburg. In Marburg hielt man von Aristoteles gar nichts. Hermann
beurteilen oder behandeln eine höherstufige Form von geistiger Aktivität, Cohen hatte einen besonders drastischen Ausdruck für seine Einschätzung
die sich auf die grundlegende Phänomenschicht der sinnlichen Wahrneh- des Aristoteles: »Aristoteles war ein Apotheker ...« Damit meinte er, Ari-
mung aufbaut. stoteles sei ein bloß klassifizierender Denker gewesen, so wie der Apotheker
Insofern kommt für ihn die hermeneutische Dimension erst später. Für seine Schubkästen und seine Dosen und Gläser hat, auf die er immer ein
ihn war das erste die leibhaftige Gegebenheit des Wahrnehmungsgegenstan- Etikett klebt. Das war gewiß nicht gerade die tiefste Einsicht in den Beitrag,
des in der >reinen< Wahrnehmung. Zwar verhielt sich Husserl selbst in seiner den-Aristoteles zu dem philosophischen Gedanken der Menschheit erbracht
sorgsamen deskriptiven Arbeit durchaus hermeneutisch, und seine Anstren- hat.
gung galt betändig der Aufgabe, die Phänomene >auszulegen<, in immer Heidegger wußte es besser und liebte das »Stahlbad« des aristotelischen
erweiterten Horizonten, mit immer gesteigerter Genauigkeit. Aber er hat Denkens. Er lehrte uns nun, daß noch in Husserls Beginn mit der sogenann-
nicht darüber reflektiert, wie sehr der Begriff des Phänomens selber mit dem ten reinen Wahrnehmung griechisches, aristotelisches Denken unbewußt
>Auslegen< verwoben ist. - Das tun wir seit Heidegger. Er hat uns gezeigt, wirksam war und seine phänomenologische Wendung »zu den Sachen
daß Husserls phänomenologischer Ansatz ein geheimes dogmatisches Vor- selbst« beirrte. Das griechische Erbe drückt sich in der Wendung der abend-
urteil enthielt. Schon Scheler, dessen reger Geist Motive des amerikanischen ländischen Philosophie von der Substanz zum Subjekt bis ins Sprachliche
Pragmatismus und Nietzsches sowie die Ergebnisse der modernen Sinnes- hinein aus. >Substanz< und >Subjekt< sind ja beide zwei mögliche Oberset-
forschung verarbeitet hatte, legte dar, daß es keine reine Wahrnehmung zungen von >Hypokeimenon< oder >Ousia<. Sie besagen eigentlich dasselbe:
gibt. >Reine<, >reizadäquate< Wahrnehmung ist eine Abstraktion, sozusagen das Darunterstehende oder das Darunterliegende, das in allem Wechsel der
die Schwundstufe aller gelebten Weltorientierung. Zu zeigen, daß diese Akzidenzien, im Wechsel der Erscheinungen, unverändert, dauerhaft, be-
Abstraktion von der vollen Konkretion des gelebten Lebens zwar eine der ständig da ist. Der ganze Weg des abendländischen Denkens ist in dieser
Grundvoraussetzungen der >Objektivität< der wissenschaftlichen Forschung terminologischen Tatsache gleichsam wie in einer Nuß beisammen. Wenn
ist, gleichwohl aber ein >ontologisches< Vorurteil hinter sich hat, das man wir heute >Subjekt< sagen, merken wir gar nicht mehr, daß wir damit einen
von der Geschichte der Metaphysik her durchschauen kann, war das große Spezialfall des Zugrundeliegens von etwas Dauerhaftem gegenüber dem
Verdienst von Heidegger. Die Tatsache selber, daß Wahrnehmen im Zu- Wechselnden, einen Spezialfall von Substanz im Auge haben, nämlich den
sammenhang eines pragmatischen Lebenszusammenhanges begegnet und Fall des Bewußtseins, in dem alle seine Vorstellungen, alle seine >Ideen<
daß insofern das primäre Phänomen immer das Etwas-als-etwas-Sehen ist wechseln und das doch >es selbst« bleibt und insofern Selbstbewußtsein ist.
und nicht die sinnliche Wahnehmung, die vermeintlich die reine Subjektge- Ich erinnere an die berühmte Wendung Kants, dieses Zauberwort, bei
242 Die Kunst des Wortes Phikisophie und Literatur 243

dessen geheimnisvollem Klang jeder Anfänger der Philosophie sich in chen und zugleich auf die Zukunft gerichteten menschlichen Erfahrung und
Wahrheit nichts denken kann, die »transzendentale Synthesis der Apperzep- einer Begriffsbildung, die am Kosmos geschöpft worden war. Diese Span-
tion«, Kants technischer Ausdruck für die schlichte Tatsache, daß das »Ich nung reicht durch die ganze Metaphysik hindurch bis zu Hegel, und noch in
denke« alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Es kann keine der Auflösung dieser Tradition der Metaphysik drückt sich das gleiche in
Vorstellung geben, die nicht die Vorstellung dessen ist, der sie selber hat. dem spannungsvollen Gegensatz zwischen den Begriffen des Bewußtseins
Erst mit der Kantischen Anwendung des SubjektbegrifFs setzt die Bedeu- und Selbstbewußtseins auf der einen Seite und der Geschichtlichkeit auf der
tungsdifferenzierung zwischen >Substanz< und >Subjekt< ein. Von nun an ist anderen Seite aus. Wir kennen das als das Problem des Historismus, das die
die ganze moderne Philosophie durch die Reflexionsstruktur der Subjektivi- Geschichte der nachromantischen und romantisch bestimmten Denkweise
tät geprägt. des späten 19. Jahrhunderts beherrscht. Eine Lösung desselben schien nicht
Was Heidegger damit erkannt hatte, ist, daß zwischen der Begriffssprache abzusehen, bis Heidegger auftrat. Er hat uns — mir und vielen anderen —
der Griechen, die ihre Welterfahrung als Physik und als Metaphysik, also im sozusagen darüber die Augen geöffnet, daß die Begriffe, in denen wir
Blick auf den Kosmos, entwickelt hatten, und unserem eigenen modernen, denken, immer schon für uns gedacht haben. Anders ausgedrückt, daß die
durch das Christentum wesentlich mitbestimmten und geformten Welter- Begrifflichkeit, in der wir unsere Gedanken zu fassen suchen, vorprägend ist
fahren eine tiefe Spannung besteht, sofern als Seele, Herz, Innerlichkeit, und das vorbestimmt, was wir von unseren eigenen Denkerfahrungen aus in
Selbstbewußtsein oder vielleicht etwas, das noch tiefer wurzelt als das den Griff bekommen können. Das bedeutete für das Problem des Historis-
Selbstbewußtsein, unser eigenes Daseinsverständnis, die Frage nach dem mus seine kritische Hinterfragung, sofern nun nicht mehr Subjekt, Objekt,
endlich-geschichtlichen Sein, das wir sind, bestimmen. In der Tat hat Hei- Bewußtsein und Selbstbewußtsein, sondern die Zeitlichkeit des Verstehens,
degger, wie ich meine, richtig gesehen, daß die Dimension, in der diese Sich-âtif-etwas-Verstehen wie Sich-als-etwas-Verstehen, die zentrale Stel-
menschlichen Fragen zu Hause sind, sich nicht auf die faszinierende Frage lung gewinnt. In Wahrheit hieß das, daß die Phänomenologie phänomeno-
nach dem Ganzen des Seienden beschränkt. Gewiß, bis zum heutigen Tage logischer geworden ist, sofern sie nicht bei der >Gegebenheit< des >Objekts<
machen wir alle die Erfahrung, daß fast nichts an der Philosophie so populär der angeblich >reinen< sinnlichen Wahrnehmung, sondern in dem Engage-
ist, das heißt, so alle Kreise anzusprechen vermag, wie die kosmologischen ment der praktischen Lebenserfahrung, die immer eine zeitlich-geschichtli-
Fragen. Das bleibt wahr. Aber ebenso ist wahr, daß die kosmologische che ist, ihren Einsatz nimmt.
Grundorientierung der Griechen und die Übertragung der Begriffe, die für Diese in großen Linien gezogene Einleitung sollte lediglich die philo-
die kosmologische Fragestellung von den Griechen entwickelt worden sind, sophische Bedeutung der >Hermeneutik< sichtbar machen und die Frage
auf die christliche Tradition unserer Kultur eine Problematik darstellt, die vorbereiten: Was ist Literatur und was bedeutet Literatur (im Sinne der
uns alle zutiefst angeht. Um es mit einer plastischen Formel zu sagen: Das sprachlichen Kunst) für die Philosophie? Ich habe in meinen eigenen Arbei-
verläßliche Dasein des Weltalls, für das Aristoteles die Garantie seiner Dauer ten die hermeneutische Dimension des Etwas-als-etwas-Verstehens und
darin sah, daß er sein Ungeschaffensein und Unzerstörbarsein durch die Sich-auf-etwas-Verstehens, diese essentielle Zukünftigkeit, die wir sind,
Kraft der begrifflichen Argumentation meinte bewiesen zu haben, wird den Charakter des Entwurfs, auf den hin wir leben - Bloch nannte es das
übertönt durch die Frage des Menschen nach seinem eigenen endlichen Prinzip Hoffnung - , in einer bestimmten Richtung weiter artikuliert. Ich
Dasein und nach seiner Zukunft. Es war die jüdisch-christliche Entdeckung ging von der einfachen Einsicht aus, daß wir nur das verstehen, was wir als
des Vorrangs der Zukunft, die Eschatologie und ihre Verheißung, die eine Antwort auf eine Frage verstehen1. Diese triviale Feststellung gewinnt ihre
Dimension des Weltverständnisses aufriß, die bei den Griechen nur ganz am eigentliche Pointe darin, daß wir gerade auch eine Frage erst verstanden
Rande stand, die Dimension der Geschichte. Daß Geschichte nicht nur haben müssen, bevor wir auf sie eine Antwort geben oder etwas als Antwort
Geschichten sind, Dinge, die man sich erzählt, weil sie geschehen sind und auf sie verstehen können. Jeder kennt es, daß er etwas gefragt wird und weiß
weil sie — als menschliche Schicksale - Interesse haben, sondern daß Ge- nicht recht zu antworten, weil er nicht versteht, was der andere wissen will.
schichte den Gang des Menschengeschlechts durch die Zeiten bestimmt, Die natürlichste Gegenfrage ist dann: Warum fragst du das? Erst wenn ich
und sei es auch in der Gestalt der Heilsgeschichte und der Heilserwartung, weiß,'warum der andere fragt - was er eigentlich wissen will - , kann ich
das hat einen anderen Aspekt menschlicher Erfahrung in den Vordergrund antworten. Diese Beschreibung, so selbstverständlich sie klingt, enthält eine
gedrängt: die Hoffnung. Die gesamte Geschichte des abendländischen Den-
kens durchzieht die Spannung zwischen dieser sich entfaltenden gesdüchtli- 1
Vgl. >Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 368ff.
244 Die Kunst des Wortes Philosophie und Literatur 245

wirklich abgründige Dialektik. Wer stellt die erste Frage, wer versteht diese jeden Mißbrauch von Rede durch die Gegenrede abfängt. Das ist eine
Frage so, daß er sie >richtig< beantworten kann - d. h. wirklich das sagen, platonische Einsicht, die Plato dann in seinem berühmten 7. Brief noch
was er selber meint? Wer hat nicht schon beim Verstehen der Frage das ausdrücklich begründet hat2. Er geht da so weit zu sagen, daß man von allen
Bewußtsein, daß mit ihr bereits seine Antwort vorbeantwortet ist? Es ist die Göttern verlassen sein müsse, wenn man glaube, man könne in schriftlicher
Dialektik von Frage und Antwort, daß in Wahrheit jede Frage selber wieder Form das wirklich Wesentliche und Wahre niederlegen.
eine Antwort ist, die eine neue Frage motiviert. So weist der Prozeß des
Fragens und Antwortens auf die Grundstruktur menschlicher Kommunika- 2. Schriftlichkeit bedeutet jedenfalls den Verlust sprechender Unmittel-
tion, die Urverfassung des Dialogs. Sie ist das Kernphänomen menschlichen barkeit. In allem Geschriebenen fehlt die Modulation, die Gestik, die Beto-
Verstehens. nung usw. Wir kennen alle das Problem des Vorlesens3. Im Unterricht
Wie steht es nun damit im Falle des literarischen Kunstwerks? Was heißt gehört es zur allgemeinen Erfahrung: Wenn ein Schüler einen Satz vorzule-
da >verstehen<? Wenn ich in irgendeiner Abhandlung, in irgendeinem Text sen hat, den er nicht verstanden hat, dann versteht man ihn selber nicht
der Wissenschaft oder in einem Brief oder in einer Notiz einen Satz lese, mehr. Man kann nur verstehen, wenn einer liest, als ob er spräche, d. h.,
dann ist es einfach zu sagen, was da >verstehen< heißt - nämlich, daß ich wenn er so vorliest, daß das nicht mehr ein gleichsam buchstabierendes
weiß, was der andere sagen will. Ich habe die Frage verstanden, auf die hin Abrollenlassen von Worten ist, eins nach dem andern, sondern wenn es wie
das Gesagte seine Bedeutung gewinnt. Dies Modell von Frage und Antwort der lebendige Vorgang des Sprechens vor sich geht, in dem, wie wir in einer
charakterisiert all unser Erkennen in der Wissenschaft wie im praktischen schönen deutschen Wendung sagen, ein Wort das andere gibt. Auch an einer
Leben. Aber wie ist es mit der Sprachkunst, deren Werke wir im eminenten anderen Erfahrung läßt sich das klarmachen. Den Schauspieler, der nicht
Sinne >Literatur< nennen? Ich möchte die Frage in drei Schritten vorbereiten. sehr gut ist, erkennt man unfehlbar daran, daß er immer eine Sekunde zu
früh zu sprechen anfängt und daß man auch weiterhin das Gefühl behält, daß
1. Ist es nicht merkwürdig, daß wir die Meisterwerke der Sprachkunst er immer etwas abliest und nicht wirklich spricht. Das ist in der Tat ein
von der Schriftlichkeit aus bezeichnen? >Geschriebensein< bildet den Hinter- hermeneutisch hochinteressantes Phänomen. Im 18. Jahrhundert, im Zeital-
grund des Wortes >Literatur<. Was macht denn aber das Geschriebensein ter des Pietismus, ist es im Zusammenhang der Hermeneutik der Predigt
gegenüber der Ursprünglichkeit des Gesprochenseins überhaupt bedeut- zuerst beachtet worden. Der Obergang vom älteren Lautlesen oder Vorlesen
sam? Wieso kann, wie es doch der Fall ist, Literatur geradezu ein WertbegrifF zum stillen Lesen markiert dann eine neue Phase, die sowohl für die Kunst
werden, so daß wir zum Beispiel von einem schlechten Gedicht sagen: des Schreibens wie fur das Lesen neue Bedingungen schafft. Das müßte die
Literatur ist das nicht - oder umgekehrt von einem Meisterwerk wissen- Stilanalyse von >Literatur< im Auge behalten. Jedenfalls zeigt auch dieser
schaftlicher Prosa sagen: das ist geradezu Literatur? Wie kommt es und was Tatbestand, daß die Schriftlichkeit eine Minderung bedeutet.
bedeutet es, daß das Geschriebene hier auf den obersten Rang gestellt wird?
Man erinnere sich an die Geschichte, die Sokrates im >Phaidros< erzählt, wie 3. Immerhin, Schriftlichkeit hat auf der anderen Seite eine erstaunliche
Theuth die Schrift erfindet und dem ägyptischen König als eine Erfindung Authentizität. Man läßt sich etwas schriftlich geben, wenn man des Gesagt-
anpreist, die für die Menschheit von ungeheurem Wert sei, da sie das seine gewiß sein will, und man glaubt dem, was schriftlich gesagt ist, eher.
Gedächtnis der Menschheit unendlich stärken werde. Der weise König von Aber daß es überhaupt möglich ist, durch Mitteilung von Worten in der
Ägypten aber entgegnete: Was du erfunden hast, wird nicht zur Stärkung gefrorenen Form der Schrift den vollen Sinn des Gesagten zu erhalten, so
des Gedächtnisses, es wird zur Schwächung des Gedächtnisses fuhren. So- daß durch Schrift das Gesagte wieder ganz >da< ist! Es wird in seinem vollen
krates sah also darin nicht einen Forschritt. Geschweige denn, daß ihm in Sinne wieder sprechend, wenn einer es liest.
den Sinn kam, daß das gesprochene Wort sozusagen durch etwas Höheres Freilich, was Lesen ist und wie Lesen geschieht, scheint mir eines, der noch
überholt werden könnte. Vielmehr sah er das Geschriebene als preisgege- dunkelsten und einer phänomenologischen Analyse am meisten bedürftigen
ben, der Prostitution, dem Mißbrauch, der Verdrehung ausgesetzt. Die Dinge.
Authentizität, die Eigentlichkeit verbindlichen Wortaustausches verliert
2
sich ins Dubiose. Schrift ist hier im Unterschied zur Rede dadurch charakte- Siehe dazu >Dialektik und Sophistik im Siebenten platonischen Briefi, jetzt in Ges.
risiert, daß sie sich nicht selber helfen kann. Der Autor hat sich ausgeliefert, Werke Bd. 6, S. 90-115.'
3
Vgl. dazu auch im folgenden >Stimme und Sprache< (Nr. 22) und >Hören - Sehen -
während er im lebendigen Gesprächsaustausch jedes Mißverständnis und Lesen« (Nr. 23).
246 Die Kunst des Wortes Philosophie und Literatur 247

Wenn man >Lesen< dadurch definiert, daß es schriftlich fixierte Sprache heute viel diskutierten Oral poetry gut beobachten. Die Kodifizierung epi-
wieder zum Sprechen bringt, gewinnt man einen weitesten Begriff von scher oder lyrischer Tradition, die in >Liedern< lebt, ist bereits in den Memo-
Literatur und von Text. In jedem Falle bedeutet der Durchgang durch die nerqualitäten solcher Sprachgebilde angelegt. Eine extrem andere Situation
Schriftlichkeit eine Ablösung von dem ursprünglichen Sprachgeschehen. haben wir dort, wo überhaupt kein Vortragen oder Vorlesen mehr voraus-
Was wir als Literatur auszeichnen und erst recht das literarische Kunstwerk gesetzt ist, sondern nur eigenes bzw. stilles Lesen. Aber auch da ist im Falle
sind aber nicht allein negativ zu bestimmen. Es ist nicht nur das Fixierte des des literarischen Kunstwerkes mehr erwartet als die bloße Übermittlung
gesprochenen Wortes, das in seiner Kommunikationskraft immer ein ge- eines abstrahierbaren Inhalts. Die sprachliche Erscheinung soll ebenfalls
schwächtes Wort ist. Literatur und erst recht das sprachliche Kunstwerk sind übermittelt werden, aber gewiß nicht die des ursprünglichen Sprechaktes.
vielmehr ein aufrichtiges Gelesenwerden von sich aus angelegtes Wort. Auch diese Übermittlung setzt vielmehr die Ablösung von dem ursprüngli-
Je nach den Bedingungen, unter denen das Schriftliche gebraucht werden chen Sprechen voraus und hat an der Idealität teil, die aller Schriftlichkeit,
soll, wird sich daher die schriftliche Fixierung modifizieren. So werden wir aller Literatur und jedem Text, zukommt. Zur konkreten Veranschauli-
etwa unterscheiden müssen: die Notiz zum eigenen Gebrauch, für deren chung dessen denke man daran, wie es einem geht, wenn man Verse oder
Benutzung das eigene Gedächtnis vorausgesetzt wird; ferner den Brief, der Prosa, die man besonders liebt und im Ohr hat, einmal durch den Dichter
dank der Bestimmtheit seiner Adresse seinerseits gewisse Bedingungen des selber vorlesen hört. Ich will dabei annehmen, daß er seine Sache gut macht,
Verstehens voraussetzen kann; und endlich alle Formen von Publikation, die was gar nicht selbstverständlich ist. Ein guter Dichter ist nicht immer ein
einen unbestimmten Leser ansprechen. Damit sich in solchem Falle die guter Sprecher. Aber in jedem Falle erfährt man etwas wie einen Schreck.
Mitteilungsabsicht erfüllt, bedarf es mehr oder minder einer Art Kunst des Warum hat er gerade diese Stimme? Warum skandiert, akzentuiert, modu-
Schreibens. In allen Fällen teilt die Schriftlichkeit die Intention des Sprechens liert und rhythmisiert er seine Verse gerade so, wie er es tut, und nicht
mit, soweit die Übermittlung eines fixierbaren Inhalts damit angestrebt genauso, wie ich sie im Ohr habe? Auch wenn ich ihm unterstelle, daß er
wird. Alle diese Formen der Schriftlichkeit vollbringen daher die Ablösung richtig betont und mit Sinn für die Klangstruktur seine eigene literarische
von dem ursprünglichen Sprechakt und verweisen nicht primär auf den Schöpfung vorträgt, bleibt ein Moment der Kontingenz darin, etwas Un-
Sprecher zurück, sondern auf das von ihm Gemeinte. Aller Schriftlichkeit ist wesenhaftes, das das, was mir wesentlich ist, zu verdecken scheint. Meine
daher eine Art Idealität eigen4. These ist nun, daß das literarische Kunstwerk mehr oder weniger sein
Ich weiß dafür kein anderes Wort als das von Plato eingeführte. Dies Wort Dasein für das innere Ohr hat. Das innere Ohr vernimmt das ideale Sprach-
ist auch fur die Seinsart des Mathematischen brauchbar, ohne die metaphysi- gebilde — etwas, was keiner je hören kann. Denn das ideale Sprachgebilde
sche Ideenlehre Piatos zu implizieren. >Idealität< kommt in Wahrheit nicht verlangt von der menschlichen Stimme Unerreichbares - und eben das ist
nur der Schriftlichkeit, sondern auch dem ursprünglichen Sprechen und die Seinsweise eines literarischen Textes5. Diese Idealität macht sich natür-
Hören zu, sofern sich dessen Inhalt von der Konkretion des Sprechaktes lich auch geltend, wenn man selber versucht, etwas vorzulesen oder laut vor
ablösen und erneut wiedergeben läßt. Das Ideal-Identische zeigt sich darin, sich hin zu sprechen. Wir sind uns mit unserer eigenen Stimme und dem
daß solche Wiedergabe möglich ist und mehr oder minder angemessen sein Grad, wie ihr Modulation und Betonung gelingt, genauso zufällig.
kann. Gleiches gilt nun vom Lesen. Nur weil der Text in reiner Idealität für Wo sind wir hier auf einmal hingekommen? Zu einer Schriftlichkeit, die
uns da ist, ist es uns möglich zu sagen, jemand lese gut oder schlecht vor. Ein der Sprache noch voraus ist, und zwar unerreichbar voraus! >Literatur< bleibt
gut vorgelesener Text ist ein mit Verständnis vorgelesener und ist entspre- nicht, wie es in dem ersten Zugang zur Schriftlichkeit schien, hinter der
chend verständlich. Einen schlecht vorgelesenen Text kann niemand verste- Sprache unvermeidlich zurück. Vielmehr ist Literatur zwar sprachliches
hen. Kunstwerk, aber als solches ein Schriftliches, das aller möglichen Verlautli-
Nun tritt aber eine gewaltige Modifikation ein, wenn es sich um einen chung voraus ist. Das soll natürlich nicht heißen, daß man Dichtung nicht
literarischen Text im Sinne des sprachlichen Kunstwerkes handelt. Da geht auch laut vorlesen soll. Das hängt davon ab, was es für Literatur ist. Das
es nicht nur darum, Gemeintes zu verstehen, sondern es gerade auch in Versepos verlangt mehr nach >Rezitation< als der Roman. Das >Theater<-
seiner sprachlichen Erscheinung zu vollziehen. Das literarisch fixierte Wort Stück drängt ohnehin auf die Bühne. Aber selbst wenn es nur zum Lesen
ist in solchem Falle auf das Gehörtwerden angelegt. Das läßt sich etwa an der
5
Siehe dazu >Text und Interprétation, in Ges. Werke Bd. 2, S. 330-360 sowie Z w i -
Vgl. >Wahrheit und Methode (Ges. Werke Bd. 1), S. 393ff. schen Phänomenologie und Dialektik<, ebd. S. 17 ff.
248 Die Kunst des Wortes Philosophie und Literatur 249

gedacht ist und nicht für die Bühne, wird es nur als Vorgelesenes ganz ist nichts wert, er bedeutet nur etwas als der Schein, der er ist, und kann
dasein. Doch es gibt nach meiner Überzeugung große Literatur, die man dadurch seine kommerzielle Funktion ausüben.
nicht laut vorlesen kann, weil das Sprechen hier ein In-mich-hinein-Spre- Von dem Wort, das im Alltag gesagt wird und rein kommunikativ
chen sein müßte, vor allem bei Lyrik. Ich würde zum Beispiel sagen, daß fungiert, gilt in der gleichen Weise, es bedeutet nur etwas. Es ist nichts in
Rilke ein solcher Dichter ist, der mehr Meditation als Rezitation verlangt. sich selbst. Das heißt, ich bin immer schon bei dem, was mir da gesagt und
Während ich etwa umgekehrt sagen würde, daß Schiller oder Goethe oder mitgeteilt wird. Wenn ich einen Brief bekomme und ihn gelesen habe,, hat er
George in deutscher Sprache Beispiele einer Sprachkunst sind, die man wie das Seine getan. Manche Menschen zerreißen jeden Brief, sobald sie ihn
Musik zu Gehör bringen möchte — auch wenn dies immer eine unendliche gelesen haben. Darin drückt sich aus, was zum Wesen solcher sprachlichen
Aufgabe bleibt, die, wie gezeigt, nie ganz so ideal gelöst werden kann, wie Mitteilung gehört, daß sie, wenn man sie empfangen hat, das Ihre getan hat.
das >innere< Ohr es möchte. Indessen, das Gemeinsame in aller >Literatur< Dagegen wissen wir alle, daß etwa ein Gedicht dadurch, daß ich es kenne,
liegt offenbar darin, daß jedenfalls der Schreiber selber verschwindet, weil er nicht abgetan ist. »Das kenne ich ja schon!« wird niemand von einem guten
die sprachliche Erscheinung der Idee nach so voll determiniert hat, daß Gedicht sagen und sich abwenden. Da ist es umgekehrt. Je besser ich es
nichts hinzugetan werden darf. Alles ist in den Worten des Textes, so wie sie kenne, je mehr ich es verstehe — und das heißt: auslege und wieder zusam-
als Text erscheinen. Wir nennen das die Kunst des Schreibens. menlege — und gar, wenn ich es auswendig, wenn ich es in- und auswendig
Es ist an sich trivial, daß zu einem literarischen Kunstwerk die Kunst des kenne, desto mehr sagt mir ein wirklich gutes Gedicht. Es wird nicht ärmer,
Schreibens gehört. Aber worin besteht diese Kunst? Von >Kunst< reden wir sondern reicher. Wir kennen das auch aus anderen Gebieten der Kunst. Es ist
doch auch in allen möglichen Annäherungen, z. B. beim mündlichen wie die charakteristische Auszeichnung der Werke der Kunst überhaupt, die sich
beim schriftlichen Erzählen. Was ist da geschehen, wo wir etwas ein Gedicht so darstellt - und deshalb verweilen wir bei ihnen. Die Erfahrung des
oder eine Dichtung nennen? Welcher qualitative Sprung ist da getan? Mir Schönen - das hat niemand so gut beschrieben wie Kant in der >Kritik der
scheint, daß die Textlinguistik von heute diese Frage nicht genug fragt (ζ. Β. Urteilskraft« - bedeutet eine Belebung unseres gesamten Lebensgefühk.
Ricœur oder Derrida). Man verläßt eine Sammlung großer Werke der bildenden Kunst wie ein
Hier muß im Textbegriff ein weiterer und ein engerer Sinn unterschieden Theater oder einen Konzertsaal in einer Erhobenheit des gesamten Lebens-
werden. Der Begriff des Textes ist selber ein hermeneutischer. Wir berufen gefühls. Die Begegnung mit einem großen Kunstwerk ist immer, würde ich
uns auf den Text, wenn wir gegebenen Auslegungen nicht folgen können. sagen, wie ein fruchtbares Gespräch gewesen, ein Fragen und Antworten
Umgekehrt bleiben wir nie beim >bloßen Buchstaben< stehen, wenn wir oder ein Gefragtwerden und Antwortenmüssen — ein wahrer Dialog, bei
»verstehen«. Der Gegensatz von >spiritus< und >littera< ist im Verstehen dem etwas herausgekommen ist und >bleibt<.
aufgehoben. Insofern ist auch im weitesten Begriff >Text< auf >Verstehen< Beim literarischen Kunstwerk läßt sich das besonders leicht zeigen. Aus
bezogen und ist der >Auslegung< fähig. Aber ein Text, der ein literarisches methodischen Gründen möchte ich hier eine andere Orientierung wählen als
Kunstwerk ist, scheint mir ein Text im eminenten Sinne. Erist der Ausle- Ingarden, obwohl gerade Ingardens Untersuchung des literarischen Kunst-
gung nicht nur fähig, sondern bedürftig. Vielleicht darf ich einen ersten werks6 am Roman sehr fruchtbare Ergebnisse hatte. Der Roman scheint mir
Schritt zur Begründung dieser These in der Form machen, daß ich sage: Die jedoch ein Spätgenos von Literatur und stellt eine Mischform dar, an der die
erste Erfahrung, die wir mit >Literatur< machen, ist, daß ihre sprachliche wesentlichen Funktionen des dichterischen Wortes nicht so klar abgelesen
Erscheinung nicht, wie sonst Sprachliches, im Verstehen durchschritten und werden können. Ich wähle daher das lyrische Gedicht, das in seiner extrem-
hinter einem gelassen wird. Es gibt einen sehr plastischen Vergleich, in dem sten Form, dem Mallarméschen Ideal der poésie pure, alle Formen der Rheto-
Paul Valéry den Unterschied zwischen dem dichterischen Wort und dem rik, das heißt des alltäglichen Redegebrauchs, fast ganz hinter sich gelassen
Alltagswort durch den Unterschied zwischen der Goldmünze von einst und hat. Die Mittel der Grammatik und der Syntax werden so sparsam wie
dem Geldschein von heute darstellt. Wir haben es noch in der Schule gelernt: möglich verwendet. Im Grunde bleibt alles der eigenen Gravitationskraft
Wenn du einen Hammer nimmst und haust auf ein goldenes Zwanzigmark- der Worte anvertraut, so daß die Klangbewegung und die Sinnbewegung
stück darauf, so daß man nichts mehr von der Prägung sieht, und gehst zum des sprachlichen Ganzen in eine unauflösliche strukturelle Einheit zusam-
Juwelier, dann gibt er dir wieder zwanzig Mark. Die Münze ist ihren Gehalt
wert - er steht nicht nur darauf. Das ist ein Gedicht: Sprache, die nicht nur 6
ROMAN INGARDEN, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung auf dem Grenz-
etwas bedeutet, sondern das ist, was sie bedeutet. Der Geldschein von heute gebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft (1931). Tübingen 41972.
250 Die Kunst des Wortes Philosophie und Literatur 251
mengehen. Man sollte nicht verkennen, daß gerade auch die Bedeutungen derzunehmen. Da ist jene erste Schicht von Wortbedeutung, die mit der
der Worte und der von ihnen angezielte Sinn der Aussage an der struktu- Sprachgebundenheit als solcher ins Spiel kommt und die Husserl durch die
rellen Einheit des literarischen Gebildes mitbeteiligt sind. Darin scheint mir Begriffe >Intention< und >Erfüllung< beschrieben hat. Ihr entspricht im Bild-
geradezu eine Schwäche der bedeutenden Leistungen der Strukturaasten zu schaffen wohl der ikonographische Aspekt - in anderen Kunstarten dürfte es
liegen, daß sie auf dem Felde der Literatur — in begreiflicher Reaktion auf die ähnliches geben. Man denke an den Schwan der Pawlowa im Kunsttanz oder
verbreitete prosaische Art, Poesie zu lesen, und die nicht minder verbreitete an die sogenannte Programmusik, wo vergleichbares Wiedererkennen vor-
intellektuelle Art, sie zu verstehen - die Sinnmelodie von Dichtung unterbe- liegt. - Eine zweite Schicht ist das, was Ingarden am Roman als den Schema-
lichtet lassen und zu einseitig auf die Klangstrukturierung allein gerichtet charakter der Sprache herausgearbeitet hat. Die Ausfüllung des Schemas ist
sind. Hier liegt etwa in der Schule von Roman Jakobson eine Gefahr, die er variabel, auch wenn der Text als sprachliches Gebilde ein und derselbe ist -
selbst wahrscheinlich nicht ableugnen würde 7 . Auch auf die Sinnbewegung und das so sehr, daß er selbst durch die beste Übersetzung an Evokations-
kommt es in Wahrheit an, und das selbst dann, wenn dieselbe von ausdrück- kraft verliert. - Schließlich wird man eine dritte Schicht unterscheiden
licher Verständlichkeit noch so fern scheint. können, in der sich die sprachliche Evokation vollendet. Sie ist das, was ich
Wie mir scheint, sind da schlimme Verwechslungen im Schwange. Auch in allgemeinerem Zusammenhange den Vorgriff der Vollkommenheit ge-
Kenner ersten Ranges verteidigen - seit Hugo Friedrichs bekanntem nannt habe10, und so etwas gehört zu aller Sinnerfassung. In der spezifisch
Buch 8 -, daß die moderne Literatur unverständlich sei, und realisieren nicht dichterischen Realisierung findet dieser Vorgriff seine Vollendung darin,
die Konsequenz, daß sie damit ihren Sprachcharakter überhaupt ableugnen daß er das- Gedicht zum >Diktat< macht, das man nur noch annehmen kann.
müßten. Etwas wird immer verstanden — und Verstehen heißt immer Ge- Man kann sich fragen, ob diese drei Schichten in allen Kunstarten unter-
winn einer gewissen Vertrautheit mit Sinnvollem. Gewiß gibt es verschie- scheidbar sind—insbesondere wenn das Mimetische und der Abbild-Begriff
dene Grade solcher Vertrautheit — etwa mit dem, was man die >Sage< nennen aufgegeben werden 11 . In jedem Falle bleibt, daß beim sprachlichen Kunst-
könnte. Ein so eigenwilliger und auf so ungewohnte Weise vorgetragener werk eine erste Ebene von bedeutungsvollen Zeichen und von sprachlichem
Mythos wie der Hölderlins in seinen späten Hymnen 9 erschien selbst seinen Sinn impliziert ist, die bei keiner anderen Kunstart angetroffen wird. Wei-
Zeitgenossen, die an die humanistisch-christliche Mythologie gewöhnt wa- terhin kann man sich fragen, ob sich zur Schemaausfüllung des sprachlichen
ren, sogar seinen Freunden unter den romantischen Dichtern, die eine neue Kunstwerks in anderen Kunstarten Analoges findet. Etwa so, wie wenn
>ästhetische Mythologie< proklamiert hatten, als unverständliche Wahn- Musik, die einen Notentext zur Ausführung bringt, nicht so sehr als Repro-
sinnsgeburt. Vollends ist die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts nicht duktion verstanden würde - wie man etwa im literarischen Theater den Fall
mehr von einer verbindlichen mythischen Überlieferung gespeist und wird der Reproduktion als gegeben ansehen möchte —, sondern als Ausfuhrung
nicht in dem Sinne verstanden, in dem eine lebendige mythische Überliefe- einer bloßen Handlungsanweisung, die innerhalb des Vorgezeichneten freie
rung sich von selbst versteht. Aber Sprache ist es, Rede ist es, und gesagt Ausfüllung zuläßt. In Wahrheit gibt es aber in der Musik klare Unterschiede
wird etwas, und wie es gesagt ist, so steht es da: Sage, die vieles sagt. Gewiß zwischen dem auszuführenden Notentext und den besonderen Freiheiten in
mag es noch mehr als bisher so sein, daß wir das Gesagte im Wort des der >Aussetzung< oder gar in den sogenannten > Verzierungen. Auch gibt es
Begreifens nicht zu fassen vermögen. Es ist nichts darin wiederzuerkennen, gute Gründe, Musik wie Theater zu den reproduktiven Künsten zu zählen.
das wir schon kennen und das wir anderen selber zu sagen oder zu zeigen Es ist ein neuer Wirklichkeitsstoff, in dem das Werk als ein und dasselbe für
wüßten. Aber es gewinnt gleichwohl am Ende etwas wie eine hermeneuti- alle in gleicher Weise zur Aufführung kommt. Dagegen ist >Lesen< nicht eine
sche Identität. Es beginnt zu sprechen. innere Theateraufführung, sondern entspricht am ehesten dem tätigen Mit-
gehen des Zuschauers oder Zuhörers bei einer Aufführung. Beider Einbil-
Es bedürfte einer genaueren Analyse, das Ineinander der durch Klang und
dungskraft ist tätig, Freiräume, die der Text oder das Spiel beläßt, auszufül-
Bedeutung bewirkten dichterischen Evokationskraft der Sprache auseinan-
len.
7
Vgl. meine Laudatio auf Roman Jakobson in: R. JAKOBSON / H.-G. GADAMER / E.
10
HOLENSTEIN, Das Erbe Hegels II. Frankfurt 1984. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 299ff. Vgl. auch Ges. Werke Bd. 2,
8
HUGO FRIEDRICH, Die Struktur der modernen Lyrik. Reinbek b. Hamburg 1956, erw. S 61 ff.
11
Aufl. 1967. Siehe dazu >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 118ff. und in diesem
9
Vgl. dazu meine beiden Studien >Hölderlin und die Antike< und >Hölderlin und das Band >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4), >Dichtung und Mimesis< (Nr. 8) und >Das Spiel
Zukünftige^ jetzt in Bd. 9 der Ges. Werke, S. 1-38. derKunst<(Nr.9).
252 Die Kunst des Wortes Philosophie und Literatur 253
Was aber allen Künsten völlig gemeinsam ist, scheint mir die dritte die Einheit von Sinn und Klang offenbar so innig, daß man in einem anderen
Schicht. So wie der Vorgriff der Vollkommenheit aller Sinnerfassung über- Sprachstoff nur mittelbare Annäherungen schaffen kann oder ganz neue
haupt zukommt - was wir am Überlesen von Mängeln, zum Beispiel von Dichtungen an die Stelle der originalen Dichtungen setzen muß. In einem
Schreib- und Druckfehlern, ständig erfahren - , so ist es jedem Kunstwerk guten Gedicht haben wir ein unauflösbares Geflecht, ein so dichtes Zusam-
eigen, daß wir es als eine zwingende Aussage in uns aufbauen, um sie ganz rnengewirktsein von Klang und Bedeutung, daß schon kleine Änderungen
gelten zu lassen. Es ist paradox genug, daß man gleichwohl von Kunstkritik im Text das ganze Gedicht zu zerstören vermögen.
spricht. Sie besteht in Wahrheit nicht so sehr darin, daß man am Kunstwerk Ich möchte das an einem konkreten Beispiel zeigen und erinnere zugleich
Gutes und Schlechtes unterscheidet, als vielmehr darin, daß man etwas als daran, daß im Gedicht auch der Sinnzusammenhang unentbehrlich ist und
ein >gelungenes< Kunstwerk vom mißlungenen oder gar vom bloßen Mach- für das Gesamtgebilde entscheidend sein kann (und durchaus nicht nur die
werk unterscheidet. Das hat Kant in seiner Analyse des Geschmacksurteils >Struktur< der Phoneme). Es gibt ein berühmtes Hölderlin-Gedicht, das auf
richtig gesehen. Das Geschmacksurteil ist nicht ein Urteil über ein Schönge- Sophokles geht. In den alten Ausgaben las man da: »Hohe Tugend versteht,
fundenes, sondern das Schönfinden selber. Damit soll nicht bestritten wer- wer in die Welt geblickt, und es neiget der Weise am Ende dem Schönen
den, daß es auch mögliche kritische Ausstellungen gibt. Aber die Struktur sich. « Seit etwa 30 Jahren wissen wir, daß das ein Druckfehler oder Lesefeh-
bleibt die gleiche: Das Nichtgelungensein wird >kritisch< erfahren. Darin ler war und daß das Gedicht heißt: »Hohe Jugend versteht, wer in die Welt
hegt durchaus nicht, daß der Kritiker es besser machen kann oder positiv zu geblickt, und es neiget der Weise am Ende dem Schönen sich.« Auf einmal
sagen wüßte, wie man verbessern könnte. ist das Gedicht ein ganz anderes, und jetzt ist es erst wahrhaft da. Solange der
Auch müßte über das Wechselhafte in der Bereitschaft zu solchem >Auf- alte Text stand, war das mehr Schiller ab Hölderlin. Das sagt nichts gegen
füllen< reflektiert werden, so daß die bleibende >Qualität< von den okkasio- Schiller, aber wenn Hölderlin wie Schiller ist - und so hatten die früheren
nellen Relevanzen und Resonanzen abhebbar wird. Herausgeber den jungen Hölderlin im Ohr —, ist er noch nicht er selbst.
Entsprechend ist die negative Erfahrung, die den Vorgriff der Vollkom- Wenn man statt >Tugend< >Jugend< liest, bedeutet das fürs Klangliche kaum
menheit im Falle der Literatur scheitern läßt. Da geht es nicht um eine eine Änderung, wenn auch die richtige Lesart eine sanftere Klangführung
kritische Ausstellung am Text (oder eine Reihe solcher Ausstellungen), darstellt, die sich an den Schmelz der Jugend schmiegt. Aber jetzt erst ist
sondern da gibt es den Umschlag, der es überhaupt nicht mehr als Kunst- vom Sinn her die Geschlossenheit des Gebildes vollkommen erreicht. Die
werk sprechen läßt - sei es, daß wir es langweilig oder leer, oder lächerlich, Gemessenheit des dichtenden Tanzschrittes, der den Kreis durchschritten
sentimental, imitatorisch finden und es >aufgeben<. hat, ist wirklich da. Jetzt weiß man plötzlich, warum der Weise zum Schluß
Doch kehren wir zu Valérys Gleichnis zurück: Wie kommt es, daß ein »dem! Schönen« sich neigt, dem durch Jugend Schönen, das durch keinen
solches Goldstück von Worten auf einmal sich selber wert ist? Es ist, was es resignierten Weltverstand davon abgebracht wird, an das Hohe zu glauben.
ist, und das heißt, daß Sprachliches hier eine eigene Wertbeständigkeit Damit hat das Gedicht seine volle Balance gefunden, und man spürt, daß der
gewinnt und in ständige Gegenwart hervorkommt. Das sprachliche Gebilde eine Buchstabe das Ganze erst in sich zusammengeschlossen hat.
erwirbt auf diese Weise geradezu eine eigentümliche zeitliche Gegenwart. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, daß ein Buchstabe alles entschei-
Heidegger hat einmal in einem berühmten Aufsatz gesagt, im Kunstwerk det. Es gibt in der Überlieferung der Texte manche Buchstaben, die unsicher
komme alles erst wahrhaft heraus. Farbe sei nie so sehr Farbe wie in der sind, ja ganze Worte, Vers-Enden usw. Bei dem Erhaltungszustand etwa
Koloristik eines großen Malers, Stein sei nie so sehr Stein, als wenn er in unserer griechischen oder unserer lateinischen Literatur wäre es schlimm,
einer griechischen Säule den Architrav trägt. Was heißt es nun, wenn man wenn jeder Buchstabe die gleiche Wichtigkeit hätte. Aber das Extrem macht
entsprechend sagt: Wort ist nie so sehr Wort wie im sprachlichen Kunst- deutlich, was das eigentliche Wunder ist — daß Sprache im Gedicht zu etwas,
werk? 12 Wie kann ein Wort mehr Wort sein als ein anderes, das dichterische was sie im Grunde ist, zurückkehrt, zu der magischen Einheit von Denken
mehr als das im Alltagsgebrauch verfließende? und Geschehen, die uns aus dem Dämmer der Urzeit ahnungsvoll entgegen-
Es gibt eine naheliegende Illustration dafür, die einem das Problem sofort tönt. Was also Literatur auszeichnet, ist dies Hervorkommen des Wortes, so
vor Augen stellt: die Unübersetzbarkeit von Lyrik. Im lyrischen Gedicht ist daß in ihm die unersetzbare Einzigkeit des Klanges mit einer unbestimmba-
ren Vielstimmigkeit von Sinn den Sinn des Ganzen zur Aussage bringt. Das
12
Vgl. dazu >Text und Interprétation in Ges. Werke Bd. 2, S. 352 ff. Siehe auch in ist es, was ich am Beispiel Maliarmes im Auge hatte. Das Gedicht schafft der
diesem Band >Von der Wahrheit des Wortes<, S. 46ff. Gravitationskraft der Worte Raum und vertraut sich ihr an, im Gegensatz
254 Die Kunst des Wortes Philosophie und Literatur 255
zur Grammatik und Syntax, die unsere >Verwendung< der Worte regelt. der Polizist mit seiner Aussage ein Teil des >Stückes< war, das hier in der
Darin besteht die dichterische Inkarnation von Sinn in Sprache, daß sie sich Form eines Schauspiels vor uns ablief.
nicht in die Eindimensionalität von Argumentationszusammenhängen und Sicher eine drastische Geschichte, an der man sehen konnte, wie sich hier
logischen Abhängigkeitslinien einfügen muß, sondern durch die Vielstel- etwas seine Autonomie selber verleiht. Aber es ist genau dasselbe, was wir
ligkeit eines jeden Wortes - so hat es Paul Celan einmal genannt - dem gegenüber rein sprachlichen Texten immer wieder erfahren. Husserl hat,
Gedicht sozusagen die dritte Dimension gibt. wie ich meine, einen guten Wink gegeben, wie sich die Aufhebung der
So ist es wirklich. Bei einem Gedicht denken wir nicht so sehr an Zeich- Realitätserwartung im Falle des Kunstwerks vollzieht, ohne daß man unge-
nung oder gar an Bezeichnung von Bekanntem, sondern am ehesten an mäße Kategorien von Fiktion, Illusion usw. ins Spiel bringen müßte. Er
Skulptur, an Plastik und vielleicht gar an die vieldimensionalen Klangräu- bemerkte öfters im Zusammenhang der Lehre von der eidetischen Reduk-
me der Musik. Es ist ein eigentümliches Ineinander von Einzigkeit der tion, dieselbe sei im Falle des Kunstwerks »spontan erfüllt«13. Die oben
Klangerscheinung und Vielstimmigkeit, das dem einzelnen Worte ein gan- erzählte Geschichte illustriert das Spontane solcher »Einklammerung« der
zes Bezugssystem zuordnet und uns das Ganze wie ein einziges Gewebe Realität vortrefflich und ebenso die neue Erwartung, daß nicht nur eine
erscheinen läßt. Wir gebrauchen fur diese Struktur des dichterischen Gebil- Erwartung enttäuscht wurde, sondern daß das >Spiel< uns etwas sagt.
des ein sehr sprechendes Wort, wenn wir es >Text< nennen. Text heißt Ich gebe noch ein anderes Beispiel aus dem visuellen Bereich, das alle
>Textun, Text meint ein Gewebe, das aus Einzelfaden besteht, die so inein- kennen. Bei der heutigen Reproduktionskunst sehen wir in den Zeitungen
ander verwebt sind, daß das Ganze ein Gewebe von eigener Textur wird. viele fotografieähnliche Reproduktionen — und man erkennt unfehlbar,
Nun mag man sagen, daß das in gewisser Weise fur jede Einheit einer wenn es sich um eine Theater- oder Filmreproduktion oder die eines Gemäl-
Aussage gültig und nicht auf das literarische Kunstwerk beschränkt ist. des handelt und nicht um Wirklichkeitsreportage14. Warum? Es ist zu wirk-
Aber im dichterischen Kunstwerk empfängt das Gewebe des Textes eine lich. So wirklich ist die Wirklichkeit nicht. Es ist alles so sehr kondensiert
neue Fertigkeit. Das ist in der Tat ein Gedicht - ein Text, der sich in sich und so komponiert, daß man sich nicht leicht irrt und das Bild nicht als ein
selbst durch Sinn und Klang zusammenhält und zur Einheit eines unauflös- glücklich festgehaltenes Geschehen, sondern als eine künstliche Verdich-
lichen Ganzen schließt. tung nimmt.
Mein Beispiel war, wie ich auch begründet habe, der Fall des lyrischen Man könnte fortfahren, auch an rein sprachlichen Gegebenheiten den
Gedichtes. Es ist klar, daß auch andere Formen von Sprache, etwa die Übergang in die Autonomie des literarischen Textes zu illustrieren. Da wäre
epische oder die dramatische Sprache, ähnliche strukturelle Einheitsbil- ζ. Β. das Verhältnis von historischer Darstellung und historischem Roman,
dung bewirken. Steigende Grade der Übersetzbarkeit zeigen an, daß in oder für den Komponisten das Verhältnis eines >Liedes< zum Liedtext, das
diesen Fällen die Klangfäden eine verminderte Funktion haben und die sogar zu einer halben Identität zu verschmelzen vermag. Wer hört »Du bist
Einheitsbildung durch anderes getragen werden kann. Orplid, mein Land«, ohne es in Hugo Wolfs Tonsatz zu denken? Solche
Das möchte ich an einer Geschichte verdeutlichen, die-den allerdings Übergangsphänomene lassen das, was fast ununterscheidbar ist, in seinen
etwas komplizierten Fall der Reproduktion zur Grundlage hat, eine Thea- Unterschieden für das Denken gerade hervortreten.
tererfahrung. Die Geschichte kann demonstrieren, wie das Werk der Lite-
ratur oder der Kunst sich durch sich selbst zur Einheit schließt, sich sozusa- Doch werfen wir zum Abschluß noch einen Blick auf die Philosophie, die ja
gen autonom konstituiert. Ich war einmal in Mannheim im Theater, in der auch sprachgebunden ist und nur in Sprache Dasein hat. Man braucht es
Aufführung eines italienischen Dramatikers namens Ugo Betti (ein Ver- kaum zu rechtfertigen, daß wir uns als Philosophen besonders mit Literatur
wandter des bekannten Hermeneutikers Emilio Betti). Wir saßen da erwar- und dem Sprachwunder, das sie ist, beschäftigen. Plato hat von dem uralten
tungsvoll im Parkett. Plötzlich, bevor die Vorstellung begann, trat ein Zwist gesprochen, der zwischen Philosophie und Poesie bestand, und gewiß
Polizist auf die Bühne vor dem Vorhang und sagte: »Der Wagen mit der war die Kritik am Mythos und an den von Homer und besonders von
Nummer AU 27 C 6 ist falsch geparkt. Der Besitzer wird gebeten, so-
fort. ..« Alles dreht sich um, um zu sehen, wer jetzt herausgeht. In diesem 13
Nach Oskar Beckers Bericht in »gelegentlichen Äußerungen E. Husserls in Vorle-
Moment geht der Vorhang auf, und es zeigt sich, daß dieser Auftritt des sungen u. dgl.« (OSKAR BECKER, Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuer-
Polizisten der Beginn des Stückes war. Augenblicklich drehte sich niemand lichkeit des Künstlers. In: Festschrift Edmund Husserl. Halle a. S. 1929, S. 36 Anm. 1).
Vgl. auch Ideen I (Husserliana Bd. DI, S. 50f, S. 163).
mehr um - wir alle wandten uns zur Bühne. Wir hatten verstanden, daß 14
Vgl. dazu in diesem Band >Das Spiel der Kunsfc, S. 90 ff.
256 Die Kunst des Wortes Philosophie und Literatur 257

Hesiod erzählten Göttergeschichten und Göttergreueln von Anbeginn an tiven Satz vertrat, übte offenbar eine ganz besondere Anziehungskraft auf
dem Erkenntnistrieb, der sich Philosophie nannte, eingeboren. Auch zeigt den Dichter der poésie pure, auf Mallarmé, aus15. Es gibt frühe und späte
die griechische Dichtung selber, soweit wir sie kennen - und das heißt schon Gedichte von Mallarmé, die eine fast hegelsche Terminologie zu enthalten
im Falle Homers und erst recht in den folgenden Jahrhunderten (Pindar!) - , scheinen und doch - etwa in >Igitur<, etwa im >Coup de Dés< - seinem
ein Stück beständiger Götterkritik. In der Tat setzt ein solcher Zwist wie der dichterischen Ideal der >reinen< Poesie am nächsten kommen.
zwischen Philosophie und Poesie — wie jeder Zwist - Gemeinsamkeit vor- Das ist keineswegs eine Option für ein bestimmtes Kunstideal gegen
aus. Hier ist es die Gemeinsamkeit des Wortes und seiner möglichen Wahr- andere Formen sprachlicher Kunst und keineswegs eine L'art-pour-l'art-
heit. Fragen wir also zum Abschluß, nachdem wir das Wort als das dichteri- Theorie. Daß die Dichtkunst - trotz ihrer >ontologischen< Autonomie, die
sche erörtert haben, wie Philosophie zu Worte, wie Philosophie zur Sprache ich am sprachlichen Kunstwerk zu demonstrieren suchte - im Zusammen-
kommt. hang des Lebens wechselnde Gestalten besetzt, das gerade macht sie zur
Wie ist Sprache in der Philosophie da? Nun wissen wir alle, daß das, Kunst. Aber so wie die bildende Kunst, anhebend mit vorgeschichtlichen
wovon Philosophen reden, in gewissem Sinne ein Nichts ist: das Ganze des und frühgeschichtlichen Dokumentationen, über die >Kunstreligion< der
Seins, »das Sein< und seine Artikulation in kategorialer Begrifflichkeit - all Griechen, über die großen Schöpfungen der Kulturen Asiens, durch das
das ist nirgends >gegeben<. Darin begründet sich von jeher die Sprachnot des Ganze des christlichen Mittelalters und seiner Verweltlichung in den neue-
Philosophen, daß die Sprache, in der die Menschen reden, primär zur ren Zeiten hindurch, ihre Präsenz hat, so ist auch die dichterische Produk-
Orientierung in der Welt bestimmt ist und nicht, um uns für die Reflexions- tion der Völker in religiöse und weltliche Zusammenhänge eingefügt und
gänge unseres eigenen Hinausfragens über alles >Gegebene< weiterzuhelfen. erfüllt sich niemals in ihrer rein ästhetischen Reizwirkung. Daß sie solche
Daß die Sprache der Philosophie sich in einer eigentümlichen Spannung Präsenz den verschiedenartigsten Inhalten zu verleihen vermag, das bekun-
zwischen dem Alltagsgebrauch von Sprache und ihren spekulativen Aussa- det die ihr als Kunst eigene Aussagekraft.
gemöglichkeiten befindet, ist seit der deutschen Romantik den Denkern des Was Poesie als Sprache in der Tat mit Philosophie gemeinsam hat, ist, daß
deutschen Idealismus bewußt geworden, ebenso wie wir seit der deutschen der Philosoph- anders als die Wissenschaft—, wenn er etwas sagt, auch nicht
Romantik - Ideen Vicos und Herders aufnehmend - in der Poesie die auf etwas anderes hinaus weist, das irgendwo existiert, wie die Deckung, die
Ursprache der Menschheit erblicken. Am Ende ist es so etwas wie die der Geldschein auf der Bank hat. Wenn es das Denken zur Ausformulierung
Urpoesie der Sprache, was ebenso in der schöpferischen Kraft des Gedan- drängt, ist es ganz bei sich selber, so daß es sozusagen sich selbst verwortet
kens wie im dichterischen Gestalten am Werke ist. und verbalisiert. Für den Philosophen existiert daher ein Text nicht als
Aber auch wenn das so sein sollte, bleibt es ein Problem, was ein philo- >Literatur<. Vielleicht darf er überhaupt keinen gegebenen Text oder Satz
sophischer Text eigentlich ist. Oder muß man gar sagen, daß es überhaupt schlicht als >wahr< anerkennen, sondern muß ihn immer nur in den Fortgang
keinen philosophischen Text gibt? Plato hat vielleicht recht. Die philo- des denkenden Gesprächs der Seele mit sich selbst hineinnehmen, um die
sophischen Texte, die wir so nennen, sind in Wahrheit Interventionen in berühmte platonische Formulierung zu wählen. Denken ist dieses ständige
einem ins Unendliche weitergehenden Dialog. Man wird ein Scholastiker Gespräch der Seele mit sich selbst. So kann man wohl sagen, daß Philo-
im schlechten Sinne des Wortes, wenn man >Texte< der Philosophie als sophie dieselbe Art von unerreichbarer Ferne und Fernwirkung und zugleich
literarische Texte behandelt und nicht als bloße Wegmarken auf dem Wege von absoluter Gegenwärtigkeit hat, die dem Pantheon der Kunst für uns alle
der begrifflichen Artikulation unserer Denkintentionen. Vieüeich liegt ge- zukommt. Fortschritt gibt es weder in der Philosophie noch in der Kunst. In
rade darin eine innere Nachbarschaft von Philosophie und Poesie, daß sie beiden und gegenüber beiden kommt es auf etwas anderes an: Teilhabe zu
sich in einer äußersten Gegenbewegung begegnen. Die Sprache der Philo- gewinnen.
sophie überholt sich beständig selbst — die Sprache des Gedichts (jedes
wirklichen Gedichts) ist unüberholbar und einzig. So, meine ich, könnte es
sein, und es ist immerhin interessant zu sehen, daß ein Denker wie Hegel sich
der Problematik des prädikativen Satzes, der Urteilsform, für das Denken
der Philosophie voll bewußt war und daß er - weit mehr, als in der sich
verfestigenden Methode seiner Dialektik zutage tritt - der Bewegung des
Denkens gerecht geworden ist. Derselbe Hegel, der die Lehre vom spekula- Siehe dazu auch im vorhergehenden »Philosophie und Poesie<, S. 237 ff.
Stimme und Sprache 259

Boden bereitet hat. Damals hat man zuerst die Rechnung aufgemacht - oder
besser: die Ersatzleistungen namhaft gemacht, die von der Kunst des Schrei-
bens erwartet werden, wenn sie mit der Unmittelbarkeit der Rede und in der
persönlichen Anrede wetteifern soll.
Der negative Aspekt der Schriftlichkeit ist so klar, daß ich vorziehe, von
22. Stimme und Sprache der positiven Beziehung zwischen Sprache und Schrift zu sprechen. Ich
möchte den Blick dafür schärfen, wie sehr die Möglichkeit der schriftlichen
(1981) Fixierung von Sprache auf das Wesen von Sprache selber ein wichtiges, ja
erhellendes Licht wirft. Offenbar hat beides, die Lautgestalt der Rede und
die Zeichengestalt der Schrift, eine sie konstituierende Idealität an sich. Das
Ein Aspekt, der sich als Hintergrund für das Thema >Stimme und Sprache - Wort >Idealität< ist dabei rein beschreibend gebraucht - man sollte die Wahr-
Sprechen und Sprache« geradezu von selber auftut, ist die Trias der Phäno- heiten Piatos nicht schon deswegen verdammen, weil sie von Plato stam-
mene Sprechen, Schreiben und Lesen. Diese drei Begriffe, die als Erfahrun- men. Es ist einfach wahr, daß Sprache ihrem Wesen nach, genau wie die
gen und Verhaltensweisen den gesamten Raum zwischen Stimme und Spra- Schrift, in einem Spielraum des Kontingenten und Variablen auf wesentliche
che durchmessen, sind nicht einfach eine Sequenz, in der das eine das erste, Konstanten hin idealisiert. DieSprachlaute sind Sprachlaute, ohne auch nur
das zweite das zweite und das dritte das dritte ist. Sie zeigen sich vielmehr in von ferne die Präzision des Lautcharakters zu besitzen, den die Töne der
einer eigentümlichen Verflechtung miteinander, sowohl in ihrem eigenen Musik im System der Töne für sich beanspruchen. Sie haben einen weiten
Vollzug als auch in dem Nachdenken darüber, was sie eigentlich sind. Ich Spielraum variabler Beliebigkeit. Ihre kommunikative Funktion beruht ge-
möchte daher die essentielle Bedeutung der Schrift für die Sprache in den rade darauf, daß dieser Spielraum des Kontingenten nie so weit geht, daß das
Vordergrund stellen. Ich spreche nur von einer Trias - und nicht vom allen Gemeinsame und damit das aller Variation gegenüber Konstante dar-
Hören. Denn Hören gehört selbstverständlich zu allem, was Sprache sein über verdeckt würde. Dasselbe gilt offenkundig für die Schrift und die
soll, ob gesprochene, geschriebene oder geheime. Aber wieso Schreiben und Schriftzeichen. Man denke nur an die Differenzen der Handschrift, die als
Lesen zur Sprache gehört, das ist eine nachdenkliche Sache. Entzifferer einer Handschrift oft geradezu den Orakeldeuter nötig machen.
Es ist durch nur wenige Worte in Erinnerung zu bringen, welcher Verlust Auch dieser Spielraum ist aber an Grenzen gebunden. Es sind Grenzen der
durch die Schrift und die schriftliche Fixierung dem lebendigen Austausch Leserlichkeit, die in unmittelbarer Wechselbeziehung zu der Artikulation
des Sprechens zugemutet wird. An einer berühmten Stelle in Piatos >Phai- des Sprechens stehen.
dros< wird erzählt, wie der Erfinder der Schrift zu dem ägyptischen König Das prägt sich in unserer westlichen Zivilisation schon beim ältesten
kommt, um ihm unter anderen seine neueste Erfindung als eine Stütze und Nachdenken über diese Dinge aus. Ich denke vor allem an Plato, der in
Stärkung des Gedächtnisses anzupreisen. Der weise' Königvon Ägypten ist seinen Reflexionen — wie ja auch die Atomisten — von dem Ausdruck für
aber gar nicht glücklich damit und entgegnet: »Du hast nicht ein Mittel zur Buchstabe ausgeht - und nicht von dem für Laut (>Phonê<). Der griechische
Stärkung des Gedächtnisses erfunden, sondern eines zu seiner Schwä- Ausdruck ist >Stoicheion<. Wenn Plato über die Idealität der Sprachsystema-
chung.« Im Zeitalter des Xerox sind wir über die Wahrheit dieser Königli- tik, der Sprachmittel, der verschiedenen Laute, der Vokale, Mitlaute, Kon-
chen Weisheit wohl alle im klaren. sonanten usw. reflektiert und den systematischen Zusammenhang darstellt,
Wie vieles durch die Dominanz der Schriftlichkeit und ihrer Reproduk- der allein erst Sprachkompetenz und Sprechen möglich macht, kann er
tion verloren geht, bedarf überhaupt keiner Ausführung. Doch wäre es ein ebensosehr von der Schrift, vom Schreiben und Lesen her, verstanden
interessantes Thema, in welchem Grade etwa die Reflexion auf die Verluste werden. Das Wort >Grammê<, das dafür steht, ist nicht umsonst im Wort
an Kommunikationskraft, die durch die Schriftlichkeit eintreten, dahin zu >Grammatik<, das primär nicht die Sprache, sondern die Schreibkunst meint.
führen vermag, daß durch die Kunst des Schreibens diese Verluste durch Die Idealität, die beiden, den Lauten der Sprache und den Zeichen der
Stilkunst abgefangen werden. Man denke etwa daran, wie im 17. und 18. Schrift, zukommt, sagt über das, was Sprache ist, etwas aus. Der Raum, den
Jahrhundert die Kunst des Lesens im Zusammenhang mit der pietistischen sie gliedert, und die Sicht des Gemeinsamen, die sie anbietet, ist so, daß
Bewegung und überhaupt mit der zentralen Rolle der Schriftauslegung in Raum und Sicht durch die schriftliche Fixierung nicht verlorengehen. Eben
der protestantischen Predigt einer Kultur des Schreibens und Lesens den dadurch unterscheidet sich Sprechen von anderen stimmlichen Ausdrucks-
260 Die Kunst des Wortes Stimme und Sprache 261

formen wie dem Schrei, dem Stöhnen, dem Lachen usw. Alle diese Phäno- einen Wertbegriff innerhalb der Möglichkeiten von Sprache dar. Dieser Sinn
mene haben offenbar nicht dieselbe Idealität des Gemeintseins an sich, die kann auch mit negativem Vorzeichen versehen sein, ζ. Β., wenn in einem
Sprache durch ihre Schriftfähigkeit geradezu dokumentiert, auch wenn politischen Handlungszusammenhang kritisch-verächtlich gesagt wird, das
diese Ausdrucksformen des Seelischen ihrerseits nicht ohne konventionelle sei »Literaturc Das meint in Wirklichkeit Unbrauchbarkeit für die Praxis.
Kundgabewerte sein mögen, wie etwa das archaische Lächern. Ich darf Der Begriff >Literatur< kann freilich auch in einem sehr viel weiteren Sinn
erinnern, daß Aristoteles in seiner berühmten Definition der Sprache den gebraucht werden. Wir müssen die ganze Weite dieses Begriffes ins Auge
Ausdruck der >Synthêke<1 gebraucht; κατά ουναψψ heißt »gemäß der Kon- fassen, um unsere Gedanken über die Dinge zu ordnen. Immerhin würde ich
vention«. Damit weist Aristoteles gewisse Theorien zurück, welche die doch sagen, daß wir alle übereinstimmen, daß die Notizen, die hier auf
Sprache und die Wortbildung auf Naturnachahmung zurückfuhren, und diesem Zettel stehen, nicht Literatur sind, obwohl sie geschrieben sind. Was
hebt den Konventionscharakter aller sprachlichen Mitteilungsformen her- ist das für ein Unterschied? Nun, offenbar hat das Geschriebene, das nicht
vor. Diese Konventionalität ist von der Art, daß nie eine Konvention als Literatur ist und sein will, seine eigene kommunikative Begrenzung und
Konvention abgeschlossen wurde, nie als Abkommen getroffen wurde. Es Funktion. Sie gibt der Schriftlichkeit die spezifische Rückverweisung auf ein
ist eine Konvention, die sich sozusagen als das Wesen aller Verständigung ursprünglich Gesprochenes oder Gemeintes. So sind Notizen, die sich je-
und durch sie vollzieht. Ohne daß wir in diesem Sinne schon immer überein- mand macht, in der Tat Gedächtnishilfen, wie wir auch sagen, und sind nur
gekommen sind, ist kein Sprechen möglich, und doch beginnen wir nicht dazu da, daß das im ursprünglichen Akt des Denkens und Sprechens Ge-
erst mit einer Übereinkunft, wenn wir sprechen lernen. Der innere Wesens- meinte für den Schreiber der Notiz in gewissem Umfange reproduzierbar
zusammenhang zwischen Sprache und Konvention sagt aber nur, daß Spra- wird. Dieses Verhältnis erfahrt seine Umkehrung in dem Augenblick, wo
che ein Kommunikationsgeschehen ist, in dem Menschen übereingekom- etwas Literatur wird. Wenn ich ein Buch lese, so ist keine Rede mehr davon,
men sind. Genau das ist offenkundig die weit ausgreifende Dimension, in daß ich auf den ursprünglichen Akt des Sprechens und Schreibens, etwa auf
der sich beide, Sprache und Schrift, und ihr Verhältnis zueinander bewegen. die wirkliche Stimme oder das individuelle Wesen des Schreibers, verwiesen
Das enge Verhältnis beider spiegelt sich in der Tatsache, daß wir >Überlie- werde. Da stehejch in einem kommunikativen Geschehen ganz anderer Art.
ferung< in Form von Literatur kennen, d. h., daß die >litterae<, die Buchsta- Davon wird im einzelnen zu reden sein.
ben und damit die Schriftlichkeit, hier eine zentrale Auszeichnung erfahren. Ein zweites Beispiel ist natürlich der Brief, der fur den Empfänger den
Sie kommt gerade daran heraus, daß kein Verlust eingetreten ist, wenn Gesprächspartner und was er mir sagen will wieder sprechen läßt, d. h. der
etwas in literarischer Form überliefert ist, wogegen alle anderen Monu- Austausch durch Schriftliches an Stelle von lebendigem Austausch. Wir
mente als Überreste gelebten Lebens im Vergleich zur schriftlichen Überlie- machen dieselbe Voraussetzung beim Brief. Wenn ein Brief wie Literatur ist
ferung stumm bleiben. Sie lassen uns vieles erkennen, verraten viel von - nehmen wir etwa die Briefe Rilkes, die ja wahre Texte literarischer Art
Gewesenem, aber sie sagen nicht selbst etwas. Dagegen sind unentzifferte sind: Sie sind fast keine Briefe mehr. Rilke selber hat einen großen Teil seiner
Inschriften nicht selber stumm - nur wir sind fur sie noch taub. Hier ist Arbeitszeit und durchaus als Arbeitszeit dem Schreiben solcher Briefe ge-
sozusagen das volle Dasein >gedachter< Dinge in sprachlich formulierten widmet. Daß sie nun >Texte< sind und einen Teil seiner geistigen Schöpfun-
Mitteilungen enthalten, so daß wir durch Entzifferung etwas mitgeteilt gen darstellen, ist außer Zweifel. So heißt es in diesem Falle ganz selbstver-
bekämen. Freilich, >Literatur< muß es nicht sein. Wo wir das Wort >Literatur< ständlich: Das ist Literatur - gerade weil es nicht mehr auf die Verständi-
in einem eminenten Sinne gebrauchen, etwa >schöne Literatun sagen, ist es gungssituation zwischen dem Schreiber und dem Adressaten zurückver-
evident, daß wir mit dem Begriff >Literatur< innerhalb der unendlichen weist. Man muß nicht wissen, wer die Gräfin Nostitz oder irgendeine andere
Vielfalt des Geschriebenen (und Gedruckten) etwas auszeichnen. Wir sagen jener würdigen Damen war, an die Rilke seine tiefsinnigen Briefe über den
vielleicht auch von einem guten Buch wissenschaftlicher Art oder gar nur Tod als die andere Seite des Lebens geschrieben hat. Es sind keine echten
von einem Brief: Das ist geradezu Literatur! Was wir damit zum Ausdruck Briefe mehr. Echte Briefe sind dagegen von der Art, daß sie auf etwas Bezug
bringen wollen, ist, daß sich darin wahre Sprachkunst dokumentiert. nehmen, was sie für die Verständigung mit dem Adressaten voraussetzen
Ebensooft sagen wir von Texten, welche Literatur sein wollen: Nun ja, und Antwort meinen, wie jedes Wort im Gespräch. Sie haben mindestens in
Literatur ist das nicht. Der Begriff >Literatur< stellt also im Sprachgebrauch der Form solchen Substrates noch etwas von der Orchestrierung des leben-
digen Gespräches an sich. Kein Zweifel, daß gerade auch durch den Über-
1
De Int. 2,16a ,9,27; 4, 17a, gang vom Sprechen zum Schreiben Mißverständnisse entstehen können, die
262 Die Kunst des Wortes Stimme und Sprache 263

im leibhaften Gegenüber rechtzeitig aus der Welt geschafft würden, wäh- Ich stelle also fest, daß hier zwei verschiedene Formen, in denen Schrift-
rend sie als Niedergeschriebenes oft unauflösbar werden. Obwohl Briefe lichkeit auf Sprache Bezug hat, nebeneinander stehen, die eine als Substitut
offenbar diese Möglichkeit sind, das Gespräch in gewisser Weise fortzuset- für das lebendige Gespräch, die andere fast so etwas wie eine neue Schöp-
zen und fortzuspinnen, kennen wir doch alle die Mißverständnisse, die selbst fung, ein Sprachesein neuer, eigener Art, das eben dadurch, daß es geschrie-
noch zwischen Freunden im Briefwechsel aufkommen können, die in der ben ist, einen Sinnanspruch und Formanspruch erhalten hat, der dem vor-
lebendigen Rede durch sofortige Selbstkorrektur eliminiert würden. Das überrauschenden Wortlaut als solchem nicht zukommt. Nun, es ist klar, daß
war auch Piatos bekanntes Argument, daß Geschriebenes sich nicht selber der Begriff »Literatur« näher zu dieser zweiten Form gehört, in der nicht die
helfen kann und deswegen dem Mißbrauch, der Verdrehung und dem Rückverweisung auf eine ursprüngliche Sprechsituation, sondern die Vor-
Mißverständnis hilflos ausgesetzt ist. Geschriebenes rückt selbst als Brief verweisung - hier auf ein richtiges Sprechenlassen und Verstehen des Textes
immer schon in eine gewisse Zone der Abstraktheit oder der Idealität ein, - das Entscheidende geworden ist. Ich berührte schon die Tatsache, daß sich
auch wenn es der Idee nach noch die Fortsetzung des lebendigen Gespräches von hier aus sehr gut verstehen läßt, warum die sogenannte »schöne Litera-
- oder wenigstens Wiederanknüpfung fur ein lebendiges Gespräch - hat sein tur< den Sinn von Literatur am eigentlichsten auszufüllen vermag. Die
wollen in unserer mehr literarischen Welt. Dagegen gibt es andere Formen schöne Literatur heißt »schön*, weil sie nicht auf Gebrauch und damit auf
der Schriftlichkeit, die ich in weiterem Sinne Literatur nenne, wenn ich etwa unmittelbare Handlungsfolgen bezogen ist. Das ist der alte Begriff des
an der Stelle der Notiz, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Kodifikation >Kalon< und der Artes liberales. Selbst noch beim >Wissen< kann Freiheit
nenne. Ich gebrauche absichtlich den Ausdruck »Kodifikation«, wobei ich gegenüber dem Brauchbaren und dem zu Brauchenden bestehen, und daher
nicht an die linguistische Terminologie von heute denke, sondern lediglich das >Kalon<. Das definiert vollends den Begriff der schönen Literatur, daß sie
den natürlichen Sprachgebrauch und seine Basis im Auge habe, daß nämlich keine Gebrauchsliteratur ist.
das Schriftliche immerhin »geschrieben steht«, wie Luther in seiner Bibel- Was ich zu diesen Dingen ins Auge fassen möchte, ist, wie sich dieser
übersetzung sagt. Es steht geschrieben, es hat durch sein Geschriebensein engere, »eminente« Begriff von Literatur notwendigerweise so auswirkt, daß
einen bestimmten Stand gewonnen, und dieser Stand meint offenkundig, er eine Art von Forderung stellt2. Schreiben ist da nicht einfach Nieder-
daß nun das Geschriebene selbst spricht und nicht erst durch den Rückgang schreiben von etwas für sich oder einen anderen, sondern wird zu einem
auf eine ursprüngliche Sprechsituation aussagekräftig wird. Das ist der Sinn echten Schreiben, das etwas »schaffe, für den erwarteten oder zu gewinnen-
aller dieser mühsamen Festlegungen in unserer durch Schriftlichkeit beherr- den Leser. Das ist der Schriftsteller im eigentlichen Sinne des Wortes. Er
schenden Welt, in denen man etwa eine >rechtskräftige< Übereinkunft for- muß »schreiben« können, und das heißt, daß er all das, was der unmittelbare
muliert. Älteste Dokumente der Menschheit sind, wie wir uns zu unserem Wortaustausch an emotionaler Färbung, an symbolischen Gebärden, an
Leidwesen eingestehen müssen, meist nicht hohe Geisteswerke, sondern Stimmführung, Modulation usw. enthält, durch seine Stilkunst aufwiegt.
Kaufverträge oder Steuerlisten, bestenfalls Gesetzestafeln. Jedenfalls sind es Man hat den Schriftsteller daran zu messen, wie weit ihm die gleiche
Sachen von dokumentarischem Charakter, in denen offenkundig nicht auf Sprachkraft im Schreiben gelingt, die im unmittelbaren Austausch von
eine ursprüngliche Sprechsituation zurückgeblickt, sondern auf eine Impli- Wort zu Wort, zwischen Mensch und Mensch am Werke i s t - und vielleicht
kation des darin Festgelegten hingesehen wird. Das ist von großer herme- noch eine größere. Denn im Falle von Dichtung ist Sprachkraft so intensi-
neutischer Bedeutung. Ich darf allein nur an die Tatsache erinnern, daß etwa viert, daß der Leser dauernd gefesselt bleibt. Es ist klar, worauf dies hinzielt
der Jurist in bezug auf das Geschriebene - den Code, das Gesetzbuch oder - aufeine Sprachkunst, welche das Geschriebene sprachkräftig macht. Sie ist
was immer es ist — beileibe nicht nur auf die ursprünglichen Intentionen des eine Kunst des Schreibens. Es ist Literatur, was so zustande kommt. Es ist
Gesetzgebers zurückgeht für die Auslegung des Gesetzes. Das ist eine sekun- klar, was das bedeutet. Damit hat der Zusammenschluß zwischen Sprache
däre und mehr als zweifelhafte Form, die Gesetzesauslegung zu fördern, daß und Schrift, den das Lesen vollbringt, höchste Innigkeit erreicht.
man etwa die Akten der gesetzgebenden Kommission im modernen Parla- >Sprechen< erscheint in der Zwiefalt von Schreiben und Lesen. Das ist der
ment studiert. Das wäre ein Historiker und kein Jurist, der sich damit Grund für mein drittes Stichwort. Es soll zeigen, daß Lesen nicht etwa ein
begnügte, die ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers zu rekonstru- Drittes ist, das dann auch noch hinzukommt, sondern das dritte ist hier
ieren. Es ist die >ratio legis<, auf die es für den Juristen ankommt. Es ist die genau das, was Schrift mit Sprache zusammenschließt.
Funktion, die das schriftlich Fixierte gemäß seinem eigenen Inhalt für die
Rechtsordnung und ihre Wahrung besitzt. 2
Siehe dazu im folgenden >Der >eminente< Text und seine Wahrheit« (Nr. 25).
264 Die Kunst des Wortes Stimme und Sprache 265
Nur dadurch ist Schrift überhaupt ein Sprachphänomen, daß Schrift dächtnisses gibt - und einen gewissen Spielraum für Ausfüllung desselben.
gelesen wird. Es lohnt sich, wie ich meine, die Weisen des Lesens und den Dieser Spielraum der Ausfüllung ist genau dasselbe, auf einem höheren
Vorgang des Lesens einer genaueren Analyse zu unterziehen. Ich bin mir Freiheitsniveau, wie das, was ich eingangs schilderte, wenn ich von dem
bewußt, daß ich damit in gewisser Weise das Gegenthema zu dem Hauptthe- Gestaltungsspielraum aller konventionellen Zeichen, sowohl unserer Laute
ma >Voix -et langage< behandele. Aber ein Gegenthema hat immer den als auch unserer Schriftzeichen, sprach.
Vorzug, daß es Abgrenzungen bewirkt und damit das Abgegrenzte mit Ich möchte nun eine gewisse Klimax von Phänomenen erörtern, die fur
sichtbar macht. Wir fragen also: Was ist Lesen? Ich möchte eine Reihe von unser Verhältnis zur Sprache und zur sprachlichen Überlieferung unserer
Phänomenen vorüberziehen lassen, die uns allen vielleicht deutlich machen Kultur von einer vielleicht nicht immer genügend beachteten Bedeutung ist.
können, wie die Rückbindung von Schrift an Sprache jeweils aussieht. Ich Ich meine die Klimax Rezitieren, Vorlesen, lautes Lesen und stilles Lesen.
unterscheide der Reihe nach. Zunächst als eine erste Feststellung: Lesen ist Diese Klimax hat eine vernünftige Logik, und man hat sich zu fragen, was
nicht Buchstabieren. Solange man buchstabiert, kann man nicht lesen. Lesen sich dajeweils ändert. Alle diese Formen des Lesens sind, mehr oder minder,
setzt immer schon bestimmte antizipatorische Vorgänge der Sinnerfassung wie sich zeigen wird, vom unmittelbaren Ideal des reproduzierenden Spre-
voraus und hat als solche eine bestimmte Idealität an sich. So wie wir chens als eines neuen, wirklichen Sprechens prinzipiell unterschieden. Vor-
Handgeschriebenes lesen können, obwohl jeder seine eigene, individuelle lesen heißt nicht Sprechen, auch wenn es in Lautgestalt geschieht. Schwieri-
Handschrift hat, oder wie wir auch im allgemeinen ungestört über Druck- ger ist es beim Rezitieren. Hier kann man sich fragen: Ist Rezitieren Repro-
fehler 'hinweglesen. Der Druckfehlerteufel ist das bekannteste Zeugnis für duzieren? Wir kennen echtes Reproduzieren, etwa in dem Sprechen des
die trostreiche Tatsache, daß wir im allgemeinen vom Verständniszusam- Schauspielers auf der Theaterbühne. Da ist es in der Tat wahr, daß der echte
menhang getragen werden und über die tatsächlichen Mängel des sichtbaren Schauspieler wirklich >spricht<, obwohl ihm sein Text vorgeschrieben ist,
Zeichenbestandes fruchtbar hinweglesen. Das hat natürlich seine Grenzen, und der schlechte Schauspieler nicht - er hinterläßt einem immer den Ein-
aber in seinen Grenzen zeigt es etwas von der das Lesen leitenden Sinnteleo- druck eines bloßen Aufsagens. Er setzt eine Sekunde zu früh ein - bekanntes
logie. Phänomen im Theater —, und man wird nie das Gefühl ganz los, daß er das
Nun gibt es Zwischenformen, die in jüngster Zeit ins Bewußtsein getre- nächste Wort schon kennt, wenn er spricht. Sprechen aber heißt in ein
ten sind. Es gibt nicht nur den Leser von geschriebener, sondern auch den Offenes hineinsprechen. Der wirkliche Schauspieler reproduziert ein echtes
Hörer von ungeschriebener Literatur. Wir sollten an das Phänomen der Oral Sprechen, so daß man darüber vergißt, daß es ihm vorgeschrieben ist.
poetry denken. Es ist eine sehr wichtige neuere Einsicht, daß die epische Tatsächlich gehört daher die Improvisationskunst zum echten Schauspieler,
Tradition der Völker durch sehr lange Zeiten der Mündlichkeit am Leben zumindest in gewissen Formen des Theaters. Aber auch im literarischen
bleiben kann. Es ist die bekannte Untersuchung an den albanischen Helden- Theater läßt der Text einen Spielraum zur Ausfüllung offen. Durch diese
liedern, die auf dem Balkan durch die amerikanische Expedition der frühen Abhebung zur Kunst des Schauspielers wird deutlich, daß selbst das Rezitie-
30er Jahre so erstaunliche Ergebnisse gehabt hat, daß ζ. Β". unsere gesamte ren, das einen Text wieder zur Lautgestalt aufruft, noch nicht Sprechen,
Homerforschung heute in einem neuen Lichte erscheint. Wir wissen jetzt sondern irgendwie noch >Lesen< ist. Es ist noch nicht so Sprechen wie das des
viel mehr über die Dauerhaftigkeit epischer Traditionsformen mündlicher Schauspielers, der seine Rolle verkörpert. Wenn ihm das gelingt, dann
Art. Das erzähle ich um einer Pointe willen, die, wie mir scheint, im spricht er wirklich, d. h., er bricht das Schweigen oder verstummt, er nimmt
allgemeinen verkannt wird. Die neue Begeisterung für die Tatsache, daß das Wort oder er schweigt.
sich Traditionsformen auf mündliche Weise so lange am Leben erhalten, hat, Von Rezitieren sprechen wir primär beim Epos und bei der Lyrik. Das
wie ich glaube, dagegen blind gemacht, welcher Weg zur Schrift schon in Rezitieren kennen wir vor allem als die Rhapsoden-Kunst. Der Rhapsode ist
den sprachlichen Mitteln der Oral poetry steckt. Ich meine damit nicht nur nun, wie die literarischen Formen des Epos mir zu zeigen scheinen, nicht
die Selbstverständlichkeiten mnemotechnischer Art, wie etwa Versmaß und eigentlich die Wiederverkörperung eines Ursängers oder Ursprechers. In
Füllverse und dergleichen sind. Aber es gehört auch Mnemotechnik dazu. Piatos >Ion< wird ein Homer-Rhapsode geschildert, der seinen Vortrag so
Da gibt es Wiederholungsformeln, Rekurrenzen, die den Sinn haben, die virtuos gestaltet, daß sich ihm, wenn irgendeine Schreckensszene kommt,
Einmaligkeit des wiederholenden Vortrags auf eine bestimmte Weise festzu- selber die Haare sträuben, und wenn es irgendeine traurige Szene ist, ihm
legen. Die Untersuchungen auf diesem Gebiete sind höchst interessant. Es selber die Tränen kommen usw. Plato schildert das offenbar mit kritischem
hat sich gezeigt, daß es auch da ein großes Ausmaß von Treue des Sagenge- Bewußtsein. Er sieht darin eine bestimmte Auflösungserscheinung der epi-
266 Ehe Kunst des Wortes Stimme und Sprache 267
sehen und religiösen Tradition des Griechentums. Der Rhapsode wird zum rezitieren kann. (Die Beispiele, die ich erlebt habe, lassen mich daran zwei-
Virtuosen. Der echte Rhapsode war ein reiner Vermittler der mythischen feln.)
und epischen Geschehnisse und wollte gar nicht selber genannt sein. Auf der Das ist nicht eine Frage der Vortragskunst, sondern der Kunstgestalt des
anderen Seite wird man sagen müssen, daß der berufsmäßige Sänger kein Sprachwerks, also der Dichtung selber. Es ist ein stilles Vorsichhinsprechen,
bloßer Erzähler mehr ist, sondern das Erzählen schon unter bestimmte das allein der sprachlichen Haltung dieser Art von Gedichten entspricht.
literarische Bedingungen zu stellen beginnt. Das sind schwierige Probleme, Anderes ist anders. George läßt sich natürlich rezitieren. Er hat geradezu das
welche Beziehungen etwa zwischen der Kunst des Erzählens, die als Litera- >Hersagen< als Terminus fur das Rezitieren gebraucht und mit seinen Jün-
turwerk erscheint, und der Kunst des Erzählens, die uns auch außerhalb der gern und Zöglingen geübt. Aber ob Rilke, ob Hölderlin, ob Trakl rezitier-
Literatur begegnet, bestehen. Welche Übergänge machen die Gabe eines bar sind? In der deutschen Dichtung müssen wir hier zwischen dem wirklich
guten Erzählers zu der Erzählkunst eines Novellisten? Wenn es wahr ist, daß in die Materialität einer Stimme Überfuhrbaren und dem im inneren Ohr
das Rezitieren einen bestimmten Bezug zur Schriftlichkeit - oder mindestens allein zu Hörenden unterscheiden. Letzteres gehört selbstverständlich zur
zum memorierten Text - festhält, dann muß sich dies in Möglichkeiten der lyrischen Sprache. Dichtung ist das Herauskommen der Spracherscheinung
Literatur selber spiegeln. Ich erinnere an das Lesedrama. Da haben wir ein selber und nicht ein bloßer Durchgang zum Sinn. Es ist ein ständiges
Drama, das nicht nur auch gelesen wird, sondern das nur für das Lesen Zusammenklingen von Sinnerfassung und sinnlicher Klangerscheinung,
geschrieben ist — oder mindestens bei dem Versuch, es in das Theater zu durch die Sinn leibhaft wird. Aber das bedeutet nicht, daß es die wirkliche
überführen, scheitert. Denken wir etwa an Maeterlinck, dessen Bühnenan- Stimme geben muß, daß sie wirklich zu hören ist. Ober besser, es ist nur wie
weisungen schon durch ihre eigene sprachliche Dichte Ausführung aus- eine zu hörende Stimme und muß, ja kann keine wirkliche Stimme sein.
schließen. Zum Rezitieren gehört also hier ein Bezug aufs Lesen, in der Oral Diese nur zu hörende, nie sprechende Stimme ist im Grunde ein Muster und
poetry, in der mündlichen Überlieferung des Epos, oder auch in seiner Maß. Warum sind wir denn in der Lage zu sagen, jemand liest gut vor?
Wiederaufnahme. Das ist übrigens ein weiteres Problem, das mit der Oral Oder: Das ist schlecht vorgelesen - welche Instanz sagt uns das? Doch nicht
poetry inzwischen in die Diskussion eingetreten ist, das wir nie vergessen etwa die, wie der Dichter selber liest. Es ist wahr, daß Dichter durch die Art,
sollten. Es ist vielleicht wichtiger, nicht ob eine Tradition schriftlich fixiert wie sie lesen, sehr instruktiv sein können. Aber sie sind deshalb nicht
war oder nicht, sondern ob sie nur im Rezitationsvortrag überhaupt gehört Vorbilder für die Art, •wie ihre Gedichte gehört werden sollen. Nicht nur,
wurde oder ob es auch unmittelbare Benutzung des Textes durch Leser gab, daß sie oft keine Sprechkünstler sind. Es liegt vielmehr im Wesen von
ohne die Vermittlung des Rezitators, des Rhapsoden. Ein Phänomen, an Literatur, daß das Werk sich so sehr von seinem Schöpfer gelöst hat, daß der
dem das ganze Problem des Rezitierens auf seinen Gipfel kommt, scheint Dichter bestenfalls ein guter, nie ein privilegierter Interpret seiner selber ist.
mir das Auswendigsprechen. Das war für Gedichte früher einmal etwas So halte ich den Zusammenhang von Literatur und Stimme zwar durchaus
ganz Ehrenwertes, und nach meiner Überzeugung ist es das immer noch. für wesentlich, wo immer wir Literatur im eminenten dichterischen Sinne
Ein Gedicht, das man wirklich auswendig kann, wird rezitiert, ob innerlich haben. Aber die Form, in der Stimme hier da ist, muß nicht die materialisier-
oder auch mit Stimme. Es wird nicht reproduziert. Es soll nicht irgendeine te Stimme sein, sondern ist primär etwas, was in unserer Imagination
ursprüngliche Art des Sprechens wiedererweckt werden, sondern es hat modellhaft wie ein Kanon ist, der uns erlaubt, jede Art der Ausführung von
seinen alleinigen Bezug auf die Idealität des Textes selber, seine zwar in Rezitation zu beurteilen.
Schriftlichkeit dokumentierte, aber im Gedächtnis lebendige Sprachkunst.
Noch deutlicher wird der Bezug von Stimme und Text beim Vorlesen. Da
Im Auswendigkönnen ist diese Kunst der Sprache offenkundig in ihrer
strebt man nicht die Unmittelbarkeit des Sprechens an, die auf die Bühne
vollen Wirklichkeit da. Mich beschäftigt seit langem die Frage, wie weit
gehört. Vorlesen soll etwas, was geschrieben ist, als einen >Text< zu Gehör
Rezitieren immer zum Auswendigkönnen wirklich gehört. Das ist die Fra-
bringen. Das setzt bestimmte Restriktionen der Unmittelbarkeit des Spre-
ge-
chendseins voraus. Es ist eine Frage des Taktes und eine Frage des Verständ-
Ich glaube nicht, daß jede Dichtung, die jemand auswendig kann, sich
nisses. Wir kennen es nur zu gut, wenn man im Unterricht etwa einen
auch wirklich vor anderen sprechen läßt. Es gibt Dichtungen, die fürs
Studenten bittet, einen bestimmten Satz vorzulesen, und er ihn nicht ver-
Rezitieren da sind. Ich meine nicht nur solche, die ursprünglich aufgeführt
standen hat. Dann verstehen wir alle den Satz auch nicht. Man kann keinen
wurden, wie die Chorlyrik, etwa die Pindarischen Hymnen. Wie ist es etwa
Satz verstehen, der vorgelesen wird, ohne daß der Vorlesende ihn verstan-
mit den Horazischen Gedichten? Erst recht fragt man sich, ob man Rilke
den hat. Warum ist das so? Welche Art von Idealisierung< liegt hier vor, die
268 Die Kunst des Wortes Stimme und Sprache 269

