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Ulrich Weber / Andreas Mauz /


Martin Stingelin (Hg.)

Dürrenmatt
Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
2. Auflage
Ulrich Weber / Andreas Mauz / Martin Stingelin (Hg.)

Dürrenmatt-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung

Unter Mitarbeit von Simon Morgenthaler, Philip Schimchen, Kathrin Schmid


und Benjamin Thimm

J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Ulrich Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Schweizerischen Literaturarchiv, Bern, am Centre
Dürrenmatt, Neuchâtel, und Betreuer des literarischen
Nachlasses von Friedrich Dürrenmatt.
Andreas Mauz ist Oberassistent am Institut für Hermeneutik
und Religionsphilosophie (IHR) der Universität Zürich und
Koordinator des Netzwerks Hermeneutik
Interpretationstheorie (NHI).
Martin Stingelin ist Professor für Neuere deutsche Literatur
an der Technischen Universität Dortmund.

Die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurde


ermöglicht durch finanzielle Unterstützung der Charlotte
Kerr Dürrenmatt-Stiftung (Bern), der Burgergemeinde
Bern, der Stiftung Pro Scientia et Arte (Bern) und der
Stiftung Dürrenmatt-Mansarde (Bern).

ISBN 978-3-476-02435-0
ISBN 978-3-476-05314-5 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese


Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
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über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorwort  VI 18 Das Versprechen  Oliver Möbert  76


19 Der Pensionierte  Ulrich Weber  80

I Biografie und Kontexte F Tragische Komödien


20 Romulus der Große  Volker Riedel  82
1 Ein unspektakuläres Leben. Biografischer Abriss  21 Die Ehe des Herrn Mississippi  Pierre Bühler  86
Ulrich Weber  3 22 Ein Engel kommt nach Babylon 
2 Selbst- und Fremddarstellung: Mythos Benjamin Thimm  90
Dürrenmatt  Ulrich Weber  19 23 Der Besuch der alten Dame  Peter von Matt  93
3 Politisch-kulturelle Kontexte  Ulrich Weber  21 24 Frank der Fünfte  Moritz Wagner  98
4 Freundschaften  Ulrich Weber  24 25 Die Physiker  Ursula Amrein  101
5 Theater  Ulrich Weber  26 26 Herkules und der Stall des Augias 
6 Verlage  Ulrich Weber  28 Benjamin Thimm  107
7 Dürrenmatt im Literaturbetrieb  27 Der Meteor  Peter Rusterholz / 
Urs Bugmann  30 Pierre Bühler  109

G Dramenbearbeitungen und Regie


II Schriftstellerisches Werk 28 Bearbeitungen eigener Werke 
Simon Aeberhard  112
A Frühe Prosa 29 Shakespeare-Bearbeitungen 
8 Die Stadt  Lukas Gloor  35 Anne-Kathrin Marquardt  116
9 Der Tunnel  Peter Utz  38 30 Play Strindberg  Oliver Winkler  119
31 Dürrenmatt als Regisseur 
B  Frühe Dramatik Dragoş Carasevici  122
10 Es steht geschrieben / Die Wiedertäufer 
Pierre Bühler  40 H Späte (Meta-)Dramatik
11 Der Blinde  Kathrin Schmid  43 32 Porträt eines Planeten  Rudolf Käser  126
33 Der Mitmacher  Ulrich Weber  130
C Kabarett 34 Die Frist  Rudolf Käser  133
12 Kabarett-Texte  Michael Fischer  46 35 Achterloo I–IV  Caspar Battegay  136

D Hörspiele I Späte Prosa


13 Hörspiele  Dieter Lohr  49 36 Der Sturz  Benjamin Thimm  139
37 Abu Chanifa und Anan ben David 
E Kriminalromane und Erzählungen Monika Schmitz-Emans  141
14 Der Richter und sein Henker  Ulrich Weber  62 38 Smithy  Ulrich Weber / Kathrin Schmid  143
15 Der Verdacht  Andreas Mauz  66 39 Das Sterben der Pythia  Rosmarie Zeller  145
16 Grieche sucht Griechin  Monika Obermeier  71 40 Minotaurus  Peter Gasser  147
17 Die Panne  Peter Schnyder  73 41 Justiz  Andrea Bartl  150
VI Inhalt

42 Selbstgespräch  Peter Rusterholz /  IV Motive und Diskurse


Pierre Bühler  154
43 Der Auftrag  Martin Stingelin  157 62 Astronomie  Rudolf Käser  243
44 Durcheinandertal  Andreas Mauz  160 63 Autorschaft  Lucas Marco Gisi  246
45 Midas oder Die schwarze Leinwand  64 Einzelmensch – Institution – Gesellschaft 
Martin Stingelin  164 Patricia Käppeli  249
65 Geld/Ökonomie  Ulrich Weber  251
J Stoffe 66 Geschichte  Jakob Tanner  254
46 Das Stoffe-Projekt  Rudolf Probst /  67 Gnade  Andreas Mauz / Ulrich Weber  258
Ulrich Weber  166 68 Gott  Andreas Mauz  260
69 Katastrophe  Andreas Mauz  263
K Essays und Reden 70 Körper  Christine Weder  268
47 Dürrenmatt als Redner  Peter André Bloch  181 71 Labyrinth  Matthias Hennig  272
48 Theaterprobleme  Bernhard Greiner  184 72 Mutiger Mensch  Marta Famula  276
49 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit  73 Mythos  Heinz-Günther Nesselrath  279
Rudolf Käser  187 74 Naturwissenschaften  Rudolf Käser  283
50 Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht  75 Philosophie  Rudolf Käser  286
Martin Stingelin / Benjamin Thimm  190 76 Politik  Patricia Käppeli  289
51 Sätze über das Theater  Simon Aeberhard  192 77 Recht und Gerechtigkeit  Martin Stingelin  292
52 Zusammenhänge  Andreas Kilcher  194 78 Religion  Andreas Mauz  295
53 Nachgedanken  Simon Morgenthaler  197 79 Spiel  Regula Bigler  299
54 Der Mitmacher. Ein Komplex  80 Sterben/Tod  Andreas Mauz  303
Ulrich Weber  199 81 System  Patricia Käppeli  306
55 Albert Einstein  Rudolf Käser  202 82 Technik  Rudolf Käser  308
56 Abschied vom Theater / Nachwort zu 83 Tiere  Frederike Middelhoff  311
›Achterloo IV‹  Caspar Battegay  204 84 Zufall  Ján Jambor  315
57 Die Schweiz – ein Gefängnis  Martin Stingelin / 
Benjamin Thimm  207
V Ästhetik und Poetik
L Lyrik
58 Lyrik  Fabian Schwitter  209 85 Dialekt und Standardsprache 
Stefanie Leuenberger  321
M Gespräche 86 Distanz/Gegenwelt  Moritz Wagner  324
59 Dürrenmatt als Gesprächspartner  87 Dramaturgisches Denken  Marta Famula  327
Peter André Bloch  212 88 Einfall  Sandro Zanetti  330
89 Gleichnis  Andreas Mauz  333
N Film und Literatur 90 Humor und Ironie  Pierre Bühler  336
60 Film und Literatur  Ulrich Boss /  91 Intermedialität  Lukas Gloor  339
Elio Pellin  215 92 Intertextualität  Julia Röthinger  342
93 Komödie (tragische)  Bernhard Greiner  345
94 Moderne  Rosmarie Zeller  350
III Bildnerisches Werk 95 Paradox  Lukas Gloor  352
96 Parodie/Satire/Groteske  Philippe Wellnitz  353
61 Bildnerisches Werk  Régine Bonnefoit /  97 Prozessualität  Peter Rusterholz  357
Myriam Minder  223 98 Schlimmstmögliche Wendung 
Andreas Mauz / Philip Schimchen  359
99 Welttheater  Irmgard M. Wirtz  362
Inhalt VII