Gemeinsamkeit stiftet? Ich würde sie >hermeneutisch< nennen, denn sie ist nur an Ludwig Tieck - ist es zweifellos auch nicht so, daß sich der Sprecher
vom Verstehen abhängig, ist eine vom Sinn gewichtete Art des Verlautba- in die Person verliert, deren Worte er im Augenblick spricht. Es bleibt ein
rens, des Sprechendseins, des Redendseins. Mit Verständnis — das heißt nicht gewisser Gesamtton des Vorlesens, dank der gleichen Stimme, die sich nur
mit >Ausdruck<. Da wird die Sache schon ganz schlimm, wenn einer >mit leicht charakterisierend modifiziert und das Vorliegen eines gelesenen Tex-
Ausdruck« liest. Der Schauspieler, der eine Rolle verkörpert, muß der tes im Bewußtsein hält. Auch bei einem Phänomen, wie es etwa ein Tieck
ganzen Person, die er spielt, Ausdruckskraft geben, aber nur insofern auch war, welcher alle Rollen eines Shakespeare-Dramas selber sprach, so daß es
dem >Text<. Aber ob der Vorlesende und wie weit er in Rückbindung an den fast wie ein lebendiges Sprechen mit verteilten Rollen war, wurde im
ursprünglichen Sprecher oder Schreiber einem Text Ausdruck geben soll? Vergleich zur Bühne zweifellos eine gewisse Reduktion vorgenommen.
Muß nicht der Ausdruck, den etwa der erzählende Text verlangt, etwas von Denn gewiß hatte Tiecks Vorlesen eine einzigartige stilistische Einheitlich-
unpersönlicher Sinnhaftigkeit und Anschaulichkeit haben? Eine Analogie keit. In der Erzählkunst sieht die Sache wieder anders aus. Da soll man sicher
aus der bildenden Kunst mag das verdeutlichen. Im Unterschiede zur Re- den Stil eines Erzählers spüren, aber so, daß man fast unmerklich zum
naissancekunst finden wir bei den Sieneser Malern, daß etwa die Kurve eines selbstvergessenen Mitgehen mit der Erzählung gebracht wird — auch wenn
Engelgewandes überaus ausdrucksvoll sein kann, während das Gesicht oder man nachträglich die Kunst der Sprache bewundern mag.
die eigentliche Gestik als solche gar keinen »Ausdruck« zeigt, vor allem auch Im allgemeinen werden wir es hier schon mit stillem Lesen zu tun haben.
nicht das Auge. Etwas von solcher Anonymität des Ausdrucks liegt im Ich bin mir nicht darüber klar und weiß auch nicht, wie weit wir das wissen.
richtigen Stil des Vorlesens einer Erzählung. Mein entscheidender Punkt ist Seit wann lesen wir eigentlich, ohne laut zu lesen? Im Altertum war es
jedenfalls, daß aller Stimmgebrauch sich dem Lesen unterordnet und sich an selbstverständlich, daß man laut las. Das weiß man aus einer erstaunten
der Idealität mißt, die allein das innere Ohr hört, in dem das Kontingente der Feststellung, die Augustin über Ambrosius gemacht hat. Aber weiter: Seit
eigenen Stimme und des eigenen Sprechens verschwindet. wann liest >man< leise und ist nicht Zuhörer? Seit wann ist dies, daß man leise
Hier darfich noch einen Augenblick dabei verweilen, um recht deutlich zu liest, ohne einen Laut zu lesen, fur den Schreibenden von Wichtigkeit? Ich
machen, wie sich Vorlesen in dem Falle modifiziert, wo es sich um Sprach- meine, daß er dann für eine andere Art des Wiedererzeugens seiner Sprach-
kunst handelt und nicht um den bloßen Transfer von Sinn, um die Über- kunst im Lesen schreibt, als es das Lautlesen war. Es kann doch kein Zweifel
mittlung eines bestimmten Inhaltes, einer bestimmten Botschaft. Dann soll sein, daß der Übergang zur allgemeinen Lesekultur auch vom Schreibenden
vielmehr das Wie des Gesagtseins, die erscheinende, ertönende Sprache, mit antizipiert wird und die Stilformen des Schreibens modifiziert hat. Bei der
aufgebaut werden, im Unterschiede zu einer Mitteilung, von der wir sagen: Dichtung ist das zuweilen unübersehbar, etwa wenn man Anagrammfor-
Ja, ja, jetzt habe ich es begriffen! — und gar nicht mehr weiter hinhören. men in der Barocklyrik vor sich hat, die auch für das Auge bestimmt waren.
Dagegen, wenn wir zum Beispiel ein Gedicht lesen, sagen wir nicht: Das Ebenso mag es etwa in Maliarmes Spiel mit der Druckanordnung fur >Un
kenne ich schon! — und hören auf. Wer ein Gedicht wieder liest, meint nicht, Coup de Dés< sein. Visuelle Anordnungen können dem (äußeren oder
er brauche es nicht mehr zu lesen. Im Gegenteil, er fangt «rst dann richtig an inneren) Hörer der Sprache des Gedichts dienen - wie etwa die George-
zu lesen und versteht wohl erst, wenn er es auswendig kann. Dagegen ist die Schrift geradezu >Hersagen< verlangt, um sich von den theaterhaften Rezita-
epische Gattung sehr wohl durch die Gespanntheit auf den Fortgang der tionskünsten abzuheben.
Erzählung und ihre Überraschungen charakterisiert. Auch hier spielen Pro- Ein besonderes Thema kann ich nur am Rande streifen: die Zeitgestalt des
bleme der Zeitgestalt eine entscheidende Rolle. Was für ein Verweilen Lesens. Da geht es um die Frage, wie sich der Aufbau von Sprache im
entsteht dort, wo wir es mit Kunst zu tun haben? Wird da nicht der Ablauf inneren Ohr des Lesenden und in seinem Geiste vollzieht3. Da gibt es
als solcher gleichsam zurückgeholt, für eine Art von anschaulicher Gegen- Modifikationen, etwa den Fall des Liedes, das man singt, oder des Ge-
wart? Das ist Sprachkunst. Natürlich ist Sprache als Sprache in den verschie- dichtes, das man auswendig kann und vor sich hinsagt, und auf der anderen
denen Kunstgattungen sehr verschieden da. Beim Theater ist das relativ Seite die reine Leseliteratur, etwa den Roman. Auch wenn wir bei mancher
einfach, obwohl es ein Problem bleibt, warum wir in einer meisterhaften Erzählung eine ununterbrochene zeitliche Abfolge der Lektüre annehmen
Darstellung einer Rolle immer noch den Stil des Dichters hinter der Sprech- können, ist sich doch der Autor eines Romanes der Diskontinuität bewußt,
weise des Sprechers spüren können. Beim Lesen mit verteilten Rollen soll es die die Erzählliteratur im ganzen in Kauf nehmen muß. Musil rechnete
immerhin noch etwas vom >Lesen< bleiben, und beim Vorlesen von Dramen
- einstmals ein gesellschaftlicher Vorgang von hohem Rang, ich erinnere 3
Ausführlicher dazu der folgende Beitrag >Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23).
270 Die Kunst des Wortes

gewiß nicht damit, daß man seinen >Mann ohne Eigenschaften ohne Pause
liest. Die epische Literatur legt es geradezu darauf an, daß hier Diskontinui-
tät in eine neue Kontinuität überfuhrt wird. Damit rechnet sie, und das gibt
ihr auch beim Erzählen Freiheiten in der Behandlung der Zeitfolge, stellt
aber auch neue Anforderungen an die Kunst des Schreibens, ζ. Β. Spannung 23. Hören - Sehen - Lesen
zu erregen und zu steigern. Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen
Buche ist es keine Empfehlung für einen Roman, wenn man zurückblättern (1984)
muß. Die Zeitgestalt des Lesens bleibt mit der Zeitgestalt des Textes noch in
einer gewissen Entsprechung. Aber sie ist nicht dieselbe und jedenfalls nicht
so, wie es die Vollzugseinheit beim >Lesen< eines Gedichtes oder Hören eines Die Philologie nennt man seit Nietzsche die Kunst des langsamen Lesens.
Musikstückes ist. Bei allen Unterschieden wird sich jedoch ein gemeinsamer Das ist in Wahrheit eine mehr und mehr verschwindende Kunst, bei etwas
Zug durchhalten. Das hat etwa Dilthey als die Zentrierung im Mittelpunkt zu verweilen, statt durch Texte durchzueilen und die Informationen abzu-
> Struktur< genannt, und das steht in der modernen französischen Struktur- ernten, die in ihnen gespeichert sind. Die Aufgabe, die ich mir heute stelle,
forschung ganz im Vordergrund. So variiert der Vorgang des Lesens in ist, über die besondere Struktur des Lesens ein wenig nachzudenken. Lesen
vielfacher Weise, wenn sich die sukzessive Zeitdimension mit der zyklischen bezieht sich auf Schrift, Handschrift oder Druckschrift, und Schrift geht
Zeitdimension im Vollzug des Lesens vermittelt. Die Zeitstruktur des Le- zurück auf Sprache. Lesen ist Sprechenlassen. Darin liegt ein hermeneuti-
sens wie die des Sprechens stellt eben ein weites Problemfeld dar. sches Moment. Wer kann lesen, ohne zu verstehen? Es wäre ein Stottern, ein
Stammeln, ein Buchstabieren, aber kein Lesen, solange man nicht von der
Sprache selber in das von ihr Geweckte eingeleitet wird. Sprechen fordert
also Verstehen, Verstehen des Wortes, das gesagt wird. Auch des eigenen
Wortes. Wir wissen alle, was es heißt, daß man sein eigenes Wort nicht
versteht. So etwa sagt man, wenn es im Räume zu laut ist. Man meint damit
etwas sehr Wesentliches, nämlich daß man sein eigenes Wort deshalb nicht
versteht, weil man nicht sehen kann, wie es der andere aufnimmt. Das heißt
nicht, daß man auf die eigenen Worte hinhört, aber man muß daraufhinzie-
len, daß der andere es hören kann. Es kommt auf dieses Ankommen bei dem
Adressaten an. Man darf sich sogar fragen, ob nicht alles Stocken im Verste-
hen seiner selbst, was doch wohl eine unserer denkenden Grunderfahrungen
ist, immer noch in Wahrheit ein ausbleibendes Ankommen bei sich selber
ist.
Wenn ich das Phänomen des Lesens mit Hören und Sehen in Verbindung
sehe, so hat dieses Thema zwei Aspekte, einen anthropologischen und einen
poetologischen. Der anthropologische Aspekt ist uralt. Die Rivalität dieser
unserer beiden menschlichsten Sinne ist ein bekanntes Phänomen. Jeder
weiß, daß ein Habicht besser sieht als er selber und daß eine Katze mehr hört
als er selber. Aber das Zusammenspiel von Hören und Sehen ist beim
Menschen von alters her seine besondere Auszeichnung. Hören heißt eben
nicht nur hören, sondern Hören heißt Worte hören. Hier liegt eine Aus-
zeichnung des Hörens. So hat noch in der bekannten Redensart, daß einem
Hören und Sehen vergeht, das Hören den ersten Platz. Gewiß hat Aristoteles
recht, wenn er am Anfang der >Metaphysik< sagt, von allen Sinnen des
Menschen
272 Die Kunst des Wortes Hören - Sehen - Lesen 273

sei das Sehen der wichtigste, denn er präsentiere die meisten Differenzierun- richtig einschätzen. Sie bedeutet nämlich, daß man die >Mneme<, das Ge-
gen, die meisten Unterschiede, und stehe deswegen unter allen Sinnen dem dächtnis, das Engramm in uns selbst, als die erste Form von Schriftlichkeit
Erkennen, dem Unterscheiden, am nächsten. Er sagt auch etwas vom erkennen muß, die sich in der Psyche eingegraben hat. Jeder sieht das an
Vorrang des Hörens. Hören kann die menschliche Rede aufnehmen, und Homerischen Epen so gut wie an anderen Epen, die noch für rhapsodische
deren Universalität übertrifft alles. Überlieferung gedichtet sind, wieviel Répétition, Floskeln, Stilmittel und
Nun wissen wir, wie sehr sich diese beiden wesentlichen menschlichen Metaphern, die sich wiederholen, das Gedächtnis des Rhapsoden so gut wie
Sinne kompensieren. Alle schlecht sehenden Menschen trainieren ihr Ohr das des Hörers entlasten. Die Stabilisierung durch die Schriftlichkeit wird in
viel mehr als die anderen. Doch umgekehrt wissen wir, wie weit sich das der mündlichen Überlieferung von Dichtung schon beinahe antizipiert.
Ohr durch das Auge ersetzen läßt, ζ. Β. durch Ablesung der Lippenbewe- Nun kann ich hier nicht diskutieren, wie der Anteil von mündlicher
gung. Die Beziehungen zwischen Hören und Sehen, Sehen und Hören, sind Überlieferung und von schriftlicher Reduktion die Redaktion unserer klassi-
aber sehr viel komplizierter, als der erste Anschein zeigt. Selbstverständlich schen Epen beeinflußt hat. Mir liegt nur daran, daß man auf die Verbindung
geht es, wenn wir von Hören und Sehen in bezug auf das Lesen sprechen, zwischen Lesen und Hören überhaupt den Blick richtet und damit die für
nicht darum, daß man sehen muß, um Schrift entziffern zu können, sondern den Schreiber, für den Schriftsteller so entscheidenden Adressaten nicht
es geht darum, daß man hören muß, was Schrift sagt. Hören können heißt vernachlässigt, an die er sich wendet. Wir kennen aus der Rhetorik, daß die
verstehen können. Das ist das eigentliche Thema meiner Überlegungen. großen Repräsentanten der Redekunst, die wir aus Griechenland kennen,
Der Zusammenhang zwischen Lesen und Hören liegt auf der Hand. Es ist durchweg geschriebene Reden verfertigt haben, also Literatur. Sie lasen
erst in späten Phasen unserer europäischen Kultur dazu gekommen, daß Texte vor, wenn sie ihre berühmten Auftritte machten. Schon damals war
man überhaupt lesen kann, ohne zu sprechen. Wir wissen durch eine Stelle also das Verhältnis zwischen Rhetorik und Literatur sehr eng geknüpft. Das
bei Augustinus, daß der Kirchenvater Ambrosius angestaunt wurde, weil er sind gewiß relative Spätzeiten, in denen wir uns da befinden und auf die
lesen konnte, ohne dabei laut zu sprechen. Aus meiner eigenen Jugend unsere Überlieferung von Reden allein zurückreicht.
erinnere ich mich, daß mein Deutschlehrer im Breslauer Gymnasium an mir Die verschiedenen Weisen, in denen sich Lesbares in Hörbares umsetzt,
zunächst mit Mißtrauen - bis er sich von meiner Unschuld überzeugt hatte - sind aber offenbar von sehr weitreichender Bedeutung. Man denke an den
beobachtete, daß ich beim Schreiben immer die Lippen bewegte, als ob ich Unterschied, wie etwa der berufsmäßige Rhapsode oder Sprecher einer
spräche. Vielleicht war das eine erste Frühbestimmung für hermeneutisches bestimmten Gattung, etwa des Epos, vorsingt, oder wie Chorlyrik zur
Talent, daß ich, wenn ich etwas lese, es noch immer hören möchte. Worum Aufführung kommt. Auch da wird im Grunde nichts aufgeführt außer
es geht, ist also die Rückverwandlung von Schrift in Sprache und das damit Sprache, aber Sprache, die in Tanzschritten aufgeführt wird, ist etwas ganz
verknüpfte Hören. anderes als die Sprache des Epos. Chorlyrik, das heißt ja Mitsingen und
Hier befinden wir uns in einem gewissen Neuland der Fragen. Es muß Mittun vieler. Wenn man sich die ganze Kette von Phänomenen vor Augen
doch einen Unterschied machen, ob ein Text für das Rezitiertwerden nieder- führt, die sich hier anschließen, lernt man etwas über das Lesen und was
geschrieben wird oder ob ein Text vom Blatt gelesen werden soll, ob ein Lektüre ist.
Text vorgelesen werden soll und dafür geschrieben ist oder ob man, wie Hier knüpfe ich an Untersuchungen an, die ich als junger Dozent 1929
schließlich in unserer Kultur es immer häufiger geworden ist, ganz nur mit angestellt habe, als ich ein ganzes Semester lang im Philosophischen Seminar
dem stillen Lesen zu rechnen hat. Nicht* daß das klare Unterschiede wären. die Frage erörterte, was Lesen eigentlich ist: Ist es eine Art Aufführung auf
Doch muß es für die Kunst des Schreibens selber eine Rolle spielen, wie das einer inneren Bühne? Goethe hat es einmal so genannt. Der Ausdruck ist
Geschriebene in Gebrauch genommen wird. Hier gehört das heute viel gewiß nicht schlecht gewählt, daß man beim Lesen eine Bühne in sich tragen
diskutierte Problem der Oral poetry hin. Was ich als klassischer Philologe muß, wenn man die Artikulation der Sprache in ihrer ganzen Spannungs-
noch gelernt hatte, daß epische Tradition sich nur auf der Basis der Schrift- weite wirklich ausmessen oder gar übermitteln will. Aber der Vergleich hat
lichkeit überhaupt entwickeln könne, wird durch die Tatsache einge- doch offenbar sehr enge Grenzen. Das wird etwa klar, wenn ich an eine
schränkt, daß ein erstaunlich langes mündliches Traditionsleben gerade bei Übersetzung wie die Shakespeare-Übersetzung Gundolfs erinnere, und ich
epischem Sagengut und bei epischer dichterischer Überlieferung bekannt exemplifiziere meinen kleinen Beitrag gerade damit, weil ich das letzte Mal,
geworden ist. Das hat die amerikanische Expedition in den albanischen als ich Rudolf Sühnel sprechen hörte, ihn seine schöne Arbeit über Gundolf
Bergen gezeigt. Man muß diese Erkenntnis freilich in ihrer Bedeutung vortragen hörte. Er zeigte da, wie sich die deutsche Shakespeare-Rezeption
274 Die Kunst des Wortes Hören — Sehen — Lesen 275

mehr und mehr auf das klassische Zeitalter einer Lesekultur und damit auf der evokativen Macht der Sprache überhaupt und deren Vollendung in der
die innere Bühne des Lesens hin bewegt. Bei Gundolf hat sich seine dichteri- evokativen Macht des dichterischen Wortes. Man kann geradezu sagen, daß
sche Übersetzungsleistung geradezu bis zu einer theaterunfähigen Form das dichterische Wort durch diese seine Macht seine Autonomie beweist.
gesteigert. Das sind interessante Dinge. Goethe hat durchaus im gleichen Ma» muß den schon einen Banausen nennen, der etwa eine in einem Gedicht
Sinne die Dinge gesehen, wenn er zum Beispiel sagt, Shakespeare habe einen oder einer Erzählung geschilderte Landschaft in der Wirklichkeit aufsuchen
großen Platz in der Poesie. Sein Platz im Theater sei mehr ein zufalliger und möchte, um die Dichtung besser zu verstehen. Die evokative Macht der
äußerlicher. Die Shakespeare-Rezeption der deutschen Klassik war in der Sprache fuhrt vielmehr zu einer Anschauung und Anschaulichkeit, die von
Tat ganz vom Wort her beherrscht und auf die dichterische Sprachwirkung einer geradezu rätselhaften Präsenz der Selbstbezeugung ist.
gerichtet. Das meint selbstverständlich, sie war wesentlich auf das Vorlesen Das ist der zweite Punkt, zu dem ich eine Bemerkung machen möchte,
gegründet. Goethe war ein hervorragender Vorleser seiner eigenen Dich- weil er ein vielfach erörtertes Problem berührt, seit Emil Staiger die Zeit als
tungen, und wir wissen von Ludwig Tieck, daß er ein unvergleichlicher Mittel der dichterischen Einbildungskraft unter dem Eindruck Heidegger-
Meister im Rezitieren Shakespearescher Dramen gewesen ist. Was aber ist scher Einsichten behandelt hat. Die Sache wird heute in der poststrukturali-
solches Vorlesen fur eine Art des Lesens? Ist es Mimus? Ist totale Verwand- stischen Poetologie geradezu ins Extrem getrieben. Da soll aller Präsenz der
lung der Stimme das Ideal, so daß man den Eindruck gewinnt, daß hier Prozeß gemacht werden. Ich halte das fur ein Mißverständnis. Derrida sieht
wirklich immerfort ein anderer spricht? Oder ist es nicht eher eine leise in solcher Präsenz eine Fortwirkung der griechischen Metaphysik. Nun hat
Tönung in die Richtung der verschiedenen sprechenden Personen, die von uns Heidegger in der Tat gelehrt, daß die griechische Metaphysik und ihr
dem Melos und der Melodie der einen Stimme des dichterischen Werkes und Seinsverständnis auf Gegenwart gerichtet ist. Das gegenwärtig Vorhande-
seines Sprechers zusammengehalten wird? Offenbar handelt es sich um eine ne, das Gegenwärtige, macht den eigentlichen Charakter des griechischen
Zwischenform zwischen der wirklichen Aufrührung auf einer Bühne und Seinsverständnisses aus. Diesem Zeitmodus von Seinsgegenwart wider-
jener Aufführung auf der inneren Bühne, die gar keine Aufruhrung ist, spricht in der Tat die Zeitlichkeit des Sprechens und des Hörens, die Sukzes-
sondern lediglich ein inneres Hören auf das Klangwerden der Sprache. sion einschließt. Was man aber sehen muß, ist, daß das gleiche auch für die
Nun ist es für jedermann klar, daß dies letztere die Auszeichnung der im Sprechen geweckte Anschauung gilt. Goethe selbst macht im Zusam-
Literatur ist. Sie heißt zwar Literatur, aber ihr Gegenstand ist Sprache und menhang seines kleinen Shakespeare-Aufsatzes den Unterschied zwischen
nicht Schrift. Sprache ist die eigentliche Wirklichkeit des in der Literatur dem Sinn des Auges, des leiblichen Auges, und dem inneren Sinn, der durch
Tradierten und ist diese äußerste Möglichkeit, sich aus allem Materiellen das Wort allein angemessen erfüllt wird. Hier liegt unser Problem: Worauf
zurückzuziehen und aus dem Sprachvollzug des fixierten Textes gleichsam beruht es und wie konstituiert sich die Anschaulichkeit, die wir nicht nur am
neue Sinn- und Klangwirklichkeit zu gewinnen. Alle anderen Künste, und Dichter, sondern an jedem, der Sprache gebraucht, als die Qualität seines
natürlich auch die Theaterkunst, sind an materiell einschränkende Bedin- sprachlichen Ausdruckes zu schätzen wissen?
gungen gebunden. So kann man von einem Theaterstück sagen, daß es nicht Wir reden von dem >anschaulichen< Bericht. Es braucht einer kein Dichter
spielbar ist, und das meint, daß die einschränkenden Bedingungen, die zu sein, der uns etwas so erzählt, daß man das Gefühl hat, man sei dabei
dadurch entstehen, daß hier in noch eine andere Erscheinungsweise als nur in gewesen. Wir rühmen es auch im besonderen an der dichterischen Rede,
die der Sprache transponiert wird, die Souveränität dieses in Sprache er- wenn sie unsere Einbildungskraft bewegt und aus einer Fülle von wechseln-
scheinenden Sinnes mit antasten. Hier wird der innere Zusammenhang den, auftauchenden und verblassenden Gesichten in uns so etwas wie eine
zwischen Lesen und Hören in seinem Kerne greifbar. Wo wir es mit Litera- Gesamtwirkung und Gesamtanschauung aufbaut. Was ist das für ein Ge-
tur zu tun haben, findet die Spannung zwischen den stummen Zeichen der schehen? Es handelt sich natürlich nicht um den inneren Sinn in der Weise, in
Schrift und der Hörbarkeit aller Sprache ihre vollendete Auflösung. Man der die Philosophen, etwa Kant, davon reden. Wenn Kant die Anschauungs-
liest nicht nur den Sinn, man hört ihn. form der Zeit den inneren Sinn nennt, so meint er damit die Zeit als
Von innerer Aufrührung zu reden, wie Goethe tut, ist also nicht ohne Sukzession. Im Unterschiede zu der Gleichzeitigkeit der Dinge im Raum
Recht. Das fuhrt mich zu dem zweiten Punkt, dem Verhältnis von Lesen stellt die Zeit die Abfolge des einen nach dem anderen als Anschauungsform
und Sehen. Natürlich geht es nicht um den Trivialsinn, daß man sehen muß, dar. Das ist für die Zwecke, in denen Kant diese Unterscheidung getroffen
um Schrift lesen zu können, sondern darum, daß durch das Lesen etwas hat, selbstverständlich richtig. Aber mit dem Problem der Anschaulichkeit,
Sichtbares geweckt wird, das wir >Anschauung< nennen. Es ist das Wunder das wir mit gutem Grunde hier im Auge haben, wenn wir von echtem Lesen
276 Die Kunst des Wortes Hören — Sehen — Lesen 277

sprechen, hat das offenkundig nicht unmittelbar zu tun. Nicht das Nachein- versteht? Das negative Extrem hebt sich deutlich ab, wenn einer sich am
ander als solches, sondern die Präsenz des Nicht-Gleichzeitigen ist für alles Schluß eines Musikstückes erst einmal ängstlich umsehen muß, ob er zu
Lesen konstitutiv. Wer Texte nicht im Gesamtvollzug ihrer Artikulation klatschen zu beginnen hat. Verstehen schließt also ein, daß man dem gleich-
und Modulation und Gliederung auffaßt oder reproduziert, der kann eigent- sam schon voraus ist, was noch aussteht oder nicht mehr aussteht, und das so
lich nicht lesen. Lesen ist ja nicht die bloße Aneinanderreihung von Wort sicher im Ohr hat, daß kein Problem solcher Art entsteht. Worauf beruht
und Wort und Wort. Das ist Buchstabieren oder Aufsagen. Lesen dagegen diese Einheitsbildung? Was ist die Zeit, in der solches Verstehen von Sprach-
ist eine stille Art, etwas wieder sprechen zu lassen, und das setzt Vorgriffe gestalten aus Sinn und Klang vor sich geht? Sicherlich hat sie ihr Wesen nicht
des Verstehens voraus. Wir wissen, was wir unter gutem Vorlesen verste- in der meßbaren Folge der Jetztpunkte.
hen. Es muß so sein, daß man es gut verstehen kann, und es kann nur so sein, Aristoteles behandelt einmal das Wesen des Umschlags. Er meint dabei
wenn der Lesende es selber verstanden hat. Ich glaube im Grunde nicht, daß solche Phänomene wie das plötzliche Gefrieren einer unterkühlten Flüssig-
es möglich ist, etwas so vorzulesen, daß ein anderer es versteht, wenn man es keit, die >Metabolë<. Er will damit sagen, daß nicht alle Bewegung in der
selber überhaupt nicht verstanden hat. Dimension der Zeit verläuft. Es gibt für diese Physik des Augenscheins auch
Freilich, was heißt hier Verstehen? Sicherlich haben wir es hier mit einem die Plötzlichkeit des Umschlages. Nun, solche Plötzlichkeit des Umschlages
weitgespannten Kontinuum zwischen vagster Sinnanmutung und rechen- ist in jedem Verstehen. Wir kennen das, wenn wir auf eine bloße Mitteilung
schaftsfahigem Begreifen zu tun. Am auffälligsten wird es gewiß dort, wo im täglichen Leben hinhören: Wir hören dann zu, bis wir es >haben<. In dem
nicht nur gelesen und vorgelesen wird, sondern regelrecht Theater gespielt Moment, in dem wir es >haben<, ist sozusagen das Ganze da. Ungeduldige
wird. Die verschiedenen Ränge des Verstehens, die etwa ein attisches Thea- Menschen haben es nicht einmal gern, wenn der andere dann bis zu Ende
terpublikum zu einem übereinstimmenden Urteil vereinigte, sind nicht spricht.
bloße Erweiterungen eines teilhaften Verstehens zu einem Ideal des vollen- Nun ist das im Falle der Literatur gewiß nicht ebenso. Da ist das Ganze der
deten Verstehens hin. Die Ränge sind vielmehr konzentrisch ineinander Spracherscheinung neben dem Ganzen des Sinnes der Rede gemeint. Aber
gefugt. Auch der heutige Schauspieler steht stets innerhalb dieses Varia- auch1 dieses Ganze, das durch Sprache und insbesondere durch dichterische
tionsraumes von >Ahmung< und bewußter Interpretation. Wir kennen es an Sprache zu anschaulicher Präsenz gebracht wird, wird nicht Wort für Wort
Gegenbeispielen, etwa an dem Aufsagen von Gedichten, wie wir es als aufgebaut, sondern ist als dieses Ganze da, wie mit einem Schlag. Und
kleine Kinder zum Geburtstag unserer Eltern zu tun hatten. Das ist eine Art natürlich hat diese Art von Präsenz nicht die Gegenwärtigkeit eines Augen-
Sagen, das kein Sagen ist. Denn hier ist der Vollzug von Sprache in das blicks, sondern schließt raumfüllende Gleichzeitigkeit ein. Wir haben in der
Extrem der gedankenlosen Form des bloßen Memorierens abgesunken und deutschen Romantik bei Novalis, Baader, Schelling erste Winke in dieser
ist nicht in einen verstehenden Vollzug eingelagert, der nicht Nachahmung, Richtung, die dann durch Bergsons >Matière et mémoire< zu allgemeiner
sondern >Ahmung<, ein Ganzes des Vollzugs ist. So Hegt der wesenhafte Anerkennung gelangt ist. Im Sprachgebrauch des Fremdwortes >Präsenz<
Unterschied auf der Hand, der zwischen der Zeitgestalt der Anschaulichkeit spiegelt sich das deutlich. Wir sagen etwa von einem Menschen, er habe
in Präsenz und jener Zeitgestalt des Nacheinander besteht, deren reine Präsenz, wenn es so ist, daß man merkt, wenn er hereinkommt, während
Ausprägung in der physikalischen Zeit, der gemessenen Zeit, vorliegt. wir es beim anderen nicht merken. Auch beim großen Schauspieler sagt
Offenbar hängt der Unterschied mit dem Wesen des Sprechens, mit dieser man, er habe Präsenz, d.h., er füllt die Bühne, auch wenn er nur an der
Antizipation von Sinn aufs engste zusammen, auf die alles Sprechen su- Kulisse steht und andere sich viel mehr anstrengen, ohne solche Präsenz zu
chend, verfehlend und findend gerichtet ist. Wirkliches Sprechen ist eben auf erreichen. Präsenz heißt also etwas, was sich wie in einer Art Eigengegen-
das Wecken von Anschauung gerichtet, so daß sich die anschauliche Präsenz wart ausbreitet, so daß das Geheimnisvolle und Unheimliche des Vergehens
des Gesagten gerade dadurch ergibt, daß sich nicht bloß ein Nacheinander der Zeit, des Davonrollens der Augenblicke im Zeitflusse, wie angehalten
abwickelt, sondern ein Vorgriff auf Einheit die Führung hat, die Gestalt ist Darauf beruht Sprachkunst. Sie vermag es, daß in der zaudernden Weile
gewinnt. Wir reden dann etwa von der Gestalteinheit, über die uns die einiges Haltbare sei. Wir lesen ja auch wirklich ein literarisches Kunstwerk
Gestaltpsychologie belehrt hat. Oder wir reden mit Dilthey von der Zentrie- nicht auf das hin, was es an Information bietet, sondern werden immer
rung in einem Mittelpunkt und kennen all diese Dinge am besten aus dem wieder auf die Einheit des Gebildes zurückgeworfen, das sich immer diffe-
Hören von Musik. Denn was heißt dort Verstehen? Ein auf einen Informa- renzierter artikuliert.
tionsinhalt gerichtetes Interesse vermag darin nichts zu verstehen. Wer also Wir lernen durch die Wissenschaft - von der antiken Rhetorik über die
278 Die Kunst des Wortes

Philologie bis hin zur Textlinguistik und Phonologie - von den Stabilisato-
ren, die der Rede solchen Halt geben. Die Funktion von Rhythmus und
Reim, von Assonanzen und phonologischen Symmetrien durchzieht alles
Sprachliche, vom Reklametext bis zur Dichtung. Gereimtes ist nicht immer
Dichtung. Gewiß gehört der Reim zu den Stabilisatoren der Rede, die in
Dichtung begegnen. Vielleicht ist er eines der schwerst zu handhabenden 24. Lesen ist wie Übersetzen
Kunstmittel der Lyrik. Die moderne Poesie ist wohl gerade deshalb in der
Verwendung des Reims so zurückhaltend geworden, weil der Mißbrauch (1989)
des Reimens sich immer mehr verbreitet hat. Und so ist es immer schwerer,
das Klappern des Reimes zu vermeiden. Aber auch bei anderen Kunstmitteln
gibt es dieselbe Art des Mißbrauchs, ζ. Β. bei der stabreimähnlichen Asso- Ein berühmtes Wort von Benedetto Croce sagt: »Traduttore-traditore. «
nanz. In Wahrheit steht eben die Einzigkeit dichterischer Fügung ständig in Jede Übersetzung ist wie ein Verrat. Wie sollte das der Mann nicht wissen,
der Abwehr gegen die Abnutzung von Sprache. Abnutzung von Sprache der so polyglott war, wie der bedeutende italienische Ästhetiker - oder wie
aber bedeutet, daß Sprache nicht mehr leistet, was sie kann: eine neue jeder Hermeneutiker, der sein Leben lang auf die Nebentöne, die Ober- und
Präsenz, eine neue Vertrautheit zu schaffen, die sich nicht abnutzt, sondern Untertöne von Sprachen zu achten gelernt hat. Oder wiejemand, der auf ein
beständig an Tiefe gewinnt. Das schließt gewiß ein, daß die Worte nicht erst langes Leben zurückblickt. Man wird mit den Jahren immer empfindlicher
in der Äußerlichkeit des Klanges, dann in der Trägerschaft der Bedeutung, gegen die Viertels- und Halbannäherungen an wirklich lebendige Sprache,
dann in der Einfügung in einen Bedeutungszusammenhang aufgenommen die als Übersetzungen begegnen. Man findet sie immer schwerer zu ertragen
und so nach und nach zum Ganzen aufgebaut werden. Vielmehr ist die und obendrein immer schwerer zu verstehen.
Wirkungseinheit von Sinn und Klang, die wie von einem Ganzen getragen Jedenfalls ist es ein hermeneutisches Gebot, nicht so sehr über Grade der
wird, in jedem Worte bereits darin. Dieses Darinsein des Ganzen in allem Übersetzbarkeit, wie über Grade der Unübersetzbarkeit nachzudenken. Es
Einzelnen des Gebildes schließt aber ein, daß auch der von ihm ganz Erfüllte gilt, noch über das Rechenschaft zu geben, was verlorengeht, wo übersetzt
ganz in ihm aufgeht — wie der Schauende in der Anschauung, wie der wird, und vielleicht auch, was dabei gewonnen wird. Selbst bei dem hoff-
Singende in seinem Gesang. Darin hegt der wahre Sinn des Auswendigkön- nungslos scheinenden Verlustgeschäft des Übersetzens gibt es nicht nur ein
nens von Dichtung beschlossen. Das ständig Neuankommende der Präsenz Mehr oder Weniger an Verlust, es gibt auch mitunter so etwas wie Gewinn,
der dichterischen Worte ist das, worin wir ganz zu Hause sind. In der Tat mindestens einen Interpretationsgewinn, einen Zuwachs an Deutlichkeit
reden wir von In- und-Auswendigkönnen, und das ist es, was auch sonst das und mitunter auch an Eindeutigkeit, wo dies ein Gewinn ist.
eigentliche Oberwinden von Fremdheit bereitet, das Zuhause-Sein, das
Sprachliches, das als Text begegnet, ist dem ursprünglichen Gesprächsle-
Wohnen in etwas. Goethe gebrauchte einmal den Ausdrück >Wohnen< in
ben, in dem Sprache ihr eigentliches Dasein hat, entfremdet. Schon das
solchem Zusammenhang. Heidegger hat darüber ausführlich gehandelt. So
Sprechen selbst ist ja in Wahrheit nie von so vollendeter Genauigkeit, daß
stellt sich das Thema >Hören - Sehen - Lesen« in der ihm eigentümlichen
stets das rechte Wort gewählt und gefunden ist. Schon im Gespräch ist viel
Verschränkung und in der Unlösbarkeit der verschiedenen Aspekte, in
Darumherumreden, und das gleiche begegnet im Text in der Ausflucht zu
denen es sich darstellt, am Ende in einen größten Zusammenhang. Alle
den Leerformeln trivialer Rhetorik. Im lebendigen Gespräch wird das alles
unsere Erfahrung ist Lesen, ist Auslesen dessen, worauf wir gerichtet sind,
überspielt und unmerklich. Wenn aber solch kunstloses Sprechen als Text
und Sich-Einlesen in das so artikulierte Ganze. Auch das Lesen, das mit
begegnet und dann gar noch wörtlich übersetzt wird, wirkt sich das ver-
Dichtung vertraut macht, läßt Dasein wohnlich werden.
hängnisvoll aus. Da ist einmal der schreibende Autor, der, statt des treffen-
den Wortes sich zu bedienen, in leere Konvention abgeglitten war, und dann
droht das gleiche noch einmal beim Übersetzer, der das Konventionelle und
Leere für wirklich Gesagtes hält. So wird die Nachricht des Textes, die
immer schon in der Vorlage ungenau ist, in der Übersetzung vollends
ungenau, und zwar gerade, weil man genau sein will und jedes Wort
wiedergeben möchte, auch die leeren Worte. Es ist für den Autor geradezu
280 Die Kunst des Wortes Lesen ist wie Obersetzen 281

wie eine Erziehung zur Klarheit und Knappheit des Ausdrucks, wenn er nen; wenn es sich überhaupt nicht um Überwindung eines Zeitenabstandes
etwa als Deutscher vom Englischen Gebrauch macht oder auch nur - als handelt, sondern nur um die Übertragung von einer Sprache in die andere
gebranntes Kind, das das Feuer scheut - für einen Übersetzer schreibt, und im zeitgenössischen Schrifttum. Da setzt sich der Übersetzer in Wahrheit
das heißt im Blick auf die Leser der kommenden Übersetzung. Da wird man der gleichen Gefahr aus, in der sich jeder Dichter befindet, dem ständig der
die umständlichen Floskeln vermeiden und den langen Perioden aus dem Rückfall in die sogenannte Umgangssprache droht oder in die matte Imita-
Wege gehen, die wir so lieben und die uns durch die humanistische Bewun- tion dichterischer Vorbilder. Das gilt für den Übersetzer in beiden Fällen,
derung Ciceros anerzogen sind, und ebenso den seelenvollen Dunkelheiten, aber auch für den Leser. Beiden strömen aus dem menschlichen Umgang,
in die es uns lockt. im Gespräch und im Gerede, beständig für den eigenen Gestaltungswillen
Die Kunst des Schreibens zielt auch im theoretisch-wissenschaftlichen des Übersetzers wie für den Verständniswillen des Lesers Angebote zu. Sie
Bereich am Ende immer wie die der lebendigen Rede darauf, den anderen können inspirieren, sie mögen aber auch beirren. Mit all dem muß der
»zum Verstehen zu zwingen« (um mit Fichte zu reden). Nichts von dem, Übersetzer fertigwerden. Übersetzte Texte zu lesen ist im allgemeinen
was die Mittel der lebendigen Rede gewähren, kommt dabei dem Schreiben- enttäuschend. Es fehlt der Atem des Sprechenden, der das Verstehen an-
den zu Hilfe. Wenn es sich nicht gerade um einen Privatbrief handelt, kennt haucht. Es fehlt der Sprache das Volumen des Originals. Gleichwohl sind
ja der Schreibende seinen Leser nicht. Er kann nicht spüren, wo der andere Übersetzungen gerade deshalb manchmal für den Kenner des Originals
nicht mitgeht, er kann also auch nicht nachhelfen, wo es an Überzeugungs- echte Verständnishilfen. Übersetzungen von griechischen oder lateinischen
kraft fehlt. Was der Schreiber an Überzeugungskraft leisten soll, muß er Schriftstellern ins Französische oder von deutschen Schriftsteilem ins Engli-
durch die starren Zeichen der Schrift erreichen. Die Artikulation, die Modu- sche sind oft von verblüffender und erhellender Eindeutigkeit. Das ist doch
lation, die Rhythmisierung der Rede, laut und leise, Nachdruck und leichte wohl ein Gewinn. Oder?
Anspielung - und was das stärkste Mittel aller überzeugenden Rede ist, das Wo es um nichts als Erkenntnis geht, oder auch nur um nichts als die
Zögern, die Pause, das Suchen und das Finden des Wortes: es ist dann wie ein Erfassung des in einem Text Gemeinten, mag solche verstärkte Eindeutig-
Glücksfund, an dem der Zuhörer mit fast freudigem Erschrecken teilbe- keit wohl ein Gewinn sein - so wie etwa die fotografische Aufnahme und
kommt - , all das soll durch nichts als niedergeschriebene Zeichen ersetzt Vergrößerung einer nur schwer sichtbaren Skulptur in einem düsteren Dom
werden. Dabei sind so viele von uns gar keine wirklichen Schriftsteller, Gewinn bringt. Es wird auch bei manchem Buch der Forschung oder der
keine Könner und Künstler des Schreibens, sondern solide Wissenschaftler, Lehre gar nicht so sehr auf die Kunst des Schreibens ankommen und damit
Forscher, die sich ins Unbekannte gewagt haben und von Unbekanntem vielleicht auch nicht auf die Kunst des Übersetzens, sondern auf die bloße
einfach berichten wollen, wie es da aussieht und wie es da zugeht. >Richtigkeit<. Fachleute verstehen einander (wenn sie wollen) sehr leicht,
Was wird da alles vom Übersetzer verlangt! Man möchte ein witziges und gewiß verdrießt es sie eher, wenn man zu viele (oder gar schöne) Worte
Wort auf ihn anwenden, das Friedrich Schlegel einmal von dem verstehen- macht, so wie es einen bei mündlicher Unterhaltung verdrießt, wenn einer
den Leser, dem Interpreten, gesagt hat: »Um jemanden zu verstehen, muß das weiter ausfuhren will, was man schon längst verstanden hat. Eine
man erstlich klüger sein als er, dann ebenso klug und dann auch ebenso Anekdote mag die Sache verdeutlichen. Von dem jungen Karl Jaspers wird
dumm. Es ist nicht genug, daß man den eigentlichen Sinn eines konfusen erzählt, daß er eines Tages, als er mit einem Kollegen über sein erstes Buch
Werkes besser versteht, als der Autor es verstanden hat. Man muß auch die sprach und von diesem zu hören bekam, es sei schlecht geschrieben, geant-
Konfusion selbst bis auf die Prinzipien kennen, charakterisieren und kon- wortet habe: »Sie hätten mir nichts Angenehmeres sagen können. « - So sehr
struieren können. « folgte Jaspers damals dem Sachlichkeitspathos seines großen Vorbildes Max
Das letztere ist das allerschwerste. Man riskiert, noch dümmer zu sein als Weber. Der zum Denker von eigener Statur gereifte Karl Jaspers freilich
der andere, wenn man aus dem eigenen weiteren Umblick und der klareren schrieb dann selber einen höchst kunstvollen und so individuellen Stil, daß er
Einsicht die Meinung des gelesenen Textes überzeugend zum Sprechen kaum übersetzbar ist.
bringen will und gar nicht merkt, wie leicht man von sich aus etwas Man kann es begreifen, daß in vielen Wissenschaften das Englische sich
hineinliest. Lesen und Übersetzen haben einen Abstand zu überwinden. Das mehr und mehr durchsetzt, so daß die Forscher ihre Originalarbeiten gleich
ist der grundlegende hermeneutische Tatbestand. Jeder Abstand, und nicht auf Englisch schreiben. Da sind sie freilich nicht nur vor ihren eigenen
nur der Zeitenabstand, bedeutet für das Verstehen, wie ich gezeigt habe, >schönen Worten< sicher, sondern auch vor dem Übersetzer. Längst schon
viel, Verlust und Gewinn. Manchmal mag es als eine Erleichterung erschei- ist das Englische in vielen Bereichen, z.B. in Schiffahrt, Luftfahrt und
282 Die Kunst des Wortes Lesen ist wie Obersetzen 283

Nachrichtentechnik, in einem sicheren Jenseits von Gut und Böse der Über- züge die lyrische Poesie aufragt, vom ewigen Schnee verklärt. Mit den
setzerkunst standardisiert. Kein Zufall, dort kommt es aufrichtiges Verste- verschiedenen literarischen Gattungen differenzieren sich gewiß auch die
hen wirklich an. Dort ist es lebensgefährlich, mißzuverstehen. - Aber es gibt Ansprüche und die Maßstäbe fur das Gelingen von Übersetzung. Nehmen
die Literatur. Da ist es nicht gefährlich, vom Übersetzer mißverstanden zu wir zum Beispiel zur Reproduktion bestimmte Übersetzungen, wie es das
werden. Aber da ist es nun wieder nicht genug, verstanden zu werden. Ein heute fur Theaterstücke gibt. Das heißt, daß hier die Bühne mit all dem zu
Dichter schreibt ja wie jeder Autor für die Menschen gleicher Zunge, und Hilfe kommt, was sonst die >Literatur< für sich selber entbehren muß. Die
die gemeinsame Muttersprache trennt einen von der anderen Sprache. Lite- Übersetzung selbst soll andererseits nicht nur lesbar, sondern auch sprech-
ratur ist auch nicht nur die schöne Literatur, sondern umfaßt den ganzen bar und bühnengerecht sein, ob in Prosa oder in Versen. Von Gundolfs mit
Bereich, in dem das gedruckte Wort die lebendige Rede voll ersetzen soll. Es Georges Beistand dichterisch vervollkommneter Übersetzung Shakespea-
fragt sich wirklich (gegen den jungen Jaspers), ob es für einen Historiker res, die—nach der Schlegel-Tieckschen—fast schon eine neue Eindeutschung
oder Philologen und selbst für einen Philosophen (wo man streiten mag) ein heißen muß, sagt man, daß sie nicht spielbar sei. Mancher mag sie heute
wirklicher Vorzug ist, >schlecht< zu schreiben. Erst recht gilt das von Über- nicht einmal lesbar finden. Die Farben sind >vergangen<.
setzungen. In Wahrheit ist der >Stil< mehr als eine entbehrliche oder gar Wiederum ein eigenes Ding ist es mit dem Übersetzen von Erzählungen.
verdächtige Dekoration. Er ist ein Faktor, der die Lesbarkeit ausmacht - und Da ist kaum noch Einigkeit über die Zielvorstellung einer Übersetzung zu
damit freilich auch für die Übersetzung eine unendliche Aufgabe der Annä- erwarten. Ist das Ziel Worttreue oder Sinn- und Formtreue? Das gilt fast
herung darstellt. Es ist das keine Sache handwerklicher Technik allein. Eine ebenso schon von jeder >gehobenen< Prosa. Was ist da das Ziel? Wenn man
lesbare Übersetzung ist, wenn sie auch noch einigermaßen >zuverlässig< ist, an die große Übersetzungsliteratur denkt, die etwa den englischen Roman
schon viel, ja beinahe alles, was man sich als Autor oder als Übersetzer nach Deutschland brachte, oder an die Übersetzungen der großen russischen
wünschen kann (oder als Leser). Ganz anders ist indessen die Sachlage, wenn Romane in die anderen Weltsprachen, sieht man sogleich, daß der Verlust an
es sich um die Aufgabe handelt, wirklich dichterische Texte zu übertragen. Eigenem, an Volksnähe, an Kraft und Saft, der unvermeidlicherweise dabei
Das wird immer zwischen Übersetzen und Nachdichten stehen. eintritt, gegenüber der Präsenz dessen, was da erzählt wird, kaum ins
Kunst überwindet alle Abstände, auch den Zeitenabstand. So befindet Gewicht fällt. Wie die Worte gewählt sind, mit denen erzählt wird, ist eben
sich der Übersetzer von dichterischen Texten in einer ihm unbewußten nicht so wichtig. Da kommt es auf anderes an, auf Anschaulichkeit, auf
zeitgenössischen Identifikation, und das verlangt von ihm eigene neue Ge- Spannungsdichte, auf Seelentiefe, auf Weltzauber. Die Kunst des großen
staltung, die doch die der Vorlage wiedergeben soll. Ganz anders ist es für Erzählens ist ein eigenes Wunder, das selbst in Übersetzungen fast unge-
den bloßen Leser, dessen humanistische und historische Bildung (oder deren schmälert bleibt. Kenner des Russischen versichern einem, daß die deutsche
Mängel) ihm ein Bewußtsein des Zeitenabstandes wecken. Als Leser sind Dostojewskij-Übersetzung der Piper-Ausgabe (von Rahsin) dem stocken-
wir uns dessen mehr oder minder bewußt, wenn wir es mit Übersetzungen den, holprigen, achtlosen Stil Dostojewskijs durch ihre Glätte und Lesbar-
aus der klassischen griechischen und lateinischen Literatur oder aus der keit wenig angemessen ist — und doch, wenn man Nötzels oder Eliasbergs
Geschichte der modernen Literaturen zu tun haben. Da sind die Texte schon >bessere< Übersetzung statt dessen nimmt oder die neuesten, im Aufbau-
durch Jahrhunderte Gegenstand solcher Bemühungen gewesen, die eine Verlag herausgekommenen - man merkt als Leser die Unterschiede über-
ganze Übersetzungsliteratur seit mindestens 200 Jahren hinter sich herzie- haupt nicht. Die Schranke der Unübersetzbarkeit ist hier - von Sonderfällen
hen. An dieser Geschichte machen wir als Leser mit historischem Sinn die wie dem von Gogol abgesehen - außerordentlich niedrig.
Erfahrung, wie sich die Gegenwartsliteratur des damaligen Übersetzers in Es ist daher kein Zufall, daß die Prägung des Begriffs der Weltliteratur, die
der Gestaltung der Übersetzungen niedergeschlagen hat. Solches Vorliegen von Übersetzungen unabtrennbar ist, mit der Ausbreitung der Romankunst
einer ganzen Übersetzungsgeschichte, die eine Vielfalt von Übersetzungen (und der dramatischen Leseliteratur) gleichzeitig war. Es ist die Ausbreitung
des gleichen Textes aufweist, ist für einen neuen Übersetzer in gewissem der Lesekultur, die die Literatur zur >Literatur< gemacht hat. So muß man
Sinne eine Erleichterung und doch auch eine Herausforderung, der man heutefast sagen, >Literatur< verlangt nach Übersetzung - eben weil sie Sache
kaum genügen kann. Die alte Übersetzung hat ihre Patina. der Lesekultur ist. Tatsächlich ist das Geheimnis des Lesens wie eine große
Wenn es sich wirklich um >Literatur< handelt, kann jedenfalls der Maßstab Brücke zwischen den Sprachen. Auf ganz verschiedenen Niveaus scheint es
der Lesbarkeit nicht genügen. Die Grade der Unübersetzbarkeit richten sich die gleiche hermeneutische Leistung, zu übersetzen oder zu lesen. Schon das
drohend auf, wie ein vielschichtiges Riesengebirge, als dessen letzte Höhen- Lesen von dichterischen »Textern in der eigenen Muttersprache ist wie eine
284 Die Kunst des Wortes Lesen ist wie Obersetzen 285

Übersetzung, fast wie eine Übersetzung in eine Fremdsprache. Denn sie ist sie zu einer >poetischen< Sprache kunstvoll zusammenfügt, es immer wie
Umsetzung von starren Zeichen in einen strömenden Fluß von Gedanken Lateinisch klingt, das heißt künstlich und fremd. Da mögen noch so viele
und Bildern. Das bloße Lesen originaler oder übersetzter Texte ist in Wahr- poetische Anklänge und sprachliche Schönheiten aus der Literatur der Ziel-
heit schon eine Auslegung durch Ton und Tempo, Modulation und Artiku- sprache dazwischentönen, es fehlt der Ton, der τόνος, die gespannte Saite, die
lation — und das alles liegt in der »inneren Stimme< und ist da für das >innere unter den Worten und Tönen beben muß, wenn Musik sein soll. Wie sollte
Ohr< des Lesers. Lesen und Übersetzen sind bereits >Auslegung<. Beide es auch anders sein.
schaffen ein neues Textganzes aus Sinn und Klang. Beide verlangen eine ans Äquivalente müßten nicht nur für die Wortbedeutungen gefunden wer-
Schöpferische grenzende Umsetzung. Man kann das Paradox wagen: Jeder den, sondern ebenso auch für die Klänge. Aber nein, weder Worte (noch so
Leser ist wie ein halber Übersetzer. Ist es nicht wahrlich am Ende das entsprechende) noch auch Klänge (noch so ansprechende) könnten das lei-
größere Wunder, daß man den Abstand zwischen Lettern und lebendiger sten. Verse sind Sätze. Aber nein, nicht einmal das ist es. Es sind Verse, und
Rede überhaupt zu überwinden vermag, selbst wenn es sich >nur< um die das Ganze ist ein Gedicht, ein Gesang, eine Melodie — es muß nicht einmal
gleiche Sprache handelt? Ist es so viel mehr, daß man den Abstand zwischen eine Melodie sein, die sich wiederholt. Stets wird es ein Widerklang sein, ein
zwei verschiedenen Sprachen im Lesen von Übersetzungen überspielt? Es ist Sinnklang aus einem und vielem, eine verborgene Harmonie, die stärker ist
jedenfalls das Lesen, das die eine Entfernung wie die andere überwindet, die als eine offene, wie Heraklit gewußt hat.
zwischen Text und Rede. So sollten wir alle Übersetzer von Dichtung bewundern, die uns den
Ist die mündliche Verständigung zwischen verschiedenen Sprachen trotz Abstand zum Original nicht ganz verbergen und ihn doch zugleich über-
der Abstände nicht eher natürlich? Lesen ist wie ein Über-setzen von einem brücken. Sie sind fast wie Interpreten. Aber sie sind mehr. Interpreten reden
Ufer zu einem fernen anderen, von Schrift in Sprache. Ebenso ist das Tun dazwischen. Des Auslegers größter Ehrgeiz kann es nur sein, daß auch
des Übersetzers eines >Textes< Über-setzen von Küste zu Küste, von einem unsere Interpretation eine bloße Zwischenrede bleibt und ins Wiederlesen
Festland zum anderen, von Text zu Text. Übersetzen ist beides. Die Lautge- der originalen Texte wie selbstverständlich eingeht und darin verschwindet.
stalten verschiedener Zungen sind dabei unübersetzbar. Sie scheinen wie Dagegen bleibt des Übersetzers mitdichtende Spur für unser aller Lesen und
Gestirne durch Lichtjahre voneinander entfernt. Und doch versteht der Verstehen ein festgegründeter Bogen, eine Brücke, die von beiden Seiten
Leser seinen >Text<. begehbar ist. Die Übersetzung ist gleichsam eine Brücke zwischen zwei
Aber wie ist es beim Gedicht, das man nicht nur lesen und verstehen soll, Sprachen wie zwischen zwei Ufern in einem einzigen Land. Über solche
sondern das man hören muß? Hier sind die Übersetzer mit ihrem Latein am Brücken geht ein beständig fließender Verkehr. Das macht des Übersetzers
Ende. Oder besser: Was sie vorlegen, bleibt Latein. Gewiß, es gibt Sonder- Auszeichnung aus. Man braucht auf keinen Fährmann zu warten, der einen
fälle. Wenn ein wirklicher Dichter die Verse eines anderen Dichters in seine übersetzt. Mancher wird freilich Hilfe brauchen, sich drüben zurechtzufin-
eigene Sprache überträgt, mag das ein wirkliches Gedicht werden. Aber den - und einsamer Gänger bleiben. Vielleicht trifft er hin und wieder einen,
dann ist es fast mehr sein eigenes Gedicht als das des ursprünglichen Autors. der ihm beim Lesen und Verstehen hilft. Jedes Lesen eines Gedichts ist
Georges Baudelaire-Übersetzungen, sind sie überhaupt noch >Blumen des jedesmal ein Übersetzen. »Jedes Gedicht ist eine Lektüre der Wirklichkeit,
Bösen«? Schallen sie nicht eher wie Vorklänge einer neuen Jugend? Oder diese Lektüre ist eine Übersetzung, die das Gedicht des Dichters in das
Rilkes Valery-Übersetzungen? Wo bleibt die Helle und die Härte der Pro- Gedicht des Lesers verwandelt« (Octavio Paz).
vence in Rilkes wunderbar weichen Meditationen über den >Friedhof am
Meer<? Wir täten wahrlich gut, so etwas weniger Nachdichtungen als Um-
dichtungen zu nennen. Eher schon könnte man die von Stefan George
übertragenen Partien aus der >Divina Comedia< eine Nachdichtung nennen.
Im ganzen wird ein wirklicher Dichter nur dann als Übersetzer tätig werden,
wenn die von ihm gewählte Dichtung sich in sein eigenes dichterisches Werk
einfügt. Nur dann wird er seinen eigenen Ton durchhalten können, auch
wenn er übersetzt. Sein Ton ist für den wirklichen Dichter seine zweite
Natur. Die Folge ist daher, wenn ein Übersetzer, der kein wirklicher Dich-
ter ist, bei seiner eigenen Sprache poetisch-äquivalente Anleihen macht und
Der >eminente< Text und seine Wahrheit 287

von dem Text auf seinen Autor verschiebt und etwa daran denkt, daß der
Dichter selber für sich in Anspruch nimmt, nicht nur zu gefallen, sondern
auch zu belehren. Daß man Wahrheiten sagen kann, ohne daß der Text
selber überhaupt eine unmittelbare Wirklichkeitsbeziehung besitzt, ist zwar
geheimnisvoll genug, und schon Hesiod, der erste Dichter unserer westli-
25. Der >eminente< Text und seine Wahrheit chen Tradition, der ein ausdrückliches Bewußtsein von seinem dichteri-
schen Auftrag zeigt, hat etwas davon empfunden. Er schildert sich als von
(1986) den Musen legitimiert, die ihm verkünden, sie wüßten viel Wahres und viel
Falsches zu sagen. Was wahr und was falsch ist, scheint hier heillos ineinan-
der verwickelt und untrennbar.
Das Thema, das so formuliert ist, scheint ein Paradox. Dichtung begegnet Und so ist es trotz allen Sprüchen der Poetik, Dichtung diene nicht nur
als literarische Überlieferung oder geht mindestens in eine solche ein. Sie ist zum Erfreuen, sondern auch zum Belehren, durch die ganze Geschichte
in einem wesentlichen und anspruchsvollen Sinne Text, nämlich ein solcher unserer abendländischen Zivilisation geblieben. Erst als die Philosophie und
Text, der nicht als Fixierung einer gedachten oder gesprochenen Rede auf Metaphysik gegenüber dem Erkenntnisanspruch der Erfahrungswissen-
diese zurückweist, sondern, von seiner Herkunft abgelöst, eine eigene Gel- schaften in die Krise geriet, entdeckte sie ihre Nachbarschaft mit der Dich-
tung beansprucht, die ihrerseits für den Leser und Interpreten eine letzte tung wieder, die sie seit Plato verleugnet hatte. Das war im Zeitalter der
Instanz ist. Dann aber scheint die Wahrheitsfrage fehlzugehen. Da gibt es Romantik, als Schelling in der Kunst das Organon der Philosophie sah und
doch gerade das nicht, was sonst den Wahrheitsanspruch von Aussagen Hegel sie als eine Gestalt des absoluten Geistes anerkannte, die freilich nur in
rechtfertigen kann, jenen Bezug auf die > Wirklichkeit, den man >Referenz< der Gestalt der Anschauung und nicht des Begriffs das Wahre darstelle.
zu nennen gewohnt ist. Ein Text ist dichterisch, wenn er einen solchen Seitdem ist es sinnvoll, den autonomen Wahrheitsanspruch von Dichtung
Wahrheitsbezug überhaupt nicht zuläßt oder ihn höchstens in einem sekun- anzuerkennen, aber um den Preis eines ungeklärten Verhältnisses zur Wahr-
dären Sinne gelten läßt. So ist es bei allen Texten, die wir zur >Literatur< heit wissenschaftlicher Erkenntnis. Das hat sie mit der Philosophie gemein-
zählen. Das sprachliche Kunstwerk besitzt eine eigene Autonomie, die eine sam, wenn auch in anderer Weise. Aber das ist ein anderes Thema. Jeden-
ausdrückliche Freistellung von der Wahrheitsfrage bedeutet, die sonst Aus- falls, versteht man unter Wahrheit, der Tradition gemäß, >adaequatio intel-
sagen, ob gesprochen oder geschrieben, als wahr oder falsch qualifiziert. lectus ad rem<, so bedeutet das, daß die Frage nach der Wahrheit ohne
Was soll es also heißen, daß nach der Wahrheit solcher Texte gefragt wird? Antwort bleiben muß, solange Dichtung als Dichtung verstanden und in
Es kann sich offenbar nicht darum handeln, daß in solchen Texten Aussagen ihrem eigenen Anspruch anerkannt wird. Nun schließt unsere Frage gerade
vorkommen und Erkenntnisse vermittelt werden, die wir von anderswoher ein, daß dichterische Texte, auch wenn sie alle viel Wahres und viel Falsches
als wahr erkennen müssen. Der Text als solcher hängt von solcher Anerken- sagen, nicht nur einen solchen vagen spekulativen Wahrheitsanspruch erhe-
nung nicht ab. ben, sondern als Texte selber wahr sein können oder falsch. Was soll >falsch<
Auch wenn ein Text nichts als Fixierung von Erkenntnissen ist und nichts heißen, wo keine Übereinstimmung womit auch immer statthaben kann?
darüber hinaus sein will, kommt ihm ja der Wahrheitsbezug nicht als einem Was ist ein dichterischer Text? Man mag >Text< definieren als eine Zei-
Text zu, sondern mit Rücksicht auf die Erkenntnisse, die er vermittelt. Wer chenfolge, die den einheitlichen Sinn von etwas Gesprochenem fixiert - auch
nach der Wahrheit von Texten fragt, meint ihren Inhalt, der etwas Wahres wenn es nur das vor sich Hingesprochene ist, das ein Schreibender hin-
oder etwas Falsches enthalten mag. Aber welcher Wahrheitsbezug soll lite- schreibt. Das Geflecht hin- und herlaufender Klangfäden und Sinnbezüge,
rarischen Texten zukommen, die man eben deshalb zur >schönen Literatun aus denen sich der Sinn einer Rede aufbaut, ist in der Fixierung sozusagen
(>Belletristik<) zählt, weil sie jedem solchen Bezug enthoben sind? Nicht festgemacht. Dieser Sinn kann von jedem verstanden werden, der die betref-
umsonst gebrauchen wir das Wort >schön< in solchem Falle. Denn >schön< fende Schrift und Sprache beherrscht - und nicht nur von dem, an den die
nennen wir etwas, das durch sein eigenes Sein gerechtfertigt ist und keine Rede sich richtet oder der dabei mit zuhört. Darin liegt eine gewaltige
Instanz außerhalb seiner selbst kennt, vor der es sich rechtfertigen müßte. Idealisierung auf >Sinn< hin. Wir nennen die Sinnerfassung von Schrift das
Was soll >Wahrheit< da heißen? 'Lesen<. Lesen ist nun gewiß nicht eine Reproduktion ursprünglich gespro-
Das Thema wird auch nicht dadurch verständlicher, daß man die Frage chener Rede in der ganzen Konkretion und Kontingenz jenes vergangenen
288 Die Kunst des Wortes Der >eminente< Text und seine Wahrheit 289

Vorgangs. Kein Leser sucht die Stimme, die Klangfarbe, die einmalige jede begrenzte Adresse und Gelegenheit hinaus. Er ist als ein Kunstwerk der
Modulation eines ursprünglich Gesprochenen nachzubilden, wenn er den Sprache >e-minent<.
Sinn von Geschriebenem vollziehen will. Wenn er verstanden hat, ist der Wodurch? Durch seine Bedeutung? Eine Gebetsformel, eine Grußformel,
Text durchsichtig geworden — das heißt: auf eine idealisierte Weise wieder eine Rechtsverordnung, eine Zeitungsnachricht kann Entscheidendes be-
zum Sprechen gekommen, so daß er die Sache sagt und nicht etwa den deuten und in aller Munde sein. Trotzdem gehört sie nicht zur Literatur und
Schreiber ausdruckt. Der Leser meint gar nicht den Sprecher, sondern das ist kein >eminenter< Text. Umgekehrt wird man nicht zögern, Oral poetry,
Geschriebene. Aber er ist selbst gemeint. die noch aller schriftlichen Oberlieferung vorausliegt und in entlegenen
Schreiben ist auf den Leser bezogen, an den man denkt. Ein geschriebener Kulturregionen tief bis in literarische Zeitalter hinein sich erhalten kann,
Text soll nicht einfach wie ein Tonband Gesprochenes als solches festhalten, gleichwohl zur Literatur zu rechnen - gleichsam als ob das Gedächtnis des
das zwar als Gesprochenes verständlich sein möchte, aber in bloßer Fixie- Sängers oder Rhapsoden bereits das erste Buch darstellte, in das die mündli-
rung von Rede oft an die Grenze der Unverständlichkeit gerät. Ein wirkli- che Überlieferung eingezeichnet war. Oral poetry ist immer schon auf dem
cher >Text< ist dagegen fur das Lesen geschrieben. Er will lesbar sein, und Wege zum Text, so wie im rhapsodischen Vortrag weitergegebene Dich-
Lesen ist immer mehr als Entziffern von Schriftzeichen. Der sprachliche tung immer schon auf dem Wege zur >Literatur< ist. Auch das Lied, das ja
Ausdruck des Gemeinten im Text muß also so gestaltet werden, daß er ohne nicht nur ein einziges Mal gesungen sein will, scheint schon auf solchem
hinzukommende Tongebung, Gestik usw. sich selbst artikuliert und das Wege, und zwar zu beidem, zur Dichtung und zur Musik. Wenn sie kompo-
Gemeinte präsent macht1. Daß das erneute Sprechen eines solchen Textes, niert sind, werden solche >Texte< als bloße Liedertexte kaum zur Literatur
z. B. beim Vorlesen, neue Probleme der >Auffuhrungspraxis< einschließt, gerechnet, aber nur deshalb nicht, weil sie in Wahrheit mehr sind und zum
ändert an der >Idealität< des Textes nichts. Schreiben und das ihm zugeordne- klassischen Bestand der Musik aufrücken, von der sie nicht getrennt sein
te Lesen sind somit das Resultat einer idealisierenden Abstraktion. Das ist an wollen.
der Buchstabenschrift besonders eindrucksvoll, denn sie ist eine geniale Aber wodurch wird etwas Literatur und wird zu einem Text der Litera-
Abstraktion, in der kein bildhafter Wirklichkeitsbezug mit dem Gemeinten tur? Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich zunächst klarmachen,
vermittelt. Kommunikation erwirbt damit eine neue Reichweite. Der nie- daß der Begriff >Text< ein ursprünglicher hermeneutischer Begriff ist. Er
dergeschriebene Text ist über Räume und Zeiten hinweg allen Schrift- und formuliert die autoritative Gegebenheit, an der sich Verstehen und Auslegen
Sprachkundigen voll zugänglich, und zwar wie ein authentisches Dokument zu messen hat — gleichsam als der hermeneutische Identitätspunkt, der alles
und nicht nur in Annäherungen, wie sie ein Abbild darstellen würde. Variable begrenzt. Nur wo das Verständnis eines Geschriebenen oder Ge-
Diese Auszeichnung der Schriftlichkeit beschränkt den Text auf die reine sagten strittig ist, fragen wir nach dem genauen, dem >richtigen< Text oder
Übermittlung von Sinn. Durch sein bloßes Niedergeschriebensein und Wortlaut. In diesem hermeneutischen Zusammenhang konstituiert sich et-
Gelesenwerden gehört er noch keineswegs zur Literatur. was als Text bzw. wird von dem Philologen als Text konstituiert.
Literatur meint »schöne Literatun. Nicht alles, was der Unterhaltung des Der Text des literarischen Gebildes ist aber noch in einem höheren Sinne
Lesepublikums dient, gehört dazu, von wissenschaftlichen Texten und dem Text, und dem entspricht, daß die Auslegung dichterischer Gebilde im
praktischen Gebrauchstext aller Bereiche gar nicht zu reden. Es ist eine eminenten Sinne >Auslegung<, Interpretation, ist. Meine These ist, Ausle-
Auszeichnung, zur Literatur - zum >Schrifttum< - zu zählen. Das Wort gung ist wesenhaft und untrennbar mit dem dichterischen Text selbst ver-
>Schrifttum< ist besonders vielsagend. Was zum Schrifttum gehört, ist nicht bunden, gerade weil er nie durch Umsetzung in Begriff auszuschöpfen ist.
dadurch definiert, daß es Schrift ist, sondern dadurch, daß es, obwohl es Niemand kann ein Gedicht lesen, ohne in sein Verständnis immer mehr
>nur< Schrift ist, einem eigenen Bestände zugehört, der alles, was zählt, einzudringen, und das schließt Auslegen ein. Lesen ist Auslegen, und Ausle-
umfaßt: wie ein Bistum, Fürstentum, Altertum, Christentum, Heldentum, gen ist nichts als der artikulierte Vollzug des Lesens. Hier ist >Text< also nicht
Priestertum, Menschentum — kurz: Reichtum, der alles in sich schließt, was nur die feste Gegebenheit, auf die für den Leser und Ausleger am Ende
dazugehört. Das schließt offenbar ein, daß ein solcher Text unabhängig von zurückzukommen ist — der eminente Text ist ein in sich selbst gefestigtes,
seinem Inhalt Geltung beansprucht und nicht nur ein zeitgenössisches Infor- autonomes Gebilde, das immer und immer wieder neu gelesen werden will,
mationsbedürfhis befriedigt. Mindestens dem Anspruch nach reicht er über auch wenn es schon immer verstanden ist. Wie das Wort >Text< eigentlich
das Verwobensein von Fäden zu einem Gewebe meint, das sich selbst
1 zusammenhält und den einzelnen Faden gar nicht mehr hervortreten läßt, so
Siehe dazu im vorhergehenden >Stimme und Sprache^ S. 263 ff.
290 Die Kunst des Wortes Der >eminente< Text und seine Wahrheit 291
ist auch der dichterische Text in dem Sinne >Text<, daß seine Elemente zu einer Wenn das Gebilde im Lesen von uns selber aufgebaut wird, steht es nun
einheitlichen Wort- und Klangfolge zusammengegangen sind. Nicht nur die gewiß nicht in dem Sinne am Ende da, daß wir es >uno intuitu< umfaßten.
Einheit eines Redesinnes konstituiert diese Einheit, sondern ebenso und im Wir bleiben in die Gesetze der Zeitlichkeit gebunden. Das gilt selbst noch für
selben Atem die eines Klanggebildes. Ein dichterischer Text ist nicht wie ein die sogenannten statuarischen Künste, deren Gebilde selber keine Zeitgestalt
Satz im Fortgang der Rede, sondern wie ein Ganzes, das sich aus dem Strom besitzen, deren Erfassung aber genauso dem Gesetz unserer Zeitlichkeit
dahinfließender Reden heraushebt. Noch das schlichteste realistische Sprach- unterliegt. Auch Werke der bildenden Kunst, ja sogar solche der Baukunst,
gebahren, das in einem literarischen Gebilde begegnet, ist in diesem Sinne müssen >gelesen< werden, um >da< zu sein3.
>gehobene< Sprache. Kein Ernüchterungspathos einer progressiven Moderne Die reproduzierenden Künste, Theater und Musik vor allem, haben ei-
kann diese Gehobenheit von sich abtun wollen. gens die Aufgabe, die Vorzeichnung ihrer Texte durch eine eigene Nach-
Sie ist nicht die Folge einer Stilwahl oder Stilisierung, sondern unmittelba- schöpfung im kontingenten Sinnenstoff zur Darstellung zu bringen. Das ist
rer Ausdruck der Strukturiertheit des Gebildes, das sich dem Leser - wie dem ihre Auszeichnung und bedeutet, daß sie als Interpretation, wie man das ja
Autor - zwingend auferlegt. Man kann mit Paul Valéry den Kalkül dieser tatsächlich auch so nennt, den Charakter einer Eigenschöpfung besitzen.
Strukturierung wie ein mathematisches Spiel betreiben—das Gebilde, das am Aber auch diese eigene Schöpfung bleibt ihrerseits noch dem Urteil des
Ende steht, und die Tatsache, daß ein Gebilde am Ende steht, etwas, das steht inneren Ohres unterstellt - und das heißt am Ende: der unzerstörbaren (und
und festen Bestand hat, bleibt auch für den rationalsten Rechner, der sich so leicht gestörten) Eigenfigur des Gebildes. Unleugbar besteht hier ein
seines nüchternen Machens bewußt ist, am Ende einfach hinzunehmen. Das Antagonismus zwischen den beiden Arten von Schöpfung, der literarischen
ist kein geheimnisvoller Vorgang, den man etwa nur durch eine Art Genie- und der auf der Bühne. Beide stehen unter eigenen Gesetzen. Aber wo sie
theorie beschreiben könnte, sondern entspringt auf unmittelbare Weise zusammenwirken, wie das im sogenannten literarischen Theater der Fall ist,
unserer Zeitlichkeit. Wie alles Lesen ist auch alles Schreiben eine diskontinu- bleibt die zweite Schöpfung der ersten unterstellt. Das ist eine hermeneuti-
ierliche Zeitfigur. Ihre letzte Endgestalt ist, daß >es< dasteht, abgelöst von dem sche Wahrheit, die man gewiß verletzen kann; und der Mann des Theaters
Vorgang seiner Herstellung und dadurch erst eigentlich >da<, als das Werk, das von heute neigt dazu, die Gesetze des Theaters höher zu stellen als den
es ist. So definiert sich das Fertigsein eines literarischen Werkes am Ende dichterischen Text. Aber sofern es sich um literarisches Theater handelt, läßt
dadurch, daß dem Dichter die Wiederaufnahme der Arbeit an ihm nicht mehr sich der beschriebene hermeneutische Maßstab nicht ableugnen.
möglich war. Das ist die Antwort, die Paul Valéry sich geben mußte und die Die volle Entsprechung von Sinn und Klang, die den Text zum eminenten
Goethe mit seinen vollendeten Fragmenten ebenfalls gibt (zum Beispiel Text macht, findet in den verschiedenen Literaturgattungen sehr verschie-
>Prometheus<, >Pandorens Wiederkunft<, >Der Zauberflöte zweiter Teil«, die denartige Erfüllung. Das spiegelt sich in der Skala der Unübersetzbarkeit
ich in einer eigenen Studie behandelt habe2). Die moderne Informationsästhe- dichterischer Texte in andere Sprachen. Das lyrische Gedicht - und inner-
tik, die sich rühmt, Computergedichte herstellen zu können, bestätigt nolens halb desselben die Lyrik des Symbolismus und ihres Ideals der poésie pure -
volens das gleiche. Sie vergißt, daß da einer sein muß, der aus der maschinellen steht da gewiß obenan, und der Roman nimmt ebenso eindeutig den unter-
Serienproduktion der Versmassen das Gedichtähnliche heraussieht und her- sten Platz in dieser Skala ein, wobei ich von der dramatischen Poesie aus-
ausliest. Jeder Leser eines gelungenen Gedichtes erfahrt in Wahrheit die drücklich absehe, da ihr die Theaterkunst sogar ohne Übersetzung in gewis-
gleiche Endgültigkeit—nicht zuletzt durch die Erfahrung, daß nur das innere sen Grenzen die Überschreitung der Sprachgrenzen ermöglicht. Aber >Lite-
Ohr und keine noch so angemessene stimmliche Wiedergabe eines Gedichts rätun dürfte ganz allgemein dadurch definiert sein, daß Übersetzung hier
die reine Idealität des Gebildes hörbar zu machen vermag. Es ist, als ob die immer einen enormen Verlust bedeutet, weil das Eigentliche unübertragbar
Kontingenz des Stofflichen, die der rezitierenden Stimme, ihrer Intonation bleibt, nämlich die Einheit von Sinn und Klang der Worte. Es kann hier
und Modulation, ihrer Tempowahl, Phrasierung und Setzung von Akzenten nicht ausgeführt werden, welche stabilisierenden Mittel die Dichtkunst
anhaftet, einen unerträglichen Rest von Willkür und Beliebigkeit fühlbar besitzt, um das schwebende Gleichgewicht der sinnlichen und geistigen
macht, den das innere Ohr, das ganz nur Ohr ist, verwirft. Nur im inneren Bauelemente eines dichterischen Gebildes herbeizuführen. Hier müßte der
Ohr sind Sinnbezug und Klanggestalt ganz eins. Beitrag, den der Strukturalismus für die Literaturkritik geleistet hat, noch
um eine volle Dimension erweitert werden. Erst das Zusammengehen der
2
Vgl. meinen Aufsatz »Vom geistigen Lauf des Menschen<, jetzt in Ges. Werke Bd. 9,
3
S. 80-111. Vgl. dazu in diesem Band >Über das Lesen von Bauten und Bildern< (Nr. 30).
292 Die Kunst des Wortes Der >eminente< Text und seine Wahrheit 293