VI  Rezeption und Wirkung C Gattungen


111 Comic-Adaptionen 
A Generelles Monika Schmitz-Emans  389
100 Nachlass und Institutionen  Ulrich Weber  367 112 Dürrenmatt auf der Bühne 
101 Rezeption: Überblick  Ulrich Weber  371 Beate Schappach  392
113 Dürrenmatt in der Schule  Oliver Ruf  396
B Länderspezifische Rezeption 114 Verfilmungen  Ulrich Boss / Elio Pellin  399
102 Afrika  Burrhus Njanjo  375 115 Literarische Rezeption 
103 Frankreich  Véronique Liard  377 Ulrich Weber  404
104 Italien  Donata Berra  378
105 Japan  Hiroko Masumoto  379
106 Polen  Jan Zieliński  380 Anhang
107 Sowjetunion  Ievgeniia Voloshchuk  381
108 Spanien  Isabel Hernández  383 Chronik zu Leben und Werk  Ulrich Weber  409
109 Tschechien/Slowakei  Siglenverzeichnis  416
Michaela Kuklová  385 Bibliografie  417
110 UK  /  USA  Abbildungsverzeichnis  421
Simon Morgenthaler  387 Autorinnen und Autoren  423
Werkregister  426
Personenregister  430
Vorwort

Das vorliegende Handbuch erscheint zu einem dop- Spielzeiten; er fungiert damit jeweils unter den drei bis
pelten Jubiläum: Am 14.12.2020 jährt sich Friedrich sechs meistgespielten deutschsprachigen Dramati-
Dürrenmatts Todestag zum dreißigsten Mal, am kern des 20. Jahrhunderts.
5.1.2021 feiert er seinen hundertsten Geburtstag. Der Die Daten des Theaterbetriebs belegen, näher be-
gewichtigere Anlass zur Publikation war freilich ein trachtet, freilich auch die starke Kanonisierung, die
anderer. Ein Handbuch stellte, nebst editorischen Pro- den anhaltenden Erfolg begleitet: Dürrenmatt ist in
jekten, das vielleicht größte Desiderat der Dürren- weiten Kreisen in erster Linie der Autor tragischer Ko-
matt-Forschung dar. Seit dem Tod des Autors sind nur mödien, unter denen die Welterfolge Der Besuch der
zwei schmale und eher populäre Gesamtdarstellungen alten Dame und Die Physiker herausragen. Der Dra-
des Werkes erschienen, die den gegenwärtigen For- matiker wird sekundiert vom Krimiautor: Dürren-
schungsstand weder abbilden können noch wollen. matt-Krimis halten sich beharrlich im Kanon gymna-
Die verschiedenen älteren Einführungen, die nach wie sialer Lektüren, sie wurden teils auch nach dem Tod
vor regelmäßig genutzt werden, reflektieren mehr- des Autors neu verfilmt und werden derzeit im Zuge
heitlich den Forschungs- und Werkstand der 1970er des Trends von Prosadramatisierungen ihrerseits auf
Jahre. Entsprechend streifen sie das Spätwerk Dürren- die Bühne gebracht.
matts nur und werden seiner Stellung bedingt gerecht. Ein Handbuch kann von diesen Spurrillen der Re-
Schließlich tragen die genannten Titel auch dem Bild- zeption nicht absehen; es darf sie aber auch nicht
werk nicht oder nur minimal Rechnung. Mit dem vor- schlicht reproduzieren. Das gilt nicht nur im Bereich
liegenden Buch liegt nun erstmals ein Referenzmedi- des Werks, wenn den Beiträgen zu den einschlägigen
um vor, das – der Grundstruktur der Reihe gemäß – Texten, zu deren Wirkung viel zu sagen wäre, nicht
die Trias von Leben, Werk und Wirkung des Autors beliebig großer Umfang zugestanden wurde. Es gilt
umfassend darstellt. auch im Bereich der textübergreifenden Erschlie-
Dabei ist es fast müßig zu sagen, dass ›umfassend‹ ßung. So bieten die Abteilungen IV (Motive und Dis-
ein großes Wort ist. Umfassender geht immer, vor al- kurse) und V (Ästhetik und Poetik) nebst erwartbaren
lem bei einem literarischen Werk, dessen derzeit maß- Lemmata, die bereits im Sprachgebrauch des Autors
gebliche Ausgabe 37 Bände aufweist, zu denen nicht prominent hervortreten (etwa ›Labyrinth‹, ›Grotes-
nur ein umfangreiches Bildwerk hinzu treten, son- ke‹, ›schlimmstmögliche Wendung‹), auch Stichwor-
dern neuerdings auch fünf voluminöse Bände des te, die auf wenig erschlossene Zusammenhänge hin-
nachgelassenen Stoffe-Projekts (Zürich 2020), die ih- weisen (etwa ›Körper‹ oder ›Tiere‹). Diese Beiträge
rerseits von einer vollständigen rund 30.000 Manu- zeigen besonders deutlich, was für das gesamte Buch
skriptseiten starken Online-Edition begleitet werden. gilt: Es möchte nicht nur Grundinformationen zum
Dreißig Jahre nach seinem Tod ist Friedrich Dür- Werk bieten und verdichtet den Stand der Forschung
renmatt noch sehr präsent – in der Literaturwissen- abbilden, sondern nach Möglichkeit auch Hinweise
schaft wie im breiteren Kulturbetrieb, in der Schweiz für die künftige Beschäftigung mit dem Autor geben.
wie international. Der Autor ist nicht nur ein Klassi- Der Abschluss des Projekts unter Corona-Bedin-
ker, sondern ein gegenwärtiger Klassiker. Das belegt gungen hatte es in sich. Wir sind allen Kolleginnen und
neben dem kontinuierlichen Erscheinen von For- Kollegen, die sich nicht nur am Projekt beteiligt, son-
schungsbeiträgen vor allem auch seine Präsenz auf dern dessen fristgerechte Publikation ermöglicht ha-
den Bühnen. Gemäß der Statistik des deutschen Büh- ben, zu größtem Dank verpflichtet. Das gilt zunächst
nenvereins gehört Dürrenmatt konstant zu den meist- für die Autorinnen und Autoren, die bereit waren, ihre
gespielten 25 Autorinnen und Autoren der jeweiligen Dürrenmatt-Kompetenz in den Dienst des Hand-
X Vorwort