Sinnbezüge und der Klangbezüge verleiht der Sprache der Dichtung das, wenn sie eine gewisse Qualität besitzen, als unwahrhaftig abzulehnen, etwa
was oben ihre >Gehobenheit< genannt •wurde. dann, wenn begabte Schriftsteller ideologischem Druck nachgeben und
Die Auszeichnung des >eminenten< Textes soll uns lediglich der Ausarbei- offiziell erwünschte Fabrikate produzieren, so wird diese Frage vollends
tung einer bestimmten Frage dienen: Was heißt >Wahrheit< dort, wo ein kompliziert, wenn wir als gebildete Leser nicht von der Gegenwart und
sprachliches Gebilde alle Referenz zu einer maßgeblichen Wirklichkeit abge- ihren Bedingungen aus urteilen, sondern einen Text im Lichte der >klassi-
schnitten hat und sich in sich selbst erfüllt? Es sollte nicht eigens gesagt scherw Schöpfungen der Dichtkunst sehen und beurteilen.
werden müssen, daß die Bauelemente eines dichterischen Gebildes selbst- Auch die klassischen Werke gehören doch wie der uns umgebende Tag zu
verständlich immer auch Weltbezug besitzen und insofern wahr oder falsch unserer eigenen Gegenwart. Damit ist aber gesagt: Seit uns das allen gemein-
sein mögen, wenn sie zum Inhalt einer eigenen Aussage gemacht werden - same Erbe der antik-christlichen Tradition nicht mehr trägt, der die Kunst
der Bau selber ist es dadurch keineswegs. Ein dichterischer Text sagt Wahres mit Selbstverständlichkeit eingefügt war, steht die schöpferische Imagina-
und Falsches, ohne dazwischen zu unterscheiden. Er ist auf seine Weise tion der Künstler so gut wie aller anderen unter einem wachsenden Druck,
>wahn. der von der Simultaneität der Kunst und der Universalität unseres Kunstver-
Das wird vollends an dem Begriff der dichterischen Freiheit« deutlich. ständnisses ausgeht. Sie sind einer neuartigen Verführung ausgesetzt: der
Offenbar muß dieselbe verteidigt werden, wo ein deutlicher Bezug auf Verführung der Nachahmung, die wir mit abwertendem Beiklang >Imita-
geschichtliche Vorgänge oder Personen im Spiele ist. Darin drückt sich aus, tion< nennen. Gewiß war Nachahmung und getreue Nachfolge, etwa in
was allgemein gilt: der Dichter ist >frei<. Worin ein Text seinen eigenen Rang Gestalt der Sukzession von Meistern und Schülern und Enkelschülern, das
erhält, wird von dem Maßstab literarischer Qualität bestimmt, der ihm als sich beständig bewegende Lebensgesetz aller Kultur. Aber wo es mit Selbst-
Kunstwerk zukommt. Ihm entspricht keine unmittelbare >Referenz<. Viel- verständlichkeit galt, gab es gerade auch zur eigensten Selbstaussage frei.
mehr wird ein selbständiges Fremdinteresse an den dichterischen Inhalten Dagegen ist Imitation (wie ihr Gegenstück: gesuchte Originalität) wirklich,
und ihrer außerdichterischen Bedeutung vom Werk der Dichtung mit Ent- wie Plato die Kunst charakterisierte, »dreifach entfernt von der Wahrheit«.
schiedenheit desavouiert. Müssen wir doch das Phänomen des Kitsches Wir kennen den Imitationszwang am frappantesten angesichts der Aufgaben
geradezu als den zerstörerischen Einbruch solchen Fremdinteresses in die literarischer Übersetzungen5: Verszwang, Reimzwang, Sachzwang nötigen
Autonomie des Künstlerischen beschreiben und als unwahrhaftig abtun. den Übersetzer gewollt oder ungewollt zur bloßen Imitation dichterischer
Auch moderne Buchsitten, die eine Dichtung dadurch aufschließen wollen, Vorbilder der eigenen Spache, damit er den fremdsprachigen Text zu einer
daß sie einen Bildreport der in der Dichtung vorkommenden örtlichkeiten Art dichterischer Gegenwart bringt.
anbieten, verunklären die Seinsdimensionen, während der Buchillustrator - Darüber hinaus wissen wir sozusagen im voraus, daß das, was uns er-
wie der Theatermann - gut ist, wenn er sich dem Text unterordnet. greift, wenn es uns im Abstand geschichtlicher Ferne begegnet, als heutige
Dabei besteht ein klarer Unterschied zwischen dichterischen Gebilden Schöpfung unwahrhaftig wirken würde. Ganze Gattungen einer bewährten
minderer Qualität und solchen, die wir als >Kitsch< beurteilen. Nur die Tradition der Dichtkunst sind heute wie abgestorben und lassen keine
letzteren würden wir unwahrhaftig nennen. Offenbar rührt das daher, daß Auferstehung erwarten. So hat Lukics mit Recht die Theorie des Romans
hier von außen erborgte Formen dichterischen Sagens in den Dienst von auf das Absterben der mythischen Kontinuität des Versepos gegründet.
Inhalten gestellt werden, die sich nicht unter dem Gesichtspunkt der Kunst Dante oder Milton oder Klopstock konnten die durch Homer und Vergil
legitimieren, sondern aus andersartigen Interessen. Man denke an religiösen gestaltete Gattung des Versepos noch aufnehmen. Das Zeitalter vermochte
oder an patriotischen Kitsch. das antike Erbe der griechischen und römischen Tragödie und Komödie
Aus all dem geht doch wohl hervor, daß das dichterische Wort noch noch ins Eigene umzusetzen und am Ende in die Gestalt des bürgerlichen
jenseits der Frage seiner Qualität oder künstlerischen Vollendung so etwas Trauerspiels hinüberzuführen. Müssen wir es nicht hinnehmen, daß das
wie Wahrhaftigkeit kennt - und muß nicht, wo Wahrhaftigkeit (oder ihr heute nicht mehr geht oder nur noch in parodistischer Form gelingt - weil
Fehlen) erfahren wird, die Frage der Wahrheit im Spiele sein4? Wenn wir eben nicht zu allen Zeiten alles möglich ist? Und liegt nicht gerade darin die
schon gewiß alle geneigt sind, gewisse literarische Schöpfungen, selbst Wahrheit der Kunst, daß sie solche Beschränkung zeigt? Daß die Literatur
unseres Jahrhunderts von Autoren wie Proust, Joyce, Beckett geprägt wur-
4
Siehe auch in diesem Band >Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der
5
Wahrheifc (Nr. 7). Siehe dazu im vorhergehenden >Lesen ist wie Übersetzern (Nr. 24).
294 Die Kunst des Wortes Der >eminente< Text und seine Wahrheit 295
de, die alle Erzählbegriffe von Handlung, Charakter, Zeitfluß auflösten, daß kommt, was ist. Auch in der Verweigerung ist Gewährung. »Kein ding sei
der Held eines großen unvollendeten und wohl unvoUendbaren Romans der wo das wort gebricht« ist der letzte Vers eines schönen Gedichts von Stefan
>Mann ohne Eigenschaften« sein konnte oder daß ein hermetischer Dichter George, in welchem ein großer Denker unserer Zeit, Martin Heidegger,
wie Paul Celan uns wie vor ein unlösbares Rätsel vor die Frage stellt > Wer bin seinem Denken Verwandtes erkannt hat - und gerade in der Verweigerung.
ich und wer bist du ?< - in all dem prägt sich eine Norm von Wahrhaftigkeit
und Wahrheit aus, die dem Wesen der Dichtung eigens zukommt. Was sie
auszeichnet, ist, daß in ihr der Abstand des Meinens hinfällig wird und daß
eben deshalb, was als Sprache zur Darstellung wird, mehr aussagt als nur die
Gekonntheit des Sagens. Es ist eine rätselhafte Form der Nichtunterschei-
dung des Gesagten vom Wie des Gesagtseins, die der Kunst ihre spezifische
Einheit und Leichtigkeit gibt und eben damit eine eigene Weise des Wahr-
seins. Die Sprache selbst verweigert sich und leistet aller Willkür, allem
Belieben und allem Sich-selbst-Verführenwollen Widerstand. So bleibt
auch in dürftiger Zeit die Botschaft der Dichtung Botschaft, wenn auch in
der negativen Form der Verweigerung.
Damit erfüllt sich selbst gegenüber dem zeitgenössischen Schaffen, das
nicht mehr durch eine verbindliche Tradition geleitet wird, der Sinn von
>wahr< und >falsch<, der dem dichterischen Werk, also dem Text als solchem,
zukommt. Der Text ist in dem so bezeichneten Sinne eine wahre Aussage
(oder auch eine falsche). Das heißt nicht, Dichtung unter dem Gesichtspunkt
des Soziologen anzusehen, auch wenn es gewiß wahr ist, daß der Zustand
einer Gesellschaft sich auch in ihren dichterischen Gestaltungen spiegelt. Das
geht den Soziologen an. Aber Soziologie meint nicht die Kunst und was sie
ab Kunst, und nicht die Dichtung und was sie als Dichtung bekundet,
sondern was sich an ihr als schon Bekanntes und Gemeintes verifizieren läßt.
Es ist nicht zu leugnen, daß für soziologische Interessen der Kitsch weit
einträglicher ist als das durch die Kunst Dokumentierte. Das tritt auch an
dem sozialistischen Realismus zutage, der von dem Fremdzwang eines
soziologisch begründeten Produktionsprozesses in die Nähe des Kitsches
gefühlt wird. Das Dokumentarische übertönt das Dichterische.
Was wir dagegen als wahre Aussage in gegenwärtiger Kunst anerkennen,
geht in merkwürdiger Weise mit dem zusammen, was uns die Kunst anderer
Zeiten und anderer Völker anbietet, deren Aussagewert, Ausdruckswert,
Qualität und Stil uns einfach überzeugt - gewiß in wechselnden Wertungen
und Bevorzugungen, aber doch unter der bleibenden Anerkennung, daß in
solchen >klassisch< genannten Produktionen alles >stimmt< und daß sie uns
alle erreichen, trotz ihrer Gebundenheit an eigene Bedingungen fernen
Ursprungs und fremder Herkunft.
Was sich heute in der Stilunsicherheit und der experimentellen Willkür
moderner Kunst an die großen Wahrsprüche der Weltliteratur anreiht, ist
daher so wahr wie sie, wenngleich es - nein, weil es - voller Verweigerung
ist. Welche Aussage >Kunst< ist, kann mehr beanspruchen, als daß heraus-
Über die Festlichkeit des Theaters 297

Insbesondere der Film und der Funk haben da neue Befriedigungsformen


der angeborenen Schaulust und Musikfreude der Menschen entwickelt, der
moderne Sport auf der anderen Seite eine Form des Massenschauspiels
geschaffen, die festlich und doch ohne Kunst ist. Bis in die Dichtung hinein
spüren wir das neue Konstruktionsgesetz unserer Epoche, das ich als die
26. Ober die Festlichkeit des Theaters1 Montage bezeichnen möchte. Montage ist Komposition aus in sich fertigen
Teilen. Der Monteur, der die Montage vornimmt, arbeitet zwar nicht ohne
(1954) eigenen geistigen Beitrag, sofern er das Funktionieren des Ganzen - und im
Fall der poetischen oder theatralischen Montage: die Wirkung des Ganzen -
richtig voraussehen muß. Aber er gehört der Arbeitswelt der modernen
Seit 175 Jahren hat Mannheim sein stehendes Theater. Das stolze Gefühl Industrie an und scheint dem Ingenieur näher als dem Genie. Was für ein
einer Selbstvergewisserung, das mit solchem Gedenken gegeben ist, kommt Wandel in den Gesetzen der Produktion spricht sich darin aus — und muß
der bürgerlichen Gesellschaft, der Schöpferin und Trägerin des ziehenden nicht das Theater, die Stätte der genialen Improvisation, seinen Platz in
Theaters<, zu. Noch immer ist es der Bürgersinn, der sich sein Theater dieser veränderten Welt der technischen Planung verlieren?
verdient. Und dennoch sind 175 Jahre, gemessen an den Maßen, in denen Um dieser Frage zu genügen, darf der denkende Historiker auf die dem
sich geschichtlicher Wandel vollzieht, kein langer Zeitraum und keine Bürg- Theater seit jeher und wesenhaft zugehörende Festlichkeit den Blick richten.
schaft für Dauer. Der Strukturwandel der gesellschaftlichen Verhältnisse Das Theater ist - dem Wort und der Sache nach - eine griechische Schöp-
innerhalb dieses Zeitraums ist ein so eingreifender und tiefer, daß auch die fung. Sein Wesen ist das zum Zuschauen geschaffene Spiel. Die Einung, die
Funktion des Theaters innerhalb der Gesellschaft diesen Wandel verspüren es bewirkt - Zuschauer desselben zu sein - , ist Einigung aus Abstand. Es ist
muß und verspürt. In diesen letzten 175 Jahren hat sich die Welt in ihrem die objektivierende Leistung des griechischen Geistes, die aus den Formen
Aussehen stärker verändert als in dem ganzen übrigen Zeitraum der uns kultischer Begehung, Tanz und Ritual dies Neue, noch uns Erschütternde
durch schriftliche Überlieferung bezeugten menschlichen Geschichte. Man geschaffen hat. Denn religiösen Ursprungs ist freilich auch das griechische
denke allein an das Anwachsen der Bevölkerung unseres Kontinents und Theater, ein Bestandteil griechischen Festes und damit, wie alle Erschei-
unserer Städte. Die Sprache der Zahlen ist beredt. Die moderne Gesellschaft nungsformen des öffentlichen Lebens der Griechen, von sakralem Charak-
ist durch die industrielle Technik geprägt - was niemand stärker empfinden ter. Was aber ist ein Fest? Was ist das Festliche? Feste werden gefeiert. Was ist
kann, als wer von der poetisch-akademischen Insel Heidelbergs nach Mann- das Feierliche des Festes? Wir wissen, daß es nicht notwendig etwas Frohes
heim herüberkommt und den pochenden Puls des modernen Wirtschaftsle- und Fröhliches ist. Auch Trauer kann festlich einen. Aber immer hat das Fest
bens in dieser fleißigen Industriestadt verspürt. Und vielleicht ist dies doch etwas Erhebendes an sich, das seine Teilnehmer heraushebt aus dem Alltäg-
das wichtigste Kennzeichen der eingetretenen Wandlung, daß die Fernen lichen und hinaufhebt zu einer alle Teilnehmer ergreifenden Gemeinsam-
verschwinden. Alles reist. Die moderne Gesellschaft ist eine Verkehrsdemo- keit2. Zum Fest gehört daher eine ihm eigene Zeitlichkeit. Es ist seinem
kratie. Waren es ehedem die Schauspielgesellschaften, die, an die festen Sitze Wesen nach wiederkehrend. Auch das einmalige Fest noch gebiert aus sich
höfischer oder bürgerlicher Kultur ziehend, die fahrenden Leute< hießen, so selbst die Möglichkeit seiner Wiederkehr. Die Erinnerung an den Jahrestag
sind heute wir alle, wir Zuschauer und Freunde des Theaters, die fahrenden eines festlichen Ereignisses wird selbst festlich begangen. Ja, Begehung ist
Leute geworden, die sich unter dem festen und festlichen Dach des Theaters die Seinsweise des Festes, und in aller Begehung ist Zeit zum >nunc stans<
vereinigen. Wie sollte da das Theater das gleiche bleiben und seiner Zukunft einer erhebenden Gegenwart geworden. Erinnerung und Gegenwart sind
fraglos gewiß sein können? dann eins. Das Weihnachtsfest etwa ist doch wahrlich mehr als die festliche
In der Tat hat die moderne Technik durch ihre Schöpfungen den innersten Erinnerung an die Geburt des Erlösers, die vor 2000 Jahren als Gegenwart
Lebensbereich des Theaters angegriffen, und es ist alles andere als selbstver- geschah: Jedes Weihnachten ist mit jener fernen Gegenwart auf eine myste-
ständlich, daß das Theater in dieser veränderten Welt eine Zukunft hat. riöse Weise gleichzeitig. Das Mysterium der Festlichkeit ist Stillstand der

1 2
Die Erstveröffentlichung 1954 war WALTER F. OTTO, dem Deuter antiker Festlich- Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 128ff. und in diesem Band >Die
keit, zum 80. Geburtstag gewidmet - wie der Text lehrt, mit gutem Grund. Aktualität des Schönem, S. 130ff.
298 Zur bildenden Kunst Ober die Festlichkeit des Theaters 299

Zeit. Das charakterisiert ja den Alltag im Gegensatz zum Festtag, daß ein den Schlupfwinkeln unseres Vergessens heraufbeschworen, vor uns ihre
jeder in ihm angekettet, an bestimmte Funktionen und Termine seines Stimme erhebt. Das tut der Kult im antiken heidnischen Leben in der Form
Lebens fixiert ist. Diese Vereinzelung der Zwecke weicht im gehobenen der Theophanie. Im christlichen Kult hat das Meßopfer einen damit ver-
Augenblick der Gemeinsamkeit des Festes, ein Augenblick, der nicht durch gleichbaren Sirm - das tut auch noch in seiner Weise das Theater. Seit es ein
das, was aussteht, nicht durch das, was bezweckt wird und Profit tragen soll, stehendes Theater ist, tut es das freilich in einer ganz anderen Weise. Denn
seinen Sinn hat, sondern der gleichsam mit sich selbst erfüllt ist. Man das Stehendwerden des Theaters ist nicht nur eine äußerliche Veränderung,
versteht, daß es der Kult ist, in dem sich diese Selbsterfüllung des Augen- in der sich die Zivilisation der Gegenwart den alten Zauber der Festlichkeit
blicks ursprünglich und exemplarisch darstellt. Der erscheinende Gott ist die des 'Theaters zugänglich macht und erhält, es ist vielmehr eine paradoxe
absolute Gegenwart, in der Erinnerung und Gegenwart zu einer einheitli- Verwandlung seiner Festlichkeit selbst. Wir sahen ja, jedes Fest ist an sich
chen Augenblicklichkeit zusammengehen. Und von da versteht sich auch, dadurch gekennzeichnet, daß es seine feste rhythmische Wiederkehr hat, daß
daß es nicht nur eine negative Bestimmung ist, wenn wir von der Festlich- es herausgehoben ist aus dem Fluß der Zeit und wie eine Art kosmischen
keit des Festes sprechen. Nicht nur das Herausgehobensein aus dem Alltag, rhythmischen Gewissens uns etwas davon übermittelt, daß nicht alle Zeiten
nicht nur die Bestimmung, daß das, was hier erwartet wird und genossen gleich sind im unterschiedslosen Vergehen, sondern daß es Wiederkehr des
wird, zwecklos ist und Muße ausfüllt, sondern daß ein positiver Inhalt darin großen Augenblicks in der Stunde des Festes gibt. Das stehend gewordene
dargereicht wird, macht das Fest aus. Aller Kult ist in Wahrheit Schöpfung. Theater bindet nun auf einmal diesen Charakter der Festlichkeit an sich
Es ist ein in Laienkreisen noch immer weit verbreitetes Vorurteil, das Wesen selber, an das, was in diesem Theater in immer neuer Aufrührung, in immer
des Kultes sei vom magischen Zauber her zu verstehen. Das ist zwar eine neuer Begehung geboten und dargestellt wird. Es ist also eine paradoxe
sehr naheliegende Beschreibungsform eines aufgeklärten Zeitalters, daß Umkehrung, auf der gerade das besondere Wesen des modernen Theaters
man die nicht mehr verständlichen Praktiken, die Form der Begehung, des beruht. Hugo von Hofmannsthal hat einmal in einer seiner Prosaaufzeich-
Rituals und Zeremoniells, die mit einem religiösen Fest verbunden sind, als nungen etwas davon gesagt, das ich hier zitieren möchte. Denn wenn
eine Art magischen Willenszaubers ausdeutet, durch den sich eine Gemein- jemand in unserem Jahrhundert das Recht hatte, über Theater etwas zu
schaft den guten Willen der Göttlichen zu gewinnen sucht. Aber das ist, wie sagen, dann war es ein Wiener und ein Dichter. Hofmannsthal sagt: »Das
wir durch die neuere Forschung wissen, eine ganz irrige Beschreibung der Theater ist von der weltlichen Institution die einzig überbliebene gewaltige
Wirklichkeit des Kultes. Sie geht von der extremen Lebensform aus, die und gemeingültige, die unsere Festfreude, Schaulust, Lachlust, Lust an
unser ganzes modernes Zivilisationsleben beherrscht, dem willensmäßigen Rührung, Spannung, Aufregung, Durchschütterung geradhin an den alten
Erstreben des Nützlichen und der Macht; der Tendenz, die Dinge in die Festtrieb des alten ewigen Menschengeschlechts bindet. «
Hand zu bekommen und zu beherrschen, der wir die Großartigkeit unserer In der Tat, das ist es, was mir im Nachdenken über die bleibende Funktion
modernen Zivilisation verdanken. Aber sie verkennt, daß ursprüngliches des Theaters in der gewandelten Gesellschaft denk- und sagwürdig er-
und immer noch lebendiges Wesen der Feste Schöpfung ist, Erhebung in ein scheint. Das stehende Theater, das dieser Wandel hervorgerufen hat, ist eine
verwandeltes Sein3. Schöpfung der höfisch-bürgerlichen Gesellschaft und hat sich inzwischen
Wer sich in der wiederkehrenden Übung einer bestimmten Verehrung durch die moderne Industriegesellschaft in einer einleitend schon skizzierten
bewegt, die wir Kult nennen, weiß auch, was Fest ist. Was noch in den Weise in seiner Funktion weitergewandelt. Es sind gleichsam drei große
verweltlichten Formen christlicher Feste, etwa in katholischen Gegenden im Kapitel in der Geschichte des Theaters der Menschheit, die wir so, uns
Karneval, vor sich geht, das ist nicht mehr so fern von dem Gegenstand besinnend, überblicken.
unserer Frage, nämlich dem Theater und der Festlichkeit, die dem Theater Die erste Epoche, die eben bis an die Schaffung des stehenden Theaters
anhaftet. Auch das Theater ist, wie der Kult, eine echte Schöpfung, das heranreicht, möchte ich charakterisieren als das Zeitalter der religiösen
heißt, hier wird etwas aus uns herausgestaltet und wird vor uns selbst Präsenz oder der religiösen Gehobenheit. Hier ist es selbstverständlich, daß
Gestalt, was wir als eine überlegene Wirklichkeit unser selbst erfahren und das Theaterspiel ein Akzidens, eine Miterscheinung des religiösen Festsinnes
anerkennen. Es ist eine Wahrheit, die gleichsam überlebensgroß, weil aus ist, bei einem Fest und im Rahmen eines Festes eine bestimmte versammeln-
de Funktion der Festgemeinde vollzieht. Diese Form des gemeinsamen
3
Vgl. die bedeutende Einleitung, die WALTER F. OTTO seinem Buche >Dionysos< Feierns, die ja für den Dionysoskult, diesen Geburtskult des antiken Thea-
(Frankfurt 1933) vorausgeschickt hat. ters, besonders charakteristisch war - wir wissen, daß es keinen anderen
300 Zur bildenden Kunst Ober die Festlichkeit des Theaters 301

antiken Kult gegeben hat, in dem die Kultgemeinde in demselben Grade ren Bühnengeschehen vor ihm geschieht, eigentlich sein sollte, und Schiller
Mitspieler war wie in dem orgiastischen Kult des Gottes Dionysos - , hat hat bekanntlich die moralische Anstalt der Schaubühne dahin bestimmt, daß
eine Jahrtausende währende Geschichte. Denn auch das mittelalterliche sie den Übergang in eine echte sittliche Lebens- und Gesellschaftsordnung
Mysterienspiel, ja selbst noch das Barocktheater in manchen seiner Erschei- im Spiel vorwegnimmt und einübt. Solche moralische Transzendenz bedeu-
nungen, etwa in der Calderons, sind nicht ganz abgerückt von der kultisch- tet nun, und das sehen wir ganz sinnlich vor Augen, daß der Zuschauer wie
höfischen Mitte, in der sich das christliche Welteiter seinen eigenen Mittel- in seine letzte Innerlichkeit zurückgewiesen wird. Er ist nicht mehr in dem
punkt gab. Das entscheidende Kennzeichen dieses Kapitels der Theaterge- Sinne Mitspieler, in dem es der Mitfeiernde einer religiösen oder verwelt-
schichte ist offenbar, daß das Theater eine Versammlung bewirkt, in der der lichten Gesellschaft war. Er ist nur Zuschauer, und die spezifische Form der
Zuschauer nicht weniger bestimmend ist als der Darsteller. Das gilt auch Bühne, in die man hineinschaut, entspricht dem. Er ist Zuschauer, der in der
heute noch, und das gibt es begreiflicherweise in den neuen Formen des dunklen Kammer seiner Einsamkeit den Appell der moralischen Transzen-
modernen technisierten Kulturlebens nicht und kann es nicht geben, daß der denz von der Bühne her erfährt.
unentbehrliche Mitspieler des Spielers der Zuschauer ist. Dazu kommt ein zweites, das, seitdem es stehende Theater gibt und je
Das ist nur möglich, weil sich im Wesen des Theaters etwas zur Darstel- mehr sie sich die Gesellschaft erobert haben, etwas Neues ist. Jetzt erst gibt
lung bringt, das nicht nur einer sich ausgedacht hat, der Dichter, und nicht es (zum ersten Male in der Geschichte des Theaters) die Wiederholung von
nur einer in Leib und Sinnlichkeit übersetzt, der Regisseur, sondern weil Aufruhrungen und die Wiederaufnahme ehedem aufgeführter Bühnenwer-
darin etwas beschworen wird, was, wenn auch unerkannt, in uns allen ke als den Normalfall. Jetzt erst gibt es neben dem jeweils neugeschriebenen,
geistert. Dieses Zeitalter der religiösen Präsenz, in dem die Feier des Thea- noch ganz den Augenblick, in dem wir leben, dichterisch inszenierenden
ters ein Glied der allgemeinen Feier- und Festgemeinschaft darstellt, ist noch Werk eines zeitgenössischen Dichters den Bestand eines klassischen Reper-
immer ein Stück Wirklichkeit in jedem kleinsten Theaterabend, den wir toires. Jetzt erst stellt sich damit für uns die Aufgabe, zu vermitteln zwischen
heute haben. der zeitgenössischen Gegenwart und ihrem ständig sie begleitenden Besitz
Das zweite große Kapitel in der Geschichte des Theaters, das wir ebenfalls an Historischer Bildung und Gegenwart.
in unserem seelischen Besitze ständig bei uns tragen, ist durch das stehende Denn das ist ja kein Zweifel, daß das Theater dadurch nicht zum Museum
Theater äußerlich sofort kenntlich. Sein Wesen ist besonders durch Schiller, wird. Das Theater wird nicht und niemals historisch. Dort, wo ein Theater
den Heros Eponymos des Mannheimer Nationaltheaters, repräsentiert. Ich aus historischem Interesse ein Stück auffuhrt, hat es von vornherein auf seine
möchte es das Zeitalter der moralischen Transzendenz oder auch der morali- eigentliche Souveränität Verzicht getan, die ist: Gegenwart, ausschließlich
schen Erhabenheit nennen. Denn was dieses Zeitalter von dem ersten Kapi- Gegenwart zu sein. Das ist es gerade, was wir dem Theater der letzten 175
tel in der Geschichte des Theaters der Menschheit unterscheidet, ist die Jahre verdanken, daß sich eine neue Dimension in unser Gegenwartsbe-
Spannung, die zwischen der Wirklichkeit des durchherrschenden Lebenssti- wußtsein hinein geöffnet hat, indem geschichtliche Zeiten mit ihren Schöp-
les und dem Zauber der Bühnenwelt für jeden Zuschauer fühlbar wird. Jetzt fungen des griechischen, spanischen, englischen, des klassischen französi-
erst wird der Zuschauer in dem Grade zum Zuschauer, in dem wir es im schen und des deutschen Theaters, alle diese großen Hoch-Zeiten der Thea-
modernen Theater - ich hätte fast gesagt: schon nicht mehr - gewöhnt sind. terdichtung, nun jeder Gegenwart neuer gegenwärtiger Besitz zu werden
Jetzt ist die Bühne - so hat es Schiller empfunden und so hat es ein ganzes vermögen. Wir sind nicht der Meinung, daß deswegen die stilgerechte
Jahrhundert mit ihm empfunden - die große Trösterin über eine prosaisch Auffuhrung im Sinne eines historisch-archaisierenden Stiles, wie ihn die
werdende Welt. Jetzt ist ihre Aufgabe, wie Schiller es einmal formuliert, den Wissenschaft ermittelt, die Aufgabe des klassischen Spielplanes eines Thea-
zu engen, wirklichkeitsbeschränkten Blick der Menschen, ihren Ameisen- ters ist. Im Gegenteil — die Verschmelzungskraft, die eine Gegenwart als
blick, wie er sagt, zu erweitern und das Walten der Vorsehung dadurch allen Gegenwart besitzt, wenn sie Vergangenes zur Gegenwart zu erheben ver-
sichtbar zu machen, daß die sonst im Leben verrauschenden Symmetrien mag, ist das Großartige an diesem Kapitel der Theatergeschichte.
von Schuld und Strafe, von Anstrengung und Erfolg, kurz alle sittlichen Damit deute ich freilich schon an, daß wir im Begriff sind, ein weiteres
Harmonien des Lebens, die im Leben selbst nicht mehr sichtbar sind, in der Kapitel in der Geschichte des Theaters der Menschheit aufzuschlagen. Kein
Traumwelt der Bühne erscheinen. Wunder, daß wir das heute vermuten. Denn der Strukturwandel unserer
Es ist klar, daß dies eine Aufgabe der morahschen Transzendenz ist, denn Gesellschaft ist wirklich so tief, daß es eher ein Wunder wäre, wenn sich die
hier lebt das Leben in dem Bewußtsein, daß es so, wie es in dem wunderba- Gegenwart noch immer den intimen historisch-musealen Luxus eines Thea-
Über die Festlichkeit des Theaters 303
Zur bildenden Kunst
302
bringt, die wir nie sahen. Jede Nachahmung ist Steigerung, ist Erprobung
ters erlaubte, das vor hundert Jahren seine Funktion innerhalb der Gesell-
von Extremen. Das moderne Theater, das sich an die Extreme vorwagt, um
schaft erfüllte, als man noch mit der Postkutsche fuhr.
sie zu erproben, ist gerade deshalb kein sekundäres Phänomen innerhalb
Was ist nun dieses dritte Kapitel? Der Wissenschaft steht es nicht an, den unserer Gesellschaft und unserer Kultur. Denn das Theater hat, wie mir
Propheten zu spielen. Ich möchte mich begnügen, ein paar Züge dessen zu scheint, vor allen anderen Möglichkeiten dieser Art den bleibenden unge-
beschreiben, was ich als dankbarer Freund unserer gegenwärtigen Theater heuren Vorzug, daß sich in der Unmittelbarkeit der Gemeinschaft von
zu beobachten meine. Ich weiß für dieses ungeschriebene, noch in seinen Darstellern und Zuschauern die Probe auf diese kühnen Experimente des
Initialen stehende Kapitel der Geschichte des Theaters keinen zureichenden Verwandeins ständig ergibt. Der Spieler bekommt zurück von dem Zu-
Ausdruck. Aber ich meine zu sehen, daß die moralische Spannung zwischen schauer, wohinein er sich gewagt hat, und umgekehrt bekommen wir
Wirklichkeit und Traumwelt - dieser erhabene moralische Appell, der das Zuschauer vom Spieler Seinsmöglichkeiten gleichsam vorgewagt, die uns
Große des klassischen Theaters des 19. Jahrhunderts ausgemacht hat - , daß übertreffen.
das Gegenüber des stummen Zuschauers und der im Rampenlicht fernge- Es ist die Unheimlichkeit der Maske, die ganz nur Zugekehrtheit, Ober-
rückten und verwandelten Bühne unserem gegenwärtigen Empfinden und fläche ohne Dahinter ist, und daher ganz Ausdruck, die Starrheit der Puppe,
unseren zukünftigen Möglichkeiten nicht mehr ganz entspricht. Die Einheit die, an Drähten gezogen, dennoch tanzt, die Fremdheit all dessen, was uns
von Zuschauer und Spieler gewinnt heute eine neue Bedeutung. Was uns in aus der Wohligkeit unserer bürgerlichen Selbstbestätigung aufschreckt und
dieser Einheit anrührt, ist das Gefühl, daß die Welt sich in der bloßen was selbst mit der verläßlichen Wirklichkeit spielt — in all dem erkennt sich
Spannung des moralischen Aufschwungs nicht mehr genugsam erkennt und nicht mehr das menschliche Herz in dem Königreiche seiner Innerlichkeit,
daß vielmehr das Getragensein aller von einem jeden einzelnen übertreffen- sondern als Spielball der großen überindividuellen Mächte, die uns bedin-
den und gemeinsamen Geiste die an die alten religiösen Gründe des kulti- gen. Dies sichtbar zu machen, ist freilich auch Technik und Montage ein
schen Festes zurückgemahnende Macht des Theaters ist. Wir sehen manches Mittel. Aber nicht zur Traumvorspiegelung von Wirklichkeit dient es,
am modernen Theater, das für eine solche Entwicklung spricht. Die Fach- sondern es bedarf der gleichen geistigen Umsetzung, die dem Wort und der
leute werden das Gefühl haben, daß das längst bekannt und längst praktiziert Gebärde eigen sind, wenn sie nicht Seelengemälde, sondern uns treffender
ist. Aber wir Laien merken es später und suchen langsam zu begreifen, was Spruch und Wink sind.
da vor sich geht. Wir wissen heute mit einer uns immer wieder erschütternden neuen
Es ist nicht leicht, die Überschrift des neuen Kapitels, das begonnen hat, Gewißheit, daß das menschliche Wort und die menschliche Gebärde von
zu erraten. Wir sind zu sehr am Anfang, um das Wesentliche zu erkennen. einer Sagkraft sind, der gegenüber der ganze großartige Aufwand techni-
Manches fällt dem Laien auf, was vielleicht nur äußerlich ist. Aber das Ideal scher Zivilisation, der unsere Welt verwandelt hat, immer etwas Nüchter-
der Natürlichkeit, das ehedem das hohlgewordene Pathos der klassizisti- nes, Schneckenhaftes, Mühsames und Flickwerkartiges behält. Ein Wort,
schen Bühnen ablöste, die psychologische Auslegung, die atmosphärische richtig gesprochen, ein Pochen, richtig an die Hoftür getan - und es ist da,
Bildtreue — all das, was den Traumflitter der Bühne ausmacht - will uns was keine technische Mimesis mit den größten Mitteln je an Wirklichkeit
heute wie eine Flucht vorkommen. Auch die technische Vollkommenheit, erzielen kann. Und für wen ist es da, und wie ist es da? Es ist freilich nicht da
die solche Traum- und Narkosewirkung herbeiführt, scheint uns wie eine ohne uns, die zuschauen. Wir sind es, die das, was dasein soll, erst einlösen
Verschwendung. müssen. Aber das ist doch die wahrhaft überraschende Erfahrung, die die
Es gilt, sich klarzumachen, was für ein Fallstrick in dem Worte >Nachah- letzten Jahrzehnte des fortschrittlichen Theaters in der Welt gezeitigt haben,
mung< gelegen ist4. Die antike Mimesis und die moderne Mimik sind etwas daß die moderne Menschheit, über die ständig eine Flut von Reizmitteln
ganz anderes, als was wir zumeist unter >Nachahmung< denken. Alle wahre ausgegossen wird, die sich vor rein passivem Sichüberfließenlassen von
Nachahmung ist Verwandlung. Sie ist nicht ein Noch-einmal-Daseinlassen Rauschströmen kaum noch zu retten weiß, imstande bleibt, selbst etwas zu
von etwas, das so schon da ist. Sie ist in der Weise verwandeltes Dasein, daß tun. Daß es ihr immer noch gelingt, sich zu erheben und das, was vor ihr
freilich das Verwandelte noch zurückweist auf das, woraus es verwandelt dargestellt wird, in der ganzen Erhobenheit, die den festlichen Augenblick
ist. Aber es ist verwandelt, indem es gesteigerte Möglichkeiten zu Gesichte krönt, sein zu lassen. Das Theater ist geistiger geworden, als es im Zeitalter
der Guckkastenbühne je war. Darin ist eine Unmittelbarkeit gelegen, die
4
Vgl. in diesem Band die Beiträge >Kunst und Nachahmung« (Nr. 4) und »Dichtung uns in unserem durchspezialisierten, durch tausend Vermittlungen verstell-
und Mimesis< (Nr. 8).
304 Zur bildenden Kunst

ten Dasein sonst so selten zuteil wird. Daß wir hier als Gemeinschaft die
Unmittelbarkeit dessen, was wir sind und was es mit uns ist, im strömenden
Austausch zwischen Spieler und Zuschauer vollziehen, scheint mir eine
echte Erfahrung der bleibenden Festlichkeit des Theaters.
Ober uns hinüber spielt dann der Engel.
(Rilke) 27. Begriffene Malerei?
Zu A. Gehlen: Zeit-Bilder

(1962)

Wer je eine Gemäldesammlung besucht hat, in der die Entwicklung der


Malerei unseres Jahrhunderts gut dokumentiert ist, ζ. Β. den Salon des
Beaux Arts in Paris, wird mit Gehlen eine Ausgangserfahrung teilen, das
Erschrecken und die Nachdenklichkeit, die einen beim Betreten der Säle
befallen, in denen Arbeiten von Picasso und Juan Gris zu sehen sind. Was ist
da geschehen? Wie kam es zu solcher >kubistischer Formzersplitterung<?
Woher rührt die Suggestion, die trotz aller Befremdung von da ausgeht und
die wie eine Revolution einen Epocheneinschnitt darstellt, von dem aus eine
neue Zeitrechnung zu beginnen scheint? Was ist dieses Ereignis, das sich
nicht vergißt? Sehr schön spricht Gehlen von der geisterhaften Stummheit,
die seit dem Nachimpressionismus über die Bilder gekommen ist. »Die
ungebrochene Bedeutung eines Bildes, sein Gegenstandssinn, macht es
sprechend. Vollkommen stumm ist dagegen ein sinnentleertes Ornament.
Von dieser Stummheit dringt etwas in das Bild. [...] Abstrakte Bilder sind
völlig sprachlos und verstummt, sie können ein geradezu brütendes Schwei-
gen ausstrahlen, wie die von Mondrian«1.
Man sieht sich einer kundigen Führung anvertraut, wenn man Gehlens
Buch liest. Gehlen versucht nicht nur eine historisch-soziologische Erklä-
rung, er läßt sich auch auf die kunsttheoretischen Gesichtspunkte durchaus
ein und verrät eine respektgebietende Vertrautheit mit der modernen Male-
rei. Der Affekt, mit dem er der unermeßlichen Kommentarliteratur und
ihrer oberflächlichen Ideen-, Assoziationen- und Analogienflucht gegen-
übersteht, wird nur noch von dem Affekt übertroffen, mit dem er die
gutgläubige Naivität verfolgt, die noch immer in der romantischen Genie-
Asthetik Anfang und Ende alles ästhetischen Denkens festmachen möchte.
Entsprechend feindselig reagiert er auf die »expressionistische Verwirrung«,
in der er eine emotionale Regression erblickt.
Man wird nicht sagen können, daß diese Affekte unmotiviert sind und als
solche die Klarheit der Erkenntnis gefährden müßten. Weder ist uns damit

ARNOLD GEHLEN, Zeit-Bilder Frankfurt 1960, S. 66, vgl. S 187.


306 Zur bildenden Kunst Begriffene Malerei? 307

gedient, daß Einstein oder Niels Bohr zur >Erklärung< moderner Bilder ment geschah, durch die von Gehlen geschilderte Logik der Entwickhing nur
bemüht werden (n. b. von Kommentatoren, die von der modernen Physik wenig gemildert. Es ist ein anderer Gedanke, der hier bei Gehlen bestimmend
genau ebensowenig verstehen wie wir selber, nämlich nichts), noch wird wird und dessen ästhetische Berechtigung von ihm mit Verve vorgetragen,
man sich einreden, daß der spätbürgerliche Geniekult des 19. Jahrhunderts aber m. E. ins Unglaubwürdige übertrieben wird. Es ist sein Plädoyer fur die
die angemessene Auffassung für das künstlerische Schaffen in unserem peinture conceptuelle, die allein in der Konsequenz der modernen Malerei liege.
Jahrhundert der Industriegesellschaft liefert. Und das offenbar aus doppel- Gehlen schließt sich damit an Kahnweilers Buch über Juan Gris 3 an. Das Bild
tem Grunde nicht. Einmal, weil der Aufbau der Ästhetik auf den Geniebe- soll nicht mehr die sichtbare Welt nachahmen, sondern »gleichsam von innen
griff wohl immer gegenüber der Wirklichkeit des künstlerischen Könnens her ein Gefüge von Zeichen schaffen« {78). Dabei vertritt er im besonderen die
eine Einseitigkeit war, sodann aber auch, weil die Formen des künstlerischen These, daß die übliche Ableitung des Kubismus aus Cézannes Satz, alles in der
Schaffens selber im Zeitalter der Düsenflugzeuge, der Massengesellschaft Natur modelliere sich gemäß der Kugel, dem Kegel und dem Zylinder, nicht
und der Serienfertigung andere geworden sein könnten, als sie im Zeitalter überzeugend sei. In der Tat ist zuzugeben, daß Picassos Verzicht, im Bilde das
der Postkutsche und des wandernden Handwerksgesellen waren. allein von einem einzigen Blickpunkt aus Gesehene zu geben, zugunsten der
Der Grundgedanke, der Gehlens Analyse leitet, ist der der steigenden schriftartigen Verzeichnung der »wesentlichen Eigenschaften« der Dinge,
Bildrationalität. Die Wahl dieses Gesichtspunktes hat nach Gehlen zunächst etwas schlechthin Revolutionäres bleibt. Freilich scheint mir die gegebene
einmal einen methodischen Grund. Die Anwendbarkeit soziologischer Vor- Erklärung, daß man, um die Deformation zu vermeiden, lieber die Naturähn-
stellungen steige mit dem Grade der inneren Rationalität eines Themas (14). lichkeit überhaupt aufgegeben habe, kaum überzeugend. Die Schrift dieses
Nun zeige die Geschichte des Bildes eine Entwicklung nach dieser Richtung. neuen facettierten Stiles bleibt eine Bilderschrift — und damit eine gewollte
Die Konnotationen, die die religiöse Kunst besetzen, werden schon in der Schockierung der unmittelbaren Bilderwartung.
realistischen Kunst entbehrlich, sofern in ihr die bloße Wiedererkennung des Hier setzt nun die eigentliche Deutung Gehlens ein. Er sieht eine Erklärung
Dargestellten gewollt sei, ζ. Β. im holländischen Stilleben. Die neue Malerei des kubistischen Programms in der Philosophie des Neukantianismus, jener
baue auch dieses Sinnmoment noch ab und beschränke sich ganz auf die Philosophie der Erzeugung des Gegenstandes durch das Denken, die Raum
»Rationalität des Auges«. Was damit in concreto gemeint ist, wird zunächst und Zeit - anders als bei Kant - als apriorische kategoriale Momente mit zu
an der Kunsttheorie Konrad Fiedlers verdeutlicht, der die vollständige sinn- den Verstandesbegriffen (Kategorien) zählt. Abgesehen davon, daß diese
liche Aneignung des Dinges gegen die das praktische Leben beherrschende philosophische Theorie von Kahnweiler nur herangezogen wird, um den
Funktion des Begriffes stellt. Sodann gibt Gehlen eine ausgezeichnete Ana- Kubismus zu deuten - nichts spricht dafür, daß Picasso und Braque selbst
lyse der jüngeren Entwicklung der Malerei, die er als Auseinandersetzung daran teilhatten-, das eigentliche Rätsel bleibt selbst dann ungelöst. Daß dem
zwischen Bildgegenstand und Bildfläche beschreibt. Daß in dieser Ausein- Neukantianismus zufolge der Begriff des Dinges nur ein gedachter Bezugs-
andersetzung schließlich die Bildfläche die Oberhand gewinnt und der Ge- punkt (eine >unendliche Aufgabe<) ist, erklärt nicht im geringsten »manche
genstand der Deformation - wenn nicht gar der völligen Auflösung - der'berühmten paradoxen Neuerungen des Kubismus, ζ. Β. das Verfahren,
verfallt, wird als die Logik dieser Entwicklung überzeugend herausgestellt. gleichzeitig auf demselben Bilde mehrere Ansichten desselben Dinges zu
Im ganzen scheint mir diese Analyse ästhetisch wohlbegründet. Freilich geben: man setzt eben nicht den bloßen optischen Hinblick, sondern das Ding
ist die Unterscheidung von ideeller und realistischer Kunst nicht ganz so selbst voraus, zu dessen Wesen es gehört, sich nach verschiedenen Seiten zu
zwingend wie ihr Gegensatz zu der von allen Konnotationen freien Kunst. entfalten« (88). Der facettierende Stil also als die Praktizierung von Husserls
Denn ob es sich um Mythos oder um sogenannte Wirklichkeit handelt — den Theorie der >Abschattung< des Wahrnehmungsgegenstandes! Was für eine
Sinn der Wiedererkennung hat alle Mimesis, gerade auch die des Mythos absurde Idee, daß der Kubismus die Synthesis der Apperzeption ins Bild
und der religiösen Oberlieferung, wie schon Aristoteles klar sieht2. Darauf gebracht und daß der alles andere als revolutionäre Neukantianismus kurz vor
wird unter dem Stichwort >Reflexion< noch zurückzukommen sein. seinem seligen Ende die größte Revolution der europäischen Malerei seit
Jedenfalls wird die Härte des Bruches, der mit dem kubistischen Experi- Giotto hervorgerufen habe. Nichts kann unglaubwürdiger sein4.
3
DANIEL-HENRY KAHNWEILER, Juan Gris. Sa vie, son œvre, ses écrits. Paris 1946, dt.
2
Siehe dazu > Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 119ff. und in diesem Stuttgart 1968.
4
Band die programmatischen Aufsätze >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4) und >Dichtung Inzwischen hat GEHLEN die Kunsttheorie Kahnweilers in der Festschrift fur Kahnweiler
und Mimesis< (Nr. 8). (Stuttgart 1965) eigens behandelt und ihren kantianischen Hintergrund herausgearbeitet,
308 Zur bildenden Kunst Begriffene Malerei? 309
Wie kommt Gehlen zu einer solchen phantastischen Annahme? Offenbar , selbst wenn sie in einem authentischen Kommentar dar-
um der These der peinture conceptuelle willen. Der revolutionäre neue Ansatz geboten werden, nicht das erste wären, sondern die sekundäre Formel fur
des Kubismus soll »um einen philosophischen Grundgedanken herum« eine rieue optisch-malerische >Vision<. Es brauchte daraus wirklich nichts
konstruiert sein - um dann bei Juan Gris zuerst synthetisch gebraucht zu von Geniekult und Emotionalismus zu folgen. Malerische >Visionen< kön-
werden (>Mathématique picturale<). Gehlen sagt geradezu: »Es ist sonnen- nen höchst nüchternen Arbeitserfahrungen mit Farben, Pinsel und Lein-
klar, daß hier sehr hohe Grade gedanklicher Reflexion in Kunst umgesetzt wand entspringen, von denen niemand bestreitet, daß sie im Kopfe ge-
wurden.« Dieser Satz ist freilich zu zweideutig, um selber klar zu sein. Was machtwerden.
soll hier »umsetzen« heißen? Daß die These vom neukantischen Ursprung Wie steht es nun mit Paul Klee? Wir haben seine frühen Tagebücher.
des Kubismus so nicht gestützt werden kann, scheint mir übrigens schon aus Aber zur Deutung des Werkes verwendet Gehlen fast nur die Bauhaus-
dem Hinweis auf Mailarmes Einfluß indirekt hervorzugehen. Oder soll Vorlesungen von 1921/22 und Späteres. Muß man nicht vernünftigerweise
dessen Alchemie der Worte auch neukantischen Ursprungs sein? annehmen, daß es das theoretische Reflexionsbedürfhis eines Malers, der
Nun, eine unglückliche Anwendung kann über die fragliche These noch seinen Stil gefunden hat, ist, das sich hier ausspricht (und daß es nicht diese
nicht schlechthin entscheiden, zumal das Rätsel ja wirklich seine Auflösung Reflexionen sind, durch die er erst Paul Klee wurde)? Daß seine Reflexio-
verlangt. Man wird die weitere Argumentation Gehlens prüfen müssen. nen mit vielem übereinstimmen, was die Gestaltpsychologie wissenschaft-
Seine Hauptzeugen sind: Paul Klee und Kandinsky - während wir heute lich erforscht hat, entscheidet darüber gar nicht. Auch Gehlen geht hier
»vorwiegend empirisch gefundene, theoretisch völlig ungetaufte (!) Bilder« nicht so weit, die Gestaltpsychologie geradezu zum Urheber zu machen.
zu sehen bekommen (96). Etwas gönnerhaft erkennt Gehlen an, man könne Das zu behaupten wäre chronologisch unmöglich. Aber wichtiger noch ist,
sich eine solche Kunst auch ohne Kenntnis der Theorie »rein künstlerisch« daß der Maler Paul Klee offenkundig sehr viel mehr weiß als die Gestaltpsy-
aneignen, aber das komme auf eine Frage der Genügsamkeit heraus (97). chologie. Überdies betont Gehlen selber, daß Paul Klee »jede strenge Geo-
Hier liegt aber doch wohl ein Mißverständnis. Daß es möglich ist - und metrisierung vermied« (107). Mir scheint auch seine Interpretation der
wenn möglich, dann auch als Aufgabe legitim - , Zusammenhänge dieser >Ranke< mit den Mitteln der Gestaltpsychologie wenig geglückt. Der Be-
Kunst mit philosophischen Theorien zu untersuchen, ist gar nicht der stritti- griff der Transponierung einer Gestalt steht und fällt mit der strengen
ge Punkt, sondern, ob solche Zusammenhänge in dem behaupteten Sinne Identität einer Gestalt - Klees Bild dagegen steht und fallt damit, daß solche
bestehen, nämlich in dem Sinne, daß die Prinzipien das erste sind und daß in Identität nicht besteht. Auch wird man sich fragen müssen, was die Ge-
einer Art variierender Anwendung derselben die subjektive Phantasie des staltpsychologie einen Gestalter vom Range Paul Klees lehren konnte. Et-
Künstlers dieselben nachträglich überflute. Es könnte ja auch so sein, daß wa die abkürzende Aussage? »Der Gedanke der >Abkürzung< bedeutet eine
ganz echte gestaltpsychologische Erfindung« (sie). Gehlen kann doch im
indem er Kahnweiler neben Konrad Fiedler stellt. Das darf in einem weiten Sinn wohl Ernst nur meinen, daß die Gestalttheorie hier etwas formuliert hat, was
gelten, wenngleich der Kantianismus, der die Kunst von Marées und seines Kreises zu nicht nur die Maler, sondern was wir alle, wenn wir sehen, schon >wissen<.
deuten unternahm, ein sehr anderer sein mußte als der, mit dem Kahnweiler - Husserl Es scheint mir im höchsten Grade unglaubhaft, daß seine Beschreibung
bevorzugend - den Kubismus deutet. KAHNWEILER geht in seinen Schriften überdies nie so
stimmt, wenn er schreibt, daß Paul Klee die Gestaltgesetze der Wahrneh-
weit wie GEHLEN, einen Einfluß der Philosophie des Neukantianismus auf das malerische
Programm des Kubismus zu behaupten. Wenn man etwa die klaren Ausführungen, die mung »fand, sie aber zugleich variierte«. Ist es nicht vielmehr so, daß er aus
JUAN GRIS über die Möglichkeiten des Malens gemacht hat, prüft, wird man an ihnen gerade den zahllosen Versuchen und Variationen seiner malerischen Arbeit
bewundern, wie sie ohne jede Anleihe bei der zeitgenössischen Philosophie ihre Idee der schließlich manches abstrahierte? Ich jedenfalls zöge vor - oder wäre das zu
> Architektun entwickeln. Mit der Kantischen Synthesis der Apperzeption hat das wenig zu genügsam? - , hier mit Gehlen von der »experimentellen Technik« (105)
tun. Die Originalität, die dem synthetischem Kubismus (KAHNWEILER) zukommt, beruht Klees zu sprechen, aber darunter zu verstehen, daß das Ziel aller seiner
m. E. durchaus nicht nur auf dem Konstruktivismus seines Verfahrens, sondern ebensosehr
auf der Begrenzung dieser Konstruktivität und auf ihrer Modifikation durch die Lesbarkeit
Experimente gestaltete Bilder waren - und nicht die Erkenntnis von Ge-
des Gegenständlichen. Was Kahnweiler unter >peinture conceptuelle* versteht, meint nicht, staltgesetzen. Selbst für ein so hochrationales Gebilde wie die moderne
wie bei GEHLEN, Wissenschaftlichkeit bzw. Wissenschaftsähnlichkeit der Malerei, sondern musikalische Kompositionstechnik gilt doch noch Ähnliches. Auch dort
die reine Geistigkeit der Elemente, aus denen die bildnerische Komposition unter Verzicht geht es, wie bei dem Maler, um Ganzqualitäten, mit denen er arbeitet, ζ. Β.
auf alles Imitative geformt wird. Die Kunst liegt nicht in den Elementen, sondern in ihrer m der Instrumentation, die nicht >errechnet< sind, so hochrational auch das
Synthese. Das stimmt zu JUAN GRIS, der ausdrücklich einmal sagt : Ich bin zu keiner Ästhetik
gelangt, und nur Erfahrung kann mir eine solche geben.
Konstruktionsprinzip etwa bei der Zwölftonmusik ist. Man darf die Ratio-
310 Zur bildenden Kunst Begriffene Malerei? 311

nalität des Stoffes, mit dem komponiert wird, nicht mit der der Komposi- von jeher >reflektiert< ist. Kant spricht mit Recht vom >Reflexionsge-
tion selbst verwechseln. schmack< im Unterschied zu den unmittelbar sinnlichen Bevorzugungen,
Für die These der peinture conceptuelle ist nun besonders mißlich, daß und diese >ästhetische< Reflektiertheit scheint mir nicht einmal an das ge-
Gehlen seine weiteren Zeugen, Kandinsky und Mondrian, selber nur noch bunden, was ich selber zur Charakterisierung der Wende zum 19. Jahr-
für psychologisch deutbar hält - so >privat< scheint ihm ihre Gegriffene hundert den >Standpunkt der Kunst< genannt habe5. Der attische Theater-
Kunst<. Kandinskys theoretische Arbeiten liegen zwar in der Richtung auf besucher, der zugleich ein religiöses Fest beging und zugleich als Kunst-
eine »Harmonielehre der Malerei«, aber nach Gehlens eigener Aussage ist er richter fungierte, hatte — in den verschiedensten Rängen - durchaus seinen
auf diesem Wege »nur einige Schritte weit« gelangt, weil »seine Kunstaus- Reflexionsgenuß an dem vorgeführten >Spiel mit dem Mythos<- Ich ver-
übung eine in sehr hohem Grade autistische Komponente« enthalte. Für die mag bei dem attischen Dramatiker keinen grundsätzlichen Unterschied zu
These der begriffenen Kunst scheint mir dies eine klare Petitio principii. einem so durchreflektierten, aus tausend poetischen Formen und Formeln
Überdies aber ist der ästhetisch-hermeneutische Erfolg bei dem Bemühen, komponierenden Dichter wie etwa Ezra Pound zu erkennen. Nur die
im Falle Kandinskys das Nebeneinander seiner Produktion und seiner Voraussetzungen des Verstehens und Genießens sind komplizierter ge-
Selbstkommentierung methodisch fruchtbar zu machen (116), in Gehlens worden. Die Vorgeformtheit der Stoffe ist eine kunstvollere, so daß
Augen selber höchst enttäuschend: »Jemand erfindet eine Sprache, allein für Komposition immer etwas von Montage bekommt. Der ästhetische Re-
sich, die ihm so logisch und klar vorkommt, daß er anfängt, in ihr Mitteilun- flexionsgenuß, den man daran findet, scheint mir aber nicht prinzipiell
gen zu machen: die anderen verstehen kein Wort... « verändert. Auch die große Epoche der europäischen Bildmalerei, die mit
Und wie ist es mit dem Zeugnis, das Mondrian darstellt? Er hat seine der Renaissance anhob, stellt ein ähnliches Phänomen des geistigen Ge-
asketische Flächen- und Linienkunst selber in theoretischer Reflexion aus nusses dar, auch sie in verschiedenen Rängen, auch sie mit dem Pracht-
dem Kubismus hergeleitet und zu einer kosmischen Metaphysik aufgehöht. und Schmuckbedürfnis (der Kirche und der Höfe) verknüpft und doch
Aber Gehlen selbst scheint weit entfernt, ihm in solcher Herleitung zu zugleich von allgemeiner religiöser Bedeutung.
folgen. »Mit der direkten Enthüllung des Rhythmus und der Reduktion der Es scheint mir also fraglich, ob die Reflektiertheit des modernen Kunst-
natürlichen Formen und Farben verliert das Subjekt seine Wichtigkeit in der genusses als solche eine höhere ist. Eher würde ich sagen, daß das Ele-
bildenden Kunst« - diese klare Äußerung Mondrians wird überraschend auf ment, worin sich diese Reflexion bewegt, anders geworden ist, bedeu-
den Kopf gestellt: »Er zeigt, wie nunmehr aus allen Höhen und Tiefen, tungsärmer und daher formaler. Auch glaube ich nicht, daß die >Naivität<
Quellen und Abgründen die Subjektivität in die Kunst einströmt. « Offenbar der alten Bilder im Regelfalle Gegenstand eines Reflexionsgenusses der
heißt das, daß es sich auch bei Mondrian um »ganz private Inspiration« Naivität ist. Wird nicht ausschließlich das ihnen eigene Ineinander von
handelt. Sind das alles Zeugnisse für peinture conceptuelle? - und nicht viel- Form- und Bedeutungsspannungen, das diese Bilder strukturiert, zum
mehr fur den Selbstwiderspruch, der in einer solchen liegt? Gegenstand des Genusses? Die modernen Effekte der Trompe-l'œil-
Der Schlüssel für die sonderbar verschlüsselte Beweisführung Gehlens Kunst, die Gehlen sehr richtig - ebenso wie die barocken Effekte eines
scheint mir sein Begriff von »Reflexionskunst«. Er sieht darin das spezifi- Tiepolo - von aller groben Täuschungsabsicht abrückt und als rein ästhe-
sche Neue der modernen Malerei, »den modernen Zustand der chronischen tische Illusion verteidigt, stellen wie solche der Collagen eine technische
Reflektiertheit schlechthin vom Bilde her zu erreichen« (62). Das geschehe Sonderform jenes allgemeinen ästhetischen Effektes der Brechung von
entweder durch die »Verflächung« des Bildes bei festgehaltener Gegen- Erwartungsintentionen dar. Solche Brechung von Erwartungsintentionen
ständlichkeit oder gar durch den Widerspruch im Wiedererkennen selber, gehört ganz sicher zu aller ästhetischen Reizwirkung. Das war schon im
z.B. bei den Surrealisten. Beides seien Wege zur »Reflexionskunst«. Er antiken Drama so. Nicht erst heute »trifft man die Auswahl der Mittel
führt eine ganze Reihe von Effekten in der modernen Malerei auf, die er als und Effekte gezielt im Sinne des Gegensatzes zum Bestehenden« (157).
Entsprechung zur chronischen Zuständlichkeit der Reflexionshaltung in der Der Umschlag in die Antithese ist auf dem ästhetischen Gebiet am aller-
modernen Kultur deutet. Er meint, daß uns die unmittelbare und ungebro- wenigsten eine Hegeische Erfindung. Wie es scheint, haben die mir leider
chene Aussage unerträglich geworden sei. Dagegen spreche auch nicht nur durch die Wiedergabe bei Wellék-Warren bekannten pohlischen und
unsere Liebe zur naiven Kunst der Vergangenheit. Denn diese sei nur durch russischen Ästhetiker schon vor Jahrzehnten das ästhetische Wirkungsge-
den Kontrast selber »reflexionsbedeutsam« geworden.
Demgegenüber möchte ich daran erinnern, daß das ästhetische Verhalten >Wahrheit und Methode« (Ges. Werke Bd. 1), S. 87 ff.
312 Zur bildenden Kunst Begriffene Malerei? 313

setz erkannt, das hier nur in einem besonderen, durch die technische Zivili- modernen Technik. Vorberechnung, Vorfabrikation und Montage haben
sation bestimmten Anwendungsfalle vorliegt6. ein anderes Gesicht als die entsprechenden Vorgänge bei der handwerkli-
Es ist mir auch zweifelhaft, ob der unter dem Stichwort >Entlastung< chen Arbeit. Man wird den so produzierten Dingen diese Produktionsweise
vorgetragene Gedankengang das Spezifische der modernen Kunst in den >ansehen<, ζ. Β. auch im Stil der Baukunst. Wie sollte nicht die Malerei davon
richtigen Maßen darstellt. Gehlen hat an anderer Stelle sehr richtig gezeigt, etwas spiegeln? Aber wie sollte nicht auch die Selbstinterpretation davon
welche >Entlastung< das Bestehen einer tragenden Tradition darstellt7. Das etwas suggerieren?
ist offenkundig von dem Fehlen einer solchen her beschrieben. So scheint Jedenfalls scheint mir die prinzipielle These von der Kommentarbedürf-
mir auch die These von der Entlastung durch Bedeutungsabbau, die die tigkeit der modernen Malerei äußerst zweifelhaft. Und gar: Bezeugt sie
moderne Kunst charakterisiere, immer nur aus dem Gegensatz zu der hun- wirklich den Vorrang der Theorie vor der malerischen Produktion? Muß
dertjährigen Romantik gedacht, die von der Prosa des Lebens Entlastung man nicht gegen eine solche These mißtrauisch werden, wenn durch die
durch die poetische Verklärung in >der Ideale Reich< sucht. Solange die Theorie - wie im Falle Kandinsky und Mondrian - nicht die Verständlich-
ungebrochene Tradition der antik-christlichen Kultur bestimmend war, keitj sondern die Unverständlichkeit ihrer Bilder herbeigeführt würde? Die
verlangte man eben von der Kunst keineswegs höhere Bedeutung oder gar Kritik an dem romantischen Geniebegriff scheint mir in das gegenteilige
eine neue Mythologie, sondern die ingeniöse Darstellung der altvertrauten, Extrem zu verfallen. Soll man es ernst nehmen, wenn Gehlen gar bei Franz
gültigen Inhalte, in denen man lebte, mithin durchaus keine spezifische Marc an den Einfluß der Umweltlehre Jakob von Uexkülls glaubt, mit der
Entlastung von einem Wirklichkeitsdruck. Ich lasse dabei dahingestellt, ob Begründung: »Man kommt sonst nicht auf den Gedanken, die Tiere zu
die Kategorie der Entlastung im übrigen die anthropologische Universalität malen, wie sie sind, wie sie selbst die Welt ansehen und ihr Sein fühlen«
besitzt, die Gehlen in Anspruch nimmt. Gewiß hat er dafür viel beigebracht. (144)? Als ob er nicht selber sehr überzeugend gezeigt hätte, welche inneräs-
O b aber der Überschußcharakter des Lebendigen durch das mechanische thetische Entwicklung hier vorliegt, wie die Zentrierung des Bildraumes
Gleichgewicht von Druck und Entlastung genügend erfaßbar ist? Und selbst durch den Blickpunkt des Betrachters von der gleichzeitigen Malerei (Picas-
wenn Tradition primär als Entlastungsfunktion verstanden wird, bleibt es so u.a.) schon aufgegeben worden war? Er scheint mir manchmal die
das Besondere der modernen Kunst, daß sie innerhalb der Traditionsarmut »Logik des Vorgangs« mit der Logik der deduktiven Theorie zu verwech-
unserer romantisch-unromantischen Welt nicht nur von der Prosa der Wirk- seln. Könnte er sonst von Macke (im Gegensatz zu Marc) formulieren: »bei
lichkeit, sondern dazu auch noch von der weltanschaulichen Angestrengt- dem sich jedoch keine Logik des Vorgangs ermitteln läßt, bei ihm handelt es
heit ihrer romantischen Verklärung entlasten muß. Dafür scheint mir auch sich um Experimente«? Ist das wirklich ein Gegensatz? Genau hier möchte
zu sprechen, daß die Wiederentdeckung des Barock in den letzten Jahrzehn- ich umakzentuieren und den Primat des Experimentes und die sich daraus
ten mit dem Abbau der sentimentalisch-psychologisierenden Kunst des 19. ergebende Logik geltend machen. Gehlen zitiert selbst, offenbar mit Beifall,
Jahrhunderts seitens der >Moderne< zusammengeht. die Worte von Max Ernst: »Als letzter Aberglaube, als trauriges Reststück
Ich möchte also — und wie ich gern anerkenne: unter dem Eindruck der des Schöpfungsmythos, blieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen
vielen ästhetischen und kunstsoziologischen Einsichten, die Gehlen vermit- vom Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten revolutionären
telt - die Dinge ein wenig anders akzentuieren. Die Leitidee der >Bildrationa- Akten des Surrealismus, diesen Mythos mit sachlichen Mitteln und in
lität< wird m. E. dann entstellt, wenn Rationalität hier konstruktiven Aufbau schärfster Form attackiert zu haben, indem er auf der rein passiven Rolle des
aus Prinzipien im Sinne der Anwendung einer zuvor aufgestellten Theorie >Autors< im Mechanismus der poetischen Inspiration mit allem Nachdruck
bedeuten soll. Der von Gehlen gezogene Vergleich mit Descartes' Rückgang bestand ...« (155). Dieser Satz scheint mir weit über den Surrealismus
zu den idées simples, übrigens selber bloß eine theoretische Formulierung der hinaus von ganz prinzipieller Geltung. »Ausdruck der Persönlichkeit« ist
von Galilei gehandhabten neuen Methode, führt m. E. zu einer falschen eine Redensart voll naivem Anachronismus, die vor 1750 nicht gesagt
Einschätzung des Verhältnisses von Theorie und ihrer Anwendung im werden konnte und nach 1920 nicht mehr mit Sinn gebraucht werden kann.
Bereich der Malerei. Konstruktiver Aufbau ist gewiß ein Grundakt der So unterschreibe ich völlig, was Gehlen (190) über das Experimentelle im
Geiste unseres Jahrhunderts sagt. Ausgezeichnet, was er über den optischen
6
R. WEIXEK/A. WAHREN, Theorie der Literatur. Frankfurt 1963, S. 274ff. Vgl. auch: Concetto und die vorsprachliche Sphäre andeutet. Aber wieder verstehe ich
Russischer Formalismus, übersetzt ν. Ν. LOHNER. München 1964. ihn nicht, wenn er eine Selbstschilderung Bernhard Schultzes zitiert (191)
7
A. GEHLEN, Der Mensch. Berlin 1940. Vgl. auch die ergänzende Aufsatzsammlung: und meint, die »eingerechnete Verwertung des Zufalls«, von der der Maler
Anthropologische Forschung. Reinbek b. Hamburg 1961 (rde 138).
314 Zur bildenden Kunst

spricht, steigere die »Wissenschaftsförmigkeit« der Malerei. Wenn Zufälle


neue Zufälle auslösen, bis es >stimmt<, so liegt der Ton doch darauf, daß der
einzelne Zufall »auf ganz unvorhergesehene Weise (und nicht errechnet)
neue Zufälle schafft«. Auch möchte ich bezweifeln, daß eine solche Äuße-
rung zeigt, »wie die alten emotionalen Bezugsquellen versiegt sind«. Ob
nicht Inspiration immer ungefähr so aussah - und nur das Denken darüber so 28. Vom Verstummen des Bildes
ganz anders tönte?
In dieser Richtung möchte ich den kunstsoziologischen Ertrag der Geh- (1965)
lenschen Untersuchung umformulieren, daß in einer ernüchterten Indu-
striewelt eine ernüchterte Denkweise der Einsicht in die wirkliche künstleri-
sche Produktionsweise nähergekommen ist - was gewisse Wechselwirkun- Eines steht für das Bildschaffen der Gegenwart fest, daß das Verhältnis von
gen nicht ausschließt, aber weniger eine konstruktive Lenkung der künstle- Natur und Kunst in ihm problematisch geworden ist. Die naive Bilderwar-
rischen Produktion durch Theorie bedeuten würde, als vielmehr die neue turag wird von der Kunst enttäuscht. Was der Inhalt eines Bildes ist, läßt sich
Entsprechung von Bild und Bilderwartung bezeugt. nicht sagen, und wir kennen alle die Verlegenheit des Künstlers, der sein
Jedenfalls scheint mir für das Dasein des einzelnen in der modernen Bild mit Worten taufen soll und am Ende zu den abstraktesten Zeichen, den
Industriegesellschaft bezeichnend, daß er in Zusammenhängen steht und Zahlen, seine Zuflucht nimmt. Das alte klassische Verhältnis von Kunst und
sich in Zusammenhängen weiß, deren zwingende Logik von ihm wie eine Natur, das der Mimesis, besteht so nicht mehr.
Kettenreaktion von Zufällen erfahren wird. Sollte das sich nicht in der Kunst Nun erinnere ich mich der Aufgabe des Philosophen, wie sie Plato formu-
unseres Zeitalters reflektieren? Das aber würde einschließen, daß das Spezifi- liert hat, »auf eines hin zusammenzusehen« und das Gemeinsame des >Eidos<
sche dieser modernen >Zeit-Bilder< erst ganz heraustritt, wenn man sie - im herauszusehen aus der Varietät der Erscheinungen. Und so möchte ich ein
übrigen Gehlens schönen Erkenntnissen folgend - von dem ihnen aufge- >Eidos<, einen Gesichtspunkt, vorschlagen, unter dem das Bildschaffen der
drungenen Ideal der Wissenschaftsförmigkeit befreit und die moderne Male- Gegenwart sich darstellt und deutet. Ich möchte von der verstummenden
rei -peinture conceptuelle oder nicht - an dem alten, unveralteten Maßstab der Sprache des Bildes sprechen. Verstummen heißt nicht, nichts zu sagen
Kommentarunbedürftigkeit mißt. haben. Im Gegenteil: Verstummen ist eine Weise des Redens. Das Wort
>stumm< hängt mit dem anderen Wort >stammeln< zusammen, und die
ergreifende Not des Stammelns besteht ja wahrlich nicht darin, daß der
Stammelnde nichts zu sagen hätte, vielmehr darin, daß er viel, ja zu viel auf
einmal sagen möchte und die Worte nicht findet angesichts der drängenden
Fülle dessen, was zu sagen wäre. Und wenn wir sagen, daß jemand ver-
stummt, so meinen wir nicht nur, daß er aufhört zu sprechen. Im Verstum-
men wird uns das zu Sagende nahegerückt, als etwas, für das wir nach neuen
Worten auf der Suche sind. Wenn man sich der reichen und farbig-prunk-
vollen Beredsamkeit erinnert, die aus den klassischen Zeiten der Malerei von
den Wänden unserer Museen uns laut und wortreich entgegenschallt, und
nun das Bildschaffen der Gegenwart vor sich sieht, hat man in der Tat den
Eindruck des Verstummens, und es drängt sich einem die Frage auf, wie es
zu diesem Verstummen des modernen Bildes gekommen ist, das uns mit
einer eigenen, lautlosen Beredsamkeit überfällt1.
Es war doch wohl das Stilleben und - mit ihm fast eines am Anfang - die
1
Auf die Stummheit der modernen Bilder hat A. GEHLEN, Zeit-Bilder (Frankfurt 1960)
hingewiesen. Vgl. meine Kritik dieser interessanten Schrift im vorangehenden Beitrag
Gegriffene Malerei?<, S. 305ff.
316 Zur bildenden Kunst Vom Verstummen des Bildes 317