buches zu stellen. Unsere Schlussredaktorinnen und Zürich) hat dem Projekt das unverzichtbare institutio-
-redaktoren Kathrin Schmid (Bern), Simon Morgen- nelle Dach geboten. Wir danken insbesondere auch
thaler (Basel), Benjamin Thimm und Philip Schim- Irmgard Thiel für ihre zuverlässige Betreuung der Fi-
chen (Dortmund) haben sämtliche Texte mit großer nanzen. Die Drucklegung und der günstige Ladenpreis
Sorgfalt bearbeitet und auch einige Beiträge beigesteu- wurden ermöglicht durch Beiträge der Burgergemein-
ert. Ein besonderer Dank gilt dem Metzler Verlag und de Bern, der Stiftung Pro Scientia et Arte (Bern) und
vor allem Dr. Oliver Schütze und Dr. Ferdinand Pöhl- der Stiftung Dürrenmatt-Mansarde (Bern). Auch ih-
mann; sie haben die undankbare Aufgabe, den Ab- nen gilt unser Dank.
schluss unter schwierigen Bedingungen zu begleiten, Eigens zu erwähnen ist das große Engagement der
mit Souveränität und Nachsicht gemeistert. Das Charlotte Kerr Dürrenmatt-Stiftung (Bern). Ohne ih-
Schweizerische Literaturarchiv (Leiterin: Madeleine re Finanzierung der mehrjährigen Koordinations-
Betschart) und die Schweizerische Nationalbibliothek und Redaktionsarbeit wäre die Realisierung des
haben ihre Infrastruktur zur Verfügung gestellt, und Handbuchs nicht möglich gewesen.
das Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Leiterin: Irmgard
M. Wirtz) hat freundlicherweise den Abdruck der Bern / Basel / Dortmund, September 2020
Dürrenmatt-Bilder genehmigt. Unser geschätzter Kol- Die Herausgeber
lege Davide Giuriato (Deutsches Seminar, Universität
I Biografie und Kontexte
1 Ein unspektakuläres Leben. ­ immer wieder für Beifall und Ärger gesorgt hatte.
Biografischer Abriss Auch die auf Ulrich Dürrenmatt folgenden Generatio-
nen brachten regional und national bekannte Figuren
hervor: Hugo Dürrenmatt (1876–1957), der ältere
Kindheit im Emmental Bruder Reinholds, war langjähriges Mitglied der Ber-
ner Kantonsregierung, und dessen Sohn Peter (1904–
Friedrich Dürrenmatt pflegte zu sagen, er habe keine 1989), Friedrich Dürrenmatts Vetter, war ebenfalls
Biografie. Sein Leben verlief äußerlich unspektakulär Nationalrat und Chefredakteur der Basler Nachrich-
und undramatisch: Er wurde am 5.1.1921 in Stalden ten; er schrieb eine vielgelesene Geschichte der Schweiz.
(später Konolfingen) am Rand des Emmentals, weni- Während die Mutter Hulda (1886–1975), ihrerseits
ge Kilometer von Bern entfernt, geboren und starb am Tochter des Politikers und Gemeindepräsidenten von
14.12.1990 in Neuchâtel, wo er seit 1952 wohnte, keine Wattenwil, Friedrich Zimmermann, eine resolute und
siebzig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt. dominante Person war, die dem Sohn als packende Er-
Mit 25 Jahren heiratete er die Schauspielerin Lotti zählerin der biblischen Geschichten in Erinnerung
Geissler (1919–1983), mit der er drei Kinder hatte. blieb, war der Vater Reinhold introvertiert, eher ein
Nach ihrem Tod heiratete Dürrenmatt 1984 ein zwei- stiller Gelehrter als ein mitreißender Prediger. Doch
tes Mal und verbrachte die letzten Lebensjahre mit der nahm er seine Aufgabe als Seelsorger in der weitläu-
deutschen Schauspielerin und Filmemacherin Char- figen Gemeinde, in der es viele freikirchliche und sek-
lotte Kerr (1927–2011). tiererische Gruppierungen gab, sehr ernst. Fritz Dür-
Sein Vater Reinhold Dürrenmatt (1881–1965), renmatt (wie Friedrich als Kind und von Familie und
seit 1912 in Stalden/Konolfingen als Pfarrer tätig, war Freunden sein Leben lang genannt wurde) war das ers-
seinerseits der Sohn des streitbaren Zeitungsheraus- te Kind des lange kinderlos gebliebenen Paars, das ein
gebers, -redakteurs und Nationalrats Ulrich Dürren- paar Jahre zuvor eine Pflegetochter, Elisabeth Gori
matt (1849–1908), eines konservativen Querkopfs, (1916–1990), bei sich aufgenommen hatte. Drei Jahre
der um die Jahrhundertwende mit seinen frechen Ge- nach Fritz kam seine Schwester Verena, genannt Vroni
dichten auf der Titelseite seiner Berner Volkszeitung (1924–2018), zur Welt. Fritz besuchte die Primarschu-

Abb.  1.1  Friedrich Dürren­


matt als Kind mit den ­
Eltern und der jüngeren
Schwester Verena in Konol­
fingen, um 1924.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_1
4 I  Biografie und Kontexte

le in Stalden/Konolfingen und die Sekundarschule in zuerst die Matura (= Abitur) bestände. Dürrenmatt
Grosshöchstetten. Der Knabe interessierte sich ebenso besuchte deshalb in der Folge das private ›Maturitäts-
für Astronomie wie für Abenteuerromane und war ein institut‹ Humboldtianum, weiterhin mit wenig Dis-
leidenschaftlicher Zeichner. Im Jahr 1931 erlitt er bei ziplin. Gleichwohl schaffte er mit enormer Willens-
einem Zusammenstoß mit einem Motorrad innere leistung im Sommer 1941 die eidgenössische Matura
Verletzungen (›Blutsturz‹) und durchstand Todesängs- Typus A (Alte Sprachen). In einem Brief an seinen
te. Auch eine ›Kopfgrippe‹ – eine leichte Kinderläh- Vater aus der Zeit nach der Matura brachte er seine
mung – prägte seine Kindheit, sie machte den Sport- Berufsabsichten klar zum Ausdruck: »Es handelt sich
begeisterten schwerfällig. hier nicht darum zu entscheiden[,] ob ich ein aus-
Die Emmentaler Herkunft verbindet Dürrenmatt übender Künstler werde oder nicht, denn da wird
mit dem Lieblingsautor seiner Mutter: Jeremias Gott- nicht entschieden, sondern das wird man aus Not-
helf (1797–1854). Dieser hatte als Pfarrer in Lützelflüh wendigkeit. Und das[s] ich ein Künstler werden kann
in einer stark dialektal gefärbten, sinnlich-reichen und muss, weiss und fühle ich. – Das Problem liegt ja
Sprache die bäuerliche Welt des 19. Jahrhunderts in bei mir ganz anders. Soll ich malen oder schreiben. Es
großen realistischen und moralistischen Romanen drängt mich zu beidem. Aber ich weiss auch[,] dass
beschrieben. Doch gerade Konolfingen passte als Dorf man diese beiden Künste nicht gleichzeitig ausüben
nicht in das Bild der naturwüchsigen Bauerngesell- darf; denn bald wird einer zu einem Zwitter, er
schaft und gottgewollten Ordnung, wie es in Gotthelfs schreibt da, wo er malen sollte, und wo Schreiben am
Romanen beschworen wird: Das Dorf entstand erst Platze gewesen wäre, greift er zum Pinsel« (zit. nach
um die Wende zum 20. Jahrhundert an einer Straßen- Weber 2020, 59).
kreuzung und um die neu gegründete Milchsiederei Die Gymnasialzeit und auch noch das Studium sah
Stalden, die bald zu einem wichtigen Arbeitgeber für Dürrenmatt rückblickend im Zeichen der Rebellion.
die Region wurde. Dürrenmatt wuchs also an einer Von der Welt der Eltern setzte er sich u. a. durch ein
Schnittstelle zwischen moderner Industrie und tradi- pubertäres Sympathisieren mit faschistischen Bewe-
tionellem Bauerntum auf. Auch als Bahnknotenpunkt gungen und Hitler ab. Am Ende seiner Gymnasialzeit
war das Dorf mit der großen Welt verbunden. und zu Beginn seines Studiums war er, wie er in sei-
Dürrenmatt blieb, auch wenn er erklärtermaßen nen autobiografischen Stoffen berichtet, für kurze
Welttheater schrieb, mit seiner Sprache und seinen Zeit Mitglied einer frontistischen Jugendorganisation
Motiven zeitlebens im Regionalen verankert: Anders (vgl. WA 28, 189). Die Haltung scheint sich – nicht
als die Mehrheit der Deutschschweizer Autorinnen zuletzt dank der Bekanntschaft mit jüdischen Auto-
und Autoren seiner Zeit strebte er nicht nach einer ren und Gelehrten, mit Emigranten und Flüchtlingen
von allen dialektalen und regionalen Spuren gereinig- – bald in eine Ablehnung Hitlers gewandelt zu haben,
ten Sprache, vielmehr war für ihn die mundartlich ohne dass der Student große Sympathien für die Alli-
grundierte schriftstellerische Kunstsprache ein Mittel, ierten empfunden hätte, die ihm kulturell fremd wa-
auf Eigenständigkeit zu beharren: »Es gibt Kritiker, ren. Seine Haltung war eher apolitisch: »Es war für
die mir vorwerfen, man spüre in meinem Deutsch das mich unmöglich, im Weltgeschehen einen Kampf
Berndeutsche. Ich hoffe, daß man es spürt. Ich schrei- zwischen ›guten und schlechten Mächten‹ zu sehen,
be ein Deutsch, das auf dem Boden des Berndeut- was damals die meisten taten [...]. Das Zusammen-
schen gewachsen ist« (WA 32, 123). krachen Europas spielte sich für mich wie eine Natur-
katastrophe jenseits aller Moral, aber auch jenseits al-
ler Vernunft ab, für mich trugen alle die Schuld an ei-
Jugend in der Stadt Bern nem Massaker ohnegleichen, die Opfer und die Hen-
ker, der Strudel einer unsinnigen Apokalypse riß alle
1935 zog die Familie nach Bern um, wo der Vater eine hinab. Der Mensch erschien mir als kosmischer
Stelle am Salem-Krankenhaus annahm, das vom Dia- Mißgriff, als Fehlkonstruktion eines offenbar gleich-
konissen-Orden betrieben wurde. In Bern besuchte gültigen, wenn nicht stumpfsinnigen Gottes, für den
Dürrenmatt zunächst das evangelische Freie Gymna- bestenfalls Hitler als Symbol dienen konnte, als Welt-
sium. Nach ein oder zwei Jahren drohte die Relegati- fratze, von der allgemeinen Unvernunft heraufbe­
on wegen seiner Undiszipliniertheit und ungenügen- schworen« (197).
der Noten. Seinen Wunsch, Maler zu werden, akzep- Unentschieden zwischen Malerei und Literatur be-
tierten die Eltern nur unter der Bedingung, dass er gann Dürrenmatt in Bern ein Studium der Literatur-
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 5

Den besten Ausdruck für die wilde, expressive Aus-


druckslust des Studenten Dürrenmatt geben die
Wandmalereien, mit denen er sich in der im Sommer
1942 bezogenen Mansarde in der Berner Laubeggstra-
ße über der Wohnung der Eltern umgab (vgl. Abb. 1.3).
Sie oszillieren in leuchtenden Farben zwischen Rebel-
lion gegen den christlichen Glauben der Eltern, Spiel
mit der griechischen Mythologie, Auseinandersetzung
mit dem Kriegsgeschehen, karikaturistischem Witz
und bedrängenden apokalyptischen Visionen.
Zurück in Bern besuchte Dürrenmatt ab Herbst
1943 vor allem die Vorlesungen und Seminare des
Philosophen Richard Herbertz, bei dem Jahre zuvor
auch Walter Benjamin doktoriert hatte. Im Zentrum
von Dürrenmatts philosophischen Interessen standen
Platon (über dessen Höhlengleichnis er ein Referat
hielt), Kant und Søren Kierkegaard. Über den dä-
nischen Philosophen wollte er auch eine Dissertation
verfassen, deren Titel Kierkegaard und das Tragische
lauten sollte. Doch brach er 1946 das Studium ab, oh-
ne seine Arbeit geschrieben zu haben. Verschiedene
Faktoren spielten dabei wohl eine Rolle: Kurz zuvor
hatte sich Dürrenmatt von Christiane Zufferey ge-
trennt und die Schauspielerin Lotti Geissler kennen-
gelernt, die er noch im gleichen Jahr heiratete. Wäh-
Abb. 1.2  Friedrich Dürrenmatt als Student, um 1944. rend seines Studiums hatte er stets gezeichnet und ge-
schrieben. Waren seine ersten Versuche im Drama
noch epigonal an Büchner orientiert gewesen, so gab
wissenschaft und Kunstgeschichte, zwei Jahre später ihm die Niederschrift des Stücks Es steht geschrieben
wechselte er zur Philosophie. Dazwischen lag eine über den Wiedertäuferstaat in Münster im 16. Jahr-
nach wenigen Wochen abgebrochene Rekrutenschule hundert die Gewissheit, eine eigene schriftstellerische
(Dürrenmatt wurde wegen seiner Kurzsichtigkeit in Sprache gefunden zu haben. Es war wohl nicht zuletzt
den militärischen Hilfsdienst versetzt) und ein Win- das Studium Kierkegaards, dieses fundamentalen Kri-
tersemester in Zürich, wo er kaum die Universität be- tikers aller systematisch-akademischen und existenz-
suchte. Eine französischsprachige Walliser Malerin, fernen Philosophie, das den Entscheid herbeiführte,
Christiane Zufferey, wurde dort seine Freundin, und das Studium abzubrechen. Dürrenmatt stellte auch
er diskutierte mit dem expressionistischen Maler Wal- die Malerei zurück und wagte die Existenz als freier
ter Jonas und seinem Umfeld über Kunst und Litera- Schriftsteller.
tur. Hier begegnete er erstmals dem Namen Kafkas.
Am Schauspielhaus Zürich sah Dürrenmatt die Ur-
aufführung von Brechts Der gute Mensch von Sezuan. Karriereanfänge als religiöser Dramatiker
Mit einer Hepatitisinfektion kehrte er früher als ge-
plant nach Bern zurück, doch sah er diese Monate in Nach der Heirat zog das Paar zunächst nach Basel um,
Zürich im Rückblick als Phase eines intellektuellen wo es in einem leerstehenden ehemaligen ›Greisen-
wie literarisch-künstlerischen Durchbruchs. Neben asyl‹ ein paar Zimmer bezog. Lotti, die als Sechzehn-
einem Kooperationsprojekt mit Jonas (Buch einer jährige im Heimatfilm Ds Vreneli am Thunersee debü-
Nacht) und erzählerischen und dramatischen Ver- tiert hatte und während der Kriegsjahre in Deutsch-
suchen entstand damals – angeregt durch einen Be- land und der Schweiz als Schauspielerin tätig gewesen
such beim Georg Büchner-Gedenkstein – der früheste war, hatte am Basler Theater ein Engagement für kleine
Text, den er später zu seinem Werk zählte: Weihnacht Rollen als Schauspielerin, das jedoch bald mit ihrer
(vgl. WA 28, 278 f.). ersten Schwangerschaft ein Ende nahm. Am 6.8.1947
6 I  Biografie und Kontexte

Abb. 1.3  Die Mansarde, die Dürrenmatt 1942/43 ausmalte. Heutiger Zustand.

Abb.  1.4  Hochzeit mit


Lotti Geissler in Ligerz,
12.10.1946, mit den ­
eigenen Eltern (li.) und
der Schwiegermutter ­
Cécile Falb (re.).
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 7