Landschaft, womit das Verstummen in der europäischen Malerei begann. Mallers. Aber das Stilleben hat eine eigene und einzigartige Freiheit im
Vordem gab es viele heilige oder königliche Inhalte, die als bildwürdig Arrangement seines Sujets, weil die >Gegenstände< der Komposition handli-
galten, Gestalten und Geschichten, die man kannte. Das griechische Wort che. Dinge sind, Früchte, Blumen, Gebrauchsgegenstände, allenfalls noch
fur Bild, >Zoon<, heißt eigentlich >das Lebewesen< und bezeugt dadurch, wie gezeigte Jagdbeute oder dergleichen - lauter der Freiheit unseres Beliebens
wenig die bloßen Dinge und die bloße menschenleere Erscheinung der Anheimgegebenes. Die Freiheit der Bildgestaltung hebt hier gleichsam
Natur ehedem als bildwürdig galten. Aber heute sind es gerade die Stilleben, schon mit dem Inhaltlichen an, und insofern präludiert das Stilleben jener
die uns, wenn wir in eine klassische Galerie treten, besonders modern Freiheit moderner Bildkomposition, in der kein letzter Rest von Mimesis
anmuten. Sie verlangen offenbar nicht die Umsetzung, die Dasein oder mehr ist und in der ein völliges Schweigen herrscht.
Handlung der Menschen oder Götter von uns fordern, wenn sie im Bilde Und doch, von jenen Anfängen, in denen das stille Leben der Natur und
begegnen. Nicht als ob diese nicht auch ehedem Selbstaussage gewesen der Dinge bildwürdig wurde, bis zu dem verstummenden Schweigen des
wären, die unmittelbar verständlich war und verstanden wurde. Aber wenn heutigen Bildes ist der Weg selber lang genug. Wir wollen ihn kurz entlang-
ein heutiger Künstler ohne solche eigenste Verfremdungen sich dieser Aus- gehen. Jene Stilleben Hollands, deren unglaubliche Präsenz uns in den
sageweisen bedienen wollte, so kämen sie einem leicht wie Deklamation Galerien förmlich überfallt, künden nicht nur von der Entdeckung der
vor. Es bedarf neuer künstlerischer Formung gewohnter Motive oder gar korporellen Schönheit der Dinge. Sie lassen einen Hintergrund anklingen,
wie bei Max Beckmann einer ganzen Welt-Allegorie. Und mit nichts will der ι'die Bildwürdigkeit des Dargestellten legitimiert. Man hat es längst
unsere Gegenwart so wenig zu tun haben als mit Deklamation. Was ist beachtet und an Beispielen gezeigt2, wie viele Symbole der Vanitas in diesen
Deklamation? Wir haben ein deutsches Wort dafür, das schon in seiner hollindischen Stilleben zu finden sind. Da haben wir die Maus, wir haben
Wortbildung vielsagend ist. Wir sagen dafür: Aufsagen. Aufsagen aber ist den Falter, die Fliege, die herabbrennende Kerze, Symbole der Flüchtigkeit
kein Sagen, denn es sucht nicht für das Gemeinte das Wort, sondern es geht des Irdischen. Und es mag sein, daß der puritanische Ernst jener Zeit die
von dem auswendig gekonnten Wort aus, dem Wort, das ein anderer oder Sprache dieser Symbole immer wieder vernahm, wenn er die Pracht des
man selber als ein anderer einst fand, als er etwas meinte. Es wäre nur ein Irdisfchen in diesen Stilleben bewunderte und genoß. Damit man es nur ja
Aufsagen, ein Wiederholen von ehedem gefundenen Worten, wenn sich das recht begreifen sollte, wurde einem wohl gar der Totenschädel im Bilde
Bildschaffen der Gegenwart der klassischen Bildinhalte bedienen wollte. gezeigt oder ein erbaulicher Vers verzeichnet, der die Eitelkeit aller Dinge
Aber mit dem Stilleben, wie es das bürgerliche Zeitalter in seiner frühen ausspricht. Auf einem Bilde de Heems in der Alten Pinakothek in München
holländischen Prägung vor allem repräsentiert, ist es eine andere Sache. liest man: » Maer naer d'aldershoenste Blom daer en siet' men niet naer'ovn. «
Dort, scheint es, sagt sich auf wortlose Weise die sinnliche Welt selber aus,
Wichtiger aber ist, und das ist die erste Sprache des Verstummens, die hier
die auch uns umgibt.
laut wird, daß auch ohne alle diese Symbole und ihr explizites Verständnis
Natürlich ist das Stilleben erst dort eine eigene Gattung, wo es das das Dargestellte selbst in seiner sinnlichen Fülle seine eigene Flüchtigkeit
>erzählende< Bild verdrängt und an seine Stelle getreten ist. Überall, wo aus aussagt. Zur wahren Ikonographie des Stillebens gehört, meine ich, über all
den Stilleben bekannte Motive in dekorativen Zusammenhängen der Raum- das symbolisch Deutbare hinaus die Bedeutsamkeit der Selbstaussage, die
kunst begegnen, haben wir es nicht wirklich mit >Stilleben< zu tun, das heißt im bloßen Anblick, in der Erscheinung der Dinge als solcher, liegt. So
mit dem Verstummen des Bildes. Ohne dadurch definiert zu sein, ist daher begegnet als ein konstantes Motiv in der Ikonographie des Stillebens die
das >Stilleben< in aller Regel ein bewegliches Bild, das hier oder dort aufge- halbgeschälte Zitrone, deren Schale herabbaumelt. Sicher kam mehreres
hängt sein kann: Überall will es auf sich versammeln, als hätte es vieles zu zusammen, was immer wieder diese Frucht als konstantes Bildmotiv moti-
sagen. viert: ihre relative Seltenheit, die Dialektik von ungenießbarer Schale und
Und es hat auch vieles zu sagen. Es ist ja keineswegs ein zufälliger aromatischer Frucht - wie bei den aufgeknackten Nüssen-, die herbe Säure,
Ausschnitt dinglicher Wirklichkeit. Es gibt vielmehr eine (noch nicht ge- die reizt und abweist zugleich. Gerade an solch immer gleichen Motiven
schriebene) Ikonographie des Stillebens. Im Unterschied zu allen sonstigen wurde die Hinfälligkeit, das Momentane und eben damit das Vergängliche,
Bildinhalten gehört zum Stilleben das Arrangement. Natürlich soll das nicht ins Bild gebannt. Es ist eine offene Frage, wie weit das >Stüleben< nicht so
heißen, der Künstler male sonst eine vorgefundene Wirklichkeit einfach ab.
Das gilt so wenig von der Landschaft oder dem Porträt wie von den Bildern 2
So etwa EWALD M. VETTER, Die Maus auf dem Gebetbuch. In: Ruperto-Carola 36
religiösen oder historischen Inhalts. Immer ist >Komposition< ein Tun des (1964), S. 99-108.
318 Zur bildenden Kunst Vom Verstummen des Bildes 319
sehr holländischer als italienischer Herkunft ist. Und wenn das letztere wahr Porträt in die Flächengliederung ein und leihen durch ihre gegenständliche
ist, dann wird damit ein Zusammenhang mit der antiken Dekorationsmale- Bedeutung dem Bilde kaum noch etwas zu seinem Sein. Ist es nun nicht
rei (und Mosaikkunst) greifbar, deren Reste damals weit reicher an den bezeichnend, daß man, ähnlich wie an jener halbgeschälten Zitrone das
Wänden der verfallenden Gebäude des Altertums zu sehen waren als heute, holländische Stilleben, so das moderne Stilleben an einem Lieblingsbildin-
wo das neu ausgegrabene Pompeji das bekannteste Dokument darstellt3. halt - oder wie soll man das nennen, das nicht mehr Inhalt und doch da ist? —
Insbesondere zwei Momente aber sind es, die diesem ikonographischen erkennen kann? Ich meine die Gitarre, wie sie bei Picasso, bei Braque, bei
Zusammenhang eine neue Akzentuierung verleihen. Zum einen sind die Juan Gris u. a. zum ersten bevorzugten Opfer jener Formzersplitterung
stillebenähnlichen Dekorationsbilder der Antike, die wir kennen, gern auf gemacht worden ist, die man Kubismus nannte. Ich möchte nicht die
den Trompe-l'œil-EfTekt gestellt. Ihre Einfügung in die Wand läßt sie einen Theorien untersuchen, die die Maler selbst aufgestellt haben oder sich aufre-
nischenähnlichen Anblick gewähren. Davon finden wir in den >Stilleben< den ließen, um ihre Malweise zu begründen. Aber sollte nicht die Bevorzu-
nichts -ja, die Künstlichkeit des Arrangements weist dergleichen Illusions- gung dieses Instrumentes, dessen markante Form sich wie in vibrierende
effekte geradezu ab. Und zweitens: Wenn wir neben Blumen und Früchten Facetten auseinanderwirft, etwas damit zu tun haben, daß es ein Instrument
gelegentlich auch Tieren wie Schnecken und Schlangen, Krebsen und Vö- der Musik ist? Selbst nicht zum Anschauen geschaffen, überspült von den
geln auf antiken Kompositionen begegnen — und gerade das mag auf die Fluten der Klänge, die aus ihm aufsteigen und sich manchmal in Girlanden
Maler der frühen Neuzeit anregend gewirkt haben —, so eignet diesen tanzender Noten auf der Bildfläche niederschlagen, beschwört es, so scheint
Arrangements aus Pflanze und Tier anscheinend etwas rein Dekoratives, mir, der neuen Malerei ihr Vorbild, die >absolute< Musik, diejenige Kunst-
Festes, fast heraldisch Gefugtes. Dagegen hat die Eidechse am Fuß des gattung, die schon seit Jahrhunderten allen sagbaren Inhalt zu verlassen
Blumenarrangements, das Jacobo da Udine gemalt hat, oder manche jener gewagt und damit jeden außermusikalischen Einheitsbezug aufgegeben hat-
Falter und Fliegen, Eidechsen und Mäuschen auf holländischen Stilleben te. Mag sein, daß andere Faktoren, etwa das Tempo des modernen Lebens,
eine ganz andere Funktion. Das Huschende, Flüchtige, Gaukelnde leiht die Zersplitterung der konstanten Dingformen suggeriert haben. Das frühe
dem, um das es als stilles Leben webt, selbst etwas von seinem stillen und Bild von Malewitsch, >Dame in der Großstadt<, stellt etwa die Veränderung
flüchtigen Leben. unserer Lebenswelt im Bilde selbst dar, die das ruhende und bleibende Ding
Es mag auch bemerkt werden, daß das italienische Stilleben unter den verdrängen. Jedenfalls - es ist etwas Ungeheures geschehen, als sich im
Früchten nicht die Zitrone auszeichnet, sondern den Granatapfel, dessen Anfang unseres Jahrhunderts die Einheit der inhaltlichen Bilderwartung in
Symbolsinn ein ähnliches Widerspiel von lockender Üppigkeit und Abwei- eine unfaßbare Mannigfaltigkeit zu zerstreuen und zu zersplittern begann.
sung zeigt wie die Zitrone. Es ist wahr, daß der religiöse Hintergrund des Was bleibt, sind Beziehungen von Formen und Farben ohne gegenständli-
Stillebens in der Folgezeit langsam verblaßt und das Dekorative, das Üppi- chen Träger, eine Art Musik der Augen, die uns aus der verstummenden
ge, das Genußverheißende und verlockend Arrangierte überwiegt. Aber Sprache der modernen Bilder entgegentönt.
schließlich wird am Ende eines langen Weges von seltener typologischer Und so fragen wir denn: Was macht ihre kompositorische Einheit aus?
Beharrlichkeit (bis ins späte 19. Jahrhundert hinein ist die Zitronenschale fast Sicherlich nicht mehr die Einheit des vielsagenden Bildinhalts, nicht mehr
obligatorisch) im Zusammenhang der Revolution, welche die moderne die stumme Einheit aus korporellen Dingen. Beides scheint entmachtet.
Malerei begründet hat, das Stilleben nochmals sprechend - und wieder wird Welche Einheit dann ist die Einheit des Bildes? Es ist ja nicht nur die Einheit
es hintergründig. Man erinnere sich etwa der Früchte-Stilleben Cézannes, in des Gegenstandes, die dem modernen Bild fehlt, so daß alle Vorstellung von
denen nicht mehr die greifbaren Dinge in einem Raum arrangiert sind, in der Einheit des Dargestellten, des Mythos, der Fabel, die darin erzählt wird,
den hineinzugreifen möglich wäre - sie sind wie in die Fläche gebannt, in der oder der erkennbaren Dinglichkeit, die ehedem das Bild zur Mimesis mach-
ihr eigener Raum ist. te, verschwunden ist. Es ist auch nicht mehr im selben Sinne eine Einheit des
Was von nun an bildwürdiger Inhalt heißen kann, sind nicht mehr die Anblicks, wie im Zeitalter der Zentralperspektive, wo das Bild so etwas wie
Dinge, nicht die Einheit des einzelnen Dings und nicht die Einheit des einen Blick in einen Innenraum öffnete. Da konnte auch nach dem Zerfall
Arrangements. Van Goghs Sonnenblumen gehen so gut wie ein modernes der ikonographischen Tradition der Jahrhunderte - und das charakterisiert
doch wohl weithin die Malerei nach dem Traditionsbruch des 19. Jahrhun-
3
Vgl. die lehrreichen Darlegungen von CHARLES STERLING, La nature morte de l'Anti- derts - der einheitliche Augenpunkt selbst den zufälligen Ausschnitt und
quité à nos jours. Paris 1959. Ausblick zusammenhalten. Der Rahmen ist es, der diesem Sinn von Bild
320 Zur bildenden Kunst Vom Verstummen des Bildes 321

spezifisch zukommt. Er halt zusammen und grenzt ab, indem er in die Tiefe So fragen wir erneut: Was macht die Einheit des Bildes aus? Was erfah-
des so Abgegrenzten hineinzugehen einlädt. Es gehört zu den großen Merk- ren wir am Bild davon, wie es in dem Lebenszusammenhang begegnet, in
würdigkeiten des geschichtlichen Lebens, daß sich das Neue oft erst mühsam dem wir stehen? Es sind gewaltige Umgestaltungen der Lebenswelt, die
und allmählich durch die verkrusteten Schalen des Alten hindurchstoßen uns heute umgeben. Das Gesetz der Zahl wird in allem sichtar. Seine
muß. Selbst die innere Flächenkraft Cézannescher Bilder hat den verfallenden Erscheinungsformen sind vor allem die Summe und die Serie, das Zu-
Goldrahmen des Barock noch nicht zu zersprengen gewußt. Sicher aber ist, sammengezählte und das sich Aneinanderreihende. Durch sie markiert
daß das heutige Bild nicht durch den Rahmen zusammengehalten wird, sich das Zellen- und Wabenhafte des modernen Großbaus, aber ebenso
sondern, wo es einen hat, seinen Rahmen von sich aus zusammenhält. Von das Exakte und Pünktliche der modernen Arbeitsweise, das geregelte
welcher Einheit her? Durch welche Kraft? Funktionieren des Verkehrs und der Verwaltung. Was die Summe und
Es ist auch nicht mehr die Einheit des Ausdrucks. Gewiß war das ein neues die Reihe auszeichnet, ist die Vertauschbarkeit ihrer Glieder. So gehört es
Einheitsprinzip, das die Bildgestaltung der Neuzeit zu beherrschen begann, int ganzen zu der Lebensordnung, in der wir stehen, daß das einzelne
seit die Nachahmung, die Wiederholung fester und vorgegebener Bildinhal- Glied ersetzbar und austauschbar ist. »Das Maschinenteil will jetzt gelobt
te, zur leeren Deklamation wurde. Die Einheit des seelischen Ausdrucks, sein«: Vorplanung, Entwurf, Montage, Fertigung, Lieferung, Verkauf,
nicht so sehr die des Dargestellten als die des Darstellenden, die Handschrift und alles durchwaltet von Werbung, die jedes Fertiggewordene und dem
des Pinsels, die Ausdruckskraft dieser sinnlichsten aller Schriften, mochte Konsum Zugefuhrte so schnell wie möglich zu überholen und durch
einem Zeitalter der Innerlichkeit als die angemessene Selbstdarstellung er- Neues zu verdrängen trachtet. Was kann in dieser Welt des Austauschba-
scheinen, weil so auch die unbewußten Antworten auf das Rätsel des Daseins ren das Einzigartige des Bildes noch sein?
ins Bild drängten. Heute, inmitten der Maschinenkultur des industriellen Oder ist es so, daß gerade in dieser Welt der Reihung und der Summe
Zeitalters, will die Einheit des Erlebnisses und seiner spontanen Selbstaussage die Einheit des Bildes einen eigenen neuen Akzent gewinnt? Nicht mehr
als Einheitsprinzip des bildnerischen Schaffens nicht mehr einleuchten. umgeben von der Einheit beständiger und vertrauter Dinge, angesichts
Es ist wirklich so, daß jener Bildbegriff des klassischen Museums zu eng der steigenden Unscheinbarkeit, die dem menschlichen Gesicht und der
geworden ist. Das Schaffen der Künstler hat den Rahmen gesprengt. Die menschlichen Person in der Industriewelt eignet, fügen sich Form und
Gliederung der Fläche, die das Bild ausmacht, weist über sich hinaus in Farbe des Bildes zu einer spannungsvollen Einheit, die von der Mitte aus
weitere Zusammenhänge. Das alte Malerschimpfwort, das von einem Bilde organisiert erscheint. Aus welcher Kraft? Was gibt dem Gebilde seinen
sagt, es sei dekorativ, verliert langsam seine Selbstverständlichkeit. Wie in Halt?
älteren Zeiten die Anlage der Bauwerke, der Kirchen und Plätze, der Trep- Es ist etwas Experimentelles in das Bildschaffen eingegangen, das ge-
penhäuser, der Innenräume selber Bildforderungen stellte, die der Maler zu wiß qualitativ anders ist als die ungezählten Versuche, die von jeher den
erfüllen hatte, so beginnt heute die Bildforderung des Vorgegebenen neu ins Maler zum Meister machten. Rationelle Konstruktion, wie sie unser Le-
Bewußtsein zu treten. Wenn wir das heutige Kunstschaffen daraufhin an- ben beherrscht, will sich auch in der konstruktiven Arbeit des bildenden
schauen, bestätigt es sich: Die Auftragskunst ist in ihre alte Würde wiederein- Künstlers ihren Raum schaffen, und gerade darin liegt, daß sein Schaffen
gesetzt. Das hat nicht nur ökonomischeGründe. Auftragskunst meintj a nicht etwas vom Experiment hat. Es gleicht der Versuchsreihe, die durch die
primär (wenn auch leider oft sekundär), daß der Schaffende der Willkür des Künstlichkeit der gestellten Frage neue Daten gewinnt und aus ihnen eine
Auftraggebers sich widerwillig beugen muß - ihr wahres Wesen und ihre Antwort sucht. So dringt das Summenhafte und Serienhafte gewiß auch -
echte Würde besteht in der Vorgegebenheit der Aufgabe, die in niemandes und nicht nur den Titeln zufolge - in das Bildschaffen der Gegenwart ein.
Willkür steht. So hat zweifellos die moderne Baukunst beute eine Art Und doch, was sich planen und konstruieren und behebig wiederholen
führender Stellung innerhalb des Kunstschaffens der Gegenwart erhalten, läßt — plötzlich tritt es in die alten Ränge des Einmaligen und Gelungenen.
weil sie Aufgaben stellt. Sie zieht durch die Absteckung der Maße und der Der Schaffende mag oft unsicher sein, was unter seinen Versuchen >gilt<.
Räume auch die bildenden Künste in ihren Zusammenhang hinein. Das Er mag sogar manchmal zweifeln, wann sein Werk fertig ist. Etwas von
Bildschaffen der Gegenwart kann den Anspruch nicht mehr ganz von sich Willkür wird der Abbruch des Arbeitsvorganges immer an sich haben,
weisen, daß das Werk nicht nur auf sich ziehen soll, um zum Verweilen und der endgültige am meisten. Gleichwohl scheint es einen Maßstab zu
einzuladen, sondern zugleich in einen Lebenszusammenhang hineinweist, geben, an dem sich das Fertige mißt. Wenn die Dichtigkeit des Gefüges
dem es zugehört und den es mitgestaltet. nicht mehr zunimmt, sondern abnimmt, wird die Weiterarbeit unmög-
322 Zur bildenden Kunst

lieh. Das Gebilde hat sich entzogen, freigesetzt, ist da, unabhängig und aus
eigenem Recht, auch gegen den Willen (und gar die Selbstinterpretation)
seines Schöpfers4.
Am Ende erfüllt sich damit das alte Verhältnis von Natur und Kunst, das
das Kunstschaffen der Jahrtausende durch den Gedanken der Mimesis be-
herrscht hat, mit einem neuen Sinn. Gewiß ist nicht mehr die Natur im 29. Bild und Gebärde
Blick, auf die die Kunst sieht, um sie neu zu gebären. Sie ist nichts Muster-
haftes und Vorbildliches, das es nachzugestalten gilt — und doch, auf seinen (1967)
eigenen, eigenwilligen Wegen hat das Kunstwerk Natur. Das in sich Ge-
schlossene, um eine Mitte Gewachsene des Bildes hat etwas Gesetzliches und
Zwingendes. Man denkt an den Kristall. Auch er ist nichts als Natur, in der Das Mißtrauen des heutigen Bewußtseins gegenüber jeder Form herge-
reinen Gesetzlichkeit seines geometrischen Aufbaus, aber inmitten der Fülle brachter Verkleidung ist groß. Wie problematisch sind heute religiöse Bil-
des amorphen und zerpulverten Seins begegnet er als das Seltene, das Harte, der, wie problematisch ist das Porträt, wie problematisch ist selbst die uns
das Funkelnde. Das moderne Bild hat im gleichen Sinne etwas von Natur. vertraute, von Menschen belebte und geformte Landschaft, wenn sie Ge-
Es will keine Innerlichkeit ausdrücken. Es fordert keine Einfühlung in die genstand der Malerei wird. Wieviel mehr noch gilt das für die aus der Ferne
Gemütsverfassung des Künstlers. Es ist in sich notwendig und wie von jeher der Zeiten, aus einer fremden Kultur, aus einer uns verschlossenen religiösen
da, wie der Kristall: Falten, die das Sein wirft, Verwitterungen, Runzeln und Welt kommende Sprache, die aus der humanistischen Tradition zu uns
Runen, in denen Zeit zur Dauer wird. Abstrakt? Konkret? Gegenständlich? spricht. Wenn eine solche bildungsbeladene Symbolwelt von einem moder-
Gegenstandslos? Ein Unterpfand von Ordnung. Der moderne Künstler nen Maler aufgenommen wird, fragt man sich, ob hier nicht etwas verschlei-
wird sich schwerlich verstehen, wenn er auf die Frage Antwort sucht, was er ert wird, was eigentlich in seiner ganzen Härte und Schärfe uns bestimmen
eigentlich darstellt. Die Selbstinterpretation der Kunst ist immer ein sekun- sollte und in Wahrheit auch bestimmt. Ist es doch die Symbolnot, ja der
däres Phänomen. Paul Klee, der es wissen mußte, sollte man folgen, wenn er Symbolverzicht, der die gegenwärtige Kunst in allen ihren Bereichen be-
sich gegen jede »Theorie an sich« wehrt, wenn er den Ton auf die Werke stimmt - und das ganz gewiß nicht aus Willkür, nicht einfach nur einer
legt, »und zwar auf die schon geborenen, und nicht einmal auf die nächsten Mode oder irgendwelchen Manipulationen zufolge, sondern weil eine
zukünftigen« (Tagebücher Nr. 961). Der moderne Künstler ist weit weniger Kunst, die uns heute etwas zu sagen hat, der gegenwärtigen Stunde gehor-
Schöpfer als Entdecker von Ungesehenem, ja Erfinder von noch nie Dage- chen muß.
wesenem, das wie durch ihn hindurch einrückt in die Wirklichkeit des Seins.
Symbol heißt etwas, woran man wiedererkennt. Und in der Tat ist für die
Aber merkwürdig, das Maß, unter das er gestellt ist, scheint kein anderes als
Stunde, in der wir stehen, Symbolnot ein Charakteristikum. Sie entspricht
das, was von jeher dem Künstler gesetzt ist. Es findet sich ausgesprochen bei
der wachsenden Unkenntlichkeit und Unpersönlichkeit der Welt, in der wir
Aristoteles - denn was steht nicht bei Aristoteles, was richtig ist? - : ein
leben. Wiedererkennung ist das Wesen aller Symbolsprache, und Kunst, wie
rechtes Werk ist das, wo nichts fehlt und nichts zuviel ist, wo nichts hinzuge-
immer sie aussehen mag, kann nie etwas anderes als Sprache der Wiederer-
setzt werden kann und nichts weggenommen werden darf. Ein einfaches,
kennung sein. Auch die Kunst von heute, die uns so viele quälende Rätsel
ein schweres Maß.
aufgibt, wenn wir in ihr stummes Antlitz blicken, bleibt eine Weise der
Wiedtererkennung. In ihr begegnen wir der Unkenntlichkeit selber, die uns
umgibt. Es ist eine Chiffrenschrift, die sie schreibt, etwas, was man lesen
möchte, weil sich in ihm ein Sinn aussagt. Aber es ist eine Schrift aus
undeutbaren, aus unentzifferbaren Zeichen. In der Malerei kennen wir diese
Zeichen als die Elemente der Fläche: Punkt, Linie, Flächenstück, Farbe—und
was in diesen Chiffren geschrieben steht, das ist auf eine nicht sagbare, nicht
greifbare, nicht mit anderen Erfahrungen verbindbare Weise dennoch so,
4
In meinen Studien zu Goethes unvollendeten Dichtungen (jetzt in Ges. Werke Bd. 9, daß wir sagen: die Konstruktion steht, die Bewegung ist eingefangen, eine
S. 80-111) bin ich an emem Beispiel dieser Frage nachgegangen. Lösung ist gefunden. So ist Sinnbezug in allem, was uns als Gestaltung der
324 Zur bildenden Kunst Büd und Gebärde 325

modernen Kunst umgibt, aber Sinnbezug ohne Schlüssel. Daß so etwas Unkenntlichkeit teilhaben läßt, die uns Heutigen aus allem entgegenblickt.
möglich ist, lehrt uns seit Jahrhunderten die vielleicht sublimste aller Kün- Damit aber gibt sie uns ihrerseits das gleiche Rätsel des Menschseins auf, wie
ste, die Musik. Jede Komposition der >absoluten Musik< hat diese Struktur, wir uns kennen und unkenntlich sind — in jener Spannung von Natur und
Sinnbezug ohne Schlüssel zu sein. Auch die »absolute Malerei< unserer Tage Geist, von Tierheit und Gottheit, die das Menschsein ausmacht: ein Zwie-
hat den Raum solcher Sinnbezüge nicht verlassen, in denen wir immer schon spältiges, das sich eint und sich nie voneinander trennen läßt, das auf rätsel-
leben. hafte Weise unsere eigensten, persönlichsten seelischen und geistigen Ver-
Um so mehr muß man fragen: Kann die Beschwörung mythischer Inhalte haltensweisen durchströmt wie ein großer Naturstrom und das Unbewußte
aus der ehrwürdig vertrauten und doch unwirklich fernen griechischen unseres naturhaften Seins mit dem bewußten, ergriffenen und gewollten
Welt, wie sie in Epos und Drama gestaltet ist, heute noch künstlerisch Sein harmonisch-disharmonisch zusammenklingen läßt. Das, meine ich, ist
glaubhaft werden? Sind ihre Symbole geeignet, Chiffren der Unkenntlich- es, was die griechische Religion, wie sie aus Epos und Drama zu uns spricht,
keit zu werden? Daß es nicht mit den Formen des Kenntlichen, nicht mit den immer neu bedeutsam sein läßt. Sie ist ein erster Lösungsversuch des Rät-
Symbolen, die uns vertraut sind, getan sein kann, ist jedem eine Gewißheit, sels, das "wir uns sind.
der auf die Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte zurückblickt und der In Homer und Hesiod ist uns das einzigartig faßbar - Homer mit jener
sich dabei eingestehen muß, daß seit dem Barock und seiner christlich- merkwürdig abenteuerlichen und doch immer wieder menschlichen, nahen
humanistischen Selbstdarstellung und Selbsterhöhung keine einheitliche Erzählung vom Trojanischen Krieg und der Heimkehr der Helden, und
Symbolik mehr es vermocht hat, echte Verbindlichkeit zu gewinnen. Ich Hesiod mit seiner Göttergeschichte von ganz anderer, gewaltiger Fremd-
rede gar nicht von der Mattigkeit derer, die im Zeitalter des Klassizismus heit. Furchtbar, was da erzählt wird aus den früheren Generationen der
bildnerische Aussagen versuchten. Ich erinnere nur daran, wie es einem Götter, bevor Zeus die Herrschaft auf dem Olymp antrat—und nun Weisheit
geht, wenn man sich, von der kräftigen Farbigkeit und dem starken Ab- und Recht Götter und Menschen regieren. Die Ferne der Sage, Troja, die
straktionswillen des gegenwärtigen Jahrhunderts herkommend, vor Bilder Heimkehr, Unheil, das über die Heimkehrer und ihre Geschlechter kommt,
etwa eines Meisters wie Feuerbach oder vor Arbeiten der Nazarener gestellt wird durch Homer zur beständig strömenden Quelle mythischen Sagens
sieht. Angesichts solcher Erfahrung fragt man sich, ob ein heutiger Künstler und Singens. Tritt sie bei ihm noch in der Distanz des Erzählers auf, der in
aus der mythisch-humanistischen Überlieferung überhaupt noch etwas her- seinem riesigen Epos von dem Handeln der Götter am Menschen und von
ausholen kann, das Symbol unserer eigenen Unkenntlichkeit zu werden dem Leiden des Menschen an den Göttern erzählt, so ist das griechische
vermöchte. Theater die einzigartige Verwandlung dieser ganzen Sagen- und Fabelwelt
Gewiß, es ist ein verwandeltes Griechenbild, das unsere Zeit hegt, nicht in die Unmittelbarkeit kultischer Gegenwart. Beide, Epos und Drama der
mehr Goethes edle Menschlichkeit, wie er sie in Iphigenie zur Darstellung Griechen, so fern sie uns auch scheinen, haben Gegenwart, und so sagen sie
bringt und den barbarischen Sitten der Thraker entgegenstellt. Dank Jacob uns immer noch etwas von uns, wenn sie von den Göttern und den Men-
Burckhardt und Friedrich Nietzsche ist es heute im allgemeinen Bewußt- schen, den heroischen Stellvertretern aller heute Lebenden, Kunde geben.
sein, daß die Griechen nicht waren, was der Klassizismus mit jenem Vorbild Wir verdanken insbesondere dem Philologen Walter F. Otto die Einsicht,
edler Menschlichkeit vor uns aufgerichtet hatte. Heute gibt es der humani- daß die griechischen Götter Aspekte der Welt selbst sind und deshalb fur uns
stischen Überlieferung gerade ihre eigene Schärfe, daß wir ständig den erfahrbar bleiben, wenn auch nicht in ihrem ursprünglichen, religiös-ver-
Hintergrund spüren, auf dem sich die apollinische Heiterkeit griechischer bindlichen und kultischen Sinne. Sie behalten Wirklichkeit. Auch uns be-
Kunst erhebt. Auch die Wiederentdeckung Friedrich Hölderlins in unserem stürzt die jähe Veränderung des Aspektes der Dinge: Etwas geschieht, und
Jahrhundert, die eigentlich seine erste Entdeckung war, wurde nicht zuletzt auf emmal ist alles anders. Beschattung, Düsternis, Wahnsinn, Unglück,
deshalb ein so großes geistiges Ereignis, weil sein Werk dies erneuerte, tiefer Krankheit, Tod, Liebe, Haß, Enthusiasmus, Prahlerei, Eifersucht, das ganze
gesehene Bild des Griechentums bestätigt, in dem die Titanen als eine stete, große Panoptikum menschlicher Leiden und Leidenschaften, das die Grie-
dunkel gärende, untergründige Gegenwart mit den gestalteten Formen chen als die Wirklichkeit göttlicher Gestaltungen erfuhren, ist auch uns
olympischer Helligkeit und Weltherrlichkeit zusammengesehen sind1. nichts Unbekanntes. Es ist die uns allen bekannte Grunderfahrung, daß
Es ist Verwandlung der humanistischen Überlieferung, die sie an jener etwas über den Menschen kommt und wie es über den Menschen kommt.
Das ist das, was aus dem griechischen Mythos zu uns spricht.
1
Vgl. die Hölderlin-Arbeiten und die Goethe-Studien in Ges. Werke Bd. 9. Man mag sich fragen: Ist denn solches Überwältigtwerden alles? Sind wir
Zur bildenden Kunst Büd und Gebärde 327
326
nicht vor allem Handelnde, gibt es nicht den Konflikt, die Entscheidung, die verdeutlichen. Substanz meint—bei ihm und hier - nicht etwa jene Kategorie
Verfehlung, die Schuld? Und ist das alles nicht auch im Epos und Drama der der griechischen Naturerkenntnis, die wir durch die Metaphysik der Jahr-
Griechen da? Gewiß, aber es gehört doch wohl zu den fruchtbarsten Einsich- tausende gehen sehen, sondern es ist ein Wort, das wir alle im hegelschen
ten der neueren Forschung auf dem Gebiete der Altertumswissenschaften, Sinne zu brauchen gewöhnt sind, wenn wir etwa von einem substanziellen
daß wir >das Handeln im Drama< und erst recht das Handeln im Epos heute Geist sprechen oder wenn wir von jemandem sagen, er sei zwar ein sehr
mit ganz anderen Augen ansehen — und, was das Erstaunliche ist, nicht mit gescheiter Mann, aber er habe keine Substanz. Substanz heißt hier jenes
befremdeten Augen. Wenn wir bei Homer Schilderungen lesen, wonach die Tragende, nicht Hervorkommende, nicht in die Helle des reflexiven Be-
Götter es sind, welche den Menschen die Entschlüsse ins Herz geben, und wußtseins Gehobene, nie sich voll Aussagende, das dennoch unentbehrlich
daneben andere, subjektivere, reflektiertere, bewußtere Schilderungen fin- ist, damit die Helle, die Bewußtheit, die Äußerung, die Mitteilung, das
den, wonach der Held sich selbst an die Brust schlägt und unter Qualen und Wort, das trifft, sein können. Substanz ist der »Geist, der uns verbinden
Zweifehl seinen Entschluß faßt, so denken wir heute nicht mehr an verschie- mag«. Rilkes Wendung, die ich zitiere, deutet an, daß Geist mehr ist, als
dene Schichten des Epos, etwa an ältere und jüngere Verfasser. Wir wissen jeder einzelne weiß und von sich weiß. Hegel hat die Kategorie der Substanz
heute aus genauerer Beobachtung - und das heißt eben auch: aus genauerer aufgerufen, um zu begreifen, was der Geist eines Volkes ist - oder der Geist
Selbstbeobachtung - , daß Homer recht hat, beides zu sagen, im selben Satz. der Zeit oder der Geist einer Epoche - , nämlich ausgebreitete Wirklichkeit,
Wenn etwa einer sich entschließt und Athene gibt es ihm ein, so heißt das die alle trägt und in keinem einzelnen bewußt und adäquat gewußt da ist.
nicht, daß da zweierlei behauptet wird, von dem nur eines wahr sein kann: Wenn die griechische Religion im Menschen mehr den vom Handeln der
der Held entschließt sich - oder Athene gibt es ihm ein. In Wahrheit ist es Götter Entschiedenen als den sich selber Entscheidenden sieht, wird sie eben
dasselbe Geschehen, nur unter anderem Aspekt. Was so die Philologen - ich dieser Wahrheit gerecht, daß wir immer sehr viel mehr und anderes sind, als
nenne vor allem Bruno Snell und Albin Lesky2 - am antiken Epos und selbst wir von uns wissen, und daß dies, was uns und unser Wissen so weit
noch am Drama haben zeigen können, lehrt, daß >das Handeln< eine höchst übertrifft, gerade unser eigentliches Sein ist.
einseitige Selbstauffassung des modernen Menschen ist. Daß wir das heute Wie steht nun die heutige Kunst vor dieser noch immer gültigen Wahrheit
deutlicher sehen, verdanken wir gewiß nicht in erster Linie einem Fortschritt und ihrer griechischen Erscheinungsform? Sehen wir von der Dichtung ab
der Wissenschaft, sondern eigenen Erfahrungen, die uns zwangen, gewisse und ihren Möglichkeiten, im verklingenden Sagen etwas vor uns hinzustel-
Illusionen über das Menschsein zu begraben und dem Rätsel Mensch ernster len, so daß es mit der Eindringlichkeit einer echten Gegenwart für uns da ist
und zweifelnder ins Gesicht zu blicken. und uns ergreift. Wie sich das Einst und Jetzt ineinander spiegeln, so daß vor
Die Griechen haben ihr Geschick religiös verstanden. Was den Menschen allem die antike Tragödie zu immer neuer dichterischer Umsetzung er-
überkommt, das sind ihnen miteinander streitende Götter. Hier ist nicht von wacht, wäre ein Thema für sich. Die bildende Kunst kennt solches Ver-
Schuld und Sühne die Rede, sondern von Schicksal, ja von Opfer. Der schwinden des Wortes und seine Auferstehung im Sprachstoff der Gegen-
tragische Held ist stellvertretend wie ein Opfer. Er ist Opfer. Was für eine wart nicht. Sie muß im Sichtbaren bleiben, sie muß als Sichtbares bleiben -
großartige Weisheit liegt im Gedanken des Opfers, was für eine Partizipa- und das in einer Welt, die sich unter den Hämmern der modernen Arbeit
tion, was für eine Niederlegung der Grenzen von Ich und Du und Wir, was immer mehr ins Gesichtslose hinein verändert, in die Abstraktion, die
für eine eigentümliche Vereinigung aller, in der unser endliches Geschick Konstruktion, die Nivellierung, die Konformität. Wie soll die menschenge-
transzendiert wird! Das alles, so sehr es der griechischen Welt eigen ist, staltige Kunstreligion der Griechen im heutigen Bildschaffen wiederkehren
erscheint uns gleichwohl nicht als ein fremdes, von uns durch Abgründe der können? Gewiß nicht einfach als Wiedererkennung von Bekanntem und am
Zeiten getrenntes, auf die andere Seite gebrachtes Moment des Daseins, allerwenigsten als Wiedererkennung wohlbekannter Gestalten, wie etwa
sondern es ist das weithin Reichende unseres eigenen Menschseins, die Feuerbach Iphigenie malte, »das Land der Griechen mit der Seele suchend«.
Vielschichtigkeit dieses unseres Seins, das hier auf griechische Weise da ist. Was uns allen das Bekannte ist, das ist vielmehr ein Unkenntliches, in dem
Wenn ich die Sprache der Philosophie einen Augenblick sprechen darf, so nur hin und wieder eine Sinnspur blitzhaft aufleuchtet. Wie kann sich das
kann ich mich hier durch Hegels Gegensatz von Substanz und Subjekt noch in Menschengestalt aussagen?
Ich möchte meinen, in der Sprache der Gebärde. In der Gebärde ist das,
2 was sie ausdrückt, wie wir zu sagen pflegen, da. Gebärden sind etwas völlig
Vgl. die Arbeiten von BRUNO SNELL, und zuletzt ALBIN LESKY, Göttliche und
menschliche Motivation im homerischen Epos (SB d. Heid. Akad. d. W. 1961, Abh. 4). Leibliches — und sie sind etwas völlig Seelisches. Da gibt es nicht ein Inneres,
328 Zur bildenden Kunst Büd und Gebärde 329

das sich von der Gebärde unterscheidet, sich in ihr verrät. Was die Gebärde Diese Antigone ist nicht Darstellung einer griechischen Sagengestalt, die
als Gebärde sagt, ist ganz ihr eigenes Sein. Jede Gebärde ist daher auf eine sich gegen ihren Hintergrund abhebt. Sie ist die Gebärde des einwilligenden
rätselhafte Weise zugleich verschlossen. So viel sie verrät, so viel behält sie Sinkens und sonst nichts, und mit ihr sinken die Felsen, die sie einschließen.
als ihr Geheimnis. Denn es ist Sein von Sinn, das in der Gebärde aufleuchtet, Es ist eine einzige Gebärde, die Mensch und Welt ineinander webt. Oder
und nicht Wissen von Sinn. Sie ist, hegelisch gesprochen, substanziell, nicht Penthesilea, die Gebärde der Reiterin, die in voller Fahrt zu Rosse dahin-
subjektiv. Jede Gebärde ist menschlich, aber nicht jede ist ausschließlich die rauscht, gejagt und jagend, bis der Pfeil sie trifft und sie stürzt. Ich brauche
Gebärde von Menschen -ja, keine einzige ist bloßer Ausdruck eines einzel- die Urgebärde dieses Jagens und Gejagtwerdens, bis der Pfeil uns trifft, nicht
nen Menschen. Sie spiegelt, wie die Sprache, immer eine Welt des Sinnes, ausdrücklich auszulegen. Oder die Gebärde des Orestes - auf der Unken Seite
der sie zugehört. Auch sind es nie menschliche Gebärden allein, die diese des Triptychons —, der bei dem sich anspinnenden Unheil seinen Kopf so
Welt lesbar machen und die ein Maler herauszuholen vermag. geneigt hält, daß jeder, ohne etwas zu wissen, sieht, dieser Handelnde ist ein
Das sind Überlegungen, die uns zu den Bildern aus der Mythologie der Opfer. Er hält den Hals hin für den Streich des Übermächtigen. Andere
Griechen fuhren, die wir Werner Scholz verdanken. Da ist beispielsweise ein Bilder gehen noch leichter und sofort ein, zum Beispiel die verlassene
Bild, das drei Schiffe darstellt, drei Segelschiffe im Stile des Urgedankens Ariadne, die am Meeresstrande von Naxos in die blauen Fernen blickt - da
eines Segelschiffes, die aber auch ungefähr unserer Vorstellung von antiken ist es die Opfergebärde der Liebe. Oder ein anderes Opfer, Iphigenie: Was
oder mediterranen Segelschiffen entsprechen: ein rotes Segel, ein grünes im Bilde steht, ist die Riesengebärde einer sich selbst zum Opfer Neigenden.
Segel und ein mehr graues. Sie liegen hintereinander, wie gebaut. Woran wir Dies Opfer weiß, was Sich-Opfern heißt. In ihm ist Opfer da.
bei diesem Anblick denken, ob an die Heimfahrt der Griechen von Troja, Es handelt sich in all diesen Bildern um nichts anderes als um Gebärden,
ihre immer wieder vor der Niederwerfung Trojas beinahe angetretene oder das heißt um etwas, das seine Bedeutung in sich trägt und bei weitem mehr
ihre wirkliche und so unheilvoll verlaufene Heimfahrt nach der Zerstörung ist als das, was uns nur aus humanistischem Wissen bekannt ist. Es sind
Trojas, oder ob wir all das Griechische nicht im Augen haben -jedenfalls Bildgebärden, die ganz in die Bildfläche gebunden bleiben, auch dort, wo sie
wird hier nichts abgebildet, was in einer mythischen oder wirklichen Zeit menschliche Züge tragen. Wie flimmert etwa über Kalypsos dargebotenen
einmal geschehen ist. Vielmehr ist es das Ungewisse der Fahrt, das zweideu- Leib das ganze versucherische Farbenspiel der bunten Welt, wogegen der
tige Geschick, das auf jeden wartet, der auf diesen Schiffen - welcher Heimat sich abkehrende Odysseus austauschbar, stellvertretend, fast nicht da
wohl?- zufahrt. Es ist die Gebärde des Lebensschicksals selbst, was in diesen scheint, wie ein abgeschiedener Schatten. Bezeichnend, daß, je mehr Werner
Schiffen da ist. Scholz in seinen Bildern menschliche Gesichter gibt, also das, worin
Oder Landschaften - was sind bei Werner Scholz Landschaften? Die menschliche Subjektivität, menschliche Innerlichkeit, sich ausdrückt, seine
KüsteT die wie die brechenden Augen der See auf uns blickt, die Ruine, Schrift immer diskreter wird, bis zur Unleserlichkeit. Kaum noch eine
welche die Anklage der Vergänglichkeit wie Krallenarme emporreckt, ja Gebärde, eine bloße Linie der Nase ist zu sehen, allenfalls ein Blick nach
selbst die Blumen, Fische, Eulen, Schmetterlinge - all das sind Gebärden3. oben, etwa wenn Alkestis der oberen Welt wieder zugeht. Sehr wenig ist
Freilich, es ist eine sehr besondere Art von Gebärde. Es ist die stumme hierin Psychologie, sehr wenig Ausdeutung eines subjektiven Inneren, fast
Sprache der Heraldik, die hier gesprochen wird, jene Wappensprache, in der alles nur Innerlichkeit der Maske, hinter der nichts ist, Innerlichkeit aus
sich wortlos die Zueinandergehörigen erkennen. Und endlich die menschli- lauter Zugekehrtheit, in sich selbst aufgehendes Rätsel, das wir uns sind.
chen Gebärden. Sie sind nicht Gebärden von einzelnen Menschen innerhalb Man wird nicht behaupten, daß diese Bilder griechisch gesehen sind. Ich
einer im Bilde dargestellten Umwelt, sondern Bildgebärden selber. Nicht möchte im Gegenteil sagen, sie sind mit unseren Augen gesehen. Und mit
nur hie und da erkennbare — nicht immer ganz leicht erkennbare - Umrisse unseren Augen sehen heißt von vornherein: sehen als einer, der durch die
einer menschlichen Figur, die eine Gebärde macht oder ist - vielmehr ist ganze große Geschichte der christlichen Innerlichkeit hindurchgegangen ist.
auch das, wogegen sie sich abhebt, das, worin sie verwebt ist, nach den Aber gerade deshalb ist hier Griechisches wie gegenwärtig gesehen. Es ist
Gesetzen vori Fläche und Farbe, nicht minder selbst Gebärde. Da gibt es zum das alte Rätsel Mensch, das uns in diesen Arbeiten eines heutigen Malers
Beispiel eine Antigone, die eingemauert dem Hungertode entgegensinkt, aufgegeben wird, indem er griechische Lösungen neu vergegenwärtigt.
nachdem sie das Gesetz der Unteren über das Gesetz des Staates gestellt hat. Vielleicht läßt sich an einem Bilde zusammenfassend aufweisen, was für alle
gilt. Es heißt: >Iphigeneia<. Eine Iphigenie, sehr in Blau gehalten. Hier ist
Vgl. unter anderem mein Buch über Werner Scholz (Reddinghausen 1968). weder Sehnsucht eines sich in seine Heimat zurücksehnenden Wesens da
330 Zur bildenden Kunst

noch Trauer der sich Opfernden, die Heimat und Leben lassen mußte. Erst
recht nicht wird der Mythos von der Entrückung Iphigenies aus der Heimat
in die Fremde erzählt. Iphigenie ist vielmehr da als die Entrückte, die ihre
eigene Grenze zu dem anderen, unsichtbaren Reich berührt. Was das Bild
darstellt, ist die Entrücktheit selbst. Indem alles bis zur Unkenntlichkeit
chiffriert ist, wird das zu Erratende unmittelbar sprechend. 30. Über das Lesen von Bauten und Bildern
So wird hier nichts erzählt und nichts Bekanntes neu gedeutet. Es ist im
Ganzen dieses Werkes ein heraldischer Zug. Die ritterlichen Wappen unseres (1979)
Menschseins stehen in Bildern vor uns, Wappen, Embleme, an denen wir
uns erkennen, ohne uns verstehen und enträtseln zu können, Symbole der
Unkenntlichkeit, in denen wir uns und unserer immer unkenntlicher wer-
Von der ganz schlichten und trivialen Feststellung ausgehend, daß jeder
denden Welt begegnen. Was dem Wort der Dichter - Homers wie dem der
Satz, jede Äußerung im Grunde erst dann verstanden ist, wenn sie als die
Tragiker - im Widerschein der Übersetzung kaum noch gelingt, vermag
Antwort auf eine mögliche Frage verstanden werden kann, habe ich die
dem bildenden Künstler unserer Tage zu gelingen, wenn er die alte Sage in
Frage-Antwort-Struktur des Verstehens analysiert. Das ist bei gewissen
die Einfachheit der großen Gebärde zusammenzieht.
Nachfolgern Hegelscher Denkweise, insbesondere bei Collingwood, schon
in einigem Ansatz zu finden. Ich habe daran angeknüpft und die Dialektik in
dem Verhältnis von Frage und Antwort aufgedeckt1. Sie zerstört den
Schein, als handelte es sich beim Verstehen um eine Methode, die man
gebraucht. Das eigentümliche Wechselspiel der Herausforderung, die das
Andere, Unverständliche, darstellt und auf das der Verstehenwollende ant-
wortet, indem er es befragt und als Antwort zu verstehen sucht, spielt nicht
nur zwischen Ich und Du und dem, was wir einander sagen, sondern gerade
auch zwischen dem >Werk< und mir, dem es etwas sagt und der immer
wieder wissen möchte, was es ihm sagt. Ich habe an dieser Struktur des
Verstehens die Wiedergewinnung der Frage in den Vordergrund gestellt.
Aber genügt diese allgemeine Struktur der Frage und der Dialektik von
Frage und Antwort als Ausgangspunkt für ein Reflektieren über die Erfah-
rung von Kunstwerken? Es scheint ganz dunkel, wie sich am Umgang mit
dem Kunstwerk die dialogische Struktur von Frage und Antwort überhaupt
bewähren soll. Welche Fragen werden denn in einem Kunstwerk erhoben —
und damit: welche Antworten des Verstehens in uns ausgelöst, und zwar so,
daß wir am Ende das Kunstwerk selbst als die Antwort auf solche Fragen
verstehen?
Ich möchte einige konkrete Beispiele vorlegen, um daraus meine theoreti-
schen Folgerungen zu ziehen. Ich war mehrmals in der Kathedrale von St.
Gallen und empfing dort den eigentümlichen Raumeindruck dieses Bau-
werks, der dadurch entsteht, daß ein Längsschiff mit einer sehr stark ausge-
bauten Vierung und der Chor in eine seltsam spannungsvolle und großartige
Form von Einheit gebunden sind. Das Schiff und die Vierung, das ist
offenbar die große Baufrage, die der abendländische Kirchenbau durch die
1
VgL >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 375ff.
332 Zur badenden Kunst Ober das Lesen von Bauten und Bildern 333

Jahrhunderte zu beantworten gesucht hat. Jede Lösung dieser Vereinigung hermeneutischer Gewinn. Ob die Aufgabe, dies Gemälde, ein Meisterwerk
des Zentralbaugedankens und des Schiffgedankens im Laufe der Geschichte der Malerei, zu verstehen, wirklich darin aufgeht, es ikonographisch zu
unserer abendländischen Baukunst ist, wie mir scheint, das, was die Kunst- deuten? Ist vielleicht doch eher die Atmosphäre, die eine geheimnisvolle
historiker in ihrer Art >Baugedanken< nennen. Zweifellos ist es eine Frage, Landschaft sprechen läßt und die fur den Kunsthistoriker die Bedeutung
die in dem Moment, in dem man sie sich bewußt macht und sozusagen dieses Bildes im Verlaufe der Malgeschichte des Abendlandes ausmacht,
selber fragt, das Gebilde sprechend macht, vor dem man steht. Es gibt uns das, was von uns allen >verstanden< wird, wenn wir von dem Anblick dieses
eine Antwort. Die Antwort der St. Galler Kirche ist nun eine sehr späte und, Gemäldes wie elektrisiert werden?
durch die Baugeschichte mitbedingt, eine besonders verspätete Antwort, - Und wenn es so ist, was ist die Frage, die wir zu gewinnen haben, um
deren Großartigkeit trotzdem jeden Besucher überzeugt. Sie nimmt gleich- sagen zu können: Jetzt habe ich es besser verstanden? Wie gehen diese beiden
sam wie ein letztes Résumé die Spannung zwischen Schiff und Zentralbau- Fragen zusammen — die Frage, die wir in der Kunstwissenschaft die ikono-
partie noch einmal zu einer Einheit zusammen, aber so, daß der Raum fur graphische Frage nennen (wörtlich: das Beschreiben des Ikons, des Darge-
den ihn Durchschreitenden förmlich umspringt, als ob er zweifach gelesen stellten, des Abgebildeten), und die andere Frage: Was >sagt< uns das Bild -
werden könnte. und das selbst dann, wenn wir, wie in diesem Falle, nicht wissen, was der
Wenn wir in den Kirchenraum treten, erfahren wir diese Spannung wie ikonographische Inhalt des Bildes ist? Sicher bleibt das Bild von Giorgione
eine Antwort. Die Erfahrung, die wir da machen, scheint mir eine gute für jeden, der es einmal gesehen hat, ein tiefer Eindruck, und noch in der
Exemplifizierung fur das, was Interpretation ist. Was der Kunsthistoriker Reproduktion spürt man darin etwas Geheimnisvolles, etwas Vielschichti-
aus baugeschichtlichem und stilgeschichtlichem Wissen mitbringt, fuhrt am ges, das einen nicht losläßt. Manche Betrachter weisen etwa auf die men-
Ende nur zur Auslegung von etwas, was wir alle spüren und geradezu schenleere Stadt im Hintergrunde, andere sprechen über die Bezugslosigkeit
leiblich verstehen, wenn wir durch diese Gewölbe schreiten. zwischen diesem schön aufgebauten Jüngling - wir wissen, daß es ursprüng-
Oder ein anderes Beispiel. Ich erinnere an das berühmte Bild von Giorgio- lich ein Mädchen war, das Giorgione da konzipiert hatte, das ist mit Hilfe
ne, das in der Accademia in Venedig hängt. Man kann das Original leider moderner Technik inzwischen herausgekommen — und auf der anderen Seite
nur unter Glas sehen, weil die Farben sehr gefährdet sind. Es ist dadurch die Mutter mit dem Kind, die zu uns hinblickt. Was bedeutet der abge-
besonders interessant, daß kein Mensch weiß, was auf dem Bild eigentlich schrägte Säulenstumpf? Hier braucht man zwar nicht zu fragen, was er
dargestellt ist. Man erkennt natürlich die Einzelheiten. Da steht ein junger bedeutet. Wir verstehen unmittelbar, was er bedeutet. Wir erkennen ihn
Mann, und da ist eine Mutter mit einem Kind, und hinten ist ein Gewitter unmittelbar als das Sinnbild des Halben, des Endlichen, des Verstümmelten.
über einer Stadt, deren Zinnen und Dächer sichtbar sind, aber wie ohne Aber was sagt dies bekannte Symbol hier? Oder der Kontrast zwischen dem
Leben scheinen. Man nennt das Bild >Das Gewitten, aber was es eigentlich arkadischen Vordergrund und dem in der Ferne tobenden und offenbar nicht
sagen will, was da das Dargestellte ist, ist bis heute ein offener Gegenstand drohenden Gewitter? Ich mache diese Fragen an das Bild bewußt, um die
der Diskussion. Ist es eine Genreszene oder ist es eine allegorische Komposi- theoretische Frage zu exponieren: Was ist das, was wir da zu verstehen
tion? suchen? Würde uns die Lösung des ikonographischen Rätsels all diese Fragen
Aber wie dem auch sei - ich möchte an diesem Bilde und seiner Rätsel- beantworten? Welche anderen Fragen möchten wir beantwortet sehen,
haftigkeit die verschiedenen Möglichkeiten des Die-Frage-Gewinnens vor wenn es sich um das Verstehen dieses Kunstwerkes handelt?
Augen stellen. Es soll uns im Laufe unserer theoretischen Darlegung hilf- Die Metapher »es beginnt zu sprechen« drängt sich auf. Es ist die einfach-
reich sein, daß wir alle gemeinsam an dieses Bild denken dürfen, das auch ste Bestimmung dessen, was Hermeneutik im Bereich von Kunst und
durch seine Koloristik einen der großen Wendepunkte in der Renaissance- Geschichte ist. Sie ist die Kunst, etwas wieder sprechen zu lassen. Nun liegt
Malgeschichte darstellt. es auf der Hand, daß wir fur die Kunst, etwas sprechen zu lassen, vorausset-
Die Fragen, die bisher aufgeworfen worden sind, weisen offenbar in zwei zen, daß es ohne unsere Bemühung nicht spricht oder sich nicht genügend
sehr verschiedene Richtungen. Was Giorgiones Bild eigentlich darstellt, ist ausspricht. Das handgreiflichste Beispiel für die Bemühung, etwas wieder
für uns dunkel. Das schließt offenbar ein: Wenn uns jemand überzeugend sprechen zu lassen, ist daher das Lesen von Geschriebenem oder Gedruck-
machen würde, das und das ist da dargestellt, dann hätten wir etwas verstan- tem, das die Struktur des Textes hat. Wir werden aber etwas ein literari-
den, was wir bisher nicht verstanden haben. Es wäre ein hermeneutischer sches« Werk, ein Dichtwerk, nur dann nennen, wenn es noch sehr viel mehr
Gewinn. Freilich möchte ich kühnlich sagen, es wäre ein sehr bescheidener verlangt als Lesenkönnen. Gleichwohl ist die elementare Forderung, die das
334 Zur bildenden Kunst Ober das Lesen von Bauten und Bildern 335

Werk an uns stellt, lesen zu können, nicht so trivial, wie es aussieht. Über- Wirklichkeit antreffbaren Kollektion erscheint, sondern so, daß das Darge-
haupt lesen zu können ist noch nicht >wirklich< lesen können, und das gilt stellte plötzlich wie einzig in seiner Art erscheint. Wir kennen alle die leisen
allgemein. Beschwerden, die wir haben, wenn ein Meister das Motiv eines Bildes zu
Auch vom Werk der bildenden Kunst gilt, daß man lernen muß, es zu oft variiert: Etwas zu viel Sonnenblumen, etwas zu viel Bauernschuhe
sehen, und daß es nicht in dem Naivblick auf das anschauliche Ganze, das da machen es für uns schwierig. Ich will nicht sagen, daß das stets eine berech-
vor einem steht, bereits verstanden, d. h. als Antwort auf eine Frage erfahren tigte Kritik wäre. Aber es wird für den Betrachter nicht ganz leicht, die
wird. Wir werden es >lesen< müssen, wir werden es sogar buchstabieren Einzigkeit jedes Gemäldes van Goghs, das ein Paar Bauernschuhe oder
müssen, bis wir es lesen können. Ähnlich gilt für das Bauwerk, daß wir es Sonnenblumen zeigt, wirklich zu realisieren. Und doch ist es offenbar erst
>lesen< müssen; und das heißt, daß wir es nicht nur - wie eine fotografische dann verstanden, wenn das Bild nicht mehr unter den Verständniszusam-
Reproduktion - anschauen, sondern auf es zu, um es herum, in es hineinge- menhang Bauernschuhe oder Sonnenblumen subsumiert wird (oder gar
hen und es auf diese schreitende Weise gleichsam für uns aufbauen. unter den Verständniszusammenhang »Ah, wieder einmal Sonnenblu-
Wir müssen diese Analogien zwischen einem Literaturwerk und den men!« oder »Wieder einmal Bauernschuhe!«), sondern wenn es in seiner
Schöpfungen der bildenden Künste uns zunutze machen2. Solche Analogien eigenen Darstellungsfunktion zugleich das Werk und nicht nur das Darge-
verkörpern die große Weisheit eines noch nicht formulierten Allgemeinen. stellte sprechen läßt.
An einem klassischen Beispiel der großen philosophischen Weltliteratur läßt Das ist das Problem: Wie geht das miteinander zusammen? Daß wir
sich das gut illustrieren. Bekanntlich ist das große Gespräch Piatos über den etwas als etwas erkennen, schließt ein, daß wir sogar eine gewisse Leit-
idealen Staat als Analogie für die Einsicht in die Gerechtigkeit als die oberste funktion des gegenständlich Wiedererkennbaren für das Eindringen in ein
Tugend der Seele konzipiert. Plato führt uns den idealen Staat als Konstruk- Werk anerkennen müssen. Wenn etwa im Hörsaal Dürersche Holzschnitte
tionsaufgabe vor, um die >Verfassung< der Seele sichtbar werden zu lassen. in der Projektion gezeigt werden, entstehen schon durch die Übergröße
Seele und Staat sollen sich wie zwei Feuersteine aneinander reiben, damit der des Projektionsformates plötzlich neue Entzifferungsschwierigkeiten. Erst
Funke des Verstehens entspringt. wenn man das Dargestellte auch erkannt hat, bekommt das Spiel der
So sollen sich hier das literarische Kunstwerk und das Kunstwerk der Schwärze und der Weiße, der Linien und der Flächen seine volle Geschlos-
bildenden Kunst ein wenig aneinander reiben, damit wir die Aufgabe, die senheit. Auch kubistische Porträts wie die eines Picasso wollen so entziffert
uns beschäftigt, in die rechte Weite stellen. Was ist das, was verstanden werden.
werden muß, und welche Frage ist es, auf Grund deren ein >Werk< als iDaß eine bestimmte Einungsfunktion des gebrauchten Bildvokabulars
Antwort verstanden werden kann? Man sollte auch in unserer Zeit, in der es (wie der Einheitssinn von Rede) sehr oft erst in der Erkenntnis des Darge-
so viel bemerkenswerte künstlerische Produktion auf dem Gebiete der infor- stellten entspringt, läßt sich, wie ich meine, nicht leugnen. Es besteht ein
mellen und der gegenstandslosen Kunst gibt - oder wie immer man das eigentümlicher Zusammenhang zwischen dem Ikonographischen — minde-
bezeichnen mag - , nicht bestreiten, daß das Wiedererkennenden etwas, so stens in seiner schwächsten Potenz, dem Wiedererkennen von erkennbaren
daß man es als das, was es >darstellt<, erkennt, ein Verstehensmoment im Bildelementen - und der Einheit der Werkgestalt, ein Wechselverhältnis,
Betrachten darstellt3. So waren etwa die Einzelheiten des Giorgioneschen das wie eine besondere Art des Lesens ist.
Bildes für uns alle kenntlich und selbstverständlich, wenn auch die Frage: Denn wie ist es beim Lesen? Wenden wir uns zum sprachlichen Text
Was geht da vor, was ist da dargestellt? - u n d erst recht die eigentliche Frage: zurück. Da ist Lesen nicht so, daß wir erst buchstabieren. Das Kind, das
Was spricht uns da an? — für uns unbeantwortet blieb. lesen lernt, kann bekanntlich noch nicht lesen. Das kommt vollends beim
Die Frage ist: Wie werden wir mit diesem Primat des im Bilde Wiederer- Vorlesen heraus4. Die meisten Erwachsenen können es auch nicht. Das hat
kennbaren fertig? Denn es ist klar: Etwas ist dadurch noch lange nicht ein seinen guten Grund: Man kann nur etwas vorlesen, was man auch versteht.
Bild, daß es etwas abbildet. Die Abbildung in einem Verkaufskatalog ist Wenn man im stillen Lesen plötzlich einmal nicht mitkommt, stockt man
zweifellos kein Bild. Im Bild haben wir ein bestimmtes Wie des Dargestellt- ja auch, und wenn man beim Vorlesen, ohne zu verstehen, weiterliest,
seins, durch das das Dargestellte nicht als ein Musterstück aus einer in der kann es ein anderer schon gar nicht verstehen. Das ist ein sicherer Beweis
dafür, daß im Vorlesen, auch im wirklich vollzogenen stillen Lesen, am
2
Siehe dazu vor allem die vorletzte Studie dieses Bandes, >Wort und Bild< (Nr. 35).
3
Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 118ff. Vgl. in diesem Band >Stimme und Sprache^ S. 267 ff.
Zur bildenden Kunst Ober das Lesen von Bauten und Bildern 337
336
Ende alles noch so artikuliert Aufgenommene zu der konkreten Einheit des sierte Determiniertheit, sondern läßt gerade in seiner Virtualität eine Art
Verstehens zusammengegangen ist. Gehört der ikonographische Gehalt Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten anklingen.
eines Bildes etwa auch nur zu den Buchstaben? In dieser Weise scheint mir in der Tat >Lesen< ein Prototyp fur die Forde-
Wie lernen wir lesen? Wie lernen wir verstehen? Im Lesen stocken wir, rung, die an jede Betrachtung von Kunstwerken, gerade auch von Werken
fallen heraus aus der Selbstverständlichkeit des Weiterlesens, müssen zu- der bildenden Kunst, gestellt wird. Es gut zu lesen, mit all diesen Vorgriffen
rückgreifen, weil sich ein Erwartungshorizont offenbar nicht erfüllt hat. Das und Rückgriffen, mit dieser wachsenden Artikulation, mit diesen sich anrei-
ist wie ein Schock. Wir gehen zurück. Wir lesen noch einmal, wir berichti- chernden Sedimentierungen, so daß am Ende einer solchen Leseleistung das
gen, wir verändern die Betonung und all das, wovon wir alle wissen, daß es Gebilde in all seiner artikulierten Reichhaltigkeit dennoch wieder zur vollen
etwas Geschriebenes oder Gedrucktes erst wieder zum Sprechen bringt. Einheit einer Aussage zusammenschmilzt.
Bekanntlich ist nun ein literarisches Werk dadurch ausgezeichnet, daß es Nun ist meine These: Interpretieren ist nichts anderes als Lesen. Das gilt in
durch die Art, wie es sprachlich geformt ist, selber vorschreibt und dem Ohr dem Sinne, den wir mit dem deutschen Worte >Auslegen<, wie ich glaube,
vermittelt, wie wir zu lesen haben, wie wir zu betonen haben. Die sogenann- sehr schön bezeichnen. >Interpretation< wird oft als >Auslegung< übersetzt
ten Lesehilfen sind sekundär. Interpunktion im lyrischen Gedicht3 ist eigent- oder wiedergegeben, und das trifft. >Auslegen< ist ein Wort, das in seiner
lich für Schwächlinge. Darin hatte George ganz recht, wenn er das mög- eigenen spekulativen Dimension schon enthält, daß wir hier nichts zum
lichst wegließ. Wenn man nicht imstande ist, das Klang- und Sinngebilde Lesen hinzutun. Einmal meint es, daß wir nichts hineinlegen. Man denke an
eines Verses dadurch aufzubauen, daß man die rechten Modulationen, den mephistophelischen Rat: »Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.«
Rhythmisierungen, Phrasierungen selber anbringt, versteht man es nicht. Zweitens aber, daß das Auslegen im Grunde genommen nur das, was schon
Aus der Musikausübung wissen wir auch, welche Rolle die Phrasierung darin ist, herauslegt, um es dann wieder zusammenzulegen.
spielt, die nicht in der Komposition steht und doch in der Musik ist. Das geschieht selbstverständlich in einem Verfahren, das sich in gewissen
Offenbar haben wir es im Lesen mit einem solchen Vorgang des Aufbau- Grenzen als methodisches Wissen und auf methodischem Wege erlernen
•ens einer Zeitgestalt zu tun. Das Problem, das mich seit Jahrzehnten beschäf- läßt. Doch ist selbst das nicht so einfach. Vielmehr stellt es einen ganzen
tigt, ist nun, was Lesen eigentlich ist6. Ist es eine Art innerer Reproduktion, Prozeß der inneren Ausbildung dar, bis man anfängt, für Beobachtungen an
so wie «ine Theaterauffuhrung eine ins Sinnenhafte herausgesetzte Repro- einem Bild oder einem Text die >richtigen< Gesichtspunkte zu finden, die für
duktion ist? Man wird zweifellos sofort sagen: Nein, selbstverständlich den Verständniszusammenhang des Gegebenen wirklich fruchtbar werden.
versetzt die Theaterauffuhrung in ein neues Wirklichkeitsmedium. Davon Selbst da, wo wir unser Metier treiben und als Philologen, als Historiker, als
ist beim Lesen keine Rede. Da sind es alles nur Phantasien, innere Produkte Kunstkritiker methodisch vorgehen, stellt die sinnvolle Anwendung der
der Einbildungskraft, die wir durch unser Lesen erzeugen. Aber das ist noch Methode die eigentliche Aufgabe dar, die nicht selber wieder durch Metho-
lange nicht klar. Lesen ist keine innere Theateraufrührung. Das Erstaunliche de vermittelt wird.
ist doch, daß die unermüdlichen Produktionen unserer Einbildungskraft Nun ziehe ich den Schluß. Was ich durch die Analogie des Lesens des
ständig wie auf einem reißenden Strome dahintreiben, so daß ich nicht erst Textes und des Eindringens in ein künstlerisches Gebilde anderer Art zu
das eine und dann das andere Bild in seiner bildhaften Einheit fest erfasse. zeigen versucht habe, ist, daß es nicht so ist, daß da ein Betrachter oder
Roman Ingarden, der Phänomenologe, hat sehr schön am Roman gezeigt, Beobachter als eine Art Neutraler einen Gegenstand dingfest macht. Derart
welche Evokationskraft in der Schemafunktion einer Beschreibung steckt, sind zwar die methodischen Aspekte, mit denen die Geisteswissenschaften
so daß eine noch so minuziöse Beschreibung in einem dichterischen Werke arbeiten und deren Gebrauch man lernen muß. Aber das Eigentliche ist doch
von jedem Leser verschieden ausgefüllt wird - und doch ist dieselbe Sache offenbar etwas anderes, nämlich daß wir an der Sinnfigur, der wir begegnen,
beschrieben. Das ist, so trivial es klingt, in seinen theoretischen Konsequen- teilgewinnen. Sie als Ganzes ist offenbar etwas, was sich nicht in seiner
zen sehr weitreichend. Es zeigt nämlich, daß das durch die Worte Evozierte objektiven Gegebenheit festlegen und bestimmen läßt, sondern in der Sinn-
eine Art von Virtualität besitzt. Es hat keine Wirklichkeit, keine ausaktuali- gerichtetheit, in der Bedeutsamkeitsstrahlung, die sie als Gebilde auszeich-
net, uns, wie wir sagen, >einnimmt<.
5 Wir sind von dem Werk gleichsam ins Gespräch gezogen. So ist die
Für ein instruktives Beispiel siehe >Poesie und Interpunktion« in Ges. Werke Bd. 9, Struktur des Gesprächs keineswegs weit hergeholt, wenn man das anschei-
S. 282-288. nende Gegenüber zwischen einem Kunstwerk oder einem Literaturwerk
6
Siehe dazu im vorhergehenden >Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23).
338 Zur bildenden Kunst

und seinem Interpreten richtig beschreiben soll. Dies Gegenüber ist in


Wahrheit ein Wechselspiel der Teilhabe. Wie in jedem Gespräch ist der
andere immer ein entgegenkommender Zuhörer, so daß sein Erwartungs-
horizont, mit dem er mir zuhört, meine eigene Sinn-Intention sozusagen
auffängt und mitmodifiziert. In der Analyse der Struktur des Gespräches
zeigt sich, wie eine gemeinsame Sprache entsteht, indem sich die Sprecher 31. Die Vielfalt der Sprachen
verwandeln und ein Gemeinsames finden. und das Verstehen der Welt
Das scheint mir in Wahrheit auch für unsern Umgang mit >Werken< zu
gelten. Der Kunstausdruck, den wir dafür zu gebrauchen pflegen, heißt Ein Studium-generale—Vortrag
Kommunikation. Kommunikation meint nicht: ergreifen, begreifen, über-
mächtigen und in Verfügung nehmen, sondern meint Teilhabe an der ge- (1990)
meinsamen Welt, in der man sich versteht. Offenbar ist das, was wir ein
Werk nennen, nicht ablösbar von diesem Strom gemeinsamer Teilhabe,
durch den es sich in seine Zeit oder seine Nachwelt hineinspricht, und sofern Es ist ein Thema von höchster Aktualität. Es ist im Grunde das politische
wir alle miteinander zu dieser Welt der Verständigung und der Kommunika- Thema katexochen, für das die Geschichte der Menschheit auf uns wartet.
tion gehören, in der uns mancher und manches etwas zu sagen hat, gehören Denn darum geht es, daß die ungeheuere Entwicklung des Abstandes zwi-
die Dinge, die uns nicht nur im Augenblick, sondern immer wieder etwas zu schen dem Waffenbesitzer und dem Nicht-Bewaffneten uns dahin gebracht
sagen haben, wohl an erste Stelle. hat, in einer Welt zu leben, in der die gegenseitige Furcht vor kriegerischen
Auseinandersetzungen alles beherrscht. Es ist eine Furcht, die mit Recht
empfunden wird. Sie ist keineswegs - wie man manchmal so tut—nur durch
die Besonderheit der Atomenergie erregt. Es ist ein so unwahrscheinlicher
Fortschritt in der Logistik und in der Technik des Waffengebrauchs einge-
treten, daß wir nur sagen können: Jedes unkontrollierte Kräftemessen der
Menschheit unter sich kommt einem erfolgreichen Selbstmordversuch
gleich.
Der Mensch ist ein sehr erfinderisches Lebewesen. Er hat den Krieg
erfunden. Wir kennen in der Natur bei höher organisierten Wesen sonst
keinen solchen Fall, daß es innerhalb der gleichen Spezies Krieg gibt. Wir
kennen alle die bekannten Unterwerfungsriten, mit denen Kämpfe um die
Rangordnung unter Tieren einer Gruppe beendet werden. Schon das ist es,
was unser Thema besonders dringlich macht: Wie wird es möglich sein, die
Menschheit vor sich selbst zu retten und den Gemeinschaftsgeist zu entwik-
keln, die Solidarität des Lebenswillens und des Überlebenwollens, die not-
wendig wäre?
Da gute Bibelkenntnis nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden
darf, erlaube ich mir, zur Einleitung einen Text aus dem Alten Testament zu
zitieren. Es ist die bekannte Geschichte vom Turmbau zu Babel. Dort wird
erzähk, ein Volk, das sich im Zweistromland niedergelassen hatte, be-
schloß, einen großen Turm zu bauen, der bis zum Himmel reiche. Und da
heißt es:
340 An den Grenzen der Sprache Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt 341
Und so wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Weise, aber nicht als Wissenschaft - durch ihre Sprachabhängigkeit bedingt.
Fläche der Erde zerstreuen. Und der Herr fuhr herab, um die Stadt und den Turm Das ist ja gerade der ungeheuere Schritt, den die Menschheit schon mit der
anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: »Siehe, ein Volk Entstehung des griechischen Denkens gemacht hat, daß sie sozusagen den
sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt
wird ihnen nichts unmöglich scheinen, was sie zu tun ersinnen. Wohlan, laßt uns Logos, die Logik und damit die Denknotwendigkeiten in ihrer rücksichtslo-
herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß sie einer des anderen Sprache nicht sen Abstraktion legitimiert hat. Ist nicht die Mathematik die Einheitssprache
mehr verstehen. « Und der Herr zerstreute sie von dort über die ganze Erde, und sie der Neuzeit? Das ist die Herkunft der weltgeschichtlichen Lage, in der sich
hörten auf, die Stadt zu bauen. die heutige Menschheit befindet. Es ist wirklich so, wie es oben im Text
formuliert war. Es sieht so aus, als ob man alles, was man ersinnen kann, nun
So einen Text kann man mit heutiger Bereitschaft nicht im alttestamentli- ausführen könnte. Das verdanken wir der Abstraktionskraft des Menschen
chen religiösen Zusammenhang allein lesen. Man muß unwillkürlich dar- und ihrer Mathematik, auf die sich die Beherrschung der Naturkräfte grün-
über nachdenken, daß offenbar die Einheit und Solidarität einer gemeinsa- det und die indirekt auch unsere gesellschaftlichen Kräfte mit umfaßt.
men Sprache hier das eigentlich Tragende ist, das unbändige Energien des Wenn wir von dieser Überlegung ausgehen, dann ist es wohl klar, was die
Willens und grenzenlose Zuversicht in die eigene Berufung zur Herrschaft Sprachen, die wir sprechen, für unser Menschsein bedeuten. Das merkt man
verkörpert. Wenn wir von diesem Text des Alten Testaments ausgehen, schon an dem Beginn, wie die Griechen wie jede lebendige Kultur ihre
werden wir uns unwillkürlich fragen, wie es denn in unserer Welt aussieht, Sprache als die selbstverständlich >richtige< Sprache ansehen. Das gilt im
in der die Menschen ganz gewiß nicht die Einheit einer Sprache haben und - Grunde für jede Sprachgemeinschaft. Irgendwo hat man doch immer auf
wie ich glaube - auch nie haben werden. Aber ob wir denn vor der Versu- •Grund der Prägung unseres Weltverständnisses durch unsere Muttersprache
chung gefeit sind, unsere Kräfte ins Vermessene anzuwenden? Das jedenfalls ein sonderbares Gefühl, daß >Pferd< in einer anderen Sprache >horse< heißt.
ist das Motiv, warum uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel so betrof- Das gehört sich doch eigentlich nicht. Worum es hier geht, das ist, wie die
fen macht. gewaltige Abstraktionsleistung, die die Menschheit durch ihre Sprachen
Meine Aufgabe als Philosoph ist, die Begriffe zu klären, mit denen wir vollbracht hat, eine volle Sprachvergessenheit einschließt. Die Griechen
hier arbeiten. Es ist zu fragen, was ist Sprache, was ist Welt — und was hatten ein einziges Wort für alle, die nicht Griechisch sprachen: Das waren
bedeutet hier vieles, und was ist ei««? Der Turmbau zu Babel wiederholt in die Barbaren, die >Barbaroi<. Das Wort kennen wir alle, nicht nur aus dem
einer ins Umgekehrte verstellten Form das Problem der Einheit und Viel- Gebrauch unseres Fremdworts >Barban, sondern auch aus der Theatertech-
heit. Da ist die Einheit die Gefahr, und die Vielheit ihre Überwindung. Die nik. Wenn ein Volksgemurmel entstehen soll, müssen nämlich alle Leute
Geschichte steht ganz isoliert im Erzählungszusammenhang des ersten Bu- >Rhabarber< sagen. (So war das zumindest früher, vielleicht machen das
ches Mose. Sie gehört sicher zum ältesten Gut. Die Alttestamentier werden heute Maschinen.) »Rhabarber< sagen heißt, etwas Unverständliches sagen,
wissen, woher sie kommt, und jedenfalls hat sie einen so aussagekräftigen etwas, was gar keine Sprache ist.
Hintergrund, daß man der Aktualisierung der Geschichte kaum ausweichen Von diesem Ausgangspunkt gesprochener Sprachen aus ist der Aufbruch
kann. des Abendlandes zu seiner großen Reise, ist der Aufbruch zur Wissenschaft,
Ich frage also ganz unabhängig von dieser Geschichte und nicht in der den ich hier nicht im einzelnen ausbreiten kann, recht deutlich. Es sind zwei
Absicht, sie zu interpretieren. Ich meine, sie rührt einen genug an, damit sie •Kultursprachen, durch die sich die antike Welt und die Geschichte der
jeder mit heutigen Ohren hören kann. Wenn wir diese Geschichte zum Wissenschaften formierte und aus denen die Neuzeit neue Kräfte gesogen
Ausgangspunkt nehmen, dann möchten wir uns im Blick auf die Vielfalt der hat: die griechische Sprache und die lateinische Sprache. Als Kultursprachen
Sprachen unter den Menschen fragen: Wie sieht der Turmbau zu Babel oder beherrschten sie die gesamte antike Oikumene, die bewohnte Welt. Als
das, was ihm gleichen kann, in unserer Welt aus? Gelehrtensprache hat das Latein noch weit länger bis zum Beginn der
Eine Antwort hat die Geschichte des Abendlandes auf diese Geschichte Neuzeit dominiert. Man vergißt im allgemeinen, daß selbst Kants >Kritik
deutlich genug gegeben. Sie liegt in dem Sonderweg der Menschheit, der im der reinen Vernunft/ implizit eine Übersetzung aus dem Lateinischen ins
Abendland durch die Entstehung der Wissenschaft eingeschlagen worden ist Deutsche ist. Wir werden sehen, was das bedeutet, daß sich in der Neuzeit
- die Wissenschaft und gerade auch das, was wir heute >die Wissenschaft^ •eigene Nationalsprachen entwickeln mußten, um den Mitmenschen etwas
nennen und womit wir vorzugsweise die Naturwissenschaften meinen. Die zu sagen, und gewiß auch, um einander zu verstehen. Es war ein weltge-
>Wissenschaft< ist nicht auf Gedeih und Verderb - vielleicht auf andere schichtlicher Prozeß, in dem die Gelehrtensprache des Mittelalters und die
342 An den Grenzen der Sprache Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt 343

Kirchensprache des Mittelalters schließlich auch durch die Bibelübersetzun- Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
gen zur Entwicklung der Nationalsprachen führten und seitdem nur in der Sind Schlüssel aller Kreaturen,
mathematischen Naturwissenschaft und ihren technischen Erfolgen die eine Wenn die, so singen oder küssen,
Sprache begegnet, die man vielleicht nicht spricht, aber die alle lesen müs- Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt in's freie Leben,
sen. Und in die Welt wird zurück begeben,
Ich gebe nur ein grobes Gemälde, um daran zu erinnern, wie es gekom- Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
men ist, daß heute unter den Naturforschern, auf denen unsere technische Zu ächter Klarheit werden garten,
Perfektion beruht, mehr oder minder der Weg zur Tafel der kürzeste ist, auf Und man in Mährchen und Gedichten
die sie fur uns fast unverständliche Symbole schreiben. Das hat mit Sprache Erkennt die ewgen Weltgeschichten,
in dem Sinne, in dem unsere Muttersprache uns mitgegeben ist und die so Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
mit uns verwachsen ist, wie ich das am Beispiel mit dem Wort >Pferd<
deutlich zu machen suchte, wenig zu tun. Daß also dieses Ganze von Mit der Grenzziehung gegenüber einer sich selbst übersteigernden Auf-
beherrschenden Formeln eine mathematische Technik und Symbolik von klärung trat die Sprache in ihrer Vielfalt und selbstschöpferischen Universa-
großartiger Vollendung ermöglicht hat - das ist unsere Weltlage. Das heißt lität ins Bewußtsein. Wilhelm von Humboldt war in einem der Begründer
zugleich, daß wir alle unsere Vernunft brauchen werden, um die ungeheue- der Sprachphilosophie und der vergleichenden Sprachwissenschaft. Die
ren Potentiale des Wissens und des Könnens, die uns zur Verfügung stehen, Entwicklung der Sprachwissenschaft macht die Sprache jeweils zum Gegen-
vernünftigen Anwendungen entgegenzufuhren. Das war der Gesichts- stand. Aber das Denken lebt im Element der Sprache.
punkt, um dessentwillen ich die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt Wie hat sich das in der Philosophie unseres Jahrhunderts ausgeprägt? Wir
habe. haben in diesem Jahrhundert, wie bekannt ist, eine Art >linguistic turn<
In der Tat, zunächst scheint der Zusammenhang zwischen der Welt und vollzogen, eine Wendung zur Sprachlichkeit. Das ist einmal, was in England
dem Menschen durch die wachsende Beherrschung der Natur und der geschah, als einer der begabtesten Schüler von Bertrand Russell, Ludwig
Gesellschaft mit Hilfe der modernen Wissenschaft eine eindeutige Voraus- Wittgenstein, für Russell selber ganz unverständlich, neues Interesse an der
setzung fur unser Leben, und wir alle wissen, daß Wissenschaft und Technik >ordinary language< nahm, an dem Sprachgebrauch, an der Form, wie wir
fur unser Überleben eine unentbehrliche Bedingung sind, wenn es über- reden, wenn wir uns miteinander verständigen, und dergleichen mehr. Der
haupt gelingen soll, die riesig anschwellende Zahl von Menschen auf diesem Name Wittgenstein ist heute einer der großen Namen der Philosophie
Planeten zu ernähren. Aber das heißt eben nicht, daß die Menschen mit Hilfe unseres Jahrhunderts.
der Wissenschaft als solcher in der Lage wären, die Probleme zu lösen, vor Ein zweiter, entsprechender Vorgang ist in unserer deutschen Tradition
die wir gestellt sind, die friedliche Koexistenz zwischen den Völkern zu erfolgt. Ich meine den Übergang vom Neukantianismus zu der Phänome-
organisieren und den Haushalt der Natur zu bewahren. nologie und insbesondere die Weiterentwicklung der Phänomenologie von
Es ist offenkundig, daß nicht die Mathematik, sondern die sprachliche Husserl zu der hermeneutischen Wende, die Heidegger eingeleitet hat.
Verfassung der Menschen die Grundlage der menschlichen Zivilisation ist. Damit ist das Sprachliche, die Grundverfassung des menschlichen Daseins,
Das große Rätsel der Sprache ist ja doch, was eigentlich Sprache ist, daß sie sprachlich zu sein, so wesentlich und beherrschend geworden, daß sogar die
sich so zwischen Extremen vollzieht. Der Mensch stiftet für alles die Na- Metaphysik, die Lehre von dem, was Sein heißt, in einen neuen Zusammen-
men, wie es im Alten Testament hieß, und in den Augen dieser Erzählung hang gerückt worden ist. Die Sprache ist Sprachgeschehen, ist Ereignis. Das
läßt er sich dann — nach dem Sündenfall — in ein gottwidriges Unternehmen Wort, das einem gesagt wird, ist nicht in begrifflichen Symbolen darstellbar,
ein. Was ist es eigentlich mit der Sprache? auch wenn man das Gesagte als solches in mathematischer Form in Glei-
Die Versuche um eine Einheitssprache, um eine >Ars combinatoria<, wie chungen darstellen kann. Das Wort ist vielmehr da als eines, das einen
sie etwa durch Leibniz und die Mathematiker der Zeit entwickelt worden ist, erreicht. Die Ausdrücke bei Wittgenstein sind ganz ähnlich. Er spricht von
haben für die künftige Entwicklung der Mathematik und damit auch für Sprachpragmatik. Das heißt, Sprache gehört in die Praxis, in das menschli-
unser technisches Können ungeheuere Fortschritte heraufgefuhrt. Trotz- che Miteinander und Zueinander. Die Hermeneutik sagt, Sprache gehört in
dem ist klar, daß es einer Art Gegenerinnerung bedurfte, die mit der deut- das Gespräch, d. h., die Sprache ist überhaupt nur das, was sie ist, wenn sie
schen Romantik begann: Verständigungsversuche trägt, zu Austausch, Rede und Gegenrede führt.
344 An den Grenzen der Sprache Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt 345