wurde Sohn Peter geboren. In Basel fand Dürrenmatt einen fixen monatlichen Betrag und das Cabaret Cor-
ein anregendes Umfeld; zu den wichtigsten Diskussi- nichon – das wichtigste Schweizer Kabarettensemble
onspartnern gehörten der protestantische Theologe der damaligen Zeit – engagierte ihn 1948 als Sketch-
Karl Barth, dessen – die dialektische Theologie be- Autor. Diese Zusammenarbeit nahm allerdings ein ra-
gründenden – Römerbrief-Kommentar Dürrenmatt sches Ende, zudem scheiterte Dürrenmatt mit einem
bereits in Bern gelesen hatte, und der Germanist Wal- Stück zum Turmbau zu Babel. Als nach dem Zwi-
ter Muschg, der die Erinnerung an die von der Nazizeit schenerfolg mit Romulus der Große (25.4.1949) das
verschüttete Literatur des Expressionismus wach hielt. Mississippi-Stück abgelehnt wurde, fielen diese regel-
Der Regisseur und Schauspieler Kurt Horwitz, seit mäßigen Einkünfte weg und Dürrenmatt stand vor
kurzem Theaterdirektor in Basel, zeigte von Anfang an dem finanziellen Nichts. Immer wieder bemühte er
großes Interesse für den jungen Dramatiker. Er hatte sich um Unterstützungsbeiträge und versuchte zu-
dessen Erstling Es steht geschrieben bereits 1946 im gleich konsequent, mit dem Schreiben Geld zu verdie-
Manuskript gelesen und war sehr beeindruckt, wenn nen: Er schrieb Theaterkritiken für Die Nation und
er auch an der Möglichkeit zweifelte, ihn auf die Bühne später Die Weltwoche, verfasste für die in der Deutsch-
zu bringen und eher auf das zweite, bereits fertige schweiz viel gelesene Zeitschrift Der Schweizerische
Stück Der Blinde setzte. Das Schauspielhaus Zürich je- Beobachter zwei Kriminalromane in Fortsetzungen –
doch interessierte sich für den Erstling; es kam zum Der Richter und sein Henker und Der Verdacht – und
Streit, schließlich zum Kompromiss: Horwitz brachte fasste zwischen 1951 und 1956 sieben Hörspiele ab.
das Stück Es steht geschrieben am 19.4.1947 am Zür- »Die westdeutschen Rundfunkanstalten waren da-
cher Schauspielhaus zur Uraufführung; das Publikum mals unsere Mäzene« (WA 29, 64), schreibt er – mit
war zwischen Begeisterung und Empörung gespalten, Seitenblick auf den zehn Jahre älteren Max Frisch, mit
es kam zu tumultuösen Szenen. Horwitz und sein dem er sich in dieser Zeit befreundete. Dürrenmatt,
Theaterfreund Ernst Ginsberg, beide aus Deutschland der wohl unter den Schweizer Autoren des 20. Jahr-
emigriert, beide jüdischer Herkunft und zum Katholi- hunderts von Rang am meisten Geld verdient hat, war
zismus konvertiert, wurden zu den wichtigsten För- die ersten zehn Jahre seines Berufslebens auf bedeu-
derern des jungen Dramatikers. Ginsberg inszenierte tende finanzielle Unterstützung aus privater und öf-
das zweite Stück, Der Blinde, am 10.1.1948 in Basel; fentlicher Hand angewiesen.
auch bei Romulus der Große (UA 25.4.1949) übernahm Nicht nur die Regisseure wurden auf Dürrenmatt
er die Regie, während Horwitz die Titelrolle spielte. aufmerksam, auch Brecht, der wichtigste deutschspra-
Horwitz sah in Dürrenmatt eine Art protestantisches chige Dramatiker der Zeit, interessierte sich für das
Pendant zum katholischen Dramatiker Paul Claudel, junge Theatertalent. Obwohl es nur zu einer wirk-
dessen Seidenen Schuh er in Zürich in deutschsprachi- lichen Begegnung kam, verfolgte Brecht bis zu seinem
ger Erstaufführung inszeniert hatte. Die Freundschaft Tod 1956 Dürrenmatts Entwicklung genau. Er wurde
Dürrenmatts zu den beiden kühlte sich ab, als Horwitz zur Theaterinstanz, an der sich Dürrenmatt maß und
die 1949/1950 geschriebene Komödie Die Ehe des an der er ein Leben lang bis zum Überdruss gemessen
Herrn Mississippi ablehnte. Sie kam erst 1952 an den wurde. Stets kritisch stand Dürrenmatt Brechts dog-
Münchner Kammerspielen in der Regie von Hans matischem Bekenntnis zum Marxismus gegenüber.
Schweikart zur Uraufführung und brachte Dürrenmatt Bei aller Sympathie für kommunistische Ideen sah
den Durchbruch in Deutschland. Dürrenmatt im marxistischen Geschichtsverständnis
eine Ersatzreligion, die nichts mit realen historischen
Entwicklungen zu tun hatte. Er kritisierte ebenfalls
Schwierige Jahre des Aufstiegs – ­ Sartres Theater als Illustration einer vorgegebenen
Brotarbeiten existentialistischen Philosophie. Für sich nahm er da-
gegen Eigenständigkeit in Anspruch, wie er in seinem
Trotz der raschen Anerkennung, die die Auszeich- grundlegenden Essay Theaterprobleme (1955) schrieb:
nung seines ersten Stücks mit dem renommierten »Dann möchte ich bitten, in mir nicht einen Vertreter
Welti-Preis für das Drama mit sich brachte, waren die einer bestimmten dramatischen Richtung, einer be-
ersten Jahre von Dürrenmatts Laufbahn als freier stimmten dramatischen Technik zu erblicken oder gar
Schriftsteller und Dramatiker von großen finanziellen zu glauben, ich stehe als ein Handlungsreisender ir-
Schwierigkeiten geprägt. Zwar hatte er für einige Zeit gendeiner der auf den heutigen Theatern gängigen
feste Einkünfte: Der Reiss-Theaterverlag zahlte ihm Weltanschauungen vor der Tür, sei es als Existentialist,
8 I  Biografie und Kontexte

sei es als Nihilist, als Expressionist oder als Ironiker, Hier sollte er den Rest seines Lebens verbringen, gan-
oder wie nun auch immer das in die Kompottgläser ze 38 Jahre. Die Familie bewohnte ein zu Beginn des
der Literaturkritik Eingemachte etikettiert ist« (WA Jahrhunderts am Jurahang erbautes Einfamilienhaus
30, 31 f.). mit Flachdach und acht Zimmern auf drei Stockwer-
Auf der Suche nach einer günstigen Wohngelegen- ken. Es war zwar zu Fuß nur zwanzig Minuten vom
heit zog die junge Familie Dürrenmatt bereits 1948 Bahnhof Neuchâtel entfernt, aber einsam über der
von Basel weg, aber nicht in Richtung des in Trüm- Stadt gelegen, mit viel umliegendem Gelände, das
mern liegenden Deutschland, sondern in eine idyl- Dürrenmatt über die Jahrzehnte zu einem großen
lische Schweizer Landschaft, nach Schernelz bei Lig- Garten gestaltete. Eine Terrasse vor seinem Arbeits-
erz am Bielersee, wo Lottis Mutter wohnte. Die Fami- raum gab den Blick über die Weite des Neuenburger-
lie blieb dort bis 1952; zuletzt wohnte das Paar – in- sees bis zu den Alpen frei.
zwischen mit den drei Kindern Peter (1947), Barbara Dürrenmatt hat sein privates Reich und sein Ver-
(1949) und Ruth (1951) – in der ›Festi‹ Ligerz, einem hältnis zu Neuchâtel und seinen Einwohnern in einem
alten Weinbauernhaus oberhalb des Dorfes, als Mieter Text mit dem Titel Vallon de l’Ermitage dargestellt, der
der ebenfalls im Haus wohnenden Textilkünstlerin El- erstmals 1981 in französischer Übersetzung publiziert
si Giauque, mit der eine Freundschaft entstand. Trotz wurde, als ihm die lokale Universität zum 60. Geburts-
der schriftstellerischen und finanziellen Sorgen waren tag den Ehrendoktor-Titel verlieh. Zwar konnte sich
die Jahre am Bielersee von heiterer Geselligkeit und der Berner Autor, der im Alltag Berner Mundart
familiärem Glück geprägt: »Ich lebte immer, auch in sprach, auf französisch verständigen, er gab gelegent-
schlechten Zeiten, fürstlich« (WA 28, 221), meint lich auch Interviews in dieser Sprache, doch blieben
Dürrenmatt im Rückblick. ihm französische Sprache und Kultur weitgehend
Die Zeit im Winzerdörfchen Ligerz fand ihr Ende, fremd. Neuchâtel bot ihm die nötige Zurückgezogen-
als die Familie nach der Geburt der Tochter Ruth er- heit für sein Schreiben. Er suchte nicht die Anschau-
neut mehr Raum brauchte und im März 1952 zu güns- ung des Großstadtlebens in Paris oder Berlin wie viele
tigen Konditionen ein Haus oberhalb von Neuchâtel andere Schweizer Autorinnen und Autoren: »Man
fand, nur zwanzig Kilometer südwestlich von Ligerz, kann heute die Welt nur noch von Punkten aus be-
aber jenseits der Sprachgrenze. Dürrenmatt musste obachten, die hinter dem Mond liegen, zum Sehen ge-
sich das Geld für die Hypotheken durch Vorschüsse hört Distanz, und wie wollen die Leute denn sehen,
von verschiedenen Verlegern zusammenpumpen. wenn ihnen die Bilder, die sie beschreiben wollen, die