Sie ist nicht Satz und Urteil, sondern ist nur, wenn sie Antwort und Frage ker in gelassener Weise sagt: »Wir wollen es mal anschreiben. « Selbst dieser
ist. Dadurch hat sich die Grundorientierung, in der wir überhaupt Sprache Ausdruck >anschreiben< verrät, wie wenig Verständigung, wie wenig über-
heute in der Philosophie denken, gewandelt. Sie führt vom Monolog zum haupt >der Andere< in der modernen Wissenschaft im Blick· ist. >Verständi-
Dialog. gung< meint nicht nur die Sache, auch nicht die Verständigung, die mit den
Es geht nicht mehr allein um das Gewußte, diesen bleibenden Umriß der ersten Lall-Lauten des Säuglings und dem ersten Austausch zwischen Mut-
Gestalten, wie den Arten in der lebendigen Natur oder in der Gesetzmäßig- ter und Kind einsetzt. Interpretieren wir den Titel unseres Vortrags also
keit der Mechanik und Dynamik der modernen Physik. Es geht jetzt noch lieber so: Verstehen ist Sich-Verstehen in der Welt. Das ist die Aufgabe,
um anderes, um Verständigung. Da genügt es nicht, zu wissen, was unmit- durch die die Vielheit der Sprachen in ihrer Dringlichkeit als Aufgabe an uns
telbar unserem eigenen Interesse entspricht. Das ist der neue Schritt, in dem herangetragen wird.
wir uns befinden, daß wir die Sprache nun aufeinmal als ein Unterwegs zum Was ist nun dieses Sein in der Welt, in dem wir uns zu verstehen suchen?
Miteinander denken und nicht als eine Mitteilung von Tatsachen und Sach- Die Welt ist dabei gewiß nicht Gegenstand. Bereits Kant hat in seiner
verhalten, über die wir verfügen. Wenn ich in einer vielleicht unglücklichen Antinomienlehre, der berühmten Kritik an der dogmatischen Metaphysik<,
und nur durch die Umstände legitimierten Form als Titel wählte >Die gezeigt, daß die Welt als Ganzes niemals ein Gegebenes ist und deswegen
Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt<, so wäre es eigentlich auch nicht mit den Kategorien der wissenschaftlichen Erfahrung als ein
genauer, es etwas anders zu formulieren. Erstens: Was heißt >die Welt<? Was ganzes Gegebenes erklärt werden kann. Genauso ist es jedenfalls und erst
ist denn das? Die Lateiner sagten dafür >das Universum<. Als die deutsche recht für uns alle klar - und hier nehme ich einen meiner Lieblingsbegriffe
Nationalsprache ihr Selbstbewußtsein entwickelte, sagte man im Deutschen auf-: Welt ist als Horizont da. >Horizont< evoziert die lebendige Erfahrung,
>das All< oder >das Weltall·. Und als der Neuhumanismus in der klassischen die wir alle kennen. Der Blick ist ins Unendliche der Ferne gerichtet, und
Zeit Goethes das Griechische gegenüber dem Lateinischen und der Gelehr- dieses Unendliche weicht mit jeder noch so großen Anstrengung vor uns
tensprache in den Vordergrund schob, hieß es plötzlich >Kosmos<. Alexan- zurück, und bei jedem noch so großen Marschtempo öffnen sich immer nur
der von Humboldts berühmtes Werk hat geradezu diesen Titel. So kann weitere neue Horizonte. Die Welt ist in diesem Sinne für uns ein grenzenlo-
man an der Wortgeschichte des Wortes für Welt schon allerhand lernen. Ich ser Raum, in dem wir mitteninne sind und unsere bescheidene Orientierung
halte nicht viel von Etymologien. Meistens sind sie von Gelehrten gefunden, suchen.
die nichts lieber tun, als sich gegenseitig zu widerlegen. Deshalb sind auch Aber ob wir diese Orientierung nur auf dem Wege über die Fortschritte in
die meisten Etymologien immer wieder bezweifelt worden. Aber im Falle den Naturwissenschaften und über deren gesammelte Erfahrung und über
von >Welt< können wir wohl kaum bezweifeln - auch wenn wir an englisch die sich an sie anlehnenden Sozialwissenschaften suchen dürfen, das verlangt
>world< denken-, daß hier der Stamm >wer< drinsteckt: >weralt<. Man denke einen Augenblick der Besinnung. Jetzt geht es doch darum, daß nicht nur die
auch an >Wergeld<, >Werwolf<. In all diesen Wörtern steckt >wer<, d.h. Welt nicht etwas Gegebenes ist, sondern ebenso unser Sein inmitten der
Mensch. Kurz, Welt ist Menschenwelt. Das ist die ursprüngliche Bedeutung Welt. Die prekäre Stellung des Menschen zwischen einem Lebewesen von
in den germanischen und indogermanischen Sprachen. der Art der Tiere und einem mit gefährlichen Denkmitteln ausgerüsteten
Das besagt schon etwas, daß wir uns hier daran erinnern müssen, daß es Naturwesen hat den Menschen aus den Instinktlinien herausgesetzt, in
um das Verstehen der Welt nicht allein in dem Sinne geht, wie es etwa an denen die lebendigen Wesen sich sonst getrieben, oder besser: gehorsam
einer Weltgleichung deutlich wird, der Heisenberg noch wenige Jahre vor dem Gebot der Natur unterworfen finden.
seinem Hinscheiden nachgesonnen hat. Nicht um eine solche Form des So ist der Mensch in eine sonderbare Freiheit herausgestellt. Kant ist der
Verstehens der Welt geht es, in der sich die Physik zu einem einheitlichen große Denker gewesen, der uns die metaphysische Bedeutung des Begriffes
Lehrgebäude zusammenschließen könnte, wie das vielleicht im Zuge der der Freiheit ein für allemal hätte lehren sollen. Er hätte uns lehren sollen, daß
weiteren physikalischen und sonstigen Forschung gelingen wird. Nicht in es ζ. Β. ein Unding war, als mit der Unbestimmtheitsrelation in den zwanzi-
diesem Sinne geht es darum, die Welt zu verstehen. Die Welt ist zunächst ger Jahren allerhand ehrenwerte Gelehrte und Forscher sich dazu hergaben,
einmal für den Menschen das, worin er ist und wo er mitten drin ist. Zwar zu sagen, wir wären jetzt dem Beweis für die Freiheit einen Schritt näher
sagen wir >auf der Welt sein«, wenn ein neuer Erdenbürger auf die Welt gekommen. Wenn die >Kausalität aus Freiheit von der Wissenschaft erklär-
gekommen ist—als ob die Welt etwas ganz anderes wäre als der Mensch. Wir bar wäre und von ihr abhinge, daß man sich für etwas verantwortlich fühlt
sehen >die Welt< nicht mit diesem ungeheuren Abstand, mit dem der Physi- oder nicht, das wäre doch wohl eine traurige Abtretung der höchsten,
An den Grenzen der Sprache Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt 347
346
eigensten, persönlichsten Rechte und Pflichten des Menschen und wäre inzwischen durch die Veröffentlichung seiner Jugendvorlesungen bekannt-
geworden ist: »Es weitet.« Eine wunderbare Wortbildung! Ich erinnere
noch schlimmer als Drogenabhängigkeit.
mich, daß einer meiner Jugendfreunde — er war ein expressionistischer
Kant hat daher die Freiheit das >Vernunftfaktum der Freiheit genannt.
Dichter und war deshalb für Sprachkühnheiten natürlich besonders emp-
Das heißt, es gehört fur uns als Wesen, die sich selber verstehen wollen und
fänglich — voll Begeisterung ausrief: »Ist das nicht wunderbar!« Es ist in der
in diesem Sinne vernünftige Wesen sind, unausbleiblich dazu, daß wir, wo
Tat, wenn es weitet, etwas ganz Wesentliches zur Sprache gekommen,
wir die Wahl haben, uns die Entscheidung zurechnen. Kant hat nie behaup-
nämlich das Aufgehen in offene Horizonte, in vielerlei offene Horizonte
tet, daß es in Wirklichkeit eine rein aus freiem Willen getane Handlung je
hinein. Wer auf den anderen hört, hört immer auf jemanden, der seinen
gibt. Er hat nur gesagt: So müssen wir uns denken, wenn wir in unserer
eigenen Horizont hat. Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie
gemeinsamen Welt miteinander leben wollen und gesellschaftliche Institu-
zwischen den Völkern oder zwischen den Kulturkreisen und Religionsge-
tionen, Rechtsordnung, Sittenordnung und friedliches Zusammenleben der
meinschaften. Überall stehen wir vor dem gleichen Problem: Wir müssen
Völker um uns aufbauen wollen. All dies ist in der Moralphilosophie Kants
lernen, daß im Hören auf den anderen der eigentliche Weg sich öffnet, auf
auf den berühmten kategorischen Imperativ gegründet worden.
dem sich Solidarität bildet. Es ist genau umgekehrt als das, was in der
Was also heißt es eigentlich, um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukom-
Geschichte vom Turmbau zu Babel dort als Wahnideal den Leuten vor-
men, sich in der Welt verstehen? Es heißt sich miteinander verstehen. Und
schwebte. Dort hieß es: »Wir müssen uns einen Namen machen, damit wir
Miteinander-sich-Verstehen, das heißt den anderen verstehen. Und das ist
uns nicht über die Oberfläche der Welt zerstreuen.« Was ist das für ein
moralisch, nicht logisch gemeint. Es ist die schwerste menschliche Aufgabe
Name, in dem wir da zusammenbleiben wollen? Es ist der Name, den man
überhaupt - und vollends für uns, die wir in einer durch die monologischen
hat und der einem erlaubt, auf den anderen sozusagen nicht mehr zu hören.
Wissenschaften geprägten Welt leben. Die Wissenschaften sind ein einziger
Worauf es mir ankommt, ist, zu zeigen, daß wir vor dieser Aufgabe
großer Monolog, und sie sind stolz darauf- sie können es in der Tat auch
stehen, die Vielfalt der Sprachen nicht etwa durch Rationalisierung oder
sein. Die Sicherheiten, Gewißheiten, Kontrollierbarkeiten, die sie einge-
Bürokratisierung wegorganisieren zu wollen, sondern daß ein jeder die
führt haben, schirmen uns gegen unsere Schwächen und gegen die zufalligen
Abstände und Gegensätze zwischen uns überbrücken und ausfüllen lernt,
Übergriffe der anderen in weitem Umfange ab. Trotzdem geht es offenbar
und das heißt, daß wir den anderen achten, pflegen und schonen und
noch um etwas anderes in unserer Welt und für uns alle, einschließlich der
einander ein neues Gehör geben. Das fehlt viel zu sehr in der Welt, in der
Wissenschaft und ihrer Forschung, als um solche Sicherheit.
man sich auf den Experten beruft. Wobei ich nicht bestreiten will, daß es
Unsere Aufgabe ist, zu lernen, wie wir das Rätsel unseres Daseins in auch Experten gibt, die ein Ohr für die Bedürfnisse der Menschheit oder der
wirklich angemessenen Formen anzunehmen haben und uns nicht kraft Gesellschaft haben, aber nicht weil sie Experten sind, sondern weil sie
unseres Denkens als ein sich inmitten der Welt zu einer Art Weltherrschaft Menschen sind, die einem offenen Verantwortungsgefühl für die Mensch-
aufschwingendes Wesen zu denken haben. Wir alle müssen lernen, daß der heit und ihre Schicksale folgen. Aber ebenso gilt es, auf den Experten richtig
andere eine primäre Grenzsetzung unserer Eigenliebe und unserer Egozen- zu hören.
trik bedeutet. Das ist ein allgemeines moralisches Problem. Es ist auch ein
politisches Problem. Ich kann das in diesen Wochen und Monaten gar nicht ι Ich stelle also neben den Welthorizont, in den "wir hineinleben, den
ernsthaft genug betonen, was das für eine schwere Sache ist, daß wir lernen Sprachhorizont, und dieser ist ein Plural. Da ist eine Vielheit von Horizon-
müssen, inmitten der Verschiedenheit der Sprachkulturen und der Traditio- ten, die wir nicht etwa durch irgendeine besondere Einheitsmechanik ver-
nen zu einer wirklichen Solidarität zu kommen. Das wird nur langsam und ringern sollten. Wir haben Übersetzungen. Gut, das ist unsere literarische
mühsam gelingen. Dazu gehört, daß wir die wahre Produktivität der Spra- Welt. Aber das heißt, wir müssen lesen, um uns etwas sagen zu lassen.
che einsetzen, uns zu verständigen, statt uns auf all die Regelsysteme zu Dolmetschen ist schon etwas mehr von einem Gespräch. Wenn ich als
versteifen, mit denen man nach richtig und falsch unterscheidet. Wir meinen Leipziger Rektor mit den Russen zu verhandeln hatte, habe ich gelernt, daß
doch, wenn wir sprechen, vor allen Dingen, daß wir uns und dem andern es nicht darauf ankam, meinen russischen Gesprächspartner mit meinen
dadurch verständlich •werden, so daß der andere mir antworten kann, mich eigenen Argumenten zu überzeugen, sondern den Dohnetscher für mich zu
zu bestätigen oder mich zurechtzusetzen — alles das gehört zu einem echten gewinnen. Der sollte das sagen, was meinen Anliegen nützlich war. Wenn er
nur übersetzt hätte, was ich sagte, hätte ich vermutlich nicht viel Erfolg
Gespräch. gehabt.
Heidegger hat einmal als junger Mann einen Ausdruck gebraucht, der
348 An den Grenzen der Sprache Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt 349

Dolmetschen ist eben noch ein Rest von lebendigem Gespräch, wenn auch solche Meinungsbildung ihren Wert und ihre Notwendigkeit hat, aber das
vermittelt, gespalten, gebrochen. Man darf allerdings nicht so töricht sein, eigene Denken und den lebendigen Austausch des Gesprächs nicht ersetzen
wörtliche Übersetzungen zu verlangen. Das gilt nicht nur für das Gespräch darf.
zwischen Menschen verschiedener Sprachen. Auch wenn man einen eigenen Angesichts der alles gleichmachenden Informatik, mit der sich künftig
Text in einer anderen Sprache wiederlesen muß, entdeckt man: Mein Gott, wahrscheinlich in noch ganz anderem Maße Verfügbarkeiten in unserem
wie schrecklich genau seid ihr mit mir verfahren — das kann ja kein Mensch gesellschaftlichen Leben breitmachen werden, muß um so mehr die Sprache
mehr verstehen! in ihren eigensten Möglichkeiten gepflegt werden. Dazu gehört, das treffen-
Das ist erst eigentlich Sprechen, und dem dient Hermeneutik: daß wir die de Wort zu finden, und auch, das vielsagende Schweigen zu lernen. Das
Möglichkeit entwickeln, das, was einer eigentlich meint, dem anderen zu Ganze heißt im Gespräch sein. Das wahre Gegenteil ist die Routine des
übermitteln und von ihm die Antwort, das Gegenwort, wie er es meint, zu Streitgesprächs, wenn man auf irgendeine These einzig mit der Frage rea-
erhalten. Ich bin durchaus der Meinung, daß wir auch Übersetzen als giert: »Ist da aber nicht ein logischer Widerspruch?« In Debattiernationen,
Hilfsmittel gebrauchen und pflegen sollen, aber nur, wenn wir uns dabei zu denen wir Deutschen nicht gerade durch Talent berufen sind, ist das oft
dessen bewußt sind, daß der neue Text neu sprechen muß. Er darf nicht eine bloße Technik. Wir müssen das Gespräch in seiner inneren Wahrheits-
durch das ganze rostige Gerüst der Ausgangssprache und ihrer Rhetorik möglichkeit dagegen verteidigen, vor allem natürlich gegen die Unterwer-
verdeckt werden. Nur so können wir den anderen erreichen und an das, was fung unter die Regeln einer bloßen Scheinlogik, die man als Sophistik kennt.
er sagen will, herankommen. Das ist übrigens nicht nur beim Übersetzen so. Ich möchte sagen, wir hätten damit einen besseren Begriff von Vernunft
Es geht immer darum, in unserem Umgang mit unseresgleichen das, was gewonnen. Das ist nicht etwas Irrationales, weil es freilich nicht nur Kalku-
der andere eigentlich sagen will, aufzunehmen und über seine Antwort den lieren oder logisch zwingendes Schließen ist. Es ist im Gegenteil ein vielseiti-
gemeinsamen Boden zu suchen und zu finden. gerer Anblick von Vernunft, so wie einer in unserer Sprache sagt: »Aber sei
Die Bürokratisierung ist, wie Max Weber gezeigt hat, das eigentliche doch vernünftig und argumentiere nicht wild drauflos!« Was heißt es denn,
Schicksal unserer Zivilisation. Das ist sehr wahr und zeigt sich immer mehr wenn man etwa im Streit ist, daß man vernünftig sein soll? Es soll offenbar
in seiner Bedeutung. Es zeigt sich gerade auch im Umkreis der akademi- heißen, daß man das, was der andere hat sagen wollen, in seinen positiven
schen Welt und ihrer Aufgaben, die natürlich mit den Massenmedien und Intentionen aufgreifen sollte. Wenn man ihn darin versteht, dann kann sich
mit den Schulen und allem, was damit verbunden ist, eine innerliche, überhaupt erst die Möglichkeit finden, mit ihm in Streitfragen vielleicht zu
organische Einheit bilden. Da gilt es überall, Sprache in ihren schöpferischen Lösungen zu kommen. Alle Diplomatie beruht wesentlich darauf, daß
Möglichkeiten zu entbinden und Verständigung zu erreichen. solche Möglichkeiten wahrgenommen werden.
Das läßt sich nicht durch bloße Institutionen machen, sondern nur durch . Ich möchte zum Schluß noch etwas über den Begriff der Bildung sagen.
den lebendigen Austausch, und deswegen hat der Pluralismus, in dem wir Da redet man vom Bildungsbürger, von den Zeiten der höheren Bildung.
leben, eine wahrhaft produktive Bedeutung. Das gilt in allen Bereichen, Da redet man von dem Klassengegensatz von Gebildeten und Ungebildeten,
ζ. Β., wie sich Baustile herausbilden oder Kleidermoden oder die Formen- der durch eine übertriebene Patentierung akademischer Qualitäten in unse-
welt, in der wir uns ständig in der Literatur oder in der Kunst oder sonstwo rer deutschen Geschichte und in unserer Gesellschaft recht zweifelhaft und
bewegen. Auch jedes dichterische Werk, auch jedes Kunstwerk ist immer unheilvoll gewesen ist. Aber macht das Bestehen eines Examens gebildet?
wieder ein anderes, ist auf eine geradezu fordernde Weise anders und ver- Was ist eigentlich Bildung? Erlauben Sie mir, hierzu einen Größeren zu
langt unsere Antwort immer aufs neue. zitieren. Es ist ein Wort von Hegel: Bildung heißt, sich die Dinge vom
Das ist der Gesichtspunkt, unter dem ich die Aufgabe der Philosophie in Standpunkt eines anderen ansehen zu können. In diesem Sinne wünsche ich
unserer Zeit sehe. Unsere pluralistische Welt, in der wir uns befinden, ist wie Ihnen allen, daß Ihre Studien Ihnen nicht nur zu wirklichem Können und
das neue Babel. Aber diese pluralistische Welt enthält Aufgaben, und diese nicht nur zu Patenten verhelfen, sondern auch zu der Bildung, einen anderen
bestehen nicht so sehr in rationalisierender Planung und Verplanung, son- von seinen Gesichtspunkten aus verstehen zu lernen.
dern in der Wahrnehmung der Freiräume des menschlichen Miteinanders,
auch über Fremdes hinweg. Auch Sprache ist eben nicht das, was wir das
sogenannte Zeitungsdeutsch nennen, bei dem jeder merkt, daß das eigent-
lich keine Sprache mehr ist, sondern eine bloße Informationsarbeit, die als
Grenzen der Sprache 351
tun, das meiner eigenen Sprachgemeinschaft angehört und damit uns beide
verbindet.
Um sich der Universalität des Problems der Sprache in ihrer ganzen
Bedeutung bewußt werden zu können, möchte ich, wie auch öfters, auf
Aristoteles zurückgehen. Bei allem Respekt vor Leuten wie Herder oder
32. Grenzen der Sprache Rousseau, die über den Ursprung der Sprache Rede gestanden haben, meine
ich doch, sie haben am Ende alle Aristoteles nicht genug gelesen. Ich denke
(1985) als erstes an die berühmte Wendung des Aristoteles über den Vorzug des
Sehens. Am Anfang der >Metaphysik< heißt es da, daß das Sehen der erste
und wichtigste unserer Sinne ist, weil es die meisten Unterschiede offenbar
Über die Sprache und ihre Grenzen nachzudenken, das ist ein Angebot, das macht. An anderer Stelle spricht aber Aristoteles dem Hören den Vorzug
fur mich so unwiderstehlich ist, wie es für Sokrates war, wenn ihm von zu1. In der Tat, unser Hören kann auf die Sprache hören, und damit kann es
einem vielversprechenden jungen Mann berichtet wurde, mit dem zu reden nicht nur die meisten Unterschiede offenbar machen, sondern alle mögli-
es sich lohne. So geht es mir, wenn von dem »Knochen Sprache« die Rede chen Unterschiede überhaupt. Diese Universalität des Hörens ist ein Hin-
ist, an dem Hamann sein Leben lang gekaut hat und den er nicht losließ, auch weis auf die Universalität der Sprache. Sie hat ihre besondere Bedeutung
wenn kein Fetzen Fleisch mehr von dem Knochen lösbar scheint. Während gerade auch für die Auseinandersetzung wissenschaftlicher Art, die ich zum
freilich die Wissenschaften, die auf Erfahrung aufbauen, viel Farbiges und Beispiel mit meinen naturwissenschaftlichen Freunden oder mit der Frank-
Reizvolles über die Sprache berichten können, hat es das besondere Grau der furter Schule, mit Habermas und anderen, gehabt habe und wo es um die
Philosophie an sich, nur begriffliche Klärungen vorschlagen zu dürfen. Frage geht, ob es nicht neben der Sprache noch andere ebenso fundamentale
Indirekt mag dann auch die wissenschaftliche Erforschung der Sprache und Auszeichnungen des Menschen gibt, die für sein Schicksal bestimmend sind.
ihrer Grenzen etwas gewinnen. Wieweit die Evolutionstheorie dabei eine Mir scheint dabei nicht die volle Potentialität in Rechnung gestellt, die in der
Rolle spielt, wird im folgenden nicht ganz unbeachtet bleiben. Sprache liegt und die Sprache befähigt, mit dem, was man Vernunft nennt,
Es besteht wohl kein Zweifel, daß Sprache nicht nur als Wortsprache, jeweils Schritt zu halten.
sondern als Kommunikationsform gesehen werden muß. Das bedeutet, daß Eine zentrale Stelle, die wir bei Aristoteles über die Universalität der
ein weiter Begriff von Sprache neben einen engeren zu stehen kommt. Sprache lesen und die in außerordentlich perspektivenreicher Weite dazu
Sprache meint im weiteren Sinne alle Kommunikation, nicht nur Rede, Stellung nimmt, ist die berühmte Definition des Menschen im Zusammen-
sondern auch alle Gestik, die im sprachlichen Umgang der Menschen mit- hang der Aristotelischen >Politik<2. Da ist es bekanntlich so, daß der Mensch
spielt. Nun gibt es die sogenannten Tiersprachen. Doch das ist ein eigenes das vernünftige Lebewesen, das >animal rationale<, genannt wird. So lernte
Thema. Dagegen ist es mir besonders wichtig, die Zwischenform zu beach- man es auch im philosophischen Unterricht, und ich erinnere mich, wie ich
ten, die ohne Zweifel eine Kommunikationsform von eigenem Typus ist, dreiundzwanzig Jahre war und zum ersten Male durch Heidegger die Augen
die Sprache, die der Mensch mit Tieren redet und die bei gewissen domesti- dafür geöffnet bekam, daß es außerordentlich irreführend ist, an der Aristo-
zierten Tierarten irgendwie verstanden wird. Im Zentrum meiner Überle- teles-Stelle >Logos< mit >rationale< zu übersetzen und den Menschen als das
gungen wird aber selbstverständlich die Wortsprache stehen. Vernunftwesen zu definieren. Der Zusammenhang der Stelle ist ganz ein-
Bereits eingangs möchte ich eine Bemerkung machen, die in gewissem deutig. Es ist davon die Rede, daß die Natur bei den Vögeln so weit
Sinn schon darauf hinweist, daß Sprache ihre Grenzen hat. Ich meine den gekommen ist, daß sie sich mit Signalzeichen gegenseitig Gefahr oder auch
Zusammenhang zwischen Sprache und Schrift, und dabei ist alle Art von Futter anzeigen. Beim Menschen dagegen sei die Natur einen Schritt weiter
Schriftlichkeit gemeint. Es muß natürlich nicht Buchstabenschrift sein, es gegangen. Sie habe ihm den >Logos< gegeben, das heißt die Möglichkeit,
kann auch Silbenschrift sein, es kann auch Bilderschrift sein. Aber daß es etwas durch Worte zu zeigen. Die Rede kann etwas vorstellen, vor uns
überhaupt möglich ist, Sprache in Schrift zu übertragen oder der Sprache stellen, wie es ist, auch wenn es nicht gegenwärtig ist. Dann aber fährt dieser
etwas durch Schrift nachzuschreiben oder >vorzuschreiben^ weist auf eine
Art Selbsteinschränkung hin, die dem sprachlichen Ausdruck unseres Den- 1
De Sensu 1,437a 5 .
2
kens auferlegt ist. Wir haben es wie im Gespräch mit einem Gegenüber zu Pol. A 2, 1253 a 9.
An den Grenzen der Sprache Grenzen der Sprache 353
352
bedeutende Satz des Aristoteles fort, daß damit die Natur uns den Sinn fur riode auf diesem Planeten eröffnen. Es ist, wie ich meine, ein reiner Zirkel,
das Zuträgliche gegeben hat — und fur das Gerechte. Auch wenn wir uns wenn sich die Evolutionstheorie zur Erkenntnistheorie ausweiten will. So
bewußt sind, daß die Stelle im Zusammenhang der Aristotelischen Vorle- läßt sich Erkenntnis nicht als Erkenntnis rechtfertigen, und man irrt sich,
sungen über die Politik steht, ist es doch im ersten Augenblick rätselhaft, wie damit der Konsequenz Nietzsches ausweichen zu können, daß menschliche
das alles zusammenhängt, und wir. werden es genauer bedenken müssen. Erkenntnis als Erhaltungs- und Steigerungsbedingung des Willens zur
Macht überhaupt nichts mehr über das Sein der Dinge und die Wahrheitsfra-
Zunächst steckt darin - wie auch der Text andeutet - der Sinn fur Zeit. Es
ge auszusagen hat.
ist überzeugend und im griechischen Wort fur das Zuträgliche (συμφέρον)
ganz deutlich, daß man nicht nur das, was einem selber im Augenblick Betrachten wir das Aristoteles-Zitat etwas genauer. Da sehen wir einen
gefällt, wählen kann, sondern gerade auch etwas, was für die Zukunft etwas eigentümlichen Übergang, nämlich von der tierischen Kommunikation
durch Signale zu einem Offenlegen des >Zuträglichen<, das heißt zu einer
verspricht. Das ist die Art, wie wir Mittel wählen, z.B. eine schlecht
Beziehung auf anderes, von dem wir annehmen, daß es sich so und so
schmeckende Medizin, wenn wir gesund zu werden hoffen. Aber was ist
verhält. Das ist ein schöner Ausdruck der deutschen Sprache: »die Sache
nicht schon alles darin gelegen, daß wir Mittel wählen. Hier werden Vorzü-
verhält sich so und so«. Es liegt darin, daß wir sie so nehmen und zu nehmen
ge und Nachteile gegeneinander abgewogen. Darin ist schon Distanz vor-
haben, wie sie sich von sich selber her verhält. Darin liegt abermals Distan-
ausgesetzt. Man muß sich vorstellen, was im einen, was im anderen Falle
zierung von uns selbst und von unseren Wunschillusionen. Es ist eine Art
daraus folgt, und man kann entsprechend das, was man so vor sich stellt,
Objektivierung, die uns von der Natur nicht so sehr geschenkt als von der
auch anderen in solcher Weise mitteilen.
Realität abverlangt wird und bei der man durchaus noch nicht an die neuzeit-
In gewisser Weise ist dieses Zeugnis auch ein Zeugnis für die Evolutions-
liche Experimentalwissenschaft denken muß. Vielmehr ist solche Distanz
theorie. Es steht geradezu da: »Die Natur ist so weit gekommen - bei den die Voraussetzung, unter der der Mensch zu der besonderen Leistung gegen-
Vögeln, bei den Menschen. . .« Es ist freilich weit mehr als eine Evolutions- über der Wirklichkeit fähig geworden ist, nicht nur sich etwas vorzustellen,
theorie, sofern dieses Gegenwärtighaben, das uns die Sprache gewährt, von sondern auch sich im voraus etwas vorzustellen. Das bedeutet den Sinn für
Aristoteles als die letzte Perfektion in der Entwicklung des Lebendigen Zeit, den Sinn fur das Nichtgegenwärtige, für das Vorzügliche, um dessen
durch die Natur gesehen ist. Das drückt sich nicht zuletzt in der Theologie willen ich Mittel wähle - auch solche, die mir nicht sofort gefallen.
des Aristoteles aus, in jenem Begriffe des Göttlichen, den Aristoteles von der
Selbstvergegenwärtigung aus beschreibt, die im Denken als seine besondere
All das läßt sich nun von einem weiteren Begriff des Aristoteles aus nicht nur
Möglichkeit gelegen ist.
verdeutlichen, sondern in seiner kulturstiftenden Bedeutung begreifen. Es
Hier hat die moderne Evolutionstheorie doch wohl eine völlig andere
geht dabei um den Übergang vom >homo faben zum >animal politicum<. Es
Perspektive. Gerade die Evolutionstheorie darf das nicht vergessen, wenn
handelt sich um den Begriff der >Synthëke<. In einer allerdings irreführenden
sie jetzt versucht, eine Erkenntnistheorie auf ihrer eigenen Voraussetzung
Übersetzung ist das >Konvention<. In Wahrheit ist es der Vollsinn von
aufzubauen und damit erkenntnistheoretische Fragen in einem neuen Lichte
Sprache und die volle Menschlichkeit des Lebens, die sich durch diesen
zu sehen. Wenn die Evolutionstheorie konsequent ist, dann muß sie sich der
Ausdruck bestimmt. Da sagt nämlich Aristoteles, Sprache sei eine Form des
Folgerung stellen, daß sich unser Organismus — und damit die Erkenntnis-
Bezeichnens und des Mitteilens, die nicht von Natur ist, sondern aufgrund
und Handlungsfähigkeiten der menschlichen Rasse - in Anpassung an die
von Übereinkunft3. So wenig wie in Rousseaus Staatstheörie ist hier natür-
Lebensbedingungen unserer Erde entwickelt hat, die in Gestalt des Mensch-
lich von einer wirklichen Übereinkunft, die getroffen wird, die Rede. Im
heitswissens und der abendländischen Wissenschaft ungeheuere Erfolge
Fall der Sprache wäre das nicht nur ein Zirkel, sondern ein offenbarer
gezeitigt hat. Aber gerade unter diesem Gesichtspunkt kann es nicht als
Widersinn, daß man sich abspricht, so und so zu sprechen. Wir kennen
unmöglich angesehen werden, daß die Unspezialisierung, die die Auszeich-
genug das Zerrbild von Sprache, das bei solchen Sprachregelungen heraus-
nung des Lebewesens Mensch sein soll und ihm seine einzigartige Anpas-
kommt. Selbstverständlich ist das nicht gemeint. Durch den Ausdruck
sungsfähigkeit an die Lebensbedingungen auf der Erde verliehen hat, selber
>Syntheke< soll nur die Grundstruktur dessen, was sprachliches Verstehen
eine Spezialisierung ist, die es in eine Sackgasse führt. Sie könnte dazu
und sprachliche Verständigung ist, bezeichnet werden: Übereinkommen.
fuhren, daß wir uns vor lauter Verstand umzubringen lernen und am Ende
vielleicht einer neuen Spezies, vielleicht den Delphinen oder irgend einem
3
anderen Lebewesen aus den Ozeanen (oder den Ratten), eine neue Lebenspe- De Int. 2, 16a 27; 4,17a t .
354 An den Grenzen der Sprache Grenzen der Sprache 355

Dafür gibt es in der Aristotelischen Logik eine wunderbare Stelle4, die Doch das gilt allgemein. Es sind überhaupt die Dichter, die von der
sicher auch Herder gekannt hat und die ich oft zitiere. Im Kapitel über die Flexibilität des sprachlichen Vermögens jenseits der Regeln, jenseits der
sogenannte Induktion schildert Aristoteles, wie sich aus Wahrnehmungen, Konvention Gebrauch machen und doch auch noch innerhalb der Möglich-
die sich häufen und die wir in der Erinnerung festhalten, Erfahrung ergibt, keiten, die die Sprache selbst anbietet, Ungesagtes zum Sprechen zu bringen
und von da aus der Übergang zu allem Wissen und allen Fertigkeiten. Wenn wissen. Wenn wir an diese Sonderfälle, das Kind und das Genie, denken,
sich nun Aristoteles fragt, wie dieser Obergang eigentlich zu denken ist, dann wird uns bewußt, wieviel wir als menschliche Gesellschaft für die
durch den aus vielen Einzelheiten das Wissen von Allgemeinem zustande- Einformung in dieselbe zu zahlen haben. Da artikuliert sich eine wohlver-
kommt, bringt er folgenden Vergleich. Es ist wie bei einem fliehenden Heer, traute und einen wahren Schatz darstellende Erfahrung im Sprechenlernen
alle rennen in Panik davon. Schließlich bleibt einer stehen und schaut sich um, selbst. Das ist eine durchaus wandlungsfähige Weltorientierung. Ich habe in
ob der Feind ihnen noch nahe aufden Fersen ist. Und dann bleibt vielleicht ein meiner Kindheit noch >Walfische< sagen gelernt. Heute sagt jeder Mensch
anderer stehen, und ein dritter. Wenn einer stehenbleibt, ist das noch nicht das >Wale<. Es hat sich in unser aller Bewußtsein eingeprägt, daß das Säugetiere
Ende der Flucht, und auch nicht, wenn der zweite oder dritte stehenbleibt. und keine Fische sind. So wird die Sprache selber wieder Erfahrung berück-
Aber am Ende, man weiß nicht wie, kommt das Heer wieder zum Stehen. Es sichtigen. Im ganzen ist das aber doch eine eigentümliche Doppelgerichtet-
kommt die Flucht zum Stehen. Der Ausdruck ist: die > Archê< wird wiederher- heit unseres kreativen Vermögens. Einerseits sind wir zu Verallgemeinerun-
gestellt, die Einheit des Kommandos. Alle gehorchen wieder der Führung. gen und Symbolisierungen fähig, wie sie im Wunder der Wortsprache
Das ist die Beschreibung eines Anfangs ohne Anfang. besonders eindrücklich am Tage liegen, und doch ist dieses sprachbildneri-
Schon im Altertum ist zu dieser Stelle durch Themistios das Sprechenler- sche Vermögen gleichsam in Schranken geschlossen, die es sich selbst auf-
nen des Kindes herangezogen worden, und in der Tat sollte man auf diesen richtet. Es verpuppt sich gleichsam, ohne je wie der Schmetterling die Flügel
Zusammenhang zwischen Sprach- und Begriffsbildung achten. Der Begriff wieder zu regen.
der >Synthêke<, des Übereinkommens, enthält zunächst, daß Sprache sich im
Miteinander bildet, sofern sich da Verständigung entwickelt, durch die man Wir nähern uns damit der Frage der >Grenzen der Sprachen Es ist ja nicht nur
zu Übereinkünften kommen kann. Dieses Übereinkommen ist von außeror- die Abhebung der Sprache gegen das Vorsprachliche, die sich in unseren
dentlicher Bedeutung. Es liegt in ihm kein erster Anfang, sondern es ist Betrachtungen gezeigt hat. Wir sollten auch das Nebensprachliche nicht
geradezu im Wortsinn des deutschen Ausdrucks ein Zusammenkommen, ein ganz außer Acht lassen. Ich meine etwa: Was ist das Lachen? Aristoteles hat
Kontinuum des Übergangs, der das Leben der Menschen von der Familie, der zwei Definitionen des Menschen gegeben. Er ist demnach das Lebewesen,
kleinen Wohn- und Lebensgruppe, bis zu der schließlichen Entfaltung einer das Sprache hat, und das einzige Lebewesen, das lachen kann5. Nicht ohne
Wortsprache in größeren sprachlichen Gemeinschaften führt. Grund. Beide Definitionen haben offenbar eine gemeinsame Wurzel, die der
Wendet man die logische Beschreibung der Bildung von Allgemeinbegrif- Distanz zu sich selber. An der Sprache hatten wir das als die Fähigkeit
fen in dieser Weise auf die Sprache an, dann wird einem gewiß deutlich, wie kennengelernt, eine Annahme zu machen, etwas vorzustellen, ohne an es
der Fluß der Erscheinungen, in dem man etwas behält, die erste Vorausset- ausgeliefert zu sein, sondern es so vorzustellen, daß wir über es nur nachden-
zung für das Denken des Allgemeinen ist. So wie Herder das mit dem Blöken ken. Auch im Lachen ist eine eigentümliche Form der Selbstdistanzierung
der Schafe schildert, dassichim Gedächtnis festsetzt. Darin liegt das Besonde- gelegen, in der die Wirklichkeit ihren Wirklichkeitsdruck für einen Augen-
re des sprachbildenden Vermögens überhaupt, das merkmalhaft Bedeutsame blick verliert und zum Schauspiel wird (Bergson, Plessner). Das Lachen
herauszuhören. Das heißt aber, Bildung von Allgemeinem bedeutet auch eine scheint mir ein Nebensprachliches zu sein und nicht, wie die sonstigen
Selbstbeschränkung des eigenen SpielVermögens. Wir müssen uns eingeste- Formen tierischer Kommunikation, ein Vorsprachliches. Wer lacht, sagt
hen, daß ein dreijähriges Kind im Umgang mit der Sprache sehr viel reicher etwas. Tiere lachen nicht. Auch wenn es gewiß Lachtauben gibt, wären sie
und genialer ist als jeder Erwachsene. Gewiß gibt es ein paar Riesenkinder des doch ein schlechtes Argument. Wir fragen also, was dieses Nebensprachli-
Geistes, wie Goethe etwa, dessen Sprachschatz heute in lexikalischer Aufar- che wie das Lachen, das so eng mit dem Sprachlichen selber verknüpft
beitung aufgenommen wird und der in einer Unzahl von Bänden einen scheint, eigentlich ist. Was wir am kleinen Kind sehen, ist ja gerade die
enormen Reichtum sprachlicher Vielfalt aufweist. innere Beziehung zwischen der Entwicklung des Säuglings zum kommuni-

• An. Post. Β19,100a , 2 . De Part. An. Γ10, 673 a 8, 28·


356 An den Grenzen der Sprache Grenzen der Sprache 357

kativen Wesen, zum Lachen und zum Sprechen. Was geht da vor sich? Was meldet und was schließlich zum gemeinsamen Aufbau von Verständigung
ist das fur ein Übergang, der uns so aufregt? Wie ist das möglich, daß aus den und zum >Verstehen< der Welt fuhrt. Das Geschehen, das den Graben
imitativen Artikulationsspielen, dem Lallspiel des Säuglings und dem Ant- zwischen der noch nicht semantisch artikulierten Form der Kommunikation
wortspiel mit der Mutter, schließlich das Bedeutungshafte von Wortbildun- und der Wortkommunikation überbrückt, ist das Spiel. Das scheint mir eine
gen sich freiringt und festmacht? Art vorsprachlicher Dialog zu sein. Schon das Spiel des Säuglings mit seinen
Mir scheint es ein wenig irreführend, wenn man diese Probleme an eigenen Fingern und Bewegungen, erst recht das Spiel, das den anderen
Beispielen expliziert wie dem, wo ein Kind mit Hilfe seiner Mutter das Wort meint.
>Ball< lernt. Das hätte es auch ohne die Hilfe der Mutter gelernt. Es war auf Hierhin gehört als ein Übergangsglied zweifellos die Autonomie der
gutem Wege, sprechen zu lernen. Ich bin nicht so ganz überzeugt, daß es Prosodie. Das Überwiegen des prosodischen Elements, des melodischen
richtig ist, solcher rührender Bemühung der Mutter in unserer Welt Bedeu- Elements, lange bevor die Artikulation in semantische Elemente überhaupt
tung zuzusprechen. Daß das in der sogenannten heilen Welt, von der wir so mithineinspielt, zeigt sich deutlich an der Sprache mit dem Haustier. Das
heimwehtrunken sprechen, der Fall war, mag gewiß als Material für den domestizierte Tier versteht, angesprochen, weil es den prosodischen Aspekt
Forscher von heute von besonderem Werte sein, weil sich dort die Dinge mit realisiert und weiß, ob man es zum Fressen einlädt oder ihm versichert, daß
den modernen Beobachtungsmitteln objektivieren lassen. Aber das Er- es nichts mehr gibt. Die ganze Sphäre kommunikativen Austausches ist
staunliche an der menschlichen Natur, aus der wir sozusagen hervorgegan- offenbar von prosodischer Struktur mitgetragen und wird immer noch
gen sind, ist doch, daß selbst in unserer so verfremdeten und entfremdeten weiter dadurch mitgetragen, solange gesprochen wird. Das bedeutet für das
Welt, in der etwa Eltern hochdeutsch zu Kindern reden und nicht ammen- Vorsprachliche, daß es im gewissen Sinne immer schon auf das Sprachliche
deutsch, die Kinder gleichwohl zu ihren schönsten Abstraktionen selber hin unterwegs ist.
fähig werden. <t Ich glaube nicht, daß hier der Rekurs auf die Tiersprache von besonderer
Ich erinnere mich einer kleinen Beobachtung, die ich einmal bei einer Aufschlußkraft ist. Gewiß kann man sagen, dort ist alles genetisch vorpro-
meiner Töchter machte. Ich las Zeitung. Das Kind muß so zweieinhalb Jahre grammiert, was im Verhalten einer Tierfamilie oder überhaupt von Tieren
gewesen sein - und deutet plötzlich mit dem Finger auf den Annoncenteil der gleichen Spezies miteinander vor sich geht. Die Grasmücke hat ihren
mit dem Ausdruck: »Meck-Meck! « Erst wußte ich gar nicht, was sie meinte. Gesang und die Amsel einen anderen. Bei uns ist eine andere Art von Freiheit
Dann sehe ich, da war eine Reklame für das Bock-Bier, wo ein Ziegenbock am Werke, die sich nicht zuletzt in der babylonischen Sprachverwirrung
sehr stilisiert abgebildet war. Das Kind hatte den abstrakten Bock besser zeigt, in der sich menschliche Sprachgemeinschaften selbständig gegenein-
erkannt als ich. Solche Abstraktionsleistungen stellen in einem erwachenden ander entwickeln. Schließlich lernen auch Vögel viel voneinander und Men-
Kinderbewußtsein den großen ersten Schritt dar, und ich bin im Grunde schen oft nicht mehr als Papageien. So bin ich nicht ganz sicher, ob die
zuversichtlich, daß meine Zuwendung zu dem Kinde auch von ihm aus der Flexibilität des Vermögens, um das es sich hier handelt, sich nicht noch
wohlklingenden Prosodie meines Hochdeutsch herausgehört^worden ist. So weiter ausdehnt und daß man vielleicht sagen sollte, daß die ganze vor-
habe ich als Vater nie versucht, mich auf das Ammendeutsch einzulassen, sprachliche Sphäre sprachgerichtet ist, sofern sich in ihr ein Prozeß der
und bin nicht sicher, ob das wirklich ein Mangel war. Ich glaube, daß auch Artikulation schon anzeigt, der sich beim Menschen schließlich entfaltet.
meine Mutter, die ich sehr früh verloren habe und die sehr krank war, kaum Das hat in meinen Augen Folgen fur den BegrifFder Sprache selber und ihren
auf diese Weise mit mir zu kommunizieren versucht hat, und ich habe doch Abstand von dem künstlichen Code. Es ist eine unbegrenzte Offenheit für
noch Deutsch gelernt. Weiterbildung, die in der Sprache liegt. Keine Sprache ist das Regelsystem,
Aber es ist ein ernsteres Problem hinter diesem Scherz. Wie sieht die das der Schulmeister im Kopfe hat oder das der Grammatiker abstrahiert.
Kommunikation aus, die im Sprechenlernen vor sich geht? Sie kann ja noch Jede Sprache ist ständig auf dem Wege, sich zu verändern. Es mag zwar sein,
nicht Sprechen sein. Es ist ohne Zweifel ein Sich-Einspielen-miteinander. daß unsere Sprachen sich in ihrer grammatischen Struktur abschleifen,
Der Erwachsene ist selbstverständlich in gewissem Sinne im Besitz eines während sie sich im Vokabular bereichern. Doch wird sich wohl auch in
vollen Sprachvermögens, und das Kind hat das noch nicht. Aber auf der einer sich abschleifenden Grammatik immer noch etwas von dem prosodi-
anderen Seite ist ein wirkliches Kommunizieren doch nur möglich, wenn es schen Reichtum bewahren, der im Sprechen liegt.
sich immer schon um ein echtes Spiel von Frage und Antwort, Anwort und Es wird so sein wie bei allen Dingen in unserer der Gleichmachung durch
Frage handelt. Das ist es, was sich hier in einem Vor-Wortstadium bereits die industrielle Revolution ausgesetzten Welt. Eine schärfere Trennung
358 An den Grenzen der Sprache Grenzen der Sprache 359
zwischen einer Massengesellschaft und wenigen, eigentlich kreativen Bega- für die Brauchbarkeit seiner Aussage geschützt werden. Aber das ist offen-
bungen, die zugleich ein Nebeneinander ist, scheint unausweichlich herauf- kundig ein hermeneutisches Problem von hoher Verwicklung. Dem Zeu-
zukommen. So wird wohl auch eine Gesellschaft, die technisch noch weit gen kann dabei nicht wohl sein, dem entscheidenden Gericht ist leicht zu viel
über unsere fortgeschritten ist, am Leben bleiben können, weil sich die aufgetragen.
Anpassungstalente und die kreativen Neuerer in immer neuen Verhältnissen Ähnlich steht es mit dem Zitieren von Worten. Nichts ist ja so geduldig
ausbalancieren. Auf der anderen Seite wird man gerade, was das Vokabular wie aus dem Zusammenhang gerissene Zitate. Manche haben ein richtiges
unserer Sprache betrifft, nicht blind dagegen sein dürfen, daß die Zwischen- eigenes Leben als Redensart gewonnen, zum Beispiel »Ich kenne meine
instanz der Computerwelt, die unsere Schriftsprache beherrschen wird, dem Pappenheimer«. Bei Schiller sagt Wallenstein es in vermeintlicher Freude,
Wortreichtum möglicher Verständigung mit Sicherheit enge Grenzen setzt, weil er sie für tapfer und treu hält. Das Wort hat im heutigen Gebrauch einen
so daß wir hier gleichsam zu einem Code kommen, der für das sprachliche ganz ironischen Sinn erhalten.
Vermögen eine Barriere aufbaut und seine erstarrte Regelform mit Maschi- Wir sehen an den Beispielen, welche prinzipielle Grenze eine Aussage hat.
nengewalt erzwingt. Sie kann nie alles sagen, was zu sagen ist. Wir könnten dem auch die Form
geben, daß alles, was sich uns zu einem Gedankenzusammenhang in uns
Zuletzt möchte ich als Grenze der Sprache das Übersprachliche nennen, die bildet, im Grunde einen unendlichen Prozeß einleitet. Ich würde vom her-
Grenze zum Ungesagten und vielleicht gar zum Unaussprechlichen. Dafür meneutischen Standpunkt aus sagen, daß es kein Gespräch gibt, das zu Ende
gehe ich von dem aus, was wir die Aussage nennen6. Ihre Grenze war wohl ist, bevor es zu einem wirklichen Einverständnis geführt hat. Vielleicht muß
das Schicksal unserer abendländischen Zivilisation. Unter der extremen man hinzufügen, daß es deswegen im Grunde kein Gespräch gibt, das
Bevorzugung der >Apophansis<, der Aussage, hat sie eine ihr entsprechende wirklich zu Ende ist, da ein wirkliches Einverständnis, ein ganz vollständi-
Logik entwickelt. Es ist die klassische Urteilslogik, die auf den Urteilsbe- ges Einverständnis zwischen zwei Menschen, dem Wesen der Individualität
griff gestützte Logik. Die Bevorzugung dieser Form des Sprechens, die nur widerspricht. Daß wir in Wahrheit kein Gespräch wirklich bis zu Ende
einen Aspekt innerhalb der reichen Vielfalt sprachlicher Äußerungen dar- führen und oft nicht zum Einverständnis kommen, das sind Begrenzungen
stellt, bedeutet eine besondere Abstraktion, die ihre Wichtigkeit für den unserer Zeitlichkeit und Endlichkeit und Voreingenommenheit. Die Meta-
Aufbau doktrinaler Systeme bewiesen hat, etwa fur die Monologe der physik redet von dem aristotelischen Gott, der all das nicht kennt. Die
Wissenschaft, die am Lehrsystem Euklids ihr Vorbild anerkennen. Da müs- Grenze der Sprache ist also in Wahrheit die Grenze, die sich in unserer
sen es Aussagen sein, die man logisch kontrollierbar machen kann. Wenn Zeitlichkeit, in der Diskursivität unserer Rede, des Sagens, Denkens, Mit-
man aber zum Beispiel als Zeuge vor Gericht geladen ist, muß man auch eine teilens, Sprechens vollzieht. Plato hat das Denken das innere Gespräch der
Aussage machen. Dieselbe wird dann protokolliert, und man muß das Seele mit sich selbst genannt. Hier wird die Struktur der Sache ganz offen-
Protokollierte, das man da gesagt hat, unterschreiben. Ganz ohne den leben- kundig7. Es heißt Gespräch, weil es Frage und Antwort ist, weil man sich so
digen Gesprächszusammenhang wird es fixiert. Ich: kann nicht bestreiten, fragt, wie man einen anderen fragt, und sich etwas sagt, wie einem ein
daß ich das Protokollierte gesagt habe. Ich kann also die Unterschrift nicht anderer etwas sagt. Schon Augustin hat auf diese Redeweise hingewiesen.
verweigern. Aber in welchem Redezusammenhang das stand, in welchem Jeder ist gleichsam im Gespräch mit sich selber. Auch wenn er im Gespräch
Beweiszusammenhang das zwecks Urteilsfindung und Urteilsbegründung mit anderen ist, muß er im Gespräch mit sich selbst bleiben, soweit er denkt.
auftrat, kann ich als armer Zeuge überhaupt nicht mehr beeinflussen. Das
Die Sprache vollzieht sich also nicht in Aussagen, sondern als Gespräch,
Beispiel zeigt besonders deutlich, was eine Aussage ist, die aus ihrem prag-
als die Einheit von Sinn, die sich aus Wort und Antwort aufbaut. Erst darin
matischen Zusammenhang gelöst ist. Es gibt gute Gründe, daß man das im
gewinnt Sprache ihre volle Rundheit. Das gilt vor allem für die Wortspra-
Gerichtswesen so machen muß. Wie könnte man sonst überhaupt zu unbe-
che. Aber sicherlich gilt es auch für die Sprache der Gesten, der Sitten und
einflußten Aussagen über Tatsachen gelangen. Dafür ist nötig, daß der
Ausdrucksformen verschiedener einander fremder Lebenswelten.
Zeuge über die Fragepunkte und Ungewißheiten möglichst uninformiert
Am Phänomen der Fremdsprache ist es besonders deutlich. Die Griechen
ist. Wenn einer ein bißchen schlau ist, fragt er sich doch bei jeder Frage, was
haben in ihrem relativ begrenzten Kulturhorizont und in ihrem relativ
die eigentlich wissen wollen. Daher muß die Uninformiertheit des Zeugen
unbegrenzten Kulturstolz gegenüber allen anderen Völkern als Ausdruck
6 7
Siehe dazu auch >Sprache und Verstehe» in Ges. Werke Bd. 2, S. 192ff. Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 368ff.
An den Grenzen der Sprache
Grenzen der Sprache 361
360
für das Sprechenkönnen >hellenizein< gebraucht. Das heißt fur sie reden. oder verbietet Sprache etwas, was man nicht eigentlich weiß und wissen
kann, solange man nicht die volle Sprachkompetenz besitzt. Das Regelsy-
Andere Völker reden in ihren Augen überhaupt nicht wirklich. Sie bringen
stem einer Grammatik ist eben nicht vollkommener als ein Gesetzbuch, das
nur eine Art Rhabarber zusammen, und deswegen heißen sie Barbaren. Das
so gerecht wie möglich sein möchte. Hier zeigen sich Grenzen, die das
ist ein lautmalerisches Wort, das unterstellt, daß solche Menschen gar nicht
Sprachvermögen für den unerreichbar macht, der die Sprache als Regelsy-
wirklich sprechen, daß sie gar keine Sprache haben. Das ist gewiß nicht
stem konstruieren möchte.
mehr unsere Art. Aber auch für uns bleibt die Fremdsprache eine eigentüm-
Endlich sei auf das tiefste der Probleme hingewiesen, die der Grenze der
liche Grenzerfahrung. In der tiefsten Seele des einzelnen Sprechers wird es
Sprache wesenhaft eingeboren sind. Ich fühle es nur dunkel, was in anderen
wohl nie ganz überzeugend, daß andere Sprachen ihm wohlvertraute Dinge
Bereichen der" Forschung - ich denke vor allem an die Psychoanalyse —
anders nennen, etwa für den Deutschen, daß das, was ein Pferd ist, auch
bereits eine große Rolle spielt. Es ist das Bewußtsein, daß jeder Sprechende
>horse< heißen kann. Da scheint doch etwas nicht richtig.
in jedem Augenblick, in dem er das richtige Wort sucht - und das ist das
Für uns alle aber gilt das, wo es sich um Übersetzung handelt8. Da ist
Wort, das den anderen erreicht -, zugleich das Bewußtsein hat, daß er es
Poesie, das lyrische Gedicht, die große Instanz für die Erfahrung der Eigen-
nicht ganz trifft. Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an
heit und der Fremdheit von Sprache. Es gibt nicht so sehr Grade der
dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefaßt den anderen erreicht.
Übersetzbarkeit von Sprache zu Sprache als Grade der Unübersetzbarkeit. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort - das ist es wohl, was
Es ist die Verzweiflung jedes Übersetzers im Anfertigen von Übersetzun- das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht. Hier zeigt sich ein
gen, daß es zu den einzelnen Ausdrücken der fremden Sprache keine korre- enger Zusammenhang zwischen der Unerfüllbarkeit dieses Verlangens, des
spondierenden Ausdrücke gibt. Die reine Korrespondenztheorie ist offenbar désir (Lacan), und der Tatsache, daß unsere eigene menschliche Existenz in
falsch. Wir haben hier eine Grenze anzuerkennen. Allerdings würde ich der Zeit und vor dem Tode vergeht.
sagen, es ist eine Grenze, die sich immer wieder ein paar Schritte weit
überschreiten läßt und immer besseres Gelingen verspricht. Das würde ich
auch für den Versuch in Anspruch nehmen, das, was ein anderer gedacht hat
und •was in einem anderen Sprachkleide vor uns steht, als Wort oder als Text,
in der eigenen Sprache sagen zu können. Übersetzer bleiben freilich zumeist,
auch dann, wenn es sich nicht um den Extremfall dichterischer Worte
handelt, ermattet auf dem halben Wege stehen. Es ist eben ein unendlicher
Prozeß, die Umbildung des Sprachgefühls und des Sprachinhalts des frem-
den Sprechers in das Sprachgefühl und die Sprachinhalte der eigenen Spra-
che zu leisten. Es ist ein nie ganz vollendbares Selbstgespräch des Überset-
zers mit sich selbst. Ebenso ist es für den, der eine fremde Sprache gebraucht.
Dieselben Worte oder ganz verwandte Worte können in einem fremd-
sprachlichen Zusammenhang ganz anderen Stellenwert besitzen. Je besser
einer die Zielsprache, wie wir sagen, spricht, desto weniger wird er die
bloßen Annäherungen der Wiedergabe ertragen können, die ihm in den
sogenannten Übersetzungen begegnen.
Auch in dem begrifflichen Vokabular der modernen Linguistik zeigt sich
die gleiche Grenze. Die Forscher selber haben die Regelsysteme, die sie zu
erkennen und zu entwickeln suchen, durch den Begriff der Sprachkompe-
tenz ergänzen müssen, das heißt durch etwas, was wir nicht mehr durch
Beschreibung von Regelrichtigkeit definieren können, sondern was über
jede mögliche Regelgerechtigkeit hinausweist. Hier erlaubt Sprache etwas
8
Ausfuhrlicher dazu im vorangehenden >Lesen ist wie Obersetzen« (Nr. 24).
Musik und Zeit 363

des Seins genannt hat? Die Naturforscher können es kaum begreifen, warum
die so hilfreichen Symbolsprachen manchem anderen gar nichts helfen, ja,
oft nur die zusätzliche Aufgabe stellen, die Formelsprache in Wort und
BegrifFzurückzuübersetzen, bis sie den Schein der Eindeutigkeit verliert.
Wie ist es nun mit der Musik, mit der Sprache der Töne? Und wie ist es
33. Musik und Zeit mit der Musik der Sprache? Beides kann wie Gesang sein und wird oft auch
so genannt. Wo es >wirklich< Gesang ist, da ist es ein Zusammenspiel von
Ein philosophisches Postscriptum Wortwelt und Tonwelt, ein Spiel zwischen zwei Welten. Es ist wohlbe-
kannt, wie sich der Dichter und sein Leser nie ganz in dem wiederfinden und
(1988) Wiederhören, was das vertonte Gedicht geworden ist. Goethe hat die Verto-
nung minderer Komponisten den Liedwundern Schuberts vorgezogen, und
die >Poesie< der Textbücher der großen Opernkunst gehört vollends nicht
der Weltliteratur an. Ist, wie die der Mathematik, die Welt der Töne wirklich
Wenn es die Sache der Philosophie ist, menschliches Denken und Trachten
eine so ganz andere Welt als die durch die Naturlaute der menschlichen
und Fragen auf den Begriff zu bringen und das Selbstverständliche zu neuer
Sprache gedeutete Welt?
Verständlichkeit zu erheben, so umfaßt diese Aufgabe fast alles. Doch mag
es weniges geben, was solchem Unternehmen ein so unüberschreitbares Im Grunde spüren wir an dem Sonderfall des erwähnten Zusammenspiels
Halt gebietet, wie in diesem Falle. Wo Sprache überall mitgeht und voran- von Wort und Ton in der Liedkunst und in der Opernkunst, daß dieses
geht, mag es dem Begreifen der Begriffe gelingen, manche Schranken zu Zusammenspiel verschiedener Welten auf einen geheimen Grund von Ge-
übersteigen. Aber zwei große Rätsel, die uns martern, die dem Philosophie- meinsamkeiten zurückdeutet. Dieser verborgene Grund tritt in manchen
Erscheinungen der abendländischen Musik deutlich hervor, so im gregoria-
ren immer wieder aufgegeben werden, ohne Lösungswege sehen zu lassen,
nischen Choral und seiner Ausdeutung durch die flämische Polyphonie, in
liegen eben dort, wo Sprache nicht vorangeht, sondern zurückbleibt.
dem wortsprachlichen StO der Musik von Heinrich Schütz. Diese Erschei-
Das ist besonders auf zwei Feldern unserer europäischen Kulturwelt auf
nungen haben vor allem Georgiades inspiriert, und manchmal scheinen mir
unzweideutige Weise der Fall, im Bereich der Musik und im Bereich der
auch Hugo-Wolf-Lieder so zu sein, daß ein Liebhaber Mörikescher Gedichte
Mathematik. Beide sind einander von den Anfängen her nachbarlich ver-
diese gar nicht von dem Duktus Hugo Wolfs lösen kann. Im ganzen scheint
wandt und fast untrennbar, damals bei den Pythagoreem wie heute. Das
sich jedoch im dichterischen Worte etwas gegen die Verschmelzung von
Rätsel der Zahlen, die nirgendwo sind als in unserem denkenden Tun, legt
Musik mit der Sprachmelodie des Gedichtes zur Wehr zu setzen, auch wenn
sich uns auf wie eine unabhängige Wirklichkeit, die von unserem Belieben
man sich der nicht minder hohen Kunst des Liederkomponisten und der
ganz und gar unabhängig ist. Eben das läßt uns so ratlos sein. Unser Denken Autonomie der Tonwelt am Ende willig und dankbar beugt.
steht staunend vor dem, was das ist, das hier seinem eigenen Gesetz ge-
horcht. Wie die Zahlen ist der Raum und sind sogar die Räume, die wir uns Aber was ist das für eine Welt, was für ein aufzunehmendes Ganzes? Auch
wer mit dem Alphabet der Tonkunst nicht recht vertraut ist, spürt doch
nicht einmal vorstellen können, ventia rationis< und können doch im Welt-
deren Eigengesetzlichkeit - und er findet sie sehr anders als die mathemati-
raum der Sprache keinen Anhalt finden. Die symbolischen Zeichensysteme,
schen Formelspiele, die gewiß ihren eigenen Zauber haben. So frage ich
mit deren Hilfe sie sich artikulieren, führen auf ein geheimnisvolles Apeiron
mich: Ist die Sprache der Töne am Ende doch eine wirkliche Sprache, wie die
zu, mit dem menschliches Denken wohl überhaupt beginnt. Aber vor diesen
Sprache der Wortkunst? Gewiß wird ein jeder auch beim stillen Lesen von
Zeichensystemen weicht es ständig zurück. Für das Sprache begleitende und
Gedichten in Wahrheit >hören<, wenn auch in einer eigentümlich idealisier-
einen umfassenden Sinnraum erfüllende Denken, das Denken der Dichter
ten, unhörbaren Lautgebung1. Nun aber frage ich mich: Ist nicht vielleicht
und der in Begriffen Fortdenkenden, ist der Gebrauch dieser abstrakten
im >Musikmachen< ein ähnliches Hören im Spiel wie bei einem solchen
Zeichen und verabredeten Symbole wie eine Blendung, die das gewohnte
Lesen? Es bleibt ja wahrlich ein unüberbrückbarer Abstand zwischen der
Dunkel mehr verdeckt als erhellt. Sinn- und Klanggestalt, die man so lesend >hört<, und jeder hörbaren Lautge-
Gewiß, wir ahnen, daß diese Welt der Mathematik mehr ist als ein bloßes
Instrumentarium, mit dessen Zeichenhilfe man Begriffenes fixiert. Aber
Ausflihrlicher dazu in diesem Band >Stimme und Sprache< (Nr. 22).
was ist sie? Und was ist die andere Welt der Sprache, die Heidegger das Haus
An den Grenzen der Sprache Musik und Zeit 365
364
bung, auch wenn es die der eigenen Stimme ist. Es gilt, einen Text spre- weilen, bei dem nicht ein Jetzt, sondern die Zeit selbst eine Weile steht. Wir
chen zu lassen, vielleicht sogar vor anderen, den Zuhörern. Einen Text kennen das. Wer in etwas aufgeht, der vergißt die Zeit.
Manchmal will mir scheinen, daß hier das Rätsel der Musik und seine
sprechen zu lassen, das zu können, nennen wir Interpretation. Es scheint
Auszeichnung vor allen anderen Künsten sich ein wenig lichtet. Nichts zu
das gleiche, was der, der Musik macht, tut und was der Leser im verstehen-
sein als ein solches Zum-Stehen-Kommen im Vollzug selbst, das ist die
den Lesen tut. Musik, die wir >machen< und die als Musik da ist. Auch in den anderen
Hier kommt uns der Sprachgebrauch sehr zu Hilfe. Er warnt uns, denen Künsten wird zwar >Verstehen< die gleiche Zeitgestalt haben, und Wahrheit
zu folgen, die der Interpretation von Musik oder einer Aufführung eines wird auch dort im Vollzug bestehen. Aber es zieht nirgends so wie in der
Theaterstückes einen >sekundären< Sinn zusprechen, einen anderen als der Musik als das reine Ziehen vorbei. Anderswo ist immer etwas darin, das
Wissenschaft, die einen Text mit wissenschaftlichem Aufgebot >interpre- steht, sei es eine eindeutige Bedeutung von Worten oder der Sinn der Rede,
tiert<. Ist dieses Bemühen nicht in Wahrheit das Sekundäre, mehr wie das den man vernimmt. So ist es in der Dichtung, so auch in der Prosa des
Stimmen der Instrumente, damit alles >rein< herauskommt, und alsdann Gedankens. Selbst noch in der Folge von Tanzfiguren ist da noch ein Etwas,
wie das zusammenfassende Zusammenstimmen zu der Stimmung des Or- oder in der gegliederten Folge des Bildes, der Skulptur, des Bauwerkes. Daß
chesters in einer homogenen Klanggestalt? Hier wie dort ist, was heraus- nichts steht als das Ziehen selbst, das ist die Wahrheit des Vollzugs, der
kommt, niemals ganz wiederholbar. Ein lesender Hörer eines Gedichtes Musik ist. Wir nennen sie wohl Spiel. Aber - was ist dann Ernst?
wird es nie wieder ganz so lesen wie bei einem anderen Mal, auch wenn er Wenn man die europäische Musikkultur als eine Einheit betrachtet, mag
es immer >ganz< versteht. Was der begnadete Dirigent vollbringt - und im man sich fragen, ob eine so allgemeine Aussage ihre spezifische Eigenart
Prinzip jeder seiner Musiker (oder der Regisseur wie jeder Schauspieler) - , trifft und ob sie nicht die besondere Affinität schuldig bleibt, die Musik zur
sie können uns und den interpretierenden Wissenschaften am Ende nur ein Mathematik der Zahlen und der Maße besitzt. So hat die europäische Musik
Vorbild sein. Nicht in der Zwischenrede der Interpreten, deren Kommen- ihre reife Gestalt in der Wiener Klassik erreicht. Nun hat aber unser Jahrhun-
tare dickleibige Bände füllen, sondern im Sprechendwerden des Werkes dert wie in anderen Kunstarten, so auch in der Musik neue Impulse aus
selbst, das einem vorliegt, stellt sich das eigentliche Ziel des Verstehens anderen Kulturwelten in sich aufgenommen - man denke an die wilden
dar. Kein Interpret, welcher Art auch immer, sollte je anders dasein wollen Gewalten des Rhythmus und an die Reizwirkungen, die eine fremdartige
und anderes wollen, als in diesem Ziel zu verschwinden. instrumentale und vokale Klangrhetorik ausübt. Auch das freilich steigert
Aber wie macht er es denn, so im Vollzug aufzugehen? Der große das Wachsen und das Sinken aller Lebenspulse und ist selbst auf eine rätsel-
Künstler wird es wissen, wie jeder, der wirklich versteht, ob man da nun hafte Weise da und reißt uns mit. Wieder sind es Zeitgestalten. Nun muß es
einen Text versteht oder gar einen Anderen. Nicht zufällig kam mir das aber etwas bedeuten, daß gleichzeitig mit dem Einbruch solcher Musik, und
Wort >Vollzug< in den Sinn, ein wunderbares Wort, voll von dialektischer fast im Gleichschritt mit der Ausbreitung der europäischen Wissenschafts-
Spannung. Aller >Zug< ist ein Verlauf in der Zeit, und aller Verlauf in der kultur und der industriellen Technik, gerade die abendländische Musikkul-
Zeit läßt die durchlaufene Zeit hinter sich und läßt die Raumstelle leer, die tur eine •wahrhaft planetarische Ausbreitung erfahrt. Es wäre ein ganzer
einer soeben durcheilt hat. Interpretieren, das Verstehen ist, läßt dagegen neuer Fragenkreis, der sich in dieser Parallelität anzeigt - und auch in der
nichts leer hinter sich und nichts leer vor sich. Wer versteht, weiß zu atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der sich beides in unserem Jahrhun-
warten und wartet, bis >es< kommt, wie der gute Schauspieler, der nicht dert vollzieht. Zu der Reifung der abendländischen Musikkultur gehört
aufsagt und das Leere auffüllt, sondern der warten kann, als ob er das Wort nicht zuletzt die >absolute< Musik, und vollends mit ihr rücken wir in eine
suchte und fände, als ob er >spräche<. neue Dimension ein, in ein Jenseits der Vielfalt menschlicher Wortsprachen,
Zwar, die Dialektik der vergehenden, der sich verzehrenden Zeit regiert und doch im Verbund mit ihnen. Da bahnt sich eine planetarische Kommu-
alles2. Und doch, wo einer versteht, kommt etwas zum Stehen. Wer ver- nikation an, die nicht nur wie das stofflose Wehen des Geistes ist, sondern
steht, bringt zum Stehen, mitten im vollen Zug, dem Vorbeizug, den wir ebenso im leiblichen Tun besteht, im Machen der gleichen und immer neuen
Leben nennen und der in aller Dauer nicht aufhört, eine Zeitgestalt zu Musik. Den Botschaftern solcher Musikkultur der Menschheit seien diese
haben. Aber was da zum Stehen kommt, ist nicht das berühmte >nunc Nachdenklichkeiten gewidmet.
stans<, wie der Augenblick der Inspiration. Eher schon ist es wie ein Ver-
2
Siehe >Über leere und erfüllte Zeit< in Ges. Werke Bd. 4, S. 137-153.
Heimat und Sprache 367

keit, und das gilt auch noch für den Vielsprachigen, selbst wenn er, in
flüchtigen Begegnungen mit den eigenen Landsleuten, die eigene Mutter-
sprache wieder hört und spricht. Wer aber das Schicksal hat, im Exil zu
leben, der fuhrt ein Leben zwischen vergessen wollen und das Andenken
wahren, zwischen Abschied und Andenken, Verlust und Neubeginn, wo
immer es auch sei. Leben ist Einkehr in eine Sprache. So muß ein jeder sehen,
34. Heimat und Sprache
die Fremde und das Fremde bewohnbar zu machen, und er muß die Einkehr
(1992) in eine andere Sprache suchen. Darin liegt ein Bruch, der nicht zu vermeiden
ist und der heilen muß, wenn man überleben will. Heilen ist ja überhaupt
nicht, wie man sich in unserer mechanisierten Gesellschaft so oft einbildet,
etwas, was jemand tut, der Arzt. Es ist immer eine Lebensaufgabe des
Heimat ist nicht bloß ein Aufenthaltsort, den man wählt und verändern
Kranken selber. So ist es Abschied von der menschenverbindenden Sprache,
kann. Man kann die Heimat auch nicht vergessen. Sie ist, um ein berühmtes
wenn man die eigene Sprache nicht mehr zu hören bekommt. Das ist der
Wort von Schelling zu verwenden, etwas Unvordenkliches. menschliche Hintergrund allen Exils.
So muß das Leben im Exil von dem Gedanken an die Heimat begleitet
sein, aus der man sich ausgeschlossen weiß — und damit auch von dem So ermessen wir das Gewicht der eigentlichen Frage: Was kann Rückkehr
Gedanken an Rückkehr, auch wenn an eine Rückkehr gar nicht zu denken aus dem Exil sein? Muß es nicht ein neuer Bruch sein, ein zweiter Bruch?
ist. Die Heimat bleibt unvergessen. Nun ist Heimat in unserer Welt einer Oder macht es gar den ersten Bruch noch einmal wie einen Schmerz fühlbar?
immer mehr sich steigernden Beweglichkeit nicht mehr das gleiche, wie es Es ist wie ein Gesprächsnotstand, der bei solchem Bruch im Spiele ist. Auch
in Zeiten größerer Seßhaftigkeit war. Damals war daher der Gedanke der wenn die eigene Heimat, die man nicht verlassen hat, bis zur Fremdheit
Rückkehr aus der Verbannung in die Heimat, die einem verwehrt ist, etwas, entstellt wird, kann man am Ende nur leben unter dem Spruch der Hoffnung
was man wie eine immer neue Ausschließung erleidet. Nun ist jedes Exil und der Verheißung: »Et illud transit. « Wir erleben es auch jetzt in Deutsch-
schwer, und so ist die Hoffnung immer lebendig, daß die Verbannung land, was ein solcher Bruch ist, der sozusagen das Gespräch schwer macht.
aufgehoben wird und man in die Heimat zurückkehren darf. So klingen die So ist das Gespräch zwischen den im Westen Lebenden mit den im Osten
Trauerlieder, die der römische Dichter Ovid von seinem Verbannungsorte Lebenden nicht leicht. Ich erinnere mich, wie schwer es war, auch nur mit
am Schwarzen Meer angestimmt hat, noch heute den Menschen ans Herz. den eigenen Freunden, die ins Exil gegangen waren, das Gespräch über die
Notbrücke der Post wieder aufzunehmen, als sie durch den Krieg unterbro-
Aber was ist Heimat für uns, dieser Ort der Urvertrautheit? Wo ist er, was
chen war. Beide Partner eines Gesprächs stehen dann vor einer neuen
wäre er, ohne die Sprache? Zur Unvordenklichkeit der Heimat gehört vor
Aufgabe, eine neue Identität zu finden, die Kontinuität ist und doch auch
allem die Sprache. Wir kennen es ja selbst von der flüchtigen Erfahrung des
nicht sein kann. Wie groß die Kraft des Geistes und des Herzens sein mag,
Reisens. Wenn wir aus einem fremdsprachlichen Ausland heimkommen, ist
der Mensch kann Zeit nicht zurückholen. Wozu wir zurückkehren, ist
die plötzliche Wiederbegegnung mit der eigenen Muttersprache förmlich
anders geworden, und ebenso ist anders geworden, wer zurückkehrt. Zeit
wie ein Erschrecken, und es ist ja wirklich das Ganze des Vertrauten, die
hat beide geprägt und verändert. Für jeden, der zurückkehrt, ist die Aufga-
Sitten und Bräuche und die gewohnte Welt, die von der eigenen Sprache
be, in eine neue Sprache einzukehren. Es ist ein Hauch von Fremdheit an
durchtönt ist. allem, wohin man zurückkehrt.
Gewiß kann ein jeder, der in seiner Muttersprache zu Hause ist, andere
Es wiederholt sich gleichsam für jeden die Uraufgabe des In-der-Welt-
Sprachen lernen, und am Ende so gut, daß er in ihnen in gewissem Sinne
Seins, Fremdheit zu überwinden. Das Kleinkind stößt sich an den Wänden
auch zu Hause ist. Aber der entscheidende Punkt ist doch hier: Wer im Exil
der Tatsächlichkeit, und im langsamen Erwachen des Tausches der Blicke,
lebt, fâr den ist die Rückkehr in die eigene Sprachwelt nicht seiner eigenen
im ersten Tasten, im ersten Lallen sprachähnlicher Laute und schließlich in
freien Entscheidung überlassen. Wer sich nur als Gast in die Sprache eines
den ersten Worten beginnt das Gespräch. Etwas von dieser Situation des
Gastlandes eingelebt hat, hat ja nicht seine Heimat verloren, und dasselbe
Sprechenlernens wiederholt sich in Wahrheit in jeder Verständigung durch
gilt auch, wenn einer ganz im Ausland lebt, wenn er nur weiß, daß er
Gespräch. Sprache ist ja nicht, was wir an Worten besitzen und nach freier
zurückkehren kann. Aber in der Tat, Heimat ist vor allem Sprachheimat.
Wahl verwalten. Es ist ein Geben und Nehmen, in dem sich Sprache bildet.
Die Muttersprache behält für jeden etwas von unvordenklicher Heimatlich-
Heimat und Sprache 369
368 An den Grenzen der Sprache
am Ende ein Beweis dafür, wieviel Mitarbeit von jeder Art zur Gemein-
Sprechen hat seinen Sinn im Vollzug und kann nur sein, wo sich der eine
samkeit in unserem gesellschaftlichen Leben gehört. Was leicht eingeht,
dem anderen nähert, um sich der Gemeinsamkeit des Erfahrene zu versi- ist auch schnell wieder verschwunden.
chern. So möchte ich zum Abschluß den Zusammenhang zwischen Rückkehr
Eben hieran aber mißt sich die Aufgabe der Literatur. Sie will etwas zu und Literatur etwas schärfer beleuchten. Wir müssen uns klarmachen, daß
Worte bringen, wofür es keine vorgeformten und vorgestanzten Formeln im Zeitalter der industriellen Revolution und der automatisierten Kom-
geben darf. Es wird in einem Zeitalter zunehmender Regulierung, in der wie munikation und der gewaltig sich vervielfachenden Informiertheit aller
eine Betäubungswelle durch den ganzen Tag eine öffentliche Informations- über alles ganz neue Aufgaben für den Schriftsteller erwachsen sind. Er
flut nach allen Seiten ausgegossen wird, so, daß dem Schriftsteller und dem muß in gewissem Sinne ständig aus einem Exil zurückkehren, wenn er
Dichter die Einkehr in die Sprache, die sie selber aussprechen könnte, fast sich der Welt der ständig gebrauchten und benutzten Worte, der Vorge-
wie eine Rückkehr in ein ganz Anderes und Fremdgewordenes erscheinen kautheit aller Meinungsbildung und aller Redeweisen und Informationser-
muß. wartungen, die durch die Technik bereitet werden, zu entziehen sucht.
Von da aus bestimmt sich doch wohl auch der Sinn von Literaturtagen. Um so mehr wird uns zum Bewußtsein kommen, was Sprache in ihren
Sie beanspruchen nicht, daß man hier Dichter findet, die man ohne das nicht wahren Möglichkeiten ist und wie der Literatur diese Aufgabe der Rück-
fände, und man beansprucht auch nicht, daß man hier etwa Dichterschulen kehr zur Sprache gestellt ist. Das macht alle Dichtung zu einer Rückkehr
gründen wollte, was vielleicht gar nicht einmal das schlechteste in der aus der Fremde. Das habe ich seinerzeit in meiner Gratulationsrede zu der
Geschichte der Bildung hohen literarischen Niveaus gewesen ist. Aber es Verleihung des Droste-Preises an Hilde Domin zum Ausdruck gebracht,
gilt doch wohl, sowohl zwischen den Schaffenden wie zwischen den Auf- daß auch für sie ihre Dichtung Rückkehr zur Sprache ist1. Es ist ja auch
nehmenden von Literatur eine wechselseitige Bestätigung zu stärken, auf für jeden von uns die Aufgabe unseres Lebens, aus der Entfremdung
der am Ende alle Möglichkeiten kulturellen Schaffens beruhen. heimzukehren. Das Wort der Dichtung geht uns dabei voran.
Fragen wir uns zunächst, was ein Schriftsteller eigentlich ist. Ich würde Ich möchte drei Stufen unterscheiden, in denen Sprache uns alle ver-
sagen, er ist ein Bittsteller bei der Sprache. Er will von der Sprache erhört einigen kann. Ich beziehe mich dafür zuerst auf das von Paul Celan ge-
werden. Er will von der Sprache beschenkt werden, so daß es ihm gelingt, brauchte Wort Sprachgitter. Sprache ist zunächst ein Gitter. Das setzt mit
sie neu zum Sprechen zu bringen, so daß das bloß Geschriebene als solches dem schon beschriebenen Prozeß der Sozialisierung in der Spracherzie-
oder das Gelesene als solches nicht etwas im allgemeinen Geschehen der hung des Kleinkindes ein. Wir sollten uns in unserer durch die Sozialisie-
Informationsflut ist, sondern daß wir auf Sprache hören. Darin liegt die rung gereiften, aber auch abgeschliffenen Welt des sprachlichen Aus-
Auszeichnung der dichterischen Sprache und dessen, was wir im eigentli- drucks an die Genialität dieses frühen Alters erinnern, in dem man spre-
chen Sinne Literatur nennen, daß man dort auf die Sprache hört. Dichtung in chen lernt, und wir sollten darin ein Vorbild sehen. Denn da zeigt sich,
jederlei Gestalt, ob als Lyrik, ob als Erzählung, ob als Szene, immer ist ihr was Sprache kann, wenn sie nicht zu sehr durch Regelzwang eingeengt
Anspruch und ihre Möglichkeit, wie ein Diktat zu sein, das man nur aufzu- wird, sondern wenn sie in dem hingegebenen Versuch, dem anderen et-
nehmen hat und nicht in eine kritische Erfahrungswelt subsumiert. Das was mitzuteilen, sich zu sich selbst herauswagt. So wie wir es an dem
Wort >Dichtung< kommt von >dictare<, von >diktieren<, auch wenn vielleicht dreijährigen Kind immer wieder mit Staunen verfolgen. Da sieht man,
noch ältere vorhumanistische Bedeutungsschichten im Sinne des Dichtma- daß Sprache nicht nur das verhindernde Gitter ist, sondern ebenso das
chens nachklingen. Jedenfalls ist das, was der Schriftsteller aus sich heraus- Gitter, das eine intime Verständigung durchläßt. Es ist beides, auch das
stellt, so daß es am Ende gelesen wird, etwas, das man nicht abhört auf Verhindern, das an bestimmte Bedingungen mahnt, ohne die ein Hin-
etwas, das einem dadurch mitgeteilt wird, sondern auf das man hinhört, was überkommen zum anderen überhaupt nicht möglich wäre. Wittgenstein
es in seiner eigenen sprachlichen Evokationskraft sehen läßt. Das Können hat mit Recht gesagt, eine Privatsprache kann es nicht geben. Sprache ist
eines Schriftstellers hängt von dem Grade ab, in dem das einem bewußt Gespräch. Ein Wort, das den anderen nicht erreicht, ist tot. Das Gespräch
wird, und seines Gelingens, daß in dem anderen diese Art Präsenz des in der ist ja mit dem anderen, und jedes Wort bedarf im konkreten Augenblick
Sprache Evozierten antwortet. Es ist daher sozusagen ein Ehrentitel von
Literaturtagen, daß sie lauter stille Leser vereinigen und daß sie nur mit
1
großem Abstand öffentliches Interesse auf sich zu ziehen vermögen. Wir Siehe dazu >Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr^ jetzt in Ges. Werke Bd. 9,
sollten uns dessen nicht etwa schämen oder deswegen geringer fühlen, es ist S. 323-328.
370 An den Grenzen der Sprache Heimat und Sprache 371

des rechten, unwiederholbaren Tons, damit es das andere Gitter, das Gitter Wir müssen uns bei solchen Erfahrungen fragen, was in diesem Kontinent
des Andersseins, überwindet und den anderen erreicht. von Europa her getan werden kann. So fragen wir uns ja heute schon, was es
Die zweite Funktion, die damit verbunden ist, würde ich den Sprachschleier bedeutet, wenn die hochzivilisierten und hochgeschulten japanischen Kolle-
nennen. Er umfaßt alle jene die Sphäre gewöhnlicher Höflichkeit mitein- gen kommen und durch ein schier undurchdringliches Sprachgitter hin-
schließende Vermeidung von Härten und Schärfen, von Unbesonnenheiten durch aufgrund des Lesens unserer Texte unsere abendländische Philosophie
und Gereiztheiten, die das Miteinanderleben durch Abschleifung überhaupt mit einer erstaunlichen Kenntnis und gediegenem Scharfsinn aufnehmen.
nur möglich macht. Dieser Schleier der Sprache hat gewiß auch seine Wir würden so gern bei dieser Gelegenheit lernen, was sie aus ihrer Tradi-
bedenkliche Kehrseite, fur die das berühmte Wort von Talleyrand gilt: tion, dem Konfuzianismus und dem Schintoismus und ihren religiösen und
Sprache sei das allerbeste Mittel, seine Gedanken zu verbergen. Das ist in der sittlichen Traditionswerten, zu unserem Denken und uns zu sagen hätten.
Tat die Kunst des Diplomaten. Doch ist auch diese nicht nur etwas Negatives. Wir stehen heute eben am Anfang eines riesigen Menschheitsprozesses, in
Offenbar gelingt es dieser Kunst, seine Gedanken zu verbergen, am Ende auf den wir alle einbezogen sind. Wir werden das Ideal der Aufklärung des
den Boden der Übereinstimmung und des friedlichen Ausgleiches zu gelan- 18. Jahrhunderts vom ewigen Frieden in der Welt niemals durchsetzen kön-
gen. Und damit komme ich zum dritten, woran ich hier im Kreise von um nen, wenn es uns nicht am Ende gelingen wird, zu wirklichem Austausch
literarisches Schaffen Bemühten besonders denke. zwischen den fremden Kulturen und unserer europäischen zu kommen. Was
Dieses dritte würde ich den Sprachblitz nennen. In allen gemäßigten, gut bedeutet es, wenn sie mit uns philosophieren und mit uns zusammen Weltli-
beleuchteten und einleuchtenden Worten, die im Austausch zwischen den teratur aufnehmen? Dazu gehört nun ganz gewiß das Lernen fremder Spra-
Menschen hin und her gehen, kann es blitzen. Das erinnert mich an Erfahrun- chen. Da gibt es kein Ausweichen. Übersetzungen sind nur eine erste
gen, die ich oft habe machen können. Darf ich eine solche erzählen, weil sie Dienstleistung, von dem Klang, Laut und Sinn des Originals etwas zu
besonders lustig ist: Ich habe einmal, um das Geheimnis des dunklen Erdteils ahnen. Aber was möglich ist, wo die Sprachbarriere nicht hindert, das lehrt
etwas kennenzulernen, in Südafrika an einer Universität fur Buschmänner uns die Allgegenwart der bildenden Kunst aller Kulturen, und nicht zuletzt
doziert. Allerdings auf Englisch. Das war dort die Unterrichtssprache. So lehrt es uns die Musik, diese erste Kultursprache der gesamten Menschheit.
habe ich im wesentlichen mit den Professoren, die Afrikaans waren, und mit Doch wir sind hier im deutschen Sprachraum und in der Teilhabe an
den von ihnen bereits ausgebildeten Assistenten zu tun gehabt, die mit der Literatur. So schließe ich, indem ich die Rückkehr zur Sprache an einem
Philosophie in Europa Fühlung gewinnen sollten und dann ihrerseits ihre Sprachblitz illustriere. Es ist ein berühmter Satz Heraklits, der mir besonders
Studenten zu versorgen hatten. Da hat man mich gebeten, ich möchte doch vertraut ist, weil ihn Heidegger in die Tür seiner Hütte geritzt hatte. Er
einmal zu allen Studenten über die Aufgabe der Philosophie sprechen. Es war lautet in deutscher Fassung: »Es ist der Blitz, der alles steuert. « Man muß das
ein eindrucksvolles Schauspiel. Die Buschmänner sind sehr hochgewachse- sehr wörtlich nehmen. Nicht so, als ob das Feuer als Element der Natur wie
ne, besonders schöne Menschen. So war es eine wahre Galerie von Ebenholz- Wasser, Luft und Erde gemeint wäre - nein, es ist der Blitz. Aber ist es nicht
statuen, die mich umgab. Aber sie verzogen keine Miene, wemrich auch alles paradox, daß der Blitz steuert? Ο ja, das soll man verstehen, daß es paradox
daran setzte, sie zu erreichen. Ich war verzweifelt. Was sollte ich ihnen über ist, daß der Blitz steuern soll. Aber was ist dann gemeint? Ich meine, es ist
Philosophie erzählen können, wenn ich nicht die geringste Regung von dies, daß die Augenblickshelle des zuckenden Blitzes plötzlich die Welt in
Antwort spürte? (Später haben mir meine Kollegen gesagt, das sei leider für einer blendenden Klarheit zeigt. Und wenn auch alles in tiefe Nacht zurück-
sie auch immer so, daß man keine Reaktion zu spüren bekomme. ) Da fiel mir sinkt, so ist uns doch ein Augenblick der Orientierung gewährt worden, und
nun bei meinem Vortrag ein rettender Gedanke ein. Ich führte aus, daß die ^vir erkennen etwas von dem Leben des Geistes darin. Wenn auch vieles
griechische Philosophie mit Parmenides begonnen habe und daß seine Ein- wieder ins Dunkel zurücksinkt, sind wir auf den Weg des Suchens und des
sicht war, daß es das Nichts nicht gibt, sondern nur das Sein. Dazu sagte ich Fragens gewiesen, der zwischen Vergessen und Erhellung hin und her
nun: »Bitte machen Sie sich klar: Nothing is no thing. « In diesem Augenblick schwankt.
ging es durch die Reihen wie ein Lauffeuer. »Hast du verstanden, hast du So komme ich schließlich zu einem Letzten, wie wir alle Sprache in der
verstanden? Nothing is no thing! « Das war wie ein Sprachblitz, der bei ihnen Annäherungsform kennen. Das nenne ich Sprachkristall. Das klingt nicht nur
einschlug. Es wurde einen Augenblick lang klar, daß Sein kein Ding ist. Diese an >Sprachgitter< an. Das erinnert an den Kristall, dessen Gitter eine feste
Geschichte dient natürlich mehr zur Unterhaltung als zur Belehrung, aber sie mathematische Struktur hat, nach der die Kristalle sich bilden. So ist es,
hat ihre belehrende Seite. meine ich, wenn der Fluß der Rede in Dichtung gültige Gestalt gewinnt.
272 An den Grenzen der Sprache

Und wie der Krisuli in seiner Bildung und in der Festigkeit seines Baues sein
Feuer zu versprühen beginnt, wenn das Licht auf ihn fallt, so ist es auch die
sprachliche Leistung der Dichtung, daß sie sich der Härte und der Festigkeit
und der Beständigkeit des Kristalls nähert und nicht durch eine gefallige
Form besticht, sondern durch das Aufleuchten von Licht. Es ist ein vielfalti-
ges Funkeln das von einem dichterischen Gebilde ausstrahlt wie vom Kri- 35. Wort und Bild - >so wahr, so seiende
stall. Wir alle nehmen daran teil und ahnen etwas von der Wahrheit des
(1992)
Wortes, das in solchem Licht steht.