Abb.  1.5  Dürrenmatt


mit seinen Kindern und ­
Eltern im Garten des neu
erworbenen Hauses in
Neuchâtel, 1952.
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 9

Augen verkleben?« (WA 32, 32). Der distanzierte Be- gegenüber verlor, wohl endgültig. Was ich seitdem für
obachter mischte sich nur punktuell in aktuelle Dis- dieses Medium schrieb, verfaßte ich im Gefühl einer
kussionen ein. Er schöpfte primär aus der eigenen ›Bühnenohnmacht‹, im Gefühl, mich in ›Feindesland‹
Fantasie, dem eigenen Denken und der Auseinander- zu befinden« (WA 28, 216 f.). So blieb Dürrenmatts
setzung mit literarischen und dramatischen Traditio- Beziehung zur Bühne stets angespannt; der Weg von
nen; mit der Zeit entwickelte er ein dichtes Geflecht seiner vorsprachlichen Vision durch die Sprachnot der
von Referenzen, Inversionen und Variationen von Ausformulierung, die nie zu eleganter Konversation
Motiven und Figuren innerhalb seines eigenen Werks. führte, sondern zu dicht gefügten Sprachbrocken mit
Damit blieb er trotz zeitweise überwältigender Erfolge Hang zu groteskem, oft kalauerndem, manchmal plat-
ein intellektueller, literarischer und künstlerischer tem Witz, und deren ›Übersetzung‹ des Texts in der
Einzelgänger, der zwar mit wachem Auge die politi- Bühneninszenierung, war ein Prozess voller Fallen
schen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklun- und Unberechenbarkeiten, der erst während der Pro-
gen verfolgte, aber zu den intellektuellen Diskursen ben zur Uraufführung zu einem vorläufigen Ende kam
und Moden betont Distanz hielt. und von allen Seiten viel Geduld und Ausdauer erfor-
derte.
Nach den gesundheitlichen und beruflichen Pro-
Krankheit, Krisen und internationaler Erfolg blemen kam wie aus dem Nichts heraus der Erfolg:
Noch im Jahr 1955 kämpfte Dürrenmatt, dessen Frau
In sechs Jahren hatte sich Dürrenmatt als bedeutender in Bern operiert werden musste und nur knapp dem
Autor etabliert und drei Wochen nach dem Umzug Tod entging, mit nicht endenden finanziellen Sorgen.
mit der Uraufführung von Die Ehe des Herrn Missis- Um ihren Krankenhausaufenthalt überhaupt bezah-
sippi an den Münchner Kammerspielen (26.3.1952) len zu können, erschrieb er sich Vorschüsse von deut-
auch den endgültigen Durchbruch in Deutschland ge- schen Rundfunkanstalten durch Exposés für verschie-
schafft. Doch der finanzielle Druck wurde mit den Hy- dene Hörspiele, die er später nur zum Teil ausführte.
potheken nicht kleiner. Es kamen Krisen persönlicher Und er schrieb mit Der Besuch der alten Dame, jene
und beruflicher Art hinzu: Im Sommer 1952 erlitt am 29.1.1956 in Zürich uraufgeführte tragische Ko-
Dürrenmatt einen physischen Zusammenbruch, die mödie, die ihn berühmt und innerhalb weniger Jahre
Untersuchung ergab den Diabetes mellitus, mit dem zum Weltautor machte.
er nun ein Leben lang umgehen musste. Er klagte
nicht oft, doch wo er über den Diabetes spricht,
kommt Ermüdung und Resignation, wenn nicht Ver- Leben im Wohlstand
zweiflung zum Ausdruck. Immer wieder musste er ins
Krankenhaus und zur Kur, und die Erwartung eines Der finanzielle Umbruch war ungeheuer: War Dür-
frühen Todes begleitete ihn stets. renmatt gerade noch als ›Meisterbettler‹ mit dem
Auch auf dem Theater ergaben sich neue Probleme: Sammeln von Vorschüssen und Unterstützungen be-
Zwar hatte Dürrenmatt bereits im Dezember 1948 das schäftigt, wurden ihm 1957 von seinem Theaterver-
fragmentarische Manuskript zum Stück Der Turmbau leger auf einmal Tantiemen in einer Höhe ausbezahlt,
zu Babel nach einem Jahr Arbeit verbrannt und für Die die bei weitem überstieg, was er sich vorher in all den
Ehe des Herrn Mississippi lange nur Kritik eingesteckt, Jahren an Einkommen erschrieben hatte. Dürrenmatt
bevor er mit Schweikart den Regisseur fand, der es hatte schon früher mit dürftigen Mitteln ein Opti-
zum Erfolg brachte, die Uraufführung des nächsten mum an Lebensqualität und Lebenskunst erreicht,
Stücks, Ein Engel kommt nach Babylon, am 22.12.1953 nun genoss er es, mit dem Geld großzügig umzuge-
in München jedoch führte zu einer radikalen Krise. hen. Legendär war sein Weinkeller, mit exquisitem
Dürrenmatt sah in der Inszenierung ein fundamen- Bordeaux bestückt, darunter Grand-Crus aus dem
tales Missverständnis: Er hatte seiner Ansicht nach ei- 19. Jahrhundert. Dürrenmatt lernte mit 35 Jahren Au-
ne poetische Komödie der Gnade geschrieben, wäh- to fahren und wurde bald Besitzer einer stattlichen
rend »Schweikart im Engel eine Satire sah [...]. Das Chevrolet-Limousine und stolzierte gelegentlich im
Mißverständnis war nicht mehr zu korrigieren. [...] Es Pelzmantel herum. Seine Karriere als Automobilist
wurde ein Achtungserfolg, das Schlimmste, was pas- war von zahlreichen kleineren und größeren Unfällen
sieren konnte, doch nur scheinbar das Schlimmste – gesäumt; sie bilden den realen Hintergrund seiner
schlimmer war, daß ich meine Naivität dem Theater Dramaturgie der Pannen und Unfälle. War schon frü-
10 I  Biografie und Kontexte

Abb.  1.6  Lotti Dürrenmatt


mit den Kindern Peter und
Barbara in Neuchâtel, ca.
1963.

her ein Kindermädchen Teil der Familie, so wurde nicht immer zur vollen Zufriedenheit der Auftrag-
nun eine Sekretärin angestellt, das Haus in Neuchâtel geber ausfielen, hing nicht zuletzt mit Dürrenmatts
umgebaut, später ein zweites errichtet, in dem der Au- Widerstreben zusammen, sich zu wiederholen und
tor in Ruhe arbeiten konnte. Es folgten ein Swim- den Erwartungen des Publikums zu entsprechen; er
mingpool, später ein in den Hang gebauter Atelier- brauchte für sein Schreiben die Lust am Experimen-
und Musikraum: Nach und nach entstand im Vallon tieren: Als Jubiläumsstück für das Schauspielhaus
de l’Ermitage ein feudales Dürrenmatt-Reich, in dem schrieb er mit dem Komponisten Paul Burkhard Frank
der Dichterfürst Hof hielt. der Fünfte. Oper einer Privatbank. Das Stück über eine
Durch den Erfolg mit dem Besuch der alten Dame restlos korrupte Institution, 1959 uraufgeführt, fand
wurde Dürrenmatt ein Star der Nachkriegsliteratur. wenig Anklang, trotz immer neuer Versuche Dürren-
Die Literaturpreise häuften sich, sein Porträt erschien matts, es durch neue Versionen – bis hin zur eigenen
auf der Titelseite des deutschen Magazins Der Spiegel; Inszenierung als Fernsehspiel am Norddeutschen
sein Stück wurde zunächst europaweit, dann weltweit Rundfunk in Hamburg (1966) – zum Erfolg zu brin-
an den großen Theatern aufgeführt. Oft reiste er zu gen. Dürrenmatt war ständig in Zeitnot, bei seiner
den Spielorten, auch nach New York (wenn auch erst Fantasie und Arbeitslust ließ er sich häufig auf Projek-
im Mai 1959, ein Jahr nach der Premiere), wo die te ein, die er nicht oder nur mit Mühe zu Ende führen
leicht amerikanisierte Version The Visit ein drei Jahre konnte. Auch die gesundheitlichen Probleme mit
andauernder Riesenerfolg an einem Broadway-Thea- Krankenhaus- und Kuraufenthalten blieben ständige
ter und auf Tournee in nordamerikanischen Städten Begleiter von Dürrenmatt und seiner Frau Lotti, bei
wurde (es sollte später in den USA als Beweis gelten, der, mitbedingt durch das Leben im Schatten des im-
dass im Zentrum der Unterhaltungsbühnen auch an- mer erfolgreicheren und stärker von der Umwelt ab-
spruchsvolle Stücke mit Erfolg gezeigt werden konn- sorbierten Gatten, Depressionen hinzutraten.
ten). Das Stück war in aller Munde und omnipräsent;
sogar die amerikanische Modezeitschrift Vogue por-
trätierte den Autor. Tonangebende Regisseure wie Pe- Filmarbeit
ter Brook und Giorgio Strehler inszenierten die Alte
Dame. Ingrid Bergman und Anthony Quinn spielten Ein neues Medium beschäftigte den Autor in der zwei-
in der Hollywood-Verfilmung des Stoffs, später gab es ten Hälfte der 1950er Jahre: Zwar war Dürrenmatt
Bearbeitungen bis hin zu einer afrikanischen Verfil- schon früher in Filmprojekte involviert – aus einem,
mung und einer chinesischen Comic-Version. das nicht realisiert wurde, entstand die »Prosakomö-
Dürrenmatt konnte nun die Bedingungen diktie- die« Grieche sucht Griechin (1955) –, doch nun erlebte
ren, unter denen er arbeiten wollte; man riss sich um er die ganzen Produktionsprozesse. Zunächst ent-
Hörspiele, Fernsehspiele und Theaterstücke des Au- stand als erster abendfüllender Spielfilm des deut-
tors. Neue Stücke wurden in Auftrag gegeben. Dass sie schen Fernsehens in Eigenproduktion Der Richter und
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 11

sein Henker (1957), basierend auf einem Drehbuch heute auf eine Wirklichkeit gestoßen sind, die jenseits
unter Mitarbeit von Dürrenmatt. Dann schrieb er im der Sprache liegt, und dies nicht auf dem Wege der
Auftrag der Zürcher Praesens-Film Treatment und Mystik, sondern auf dem Wege der Wissenschaft«
Drehbuch für den Kriminalfilm Es geschah am hellich- (WA 32, 66). Die moderne Philosophie fände man wo-
ten Tag. Die Erfahrungen mit der Entfremdung des möglich »bei Einstein oder Heisenberg [...] und nicht
Stoffs in der Umsetzung, die er bei Theateraufführun- bei Heidegger« (62). Entschieden wandte sich Dür-
gen machte, wiederholte sich hier: Der konventionell- renmatt vor dem Hintergrund einer Wissenschaft, die
positive Schluss des Films mit Heinz Rühmann in der mit mathematisch fundierten Modellen arbeitet, der
Hauptrolle befriedigte ihn nicht. Als Gegenentwurf jede direkte Bildhaftigkeit abgeht, und die durch ihre
schrieb er 1958 den Roman Das Versprechen, der sei- technische Ausbeutung doch entschieden die soziale
nerseits mehrmals verfilmt wurde (u. a. 2003 von Sean und historische Wirklichkeit prägt, gegen jede Ab-
Penn, mit Jack Nicholson in der Rolle des Detektivs). bildästhetik in aristotelischer Tradition. Er entwickel-
Nach diesem erfolg- und spannungsreichen Projekt te sein Konzept der »Eigenwelten«: »Was der Schrift-
unterschrieb Dürrenmatt einen neuen Vertrag mit steller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern
Produzent Lazar Wechsler von der Praesens-Film, ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die
wonach er die Stoffe für fünf weitere Filme liefern soll- dadurch, daß die Materialien zu ihrem Bau in der Ge-
te. Doch bereits am ersten, der Filmerzählung Justiz, genwart liegen, ein Bild der Welt geben« (68).
scheiterte er – erst 25 Jahre später schloss er den Stoff Dürrenmatt traf sich schon in den 1950er Jahren
als Roman ab. Stattdessen entstand eine Filmfassung mit führenden Physikern und Astronomen wie Wolf-
seines älteren Stücks Die Ehe des Herrn Mississippi, die gang Pauli und Fritz Zwicky und setzte sich – etwa in
1961 an Stelle des Justiz-Stoffs realisiert wurde. einer Rezension von Robert Jungks Buch Heller als
tausend Sonnen – auch mit der Geschichte der Atom-
forschung und der Erfindung der Atombombe aus-
Naturwissenschaft und Theater – Höhe- einander.
punkt des Erfolgs Diese Beschäftigung mündete u. a. in die Komödie
Die Physiker, die 1962 ihre Uraufführung erlebte. Mit
Schon seit seiner Kindheit interessierte sich Dürren- diesem Stück konnte Dürrenmatt den Erfolg der Alten
matt für Astronomie; in den 1950er Jahren trat – im Dame wiederholen, ja sogar übertreffen. Das Stück,
Gespräch mit dem Physiker Marc Eichelberg, der ab das mitten in die heißeste Phase des Kalten Kriegs fiel,
1954 in Neuchâtel wohnte – ein dezidiertes Interesse als selbst in der Schweiz eine atomare Bewaffnung auf
für Naturwissenschaften und Mathematik hinzu. Es der politischen Agenda stand, wurde nach der Zürcher
brachte ihn bereits 1956 zur Überzeugung, dass »wir Uraufführung in der Saison 1962/63 allein in Deutsch-

Abb.  1.7  Dürrenmatt, ­


Regisseur Ladislao Vajda
(li.), Darsteller Heinz ­
Rühmann und Verleger ­
Peter Schifferli (re.) an­
lässlich der Dreharbeiten
zum Film Es geschah am
hellichten Tag, 1958.
12 I  Biografie und Kontexte