Mein hermeneutisches Grundwerk >Wahrheit und Methode< mag manchem


eine Überraschung bereitet haben, daß der erste Teil dieses Werkes nicht,
wie der Untertitel >Hermeneutik< erwarten ließ, die Geisteswissenschaften
und die sich daran anschließenden Wissenschaften zum Gegenstande nahm,
sondern die Kunst selbst. Damit folgte ich in Wahrheit meiner Erfahrung,
die sich mir während meiner Lehrtätigkeit immer mehr bestätigte, daß das
Interesse an den sogenannten Geisteswissenschaften in Wahrheit nicht allein
Wissenschaft meint, sondern Kunst selber, und zwar in allen Bereichen,
Literatur, bildende Kunst, Baukunst, Musik. Es sind ja die Künste, die ins-
gesamt das metaphysische Erbe unserer abendländischen Tradition mitver-
walten. Die Geisteswissenschaften stehen in besonders enger Wechselwir-
kung zu künstlerischer Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, und sie kön-
nen deshalb eine eigene philosophische Authentizität beanspruchen. So
kommt es, daß ich ein so allgemeines Thema wie »Wort und Büd<, das von
jeher das Denken bewegt hat, immer wieder zu behandeln suche. Jedermann
weiß, daß das Verhältnis von Bildkunst und Wortkunst ein altes klassisches
Thema ist, mit dem wir mindestens seit Lessings >Laokoon< wohlvertraut
sind. Lessings berühmte Analyse, in der das dichterische Wort und die
bildnerische Gestaltung etwas zur Aussage zu bringen vermögen, war auf
Unterscheidung gerichtet. Wenn Lessing die bildende Kunst auf das Neben-
einander im Räume und Poesie auf das Nacheinander in der Zeit zurückfüh-
ren wollte, hat ihm bereits Herder widersprochen. Mir liegt dagegen am
Herzen, das Gemeinsame von Kunst des Bildens und dichterischer Kunst
herauszuarbeiten, um dieses Gemeinsame in ein noch Allgemeineres einzu-
ordnen, das Kunst zur Aussage von Wahrheit macht.
Unter dem Thema >Wort und Bild< will ich daher nicht das wichtige
hermeneutische Problem behandeln, wie durch das Wort des Interpreten
Bildwerke erreicht werden und wie es möglich ist, zu einem bildnerischen
Werk ein deutendes Wort zu finden, das nicht aus Anlaß eines Bildes
Gedanken äußert, sondern das zum besseren Sehen des Bildes selber hinlei-
tet. Das wäre ein Thema, das in einer Theorie der Interpretation einen
wichtigen Platz besäße. Was mich hier beschäftigt, ist aber die Frage, wie
Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild — >so wahr, so seiend< 375
374
sich das Wort und das Bild, die Kunst des Wortes mit dem Ganzen der wichtige Bestätigung für mein eigenes Verfahren. Meine eigenen kunsthi-
bildenden Kunst, in eine gemeinsame Aufgabe teilt, und wie sich innerhalb storischen und literarhistorischen Studien und meine Ausbildung als klassi-
dieser Gemeinsamkeit die Rolle bestimmt, die die eine und die andere scher Philologe, so begrenzt das alles ist, führten mich daher immer wieder
Kunstform in der Gestaltung unserer Kultur ausfüllen. in den Problemkreis von bildender Kunst und Dichtung, wenn es galt, den
Worin besteht die echte Gemeinsamkeit zwischen Bild und Dichtung? Wahrheitsanspruch der Kunst zur Prüfung zu stellen. Auch bleibt mit im
Jedenfalls werden wir solche Schöpfungen Werke der >Kunst< nennen und Blick, was etwa der Bildzauber der frühen Höhlenbilder bedeutet oder
damit zu verstehen geben, daß sie sich beide durch ihre unmittelbare Gegen- vorzeitliche plastische Gebilde, und auf der anderen Seite die Sagenfrühe der
wärtigkeit und Zeitüberlegenheit auszeichnen. Das Werk der Literatur, dem mythischen Vorwelt, die hinter unserer literarischen Oberlieferung steht
wir literarischen Rang zuerkennen, spricht zu uns über alle zeitlichen Ab- und in der Ferne verdämmert. Von ihnen allen gilt das gleiche »So ist es«
stände hinweg, sofern wir nur mit der betreffenden Sprache vertraut sind. mit, an dem wir Werke der Kunst als >richtig< erkennen.
Ebenso hat auch das Bild, das ein Kunstwerk ist, die Macht, uns unmittelbar Von hier aus ist einer der Grundbegriffe der neueren Philosophie, der aus
zu erreichen. Beides nötigt einen förmlich zum Verweilen, und bei beidem dem spätantiken Neuplatonismus stammt, im deutschen Idealismus zu ei-
ist, mit Kant zu sprechen, viel Unnennbares hinzuzudenken. nem wahren Schlüsselwort aufgestiegen. Was meistens ein gedankenloses
In meinem eigenen Versuch einer hermeneutischen Philosophie habe ich Nachleben genießt, hat in unserem Zusammenhang seinen ursprünglichen
den Wahrheitsanspruch der Kunst und seine Bedeutung für die Geisteswis- Sinn. Es ist der Begriff des Absoluten. Das Wort heißt nichts anderes als »das
senschaften zur Geltung bringen wollen. Dabei habe ich unter anderem die Abgelöste< und steht im klassischen Latein dem Relativen als Gegenbegriff
Ablösung des Bildbegriffs vom Abbild hervorgehoben. Auf der anderen entgegen. Es meint Unabhängigkeit von allen einschränkenden Bedingun-
Seite gibt es eine ähnliche Entsprechung in der dichterischen Sprache. Letz- gen. - So spricht Hegel von dem absoluten Geist als dem sich selbst stets
tere wurde im Zusammenhang des 3. Teiles von >Wahrheit und Methode< ganz gegenwärtigen, der sich im absoluten Wissen vollendet. Zeitlose Ge-
unter dem Gesichtspunkt der Sprachlichkeit zum Thema gemacht. Was da genwärtigkeit kommt insofern der Kunst zu, als sie von allen geschichtli-
Wahrheit heißen kann, wurde damit nur gerade vorbereitet und fand später chen und gesellschaftlichen Bedingungen abgelöst und unabhängig ist, wie
in meinen gesammelten Studien und insbesondere in Band 2 meiner Ausga- die Religion und wie die Philosophie. Auch die Kunst behauptet den An-
be unter dem Titel >Text und Interpretation weitere Ausführung. spruch auf Absolutheit dadurch, daß sie über alle geschichtlichen Zeitunter-
schiede hinwegreicht. Wir verstehen daher sofort, warum Hegel die innere
So drängt sich die klassische Fragestellung Lessings über das Verhältnis
Nähe von Kunst mit Religion und Philosophie behauptet. In allem handelt
von bildender Kunst und Uterarischer Kunst erneut auf, und ich habe der
es sich um >absolute< Seinsgewißheit. Der Theologe versteht etwa die escha-
Konkretisierung dieser Frage viele Beiträge zugewandt. Was wir heute
tologische Geltung der christlichen Botschaft in Gleichzeitigkeit, sofern die
>Kunst< nennen, ist freilich auf diesen klassischen Gegensatz nicht zu be-
verheißene Wiederkehr des Erlösers in Wahrheit in dem Heute der Annahme
schränken. So ist auch bei anderen Kunstarten, der Musik, der Tanzkunst,
des Glaubens geschieht, wie Kierkegaard seinem und unserem Jahrhundert
der Theaterkunst u. ä., die Frage nach der Wahrheit mitgefragt. Neben den
des historischen Denkens in die Erinnerung gerufen hat. Es gilt auch für die
eben genannten Künsten gibt es aber auch solche, bei denen man nicht in
Philosophie, daß sie in beständigem Gespräch mit allen großen Denkversu-
derselben Weise von Selbstpräsentation eines Kunstwerkes reden kann, weil
chen unserer abendländischen Geschichte mit ihnen als ihren Partnern wie
sich ihre Produkte anderen Zwecken der Lebenspraxis oder auch der wissen-
gleichzeitig ist. Es ist das gleiche in der Geschichte der Kunst. Auch da ist es
schaftlichen Forschung unterordnen und höchstens eine Art Mitpräsenz in
gewiß nicht möglich, im Blick auf das Ganze der Kunst »Fortschritt* auf eine
Anspruch nehmen, die im Hintergrunde bleibt. Das gilt vor allem von der
letzte Vollendung hin zu denken. Wenn auch etwa die Entwicklung der
Redekunst, der Baukunst und von aller dekorativen Kunst. Wir werden
Zentralperspektive als eine Lösung der Raumprobleme durch die Malerei so
auch diese Kunstarten streifen müssen, um die Schlüssigkeit unserer Unter-
gesehen werden kann, so ist das doch nicht etwa >Vollendung< einer solchen
suchungsergebnisse zu befestigen. Aber das dichterische Wort und die bil-
Bildkunst überhaupt. Selbst in Hegels Konstruktion der Weltgeschichte,
dende Kunst bleiben in der Mitte.
wonach alles auf die Freiheit aller hinziele, ist das mehr eine Beschreibung
Es gehört nun zu der Eigenart der hermeneutischen Reflexion, daß sie des dessen, was der Kampf der Weltgeschichte in seinem wesentlichen Kern ist,
ständigen Rückhalts an der Praxis hermeneutischer Erfahrung bedarf. Das und ebenso gilt es auch für die immer neuen Ansätze der Philosophie, in
hatte schon Schleiermacher in einer Anmerkung freimütig bekannt: »Ich denen sie ihre Fragen nach den letzten Dingen stellt und mit uns gleichzeitig
hasse alle Theorie, die nicht aus der Praxis erwächst. « Das war mir eine
Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie 377
376 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie

ist. Hegel hat daher selber die Geschichte der Philosophie der dialektischen Wenn es sich um sprachliche Kunstwerke handelt, bleibt in unserer viel-
Entfaltung der philosophischen Wissenschaft gleichgeordnet. sprachigen Welt die Schranke der fremden Sprache freilich schwer über-
Was ist denn überhaupt die Zeit dieser Gleichzeitigkeit? Was ist die eigene windbar. Doch hat unser literarisches Zeitalter selbst da eine Art von
Gegenwart? Wissen wir das etwa je? Das Wort >Gegenwart< deutet schon Gleichzeitigkeit erreicht, und das nennt sich die Weltliteratur. Teils auf
daraufhin, daß da Zukunft hineinspielt. Zukunft ist als das Kommende stets Übersetzung beruhend und teils darauf, daß immer größere Leserkreise
das Gewärtigte, das auf uns wartet und auf das wir warten. Alle Erwartung mit fremden Sprachen vertraut werden, kann man selbst im Falle der litera-
beruht aber als solche auf Erfahrung. Mit jeder Gegenwart wird nicht nur ein rischen Künste von einer gewissen Gegenwärtigkeit und Gleichzeitigkeit
Zukunftshorizont geöffnet, sondern auch der Vergangenheitshorizont ins sprechen. Für die bildenden Künste spielen die sprachlichen Schranken
Spiel gebracht. Gleichwohl ist es weniger Gedächtnis und zurückblickendes nicht so hinein oder können mindestens leicht überwunden werden. In der
Gedenken als gegenwärtige Erfahrung. So sehr stellt sich Kunst und Philo- bildenden Kunst wird freilich Fremdes fremdartig wirken. Aber solche
sophie als eigene Gegenwart ein. Man muß nicht einmal wissen, aus welcher Wirkung vermag geradezu eine eigene Anziehungskraft auszulösen, die zur
Vergangenheit, aus welcher Ferne und Fremdheit einem da etwas begegnet. Aneignung führt. Es besteht seit alters eine beständige Wechselwirkung
Es hat seine Präsenz und wird nicht als fremd bestaunt, sondern zieht einen zwischen den Kulturen und den Zeitaltern. Jedes Gedächtnis eignet sich an,
in seinen Bann - mag auch zunächst viel Fremdes dabei zu überwinden sein. was ihm begegnet, um sich in der ständigen Bereicherung des Überliefer-
Eine jede Gegenwart hat ihren eigenen Lebensraum und ihre eigene ten selber fortzubewegen. Aber man vergesse nicht: Aneignung meint
Tradition, die sich in ihren Lebensformen, in Sitten und Gewohnheiten und nicht Wissen, sondern Sein.
in allen Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens ausprägt, und überall Nun hat sich in der europäischen Tradition, der wir angehören, auf langen
waren es religöse Überlieferungen, die die eigene Geschichte und das eigene Wegen immer mehr das >historische Bewußtsein< entwickelt und zu einer
Herkommen begleiten und zu seiner Eigenart entfalten. Nun gehört es zu zunehmenden Verfeinerung des historischen Sinnes geführt. Im letzten
jeder Religion, daß sie von der Absolutheit ihrer eigenen Wahrheit über- Jahrhundert war es die Entwicklung des Weltverkehrs und der neuen Nach-
zeugt ist. Religionen befinden sich daher stets in der Abgrenzung gegen richtentechnik, die in der gleichen Richtung gewirkt hat, sofern wir in so
andere Religionen, deren Bekenner >die Ungläubigem sind. In unseren etwas wie ein Zeitalter der Reproduktion eingetreten sind. Nietzsche war
aufgeklärten Zeiten geht es überdies auch noch um die Auseinandersetzung der erste, der unter dem Titel >Über den Nutzen und Nachteil der Historie
mit dem sich ausbreitenden Atheismus. Damit stellen sich neue Schwierig- für das Leben< darin ein Problem gesehen hat. Das Vordringen der histori-
keiten ein. Nun gilt es, den eigenen Absolutheitsanspruch, der zum Wesen schen Forschung und das wissenschaftliche Bewußtsein führen zu einer
allen Heilswissens gehört, mit der Anerkennung anderer Traditionen zu Schwächung des Mythos, der allein eine Kultur zu prägen vermag. In dem
vereinen und selbst mit ganz religionsfeindlichen Gesellschaftsordnungen wechselnden Licht, das über die Dinge fallt, verlieren sie ihr eigenes Ge-
gemeinsame Solidaritäten zu entwickeln. wicht: In der Tat läßt sich beobachten, wie selbst die Erfahrung der Kunst
durch den Selbstgenuß historischer Bildung beeinträchtigt wird, wenn etwa
Das ist eine Menschheitsaufgabe, für die uns die Erfahrung der Kunst eine
Besucher im Museum mit Genugtuung einen Meister erkennen oder ein
Ermutigung sein kann. Gewiß gibt es auch im Bereich der Kunst bestimmte wohlvertrautes Motiv. Das ist jedenfalls nicht die Unmittelbarkeit künstle-
und anspruchsvolle Traditionen und fest eingeprägte Geschmacksrichtun- rischer Erfahrung. Denn Erfahrung ist niemals bloße Bestätigung. Selbst bei
gen. Künstlerische Schöpfungen anderer Zeiten oder ferner Kulturen kön- Höchststand historischer Bildung wird man künstlerische Schöpfungen
nen uns manchmal nicht so leicht erreichen. Aber die Kunst setzt sich in aller vergangener Zeiten nie mit deren eigenen Augen zu sehen vermögen. Das
ihrer ungezählten Vielfalt auf die Dauer auch mit Fremdestem durch. Daran kann überhaupt nicht das Ziel sein. Es ist vielmehr die eigene Gleichzeitig-
beweist sich die absolute AUgegenwart der Kunst. Sie vermag über die keit und Gegenwärtigkeit, mit der die Kunst sich behauptet. Etwas wehrt
Schranken und Räume hinweg Brücken zu schlagen. Am eindrucksvollsten sich dagegen, daß Kunst, die von so bannender Gegenwärtigkeit ist, zum
zeigt sich das vielleicht für uns Heutige in der Musik. Da hat Ostasien sich bloßen Gegenstand historischer Forschung gemacht wird. Wir stellen gera-
Mozart und Schubert und die ganze europäische Musik in wenigen Jahr- de deshalb die Frage, worauf sich dieser zeitüberlegene Anspruch der Kunst
zehnten so angeeignet, daß ihre Interpreten, die von dort kommen, zu den gründet, der allen Einschränkungen trotzt.
führenden Figuren unseres Musiklebens zählen. Auf der anderen Seite hat
Das schließt gewiß nicht aus, daß wissenschaftliche Forschung, die sich
Europa bekanntlich sehr viel von der Musiksprache des schwarzen Konti-
vor historische Aufgaben gestellt sieht, der Erfahrung der Kunst zugute
nents in sich aufgenommen.
378 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild—>so wahr, so seiend< 379

kommen kann. Aber ihr Wissen bleibt als solches etwas anderes als die aus dem man das Werk herstellt. Dagegen scheint die Poesie in dem luftigen
Gegenwärtigkeit, mit der Kunst begegnet. Schleiermacher hat einmal ge- Hauch der Sprache und in dem Wunder des Gedächtnisses allein zu existie-
sagt, daß ein religiöses Bild vergangener Jahrhunderte, das wir im Museum ren. Bei den Griechen teilt sie das freilich mit der Musik, die aber den
bewundern, immer Brandflecken an sich hat, wie wenn es aus einer Feuers- dichterischen Gesang nur begleitet. Immerhin, beides ist wie aus keinem
brunst gerettet worden wäre. Wir wissen sehr wohl, daß ein solches Bild Stoffe gemacht. Es bleibt ein sekundäres Moment, daß Dichtung schließlich
seinen Sitz im Leben verloren hat, in Kirche oder Palast oder wo immer es schriftlich fixiert wird und >Literatur< heißt, und daß die Musik zum Noten-
einmal zu Hause war, und gewiß, wir wissen es nicht nur. Wir lernen es auch werk geführt hat. Das ist beides sekundär und gehört weder zur Dichtung
sehen, in dem Bilde selber, wie es etwa auf einen bestimmten Platz hin noch zur Musik. Was dagegen dazugehört, ist, daß Texte überhaupt zum
gemalt ist und für welche kultische Funktion. Wir lernen die Lichtverhält- Sprechen gelangen und zu Gehör kommen. Im Deutschen ist der Gebrauch
nisse mitzusehen und haben die Umgebung mit im Auge, die die Bildgestal- des Wortes >schöpferisch< dafür bezeichnend. Es hält den Anklang an den
tung mit beeinflußt hat. All das kann uns lehren, besser zu sehen. Erst recht religiösen Begriff der Schöpfung fest, die im Sinne des Handwerkes kein
gilt das natürlich von dem Sachwissen, das wir der Wissenschaft verdanken, Machen war. Im Anfang war das Wort, das >verbum creans<.
die es uns im religiösen wie im profanen Bereich vermittelt. Aber es bleibt In die gleiche Richtung weist ein anderer semantischer Tatbestand, der
doch bei dem Worte Hegels, daß wir vor religiösen Bildwerken des Gekreu- sich an das Wort >Werk< knüpft. Das Wort begegnet zunächst im Umkreis
zigten oder der Madonna nicht mehr die Knie beugen. dessen, was im Griechischen Technik bzw. >Techne< heißt. Darin ist nicht
Gleichwohl wird von da aus vieles mitsprechen und die Aussage berei- das Machen und Herstellen selber gemeint, sondern die geistige Fähigkeit,
chern, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Die Vorprägung das Ersinnen, Planen, Entwerfen, kurz: das Wissen, das das Machen leitet. In
religiösen Herkommens oder die eigene geschichtliche Bildung wirken solchem Zusammenhang kann man immer sagen, daß das Herstellen ein
immer mit. Was ein Bild oder ein Bühnenspiel oder eine Dichtung ist, die Werk, das >Ergon<, zustandebringt. Aber wir sagen dafür in solchem Falle
uns ergreift, erfährt durch ein >Weniger an Wissen< keine wirkliche Ein- kaum >Werk<. Wenn es sich nicht um Kunst handelt, redet man nicht von
schränkung. So fragen wir uns: Was macht ein Bild, was macht ein Gedicht Werk. Warum? Man sagt doch immerhin >Handwerk<. Offenbar ist der
zu einem Werk der Kunst, so daß es eine solche absolute Gegenwart hat? Es Grund, daß das Erzeugnis des Handwerks wie der industriellen Fertigung
ist doch gewiß nicht das Brandungsgetöse der ständigen Informationsflut, nicht eigentlich für sich da ist, sondern in einer dienenden Funktion steht und
die uns umrauscht und die das Zeitalter der Reproduzierbarkeit begleitet. Es für den Gebrauch bestimmt ist. Dagegen stellt ein Künstler, selbst wenn
bedroht vielmehr, um mit Benjamin (oder gegen ihn?) zu reden, die Aura einmal maschinelle Fertigungsweise dabei im Spiele sein sollte, etwas her,
des Kunstwerkes und droht sie aufzulösen. das für sich ist und nur für ein Betrachten da ist. Man läßt es aufstellen oder
Wir wollen von einer sprachlichen Beobachtung ausgehen, die auf die möchte es ausgestellt sehen - und das ist alles. Und gerade dann ist es ein
Frage ein Licht wirft, die uns bewegt. Im Griechischen hat das Wort >Poie- Werk, und es bleibt das Werk des Künstlers, das er als ein solches, als seines,
sis<, das wir in unserem Wort >Poesie< wiedererkennen, einen doppelten signieren kann. Das gilt selbst, wenn etwa eine Orgelimprovisation so
Sinn. Das Wort meint zunächst >Machen<, also das Herstellen von etwas, das überzeugend war, daß sie einem wie das Werk eines schöpferischen Augen-
es vorher nicht gab. Das Wort umfaßt den ganzen Bereich des Hersteilens, blicks einen >bleibenden< Eindruck gemacht hat. Die bildende Kunst kennt
alles, was wir Handwerk nennen, aber auch die Fortentwicklung solcher mithin das gleiche, was sich in dem sprachlichen Vorgang des Übergangs
Verfertigungen bis zur industriellen Produktionsweise der Moderne. von >Poiesis< zu >Poesie< ausdrückte. Auch für den Dichter gilt, daß seine
Schöpfung eine Welt für sich ist und als solche vorgeführt oder aufgeführt
Daneben hatte das gleiche Wort >Poiesis< die ausgezeichnete Bedeutung
wird. In der modernen Welt sagt man dafür: »veröffentlicht wird«. Das gilt
von Dichtkunst. Das Dichten ist in gewissem Sinne auch ein Machen. Damit
nun gewiß nicht nur für Dichterisches, sondern auch für Wissenschaft und
ist aber weder der einmalige Vortrag gemeint noch die bloße Aufzeichnung,
andere Informationen. Aber es hat einen besonderen Klang, wenn etwas zur
die da gemacht wird. Das Machen, um das es sich hier handelt, meint den
Literatur gehört, einen anderen Klang von Bestand und Geltung, als wenn es
Text. Er macht, daß aus dem Nichts ganze Welten aufgehen können und
Unterhaltungsliteratur ist oder Fachliteratur.
Nichtsein zum Sein kommt. Es ist fast mehr als ein Machen. Zum Machen
gehört ja sonst Material, das dem Handwerker vorgegeben sein muß, aus Unsere Überlegung bestätigt im Ausgang von sprachlichen Beobachtun-
dem er etwas herstellt. Mnemosyne bedarf dessen nicht. In den bildenden gen, daß die Rede von der Abgelöstheit - der Absolutheit - der Kunst einen
Künsten ist es insofern ein wirkliches Machen, als es eines Materials bedarf, genauen und wörtlichen Sinn hat. Was wir an der semantischen Auszeich-
380 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild — >so wahr, so seiend« 381

nung des Poeten und der Poesie bei den Griechen beobachteten, hat, wie Begriff der Schönheit und die Weite seines Bedeutungsbereichs die Univer-
sich zeigt, seine Parallele an dem Klangwert, den in der Neuzeit im Deut- salität der Hermeneutik abschließend bestätigen.
schen das Wort >Kunst< erlangt hat und dem in anderen Sprachen die Ablei- Der Begriff des Schönen bringt uns nicht nur mit dem Begriff des Guten,
tung des lateinischen >ars< entspricht. Der Weg, den der Wörtgebrauch sondern auch mit dem Begriff des Wahren in Berührung und damit mit der
durchläuft, beschreibt der Sache nach den Weg von dem für Gebrauch und Fragestellung der Metaphysik überhaupt. Es geht nicht allein um die Kunst,
Nutzen bestimmten Herstellen zu einem Herstellen, das nichts Nützliches sondern es ist der weite Begriff des Schönen, wie er in den Platonischen
erbringt und keinem Gebrauch dienen soll. In solcher >Freiheit< besteht die Dialogen Thema ist. Damit ist gewiß nicht die Kunst als solche gemeint.
eigentliche Auszeichnung des Schönen. Deshalb hat man anfangs ja auch Man denke nur an die Vertreibung der Dichter aus dem idealen Staat2 oder
den Ausdruck >schöne Kunst< gebraucht. Schön ist etwas, auf das nie die an die herausfordernden Sätze, daß die Kunst in einem doppelten Abstand
Frage trifft, wozu es da ist. Diese Bemerkungen zu dem Begriff der schö- von der Wahrheit sei. Plato verwendet dafür den Begriff der Mimesis. Das
nen Kunst ergänzen meine abschließende Analyse, die ich in der Zusam- Einzelne ist jeweils Nachahmung der Idee. Die Abbildung wird so Nachah-
menfassung der letzten Seiten von >Wahrheit und Methode< dem Begriffs- mung von Nachahmung. Das ist eine bewußte Zuspitzung. Aristoteles sieht
gegensatz von >kalon< und >chrësimon<, von >schön< und »nützlich/, gewid- in >Mimesis< dagegen nicht so sehr den Unterschied von Nachahmung und
met habe. Im Begriff der freien Künste klingt bereits etwas von der Nach- Nachgeahmtem. Er hebt die Identifikation von beidem hervor 3 . Daher
barschaft an, die zwischen den Begriffen des Theoretischen und des Ästhe- leistet die Mimesis in Wahrheit Erkenntnis, weil eben Erkenntnis überhaupt
tischen besteht, und damit von der Nachbarschaft zwischen dem Schauen Wiedererkenntnis ist, wie ich in meinen Arbeiten gezeigt habe.
des Schönen und dem Wissen des Wahren. Der Begriff des Schönen ist im Jedenfalls denkt Plato nicht an die Kunst, wenn er von >Aletheia< spricht
griechischen Denken mit dem Begriff des Guten, ja sogar mit dem Begriff und sie mit Schönheit in Verbindung sieht, und er denkt auch nicht an die
der >Aretê< aufs engste verknüpft, wie das der bekannte Ausdruck »Kaloka- Dichter, die zwar viel Wahres zu sagen haben, aber wie das Sprichwort
gathia< als Idealbegriff menschlicher Vortrefïlichkeit anzeigt. Hierzu gibt sagte: »Die Dichter lügen viel.« Plato meint vielmehr die Freude an den
Aristoteles, der das Unterscheiden liebt, einen wichtigen Wink1, wenn er reinen Formen und Farben und nicht an Blumen oder Tieren »und ihren
feststellt, daß >gut< immer mit der Praxis zu tun habe, >schön< dagegen vor Abbildungen« (Phileb. 51 c). Die Stelle lehrt deutlich, wie wenig die Abbil-
allem mit den unveränderlichen Dingen (εν τοις άκινήτσις), das heißt also mit dung als solche ins Gewicht fallt. Dagegen tritt der Begriff des Schönen mit
dem Bereich der Zahlen und der Geometrie. So nennt er als Arten des dem Begriff der Aletheia und dem Begriff des Guten in den tiefsinnigsten
Schönen >Taxis<, >Symmetria< und >das Bestimmte< (το ώρισμένον). Das ent- späten Dialogen Piatos ganz in den Vordergrund. Plato sucht dort in dem
spricht dem Argumentationszusammenhang der >Metaphysik< (M 3 und »guten Leben< nicht reine Genauigkeit mathematischer Art, sondern die
4), der zur kritischen Diskussion der Ideenlehre vorbereitet und am Ende in maßvolle Gemessenheit eines wohlgemischten Lebenstrankes: dort ist das
die eigenste Domäne des aristotelischen Denkens hineinfuhrt, und das ist Gute zu suchen. Das ist die Idee des >Philebos<.
die >Physik<. Damit erhält die berühmte, vielbehandelte Wendung (Phileb. 64e 5) fur
Das Zeugnis des Aristoteles ist deshalb so wichtig, weil sich darin die uns Interesse, wonach sich das Gute auf der Suche nach dem richtig gemisch-
Nachbarschaft bekundet, die zwischen dem Bedeutungsfeld von Poiesis, ten Sein in das Schöne geflüchtet hat4. Wenn dort betont wird, daß das Gute
Kunst und Werk zu dem Bedeutungsfeld des Schönen und des Wahren sich nur in der Dreiheit von Schönheit, Symmetria und Aletheia fassen läßt,
besteht. Das Schöne bleibt dem Bereich des Wissens und des Erkennens zeigt das, wie wichtig es für Plato ist, daß das Gute zwar jenseits des Seins,
nahe. Von hier aus ist.· es nicht überraschend, daß der Rückgang auf die aber eben nicht nur das Eine ist, sondern notwendigerweise Vielheit in sich
griechischen Anfange des Denkens und auf die metaphysische Rolle, die enthält. Das schließt aber ein, daß sich in der »Gemessenheit der Erscheinun-
der Begriff der Schönheit dort besitzt, auch für die hermeneutische Philo-
2
sophie von zentraler Bedeutung ist. Wenn ich in »Wahrheit und Methode< Siehe dazu auch meinen Beitrag >Plato und die Dichten in Ges. Werke Bd. 5,
mit der Erfahrung der Kunst einsetzte, um von da aus die ganze Dimension S. 187-211.
3
Siehe >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 118ff. und die einschlägigen
der Hermeneutik in der universalen Bedeutung der Sprachlichkeit zum Arbeiten dieses Bandes: >Kunst und Nachahmung< (Nr. 4), >Dichtung und Mimesis<
Thema zu machen, sollte der Rückgriff am Schluß des Buches auf den (Nr. 8) und >Das Spiel der Kunst< (Nr. 9).
4
Vgl. hierzu >Platos dialektische Ethik< in Ges. Werke Bd. 5, S. 149ff., sowie >Die Idee
Met. M 3,1078 a 31-32-
des Guten zwischen Plato und Aristoteles< in Ges. Werke Bd. 7, S. 185 ff.
382 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild - >so wahr, so seiend< 383

gen Schönheit darstellt. Dem entspricht, wie Plato im >Politikos< (283 bff.) hen 6 . Diese »weisen Leute< begehen einen fundamentalen Irrtum, wenn sie
auf das gleiche Thema eingeht. Dort ergreift Plato die Gelegenheit zu einer den Unterschied zwischen den reinen Verhältnissen der Zahlen und Maße
fast absurden Abschweifung. Es beklagt sich der Gesprächspartner, daß der beachten, aber nicht den Unterschied, der diese Maße von dem »Genauen
Weg des Gesprächs allzu lang und beschwerlich sei. Da rechtfertigt sich der selbst< trennt. In Wahrheit vernachlässigen sie damit den wahren Sinn des
Fremde durch eine lange Auseinandersetzung über das zweierlei Maß und Reinen und nehmen es für das Seiende selbst, und so halten sie etwas für
daß es am Ende immer auf die Angemessenheit ankomme. Der Gesprächs- einen Beweis, wenn sie etwa bei der berühmten Quadratur des Kreises den
partner ist hier Sokrates der Jüngere und wahrlich nicht der Sokrates der sinnlichen Augenschein gelten lassen. Es ist das Gegenstück zu dem Irrtum,
>Politeia<, der die Stemenbetrachter verspottet. Aber der alte Sokrates im den ein Baumeister beginge, wenn er auf der mathematischen Genauigkeit
>Philebos< ist auch nicht mehr der der >Politeia< (wobei über die Enstehungs- des Richtmaßes bestünde. Diesen Irrtum bezieht Aristoteles in kritischer
zeit dieser Dialoge oder gar der Platonischen Gedanken nichts gesagt ist). Absicht auf die Platoniker.
Im >Politikos< begegnet die breit ausgeführte Darlegung über zweierlei Der Rückgang auf den antiken Schönheitsbegriff, zu dem einen die Nähe
Maßkünste, und dort wird, wenn ich recht sehe, das Angemessene (μέτριον) von Schönheit und Wahrheit im antiken Denken einlud, scheint nun freilich
als >das Genaue selbst< (αντό το ακριβές) bezeichnet. Dies ist nun jedenfalls für die Frage nach der Kunst in Enttäuschung zu enden. Es sieht so aus, als ob
nicht die reine Genauigkeit, die in Zahlen und Maßen begegnet, wie sie die die Probleme der Kunst und ihres Wahrheitsanspruches hier gar keine Stütze
Auszeichnung der Mathematik ist. Man darf diesen Ausdruck nicht, wie es finden. Es geht immer nur um Mathematik und um die reinen Verhältnisse,
von Werner Jaeger behauptet wird, als eine Anspielung an die Zahlenmeta- denen die mathematische Wissenschaft von den Zahlen und Kreisen gewid-
physik bei Plato ansehen. Das trifft vollständig daneben. Es wird ja aus- met war. Plato hat dem Anschein nach die bildende Kunst so gut wie die
drücklich gesagt, worum es sich bei dem >Genauen selbst« handelt: es ist das Dichtung auf den gröbsten Begriff von Abbild begründet. Dagegen ist es
Gemessene, das Geziemende, der günstige Augenblick, das, was man soll5. unser Hauptanliegen, von dem Begriff des Abbildes überhaupt loszukom-
Es heißt geradezu »das Mittlere zwischen den Gegensätzen. Das ist nicht men und einen Wahrheitsbegriff zu gewinnen, der für das Bild wie für die
Zahlenmystik, sondern im Gegenteil eine Vorwegnahme der Mesoteslehre Dichtung gültig wäre.
der Nikomachischen Ethik. Durch sie hat Aristoteles den Begriff des Ethos Indessen, man muß auf die Begriffsbildung der griechischen Metaphysik,
und der Tugend definiert. Plato betont gewiß, daß beide Arten des Gemes- die hier im Spiele ist, genauer eingehen. Dann zeigt sich, daß interessante
senen unentbehrlich sind. Aber wenn er hier im Bereiche des Ethos >das Entsprechungen zu unserer Fragestellung hilfreich werden. Gewiß war
Genaue selbst< im Auge hat, so meint das doch offenkundig, daß es gerade Plato in den Augen des Aristoteles ein Pythagoreer, und man kann ihn
dort auf das genaue Treffen ankommt, weil die Anwendung des >reinen< wirklich eher einen Metamathematiker nennen als einen Metaphysiker.
Wissens der Mathematik hier nicht ausreicht, wo es auf das genaue Treffen Aber die innere Folgerichtigkeit des griechischen Denkweges rückt Plato
ankommt. So geht es offenkundig bei Harmonie, bei Stimmigkeit, bei und Aristoteles enger zusammen, und gerade dieser Zusammenhang ist es,
Schönheit. In diesen Fällen ist in der Tat die kleinste Abweichung schon der für unsere Frage aufschlußreich ist, was die Kunst zur Kunst macht und
schlimm. Ein einziger falscher Ton, in der Musik so gut wie im Umgang der worauf die Absolutheit und Gleichzeitigkeit der Kunst beruht. Jedenfalls ist
Menschen miteinander, stört bereits die Harmonie wie die Stimmung. es nicht der Abbildcharakter des Bildes oder der Dichtung, von dem aus man
Dabei kann man nicht einmal sagen, was das Angemessene eigentlich gewe- Goethes Satz verstehen darf: »So wahr, so seiend. « Damit ist nicht etwa eine
sen wäre, und doch wissen wir mit voller Gewißheit, was das Unangemes- Besonderheit jener Muscheln, ihr Aussehen, ihre Gestalt und Zeichnung
sene war, das die Harmonie gestört hat. gemeint, sondern etwas, was jenseits dieser Greifbarkeiten liegt und gerade
durch das Ungreifbare auf Goethe einen so überwältigenden Eindruck ge-
Man möchte eine solche Darlegung, die hier die Umständlichkeit des
macht hat. So ist auch für uns die Kunst überwältigend, ob in ihr Abbildhaf-
Argumentationsganges begründen soll, nicht ganz am Platze finden. Aber
tes erscheint oder ob eine völlige Abkehr von aller Abbildlichkeit vorliegt,
Plato gibt gerade dadurch der Darlegung ihren Nachdruck. Er betont die
wie es in der gegenstandslosen Malerei und Plastik sein kann. Es geht eben
Bedeutung des rechten Unterscheidens, die er >Dialektik< nennt, in kriti-
um anderes als um das Verhältnis von Abbild und Original. Werke der
scher Abkehr von den weisen Leuten, die blindlings auf Genauigkeit beste- Kunst haben einen erhöhten Seinsrang, und das zeigt sich daran, daß wir an

6
s
Polit. 284eff. : τό μέτριον, το ηρέηον, το καίριον, το δέον.
Polit. 285 a: οι κομψοί und μεγαλοηρεπζύς.
384 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild - >so wahr, so seiende 385

dem Kunstwerk die Erfahrung machen: Es kommt heraus - und das ist das, physik innehatten. Es ist die neuzeitliche Physik, die dergestalt alles ihrer
was wir Wahrheit nennen. eigenen Jurisdiktion unterstellte. Die alten Lehrgebiete verloren ihre Gel-
Es kann nicht verwundern, daß weder im Altertum noch im christlichen tung, und der Ästhetik bzw. Philosophie der Kunst kam ein neuer Rang zu7.
Mittelalter von einem erhöhten Seinsrang der Kunst die Rede war. Ihr >Sitz Was das für eine gewaltige Veränderung war, läßt sich an einer begriffsge-
im Leben< war für die antike Welt und ihre sakralen Ordnungen selbstver- schichtlichen Einzelheit illustrieren. Die antik-mittelalterliche Astronomie
ständlich und wird im kirchlichen wie im weltlichen Rahmen der christli- hieß »Musica caelestis< — im Unterschiede zu der irdischen Musik der hörba-
chen Metaphysik derart befestigt, daß die Weltordnung bzw. die Schöp- ren Töne. Was die alte Lehre der Pythagoreer von den reinen Zahlverhältnis-
fungsordnung den hohen Rang der Werke der Kunst mitträgt. Das gilt sen am Sternenhimmel fand und was das Mittelalter als pythagoreisches
ebenso fur die literarischen Künste, welche Mythen und Sagen in immer Erbe in einem Jenseits der Physik verwaltete, verlor an die neuzeitliche
neuer Darstellung zwingend zur Sprache bringen. Darauf beruht ja die alte Wissenschaft ihre Geltung. So wiederholte sich im Grunde eine antike
Zwietracht zwischen Dichtern und Forschern, die man Philosophen nannte, Problemsituation. Sie bestand in dem Gegensatz zwischen dem Pythagoreer
daß sie beide auf ihre Weise Wahrheit meinten. Auch die verschiedenen Plato und der Physik des Aristoteles, der in gewissem Sinne bis heute
Bilderstürme, die über die christliche Kirchengeschichte hinweggegangen fortbesteht, wenn man etwa an den Einbruch der Statistik in die Quanten-
sind, wirken wie ein später Nachklang dieser Spannung zwischen dem physik denkt. Da gibt es Gleichungen, aber keine eindeutigen Zuordnungen
wahren Bild und dem wahren Wort. zu dem Ganzen der Meßbefunde.
Erst im Zeitalter des Humanismus, als das Mittelalter zu Ende ging, Versuchen wir es also noch einmal, mit älteren Begriffen das Gemeinsame
änderte sich das. Da trat neben den Schöpfergott des Alten und Neuen aller Kunst herauszuarbeiten. Wir wollen das, was wir heute >Kunst< nennen
Testaments der schöpferische Künstler als ein >alter deus<, als eine Art und was Künstler schaffen, begrifflich so fassen, daß der Wahrheitsanspruch
zweiter Gott. Ab die Revolution des dritten Standes die neuzeitliche Aufklä- der Kunst verständlich wird.
rung auf die Spitze trieb, erreichte dann die Kunst als Stellvertreterin ihren Plato unterscheidet im >Philebos< bei der Mischung des Lebenstrankes, auf
höchsten Rang. Man denke an Lucile in Büchners »Dantons Tod<. Vor allem die wir schon anspielten, die reine Mathematik und die Praxis, der es auf
war es die Nachwirkung von Hegels Ästhetikvorlesungen und ihrer Bear- etwas anderes ankomme — und das sei unentbehrlich. Er nennt dies andere
beitung durch Hotho, die bis in den Neukantianismus hinein die größte »Treffsicherheit«8. Es wird ausdrücklich gesagt, daß es für die Praxis des
Wirkung ausübte. Es war nicht mehr das Schöne, sondern die Kunst, was Lebens nicht genüge, sich auf die göttliche Wissenschaft von den reinen
die Ästhetik behandelte. So hat etwa Paul Natorp im Zeitalter der Wissen- Zahlen, Kreisen und Dreiecken zu beschränken. Zur menschlichen Anwen-
schaft der Religion auf der Grenze der reinen Vernunft ihren Platz angewie- dung gehöre durchaus auch der >falsche< Kreis und ebenso das »falsche< Maß.
sen, den sie mit der Kunst zu teilen hat: Mit der Abwendung von dem Selbst bei der Musik und der Baukunst, in denen die Zahlen und Maße eine
geschlossenen geozentrischen Weltbild und mit der Kopernikanischen Wen- besonders hervorragende Rolle spielen, kommt es auf die Kunst des Treffens
dung öffneten sich unausdenkbare Unendlichkeiten, die eine neue For- an. Sie sei unentbehrlich. So sei sie in dem guten Leben überhaupt zuzulas-
schungsgesinnung weckten. Die wissenschaftliche Aufklärung trieb nach sen, »wenn einer auch nur den Weg nach Hause soll finden können« (Phileb.
allen Seiten ins Unbekannte. Aus dem Forschungsreisenden wurde der 62b 8 ).
Forscher. Damit wurde eine steigende Umarbeitung der Natur und die Das ist ein entscheidender Schritt, den Plato damit gegenüber den Pytha-
Beherrschung der Natur durch Wissenschaft und Technik die Grundgesin- goreern tut, indem er den alten pythagoreischen Gegensatz von Unbegrenz-
nung des Zeitalters. Es waren nicht länger kirchliche oder weltliche The- tem und Grenze ergänzt durch eine dritte Gattung des Seins. Er nennt sie das
men, an denen eine heile Welt zur Darstellung durch die Kunst kommen »Werden zum Sein<9. Diese höchst paradoxe Formel gebraucht Plato offen-
konnte. Damit trat die Ordnungserfahrung als solche, wie sie die bildende bar mit vollem Bewußtsein und - wie er es auch im >Parmenides< tut (Parm.
Kunst, die Dichtkunst und schließlich vor allem die Musik vermittelt, in die 155eff.) - um eine wirkliche Getrenntheit von zwei Welten, einer Welt der
Mitte des bürgerlichen Kulturlebens. Es feiert in dem Wunder der Kunst das Ideen und einer Welt der Erscheinungen, als falschen Schein zu überwinden.
letzte Unterpfand einer heilen Welt.
7
Vgl. meinen Beitrag »Geschichte des Universums und die Geschichtlichkeit des
In anderen Zusammenhängen habe ich dargestellt, wie Ästhetik in Gestalt Menschen<, erscheint in Ges. Werke Bd. 10.
von Kunstphilosophie im deutschen Idealismus den Platz eroberte, den die 8
Phileb. 55 e-?: στοχασακή.
9
Kosmologie und die Naturphilosophie im Rahmen der klassischen Meta- Phileb. 2 6 dg: γένεοιςεΐςονοίαν.
Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort and Bild — >so wahr, so seiend< 387
386
Wie um dem Nachdruck zu geben, variiert Plato den Ausdruck und sagt der Bewegtheit fragen — wie Dynamis, Energeia und Entelecheia -, verwei-
statt »Werden zum Sein< geradezu »gewordenes Sein<10. So betont er noch sen damit auf die Seite des Vollzuges und nicht auf ein >Ergon<. Der Vollzug
mehr die Einheit von Werden und Sein. Das gibt nun doch zu denken, daß hat sein vollendetes Sein in sich selber (τέλος έχει). Damit wird zugleich
Plato dem scheinbaren Gegensatz von Werden und Sein, von Anderswerden deutlich, daß >Energeia< nicht bloß Bewegung (>Kinesis<) meint. Denn Be-
und An-sich-Sein, nicht das letzte Wort läßt. Die Reinheit der Mathematik wegung ist ατελής. Solange sie im Gange ist, ist sie nicht vollendet. Das
bleibt zwar ein Vorbild des Wissens dank ihrer Genauigkeit und Wahrheit. Bewegte ist noch unterwegs, ist noch nicht angekommen. Es ist noch im
Plato spricht hier aber nicht mehr wie in der >Politeia< davon, wie die reine Werden. So erwähnt Aristoteles ausdrücklich und im Unterschied zur
Mathematik den Aufstieg zur reinen Dialektik vorzubereiten hat. - Viel- >Energeia<, daß Werden und Gewordensein nicht zugleich sind. Wohl aber
mehr zielt er nunmehr überall darauf, daß im Weltenbau wie in der Praxis ist Sehen und Gesehenhaben zugleich, oder Über-etwas-Nachdenken und
des Lebens das Gemischte vorliegt und darin das >Genaue< gesucht und Nachgedachthaben ebenfalls. Beides meint ein Verweilen bei dem Gemein-
getroffen werden muß. Am Ende bleibt nur die Welt der Zahlen und der samen, so wie wir etwa »bei der Sache sein« sagen. Nun meine ich, Aristote-
Maße mit dem Begriff des reinen Wissens verknüpft. Das Werden wird les beschreibt >Energeia< durch das Wort für >Zugleich< (άμα), um die imma-
nicht mehr als ein bloßes Nichtsein, das heißt als Anderswerden, gesehen, nente Gleichzeitigkeit der Dauer zu bezeichnen. Es ist kein Nacheinander,
sondern bedeutet Werden zum Sein. Das ist der neue Schritt, der in Piatos sondern ein Zugleich, das dem zukommt, das die Zeitstruktur des Verwei-
>Philebos< seinen Ausdruck findet. Der Schritt vom Werden zum Sein beläßt lens besitzt. Es ist nicht ein Verrichten von diesem und jenem, erst dies und
dem Sein etwas von seinem Gewordensein. Das ließ sich an der Redeweise dann das, sondern es ist ein Ganzes, das da gegenwärtig ist, im Sehen, im
des >Philebos< schon beobachten. Das Sein kommt aus dem Werden heraus. Nachdenken, im Betrachten, in das man versunken ist — oder hören wir
Das ist eine Wendung, über die es sich nachzudenken lohnt. Wir erkennen lieber auf die Weisheit der Sprache und sagen: »in dem man aufgeht«.
darin die Grunderfahrung wieder, die wir dem Werke der Kunst gegenüber Aristoteles fugt denn auch das Beispiel des Lebens an. So sagen wir ja auch,
machen, wenn wir sagen: »So ist es« - so ist es »richtig«. Aristoteles hatte daß man »am Leben ist«. Solange einer am Leben ist, ist er mit seiner
nur einen Schritt über Plato hinaus zu tun, wenn er am »Werden zum Sein< Vergangenheit und mit seiner Zukunft eines.
das Sein des Werdens zum Thema machte. In diesem Zusammenhange Machen wir die Anwendung auf die Kunst. Wir fragen dabei nicht so sehr,
führte er den Begriff der >Energeia< ein, um seine >Physik< zu begründen. was da herauskommt oder sich zeigt. Wir sagen vielmehr, >es< kommt
Aber dieses Wort läßt uns aufhorchen. Das Wort >Energeia< ist offenbar eine heraus. Das sagen wir sowohl im Falle des Bildes wie im Falle von Sprache
Aristotelische Neuschöpfung. Man bemerkt die Verlegenheit, die Aristote- und ihrer dichterischen Mächtigkeit. Wir machen daran eine Erfahrung.
les bei der Definition der >Energeia< hat, weil er sich eben nicht auf den Dies >Machen< meint nicht eigentlich, daß wir etwas tun, sondern vielmehr,
Sprachgebrauch berufen kann. So muß er den Begriff durch die Analogie zur daß uns etwas aufgeht, wenn wir etwas richtig verstehen. Das heißt also
>Dynamis< definieren (Met. θ 6), die Plato bereits im >Sophistes< (Charm. ganz und gar nicht, daß wir etwas hineinlesen oder hineinlegen, das nicht
168dff., Soph. 247eff.) aus dem allgemeinen Sprachgebrauch in die philo- darin ist. Wir lesen vielmehr heraus, was darin ist, und so, daß es heraus-
sophische Diskussion überfuhrt hatte. Der Begriff >Energeia< schillert zwi- kommt.
schen Aktualität, Wirklichkeit und Tätigkeit und wird dann auch noch der So ist es eine Erfahrung der Kunst. Sie ist keine bloße Aufnahme von
Begriffsbestimmung von >Kinesis< (Bewegung) dienstbar gemacht. Mit etwas. Man geht vielmehr selber darin auf. Es ist mehr wie ein wartendes
dem neuen Begriffsausdruck >Energeia< öffnet sich ein Problemhorizont, in und gewahrendes Verweilen, das das Werk der Kunst herauskommen läßt,
dem auch auf die Seins weise des Kunstwerks ein neues Licht fallen dürfte. als daß es ein Tun wäre. Wieder können wir auf die Sprache hören: Was so
Das zeigt sich bereits an einer benachbarten, fast synonymen Wortschöp- herauskommt, »spricht einen an«, wie wir sagen, und so ist der Angespro-
fung des Aristoteles, nämlich >Entelecheia<. Es ist ein Ausdruck, der ebenso chene mit dem, was da herauskommt, wie in einem Gespräch. Das gilt
"wie >Energeia< auf der Schwelle der Neuzeit neue Begriffsbestimmungen an ebenso vom Sehen wie vom Hören oder Lesen, daß man so bei dem Werk
sich gezogen hat. Das Gemeinsame beider Wortbildungen besteht darin, daß der Kunst verweilt. Verweilen ist eben nicht Zeitverlieren. Verweilendes
sie etwas bezeichnen, das nicht wie ein >Ergon< ist, das mit der vollendeten Sein ist wie ein intensives wechselvolles Gespräch, das nicht terminiert ist,
Herstellung sein Dasein hat. Die aristotelischen Begriffe, die nach dem Sein sondern dauert, bis es beendet wird. Das ist das Ganze eines Gesprächs, daß
man eine Weile ganz »im Gespräch« ist, und das heißt »ganz dabei ist«.
10
Phileb. 27 bg: γεγενημενη ουσία. So ist es beim Lesen eines Dichtwerkes, wenn wir auch noch so sehr Zeile
388 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild - >so wahr, so seiend« 389

fur Zeile nacheinander lesen und Seite fur Seite. Auch da ist es nicht wie das wir darauf zeigen könnten oder daß es, wie es das Schöne tut, >hervor-
Durchlaufen einer Strecke bis an das Ziel. Wir gehen ganz mit, wenn wir scheint<. Wenn wir in einem Bild oder in einem Gedicht alles >richtig< finden,
lesen. Wir sind dabei - und am Ende vertieft sich der Eindruck immer mehr: dann meint das nicht >richtig< im Sinne der Satzwahrheit. So hat ja auch
»So ist es.« Es ist wie eine wachsende Faszination, die sich durchhält und Kant, in kritischer Abhebung von der Regelästhetik des Rationalismus, das
sogar vorübergehende Störungen überstrahlt, weil die Stimmigkeit des ästhetische Apriori an die Subjektivität des Gefühls verwiesen.
Ganzen zunimmt und Zustimmung fordert. Wir kennen das besonders Als Ergebnis der vorstehenden Überlegungen möchte ich festhalten: Es
anschaulich beim Hören von Musik. Dilthey hat öfters an der Musik das geht um einen veränderten Ansatz der Frage, was Wahrheit, >Aletheia<,
Strukturgesetz allen Verstehens illustriert. Es ist fast überflüssig zu sagen, Unverborgenheit eigentlich sagen will. Die Heranziehung des Begriffs der
daß, wie das Aufnehmen, auch das Schaffen kein bloßes Herstellen ist. Für >Energeia< hat den besonderen Wert, daß wir uns damit nicht im Bereiche
den Schaffenden ist es das Gelingen des Werks. Für den Aufnehmenden weiß der Satzwahrheit bewegen. Aristoteles hat mit diesem Begriffswort eine
man nicht zu sagen, was es ist. »Je ne sais quoi« sagt dafür die bekannte Bewegtheit ohne Weg und Ziel gedacht, so etwas wie die Lebendigkeit
französische Aufklärung. Es ist eben gelungen und hat seine unbegreifliche selbst, wie das Wachsein, das Sehen oder das >Denken<. All das nennt er
Richtigkeit. So ist es sinnlos, wenn es sich um Kunst handelt, den Schaffen- >reine Energeia<, und das ist es, was uns hier an die Kunst denken läßt. Der
den zu fragen, was er da gemeint hat. Ebenso ist es sinnlos, den Aufnehmen- Gott, der in der aristotelischen Metaphysik als der unbewegte Beweger des
den zu fragen, was es eigentlich ist, was ihm das Werk sagt. Beides geht über Alls eingeführt wird, führt ein solches Leben der reinen Energeia, das heißt
das subjektive Bewußtsein des einen wie des anderen hinaus. Es überschrei- des ununterbrochenen reinen Schauens. Offenbar meint dieses Sein Gegen-
tet alles Meinen und Wissen, wenn wir sagen: »Das ist gut. « Das bedeutet in wärtigkeit als solche. Man weiß bei dieser aristotelischen Lehre daher nicht
beiden Fällen, daß >es< herausgekommen ist. So ist die Erfahrung des Kunst- auf die Frage wirklich zu antworten, was das beschauliche Schauen des
werkes nicht nur die Entbergung aus der Verborgenheit, sondern es ist Gottes eigentlich zum Gegenstand hat - alles oder was? Für Hegel ist es das
zugleich wirklich darin. Es ist darin wie in Geborgenheit. Das Werk der Sein als die Vollendung des Selbstbewußtseins, und er nennt es den absolu-
Kunst ist eine Aussage, die keinen Aussagesatz bildet, aber die am allermei- ten Geist. Er denkt dabei ohne Zweifel auch an den Heiligen Geist, die dritte
sten sagend ist. Es ist wie ein Mythos, wie eine Sage11, und zwar gerade Person der christlichen Trinität. Aber man kann sich die Sache auch so
deshalb, weil sie das, was sie sagt, ebensosehr vorenthält wie zugleich klarmachen, daß man etwa an das Wort >Geistesgegenwart< denkt. Da
bereithält. Die Aussage wird immer wieder sprechen. meinen wir auch nicht etwas Bestimmtes, dessen man gewahr ist und
Es ist nun deutlich geworden, daß der Rückgang auf die griechische worauf man reagiert. Man meint damit vielmehr, daß man wachsam und all
Begriffswelt für unsere Frage Früchte trägt. Es ist zwar richtig, daß wir von dessen gewärtig ist, was da kommen mag. Nach der Ausdeutung der
der Sonderstellung der Kunst und dem besonderen Seinsrang des Kunstwer- griechischen Philosophie ist es die Lebensweise der Götter, die in solchem
kes ausgingen, und das heißt von einer modernen Fragestellung. Die grie- Schauen, in der >Theoria<, ihre volle Erfüllung findet. Da bedeutet der
chische Überlieferung versagte uns daher die Antwort auf unsere Frage, ursprüngliche Sinn des griechischen Ausdrucks >Theoria< etwas Wichtiges.
sofern der Grieche das vom Künstler Geschaffene, und damit die Einzigar- Das griechische Wort meint, an einem festlichen Akt teilzuhaben und dabei-
tigkeit seines Könnens, nicht von dem handwerklich Hergestellten, das auf zusein. Schauen ist also hier kein bloßes Zuschauersein. Es meint »ganz
>Techne< beruht, unterschied. Man verlieh höchstens dem großen Künstler dabei sein«, das heißt eine höchste Tätigkeit und Wirklichkeit. Tatsächlich
den Ehrennamen eines Weisen. Unsere Frage ist aber, wieweit wir solcher braucht man für das griechische Wort >Energeia< diese beiden deutschen
Weisheit auch Wahrheit zuordnen können. Kann die neuzeitliche Wissen- Worte als jeweilige Übersetzung: Tätigkeit und Wirklichkeit. Wer so teilhat
schaft das überhaupt anerkennen? Kann sie ihre Denkweise so erweitern, an einem Kult, der läßt ja auch das Göttliche >herauskommen<, so daß es da
daß das Wahre neben dem Schönen und dem Guten steht, wie das in der ist, wie eine leibhaftige Erscheinung. Das gilt bestens für das Kunstwerk.
antiken Welt galt? Zwar redet man auch im Bereiche der Kunst davon, daß Vor seiner Erscheinung sagen wir auch: »So ist es.« Was da herausgekom-
etwas wahr ist oder daß es so richtig ist. Das ist sogar ein guter Ausdruck für men ist, dem stimmen wir zu, und zwar nicht, weil es ein genaues Abbild
das, was man meint. Aber was da so genannt wird, ist nicht von der Art, daß von etwas wäre, sondern weil es als Bild wie eine überlegene Wirklichkeit
ist. Es kann vielleicht auch Abbild von etwas sein. Es braucht aber auch gar
11
nichts Abbildhaftes an sich zu haben. Man denke daran, was etwa die
Über das Aufkommen des >Mythos<-Begriffs in der Vorromantik vgl. in diesem Mysterienkulte als heiliges Geheimnis gehütet haben. So ist das Kunstwerk
Band >Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (Nr. 16).
390 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild - «o wahr, so seiend< 391
da und ist »so wahr, so seiend«. Es hat im Vollzug sein vollendetes Sein Kunstwerkes kein Maßstab. Was auf solche Weise an einem Bild feststellbar
(τέλος ίχει). ist, ist gerade nicht die Kunst, die es auszeichnet.
Die Sache ist bedeutsam genug. >Aletheia< meint also nicht einfach Un- Das zeigt sich etwa an den Chancen, die die Wissenschaft, die Kunstge-
verborgenheit. Wir reden zwar davon, daß >es< herauskommt, aber das schichte, gegenüber dem Kunstwerk hat. Da ist etwa die ikonographische
Herauskommen hat eine eigentümliche Verfassung. Es besteht darin, daß Thematik, in der die Kunstgeschichte als Wissenschaft unbestreitbar vieles
ein Werk der Kunst sich so darstellt, indem es sich ebenso verbirgt, wie es in diesem Jahrhundert geleistet hat. Aber sofern die Wissenschaft das rechte
sich zugleich selbst verbürgt. Was die Griechen »Hervorscheinen des Schö- methodische Bewußtsein behält, weiß sie sich dabei in der Perspektive des
nen« nannten, gehörte einer Weltordnung an, die sich in wahrer Vollen- Abbildhaften. Was bei alleiniger Orientierung am Abbild und seiner Rich-
dung am Sternenhimmel darbot. Die Trennung des handwerklichen und tigkeit herauskommt, hat Plato mit ironischer Deutlichkeit gezeigt, wenn er
maschinellen Hersteilens von dem, was im modernen Sinne Kunst ist, es etwa an einer monumentalen Skulptur als »falsch« bezeichnet, daß die
meint daher im radikaleren Sinne ein >Herauskommen<. >Es< kommt her- oberen Partien derselben um der Bildwirkung willen größer angelegt wer-
aus, weil es darin ist und in gewissem Sinne ein Verborgenes ist, das erst den als »richtig« wäre (Soph. 235e). Die platonische Schönheitslehre selber
herauskommen muß. Die Unverborgenheit dessen, was da herauskommt, leuchtet dagegen unmittelbar ein und hat über Plotin ihre Nachfolge bis
ist nun aber in dem Werk selbst geborgen - und nicht in dem, was wir Hegel gefunden, wenn man nach Hegel die Kunst als das »sinnliche Scheinen
darüber sagen. Es bleibt auch immer dasselbe Werk, auch wenn es in jeder der Idee« beschreibt. Gibt nicht Plotin einen weiteren Wink, wenn er sagt,
neuen Begegnung auf seine eigene Weise herauskommt. Wir kennen das ein Gesicht erscheine bald schön und bald häßlich, auch wenn nicht die
wohl. Der Betrachter eines Gemäldes sucht den rechten Abstand, wo es geringste meßbare Veränderung vorliegt? Plotin hat dabei das Schöne der
richtig herauskommt. Der Betrachter einer Plastik muß vielleicht darum- Kunst schon immer mit im Auge, das wir bei Plato und Aristoteles nur
herumgehen. Der Betrachter eines Bauwerkes verlangt am Ende, daß man beiläufig erwähnt fanden. Für uns ist es wesentlich, daß es sich hier um ein
es >begeht<, um immer wieder andere, wechselnde Abstände und Blicke zu Er-scheinen handelt. Als Scheinen ist es seinem Wesen nach ein wechselnder
gewinnen. Wer hält da Abstand? Hat man seinen eigenen Standpunkt nach Schein. Und doch gibt es das einzigartige Hervorscheinen des Schönen wie
eigenem Beheben zu wählen und dann festzuhalten? Man muß doch den den Zauber der Kunst, sei es im Sehen, sei es im Hören, sei es in der
Punkt suchen, von dem aus >es< am besten herauskommt. Dieser Punkt ist bildenden Kunst, der Dichtkunst oder etwa in der Musik.
nicht der eigene Standpunkt. Man macht sich geradezu lächerlich, wenn Die Kunst ist im Vollzug. Das ist das Ergebnis unserer begrifflichen
man einem Kunstwerk gegenüber sagt, was man sonst sagen kann, man Rückbesinnung auf die griechische Schönheitslehre und ihre Anwendung.
stünde nicht auf seinem Standpunkt. Solchen Abstand gibt es da nicht. Das bedeutet aber: Die Seins weise des Kunstwerks ist weder ein Geschaffe-
Wenn ein Kunstwerk seine Faszination ausspielt, ist alles eigene Meinen nes, noch treffen Begriffe wie Produktion und Reproduktion seitens des
und Gemeinte wie verschwunden. Aufnehmenden die Sache. Ja, diese Unterscheidung ist geradezu ihr Verfeh-
Das gilt ebenso, wenn es sich um eine Dichtung handelt. Man tut gut, len. Die Künstler, Bildhauer, Maler, Dichter leisten zwar planvolle Arbeit,
sich hier an Hegels Begriff des Absoluten zu erinnern. Ja, wir müssen uns machen vielleicht viele Entwürfe und Versuche, um ihren Plan auszufuhren.
fragen, ob man bei einem Kunstwerk überhaupt so, wie man das bei dem Aber es ist kein Herstellen von etwas, was ein anderer so haben will, um es
Handwerk tut, zwischen dem Machen und seinem Produkt trennen darf, dann in Gebrauch zu nehmen. Beides sind unangemessene Begriffe, die die
das ja alsdann seinem Gebrauchszweck überlassen wird. Das Kunstwerk ist geheime Selbigkeit des Schaffens und des Aufhehmens verdecken. Die
offenbar nicht im gleichen Sinne ein Werk. Wenn wir von ihm sagen, daß künstlerische Schöpfung ist nicht etwas, was man macht — und wird auch
>es< herauskommen muß, dann sollten wir Heber statt an Handwerk an die nicht nachgemacht oder gar nacherlebt. Wir sagten immer, es kommt heraus
Natur denken, die im Frühling die Blumen herauskommen läßt. Das und es ist etwas darin. Aber was und wie, was da herauskommt, läßt sich
Kunstwerk ist eben nicht das Produkt, das nach getaner Arbeit fertig ist. nicht sagen. Der Maler kann es in seinem Bild sagen, und er kann das
Das Kunstwerk ist überhaupt kein Gegenstand, dem man sich mit dem Gelingen seiner Arbeit meinen, und der Betrachter wird auf der anderen
Maßstab in der Hand nähern kann. Ein wirkliches Kunstwerk läßt sich Seite mit konzentrierter Kraft dabei sein. Er wird dann vielleicht finden: »Es
nicht durch Meßvorgänge erfassen, auch nicht nach der Zahl der Bits. kommt heraus« - oder: »Es ist etwas darin.« Aber gewiß ist es nicht das
Informationsleistungen, wie man sie aus Zeitungen, Abbildungen, Reise- Abgebildete, das da herauskommt, so daß man es erkennt und wiederer-
berichten oder Romanen empfangen mag, sind für den Kunstwert eines kennt. Das ist nicht die Aussage des Bildes.
392 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild - >so wahr, so seiend« 393

»Es kommt heraus« - ist vielmehr etwas, was man noch nie so gesehen erfüllte Zeit dauert nicht und vergeht nicht12. Und doch geschieht da aller-
hat. Selbst wenn man es mit einem Porträt zu tun hat, den Porträtierten hand.
kennt und das Bild ähnlich findet, ist es doch so, als hätte man ihn noch nie so Beim Bild wie beim Buch nenne ich, wie dieses Geschehen geschieht, das
gesehen. So sehr ist er es. Man hat sich sozusagen hineingesehen, und je mehr >Lesen<. Bei Lesen weiß man, was es heißt, das zu können und kein Analpha-
man das tat, desto mehr ist es herausgekommen. Das Porträt ist gewiß ein bet zu sein — was freilich nur der erste Schritt zum Können ist, das ein Werk
Sonderfall. Indessen, beim Götterbild oder beim Heiligenbild sagt man es der Kunst verlangt. Aber wenigstens bildet man sich nicht ein, wie die
sich auch. Das Bild hat seine eigene Hoheit. Man sagt es selbst bei einem meisten beim Sehen meinen, das könne man schon. In Wahrheit muß man es
wunderbaren Stilleben oder einer Landschaft, weil in dem Bild alles so lernen, wie das Sehen und wie das Hören von Musik. >Lesen< hat dabei
stimmt. Da läßt man jeden Abbildbezug hinter sich. Das ist die Bildhoheit, vielfältige Anklänge von Zusammenlesen, Auflesen, Auslesen und Verlesen
Oder man liest ein Gedicht. Man üest es wieder. Man geht es durch und es wie bei der >Lese<, das heißt der Ernte, die bleibt. Aber >Lesen< heißt auch,
geht mit einem mit. Es ist, als ob es zu sprechen, als ob es zu singen begönne, was mit dem Buchstabieren anfängt, wenn man schreiben und lesen lernt,
und man singt mit. Wenn es sich um Musik handelt, sei es, daß man selber und wieder gibt es zahlreiche Anklänge. Man kann ein Buch anlesen oder
Musik macht, »nach Noten<, wie wir sagen, oder auch nur die Musik auslesen, man kann sich einlesen, man kann weiterlesen, nachlesen, vorlesen
mitanhört, dann ist all das da, Wiederholung, Variation, Umkehrung, - und auch diese Reihe zielt auf eine Ernte, die gesammelt ist und aus der man
Auflösung, und es ist einem geradezu vorgeschrieben. Aber nur, wenn man sich nährt.
mitgeht, sei es als Musizierender, sei es als Zuhörer, kommt es heraus und es Diese Ernte ist das Sinnganze, das sich aufbaut, ein Sinngebilde wie ein
geht einem ein. Sonst rauscht es vorbei und schien einem leer. Klanggebilde zugleich. Das sind gleichsam Bauelemente von Sinn: Motive,
Bleiben wir bei dem Gedicht. Da ist, wenn man ein Gedicht liest oder es Bilder und Klänge. Es sind aber nicht etwa die Buchstaben, die Wörter, die
>sich aufsagt<, allerhand zu verstehen, und es ist ganz gegenwärtig gewor- Sätze, die Perioden oder die Kapitel. Solches gehört in die Grammatik und
den. Ein wahrer Strom von Bildern und Klängen erfüllt einen, und am Ende Syntax, zählt zu dem bloßen Skelett der Schriftlichkeit und nicht zu der
sagt man sich vielleicht: »Wie schön! «, oder vielleicht sagt man: »Wie da alles Formgestalt. Die Formgestalt ist es, was herauskommt, dank den dichteri-
sitzt und wie da alles richtig ist!« Man hat dem Diktat gehorcht. Man hört es schen und bildnerischen Sprachmitteln, die im Fluß ihres Zusammenspiels
geradezu, wenn man es liest, und zwar immer noch ein wenig richtiger, als die Gestalt aufbauen. Nachträglich kann das durchgegliedert werden, und
wenn man selber es sich wirklich aufsagt. das mag dann dem wirklichen Sehen oder Hören, dem Vollzug, zugute
Was ich beschrieben habe, ist die Bildhoheit in den bildenden Künsten und kommen, so daß er an Differenzierung gewinnt. Im allgemeinen bildet sich
das Diktat des Textes in der >Literatur<. In beiden Fällen handelt es sich um aber die Formgestalt von Bild und Text ohne ausdrückliche Abhebung. Der
eine normative Gewalt. Wie jede Norm, ist sie immer nur in verschiedenen Vollzug ist die Interpretation13.
Graden der Näherung erreichbar. Aber nein - das ist gerade nur, was wir Wenn ich mich auf den Begriff des Lesens konzentrierte, so geschah das,
sagen, wenn wir nachträglich reflektieren. Im Vollzug ist es anders. Da ist es um den Unterschied zwischen der Äußerlichkeit des Daseins, etwa von
>richtig da<, das Bild, das Gedicht, das Lied. Es ist herausgekommen. Von da Farben oder Worten oder auch Schriftzeichen, klar von dem abzuheben, was
aus versteht man auch den ursprünglichen Sinn von Kritik — daß man etwas der Begriff des Vollzuges hier zu leisten hat. Da muß man sich nur klar-
als ein Kunstwerk von Unkunst scheidet (und nicht, daß man es besser weiß machen, wie es beim Vollzug des Lesens ist. Lesen will keine Reproduktion
als der Künstler). von ursprünglich Gesprochenem sein. Das war der große Fehler Bettis, hier
Wir fragen.jetzt nicht mehr, was ein solcher Vollzug eigentlich ist, wie er zweierlei Sinn von Interpretation zu unterscheiden, den einen im theoreti-
anfangt, endet, wie lang er dauert, wie er einem nachgeht und am Ende schen, den anderen im Bereich der transitorischen Künste, etwa im Falle der
absinkt und doch irgendwo bleibt und wieder auftauchen kann. Wir fragen Musik oder der Theaterkunst, wo man von >Reproduktion< sprechen möch-
so nicht. Das haben wir eben an Aristoteles' >Energeia< gelernt - und so zu te. Gerade an der Musik läßt sich aber zeigen, daß nicht das richtige Abspie-
fragen verlernt. Gewiß, es ist eine >Weile<, aber eine, die niemand mißt und len des Notentextes die Interpretation ist. Ebenso würde man es, wenn man
die man nicht lang- und nicht kurzweilig findet. 12
Zur Unterscheidung zwischen >leerer< und >er£üllter< Zeit siehe meinen Beitrag in
Gleichwohl baut sich ein Bild oder ein dichterischer Text im Nacheinan- Ges. Werke Bd. 4, S. 137-153.
der der Zeit auf, und das >nimmt Zeit<. Wieder aber sagen wir das nur, wenn 13
Siehe dazu in diesem Band >Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23) und >Über das Lesen von
wir die leere Zeit konstruieren, in der allein so etwas meßbar wird. Die Bauten und Bildern< (Nr. 30).
394 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild — >so wahr, so seiend« 395

einen sprachlichen Text von dichterischer Art so liest, in Wahrheit nicht Herstellen von Produkten, die in der Werkstatt entstehen. Unsere Sprache
lesen nennen, sondern buchstabieren bzw. >aufsagen<. Der Begriff des Le- spricht bei Natur und Kunst von >organischer Einheit*. Sie ist wie von
sens muß also von dem, was man Reproduktion nennt, ganz unterschieden niemandem gemacht. Das hat Kant gesehen, wenn er die ästhetische und
werden, und so muß auch der Begriff der Interpretation von dem Aspekt teleologische Urteilskraft zusammenfaßte. Freilich hat er im Blick auf den
bloßer Reproduktion unterschieden werden. Wer Musik macht und Musik Wissenschaftsbegriff der neuzeitlichen Physik weder in der Ästhetik noch in
nicht buchstabiert, ist in Wahrheit als Interpret der Vollzieher der Musik, so der Naturerkenntnis dem Zweckbegriff objektive Geltung zuerkannt. Das
daß sie herauskommt. Die perfekte technische Reproduktion, und leider hat erst der deutsche Idealismus gewagt — und damit >die Kunst< als Kunst
damit auch im Prinzip die Schallplatte und jede andere technische Reproduk- entdeckt14.
tionsform, etwa die farbige Reproduktion von Gemälden, ist wirklich nur Daraufläuft es am Ende hinaus, daß die Kunst in die Nähe zur >Theoria<
Reproduktion ohne Interpretation. Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit be- gehört. Wirklich kennen wir ja in der Geschichte des Denkens die innige
darf es der Erinnerung, was Interpretation eigentlich ist. Nachbarschaft von Kunst und Wissenschaft, die sich gegen alle praktisch-
Es gibt Polemik gegen die Interpretation und berechtigte Kritik an ihr, technische Betätigung abgrenzt. So ist es ein positives Ergebnis und zugleich
wenn sie sich gegenüber dem Kunstwerk vordrängt und von ihm abdrängt. die Rechtfertigung des Rückgriffs auf die Grundbegriffe der theoretischen
Daß sie sich das anmaßt, ist die Folge eines Wissenschaftsbegriffs, der ganz Philosophie, wenn man den neuzeitlichen Sinn von Kunst und ihren Abso-
von der Objektivierung eingenommen ist. Das, was man an einem Kunst- lutheitsanspruch begreifen will. Während das Werk des Handwerkers oder
werk, das im Vollzug sein Sein hat, durch Objektivierung und wissenschaft- seiner industriellen Nachfolger dem Gebrauch dient, ist das Kunstwerk fur
liche Methodik erfassen kann, bleibt notwendig sekundär und insofern sich selbst da und ist in seiner Seinsweise reine >Energeia<. Die Griechen
geradezu unwahr. Die Wahrheit, die wir in der Aussage der Kunst suchen, machen diesen Unterschied von Handwerk und Kunst sonst nicht. Wohl
ist die im Vollzug erreichbare. Die bekannte Polemik von Susan Sontag legt aber unterscheiden sie mit grundsätzlicher Schärfe >Techne< und >Physis<.
den Finger auf den wunden Punkt, wenn es sich um wissenschaftliche Das Natürliche und Lebendige ist in allen Phasen seines Daseins Natur, als
Interpretation von Dichtung und Kunst handelt. Wissenschaftliche Metho- Same, als Keim, wenn es aus dem Boden herauskommt, und sein ganzes
dik läßt ein Werk der Kunst nicht in seinem eigenen Licht erscheinen. Sie Wachstum, Reife, Frucht. All das ist ein einziger Vollzug >von Natur zu
muß überhellen. Heidegger hat einmal gesagt, jede Interpretation müsse Natun, wie Aristoteles sagt15. Eben das zeichnet aber auch die Kunst gegen-
überhellen. Das ist am Ende immer so, wenn man sich auf einen Vollzug über den Produkten des Herstellens aus. Das Werk der Kunst ist nicht
bezieht. Erst durch Zurücknahme aller vereinzelnden Vergegenständli- hergestellt wie eine Ware (auch wenn es auf den Markt gebracht wird), wenn
chung kann Interpretation dem Vollzug selber dienen. So ist es jedenfalls bei es in einer Sammlung, im Museum oder sonstwo für den Vollzug des
einem Kunstwerk, daß es im Vollzug allein sein Sein hat. So ist es wohl aber Betrachtern da ist oder wenn ein Buch in der Bibliothek daraufwartet, im
auch in der Philosophie, wenn man Piatos Siebentem Brief oder Kant folgt. Vollzug des Lesens als Kunst erfahren zu werden — das ist nicht unser
Nicht ohne Bedacht sprach ich von dem Fluß der das Lesen begleitenden gewöhnliches Tun, es ist eine höchste Praxis, wie wir die griechische >Theo-
Gestaltung, die sich am sprachlichen Text in der richtigen Betonung oder in ria< schon kennengelernt haben. Kunst ist im Vollzug, wie Sprache im
der rechten Phrasierung beim Musizieren bekundet. Hier wird erneut deut- Gespräch.
lich, was Vollzug ist. Es ist eben kein vergegenständlichendes Erkenntnis- Das Thema >Bild und Gedicht<, bildende Kunst und dichterische Kunst,
verhalten. Es ist vielmehr die in den Vollzug eingegangene Mannigfaltig- erschöpft nun bei weitem nicht den Umfang dessen, was wir mit ins Auge
keit. Das ist es, was Aristoteles >Energeia< nannte. Seine Begriffsschöpfung fassen müssen, wenn es um den Vollzugscharakter von Kunst geht. Das sei
entstand aus der Abhebung von der pythagoreischen Mathematisierung des noch an zwei Beispielen erörtert. Das eine ist die Architektur. Sie hat in
Universums und seiner Musik. Was wir Natur und die Griechen >Physis< gewissem Sinne, wie ich in >Wahrheit und Methode< betont habe16, eine
nennen, das ist vor allen Dingen Lebendiges in seiner Bewegtheit. Das
14
Durchlaufen eines Massenpunktes durch die Strecke von Weg und Zeit Vgl. die gediegene Studie VOIIJÜRGEN-ECKARDT PLEINES, Ästhetik und Vernunftkri-
macht die Bewegung kalkulierbar und konstruierbar, aber das ist nicht die tik (Hildesheim/Zürich/New York 1989) und den Aufsatz >Einheit und Mannigfaltigkeit
im ästhetischen Urteil· in der Zeitschrift fur Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft
>Energeia< des Lebendigen oder wie es das Sehen und Wachsein des Denken-
33 (1988), S. 151-175.
den ist. Ich ziehe eine Konsequenz, die zunächst verblüffen mag, aber sie hat 15
Phys. Β 1,193b 12-13: ή φύσις. .. οδός έσαν εις φύοζν.
ihre Evidenz: Natur und Kunst stehen einander näher als das planende ι* Ges. Werke Bd. 1, S. 161 ff.
396 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild - >so wahr, so seiend< 397

tragende und raumschaffende Funktion fur allen Vollzug von Kunst. zwischen Kunst und Handwerk besteht nicht immer, und so auch nicht bei
Gleichwohl ist Architektur nicht bloße Herstellung eines zweckvollen Pro- der Architektur. Aber das weist ja gerade auf die spannungsvolle Dialektik
duktes, worin sich Vollzug von Kunst abspielen kann, wie etwa das Theater, des Schönen, sofern auch dekorative Kunst nur im Vollzugscharakter ihr
die Galerie, der Musiksaal dazu bestimmt ist. Architektur ist vielmehr in Sein hat. Aber es ist anders als bei der Baukunst. Da bleibt der Baugedanke
einer doppelten Hinsicht ihrer Bestimmung getreu. hinter dem Zweck zunächst zurück, bis er einen förmlich überfallt, und dann
Ein Bauwerk kann gewiß kaum je ein Produkt der freien Kunst sein. Es tritt der Zweckbezug in den Hintergrund, so daß das Repräsentative des
dient einem Zwecke und hat seinen Ort inmitten des tätigen Lebens. Gleich- Bauwerkes uns ganz erfüllt. Es ist wie »verstummte Musik« (Goethe).
wohl nennen wir solche Bauten wie eine Kirche, einen Palast, ein Rathaus, ja Daß sich Begleitfunktion und Präsenz verflechten, spielt nicht nur hier,
sogar ein Kaufhaus oder einen Bahnhof mitunter ein Baudenkmal, und das sondern in allem Vollzug von Kunst eine Rolle. All unser Sehen, ebenso wie
meint doch: etwas, das Gedächtnis weckt und einem zu denken gibt. Es ist das Hören, ist ja vom Gesetz des Kontrastes beherrscht. Das Umfeld dessen,
zwar nicht zum bloßen Betrachten da, sondern dient seinem Zweck, und was wir betrachten, spielt immer mit. Das gilt nicht nur fur die bildende
Kunst, sondern auch fur Dichtung. Abstumpfung des Geschmacks und
doch ist es ein Kunstwerk.
Reizgewinn durch das Neue spielen eine Rolle. Bei der Baukunst ist es aber
Man muß freilich mit Nachdruck sagen, daß die Reproduktionswut unse-
noch anders. Da spielen nicht nur begleitende Bedingungen hinein. Der
res technikbesessenen Zeitalters hier einen falschen Schein erzeugt. Die
Zweckgedanke gehört vielmehr selber zur Bauschöpfung. Wo der Zweck-
fotografische Reproduktion von Bauwerken hat die fatale Tendenz, sie zu
bezug eines Baues allzu unklar ist, kann das irritieren, etwa bei der Porta
malerischer Wirkung umzufalschen. Das fuhrt zu einer unwahren Vertraut-
Nigra in Trier, die fast etwas Unheimliches wie ein Grabmal hat, oder wenn
heit und in der Folge zu einer Enttäuschung, wenn man ein Bauwerk nicht
der Pergamon-Altar in Berlin mit seiner Treppe gegen die Wand rennt oder
mehr im falschen Schein des Malerischen sieht, sondern ihm erstmals in
der Lettner im Dom von Hildesheim gegen eine Wand steht. Zu einem Bau
seiner Wirklichkeit begegnet und in seinen Baugedanken eindringt. Es ist gehört eben ein vorgegebener Zusammenhang, in den er sich einzufügen
fast wie mit der farbigen Abbildung von Gemälden, die als das Bild auftritt, hat. Die Raumwirkung ist mitgemeint. Freilich stehen Bauten oft wie
das sie nicht ist, oder wie mit dem dichterischen Werk, das man nur aus der verloren als steinerne Zeugen einer Vergangenheit in einer fremden Umge-
Zeitungskritik kennt. Entsprechend ist es mit der Zweckfunktion des Bau- bung, und doch sind sie eine unverrückbare Erscheinung.
werkes. Als Kunstwerk kommt es erst heraus, wenn es mitten in der
Nutzung gleichsam hervorscheint, wie alles Schöne. Da macht man seine Der Blick auf die Baukunst und die Rolle des Dekorativen behält insofern
eine vorzügliche Bedeutung, als es für die Kunst in der Moderne charakteri-
zweckvollen Gänge, etwa im Kirchenraum oder in einem Treppenhaus, und
stisch war, daß ihr »Sitz im Leben« fragwürdig geworden ist. Die Baukunst
plötzlich bleibt man wie gebannt stehen. Das braucht nicht zu heißen, daß
repräsentiert die ständige Aufgabe, das zu leisten, was die >freie< Kunst in
man die Zwecke des eigenen Tätigseins vergißt. Wie etwa der kultische
ihrem eigenen Vollzug als Bildwerk, Dichtwerk, Tonwerk kraft ihrer eige-
Zweck im Kirchenraum, so kann sich auch sonstwo eine bedeutende Treppe
nen Formgewalt vermag, nämlich, auf sich zu ziehen und auf die Gestaltung
in die eigenen Lebensvollzüge einfügen.
des ganzen Lebensvollzugs einzuwirken. Diese Art Einwirkung, die sie
Wir befinden uns bereits bei dem anderen problematischen Begriff, den
ausübt, nennen wir >Stil<. Es ist ja ein Ganzes, das sich in den verschiedenen
ich erörtern wollte, bei dem Begriff des Dekorativen. Was wir »dekorativ*
Bereichen bildet und zusammenordnet. Es gibt den Stil im Schreiben und
nennen, ist bereits von dem Begriff der Kunst aus gedacht, und wenn wir
natürlich auch Stil in der Rede, Stil im Umgang der Menschen miteinander
etwa ein gemaltes Bild dekorativ finden, so ist das fast schon eine Kritik. Es
und in der gesamten Gestaltung der Umwelt, in der menschliches Leben sich
kommt da eigentlich nichts heraus, bzw. es ist eben nichts darin. Was
abspielt. Daß am Ende die Baukunst dabei eine besondere Rolle spielt, Stil zu
dekorativ ist, soll ja wirklich nicht herauskommen, sondern hat seine Be-
bilden und darzustellen, verdankt sie ihrer raumgestaltenden Aufgabe, mit
stimmung als Hintergrund. Wenn sich ein solcher Hintergrund zu sehr
der sie zugleich aller anderen Kunst einen Sitz im Leben bietet - für deren
hervordrängt, etwa bei figürlichen Tapeten, wie das in den Fieberträumen
eigene stilschaffende Kraft und ihre Wahrheit.
meiner Kindheit, war, verfehlt eine solche Dekoration ihre wahre Bestim-
mung. Gleichwohl handelt es sich um Kunst, wenn wir etwa von einem . Die Erörterung der Architektur und der dekorativen Kunst ist also kein
Schmuckstück reden, das einem in die Augen sticht. Da mag man dann bloßer Anhang, nachdem die bisherige Untersuchung sich in betonter Ab-
mehr die Kunstfertigkeit und den Geschmack bewundern, und zwar weil es sicht auf den Kunstbegriff der Neuzeit konzentriert hat. Wir sahen ja, daß
nicht zu auffallend ist und sich zurücknimmt. Ein scharfer Unterschied tatsächlich die philosophische Relevanz der Kunst sich erst spät durchgesetzt
398 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Wort und Bild - >so wahr, so seiend« 399

hat, und freilich bedeutete das zugleich, daß für die Kunst der Sitz im Leben gegangen ist. Mnemosyne bleibt die Mutter der Musen. Die Gegenwart der
problematisch wurde. Von den Höhlenzeichnungen der Urzeit über die Vergangenheit gehört zum Wesen des Geistes. Die Wunden des Geistes
Kunst älterer Zeiten war das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts selbstver- hinterlassen keine Narben (Hegel).
ständlich. Die Baukunst und die dekorativen Künste bleiben evidenterma-
ßen von dem Ganzen der Lebensgestaltung untrennbar. So muß sich in
diesen Kunstarten der Absolutheitsanspruch der Kunst erst durch ausdrück-
liche Abhebung von allen Zweckfunktionen durchsetzen. Etwas von sol-
cher Abhebung gehört in Wahrheit zu aller Erscheinung des Schönen. Für
die antike Welt versteht sich das ohnehin und ist kein Problem: Die ägypti-
sche und die griechische Götterplastik waren wie die antiken Grabdenkmä-
ler in sakrale Lebensordnungen eingebunden. Das liegt auf der Hand. Auch
wenn sich etwa auf der Akropolis im Perikleischen Athen große Kunstschät-
ze gespeichert hatten, so blieben sie doch für die kultischen Anlässe bereit.
Mit charakteristischen Veränderungen gilt das auch für das christliche
Zeitalter und seine Anfange. So hat man mit Recht das Thema verfolgt, wie
sich das >Bild< erst allmählich im christlichen Abendland aus solchen kulti-
schen Lebensordnungen löst (H. Belting). Wir haben zwar betont, daß die
ikonographische Fragestellung an der Abbildlichkeit orientiert ist. Aber
diese Forschungsrichtung ist gleichwohl nicht einfach Dokumentenfor-
schung, sondern Kunstforschung, gerade weil die Abbildfunktion für den
Sitz im Leben von besonderer Bedeutung ist. Es ist eine andere methodische
Orientierung, wenn man etwa von einer Vollendung des Bildgedankens in
der Entwicklung der Malerei bis hin zur Renaissance redet (mit Gombrich).
Das kann dennoch nicht ausschließen, daß etwa die Pantokrator-Darstellun-
gen der mittelalterlichen Wandmalerei oder Mosaikkunst eine durch nichts
zu übertreffende Feierlichkeit ausströmen, mit der die Madonnenbilder der
Renaissance nicht wetteifern können. Dieser Sachverhalt deutet in Wahrheit
auf die von uns befragte Absolutheit und Gleichzeitigkeit aller Kunst hin.
Ich brauche die vielfaltigen Ordnungsmöglichkeiten von geschichtlichen
Entwicklungsabläufen nicht weiter zu entwickeln und erinnere nur etwa an
den Fall Raffael und die wechselvolle Geschichte seines Ruhms. Oder an die
späte Wiederaufwertung etwa des Barock. Man könnte die Linien weiter
ausziehen, die die Geschichte der bildenden Künste mit ihrem Geschmacks-
wechsel, ihren neuen Wendungen und wechselnden Einflüssen von jeher
und bis heute artikulieren. Im besonderen dürfte es die Geschichte des
Tafelbildes sein, das geradezu ein neues Bildzeitalter eröffnet hat, dem die
Galerie, das Museum und überhaupt die Schaustellung von Sammlungen
entstammen. Was man auch immer gegen die Verluste sagen mag, die die
neue Heimat- und Ortlosigkeit der Kunst und der Künstler zur Folge haben
- keine kunstpolitische Programmatik ist ernst zu nehmen, die nicht den
Absolutheitsanspruch aller Kunst anerkennt. Daran ändert die Tatsache
nichts, daß das Zeitalter der gemeinsamen europäischen Baustile zu Ende
Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 401
Die Tendenz des deutschen Idealismus, die der Sprache keine Beachtung
geschenkt hatte, hält sich durch. Noch in der Anwendung auf den Wertbe-
griffhat zwar die Phänomenologie versucht, die Logisierung zu vermeiden,
aber doch darauf bestanden, die Objektivität der Werte zu verteidigen (Max
Scheler, Nicolai Hartmann). Es war erst der späte Natorp, der »endlich,
36. Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache endlich« in der Sprache den eigentlichen Schlüssel entdeckt zu haben meinte.
Selbst in der imponierenden Fortbildung der Marburger Schule, die Ernst
(1992) Cassirer in seiner >Philosophie der symbolischen Formern vorgelegt hat,
nimmt die Sprache zwar einen großen Raum ein, und dort wird auch die
moderne Sprachwissenschaft mit universaler Kenntnis verarbeitet, in der ja
Die Verborgenheit der Sprache das große Erbe Wilhelm von Humboldts und damit ein idealistischer
Grundansatz weiterlebt. Die transzendentale Subjektivität des Neukantia-
Es muß die Phänomenologie interessieren, daß in unserem Jahrhundert das nismus wird aber nicht in Frage gestellt. So muß man sich darüber Rechen-
Thema >Sprache< ganz in das Zentrum der Philosophie gerückt ist. So hat die schaft geben, warum die Phänomenologie, die doch das Thema der Lebens-
Phänomenologische Gesellschaft in Deutschland auf ihrer Tagung in Trier welt freigelegt hat, das Thema der Sprache nicht wirklich aufgegriffen hat.
im Jahre 1987 das Thema >Sprache< gewählt. Ich hatte Gelegenheit, an den Natürlich hat Husserl nicht übersehen, welche besondere Bedeutung die
Diskussionen teilzunehmen. Was ich damals zur Sprache brachte und was Sprache für die Lebenswelt besitzt. Sein Buch >Formale und transzendentale
mich immer wieder aufs neue beschäftigt, war, daß es den meisten, die aus Logik«, das mit Heideggers >Sein und Zeit< fast gleichzeitig ist, bleibt dafür
der phänomenologischen Tradition kommen, in ihren Reflexionen das The- ein erhellendes Zeugnis. Die vereinfachte Fragestellung der >Logischen Un-
ma >Sprache< wirklich festzuhalten schwer fallt. Es prägt sich darin die tersuchungen< hatte Husserl ja längst hinter sich gelassen und war durch die
Eigenart unserer eigenen philosophischen Tradition aus. Sowohl der deut- Weiterentwicklung der »passiven Genesis« an das Wesen der Sprache näher
sche Idealismus wie die Wiederaufnahme des Idealismus durch den Neukan- herangeführt worden. Gleichwohl blieb die cartesianische Grundlegung
tianismus und schließlich auch der sich neukantianisch interpretierende Hus- seiner transzendentalen Phänomenologie unangetastet. Erst als der junge
serl, ja selbst Max Scheler, der als Denker wahrlich dem Idealismus abtrün- Heidegger unter der Einwirkung der Arbeiten Wilhelm Diltheys das »phan-
nig geworden war, haben der Sprache in ihren philosophischen Lehren keine tastisch-idealisierte transzendentale Ego« hinter sich ließ und von dem
zentrale Stellung zuerkannt. Für die Phänomenologie ist das besonders »Welten« der Lebenswelt sprach, rückte mit der historischen Dimension die
erstaunlich, sofern sie ja im ganzen eine Abkehr von dem Faktum der Zeitproblematik ins Zentrum der neuen Stellung der Seinsfrage und damit
Wissenschaft hin zu der Lebenswelt bedeutet hat, in der wahrlich die Sprache auch die Sprache. Das brachte eine neue Wendung.
eine beherrschende Rolle spielt.
Es leuchtet ein, daß nicht nur die Vernunft für sich Universalität in
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß wir innerhalb der deutschen
Anspruch nehmen kann, sondern ebenso die Sprache, das heißt die Sprach-
Tradition von großen Denkern etwa nichts über Sprache und Welt lernen
lichkeit des Menschen. In beider Hinsicht darf man gewißlich nicht Univer-
könnten. Wir stellen vielmehr sogar mit Überraschung fest, was für tiefsin-
salität mit Totalität verwechseln. Es geht nicht um eine enzyklopädische
nige Dinge Hegel ganz nebenbei über Sprache gesagt hat, zum Beispiel,
Umfassung alles Wißbaren. Man würde damit nur zu dem klassischen
wenn er etwa für Gymnasiasten redete. Wahrscheinlich würde er uns alle nur
Vernunftbegriff der Metaphysik zurückgeführt und damit auf die Lehre
als Gymnasiasten einstufen. Wenn Hegel dagegen mit der >Wissenschaft<
vom »intellectus infinitus<, der in der Fortentwicklung der griechischen
ernst macht, kommt das Thema der Sprache kaum zu seinem Recht. Ähn-
Metaphysik den Gottesbegriff ausgezeichnet hatte. So konnte es dahin kom-
lich war es im Neukantianismus, sowohl in der südwestdeutschen Schule
men, daß das Thema >Sprache<, wie wir Menschen sie sprechen, überhaupt
und ihrer Wertphilosophie wie in der Marburger Schule mit ihrem großen
als sekundär angesehen wurde. Humboldts geniale Leistung konnte sich in
Rahmenthema der Allgemeinen Logik<. Die Sprache wird, wie Heidegger
•der idealistischen Bewegung selber nicht durchsetzen.
einmal bemerkt 1 , als Objektivierung, als »objektartig meinend« logisiert.
Sprache ist gewiß keine Totalität, und am Ende gilt es auch fur die
1
MARTIN HEIDEGGER, Gesamtausgabe Bd. 56/57: Zur Bestimmung der Philosophie. Vernunft selbst, daß sie nicht das Ganze des Seins in seiner Gegenwärtigkeit
Frankfurt 1987, S. 117. umfaßt, sondern als eine menschliche Vernunft selbst ein Seiendes im Gan-
402 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 403

zen heißen kann und auf die Einheit nur hingewendet ist. Sprache ist ein seins gegründet. Erst in der Folge ist diese >cartesianische< Grundlegung
Uni-versale und keineswegs ein abgeschlossenes Ganzes. Gerade in dieser durch Hinterfragung der Dimension des Bewußtseins angenagt worden. Im
gemeinsamen Universalität meldet sich aber die Nähe von Sprachlichkeit Ausgang von Schelling hat Schopenhauer, und im Ausgang von Schopen-
und Vernunft. So muß im Begriff der Vernunft die gleiche unabschließbare hauer hat Freud die Dimension des Unbewußten gegen die Gewißheit des
Offenheit gedacht werden, wie sie im Begriff der Sprache und der Sprach- Selbstbewußtseins ausgespielt. Damit verband sich das Aufkommen des
lichkeit liegt. Man wird von hier aus verstehen, daß im Blick auf die historischen Bewußtseins und in der Folge die selbstzerstörerische Fragestel-
Endlichkeit des Daseins gerade auch die zentrale Bedeutung der Sprache fur lung Nietzsches, zu der in unserem Jahrhundert die Ideologiekritik das Ihre
das Denken unseres Jahrhunderts bestimmend geworden ist. beigetragen hat. Tiefer blickte hier, wie mir scheint, die theologische Besin-
In dem lange Jahrhunderte währenden gedanklichen Kampf der Metaphy- nung, die teils auch durch die altjüdische Tradition belebt wurde, so durch
sik mit der modernen Wissenschaft ist jedenfalls jetzt ein entscheidender Martin Buber und Franz Rosenzweig, aber auch durch christliche Denker
Schritt auf die Sprache zu getan worden. Dieser Schritt war in Wahrheit wie Theodor Haecker und Ferdinand Ebner, oder auf protestantischer Seite
durch die Phänomenologie so weit vorbereitet, als diese vom Faktum der durch den Einfluß Kierkegaards (Friedrich Gogarten), der mit dem Anfang
Wissenschaft auf die Lebenswelt zurückgeht. Als ich noch in der Marburger dieses Jahrhunderts einsetzte. Gegenüber der griechischen Okularität ge-
Schule heranwuchs, war es dort ganz selbstverständlich, daß es keine andere wann damit das Hören ein neues Gewicht. Luther wurde neu gelesen, und
mögliche Fragestellung geben könne als die nach dem Gegenstand der ein Lutheraner wie Graf Yorck und zuletzt auch der im Wirkungsraum der
Erkenntnis, wie ihn die Wissenschaft kennt. Der Gegenstand der Erkenntnis katholischen Kirche erzogene Heidegger gaben dem Ausdruck. In der Be-
war eben damit nicht das Gegebene, sondern die unendliche Aufgabe des griffssprache der griechischen Metaphysik und ihrem lateinischen Fortleben
Bestimmens durch die Wissenschaft. So lautet die alte Formulierung Na- hatte das Hören auf das Wort keine rechte Heimat gefunden, zumal die
torps: »Das Gegebene ist das Aufgegebene.« Das Vorbild der modernen gelehrte Sprache des mittelalterlichen Lateins auch in die modernen Natio-
Wissenschaft, das sich so ausspricht, hatte schon seit Jahrhunderten den nalsprachen eine lateinische Note eintrug. So bedeutete es eine neue Er-
Systembegriff in die philosophische Diskussion eingeführt. Die Erfahrungs- kenntnis, daß die Begrißlichkeit der philosophischen Tradition eine eigene
wissenschaften erhoben seit ihrer Begründung durch Galilei und Newton und vorgreifliche Bedeutung besitzt. Sie gab der Sprache, wie wir sie alle
den Anspruch, das Universum aller Erkenntnis zu umfassen und jeden sprechen, einen uns fremden Akzent. Gewiß war die Sprache von jeher
Erkenntnisanspruch der traditionellen Metaphysik zurückzuweisen. Das unterwegs zum Begriff. Sie hält in ihrem Bedeutungsleben Angebote fur die
führte zu einer nicht abreißenden Folge von Systemkonstruktionen, die die philosophische Begriffsbildung ständig bereit. Das konnte aber nichts daran
Philosophie des 17., 18. und 19. Jahrhunderts durchzieht. Sie bereitet sich ändern, daß aus der griechisch-lateinischen Gelehrtentradition kommend
bereits am Anfang der Neuzeit vor. Alle epochalen Wendungen, so plötzlich eine Begrifflichkeit vorherrschte, die selbst den Übergang in die National-
sie zu dominieren scheinen, haben eine lange Vorgeschichte. So ist es auch sprachen überdauerte.
mit dem philosophischen Systembegriff. Er hat sich eigentlich bereits im Natürlich hat sich gegen die Herrschaft der Gelehrtensprache und ihre
gegenreformatorischen Aristotelismus gebildet, insbesondere bei Suarez. terminologische Künstlichkeit immer auch Widerstand geregt. Vor allem
Bei aller inneren Kohärenz finde ich solches bei Thomas noch nicht, obwohl die Bibelübersetzungen, sowie die Rolle der Predigt im protestantischen
es sich bereits im gegnerischen Scotismus vorbereitet hat, -wie neuerdings de Gottesdienst, haben den Sprachschatz des spekulativen Denkens bereichert.
Muralt gezeigt hat2. Auf der anderen Seite stand der Begriff von Wissenschaft, der in der ersten
Mit dieser Frage hängt das umstrittene Problem der Letztbegründung und führenden Wissenschaft des Abendlandes, der Mathematik und ihrer
zusammen, das auch in der phänomenologischen Schule, mindestens seit Beweistechnik in der euklidischen Geometrie, sein Vorbild besaß und durch
Husserls >Ideen<, bis heute umstritten ist. Ein System der Philosophie ver- Aristoteles logische Durcharbeitung erfuhr. Das wirkte sich in der Weise
langt Ableitbarkeit aus einem obersten Prinzip. Wenn auch Hegel die Form aus, daß die Schulmetaphysik die Katheder beherrschte, und selbst als das
des obersten Grundsatzes dialektisch aufzulösen unternommen hat, bleibt historische Bewußtsein erwachte, behielt der Systembegriff in der Philo-
doch der deutsche Idealismus insgesamt auf das Prinzip des Selbstbewußt- sophie seine Herrschaft und ist sogar in die gesamte historische Erforschung
der Geschichte der Philosophie eingegangen.
2
ANDRÉ DE MURALT, Kant, le dernier occamien. In: Revue de métaphysique et de Wie wenig dabei, trotz Humboldt und der großen Entwicklung der
morale 80 (1975), no. l, S. 32-53. Sprachwissenschaften, das Thema der Sprache überhaupt ins philosophische
404 Auf dem Wege zur hermeneurischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 405

Bewußtsein trat, ist mir noch in meiner eigenen Jugend zur Überraschung Höhenwege über die lateinische Begriffssprache, die in der modernen Wis-
geworden. Als ich durch Heidegger Aristoteles lesen lernte, sah ich zu senschaftssprache überall durchklingt. Wir sprechen nicht mehr gerne von
meiner Verblüffung, daß die klassische Definition des Menschen nicht ist Prinzip und Prinzipiat. Eher sagen wir dafür >Archê<, und dabei hören wir
>das Lebewesen, das Vernunft hat< (animal rationale), sondern >das Wesen, mit, daß das sowohl >Anfang< wie auch >Herrschaft< bedeutet. Wir denken an
das Sprache hat<. Die gesamte Begriffsarbeit der aristotelischen Philosophie Aristoteles' geistreiches Bild von dem fliehenden Heer, das am Ende zum
gewann damit eine neue Zugänglichkeit. Das hatte den Erfolg, daß dank der Stehen kommt und wieder dem Kommando {άρχφ gehorcht 4 . Das ist ein
von Anschauung belebten Sprachkraft Heideggers geradezu Aristoteles als tiefsinniges Wortspiel. Es soll beschreiben, wie unser Wissen überhaupt auf
der erste Phänomenologe vor Husserl erscheinen konnte. Erstes, auf Anfange, hingeführt werden kann. Wenn Erkenntnis Ableitung
Innerhalb der phänomenologischen Schule, im Gefolge der Husserlschen aus Prinzipien ist, wie soll dann Erkenntnis von Prinzipien möglich sein? Für
deskriptiven Meisterschaft und in der Nachfolge von Heideggers Destruk- uns klingt dabei das aristotelische Wortspiel mit >Archê< nach, seit Max
tion der traditionellen Begriffsmetaphysik, und am Ende auch in Heideggers Scheler den soziologischen Begriff des >Herrschaftswissens< für das Wissen
radikaler Kritik an der transzendentalen Selbstinterpretation Husserls, war der neuzeitlichen Wissenschaft eingeführt hat.
es neben Heidegger Hans Lipps vor allem, der mit seinen Beiträgen die Der Neukantianismus berief sich auf den platonischen Begriff des Voraus-
bewußtseinstheoretische Verengung auf eigenem Wege überschritt3. Ähn- setzungslosen (άννπόδετον), das Plato in der >Politeia< einfuhrt5, um den
lich ist es mir selbst gegangen, als ich, von Heidegger belehrt, mich von der entscheidenden Schritt zur Dialektik zu charakterisieren, der über die Wis-
lateinischen Begriffssprache abzulösen begann und von der griechischen senschaft der Mathematik hinausfuhrt. So hat man im Neukantianismus in
Sprache aus in das Denken der Metaphysik Eingang suchte. Damit begann Plato eine Bestätigung des Ideals der Letztbegründung zu finden geglaubt.
ein tieferes Eindringen in die Nachbarschaft von Sprechen und Denken, von Wir beginnen inzwischen, griechische Texte besser zu lesen. Uns ist klar
Wort und Begriff, von Dialektik und Rhetorik, von dem Miteinander des geworden, daß Texte für die Griechen schon insofern etwas anderes waren,
Sprechens und dem Aufeinander des Hörens. Das nahm ich zum Leitfaden als sie es fur uns sind, weil damals alles Lesen lautes Lesen war und damit
meiner Heidegger-Nachfolge. Fangen wir also nochmals dort an, wo Wort immer ein Hören einschloß. Das gilt vollends für die platonische Dialektik,
und Begriff noch nicht »aufgetrenntesten Bergen« wohnten. die sich geradezu als die Kunst des Fragens und Antwortens versteht. Diesen
Das war und ist offenbar die Leistung der Sprache, daß der Mensch überall Hintergrund aller griechischen Schriftlichkeit sollte man auch bei Aristoteles
durch sein eigenstes Vermögen des sprachlichen Ausdrucks in Worten und immer mitwahrnehmen. Wir verdanken einigen Aufsätzen Richard Här-
Sätzen Anschauung zu wecken weiß. Wie sollte das mit solchen Leitbegrif- ders, der leider sein >Schriftbuch< nicht mehr hat schreiben können, wichtige
fen wie System, Prinzip, Begründung und Ableitung zusammengehen, wie Einsichten in die Bedeutung, die das griechische Alphabet für die europäi-
sie nach dem Vorbild Euklids das philosophische Denken der Neuzeit seit sche Weltkultur von heute besitzt. Er hat nicht verkannt, daß Schrift nie
Descartes beherrschte? Was soll ein Erstes im Aufbau der Sprache sein? Daß etwas anderes sein kann als eine Planskizze für Hören und Verstehen6.
es kein erstes Wort geben kann, ist doch eigentlich selbstverständlich. Wenn Während es sich in der Mathematik um den technischen Begriff der
auch Eltern immer wieder an ihrem erwachenden Kind das erste Wort Voraussetzung handelt, der in die Logik des mathematischen Beweises
bejubeln mögen, so ist es doch klar, daß das kein Wort ist und kein Sprechen. gehört, kann man das Voraussetzungslose doch noch von einer anderen
Es gibt kein erstes Wort, wenn es kein zweites Wort gibt, und es kann kein Seite sehen. Dann meint es das, was für ein Gespräch nötig ist und den
zweites Wort geben, wenn es nicht Sprache gibt. Sprache gibt es aber nur im Boden fur alle Verständigung darstellt, damit man im Fortgang des Unter-
Miteinander des Gesprächs. scheidens zum gegenseitigen Sich-Überzeugen gelangt. Dann hat das Vor-
Seit wir gelernt haben, auf die Sprache als auf den eigentlichen Mutterbo- aussetzungslose den relativen Sinn des hinreichenden Anfangs, der eben fur
den für alle Begriffsbildung zurückzugehen, hat die Geschichte des griechi- die Verständigung ausreicht (ίκανόν Phaid. 101 ei). In der platonischen Dia-
schen Denkens vieles von ihrer doxographischen Prägung verloren. Seit wir lektik und in den Platonischen Dialogen geht es dabei um einen ganz anderen
uns bewußt sind, daß Sprache nur im Gespräch ist, haben die uns erhaltenen
4
Texte des griechischen Denkens und ihre Begriffe eine neue Frische und A n . P o s t . Β 1 9 , 1 0 0 a 12-13: ένας οτάντος έτερος ίστη.. . εως im αρχήν iJAfov.
Aussagekraft erlangt. Wir lesen sie anders, nicht mehr auf dem gelehrten s PoliteiaVI,510b 7> 511b 6 .
6
RICHARD HÄRDER, Kleine Schriften, hrsg. von WALTER MARC München 1960 (Darin:
»Bemerkungen zur griechischen Schriftlichkeit<, S. 57-80; >Die Meisterung der Schrift
3
HANS LIPPS, Die Verbindlichkeit der Sprache. Frankfurt 21958. durch die Griechen«, S. 81-97).
406 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 407

Vorgang als in dem Beweisanspruch der Mathematik. Es geht um das Spiel Menschen miteinander. Erst seit der Methodenbegriff als die Grundlage der
von Frage und Antwort, um das um Verständigung bemühte Gespräch, das modernen Erfahrungswissenschaften sich im Kampf gegen die Rhetorik
dem anderen sein Nichtwissen beweist und ihm die Augen öffnet. mehr und mehr durchgesetzt hat, haftet dem alltäglichen Sprachgebrauch
Voraussetzungslos ist dann das, worin die beiden Sprechenden so über- von >Rhetorik< ein kritischer Beiklang an, insbesondere wenn man sie auf
einstimmen, daß es keiner Begründung bedarf. Es ist das von beiden Aner- wissenschaftliche Prosa anwendet. Auch wenn man dichterische Texte >rhe-
kannte. Das hat mit der Logik des mathematisch-logischen Beweisens nichts torisch< nennt, ist das ein Tadel. Das Rhetorische soll aus der reinen Poesie
zu tun. So hat Aristoteles die Beweiskraft der platonischen Dialektik, die ebenso weggefiltert sein wie aus der strengen Forschung. Der klassische
Dihairesis, mit Recht kritisiert7. Freilich haben die Aristoteliker aus dieser Begriff der Rhetorik weist dagegen auf das gesamte Miteinander und auf die
Sachlage nicht gerade die richtige Folgerung gezogen, wenn sie in den Verständigung, die unter Menschen in symbolischen Formen verläuft9.
Aristotelischen Lehrschriften die Schemata schlüssiger Beweise aufsuchten, Sprache ist übrigens nicht nur Wortsprache. Es gibt die Sprache der Augen,
die Aristoteles in den > Analytica< aufgewiesen hat. Das ist ein müßiges Spiel. die Sprache der Hände, Zeigen und Nennen, all das ist Sprache und bestä-
Aristoteles hat wohl gewußt, daß man Anfängliches, also Prinzipien, nicht tigt, daß Sprache stets im Miteinander ist. Worte sind immer Antworten,
ableiten und nicht beweisen kann. Er hat auch gewußt, daß seine eigentliche auch wenn sie Fragen sind. So redet man in weiterer Anwendung von
philosophische Arbeit Hinführung auf Anfänge und Prinzipien war und >Entsprechungen<, in denen das eine dem anderen antwortet. Man muß sich
nicht Syllogistik sein wollte. Die Logik der Hinführung (επαγωγή) gehört sogar fragen, ob nicht symbolische Handlungen am Ende früher sind als die
nicht wirklich in die Analytiken, sondern eher zur Topik, das heißt zu einer artikulierte Wortsprache. Aber kann man hier überhaupt von früher und
Dialektik, die zugleich Rhetorik ist, allerdings eine auf die Sache gerichtete später reden, wenn doch alles Gespräch ist?
Rhetorik. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, daß der Prozeß der Es muß offenbar nicht nur Gespräch mit anderen Personen sein. Alles
Verständigung durch Dihairesis ein Prozeß der Erinnerung ist und dadurch Denken strebt ins Wort und ist Antwort auf Erfahrung. »Daß alle unsere
seinen Fortgang nimmt, daß es dem anderen einleuchtet, weil er sich erin- Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist kein Zweifel«, so lautet das
nert. Es geht hier nicht um die Widerspruchsfreiheit im Anspruch des erste Wort Kants in der >Kritik der reinen Vernunft< (B1). Denken aber ist,
logischen Beweisens, wie ihn die Mathematik erhebt und die gewiß bei aller was über alle Erfahrung hinausdenkt und seinen eigenen Lebenshorizont
Argumentation als logische Konsequenz gefordert ist. Wir verdanken Ernst und Zeithorizont im Miteinander des Gesprächs ständig überschreitet. Wir
Kapp die Einsicht, daß die Aristotelische Syllogistik selber auf dem Hinter- kennen das besonders in der einzigartigen Unverständlichkeit, die der Tod
grund von Frage und Antwort gelesen werden muß 8 . für das Lebensbewußtsein des Denkenden hat und für die verborgene Gren-
Diese Feststellungen schließen ein, daß man der Rhetorik ihre weitrei- ze, die ihm selber gesetzt ist. Dennoch muß er ständig über sie hinausden-
chende Geltung wieder zurückgeben muß, aus der sie in der beginnenden ken. Das hat Heidegger, und wahrlich nicht als erster und einziger, als die
Neuzeit von der mathematischen Naturwissenschaft und Methodenlehre Zeitlichkeit des Daseins ausgezeichnet und hat es das Vorlaufen zum Tode
vertrieben worden ist. Rhetorik meint das Ganze des sprachlich "verfaßten genannt. Wenn unser Fragen an dieses Geheimnis rührt, dann gibt es eine
und in einer Sprachgemeinschaft ausgelegten Weltwissens, mit allen seinen noch andere Erfahrung, nämlich daß es auf unsere Frage keine Antwort
Inhalten, wie Vico gegen die moderne Critica gesehen und verteidigt hat. mehr gibt. Sie ist jeder Erfahrung verschlossen, und das ist die Erfahrung,
Das paßt trefflich für Husserls Ausdruck >Lebenswelt<. Doch wird man die einem bei jeder Begegnung mit dem Tode anderer zuteil wird. Mit wem
dabei im Auge behalten müssen, daß das, was man später >Ästhetik< nannte man gestern noch sprach, von dem kann keine Antwort mehr erwartet
und was man seit alters die >Poetik< nennt, in die Rhetorik miteingeschlossen werden. In der Welt des Miteinander, in dem Frage und Antwort und das
war. In Wahrheit beschränkt sie sich nicht auf die Bereiche, in denen die Gespräch sich vollzieht, ist es das Erschreckende des Abbruchs jedes mögli-
moderne Wissenschaft den Erkenntnisanteil der Rhetorik bestritten hat. Sie chen Gesprächs.
umfaßt den gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens, in Familie und Unser aller Antwort daraufist unser Widerstand. Man versteht auf ein-
Öffentlichkeit, in der Politik und im Rechtswesen, im Kult- und im Schul- mal, warum die Menschen, die »ein Gespräch sind und hören können
wesen, in Handel und Industrie - kurz: überhaupt in allem Umgang der voneinander«, es nicht hinnehmen können, daß es Abbruch gibt. So ist das

7 9
An. Pr. A 31; An. Post. Β 5 und 13. Zur Rehabilitierung der Rhetorik habe ich in Band 2 und 4 der Ges. Werke einige
8
ERNST KAPP, Art. >Syllogistik<. In: Pauly-Wissowa RE, Bd. IV A, Sp. 1046-1067. kleine Beiträge beigesteuert.
408 Auf dem Wege zur hcrmeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 409

Denken immer darüber hinaus und leistet gleichsam die Erstattung einer Sprache - Gespräch und Ritual
Antwort, die einem nicht mehr gegeben wird. Es ist wie ein Ersatz, daß man
selber das Grab mit den reichsten Gaben besetzt. Denkend und dankend Kehren wir von dem Anfanglosen und Endlosen in die Mitte der Sprachlich-
bestatten die Menschen ihre Toten, und nur die Menschen tun das. Weil sie keit des Menschen zurück. Versuchen wir, ihren lebensweltlichen Ort zu
miteinander im Gespräch sind, statten sie ihre Toten mit allem aus, und alle bestimmen. Ohne Zweifel hat sich nach allem der gesamte Problemhorizont
diese Votivgaben sind wie eine Fortsetzung des Gesprächs. Am Ende gilt das geweitet. Man kann es vielleicht durch zwei Begriffe anzeigen, die zunächst
vielleicht gar für alle unsere symbolischen Handlungen, für das Denken und mit Sprache noch nichts zu tun haben, wohl aber mit dem weitesten Bereich
alle Worte, die sich im Vollzug ihrer selber erfüllen. So ist es noch in jedem von Kommunikation. Das eine nenne ich das >Mitsamt<, das im Bereich der
Gebet, daß es seine Erhörung in sich selbst hat. »Aber nicht wie ich will, tierischen Verhaltensweisen herrschend ist, und das andere nenne ich das
sondern wie du willst. « Die Antwortlosigkeit, die der Tod bedeutet, hat >Miteinander<, das auf dem Untergrund der naturhaften Bestimmtheit dank
viele Formen der Ausfüllung, im Kultus, im Mythos, in den Schöpfungen der menschlichen Sprache das menschliche Miteinander trägt. Es ist sich
der Kunst. So zieht unser Denken notwendig weiter und muß über das nahe, was in diesen zwei Begriffen des Mitsamt und des Miteinander am
hinausdenken, woran das Denkendsein ein Ende hat. Ich brauche nur an Werke ist. Man kann sich schwer vorstellen, daß im Bereich des tierischen
Goethe zu erinnern und was er bei der Beerdigung von Wieland geäußert Verhaltens eine klare Unterscheidung von Mitsamt und Miteinander gelin-
hat, als er mit den Mitteln der Leibnizschen Philosophie jener Tage sich gen kann. Der bewegende Reichtum von Erkenntnissen, die wir der neueren
selbst eine Antwort zu geben versucht hat. Man kennt überdies alle jene Verhaltensforschung verdanken, läßt die Vorgänge in der Tierwelt und das
Vorstellungen vom Jenseits, die alle Religionen verkünden. Verhalten der Menschen zueinander oft zu einer geradezu erschreckenden
und rührenden Nähe des einen mit dem anderen kommen. Gleichwohl
Es scheint mit dem Ende ähnlich zu stehen wie mit dem Anfang. Es gibt scheint es irgendwie wahr zu bleiben, daß die Natur den Tieren kein wirkli-
kein erstes Wort, wie es kein letztes Wort gibt. Sofern sich Denken und ches Einander geschenkt hat, sondern ihre Verhaltensweisen zu einer Hörig-
Sprache einander geleiten, stehen wir immer mitten im Gespräch. Selbst keit zusammenschließt, die alles Verhalten der Tiere als ein artspezifisches
zwischen Mutter und Kind hat das Gespräch wohl schon längst gespielt, Mitsamt erscheinen läßt. Alles an das Menschliche grenzende Verhalten
bevor der erste Tausch von Blicken und Gebärden beginnt. Es folgen die bleibt dem Lebenswillen untergeordnet, mit dem die Natur die Erhaltung
Jahre des ersten Sprechenlernens. Sie führen uns staunend vor Augen, was der Art verfolgt.
die Erwachsenen alles gelernt haben, seit sie den Sozialisierungsprozeß
erfuhren - und was sie verlernt haben, seitdem man nur das sagt, was >man< Das schließt gewiß nicht aus, daß auch Tiere miteinander Freundschaft
sagt und wie man es sagt und wie man es schreibt. Wenn wir uns diese schließen und sich verfeinden, oder daß sie gar ihr eigenes Leben, etwa in der
Anfangserfahrungen und die Erfahrungen des Endes vor Augen stellen, Verteidigung ihrer Brut, opfern. Ich habe es einmal erlebt, wie Schwalben,
dann sehen wir, wie die Sprache beides umfangt und umgreift. Wir erken- die eben noch mit emsiger Hingabe ihre Jungen gefüttert hatten, als das Jahr
nen dann, was Sprechen eigentlich ist. Es ist ein immer Unvollendbares, ein zu weit fortgeschritten war, vom Wandertrieb erfaßt wurden. Sie mußten
Suchen und Finden von Worten. Da gibt es keine Grenzen. Stets ist es das diesem Triebe folgen und ihre Brut im Nest verhungern lassen. Das nenne
grenzenlose Offene, das wir denkend und gedenkend zu durchmessen nicht ich Hörigkeit. Gleichwohl gibt es auch unter so Hörigen Verständigung,
müde werden. Wir erkennen den Lebensdrang darin, der alles Leben trägt, und so ist es vielleicht auch mehr oder minder bei symbolischen Handlun-
und so auch den Menschen in seiner Sprachlichkeit. Deren Grundlage hat gen, ζ. Β. wenn der Singvogel selber mit Lust singt, wiewohl die Natur es
Bühler ehedem als Zeigen und Nennen ausgezeichnet. Beides sind symboli- ist, die damit ihren Hauptzweck verfolgt und nichts als die Erhaltung ihrer
sche Handlungen besonderer Art. Das Zeigen ist eine deutliche Richtungs- Art meint. Ebenso entwickelt sie Werbungsriten, Rivalitätskämpfe und all
weisung, die dennoch ein Hund niemals verstehen wird. Er wird immer den Formenreichtum, womit sich Tiere etwa über die Paarungsbereitschaft
nach der zeigenden Hand springen und nicht nach dort, in die rechte Rich- verständigen. Indessen, es ist nicht einer und ein anderer, die da handeln. Es
tung. Ebenso ist es mit dem Nennen, von dem Heidegger gesagt hat, daß das ist die Natur, die aus Anlage und aus Anpassung ihren eigenen Fortbestand
Nennen die Dinge zu dem ernennt, was sie uns sind. Aber es stimmt, daß besorgt. Wir pflegen dergleichen >Riten< zu nennen, obwohl die Einhaltung
man sie im Nennen wiedererkennt und daß das Andenken stiftet. eines bestimmten Verhaltens dabei gar nicht gemeint ist. Man mag bei der
Beschreibung des Verhaltens der Tiere so etwas Riten nennen, aber man
überträgt damit etwas auf Naturerscheinungen, was grundsätzlich davon
410 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 411
verschieden ist. In Wahrheit wird die Einhaltung der Formen rituellen miteinander zusammentreffen, wie es bei jeder Verabredung ist. Das ent-
Verhaltens von der Natur blind vorgeschrieben. Beim Menschen entwickelt scheidende Gewicht fällt also darauf, daß man sich miteinander versteht.
sich dagegen innerhalb der gleichen Spezies eine Vielfalt von Bräuchen und Wenn gar das Erlernen der Sprache des anderen einsetzt, dann können sich
Sitten, die, wie auch immer, gesetzt und gewollt sind. Nun behalten wir Möglichkeiten eines friedlich geregelten Miteinander ergeben, wenngleich
gewiß im Sinne, daß das menschliche Verhalten auch nicht in einer völligen immer nur in Grenzen.
Loslösung von den Triebkräften der Natur zu seinen Bildungen gelangt. Es Das soll man nicht so verstehen, daß das wahre Einander, das die Aus-
bleibt immer ein Ineinander von Mitsamt, zu dem wir als Naturwesen zeichnung des Menschen ausmacht, ihn von seiner Naturheit trennt, wie die
bestimmt sind, und auf der anderen Seite die Menschlichkeit, mit der wir Begriffe von Seele und von Geist mit allzu großer Selbstverständlichkeit zu
einander und unser Miteinander ordnen. Dabei bleibt das auch bei uns ein behaupten scheinen. Es kommt auf etwas anderes an. Aristoteles sagt ein-
Ineinander von Mitsamt und Miteinander, von Triebgewalt und Triebbe- mal, der Mensch sei ein Doppelwesen10. Wir würden dafür sagen, er sei
herrschung. Natur und Geist. Aber diese Unterscheidung hat eine falsche Abstraktheit.
Die Philosophie Kants hat hier mit Recht von der Achtung vor dem Worauf es ankommt und was in dieser Doppelung liegt, scheint mir eher das
Anderen geredet. Sie beruht darauf, daß wir die natürliche Selbstliebe einzu- Ineinander von Mitsamt und Miteinander. Das ist die wahre Wesensgestalt
schränken wissen und daß wir unsere Selbstliebe soweit überwinden, daß des Menschen und darin liegt in meinen Augen der besondere Wert der
wir den Anderen als »Zweck an sich« anerkennen, um mich in der Sprache Verhaltensforschung. Das findet sich in Aristoteles bereits vorbereitet,
des kategorischen Imperativs auszudrücken. Kant mag damit recht haben, wenn er die Seele als die Entelechie des Leibes definiert. Er hat damit die
daß auch das nur eine Forderung der menschlichen Vernunft ist, das heißt Leibhaftigkeit des griechischen Lebensgefühls festgehalten. Dem entspricht,
der praktischen Vernunft, und man nie eine tatsächliche Erfüllung derselben daß der Nous, was wir vielleicht >Geist< nennen können, nach Aristoteles
annehmen darf, die die Willensfreiheit beweise. Die Naturkraft durchströmt von außen, sozusagen durch die Tür hereinkommt 11 und daß das nicht
alles Lebendige, auch das Menschliche. Gleichwohl ist die Trennung von eigentlich ein Verhalten des Menschen ist,, sondern als das >Eintreten< von
Naturbedingtheit und sogenannter Freiheit eine fundamentale Auszeich- Helle beschrieben wird. Das wird uns noch beschäftigen.
nung des Menschen, kraft deren sich die Menschenwelt durch ihre Rituale Es stellt sich die Aufgabe, die geheimnisvolle Auszeichnung der Sprach-
und die Fähigkeit des Zeigens und Nennens heraushebt. lichkeit bei dieser Sachlage richtig zu orten. Wir hatten uns an die Zweiheit
Riten sind eben nicht bloße Verhaltensweisen, wie wir sie auch von den von Zeigen und Nennen gehalten, die der Sprachtheorie Bühlers zugrunde
Tieren kennen. Wenn man den Ruf des Kuckucks, der sein Revier verkündet liegt, und wir fragen nach ihrer inneren Gemeinsamkeit. Dabei wollen wir
und verteidigt, hört oder das Balzverhalten sieht und die bekannten Kämpfe uns durchaus nur beschreibend verhalten und nicht so unfaßbare Begriffe
um die Rangordnung und die Hackordnung und freilich auch die Beendi- wie Bewußtsein, Seele, Geist, Vernunft, Gemeinschaftssinn (als Gemein-
gung solcher Kämpfe durch die Unterwerfungsgesten, erscheint das wie sinn im alten Sinne des Wortes) wie bekannte Größen behandeln.
symbolische Handlungen, und doch sind es alles artspezifische Verhaltens- Was Zeigen und Nennen vereinigt, ist doch wohl zunächst, daß beides
weisen. Unter den Menschen sind dagegen die Verhaltensweisen gesell- Abstand hält. Wer zeigt, ist hier - und er zeigt dorthin. Er überschreitet das
schaftlich überformt. Da gibt es Formen des richtigen Verhaltens, die im Hier und überschreitet damit den Greif- und Eigenraum des eigenen Verfïi-
eigentlichen Sinne Riten heißen, und es gibt Sitten, mit ihrer ganzen Gel- gens. Wie der Falke, der über Fernen hinweg seine Beute erspäht und dann
tungsstrenge, die in verschiedenen Kulturen sich voneinander vielfältig wie der Blitz auf sie herabstößt, so verhält sich der Mensch zu allem blitz-
unterscheiden. Sie sind so ausgebildet, daß es für die Angehörigen der einen haft, wenn er versteht, was immer ihm gezeigt oder gesagt wird. Das gilt
Kultur oft kaum möglich ist, sich denen der anderen Kultur gegenüber ebenso vom Nennen, das wie eine Art von Zeigen mit Worten ist. Es gibt ein
richtig zu verhalten. Wort im Lehrgedicht des Parmenides, das irgendwo in seiner Einleitung
Innerhalb einer jeden Kultur besteht Übereinkunft und Übereinkommen. gestanden haben muß: »Schaue, wenn es auch Abwesendes ist, es mit
Mit dem Ausdruck >Übereinkommen< deutet die Sprache an, daß so etwas deinem Sinn unverrückbar als Anwesendes.«12 Auf einmal weitet sich
nicht so sehr auf ausdrückliche Stiftung oder Vertragsschließung zurück- 10
Eth. Nie. H 15, 1154b 2\- μή άπλήνήμϋνείναι τψ φύαη. Κ 7, 1177b28 und 8, 1178a2o:
geht, sondern >überkommen< ist. So ist es auch bedeutungsvoll, daß die σύνθετον.
Sprache sagt, daß wir ein Übereinkommen >treffen<. Da sagt uns die Weis- 11
Gen. An. B 3 , 736b2e: ιοννοννμόνονdvpadevέηευηέναι. Β 6, 744b2i: ό dvpadev νους.
heit der Sprache, daß es hier zwei sehr verschiedene Partner sind, die 12
Fr. 4,1 : Χενσσε δ' όμως άηεόντα νόψ παρεόντα βεβαίως-
412 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 413
der Raum. Da ist es nicht nur die Ferne des Dort, die einen Raum weitet. Da die Wörter nicht mehr Wörter, sondern gehen in die Sinngestalt der Aussage
ist ein Raum aufgegangen, in dem etwas als seiend behauptet wird. ein. Wie man es auch wende, eine Handlung richtig ausfuhren und in einer
Man darfauch das deutsche Wort >Behaupten< nicht nur so einfach hinsa- fremden Sprache richtig sprechen fallt unter einen Begriff der Richtigkeit,
gen. Man erinnert sich aus der Mathematik, daß im Argumentationsverfah- des >rite<. Was da >richtig< heißt, bemißt sich nicht einfach an einem angebba-
ren die Behauptung auf die Voraussetzung folgt und sich mit dem Beweis in ren Zweck der Handlung oder an einer gelernten Regel, und ebenso ist es
Erkenntnis verwandelt. Was eine pure Behauptung ist, ist von dem Bedürf- beim Sprechen.
nis nach Beweis her gesagt. Aber daß man überhaupt etwas behaupten kann, Damit greifen wir in den Bereich des Sprachlichen über, das auch als
ohne es beweisen zu können, hat eine neue Weite des Raumes geöffnet. Man wirkliches Sprechen an den Riten des Lebens seinen Anteil haben kann. Die
kann etwas behaupten, ohne es beweisen zu können. Ohne es geradezu zu mannigfaltigen Probleme des Sprechens, des Redens und auch des Gesanges
behaupten, kann man es dahingestellt sein lassen. Das ist vollends etwas lassen es ganz anschaulich werden, daß es nicht immer ein einzelner ist, der
Erstaunliches, diese Abstandnahme, die menschliches Verhalten auszeich- da die Worte gebraucht und sich als einzelner ausspricht. Wer etwa an einer
net. Wer etwas dahingestellt sein lassen kann, dem hat sich ein schier Beerdigung teilnimmt, wird einem anderen seine Teilnahme zeigen. Da
grenzenloses Reich von anderen Möglichkeiten aufgetan. Die Grundform erwartet man wirkliche Teilnahme, aber man erwartet nicht, daß man den
unseres Verhaltens, das diese Leistung zum Ausdruck bringt, ist die Frage. anderen in ein Gespräch zu ziehen sucht, wie man es sonst tut, wenn man auf
Die Frage ist nicht eine sekundäre Modifikation der Behauptung, auch den anderen eingehen will. Hier erfüllt man einen Brauch, und man spielt die
wenn eine Behauptung ohne Beweis stets von zweifelnden oder kritischen Rolle, die einem zufällt.
Fragen bedroht ist. Alle Behauptung behauptet sich vielmehr immer schon Das heißt durchaus nicht, daß etwa das alles >Gerede< ist. Es ist ein
gegen den Zweifel, und am entschiedensten die >dogmatische< Behauptung. Handeln — und eines, das richtig sein will. Mit Heideggers berühmter
Die Frage ist im Grunde ursprünglicher als die Behauptung. Es ist geheim- Unterscheidung der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit des Daseins hat
nisvoll genug, daß man sie zurückziehen und einen in die Zweiheit des das kaum noch etwas zu tun. Vielleicht muß man sogar sagen, daß das
Zweifels verstricken kann. Nur wer die Zweiheit der Alternative sieht, und übliche Bitte- und Dankesagen überhaupt kein Sprechen ist, sondern in den
das heißt andere Möglichkeiten sieht, kann überhaupt fragen. Wenn man Bereich der Verständigung durch Gebärden gehört, die ja auch sonst einen
ihm überhaupt antwortet, gibt man die Zweiheit zu, und wenn man keine großen Teil unseres Miteinanderseins bestimmt. Ähnlich könnte man sagen:
andere Möglichkeit sieht, sagt man geradezu: »Das ist doch keine Frage!« Haustiere >verstehen< manche Worte, ohne daß sie unser Sprechen verste-
Man sagt dann vielleicht sogar, die Frage habe keinen Sinn, oder auch, hen. So merken sie etwa auf, wenn man ihren Namen ausspricht, auch wenn
diese Behauptung habe keinen Sinn. Das bestätigt nur, was wir suchen und man sie dabei gar nicht meint, und das heißt, nicht wirklich zu ihnen spricht.
was das Gemeinsame zwischen Zeigen und Nennen ist, nämlich die Rich- In diesem Sinne haben sie gerade nicht >verstanden<.
tung auf Sinn. Wer zeigt, kann nicht auf nichts zeigen, auch wenn er nur in Wir sahen, daß Sprechen selber den Charakter eines Rituals haben kann.
eine Richtung weist. In dieser Richtung ist es dann etwas, auf das er zeigen Es ist eben nicht so, daß der bloße Vollzug der Bedeutungen der Worte, wie
will, weil es für den anderen Sinn hat. Nicht anders ist es mit dem Nennen. sie in den Aussagen begegnen, schon das eigentliche Sprechen ist. Wenn es
Auch da zeigt man auf etwas hin, wenn das auch kein bewußter Akt sein nicht die Intention aufVerständigung ist, in der man spricht, ist es eigentlich
muß. Man sucht das rechte Wort, wenn man etwas sagen will. Das einzelne kein wirkliches Sprechen. Der Gebrauch von Worten ist derart in ein Hand-
Wort ist freilich eine bloße Vokabel, das heißt nur ein möglicher Mitträger lungsgefuge eingesenkt, in dem sie ihre Funktion ausüben, daß sie als
einer Aussage, und nicht selber die Aussage. Gewiß muß man die einzelnen Bedeutungsträger nicht wirklich ganz vollzogen sein müssen. So ist es mit
Worte und ihre Bedeutung kennen. Darauf beruht alle Verständigung im dem >Danke< und mit dem >Bitte<, das wir über jeden gesellschaftlichen
Miteinanderleben. In solchem sprachlichen Austausch wächst für uns die Umgang streuen wie eine Art Salz der Höflichkeit. Gleichwohl sind die
Welt, und das Nennen bewirkt, daß sich im Sprachgebrauch die Nennkraft Worte im pragmatischen Zusammenhang eindeutig. Das merkt man etwa,
des Wortes anreichert, und im Gebrauch der gleichen Sprache bildet sich die wenn man in eine fremde Sprachwelt einkehrt. Wenn man in Amerika bei
Gemeinsamkeit der Welt. Worte, die bloße Vokabeln sind, begegnen nur einer Bewirtung >Danke< sagt, dann wird einem das Glas neu eingefüllt,
beim Lernen fremder Sprachen. Aber die Vokabeln lernen bedeutet noch •während wir doch >Danke nein< meinten. So eindeutig ist der Sprachge-
keine wirkliche Aneignung. Erst wenn man sie braucht, um etwas zu sagen, brauch in jeder Gesellschaft, so daß das, was wir mit >Bitte< meinen und
sind sie nicht nachgesprochen, sondern tragen den Sinn der Rede. Dann sind sagen würden, wenn man uns etwas einschenken soll, in der amerikanischen
414 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 415
Gesellschaft schon vorweggenommen ist, und deshalb wird >Danke< gesagt. eigentlichen rituellen Handlungen ausfuhren. Die Darbringung des Opfers
Das Beispiel zeigt den Unterschied zwischen Wortbedeutung und Um- ist ja der Vollzug einer Amtshandlung und erfüllt einen Ritus. Aber alle, die
gangsfunktion von Worten. Es zeigt aber auch, daß jede eingespielte Gesell- dabei sind, stehen im gleichen Abstand zum Göttlichen und stehen in der
schaft den Umgangssinn solcher Worte beherrscht. Daran wird anschaulich, gleichen Haltung der Verehrung des Göttlichen zusammen. Die Kultge-
wie Sprachgemeinschaft gemeinsames Leben gestaltet. Was einfach Brauch meinde darf sich durchaus nicht als Zuschauer fühlen. Sie gehört zu der
ist, wird von allen eingehalten. Da ist keine Freiheit im Gebrauch von Handlung. Sie kann mithandeln, etwa im Gesang, in den alle einstimmen,
Worten, keine wirkliche Wortwahl. Es ist ein Zusammenhandeln, und so auch wenn es vielleicht nur geheimnisvolle, liedähnliche Texte sind, die am
wird durch solche Gebräuche der ganze gesellschaftliche Raum gegliedert. Ende gar einer fremden Sprache angehören, von.der man kein Wort vesteht.
In dem Wortgebrauch drücken sich Verhaltensordnungen aus. Aber das ist Oder man denke an die Tänze, die die heilige Handlung umkränzen. Selbst
ein ganz anderes Verstehen als das, was man sucht, wenn man >jemandem wenn es am Ende mimische Darbietungen sind, werden sie nicht eigentlich
etwas sagen< will. einer Zuschauerschaft angeboten, sondern der Gottheit selber. — Aber das ist
Den Platz des Rituellen in der Lebenswelt zu bestimmen ist nicht ganz ein weites Feld, wie sich die Bräuche des sakralen Lebens von ihrem religiö-
leicht, wenn man auf die besondere Form des Sprechens und der Sprachlich- sen Ursprung aus verbreiten und ein gesellschaftliches Nachleben führen.
keit gerichtet ist. Ich habe das Thema schon öfters in Vorträgen behandelt, Da haben wir das heilige Schweigen, mit dem der Höhepunkt einer Kult-
aber meine Arbeitsversuche scheinen mir heute zu sehr von dem Sprachpro- handlung erwartet und aufgenommen wird. Ähnliches begegnet noch im-
blem her angelegt gewesen zu sein, und zu wenig von der Lebenswelt, in der mer im profanen Bereich, etwa bei der Urteilsverkündung vor Gericht oder
Handeln ebensosehr wie Reden begegnet. Das Rituelle besteht durchaus beim Erlaß eines Gesetzes oder bei einer Beschlußfassung. Das sind nicht
nicht immer in sprachlicher Form. Auf der anderen Seite ist die theoretische einfach Mitteilungen, für die man sich im alltäglichen Leben ins Wort
Aussage selber nur ein Extremfall von Sprache, den die Logik in der Lehre drängen muß, um eine Neuigkeit mitzuteilen, und für die man die Gesprä-
vom Satz und vom Urteil im Blick hat und den Aristoteles zu dem einzigen che unterbricht. Verkündung ist nicht bloße Bekanntmachung, sondern als
Gegenstand seiner >Hermeneutik< gemacht hat. In Wahrheit spielt in allem solche eine Handlung, die zugleich etwas verändert. Man denke etwa an den
sprachlichen Verhalten, also auch im theoretischen Bereich, in dem die Ausbruch eines Krieges, der alles schlagähnlich verändert. Auch das
Logik eine so große Rolle hat, ein Hintergrund von Rhetorik und von Schweigen, in dem alle Verkündung erwartet und aufgenommen wird, ist
Affektbeteiligung hinein, der durchscheint. Wenn wir unseren Blick auf den noch ein Teil der Handlung - bevor es in einem Wirbel der Aufgeregtheit
Platz der menschlichen Sprache in der Lebenswelt richten, haben wir daher untergeht. Erwartung und Anhörung gehören in einen Lebenszusammen-
einen langen Weg zurückzulegen, bis wir zu der Sprache der Wissenschaft hang, in dem sich alle zusammenfinden. Insofern ist es nicht eigentlich ein
gelangen, das heißt zur rein theoretischen Verwendung von Sprache, die Miteinandersein.
dem Formalismus der Logik Genüge tut. Wir haben nicht dort Maß zu
Zum Ritus gehört das Getragensein von der Gesamtheit der Versammel-
nehmen, wenn wir Verständigung in der Lebenswelt im Auge haben.
ten oder ihrer Repräsentanten, die alle auf der Einhaltung der Gebräuche
Ritus ist als erstes nicht Sprechen, sondern Handeln. Wo es rituell zugeht, bestehen. Das zeigt sich auch daran, wie ein Ritus in Gebrauch kommt. Da
wird auch das Sprechen zu einem Handeln. Wir gingen in unserer Erörte- gibt es etwa Stiftungslegenden, die ein urzeitliches Geschehen berichten, auf
rung von der Zweiheit des Gesamt und des Einander aus. Die Vollzugsdi- das alle rituelle Wiederholung zurückgeht und an das kaum jemand noch
mension des Rituellen ist jedoch stets ein Gesamtverhalten. Rituelle Hand- denkt. So wiederholt etwa die berühmte Heidelberger Schloßbeleuchtung
lungsweisen meinen nicht den einzelnen und auch nicht den einen im Unter- die große Katastrophe der Einäscherung Alt-Heidelbergs beim Abzug der
schied zu dem anderen, sondern meinen alle im Gesamt, die zusammen die Franzosen im 18. Jahrhundert. Das Ritual besteht eben darin, daß keine
rituelle Handlung vornehmen. Daher hat die Herrschaft des Ritus besondere Begründung, auch diese nicht, im Vollzug des Ritus wirklich gemeint ist. Es
Verbreitung im religiösen Bereich, der alles durchstimmt. Die Verehrung war ein spätes literarisches Geschäft, wenn man im Hellenismus die Gattung
des Göttlichen kann die verschiedensten Formen haben. Alle Kulthandlun- der sogenannten >Aitia< entwickelte. Aber es ist ein riesiges Thema, das
gen haben aber diesen gemeinsamen Zug, daß nicht ein einzelner als einzel- Religionsforscher wie Volkskundler behandeln müßten, wie sich die großen
ner seine Handlung vollzieht. Es ist nicht >seine< Handlung, und die Worte, religiösen und geschichtlichen Überlieferungen über die gesamte Lebens-
die er dabei spricht, sind auch nicht die seinen. Man denke etwa an den ordnung der Menschen ausbreiten. Wie wenig ist da vom Miteinander, wie
Opferbrauch. Gewiß gibt es im Kult den Stand der Priester, welche die wenig ist da von Gespräch, und wie sehr ist alles ein Gesamt. Das mag man
416 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomcnologie von Ritual und Sprache 417

bei jedem Fest in seiner Begehung empfinden. Es ist geradezu die Auszeich- Vorausdenken des Menschen, alle >Techne<, alles Wissen und Schaffen, um
nung des Festlichen, nicht, daß man sich gut unterhält, sondern daß allesamt, mit Prometheus zu reden, im genauesten Sinne des Wortes >Verdrängung<
zum Beispiel durch Musik oder durch Festreden, beteiligt sind. Wenn es kein des Todes ist. Ich will damit nicht Nietzsche folgen, wonach alle vermeintli-
Fest der Freude ist, etwa eine Grabfeierlichkeit, ist es ähnlich. In alten che Wahrheit eine Art Lüge ist, und zwar wirkliche Lüge, das heißt Verlo-
Kulturen, und in fernen Ländern teilweise bis heute, gibt es dafür geradezu die genheit, die nicht anders kann, sondern muß, weil Leben leben will. Doch,
Klageweiber. Sie üben es als Beruf aus, die Trauer aller in bewegten Stimmen es muß jedenfalls etwas bedeuten, daß der Wille zur Macht, der alles durch-
und mit großen emotionalen Ausbrüchen darzubieten. Das sind Formen des waltet, im Menschen die rätselvolle Fähigkeit des Symbolfindens, des Zei-
Lebens, in denen sich alle zusammenfinden, mit oder ohne innere Beteiligung gens und des Nennens und der Sprachfahigkeit in Dienst nimmt, um sich als
der einzelnen, aber so, daß der Ablaufder feierlichen Stunden und der Vollzug Leben zu erhalten. Vogelgesang und menschliches Lied bleiben grundver-
der Bräuche von allen mitgetragen wird. Wir erkennen ohne Schwierigkeit, schieden, auch wenn beide der Wille zur Macht durchwaltet. Die Unter-
wie in wirklichem Aufgehen im Vollzug des Ritus und im betonten Einhalten schiede bleiben. Tonfolgen mit vollkommenem Wohllaut hervorzubringen
der Formen der Zusammenhalt der Menschen Platz greift. Die Sprache kann bleibt etwas anderes, als sinnvolle Lieder zu singen. Gewiß gibt es beim
uns belehren, wenn sie von Form redet und von Förmlichkeit - oder wenn sie Menschen auch falsche Töne, die Lüge und vor allem die Selbstbelügung,
im sprachlichen Bereich von Formel oder Floskel spricht. Das Bestehen auf und alles Vorgebliche und Angebliche, kurz, all das, was zu geben scheint,
der Form wird mitunter zur äußersten Präzision getrieben, wie es für die aber nichts gibt. Heißt das aber, daß es überhaupt kein wirkliches Geben
Zeremonie vorgeschrieben ist. Formfehler sind eine ärgerliche Sache - in gibt? Ich würde sagen, es gibt den Anderen. Das ist keine Erfindung des
Rechtsdingen geradezu von folgenschwerer Tragweite. Und was für ein Willens zur Macht. Daran findet er seine Grenze. Sprache meint den Ande-
Zwang liegt darin, wenn man etwas zu Protokoll zu geben hat, zum Beispiel ren. Sprache will Antwort. Was öffnet sich damit? Ein Jenseits? Oder ein
als Zeuge vor Gericht. Was man eigentlich zu sagen hat, kann man so gar nicht Diesseits?
sagen. Das will niemand wissen. Meine Überlegungen erheben nicht den Anspruch, eine Widerlegung
Im wahren Leben der Sprache bildet sich dagegen das Miteinander aus, Nietzsches zu sein. Auch ich weiß, daß man durch alle Worte, die zu
und das vor allem in Gesprächen. Miteinander besteht darin, daß nicht erst Parolen werden, Macht wollen kann. Blicken wir auf den Übergang zur
der eine das Wort hat und einen Monolog hält, und dann der andere. Sprache, der im menschlichen Lebensverhalten am Kleinkind zu beobach-
Vielmehr sucht das Wort im Gespräch eine Antwort und findet sie vielleicht. ten ist. Wir sahen, da ist kein greifbarer Anfang. Was wir da am Kleinkind
Oder ist das eigene Wort immer schon eine Antwort, wenn man dem beobachten können, das langsam in eine Sprachgemeinschaft hinein er-
anderen ein Wort sagen will? Das Einander von Wort und Antwort hat wacht, hat seine Entsprechung in allen Anfangen von Sprachgemeinschaf-
seinen eigenen Anspruch. Auch wenn zwei Menschen die gleiche Sprache ten, wie sie sich in Ritus, Brauch, Sitte und aller Verhaltensordnung bilden
sprechen, suchen sie doch in jedem Gespräch die eigentliche, die gemeinsa- und schließlich auch zu sprachlichem Austausch führen. Wie sich die Worte
me Sprache, in der die Partner des Gesprächs sich verstehen. Jedes Wort ist herausbilden, die man gebraucht, wie man die richtigen Worte lernt und so
Frage, Zustimmung wie Widerspruch. Jede mögliche Entgegnung ist im lernt, wie man die Sachen lernt, das ist nicht bewußtes Lernen und Üben.
Grunde ein Entgegenkommen und nicht der Widerstand des Dagegenseins, Gleichwohl vollbringt dieser Prozeß des sprachlichen Austausche die Fest-
sondern bezeugt, daß man das Übereinkommen sucht. Manchmal will es werdung des Sprachgebrauchs. Insoweit ist die Fixierung durch die Schrift
einem scheinen, als sei solches Spiel von Frage und Antwort der Lebens- in der Bildungsgeschichte einer jeden Sprache angelegt. Man wird am
drang der Natur überhaupt und spiele sich in aller Anpassung des Lebens an Ende verstehen, daß vom Schreiben aus das Denken und das Gedächtnis als
seine Umwelt ab. Ist das Einander am Ende das Bauprinzip alles von der Schreiben und Geschriebenes beschrieben werden kann. Nicht umsonst
Natur hervorgebrachten Lebens? reden wir vom Be-schreiben. Die Griechen haben in ähnlicher Weise nicht
So hat Nietzsche gefragt, und das meint die Vision des Willens zur Macht, zwischen dem im Gedächtnis Behaltenen und der Schrift unterschieden,
der zufolge alles, was Leben hat, und noch über es hinaus alles, was ist, eine wie sie der Seele eingeschrieben ist. Auch wir können, was Sprache ist, nie
Art von Werden zum Sein ist. Ist das der Ursprung aller Sage? Oder ist es so, in voller Absehung von der Schriftlichkeit ermessen, die sich m ihr nieder-
daß die Sage sich über den verstummten Toten erhebt und ihn zum Einander schlägt.
in das Gespräch einholt? Das hieße dann, daß in letzter Konsequenz alles Die Nähe von Schrift und Sein (>Grammë< und >Ousia<) hat Derrida
418 Auf dem Wege zur heimeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 419
13
seinerzeit in der Festschrift fur Beaufret behandelt und gleichzeitig in dem aufdrücken will, dessen geheime Abhängigkeit von der Metaphysik nicht
dichtgedrängten Kapitel seiner Schrift »La voix et le phénomène< genauer erkennt, ja, wenn er aus Heideggers Aufzeigung der Metaphysik in Nietz-
expliziert. Man kann hier sehen, wie der Anstoß, den Heidegger bedeutete, sche, die in Wahrheit kritisch gemeint ist, umgekehrt auf einen Rückfall
zu einer direkten Auseinandersetzung mit Husserls Zeitanalyse und auf Heideggers in die Metaphysik schließt. Es kann nicht meine Aufgabe sein,
selbständige Wege geführt hat. Diese Wege enden alle in der überzeugenden dieser Frage hier nachzugehen14. In Wahrheit sind meine eigenen Versuche
Elimination des transzendentalen Subjekts und damit in der Kritik an einem insoweit in der Nachfolge Heideggers, als sie von der Sprachlichkeit aus
Begriffder Identität, der nicht selber die Differenz in sich schließt. Das spitzt einen Weg suchen, die griechische Metaphysik hinter sich zu lassen.
sich bei Derrida dazu zu, daß >das Jetzt< der Zeit, diese zum Hinhalten
ausgestreckte Hand — denn das ist la main tenante — das >Jetzt< - , in Wahrheit
nur seine eigene Spur im anderen Jetzt sei. So hat Derrida den Begriff der
Spur in die eigentliche Wahrheit der Zeichen eingezeichnet. Er hat damit an Von der Sage zur Literatur
Husserl eine richtige Kritik geübt.
Wie mich Derridas Auseinandersetzung mit Heideggers Nietzsche-Inter-
In seiner Widerlegung des Psychologismus hat Husserl die sprachliche pretation nicht ganz überzeugt, so gilt ähnliches auch für die Auseinander-
Verlautbarung als eine sekundäre Dimension der Sprache angesehen. Mit setzung von Derrida mit Levinas in »L'écriture et la différences Jedenfalls
der Betonung der Idealität der Bedeutung des Wortes hat den Mathematiker sollte man nicht mit Derrida die Wendung zur Schrift auf die bloße literari-
Husserl sein Gebrauch von Symbolen und mathematischen Figuren geleitet sche Entwicklung der europäischen Kultur gründen. Der Zusammenhang
und beirrt. Die Gegenstände der Mathematik haben gewiß die Idealität des zwischen Schrift und Wortsprache reicht tiefer und gab uns schon zu den-
Genauen. Auch der platonische Begriffder Idee zielt auf solche Genauigkeit. ken. Noch heute redet man gern von den Engrammen, die im Zentralner-
Aber Sprechen ist deswegen doch noch nicht eine bloße Abbildung des im vensystem eingezeichnet sein sollen - als ob wir in unserem Sprechen und
Denken Vorgesprochenen. Zwar hat Plato Denken als das innere Gespräch Erinnern in Wahrheit etwas abschrieben und abläsen. Die Dimension der
der Seele mit sich selbst bezeichnet. Das will aber nicht sagen, daß Sprechen Schrift, die zu entziffern ist, stellt gewiß ein sehr fruchtbares Modell für alle
wie eine Vorlage dieses Gespräch einfach wiederholt, das im Denken schon Erfahrung dar, und so hat man mit Recht seit Galilei (mit Hans Blumenberg)
vorliegt. In der Sprachwerdung vollzieht sich vielmehr ein Übergang in eine von der »Lesbarkeit der Welt« sprechen können. Offenbar ist der Zusam-
andere Dimension - und damit auch in die der Aufzeichnung durch Schrift. menhang zwischen der Bedeutung tragenden artikulierten Äußerung und
Ich habe mich selber an Augustins Aufnahme der stoischen Lehre von dem als Text geschriebenen Satz sehr eng, und so konnte die mathematische
dem »inneren Logos< angelehnt. Augustin bezieht sich darauf, um das Ge- Physik zum Modell aller Erfahrung stilisiert werden.
heimnis der Inkarnation, wonach das Wort »Fleisch geworden< ist, dem Gleichwohl behält die lebendige Stimme auf diesem Felde der Sprache
menschlichen Denken näherzubringen. In dieser christlichen Botschaft wird sowohl das erste wie das letzte Wort. Es ist das im Sprechen gefundene
jede Weltverdoppelung ausdrücklich vermieden. Die innere Rede ist nicht Wort, das im Lesen von Texten wiedergefunden werden muß, wenn der
die Vorlage fur die geäußerte Rede, sondern das Ganze ist ein Prozeß von Text sprechen soll. Das gilt sowohl für die Stimme des Redenden wie für das
eigener und geheimnisvoller Struktur. Das sollte man nicht Piatonismus Lesen, auch wenn es in der literarisch gewordenen Welt dabei stimmlos
nennen, wenn es auch in der polemischen Plato-Auffassung des Aristoteles bleiben mag l s . Es ist doch Vollzug unserer Leiblichkeit und Lebendigkeit im
als eine Zweiweltenlehre erscheint. Man kann verstehen, daß Derrida in ganzen. Das wird uns bewußt, wenn wir an die moderne Reproduktions-
Husserls frühen »Logischen Untersuchungen* solche angebliche Weltver- technik denken, durch die eine auf mechanischem Wege fixierte >Stimme< in
doppelung gesehen und als Metaphysik der présence kritisiert hat. Inzwi- Stimme zurückverwandelt wird. Das heißt eigentlich, daß die »Stimme* jetzt
schen haben wir alle von Heidegger gelernt, daß man gegen die Selbstver- nicht wirklich spricht. Sie ist vielmehr nur eine Art von Lautschrift. Selbst
ständlichkeit der présence die Seinsfrage im Horizont der Zeit neu stellen noch die hohe Bedeutung, die die Reproduktionstechnik für die heutige
muß. Dadurch sind wir in die Lage gesetzt, zu sehen, warum Derrida
14
fehlgreift, wenn er bei Nietzsche, der dem Werden den Stempel des Seins Ausführlicher dazu »Text und Interpretation< in Ges. Werke Bd. 2, S. 330-360 sowie
einige neuere Arbeiten über Dekonstruktion und Hermeneutik in Ges. Werke Bd. 10.
15
Zu den unterschiedlichen Arten des Lesens in ihrem Bezug zur Idealität des »inneren«
13
Jetzt auch in: JACQUES DERRIDA, Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 31-78. Hörens vgl. in diesem Band »Stimme und Sprache* (Nr. 22) und »Hören - Sehen - Lesen<
(Mittlerweile auch dt.). (Nr. 23).
420 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 421
Musikkultur besitzt, ändert nichts daran, daß sie Sprünge über Abgründe Abbilder von etwas gibt, die etwa als Jagdzauber oder im Seelen- und
zumutet. Auch wenn die aus dem Apparat erschallenden Töne noch so gut Götterkult unmittelbare Verständlichkeit haben. Da wird kein Mensch von
die lebendige Aufführung wiedergeben, bleibt dem Hörenden die neue Erfindung sprechen. Aber daß die Schrift durch Anordnung von Zeichen
Aufgabe, eine Erstarrung zu lösen, die im lebendigen Miteinander von verschiedener Form und Gruppierung die Lautgestalt der Wortsprache wie-
Musikern und den mit der Musik mitgehenden Zuhörern nicht aufkommt. dergeben kann, ist wie ein Rätsel. Man begreift, daß mit dem Obergang von
Erst recht gilt das von dem Sprecher, der in Apparate >spricht<, daß er nicht der verhallenden Stimme zu solcher Dokumentation etwas von steinerner
wirklich spricht. Ganz anders ist es, wenn im Sprechen des großen Schauspie- Untrüglichkeit dargetan ist. Wir sollten nicht überrascht sein, daß auf In-
lers auf der Bühne das Wort >Fleisch wird<. schriften oft so triviale Dinge entziffert werden, wie Steuerlisten, Anord-
Das schmälert nicht die Bedeutung der Schriftlichkeit. Die Vielfalt der nungen und andere Bekanntmachungen - und nicht das, was wir so gerne
Schriftarten geht von der Runenschrift, der Keilschrift über die Bilderschrift fänden, zum Beispiel Kunde über die religiösen Urerfahrungen der frühen
und Silbenschrift bis zum Alphabet. Gewiß ist die Übernahme des im Orient Menschheit.
entwickelten Alphabets durch die Griechen und seine Vervollkommnung Um von solchem Schriftgebrauch zu dem zu gelangen, was wir eigentlich
eine epochemachende Leistung. Wir kennen ähnliche Leistungen in Gestalt suchen, nämlich, was Sprache als Sprache ist und was in ihr zur Sprache
all der Geheimschriften, Kurzschriften und dergleichen, in denen echter kommt, wenn sie als Sprache da ist - und das ist, wenn sie Sprache der
Erfindungsgeist steckt. Jede erfundene Schrift ist ja in Wahrheit eine Ge- Dichtung oder Sprache des Begriffs ist - , müssen wir weiter ausholen. Das
heimschrift, solange sie nicht allgemeine Aufnahme gefunden hat. Darin ist Besondere der uns verborgenen Geheimnisse drückt sich in der deutschen
die Schrift nicht so wie die Sprache. Die Schrift ist etwas, das man erfinden Sprache durch das Wort >Sage< aus. Im Griechischen heißt es >Mythos<. Sage
kann - und das sich dann vielleicht einfuhrt und sich durchsetzt. Eine meint, daß nur im Gesagtwerden von Mund zu Mund, von Generation zu
künstlich erfundene Sprache dagegen kann so trefflich sein, wie das Esperan- Generation, im freien Wachsen und Wuchern der erzählenden Phantasie,
to - sie führt sich doch nicht ein. Das Esperanto wollte, wie seine Benennung >Geschichten< sich überliefern. Es ist seit langem eine vielumstrittene Frage,
hofft, eine Einheitssprache der Erde werden. Das sieht nicht so aus. Dagegen wie etwa das Leben und Weiterleben von Sagen zu der dichterischen Gestal-
wird vielleicht das europäische Alphabet die Einheitsschrift der Zukunft sein tung der Homerischen Epen geführt hat. Doch es ist hier nicht der Ort, das
können. Der Grund für diesen Unterschied ist klar. Sprechen lernt man eben weite Thema der Schriftlichkeit überhaupt zu erörtern. Wir fragen, wie es
nicht in der Schule, wie man Schreiben lernt. überhaupt zur Literatur wird. Was bedeutet es, daß sich durch schriftliche
Sieht man vor dem Hintergrund aller rituellen Verhaltensweisen auf ihre Fixierung das freie Walten der Phantasie des Erzählers selber unter beschrän-
Stiftung und ihre Einführung und auf die schier unauflösbare Nähe von kende Auflagen stellt, und wie geschieht das? Da müssen wir vor allem die
Schrift und Sprache, kann es nicht überraschen, daß gesellschaftliche Grup- Kultformen und Rituale, die noch vor aller dichterischen Formung von
penbildungen im Laufe der Erdgeschichte an so vielen Orten zu Kulturen Sprache und Schrift liegen, als den wahren Lebensboden von Literatur ins
eigener Prägung und eigener Sprache geführt haben. Wo immer sich in einer Auge fassen. Solche Sagen sind noch ganz von der lebendigen Stimme
Sprachgemeinschaft die Fertigkeit des Schreibens einführt, ist das ein großes gesagt und weitergesagt, und zwar noch jenseits aller Unterscheidung von
Ereignis. Jede Schriftkultur bedeutet die Bildung einer gesellschaftlichen Leiblichkeit und Geistigkeit. Die Vorgestalten und Frühgestalten der Sagen
Unterscheidung, die sich mit der Herausbildung oberer und unterer Schich- waren vielleicht geradezu in rituelles Handeln eingefügt. Und trotzdem. In
ten der Bevölkerung verknüpft. So war der Vollzug von Zeremonien und allem Erzählen herrscht eine Art Freiheit, die im Grunde der Fixierung
Riten ein Vorrecht der Priester und Oberen, an die sich dann die Kunst des widersteht. Wer gut zu erzählen weiß, um den scharen sich die Zuhörer, und
Schreibens und die Schriftlichkeit anschließt. Dieser Prozeß setzt sich bis gewißlich nicht, weil er immer dasselbe erzählt. Im Gegenteil, er weiß
heute fort. Am Ende wird der Schriftkundige zum Bürokraten. immer neue Geschichten und ist geradezu unerschöpflich. Was für eine freie
Bei der Begegnung mit russischen Soldaten in Leipzig ist mir handgreif- Distanz ist da gewonnen, was für eine Freude an allem Möglichen, was die
lich vorexerziert worden, daß ein der Schrift Unkundiger in allem Geschrie- Musen dem Erzähler eingeben - wenn man auch wie Hesiod im Grunde
benen und Gedruckten geradezu eine Dokumentation von Wahrheit und weiß, daß die Musen dem Erzähler nicht nur Wahres, sondern oft auch
Geltung erblickt. Es ist ja auch wirklich voll von Geheimnissen, daß man Falsches eingeben. In allen Erzählungen von Göttern und Helden, von
mit solchen Kratzern, Schnitten und Strichen verständliche Worte übermit- Wundern der Ferne und der Vorzeit, hegt ein einziger Zauber schweifender
teln kann. Dagegen ist es kein Wunder, daß es Felsbilder oder andere Freiheit, und noch ganz unabhängig von aller sprachlichen Kunst. Es ist erst
422 Auf dem Wege zur hermeneutdschen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 423

etwas Neues, eine neue Formkraft, die daraus die Großform des Epos im Gange war, wird hier auf 40 Tage zusammengedrängt, und dann ver-
entstehen läßt, und gewiß ist die neue Schriftlichkeit bei diesem Vorgang schränkt sich mit diesen vierzig Tagen der Bericht vom Ende des Krieges,
hilfreich gewesen, die sich im damaligen Griechenland verbreitete. So wird von der Zerstörung von Troja, mit der abenteuerreichen Rückkehr der
Sprache zur Literatur - aber im Grunde, weil die Sagen schriftfähig gewor- Griechen von Troja, die die Odyssee erzählt. Bei den Phäaken erfährt der
den sind. Was das heißt, wird zu fragen sein. damalige Zuhörer - Odysseus - und der heutige Leser erstmals aus dem
Erzählen hat eine ungeheure Macht. Im griechischen Räume gab es dabei Gesang des Demodokos von dem hölzernen Pferd und dem Untergang
immer zugleich musikalische Begleitung. Es waren Lieder, in die man Trojas. Dabei bricht Odysseus in Tränen aus. Man kann sich kaum denken,
einstimmen möchte, die schon eine gewisse dichterische Gestaltung ein- daß andere Kriegs- oder Heimkehr-Epen, die es sicherlich gegeben hat, die
schlössen. Gleichwohl ist es wichtig, sich zunächst die ganz kunstlose Freu- Aufgabe auch nur annähernd so gut gelöst haben, über ein weitgespanntes
de am Erzählen vor Augen zu stellen, um von da aus die große Kunstleistung Ganzes von Geschichten immer neu die Spannung zu beleben und zu -einer
der Homerischen Epen richtig zu würdigen. Erzählfreude zeigt sich wahr- großen Erzähleinheit zu gelangen. Wir wissen nicht viel von anderen epi-
lich bei Homer. Einmal wird da die Kunst des Rhapsoden selber zum schen Versuchen, die unter dem Namen Kyklos zusammengefaßt sind, aber
Gegenstand des Epos. Als Odysseus zu den Phäaken kommt, wird es doch genug, um das Unvergleichliche behaupten zu können - oder war es
herrlich geschildert, welche Rolle der Sänger für das Zusammenleben der jener letzte Bearbeiter der beiden letzten Homerischen Epen? Jedenfalls ist
Menschen zu spielen vermag. Wenn Spannungen auftreten und Streitigkei- die große dichterische Leistung >Homers< - und ihre Aufnahme in die
ten drohen, dann ruft man nach dem Sänger, der im geselligen Kreise neue werdende Poliskultur - die Urstiftung all dessen geworden, was man im
Gemeinsamkeiten zu stiften weiß. Das gilt ganz gewiß auch für die frühe Abendland >Epos< nennt, und ist von vergleichbaren epischen Dichtungen
Zeit der Rhapsoden, daß sie eine solche wichtige Rolle zu spielen hatten und anderer europäischer Sprachen bei weitem nicht erreicht worden.
dabei beteiligt waren, damit in frühen Gesellschaftsordnungen Zwietracht Erzählungen müssen spannend sein, aber sie müssen auch den Zuhörern
immer wieder überbrückt werden konnte. Noch in den kunstvollen Erzähl- oder Lesern etwas von bleibender Bedeutung vermitteln. Es müssen Berich-
strukturen der Homerischen Epen schimmert es durch, wie die Kleinform te sein, die unser Wissen bereichern. Wer etwas zu erzählen hat, war bei
der Erzählung gepflegt wurde — ganz so, wie noch heute große Erzähler im etwas dabei, wo der andere nicht dabei war - oder wenigstens erzählt er
geselligen Kreise Geschichte an Geschichte nach Beheben zu reihen wissen etwas weiter, was jemand erzählt hat, der es selbst erlebt hat. So sind wir im
und die Erzählfreude der Menschen befriedigen. wörtlichsten Sinne im Bereich der Sage. Auch wenn die Sage weitererzählt
Man kennt die Diskussion um die homerische Frage. Sie berührt uns hier wird, behält sie etwas von Augenzeugenschaft, und zwar für Ungewöhnli-
kaum. Beide Parteien, die Unitarier und ihre Gegner, sind sich ja darin einig, ches, etwas aus einer Welt der Urzeit, die niemand mehr bezeugen kann,
daß es lange schriftlose Jahrhunderte gab, in denen Mythen und Sagen in der oder aus einer Welt der Fernen, wenn der, der von einer Reise zurückgekehrt
griechischen Welt zu rhapsodischer Gestaltung und Überlieferung gelang- ist, viel zu erzählen hat. Er erzählt von seinen Abenteuern, von Gefahren,
ten. Davon wissen wir kaum etwas. Aber Cicero hat gewiß nicht unrecht, Nöten, Zufallen und Unfällen ganz aus seiner eigenen Erfahrungsfulle oder
wenn er die Vollkommenheit der Homerischen Gedichte als Argument Phantasie, aus der er schöpft. Das ist alles so besonders spannend, weil der
dafür gebraucht, daß ihr lange Vorbereitungen vorausgegangen sind. Daß Erzähler - oder der Erzähler des Erzählten - vor einem sitzt und alles
mit der Schriftlichkeit ein neuer Schritt möglich wurde und daß, im Sinne überstanden hat. Ob es Göttergeschichten, Heldengeschichten, Heiligenge-
einer neuen Autonomie von bleibendem Kunstverstande, Literatur zustande schichten sind, die da erzählt werden, es sind alles keine Zeugenaussagen. Im
kam, eröffnet in jedem Falle ein neues Zeitalter, das neue Möglichkeiten bot Gegenteil, sie bezeugen die Geschichten, die sie erzählen, nur durch die Art,
und neue Aufgaben stellte. Es ist die Kunst der epischen Komposition, auf wie sie erzählen, durch den Ton des Dabeiseins, der sich trotz aller Wieder-
die es nun ankam. Im Spiel mit dem Sagengut hatte sich die Kleinform holungen und Ausschmückungen durchhält. Das verleiht den erzählten
erzählender Lieder entwickelt. Jetzt aber war die Aufgabe, nicht nur solche Geschichten so etwas wie Wahrheit und gewiß nicht die Glaubwürdigkeit
kleinere Spannungseinheiten in geselligem Spiel aneinanderzureihen, son- von Zeugnissen, wie selbst die Musen anerkennen, deren Mutter >Mnemo-
dern zu der großen Erzähleinheit epischer Dichtung zusammenzufassen. So syne< ist. Aber sie verleihen das Ihre als eine Gabe, die einen zum Dichter
hört man es beim ersten Wort in den Proömien der Homerischen Epen an weiht. Erzählungen müssen die Traumfähigkeit der menschlichen Seele
der Ankündigung: »Den Zorn des Achilles . . .« und »Den Mann nenne anregen und im Nachklang solcher Erzählung sich erfüllen. Wie im Traum-
mir, M u s e . . . «. Der Trojanische Krieg, der nach der Sage schon lange Jahre leben besteht man nicht auf genauer Logik, und doch laufen geheime Sinnli-
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nien hin und her. Die Sagenüberlieferung der Völker hat in der abendlän- Dichtung oder ein Werk der bildenden Kunst immer neue Antworten bereit
dischen Literatur mit der Form des Epos, der Tragödie und der großen und rege zu immer neuen Fragen an.
Lyrik einen weiten Raum erzählerischer Phantasie durchmessen. Das Wir bewegen uns ständig in einem Bereich, den wir mit der Kraft unserer
Versepos hat in der weiteren Geschichte des Abendlandes vor allem dank eigenen Phantasie aufbauen. Wir sind zwar bloße Zuschauer, und doch sind
Vergil immer wieder neue Aufnahmen gefunden. Erst in der Neuzeit ist wir zutiefst beteiligt. Das ist nicht anders, als wenn wir unseren eigenen
sie von der Romankunst abgelöst worden, die nicht mehr auf die mythi- Fragen nachhängen, uns in Gedanken verlieren, und wenn langsam aus
sche Vorwelt und auf religiöse Überlieferung zurückgreift. Von Cervan- diesen Gründen Sinngestaltungen wieder auftauchen. Es ist wie ein erhöhter
tes bis Joyce oder bis zu dem geheimnisvollen Kafka wird nicht mehr von Lebensvollzug, zu dem wir erhoben sind. Hier fällt einem die Aristotelische
Helden Großes erzählt. Statt dem Heldenlied wird das Klagelied der Definition der Lust ein, der >Hedonê<. Aristoteles definiert sie als freien,
Menschheit gesungen, und die Abenteuerlichkeit des Lebens, die Bil- ungehinderten Vollzug17. Im Deutschen gebraucht man dafür das Wort
dungsgeschichte des Menschen und das Leiden an der Gesellschaft sind >Lust<, freilich nur noch selten, meist nur, ob man zu etwas >Lust hat< oder
ihre Sage. Unvorhersehbare Wechselfalle des Geschehens, Überraschun- nicht, und in dem neuartigen Fachausdruck >Lustgewinn<. Indessen scheint
gen, die aus dem menschlichen Herzen hervorbrechen, das sind die Wel- mir der Begriff der Lust, den wir in Schillers Begriff des freien Spiels
ten, die seither einer unerschöpflichen Literaturgattung ihr Leben geben. wiedererkennen, allen Kunstarten wie aller freien Bewegung des Gedankens
All das sind Geschichten, die nicht wahr sein wollen, und doch sind sie zugeordnet. Es ist immer Lust an etwas. Wir verlieren uns förmlich an eine
wie Welten, in denen wir heimisch werden und von denen wir uns kaum Welt von Gestalten und Gedanken, und gerade darin sind wir da. Das heißt,
trennen mögen. Gewiß, wir werden nie daran denken zu fragen, ob das wir sind wach.
alles wahr sei. Die verschlungenen Wege des Lebens, die ein fernes Ziel Es ist doch wohl in der Sache begründet, daß in der »zaudernden Weile«
vorgaukeln, und die Stürme, die die Phantasie der Zuhörer schütteln, fin- etwas in uns von der mündlichen Sagenüberlieferung auf die Literaturform
den dank der mitreißenden Kraft ihrer dichterischen Gestaltung Wahrheit und damit auf die neue Schriftlichkeit hindrängt. So kam es, daß in Grie-
in sich selbst. Erst mit der Ausbreitung der wissenschaftlichen Aufklä- chenland die Verskunst Homers und Hesiods vorbildlich wurde. Sie setzte
rung begann man so etwas >fiction< zu nennen. sich als die Form von Literatur überhaupt durch, jedenfalls in den ältesten
. Es ist nicht nur die erzählende Kunst, mit der wir so mitgehen. Wir philosophischen Texten, die wir in Griechenland kennen, bei Parmenides
sind nicht nur Leser der großen Romanciers. Da sind auch die bildenden und Empedokles. Sie sind in homerischen Hexametern geschrieben. Gewiß
Künste, die alles begleiten, .so daß uns eine ganze Welt aufgeht16. Die gab es auch Prosaaufzeichnungen, wenn auch nicht gleich bei Thaies, wohl
Erinnerung an die bildende Kunst tut not. Es ist unübersehbar, daß auch aber bei den anderen Milesiern. Es sind aber nur Bruchstücke erhalten.
sie von der Zeitlichkeit unseres Daseins im Aufbau des Gebildes zeugt, Später, im Zeitalter der zunehmenden Schriftlichkeit, bei Heraklit, Zenon,
das wir ein Kunstwerk nennen. Auch wenn es sich nur um eine Skulptur Melissos, Anaxagoras und später bei Demokrit sind uns Zitate erhalten, und
oder um den überwältigenden Eindruck eines Bauwerkes handelt, das schließlich Texte von den Historikern, den Rednern und den Sophisten.
>herauskommt<, ist das wie bei den sprachlichen Künsten. Auch da Man muß sich aber bei all dem klarmachen, daß auch solche beginnende
•kommt es heraus<, und wir finden darin Halt. Es bleibt uns. Das hat auch Literatur zur Vortragskunst gehört, und natürlich gilt das erst recht für die
auf den großen Umwegen über das dichterische Wort oder die bildende uns erhaltenen Tragödien der Griechen, sowie von der Lyrik und der Chor-
Kunst seine Entsprechung. Nun mag man sagen, daß ein Text oder ein lyrik. Der Weg vom mündlichen Vortrag zum schriftlichen Memoriertext
Kunstwerk nicht antwortet, so daß es kein wirkliches Gespräch geben und zur Literaturform ist kurz. Wir können sicher sein, daß hinter den uns
kann. Da möchte ich behaupten, es ist gerade umgekehrt. Jedes Werk'der bekannten Texten ein ganzer Chor von Gesängen im Hintergrunde steht,
Kunst ist, wenn es einen anspricht, schon eine Antwort heischend. Wer die in den Ritualen der Kult- und der Erntefeste und bei höfischen Festlich-
sich darauf einläßt, dabei verweilt, schauend oder denkend, ist bereits ins keiten zur Darbietung kamen. Verskunst und Tonkunst waren ohnehin
Gespräch verwickelt und nimmt irgendwie am anderen teil, mit dem man untrennbar.
eine gemeinsame Sprache sucht, wie in jedem Gespräch. Es ist, als hielte

l
* Siehe dazu vor allem den vorangehenden Beitrag >Wort und Bild - >so wahr, so
seiend« (Nr. 35). Eth. Nie. H14, 1153b n: ενέργεια ανεμπόδιστος.
426 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phénoménologie von Ritual und Sprache 427

Auf dem Wege zum Begriff lieh und verbindlich. Aber wo bliebe dann, um es mit einem berühmten
Ausdruck von Heinrich von Kleist zu sagen, »die allmähliche Verfertigung
Wie steht es nun aber mit der Philosophie, in der die Sprache des Begriffs der Gedanken beim Reden«?
gesprochen wird, und wie mit der Schriftlichkeit dieser Sprache? Daß So- Am Ende ist der Vergleich der mathematischen Symbolsprache mit der
krates selber nicht geschrieben hat, ist bekannt. Wenn Plato statt irgendwel- Sprache der Philosophie überhaupt abwegig. Ist das überhaupt eine Sprache,
cher Lehrschriften oder Lehrvorträge seine kunstvollen Dialogdichtungen und gibt es eine Sprache der Philosophie? Es ist vielmehr die gesprochene
hinterlassen hat, dann will das etwas sagen. Wir wissen überdies aus dem Sprache, wenn es auch Jahrhundertelang nicht die vom Volke gesprochene
Siebenten Brief, daß er die Schrift fur das Philosophieren überhaupt unge- Sprache war, sondern das Kirchenlatein und das Gelehrtenlatein, aus dem
eignet fand. Das gut in gewissem Umfange selbst noch für die Zeit, in der sich die Begriffsbildungen und terminologischen Konventionen erheben.
die philosophischen Schulen gegründet wurden und die erst im Zeichen des Solche Begriffe gewinnen erst durch ihre Einfügung in den Fluß der gespro-
politischen Niedergangs der griechischen Städte aufblühten, als ihre politi- chenen oder geschriebenen Sprache ihre begriffliche Aussagekraft. Es han-
sche Selbständigkeit dahin war, also in der Zeit Alexanders und seiner delt sich also bei schwerverständlichen philosophischen Texten nicht um
Nachfolger. Man muß das im Auge behalten, daß die Lehrschriften des eine Art Geheimschrift — bei der man einen Schlüssel braucht, der mit einem
Aristoteles gar keine wirkliche Literatur waren und auch gar nicht sein Schlage das Ganze entziffert — und auch nicht um die Vertrautheit mit einer
wollten. Sie waren zunächst nur für die Lehre und ihren Vortrag bestimmt, künstlichen Symbolsprache. Heideggers Rede von der Sprache der Meta-
und jedenfalls nicht ohne Zusammenhang mit der Mündlichkeit der Schule. physik, in die das Denken immer wieder verfalle, ist eine ungenaue Rede.
Das unterschied sie deutlich von den geschriebenen Redekunststücken, die Was Heidegger sagen will, ist gewiß, daß ihm für das, was er sagen wolle,
in Piatos >Phaidros< bloßgestellt werden. Man sollte das bei dem stilistischen die Sprache fehle. Aber man bedenke wohl, daß diese auch im alltäglichen
Äußeren und den formidablen Begriffskünsten, die sich in den Lehrschriften Leben vorkommende Wendung »mir fehlt die Sprache« - das heißt »ich bin
des Aristoteles aneinanderreihen, nicht vergessen. Das waren nicht die sprachlos« — eigentlich meint, daß einem etwas Erstaunliches und Unerwar-
>Werke< des Aristoteles. Für das griechische Altertum war Aristoteles in tetes begegnet, für das die treffenden Ausdrücke fehlen, zu sagen, was man
Wahrheit als Schriftsteller berühmt. Diese Schriften sind für uns freilich sagen will.
verschollen und nur im Spiegel von Ciceros Diskussionsdialogen einiger-
maßen vorstellbar. Cicero rühmt aber ausdrücklich den Stil dieser verlore- So meint auch Heidegger, daß ihm bei dem Versuch, >das Sein< angemes-
nen Aristotelischen Schriften, wenn er noch in römischer Zeit auf das sen zur Sprache zu bringen, in unserer Sprache die rechten Begriffe fehlen.
»flumen orationis aureum« anspielt. Da sind gewiß nicht seine Lehrschriften Es war in Heideggers Augen der große Vorzug der Griechen, daß sie ihre
gemeint. Erst in hellenistisch-römischer Zeit nähert sich die griechisch-la- Begriffe nicht einer Schultradition verdankten, sondern unmittelbar aus
teinische Schulkultur jener Lesekultur, die mit der Ära Gutenberg herauf- dem lebendigen Sprachgebrauch herausgehoben und entwickelt haben. Es
kam und jetzt vielleicht langsam zu Ende geht. kann natürlich nicht sinnvoll sein, nun diese von den Griechen entwickelten
Begriffe in die Denkbewegung unserer eigenen Fragen einfach einzufügen.
Die Neuzeit steht unter einem allgemeinen kritischen Vorbehalt gegen- Aber Heidegger hat gezeigt, daß man aus der Nähe der griechischen Be-
über dem Weltbild der Sprache und der Verfuhrungskraft der Sprache. So griffsbildung zu der damals wirklich gesprochenen Sprache auch für unsere
hat Bacon von den >Idola fori< gesprochen. Man muß zugeben, daß die eigenen Fragen und die Bildung fur uns angemessener Begriffe lernen kann.
moderne Wissenschaft, vor allem die Physik, in ihren grundlegenden Lei- Wenn sie etwas von der bildnerischen Kraft lebendiger Sprache in sich
stungen die Symbolik der Mathematik benutzt und sich damit den Verfüh- aufnehmen, dann sind auch unsere Fragen lebendige Fragen.
rungen der Sprache ganz entzieht. Wenn Sprache wirklich nichts anderes : Nun hat die Weltgeschichte der abendländischen Philosophie den Rück-
wäre als eine bloße Fixierung und Verlautbarung dessen, was im Denken weg zur urgriechischen Spracherfahrung nicht gerade leicht gemacht. Der
bereits gedacht ist, dann müßte man in der Tat wünschen, es gäbe nicht abendländische Denkweg ist, wie wir schon in Erinnerung riefen, durch die
mehr die Vielfalt der menschlichen Sprachen, die doch allesamt dem Ideal Aufnahme des griechischen Denkens im lateinischen Sprachraum weiterge-
der genauen Fixierung nicht genügen. In solchem Falle müßte man das Ideal führt worden und von da aus in die Schulsprache der Philosophie eingedrun-
der Aufklärung bejahen, die eine >Characteristica universalis< entworfen hat, gen. Es sind griechische Grundbegriffe, die wir in lateinischer Umformung
und heute etwa die Orthosprache, die Lorenzen einfuhren möchte, die alles gebrauchen. Dem Sprachleben der Griechen sind sie ganz entfremdet, und
Mißverstehen ausschließen soll. Das ist im Falle der Mathematik maßgeb- damit ist auch ihre begriffliche Aussagekraft geschwächt. So war es wohl-
428 Auf dem Wege zur hermencutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 429

motiviert, daß Heidegger zunächst auf die Griechen und ihre Begriffsbil- haben, daß griechisches Denken Sein als Anwesenheit versteht, können wir
dung zurückging. Er hat nicht, wie mancher andere originelle Denker, von indes bei Hegel nicht stehenbleiben, wenn Sein als Anwesenheit in der
der Denkweise der mathematischen Naturwissenschaften verführt, künstli- Selbstbegegnung, in der Geistesgegenwart des Bewußtseins, gipfelt und
che Symbolschöpfungen nach seinem Belieben zum Ausdruck seiner Ge- wenn der Gott als Geist gedacht ist. Wir suchen auf unsere eigenen Fragen
danken ernannt. Er hat aber auch nicht die herkömmlichen Begriffe der Antwort, und dafür befragen wir nicht nur die griechische, sondern die
Schulsprache der Philosophie wie feste Größen in seine Argumentationen gesamte Überlieferung unseres philosophischen Denkens.
eingelassen. Sein Bestreben war vielmehr die Destruktion der Schulsprache So war es gewiß keine Willkür, wenn Heidegger von Aristoteles aus
der Metaphysik. Destruktion meint, wie ich immer wieder betonen muß 18 , immer wieder das Gespräch mit Parmenides gesucht hat. Zwar war dessen
die Abdeckung der Verdeckungen, welche Begriffe durch ihre lateinische Lehrgedicht in homerischen Hexametern geschrieben, und das nicht ohne
Umsetzung und ihre geschichtliche Weiterbildung in der Neuzeit erlitten eine gewisse poetische Kraft, wie sie das erhaltene Proömium beweist.
haben. So trieb uns Heidegger an, uns in die ursprüngliche Welterfahrung Dafür gab es noch keine Begriffe. Gleichwohl begegnet in diesen Versen
einzuarbeiten, die in der Sprache und in der Begriffsbildung der Griechen zum ersten Male so etwas wie eine Begriffsbildung, sofern dort in der
steckte. Sie auf diese Weise neu zum Sprechen zu bringen verlangt gewiß Gegensetzung zum Nichts, dem μή ôv oder dem ουκ öv, der Singular το öv
methodischen Einsatz philologisch-historischer Arbeit, die an der Sprache begegnet. Das ist so etwas wie ein Begriff. Welches Seiende ist denn damit
und mit der Sprache zu leisten ist. Aber es ist eine Aufgabe des Denkens, und gemeint? Wenn auch zunächst aus dem Munde einer Göttin, ist das doch ein
Denken geschieht vor allem in der eigenen Muttersprache. Heidegger ge- neuer Schritt der Abstraktion, etwa gegenüber gewissen Vorläufern des
lang es, für seine eigenen Fragen neue Horizonte zu öffnen. Nachdem er die Plurals von τα όντα oder τα πάντα. Mit der Schärfe der Konzentration auf το
Fragen der Griechen aus deren Welt heraus verstehen gelernt hatte, hat er, öv als das Eine und Einzige des Seins ringt sich der Begriff los 19 . Man darf
durch Husserls Phänomenologie angeleitet und von der Lebensphilosophie natürlich nicht in den naiven Fehler verfallen, den die Lehrbücher begehen,
der Kriegs- und Nachkriegsjahre herausgefordert, die Frage nach dem Sinn wenn sie im Gegensatz zu Thaies, der das Wasser, und Anaximenes, der die
von >Sein< neu gefragt und in den Horizont der Zeit zu stellen unternommen. Luft für das Erste erklärt, nun dem Anaximander nachrühmen, daß er das
Damit hat er die Eigenart der griechischen Denkerfahrung - und zugleich >Apeiron<, das Grenzenlose, als eine Begriffsschöpfung gemeint und gedacht
ihre Grenze - sichtbar gemacht. Ihre Grenze haben die griechischen Denker habe.
nicht selbst gedacht. Es war vielmehr der Horizont, von dem für sie alles Wohl aber dürfen wir es bei den Eleaten tun. Das bestätigt sich vor allem
umschlossen war, was ist: Sein war fur die Griechen Anwesenheit. Als der durch Piatos Aufnahme des Eleatismus. So kritisch dieselbe auch war, zeigt
alte Heidegger auf einer Schiffsreise durch die Ägäis eines Morgens an Deck sie doch gerade, wie damals das >unsterbliche Pathos der Logoi< erfahren
kam und aus dem Morgendunst langsam die Umrisse einer Insel auftauchen wurde. Im Kampf mit der Sophistik und Rhetorik erwacht die Logik und die
sah, war ihm, als hätte er zum ersten Male >Sein< wie die Griechen gedacht. Dialektik, die auf dem Grundriß der Physik und Metaphysik des Aristoteles
Er schrieb mir damals: »Wir denken noch immer die griechische Welt nicht die kommende Weltepoche der Philosophie bestimmen sollte. Plato und
griechisch genug. « Das wollte wahrlich nicht sagen, daß wir selber wie die Aristoteles haben sich am Leitfaden der Sprache dem Unterscheiden der
Griechen denken sollten. >Sein< kann fur uns nicht nur Anwesenheit meinen. Begriffe zugewandt, Plato in der Dialektik der Dihairesis, Aristoteles mit
Das war schon fur den jungen Heidegger, der sich damals als christlicher dem Analogiebegriff und dem Begriffskatalog (Met. Δ), der seine Begriffs-
Theologe verstand, seine Grunderfahrung und der tiefste Antrieb seines sprache registriert, wie sie im griechischen Sprachgebrauch begegnete. Hei-
Fragens, daß er sich in der Schulsprache der Philosophie nicht selber verste- degger behält für die Griechen recht. Das >Sein< wird als Anwesenheit
hen konnte. So stellt er eine kühne Forderung an das Denken. Man müsse im verstanden, wie jene am Morgen auftauchende Insel und wie die Evidenz der
Denken so viel wagen, wie die Griechen in ihrem Denken gewagt haben. zeitlosen Wahrheit, die den Griechen in der Mathematik und in allen ihren
Sein Wagnis war, >Sein< - und wenn man es »Seyn« schreiben müßte - als logischen Funktionen aufgegangen ist. Das war der erste Schritt zur Wissen-
Zeitwort zu denken. Mit seiner Forderung hat Heidegger an Hegel ange- schaft, der Europa den Weg gewiesen hat. Aber >Wesen< ist nicht nur das
knüpft, der den griechischen Denkern der Frühzeit nachgerühmt hat, daß sie Sein des Seienden, wie in der Metaphysik des Aristoteles und der Logik
sich auf die hohe See des Denkens gewagt hätten. Wenn wir verstanden Hegels, sondern ist das, was in allem Seienden >anwest<.

18 19
Siehe >Destruktion und Dekonstruktion< in Ges. Werke Bd. 2, S. 361-372. Vgl. dazu >Parmenides oder das Diesseits des Seins< in Ges. Werke Bd. 7, S. 3-31.
430 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phénoménologie von Ritual und Sprache 431

Doch es ist hier nicht der Ort, erneut darzustellen, wie die Begriffssprache Platonischen Dialogen. Es liegt auch in der aristotelischen Begriffssprache,
der Metaphysik den spekulativen Winken der Sprache gefolgt ist. Das ist für die der Vielfältigkeit von Bedeutungen nachspürt. Immer ist es Sprachge-
Heidegger wohlbekannt. Er hat die festgewordene Begriffssprache der anti- brauch, der am Ende Begriffswert entstehen läßt. Die Abstraktionskraft der
ken und neuzeitlichen Schulmetaphysik durch Neuschöpfungen flüssig zu Griechen hat dazu geführt, daß die Mathematik, die sich in Ägypten wie in
machen gewußt, noch mehr, als schon Hegel das durch seine Dialektik Babylon bereits zu praktischen Zwecken entwickelt hatte, zur Wissenschaft
anstrebte. Man kennt Heideggers Hang zu Wortspielen und seinen Rück- wurde. Die Abstraktionskraft der Griechen hat aber auch in Astronomie, in
griff zu Etymologien. Aber daneben ist er den großen Wegbereitern der Erdbeschreibung, in Medizin die Wege zur Begriffsbildung gebahnt und hat
deutschen Sprache gefolgt, Meister Eckhart, Martin Luther, Leibniz und am Ende Logik und Dialektik reifen lassen. Für die europäische Kultur mag
Kant, und am Ende hat er mit einer fast exegetischen Treue die Sprache es dabei eine nicht geringe Rolle gespielt haben, daß die Griechen das im
Hölderlins in sein denkendes Gespräch aufgenommen. Auch zeigt sein Orient erfundene Alphabet bis zu wahrer Sprechbarkeit weiterzuentwickeln
Interesse am Japanischen und Chinesischen, wie sehr er nach Vorgaben auf verstanden haben. Die Wissenschaftskultur begann damit, daß sich auf
der Suche war, durch die ihm Sprache helfen könnte, neue Denkwege zu diesem Grunde, in der beginnenden Wiederaufnahme der antiken Kultur,
bahnen. Auch Heidegger folgt im übrigen, wie wir alle, unserer alltäglichen die wir die Renaissance nennen, die mathematischen Naturwissenschaften
Sprache, die uns geläufig ist. Aber es gilt immer wieder, das Geläufige zu der Sondergestalt der >empirischen Wissenschaft entwickelt haben. Sie
aufzubrechen, wo neue Fragen über uns kommen. hat den Begriff von Wissenschaft und von Methode neu bestimmt und selbst
So ist es eben mit dem sprachlichen Grunde des Denkens. Sprache be- der Philosophie aufgezwungen.
gründet nicht, sondern öffnet Wege. Wer spricht, wählt seine Worte, weil er Die Erinnerung an die griechischen Anfänge läßt nun aber den Zusam-
Antwort sucht. Jeder Versuch des Denkens ist ein Versuch zum Gespräch, menhang von Ritual und philosophischer Sprache mit besonderer Anschau-
und das gilt vollends für die Philosophie, die über durch Erfahrung Feststell- lichkeit hervortreten. Nach der Einführung der alphabetischen Schrift be-
bares hinausfragt. Man weiß nie, ob man nicht auf dem Holzwege ist und hält die griechische Kultur auf lange hinaus eine überwältigende Mündlich-
umkehren muß. Hegel hat sich weit hinausgewagt und ging oft bis zu keit. Erst die mathematische Grundlegung dessen, was in der Neuzeit
Aristoteles zurück, Heidegger noch weiter. Wittgenstein besaß das Genie Wissenschaft wurde, brachte die Auflösung der alten Einheit von Kult,
der Metapher. Aber am Ende bleibt Sprache auch im Philosophieren Ge- Ritual, Gesang und Sprache, Rhetorik und Poetik, und am Ende von Wis-
spräch - Gespräch der Seele mit sich selber oder auch mit dem Anderen. senschaft und Philosophie.
Philosophie kennt keine wahren Sätze, die man nur zu verteidigen hat und Die Rhetorik, die große Bildungsmacht des Humanismus, war bereits in
die man als die stärkeren zu erweisen sucht. Philosophieren ist vielmehr eine ihrer sophistischen Erscheinungsform von Plato zurückgebunden, aber da-
beständige Selbstüberholung aller ihrer Begriffe, wie ein Gespräch eine mit auch legitimiert und vertieft worden. Mit der neuzeitlichen Begründung
ständige Selbstüberholung durch die Antwort des Anderen ist. Deshalb gibt der mathematischen Naturwissenschaften setzte dagegen eine Entwicklung
es eigentlich keine Texte der Philosophie in dem Sinne, in dem wir von ein, die für den Bildungsauftrag der Rhetorik keinen Platz mehr ließ und sie
literarischen Texten sprechen - oder von Gesetzestexten oder von der Heili- zu einem Makel machte, der eigentlich ganz beseitigt werden sollte. Der
gen Schrift. So wahr sich die Erfahrung der Menschen unter den geschichtli- Wandel des Begriffs der Methode führte dazu, >Weg zur Vergewisserung< zu
chen Bedingungen ihres Lebens und ihrer Schicksale bildet, so formen sich sein, und das gibt implizit dem Begriff des Subjektes, des Bewußtseins, des
die Worte und Antworten, die neue Fragen zu stellen erlauben. Daher ist die Selbstbewußtseins eine Schlüsselstellung, die den Rückblick aufdas griechi-
Geschichte der Philosophie ein durchgehender Dialog mit sich selbst. Die sche Denken und seine bleibende Bedeutung dauerhaft beirren sollte. Das
Philosophen haben keine Texte, weil sie wie Pénélope ihr Gewebe immer lehrt am Ende ein großes Beispiel, Natorps >Platos Ideenlehre< (1903).
wieder auftrennen, um sich fur die Heimkehr ins Wahre aufs neue zu rüsten. Natorp hat im Geiste des Marburger Neukantianismus mit Scharfsinn und
Nun ist gewiß die Begriffsbildung, die zur Metaphysik und ihren Folgen Konsequenz den Wissenschaftsbegriff der Neuzeit in die platonische Philo-
geführt hat, eine Sonderentwicklung der Griechen und ihres Erbes. Die sophie hineinprojiziert. Daß das einseitig war, hat Natorp selber im Nacb-
Worte, die sich aus der Sprache anbieten, haben im lebendigen Sprachge- wort zur zweiten Auflage von >Platos Ideenlehre< (1921) ausgesprochen und
brauch oft viele Bedeutungen und erhalten ihren Begriffswert erst durch die die neuen Horizonte angedeutet, in denen der wahre und tiefe Sinn der
Unterscheidung, die sich im denkenden Gespräch bewährt. Das geschieht Ideenlehre seinen Ort finden könnte. Der Ort war die Schlüsselstellung der
beispielhaft in der Unermüdlichkeit des Fragens des Sokrates und in den Sprache.
432 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 433

Plato hatte keinen Begriff des Subjekts. Wenn man vom >Sein< redet oder Befund der Sprachenvielfalt gerecht werden. Sprache ist eben ein lebendiges
>Sein< meint, kann man nicht anders, als sich in die Logoi zu flüchten. So System, das sich jeweils in einer jeden Menschengesellschaft ins Offene
stellen die höchsten »Gattungen« des Seins in dem Gespräch über den Sophi- weiter entwickelt, sich bereichert oder auch verarmt. Sprache hat also ohne
sten durchaus nichts dar, was die Idee einer Ableitung aus einem letzten, Zweifel an der Universalität teil, mit der unser Denken alles Denkbare zu
obersten Prinzip bedeuten könnte. Auch wenn man noch so sehr die zurück- umfassen und zu durchmessen trachtet.
haltenden Spiele Platonischer Dialogdichtung in Rechnung stellt, bleibt Hier muß man wohl die Frage wagen, ob die griechische Denkweise dem
doch die Rekonstruktion eines Systems der Philosophie ein Anachronismus. Problem der Sprache überhaupt gewachsen sein konnte. Das Griechische
Das Paradigma der Zahlenreihe und die zwei >Prinzipien< der Eins und der hatte für >Sprache< ja nicht einmal ein Wort, und die fremden Sprachen
Zwei sind auf unleugbare Weise auf die Dualität bezogen, in der Sein nicht waren fur es Rhabarber. In Wahrheit ist jede Sprache Tausch von Rede und
nur als das Eine, sondern ebenso ursprünglich als das Andere und als die Antwort und ist nicht allein ein Wortgefecht oder ein Spiel wie das mit
Vielfalt der Unterschiede sichtbar wird und als Identität und Differenz zur gegebenen Steinen oder Argumenten. Das Gespräch ist mehr. Gewiß kann
Sprache kommt 20 . Daß Plato seine gesamte Philosophie, soweit sie über- dieses Mehr auch ein Weniger sein. So unterliegt alles menschliche Sprechen
haupt schriftlich überliefert ist, dem Gespräch eines Sokrates oder seiner der Verfallsmöglichkeit des Miteinander. Das ist das Gespräch, wenn es eine
Partner in den Mund gelegt hat, hat Schleiermacher als erster in seiner bloße Form des Konformismus wird, in dem man sich durch den Tausch
Bedeutung wiedererkannt. Im Siebenten Brief, wo Plato ausdrücklich die von Frage und Antwort zu gemeinsamen gegenseitigen Anpassungen zu
schriftliche Fixierung philosophischer Rede ablehnt, sieht er den entschei- bewegen sucht. Das sind gewiß auch Gespräche, in denen man sich aus-
denden Punkt beim Gebrauch aller Kommunikationsmittel der Worte und tauscht, aber es ist kein wahres Miteinander. Das wahre Gespräch ist ein
der Modelle im Gespräch im Zusammenleben (iν τω σνζψ) und der sich aus gelebtes Miteinander, in dem sich einer und ein anderer vereinigen. Seiner-
dem Zusammenleben ergebenden möglichen Einsicht21. Sprache meint den zeit habe ich unter Heranziehung der Augustinischen Trinitätsspekulation
Anderen und das Andere und nicht sich selbst. Das bedeutet, daß die den stoischen Begriff des >nicht ausgesprochenen Logos« (λόγος ένδιάθετος)
Verdeckung der Sprache als Sprache ihren Grund in der Sprache selbst hat benutzt, der noch nicht in die Verschiedenheit der Sprachen zerfällt und auf
und der menschlichen Erfahrung mit Sprache überhaupt entspricht. Sie geht den geheimnisvollen Sinn von >Prozeß< hinleitet22.
nicht in einer bestimmten Ausdeutung auf, etwa in der angeblichen meta- Diesen Problemen näherzukommen, schienen mir Überlegungen über
physischen Ideenlehre oder der sogenannten Zweiweltenlehre. Das scheint das Verhältnis von Schriftlichkeit und Sprachlichkeit von Bedeutung.
mir jenseits allen möglichen Zweifels. So muß man die Frage so stellen, wie Schriftlichkeit, und damit auch Verständlichkeit und Verständigung in
wir sie seit der Phänomenologie mit erneutem Bewußtsein stellen, ob Philo- Schrift, beruht auf der Basis fixierbarer Rede — und das bereitet unzweifel-
sophie wirklich nichts anderes sein soll als die Rechtfertigung und Begrün- haft1 eine gewisse Gemeinsamkeit vor. Doch gerade hier wird deutüch,
dung der Wissenschaften, oder ob Philosophie nicht vielmehr mit dem worin Schriftlichkeit zurückbleibt. Ich erinnere an den schon öfters erwähn-
Ganzen der Lebenswelt des Menschen mit innerer Notwendigkeit verbun- ten Exkurs in Piatos Siebentem Brief, der den unheilbaren Mangel aller
den ist. Schriftüchkeit mit Nachdruck darstellt. Dabei läuft es am Ende darauf
Die Rolle, die Sprache fur die Philosophie spielt, entspricht völlig Witt- hinaus, daß der Sinn aller schriftlich fixierten Darlegungen noch von etwas
gensteins Kritik an der Privatsprache und bestätigt den Primat des Ge- anderem getragen wird, das nur im lebendigen Gespräch vermittelt wird. Es
sprächs. Gewiß geht es in allem um die rätselvolle Untrennbarkeit und zeigt sich etwa, wie ich meinerseits hervorhebe, an der falschen oder richti-
Nachbarschaft von Denken und Sprechen. Wenn man freilich im Sprechen gen Betonung, von der es abhängt, ob der gemeinte Sinn überhaupt heraus-
nichts anderes sieht als die Verlautbarung der schon still für sich in sich kommt. Aber auch andere Phänomene sind an der Übermittlung beteiligt,
hineingesprochenen Gedanken,'hat man das wirklich Rätselhafte im Wesen wie Eindringlichkeit, Intensität, Tonverstärkung oder auch Tonabschwä-
der Sprache gründlich verkannt. Humboldt sprach von der Sprachfähigkeit chung — und vor allem leises Zweifeln und leises Zögern. Das sind alles
des Menschen, und immerhin konnte man von da aus dem feststellbaren Dinge, fur die es keine Sprachzeichen gibt und die kein Alphabet vermittelt.
Man sieht daran, was Sprache in der Form von Schrift nicht leisten kann oder
20
Siehe dazu meinen Beitrag über >Platos ungeschriebene Dialektik< in Ges. Werke zumindest nicht in der gleichen Weise leistet, solange es von der bloßen
Bd. 6, S. 129-I53.
21
Vgl. >Dialektik und Sophistik im Siebenten platonischen Brief«, Ges. Werke Bd. 6,
22
S. 90-115. >Wahrheit und Methode« (Ges. Werke Bd. 1), S. 422ff.
434 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phénoménologie von Ritual und Sprache 435

Fertigkeit des Schreibens abhängt. Vielmehr bedarf es dazu einer besonderen Hinblick auf das wahrhaft Gemeinsame, dem man angehört und den wir
Kunst, der schweren Kunst des Schreibens. einzuhalten suchen. Da kann man nicht zweifeln, daß solcher Hinausblick
Man kann die kommunikative Rolle der Gestik an einer allgemein ge- über das wirklich Geäußerte stets hinausliegt. Es ist so etwas wie die Idee
machten Erfahrung illustrieren. Es ist im Telefongespräch sehr viel schwe- und insbesondere wie die Idee des Guten, die der platonische Sokrates
rer, Zweifel oder Zögern oder gar, wenn man nicht die Wahrheit sagen will, unermüdlich sucht, ohne an ihr zweifeln zu können. Darin liegt nicht die
zu verbergen. Es kommt deutlich heraus, eben weil keine Gestik mitwirkt, Setzung von etwas, das in unverbindlicher Allgemeinheit oder fur den
welche die Stimmschwankungen einzuhüllen hilft. —Ein anderes allgemein- Anspruch wissenschaftlicher Gewißheit seine Legitimation finden kann.
bekanntes Beispiel für die Grenze der Schrift ist die Ironie. Wie sich eine Wenn philosophisches Gespräch so ist, so sage man nicht, daß damit der
ironische Äußerung von einer, die wir ernstgemeint nennen, unterscheidet Weg der Philosophie zur Wissenschaft ungangbar geworden sei. Wissen-
oder wie vielleicht auch eine scherzhafte Bemerkung sich von einer ernst- schaft ist nicht im Lehrbuch, sondern im Wagnis der Forschung. Gerade die
haften unterscheidet, das läßt sich nicht mit den Kriterien und aus den Entwicklung der abendländischen Wissenschaft, deren Anfange in der Ma-
Evidenzen einwandfrei erfassen, über die die Schrift verfügt. So zeigt sich, thematik lagen, kann das bestätigen. Da ist nicht die Rede von einem
wie die eigentlich sprachlogische Funktion alles Sprechens und des Ge- geschlossenen System alles Wißbaren und Beweisbaren und von seiner
sprächs noch von etwas anderem getragen wird, das über einen größeren letzten Begründung. Plato wußte wohl, -warum er den Überschritt über das
Reichtum von kommunikativen Mitteln und Wegen verfugt. Beweisbare >Dialektik< genannt und der Kunst des Gesprächs anvertraut hat.
Wenn das so ist, daß Sprache im Gespräch ist und nur so sein kann, was sie Plato scheint mir hier eine dauerhafte Bestätigung zu leisten, auch wenn die
ist, und wenn das wahre Gespräch ein Miteinander einschließt, müssen wir Logik der Forschung und damit diejeweilige Begrenztheit der wissenschaftli-
es unter den Grundbegriff der Partnerschaft stellen. Das ist ein Wortvor- chen Aufklärung und der Aufklärung durch Wissenschaft' das spezifisch
schlag, der an den griechischen Begriff der >Methexis< erinnert. Der Aus- -neuzeitliche Pathos der Forschung ausmacht. Piatos Kunst des Gesprächs
druck >Partnerschaft< deutet an, das Miteinander besteht nicht im Geteiltsein scheint mir die große Mitgift, die uns die abendländische Geschichte in dem
der Parteien, sondern in der Gemeinsamkeit von Teilnahme und Anteilnah- Moment bereithält, in dem sich die großen, einander fremden Kulturkreise in
me. In ebenso weitem Sinne ist auch der Bereich von Gespräch zu verstehen. all ihrer Vielfalt des Wesens einander ins Auge zu blicken beginnen.
Partnerschaft hat nicht nur zwischen dem einen und dem anderen, zwischen Wenn Plato keinen Begriff fur >Sprache< besitzt, der dem unsrigen genau
der Äußerung und der Entgegnung, zwischen Frage und Antwort statt, entspricht, so daß Logos leicht in >Denken<, Sinn, Vernunft usw. übergehen
sondern in der allgemeinen sprachlichen Verfaßtheit des menschlichen Le- konnte, schließt das nicht aus, daß in Wahrheit sein ganzes Denken sprach-
bens. lich gegründet war, nämlich auf die Logoi, wie der >Phaidon< deutlich
Gewiß ist es beim Tasten nach der gemeinsamen Sprache, in der die macht. Das muß gerade auch für die Zahlentheorie beachtet werden. Wenn
Menschen miteinander Verständigung suchen, oft so, daß die Verständi- Aristoteles in seinem Bericht über die ungeschriebene Lehre die Eins und die
gung nur dahin fuhrt, daß abweichende Meinungen und Überzeugungen Zwei als die Prinzipien (άρχαί) benennt, ist das im Grunde eine Kurzformel
der beiden Partner herauskommen. Auch dann sieht man es fur ein gewinn- von λόγος und damit fur Sprachlichkeit. Wie Sprache im Denken in den
bringendes Gespräch an, und so ist es mit allem sprachlichen Austausch. Ja, • λόγοι, aber nicht als solche Thema war, so ist auch >Forschung< und ihre
dasselbe gilt sogar von jedem stillen Gespräch, das man mit sich selbst fuhrt, unlösbare Nähe zur Wissenschaft ein erst mit den neuzeitlichen Erfahrungs-
und so auch mit dem Gespräch, das dort einsetzt, wo ein Werk der Kunst wissenschaften geborener Ausdruck. Deshalb darf man nicht in den Irrtum
einen angesprochen hat und wo dann ein nicht so leicht abzubrechendes 'verfallen, die Eidos-Philosophie als solche mit dem HypothesenbegrifFder
Gespräch seinen Fortgang nimmt. modernen Wissenschaft gleichzusetzen, wie Natorp getan hat. Wenn auch
Man sucht auch da im Gespräch eine Gesprächsbasis. Das gilt von allen die Sprachverfassung des Denkens und seiner Begriffsbildung ins Offene
Verhandlungen zwischen Menschen, von geschäftlichen Beziehungen, und vorgreift, sind hier nicht Expeditionen ins Unbekannte gemeint. Denken ist
es ist ein Fragen und Antworten in all solchen Beziehungen, die weit über vielmehr ein Wiedererkennen des Gemeinten im Unterscheiden. Χσγαν διδό-
das hinausreichen, was wir zum sprachlichen Ausdruck bringen. Da ist es vm heißt nicht, den Grund oder gar die Letztbegründung angeben, sondern
durchaus nicht immer so, daß erst eine förmliche Definition den Gebrauch >Rede stehem.
eines Begriffes gemeinsam macht. Noch weniger bedarf es einer Letztbe- Es ist ein sehr enger Begriff von Wissenschaft, der gewiß die Größe des
gründung, von der aus alles sich beweisen läßt. Es ist vielmehr ein fester griechischen Aufschwungs des Denkens und die Rolle des Beweises in der
436 Auf dem Wege zur henneneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 437

Mathematik zum Ausdruck bringt, der aber ebenso sicher in der Frage nach wie Kant an die neue Newtonsche Wissenschaft die Frage gerichtet hat: Wie
drti letzten Anfangen, den >Prinzipien<, wie die Tradition sagt, überhaupt ist reine Naturwissenschaft möglich? Kant hat mit seiner Deduktion der
keine Kompetenz mehr hat. Hier nicht genügend unterschieden zu haben ist reinen Verstandesbegriffe darauf seine kritische Antwort gegeben, und er
wohl der entscheidende Einwand, der gegen die Fortentwicklung der Tran- hat von der Kritik an der traditionellen Metaphysik aus eine neue Grundle-
szendentalphilosophie durch Fichte und die anderen geltend zu machen ist. gung der Metaphysik anzubieten gewußt. Es war die im Vernunftfaktum
Die Pragmatisten, die Empiristen, die kritischen Realisten sowie die von der Freiheit erkannte Grundlage, die sich fur das Ganze des neuzeitlichen
Dilthey ausgehende hermeneutische Phänomenologie stimmen allesamt in Denkens insoweit als tragfähig erwies, als es jeden Beweis im Sinne theoreti-
der Kritik am Idealismus überein, und besonders an der Form, in der die scher Erkenntnis und ebenso jede Bestreitung der Willensfreiheit als Ignora-
Wiederaufnahme Hegels am Anfang unseres Jahrhunderts Platz gegriffen tio elenchi ad absurdum führte. Gewiß hat das das Denken des W.Jahrhun-
hat. Wenn man einen positiven gemeinsamen Nenner dem Ideal der Letztbe- derts nicht daran gehindert, unter dem Auftrieb der neuzeitlichen Wissen-
gründung gegenüber angeben soll, sollte man wohl lieber an den Begriff des schaften Determinismus oder Indeterminismus als Weltanschauungen zu
Sprachspiels denken. Der Spielbegriff hatte schon bei Kant und Schüler etablieren. Aber schon der Ausdruck >Determinismus< zeigt an, daß der
sowie unter den Vorläufern der Romantik Widerhall gefunden und dann vor positive Sinn von Freiheit hier verkannt war - und damit das Apriori der
allem durch Nietzsche Geltung erlangt, dessen »Weltspiel« wie ein zittern- Sprachlichkeit, das die weltöffnende Dimension der Möglichkeiten und das
der Schatten über das Jahrhundert fallen sollte, in dessen ersten Tagen Vernunftfaktum der Freiheit vereinigt23.
Nietzsche in seine letzte Verdunkelung versank. In meinen eigenen Überlegungen stelle ich demgegenüber die Frage, ob
Es lag nahe, in der allmählich durchdringenden Kritik an der neukantiani- nicht Erziehung und Gesittung die Rationalität der praktischen Vernunft mit
schen Transzendentalphilosophie der Dimension der Sprache grundlegende ausmacht? Jedenfalls ist Rationalität durch den Begriff der Argumentation
Bedeutung zuzuerkennen. Damit verlor das Ideal einer Universalsprache - zu eng charakterisiert. Die Rationalität der praktischen Vernunft schöpft
das Ideal von Leibniz und seine logische Wiederaufnahme durch Russell - an ihre normative Kraft nicht so sehr aus Argumenten wie aus dem, was
Geltung, ebenso wie die Selbstverständlichkeit des Systembegriffs in der Aristoteles >Ethos< nennt, das heißt aus der Prägung des emotionalen Le-
Schulphilosophie. Kierkegaard hat in unserem Jahrhundert dabei eine neue bens, das in Erziehung und Gesittung praktische Vernunft am Werke zeigt.
entscheidende Rolle gespielt. So ist trotz Husserl das Ideal der Letztbegrün- Aber die normative Kraft der praktischen Vernunft ist nicht die der Stärke
dung ins Wanken gekommen. Man konnte die Zentralstellung der Sprache der Argumente, sondern verdankt sich eher langsamer Prägung der Lebens-
angesichts der ausgebreiteten Mannigfaltigkeit der Sprachen mit diesem richtung, die schon vor dem Erwachen zu sprachlicher Kommunikation im
Ideal nicht leicht versöhnen, wenn man Wilhelm von Humboldts Entwurf Gange ist und sich im Hineinwachsen in die sprachliche Gemeinschaft
und dem weithin wirksamen Erbe folgen wollte, das der modernen Sprach- Vollends entfaltet. Zeugnis der immanenten Rationalität der Muttersprache
wissenschaft von ihm hinterlassen war. Der Versuch, beides zu vereinigen, ist, daß von diesem muttersprachlichen Boden aus der Mensch auch andere
stellt die >Philosophie der symbolischen Formern Ernst Cassirers dar. Sprachen zu lernen vermag und in ihnen leben kann. So handelt es sich hier
Freilich, wenn man sich mit Wilhelm von Humboldts Begriff der Sprach- nicht um eine Grenze der Rationalität, sondern es ist eine sehr andere
fahigkeit begnügt, kann man seinen idealistischen Hintergrund weithin Rationalität als die des in wahren Sätzen bestehenden Wissens. Sie ist als eine
gelten lassen. Aber was soll hier >Fähigkeit< heißen? Und worin soll die
Einheit dessen liegen, was in dieser wunderbaren Vielfalt gewachsener und 23
KARL-OTTO APEL hat in seinem zweibändigen Werk ^Transformation der Philo-
gewordener Sprachen zum Ausdruck kommt? In der bewußtseinstheoreti- sophie< (Frankfurt 1973) mit weiter Umsicht und großem Scharfsinn zur Verteidigung des
schen Thematik des transzendentalen Idealismus blieb der Sprache immer Sprachaprioris die Kommunikationsgemeinschaft als das wahre Apriori der Sprachlich-
keit geltend gemacht. Wenn er das Gemeinsame aller Rationalität nur in Argumenten
nur eine sekundäre Funktion. Herder wurde lediglich als ein unglücklicher sucht, wird man ihm gewiß zustimmen, daß es nicht die emotionalen Bestimmungskräfte
Kritiker Kants behandelt. Indessen muß es den Versuch immer wieder der Leidenschaft sein können. Aber gilt das nur für die Interpretationsgemeinschaft der
lohnen, die geheimnisvolle Nähe zwischen Vernunft und Sprache in die Wissenschaftler?
Thematik der Philosophie aufzunehmen. Das ist ein Anliegen der herme- Das aber heißt, daß alles menschliche Miteinandersein und die Verständigung in
neutischen Wende, die von der neuen Mittelstellung der Sprache im Denken Sprache nicht nur mit Wissenschaft oder gar nur mit der Gemeinschaft der Wissenschaft-
ler im Stile von Peirce zu tun hat. Solches ist höchstens ein Spezialfall in der elementaren
unseres Jahrhunderts ihren Ausgang nahm. Kann man die transzendentale Gemeinsamkeit, die in aller sprachlichen Verständigung liegt. Wahrheit ist nicht nur
Wendung auf das Ganze der sprachlichen Welt ebenso in Anspruch nehmen, Satzwahrheit.
438 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache 439
24
andere Art von Erkenntnis (άλλο είδος γνώσεως) in der Lebenspraxis am vielmehr die sittliche Vernunft gemeint, die das, was sich gehört (ας δει),
Werke. Darin erkenne ich die entscheidende Einsicht des Aristoteles, Ethos weiß — das, was als das sittlich Richtige und Nonnkräftige einem vor-
und Logos als zwei Seiten desselben Einen zu denken. Die Nähe von schwebt, das man im Auge hat und das man in die konkrete Situation
Vernunft und Sprache bewährt sich nicht zuletzt in der vielfältigen Ver- hineinsieht. Für dieses Gemeinsame des Allgemeinen und des Einmaligen
schränkung von Ethos und Logos, mit der der Mensch in das unberechenba- gebrauchen die Griechen den Ausdruck >Nous<, das Gewahren und Wahren
re Spiel der Welt eingefugt ist. Ethos ist eben im menschlichen Miteinander dessen, was da ist. >Sein< bedeutet für die Griechen >Da<, wie Heidegger nach
nicht einfach Gewöhnung und Vertrautheit, wie sie die Lebensweise der meiner Überzeugung richtig gesehen hat, und das nennt Heidegger >Anwe-
Tiere charakterisiert (dieim Griechischen auch >Ethos< heißt). Das menschli- senheit< (το παρόν). >Nous< ist dann die Helle, in der das steht, was ist und sich
che Ineinander von Ethos und Logos habe ich eben wegen dieser seiner zeigt.
rational-normativen Seite durch den Begriff des Rituals zum Ausdruck Man versteht von da die Rolle, die das Göttliche im Denken der griechi-
gebracht, dessen Einhaltung und Erfüllung es als >richtig< charakterisiert. schen Metaphysik spielt25, und damit auch die Rühmung, die das dem
Die Bezugnahme auf die griechische und im besonderen auf die aristoteli- Schauen und Wissen gewidmete Leben in ihrem Denken erfährt. Es ist
sche Begriffsbildung soll nicht den Eindruck erwecken, als sei mit der gleichsam eine höchste Art von Freiheit, Wachheit und Offenheit für das,
Unterscheidung von theoretischem Wissen und praktischem Wissen das was ist, das dem griechischen Seinsgefiihl ein Höchstes an vollendeter
letzte Wort gesprochen. Es ist eher ein erster Schritt, den übrigens auch der Wachheit, Helligkeit und Leichtigkeit des Daseins verleiht. So hat Aristote-
junge Heidegger von seinen frühen Aristoteles-Studien aus (1922) getan hat, les das theoretische Lebensideal geradezu als »Sich—über—den—Tod-Erhe-
den Horizont der Seinsfrage, der zu dem Universum Sprache gehört, ange- ben, soweit es den Menschen möglich ist« gepriesen26. Wir kennen das nur
messen zu erweitern. Die neuzeitliche Diskussion über das Verhältnis von noch in der abgeschwächten Form vom »unsterblichen Ruhm«.
Theorie und Praxis, die durch den Brückenschlag der angewandten Wissen- Ein solcher Gottesbegriff wie der aristotelische spiegelt eben einen Seins-
schaft bzw. der Technik bestimmt ist, darf nicht darüber täuschen, daß das stand des Göttlichen, der anders ist als das menschliche Dasein, fur das nicht
Universum Sprache noch ganz andere Bereiche einschließt, und das ist es, ständige Wachheit und Schauen all dessen, was ist, gilt - nicht Allgegenwär-
was ich bei meiner Heranziehung des Rituals der Sprache im Auge habe. tigkeit, sondern Versinken in Schlaf und Erwachen, nicht nur Helle, son-
Was Aristoteles die >dianoetischen< Tugenden nennt und wenn er die Weis- dern auch Verdunkelung. Es gilt, das festzuhalten: Sein ist nicht nur Anwe-
heit (σοφία) als Vollendung des Wissens und die Vernünftigkeit (φρόνψις) als senheit. Was ist das für ein Sein, das sich zeitigt, jeden neuen Morgen
Vollendung praktischen Sich-Verhaltens unterscheidet, meint er beides als beginnt und sich mit jedem neuen Beginn aufs neue einrichtet, und all das im
Aspekte des Logos. Weder ist das theoretische Wissen durch den Begriff der Miteinander von Sprache und Ritual, vom >Guten Morgen< bis zur >Guten
modernen Wissenschaft angemessen illustrierbar, noch enthält das vernünf- Nacht<, in der das Selbstgespräch und Gespräch mit anderen und all die
tige Sich-Verhalten der Klugheit (>prudentia<) das wahre Wesen der Rationa- Rituale symbolischer Handlungen im Dunkel versinkt, wie in das Dunkel
lität des Ethos, die — mit Sokrates - im aristotelischen Denken gemeint ist. des Todes. All solches soll >richtig< sein. Wir müssen auf das Wort genau
Wohl aber läßt sich an der Zusammengehörigkeit und Verschiedenheit hinhören, das wir in solchen Zusammenhängen gebrauchen. Es meint nicht
dieser beiden Weisen von Rationalität das herrschende Seinsdenken der Übereinstimmung mit einer vorschreibenden Regel, sondern im Gegenteil
Griechen in helles Licht stellen. >Theoria< bedeutet im griechischen Denken die richtige Anwendung von Regeln. Was wir überall mit >richtig< meinen,
die Unmittelbarkeit des Anschauens, gleichsam das Aufgehen im >Da< des geht über das Vorgegebene und Vorgeschriebene hinaus und weist in diese
Angeschauten. Die Rationalität des praktischen Sich-Verhaltens besteht Richtung: sich richtig benehmen; das richtige Urteil fallen; das richtige Wort
ebenso keineswegs nur in dem, was wir >Vernünftigkeit< nennen. Es ist finden; den richtigen Rat geben; verstehen, was ein richtiges Gebet ist; einen
Text richtig lesen; ein richtiges Gespräch führen; mitgehen mit dem Ge-
24
Vgl. Eth. Nie. Ζ 9, 11423^; Eth. Eud. θ 1, 1246b36- Diesem Thema habe ich seit dicht, das man liest oder sich aufsagt; mitgehen mit der Musik; mitgehen mit
meiner frühen Arbeit über Praktisches Wissen< (jetzt in Ges. Werke Bd. 5, S. 230-248) der Szene auf der Bühne—und so ist alles Aufgehen in Wort und Bild. Das ist
eine Reihe von Beiträgen gewidmet. Siehe u.a. >Über die Möglichkeit einer philo-
sophischen Ethik< in Ges. Werke Bd. 4 (S. 175-188), >Probleme der praktischen Vernunft<
25
in Ges. Werke Bd. 2 (S. 319-329) und besonders die Aristoteles-Arbeiten in Ges. Werke Siehe dazu auch meinen Beitrag >Ober das Göttliche im frühen Denken der Grie-
Bd. 7: >Die sokratische Frage und Aristoteles« (S. 373-380) sowie >Aristoteles und die chen« in Ges. Werke Bd. 6, S. 154-170.
26
Imperativische Ethik< (S. 381-395). Eth. Nie. K 7 , n77b33:έφ'δσονενδέχεταιάθανατίζεη.
440 Auf dem Wege zur hermeneutischen Philosophie

die Vollzugswahrheit des leibhaften Miteinander, in dem das Universum


der Sprache sein Leben fuhrt: »Der Mensch, in stiller Nacht, steckt sich Licht
an-sich selber« (Heraklit)27.

Bibliographische Nachweise
Genannt sind nur die ErstveröfFentlichungen. Die Beiträge selbst erscheinen in überarbeiteter
Form.

1. Ästhetik und Hermeneutik.


Vortrag, gehalten auf dem 5. Internationalen Ästhetik-Kongreß in Amsterdam
1964. Erstdruck in: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte en Psycho-
logie 56 (1964), S. 240-246.

2. Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins.


Beitrag fur das Ästhetik-Symposium in Venedig 1958. Erstdruck in: II Giudizio
estetico. Atti del simposio di estetica - Venezia 1958, hrsg. von Luigi Pareyson.
Padova: Edizioni della Rivista di Estetica 1958, S. 14-23.

3. Dichten und Deuten.


Vortrag, gehalten auf der Frühjahrstagung der Darmstädter Akademie fur Sprache
und Dichtung vom 25.-27. April 1960 in Tübingen. Erstdruck in: Jahrbuch der
Deutschen Akademie fur Sprache und Dichtung 1960 (1961), S. 13-21.

4. Kunst und Nachahmung.


Nach einem 1966 im Mannheimer Kunstverein gehaltenen Vortrag Erstveröffentli-
chung in: Kleine Schriften Bd. II: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul
Siebeck) Tübingen 1967, S. 16-26.

5. Von der Wahrheit des Wortes.


Vorlage zu einem Kolloquium 1971 an der Universität von Toronto/Canada. Bisher
ungedruckt.

6. Zur Poetik und Hermeneutik: Lyrik als Paradigma der Moderne · Die
nicht mehr schönen Künste.
Rezensionen der im Wilhelm Fink Verlag erscheinenden Reihe >Poetik und Herme-
neutik -Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe«. Band II: Immanente Ästhetik-
Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. von Wolfgang Iser
(München 1966). In: Philosophische Rundschau 15 (1968), S. 291-299. Band UI: Die
nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hrsg. von Hans
Robert Jauß (München 1968). In: Philosophische Rundschau 18 (1971), S. 58-62.

7. Ü b e r den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit.
Nach einem Rundfunkvortrag am 18. April 1971 im Südwestfunk. Erstdruck in:
27
Fr. 26: οηιδρωηοςένεύψρόντιψάοςαιαεταιέαντψ.. . Zeitwende 42 (1971), S. 402-410.
442 Bibliographische Nachweise Bibliographische Nachweise 443

8. Dichtung und Mimesis. 18. Ende der Kunst? - Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der
Zuerst erschienen unter dem Titel »Dichtung und Nachahmung« in: Neue Zürcher Kunst bis zur Anti-Kunst von heute.
Zeitung, 193.Jg., Nr. 186 (Fernausgabe) vom 9.Juli 1972, Beilage >Literatur und Vortrag, gehalten in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Mai 1984.
Kunsfc, S. 53. Erstdruck in: Ende der Kunst - Zukunft der Kunst, hrsg. von der Bayerischen
Akademie der Schönen Künste. Deutscher Kunstverlag München 1985 (Kunstge-
9. Das Spiel der Kunst. schichte und Gegenwart), S. 16-33.
Nach einem Rundfunkvortrag unter dem Titel >Der wahre Schein der Kunst< am
30. März 1975 im Deutschlandfunk. Erstdruck in: Kleine Schriften Bd.JV: Variatio- 19. Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik und die
nen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1977, S. 234-240. Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst.
Erstdruck in: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, hrsg. von Annemarie Geth-
10. Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. mann-Siefert und Otto Pöggeler (Hegel-Studien Beiheft 27). Bouvier Verlag Her-
Oberarbeitete Fassung von Vorlesungen, die unter dem Titel >Kunst als Spiel, bert Grundmann Bonn 1986, S. 213-223.
Symbol und Fest< während der Salzburger Hochschulwochen vom 29. Juli bis
10. August 1974 gehalten wurden. Erstdruck der ursprünglichen Fassung in: Kunst 20. Philosophie und Poesie.
heute. Salzburger Hochschulwochen 1974, hrsg. von Ansgar Paus. Verlag Styria Erstdruck in: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel zu seinem 60. Ge-
Graz/Wien/Köln 1975, S. 25-84. Die überarbeitete Fassung erschien zuerst als selb- burtstag, hrsg. von Herbert Anton, Bernhard Gajek und Peter Pfaff. Carl Winter
ständige Veröffentlichung unter dem Titel >Die Aktualität des Schönen. Kunst als Universitätsverlag Heidelberg 1977, S. 121-126.
Spiel, Symbol und Fest< im Philipp Redam Verlag Stuttgart 1977 (77 S.).
21. Philosophie und Literatur.
11. Ästhetische und religiöse Erfahrung.
Erstdruck in: Was ist Literatur? (Phänomenologische Forschungen, Bd. 11). Verlag
Vortrag aufdem Internationalen Kongreß für Ästhetik 1964 in Amsterdam. Erstver- Karl Alber Freiburg/München 1981, S. 18-45.
öffentlichung in: Nederlands Theologisch Tijdschrift 32 (1978), S. 218-230.
22. Stimme und Sprache.
12. Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft.
Vortrag 1981 am Romanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Bisher unge-
Erstdruck in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hrsg. von Bernd Jaspert. druckt.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1984, S. 295-300.
23. Hören - Sehen - Lesen.
13. Mythos und Vernunft.
Vortrag, gehalten auf dem Symposium zu Ehren Rudolf Sühneis vom 30. Juni bis
Erstdruck in: Gegenwart im Geiste. Festschrift für Richard Benz, hrsg. von Walther 2. Juli 1982 im Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg. Erstdruck in:
Bulst und Arthur von Schneider. Christian Wegner Verlag Hamburg 1954, Antike Tradition und Neuere Philologien. Symposium zu Ehren des 75. Geburtsta-
S. 64-71. ges von Rudolf Sühnel, hrsg. von Hans-Joachim Zimmermann (Sitzungsberichte
der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse,
14. Mythos und Logos. Jg. 1983, Abh. 1). Carl Winter Universitätsverlag Heidelberg 1984, S. 9-18.
Erstdruck in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bi-
bliothek), 2. Teilband. Verlag Herder Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 8-12. 24. Lesen ist wie Übersetzen.
. Vortrag, gehalten auf dem Michael-Hamburger-Symposium am 3. und 4. Juni 1987
15. Mythologie u n d Offenbarungsreligion. im Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg. Erstveröffentlichung auf italie-
Erstdruck in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bi- nisch unter dem Titel >Leggere è corne tradurre< in: MondOperaio. Rivista mensile
bliothek), 2. Teüband. Verlag Herder Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 13-19. del Partito socialista italiano 19 (1988), Nr. 2, S. 119-121. Erstdruck auf deutsch in:
Michael Hamburger - Dichter und Übersetzer. Beiträge des Michael-Hamburger-
16. Der Mythos i m Zeitalter der Wissenschaft. Symposiums am Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg, hrsg. von Walter
Erstdruck in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bi- Eckel und Jakob J. Köllhofer (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXIX,
bliothek), 2. Teilband. Verlag Herder Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 20-29. Bd. 3). Verlag Peter Lang Frankfurt/Bern/New York/Paris 1989, S. 117-124.

17. Anschauung und Anschaulichkeit. 25. Der >eminente< Text und seine Wahrheit.
Erstdruck in: Anschauung als ästhetische Kategorie (Neue Hefte für Philosophie 18/ Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der Midwest Modern Language Association
19). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1980, S. 1-13. Erweiterte Fassung. im November 1978 in Minneapolis. Erstveröffentlichung auf englisch unter dem
444 Bibliographische Nachweise Bibliographische Nachweise 445

Titel >The Eminent Text and Its Truth< in: The Bulletin of the Midwest Modern 33. Musik und Zeit. Ein philosophisches Postscriptum.
Language Association 13 (1980), Nr. 1, S.3-10. Erstdruck auf deutsch in: Sprache Erstdruck unter dem Titel >Ein philosophisches Postskriptunv in: Wo Sprache
und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 57 (1986), S. 4-10. aufhört . . . Herbert von Karajan zum 5. April 1988, hrsg. von Heinz Götze und
Walther Simon. Springer-Verlag Berlin/Heidelberg/New York 1988, S. 149-153.
26. Ober die Festlichkeit des Theaters.
Vortrag, gehalten 1954 zum 175jährigen Bestehen des Mannheimer Nationalthea-
34. Heimat und Sprache.
ters. Erstveröffentlichung in: Mannheimer Hefte 1954, Heft 3, S. 26-30. Vortrag, gehalten anläßlich der 9. Baden-Württembergischen Literaturtage in
Karlsruhe vom 21. Juni bis 5. Juli 1991. Erstdruck unter dem Titel >Rückkehr aus
dem Exil« in: Grenzüberschreitungen. Baden-Württembergische Literaturtage in
27. Begriffene Malerei? - Z u A. Gehlen: Zeit-Bilder. Karlsruhe, hrsg. von Regine Kress-Fricke. Edition G. Braun Karlsruhe 1992,
Erstveröffentlichung unter dem Titel >Wissenschaftliche Malerei?<, Walter Bröcker S. 123-131.
zum 60. Geburtstag gewidmet, in: Philosophische Rundschau 10 (1962), S. 21-30.
35. Wort und Bild — >so wahr, so seiend«.
Entstanden 1991. Erstveröffentlichung.
28. Vom Verstummen des Bildes.
Vortrag, gehalten bei der Eröffnung der Ausstellung des Künstlerbundes Rhein- 36. Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache.
Neckar in Heidelberg 1965. Zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, 186. Jg., Entstanden 1992. Erstveröffentlichung.
Nr. 139 (Fernausgabe) vom 22. Mai 1965, S. 21.

29. Bild und Gebärde.


Oberarbeitete Fassung eines Einfuhrungsvortrages zu der 1964 in Leverkusen veran-
stalteten Ausstellung von Werner Scholz, >Die Mythologie der Griechen<. Erstdruck
in: Kleine Schriften Bd. II: Interpretationen. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
Tübingen 1967, S. 210-217.

30. Über das Lesen von Bauten und Bildern.


Teilabdruck unter dem Titel >Hermeneutik und bildende Kunst< in: Neue Zürcher
Zeitung, 200. Jg., Nr. 218 (Femausgabe) vom 21. September 1979, Beilage Litera-
tur und Kunst<, S. 29-30. Vollständige Fassung zuerst erschienen in: Querschnitt -
Kulturelle Erscheinungen unserer Zeit, hrsg. von Hanno Helbling und Martin
Meyer. Verlag Neue Zürcher Zeitung Zürich 1982, S. 65-73. Sodann unter dem
Titel >Uber das Lesen von Bauten und Bilden» in: Modernität und Tradition.
Festschrift für Max Imdahl um 60. Geburtstag, hrsg. von Gottfried Boehm, Karl-
heinz Stierle und Gundolf Winter. Wilhelm Fink Verlag München 1985, S. 97-103.

31. Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt. Ein Studium-
generale-Vortrag.
Vortrag, gehalten im Rahmen des Studium générale im Sommersemester 1990 an
der Universität Heidelberg. Erstdruck in: Sprache. Vorträge im Sommersemester
1990, hrsg. von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Heidelberger Verlags-
anstalt Heidelberg 1991, S. 165-175.

32. Grenzen der Sprache.


Vortrag auf einer Tagung 1984 in Bad Herrenalb. Erstdruck in: Evolution und
Sprache. Ober Entstehung und Wesen der Sprache, hrsg. von Wolfgang Böhme
(Herrenalber Texte 66). Eigenverlag Karlsruhe 1985, S. 89-99.
Namen

Adorno, Th. W. 122,192,211,226 Bohr, Ν. 306


Aischylos 65,140 Braque, G. 118,307,319
Allemann, Β. 53 Brecht, B. 100,115
Altdorfer, A. 102 Broch, H. 24
Ambrosius 269,272 Bröcker, W. 29
Anaxagoras 425 Buber, M. 403
Anaximander 429 Büchner, G. 384
Anaximenes 429 Bühler, K. 408,411
Apel, K.-0.437 Burckhardt, J. 324
Apollinaire, G. 58,60
Archenholtz, J. W. v. 66 Calderon300
Aristoteles 29-34,39,45,50,54,67,80, Callas, M. 142
83f., 91,103f., 114,133,172f., 191, Camap, R. 157
223,232,238,241 f., 260,271,277,306, Cassirer, E. 40,168,202,401,436
322,351-355,380-383,385-389,391 f., Celan, P. 75,213,254,294,369
394 f., 403-406,411,414,418,425f., Cervantes424
429f., 435,437 flf. Cézanne, P. 98,307,318,320
Auerbach, Ε. 68 Cicero 280,422,426
Augustinus 37,269,272,359,418,433 Cohen, H. 241
Austin, J. L. 38 Collingwood, R. G. 331
Comte, A. 207
Baader, F. v. 277 Creuzer, F. 181,183
Bach,J. S. 95,140,212 Croce, B. 66,279
Bacon, F. 426
Baeumler, A. 108 Dante 72,180,284,293
BalzacH.de 232 Demokrit 425
Baudelaire, Ch. 284 Derrida, J. 248,275,417 ff.
Baumgarten, A. G. 107ff.,189 Descartes,R.86,312,404
BeaufretJ. 418 Dickens, Ch. 177
Becker, 0.204,255 Dieckmann, H. 68
Beckett, S. 293 Düthey, W. 270,276,388,401,436
Beckmann, M. 316 Dionysos 187,300
Beethoven 129 Domin, H. 369
Belting, H. 398 Dostojewskij, F. 75f., 118,156,232,283
Benjamin, W. 124,378 Droysen, J. G. 4,66
Benn, G. 19,53 Duchamp, M. 113
Bergson, H. 277,355 Dürer, A. 335
Betti,E.254,393
Betti, U. 254 Ebner, F. 403
Bloch, E. 243 Meister Eckhart 430
Blumenberg, H. 59,65,419 Eliasberg, A. 283
Boehm, G. 98 Einstein, A. 306
448 Namen Namen 449
Empcdokles66,425 Hegel 1,3,45,55f., 62ff, 66-69,78,80, Jean Paul 231 Malraux, A. 110,138
Epikurl56,193 95-98,105,121,123 f., 127,137,162, Jesus Christus 37,126,151,153,158,174, Mann, Th. 24
Ernst, M. 313 167,183,190,192,195 f., 201 ff., 178 Marc, F. 313
Euklid 358,404 206-209,211,214f., 219,221-231, Joyce, J. 25,239,424 Marcel, G. 232
237ff., 243,256,287,311,326f., 331, Jung, C. G. 188 Marées, H. v. 98,214,308
Fabian, B. 66 375f., 378,384,389,390f., 399f., 402, Jünger, E. 19 Marquard, 0.68
Feuerbach, A. 214,324 428ff.,436 Marx, K. 156
Feuerbach, L. 156 Heidegger, M. 38ff., 45,53,56,73,125, Kafka, F. 22,24,53,424 Maurer, R. 68
Fichte, J. G. 89,189,202,280,436 157,162,167,200,207 f., 210,232,235, Kahnweiler, D.-H. 26,29,307 f. Meier, Ch. 66
Fiedler, K. 306,308 239-243,252,275,278,295,343,346, Kandinsky, W. 308,310,313 Melissos425
Flacius, M. 151 351,362,371,394,400f., 403f., 407 f., Kant2f., 9f., 12,29f., 89,109-112,117, Merleau-Ponty, M. 232
Flaubert, G. 232 413,418 f., 427-430,438 f. 119ff., 133,157,166,189-204,208,211, Milton, J. 72,293
Frank, M. 201 Heine, H. 60,68 223f., 241 f., 249,252,275,307,311, Minerva 26
Freud, S. 156,158,188,403 Heisenberg, W. 344 341,345f., 374,389,394f., 407,410, MiroJ. 215
Friedrich, H. 250 Hempel, H. 68 430,436f. Mnemosyne 101,136,378,399,423
Frye, N. 43 Henrich, D. 60,62ff., 96,231 Kapp, E. 406 Mondrian, P. 152,305,310,313
Fubini, E. 27 Heraklit 154,171,238,285,371,425,440 Kerényi, K. 130,187 Monet, C. 215
Fuhrmann, M. 65 Herder, J. G. 180f., 232,256,351,354, Kierkegaard, S. 5,226,232,375,403,436 Moore, H. 215
373,436 Klee,P.308f.,322 Mörike,E.255,363
Hermes 4 Kleist, H. v. 427 Mozart 376
Galilei312,402,419 Müller, G. 65
Herodot66f.,70,172 Klenze, L. v. 209
Gehlen, A. 136,305-314,315 Müller, M. 186
Hesiod24,70,146f., 165,171,176f., 256, Klopstock, F. G. 293
George, St. 54,60,248,267,269,283 f., Murait, A. de 402
287,325,421,425 Koller, H. 127
295,336 Musil, R. 24,269,294
Heyne, Ch.G. 181 Kommerell, M. 112
Georgiades, Th. 48,363
Hölderlin, F. 14,24,52,54,77,180,183, Kopernikus, N. 384
Gethmann-Siefert, A. 221 Natorp, P. 384,401 f. 431,435
237,250,253,267,324,430 Koselleck, R. 66,102
Gk>rgione332ff. Newton, 1.402,437
Hofmannsthal, H. v. 299 Kracauer, S. 66
Giotto307 Nietzsche, F. 50,92,136,158,165,184,
Homer 24,38,53,65,70,72,146 f., 159,
Goethe7f., 12ff., 20,62,70,72,77,80, 207,232,240,271,324,353,377,403,
168,178,255 f., 265,273,293,325 f.,
122,125,180,202,208,218,227,231, Lacan, J. 361 416-419,436
330,421ff.,425
248,273 ff., 278,290,322,324.337,344, Lao-Tsel44 Nolde, E. 49
Hönigswald, R. 135
354,363,383,397,408 Lasson, G. 221 Nostitz, H. v. 261
Horaz266
Gogarten, F. 403 Leibniz, G. W. 342,408,430,436 Nötzel, K. 283
Hotho, H. G. 221-225,227 f., 384
Gogh, V. van 318,335 Leonardo da Vinci 13 Novalis 153,180,277,343
Huizinga.J. 113
Gogol, N. 232,283 Lesky, A. 159,326
Humboldt, A. v. 344 Ödipus23,152
Gombrich, E. 398 Lessing, G. E. 112,122,373f.
Humboldt, W. v. 38,181,343,401,403, Odysseus422
GörresJ. 183 Lévi-Strauss, C. 188
432,436 Otto, W. F. 130,187,2%, 298,325
Gregord.Gr.95 Levinas, E. 419
Hume, D. 181 Overbeck, F. 62
Gris,J.26ff.,305,307f.,319 Lipps, H. 404
Husserl, Ε. 53,76,191,200,234,240f, Ovid366
Guardini, R. 113 Lorenzen, P. 426
251,255,307f., 343,400ff., 404,406,
Gundolf,F.273f.,283 Lowth, R. 181
418,428,436 Parmenides 171,370,411,425,429
Gutenberg, J. 426 Lucan65 Pascal, B. 156
Imdahl, M. 68 Lukâcs, G. 293 Paulus 178
Habermas, J. 351 Immermann, K. L. 98 Lukrezl58 Paz, 0.285
Haecker,Th.4O3 Ingarden, R. 18,48,118,219,249,251,336 Luther, M. 37,74,126,153,262,403,430 Peirce, Ch. S. 437
Hamann, J. G. 350 Iser, W. 68 Picasso, P. 28 f., 118,215,305,307,313,
Hamann, R. 119 Macke, A. 313 319,335
Härder, R. 405 Jaeger, W. 382 Maeterlinck, M. 266 Pindar52,256,266
Hartlich, Ch. 181 Jakobson, R. 250 Malewitsch, K. 28,319 Plato 16,31,34 f., 45,61,80,82ff,
Hartmann, N. 401 Jaspers, K. 232,281 f. Mallarmé, St. 78,149,235,239,249,253, 103-106,108,122,146,166,172f., 185,
Heem,J.D.de317 Jauß,H.R.60,67f.,204 257,269,308 191,211,224,232ff, 237ff, 245f.,
450 Namen Namen 451

255f., 258f., 262,265,287,293,315, Sokrates 172,244,350,382,426,430,432, Wilamowitz, U. v. 186 Wölfflin, H. 28


334,359,381 ff, 385 f., 391,394,405, 435,438 Winckelmann, J. ]. 64,80
418,426,429,431 ff., 435 Sontag, S. 394 Wittgenstein, L. 343,369,430,432 Yorck, P.Graf67,403
Pleines, J.-E. 395 Sophokles 65,140,253 Wolf, F. A. 181
Plessner, H. 136,355 Sorel, G. 165,184 Wolf, H. 255,363 Zenon 425
Plotin391 Staiger, E. 275 Zwingli 126
Pound, E. 60,311 Stendhal, H. 232
Preisendanz, W. 60,63,68 Sterling, Ch. 318
Proust, M. 25,293 Suirez, F. 402
Pythagoras, 29,33 Sühnel, R. 273

Tacitus94
Raffael398 Talleyrand,C.M.de370
Rahsin, Ε. Κ. 283 Tapies, A. 215
Ramin, G. 215 Taubes,J.65f.,68
Ranke, L. 67 Themistios354
Richards, I. A. 55 Theuth244,258
Ricœur, P. 43,248 Thomas v. Aquin402
Rilke, R. M. 19,125,168,215,248,261, Thorvaldsen, B. 117
266f.,284,304,327 Tieck, L. 48,269,274,283
Rosenzweig, F. 403 Tiepolo, G. B. 311
Rotermund, E. 68 Tizian 118
Rothacker, E. 67 Tolstoi, L. 232
Rousseau,J.J.351,353 Trakl, G. 60,267
Rücken, F. 62,231 TredeJ. H. 199
RusseU, B. 343,436 Troeltsch, E. 163
Tschizewskij, D. 68
Sachs, W. 181
Saint-Simon, C.-H. de 165,184 Udine,J.da318
Sartre, J.-P. 232 Uexküll,J.v.313
Saussure, F. de 188 Uhland, L. 183
Scheler, M. 136,240,400f., 405 Usener, HL 175,186
Schelling, 63,162,182f., 187,202,277,
287,366,403 Valéry, P. 13 ff., 19,59,233,248,252,284,
Schüler, F. 10,77,89,105,122,125,202, 290
204,227,248,253,300f., 359,425,436 Vasarely,V.6O
Schlegel, A. W. 181,283 Velizquez, D. 118,120,215
Schlegel; F. 181,280 Vergü72,293,424
Schleiermacher, F. 144,157,195,374,378, Vetter, Ε. Μ. 317
432 Vico, G. B. 59,180f., 256,406
Scholz, W. 328-330 Vitruv45
Schopenhauer, A. 202,232,403 Voß.J. H. 181
Schubert, F. 363,376
Schultze, B. 313 Wagner, R. 184
Schütz, H. 95,363 Warburg, M. 55
Sedlmayr, H. 16 Warren, A. 311 f.
Serra, R. A. 215 Weber, M. 156 f., 281,348
Shakespeare, W. 48,64,77,81,112,269, Wellek,R.311f.
273 ff, 283 Wieland, C. M. 408
Snell, B. 159,326 Wieland, W. 202

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