die Schweiz emigriert waren, waren nach Deutschland


zurückgekehrt und nur noch für gelegentliche Gast-
spiele vor Ort. Neue Talente erschienen, darunter der
junge erfolgreiche Regisseur Werner Düggelin. Er in-
szenierte 1967 Dürrenmatts Stück Die Wiedertäufer
(eine Bearbeitung des Bühnenerstlings). Als Düggelin
bald darauf zum Basler Theaterdirektor berufen wur-
de, lud er Dürrenmatt ein, als Hausautor in der Direk-
tion mitzuwirken. Es wurde Dürrenmatts intensivste,
vielleicht auch forcierteste Theaterarbeit. Das Basler
Theater stellte ihm eine großzügige Dachwohnung am
Barfüßerplatz zur Verfügung, und er arbeitete Tag
und Nacht für das Theater: Zwischen 1968 und 1969
verfasste er die Shakespeare-Adaption König Johann,
bearbeitete Strindbergs Totentanz in praktischer Regie
(mit Co-Regisseur Erich Holliger) und Dramaturgie
im Verlauf der Proben so weit, dass daraus ein eigenes
Drama, Play Strindberg, wurde, schrieb mit Porträt ei-
nes Planeten ein weiteres Stück und stürzte sich in wei-
tere Shakespeare- und Lessing-Adaptionen. Er ent-
wickelte eine ungeheure Produktivität und wollte dem
Basler Theater seinen Stempel aufdrücken. Hinter
dem Ganzen steckte jedoch ein Missverständnis: Düg-
gelin hatte ihn als künstlerischen Mitarbeiter enga-
giert, Dürrenmatt aber schwebte sein eigenes ›BE‹,
sein ›Basler Ensemble‹ analog zu Brechts ›Berliner En-
Abb. 1.8  Dürrenmatt auf der Bühne mit Schauspielern bei semble‹ vor. Entsprechend hatte er den Anspruch, sich
Premiere zu Der Meteor, Zürich 1966. auch in die Regiearbeit anderer einzumischen. So
musste es früher oder später zum Bruch kommen; für
land gleichzeitig auf über fünfzig professionellen Büh- den Eklat sorgte ein Konflikt zwischen dem Ensemble
nen gespielt und auch weltweit inszeniert. Dürrenmatt und dem mit Dürrenmatt befreundeten Schauspieler
stand auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Kurt Beck. Dürrenmatt, der zudem im April 1969 in
Doch wie bereits nach Der Besuch der alten Dame der Situation völliger Überarbeitung einen Herz-
folgte ein Misserfolg: Herkules und der Stall des Au- infarkt erlitt, schied im Herbst 1969 im Streit vom Bas-
gias, aus dem gleichnamigen Hörspiel von 1954 zur ler Theater und von Düggelin.
Komödie und zum parodistischen Festspiel umge-
schrieben, fiel bei der Uraufführung 1963 durch und
wurde mit seinem helvetischen Stoff nur wenig nach- Scheiternde Theaterversuche und Ehrungen
gespielt. Ein Bühnenereignis wurde dann wieder Der
Meteor (1966), nicht zuletzt dank einer herausragen- Bis dahin blieb für Dürrenmatt stets die Theaterarbeit
den Interpretation der Hauptfigur durch Leonard Ste- im Zentrum, er verstand sich zuerst als Dramatiker;
ckel. Es war der letzte große Erfolg Dürrenmatts am andere literarische Arbeiten wie Kriminalromane
Schauspielhaus Zürich. schrieb er insbesondere in Krisensituationen, in den
früheren Jahren als Geld- und Auftragsarbeiten oder
zur Erholung.
Theaterleidenschaft in Basel Nach dem Herzinfarkt, der Dürrenmatt zur Ver-
änderung seiner Lebensgewohnheiten zwang, sollte es
Dort fand Mitte der 1960er Jahre ein Generationen- zwar immer wieder Phasen intensiver Theaterarbeit
wechsel statt. Einige der Schauspieler und Regisseure, geben, wenn er selbst Regie führte, eine kontinuierli-
mit denen Dürrenmatt zusammengearbeitet hatte, che Zusammenarbeit mit einem festen Ensemble,
waren gestorben; andere, die während der Nazizeit in Theater oder Regisseuren aber gab es nicht mehr.
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 13

Abb.  1.9  Dürrenmatt mit


Adolph Spalinger und ­
Mathias Habich bei den
Probenarbeiten zu König
Johann, Basel 1968.

Zu Beginn der 1970er Jahre knüpfte er wieder enge


Kontakte zum Zürcher Schauspielhaus; er inszenierte
dort sein neues Stück Porträt eines Planeten 1970,
kurz nach der Düsseldorfer Uraufführung. Er wurde
Mitglied des Verwaltungsrats und stand gar als Direk-
tor zur Diskussion, doch fehlten Erfolg und Rückhalt.
Dürrenmatt befand sich in einer lang anhaltenden
Krise: In den Jahren 1959–1971 hatte er neun Thea-
terstücke verfasst, daneben häufig bei Produktionen
seiner Stücke mitgearbeitet, aber keinen einzigen er-
zählerischen Text veröffentlicht, neben dem Theater
nur ein paar Reden publiziert. Umso bitterer war für
ihn die Erfahrung, dass nach Play Strindberg keines
seiner Stücke auch nur annähernd den Erfolg der frü-
heren Komödien erreichte: Mit dem Mitmacher, den
er für eines seiner besten Stücke hielt, erlebte er bei
der Uraufführung in Zürich am 3.3.1973 ein eigentli-
ches Debakel.
Von da an war Dürrenmatt als Theaterautor abge-
schrieben, es wurden fast nur noch seine alten Erfolgs-
stücke als Kassenfüller gespielt. Die Gleichgültigkeit
der Theaterwelt ging einher mit zahlreichen Ehrun-
gen – Ehrendoktorate in Philadelphia, Nizza, Jerusa-
lem, Neuchâtel und Zürich, zwei Berner Literaturprei-
se, drei Schillerpreise, Jean-Paul-Preis, Grillparzer-
Abb. 1.10  Dürrenmatt mit Regisseur Andrzej Wajda Preis, Österreichischer Staatspreis für Europäische Li-
bei den Proben zu Der Mitmacher, Zürich 1973. teratur, Georg Büchner-Preis, um nur die wichtigsten
14 I  Biografie und Kontexte

zu nennen. Auch für den Nobelpreis wurde Dürren- runter einen Militärdienstverweigerer und Zivil-
matt wiederholt als Kandidat gehandelt. dienst-Aktivisten. Von 1969–1971 war Dürrenmatt
Mitherausgeber des neu gegründeten linksliberalen
Sonntags-Journals, für das er auch zahlreiche Texte
Politische Publizistik schrieb. 1968 erlebte er im März den ›Prager Früh-
ling‹ vor Ort, als er anlässlich des Besuchs einer Insze-
Die späten 1960er Jahre waren eine Zeit des politi- nierung seiner Wiedertäufer dort weilte. Nach dem
schen Aufbruchs. Auch bei Dürrenmatt manifestierte Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag organi-
sich dies in literarischen und publizistischen Tätig- sierte er in Basel eine Protestveranstaltung mit Max
keiten. Er war kein weltfremder Autor. Zwar hatte er Frisch, Günter Grass und Peter Bichsel als Rednern,
große Vorbehalte gegenüber dem modischen Dekret Heinrich Böll schrieb einen Text für die Veranstal-
der politisch engagierten Literatur und lachte über tung. Reisen nach Polen (1960), in die Sowjetunion
die Vorstellungen von der Veränderbarkeit der Ge- (1964, 1967) und in die Tschechoslowakei (1964,
sellschaft durch Literatur und Theater. Dennoch be- 1968) gaben ihm Anschauungen vom real existieren-
gann er ab Mitte der 1960er Jahre, sich in politische den Sozialismus, die sich auch in der satirischen Er-
Debatten einzumischen. Er nahm in Interviews Stel- zählung Der Sturz (1971) niederschlugen. Reisen in
lung zu aktuellen Fragen der Schweizer Politik und die USA (1959, 1969, 1973, 1981), wo er mit Ulrich
nutzte Gelegenheiten wie den Berner Literaturpreis Geissler, dem Bruder seiner Frau Lotti, und später mit
1969 für politische Manifestationen: Er reichte die seiner eigenen Tochter Ruth auch familiäre Bande
Preissumme an drei engagierte Figuren weiter, da- hatte, führten dazu, dass er sich vermehrt und kon-
kreter mit dem Kapitalismus und dem technischen
Fortschritt beschäftigte.
1967 und 1974, zur Zeit des Sechstage- und Yom-
Kippur-Krieges, bekannte sich Dürrenmatt öffentlich
zu Israel, einem Staat, dessen unbedingte Notwendig-
keit er im jahrhundertealten europäischen Antisemi-
tismus und dem Holocaust begründet sah. Vor allem
das Engagement für Israel in einer Zeit, als es in West-
europa bereits linker Commonsense war, für die Pa-
lästinenser Partei zu ergreifen und Israel als Vorpos-
ten des US-amerikanischen Imperialismus zu kritisie-
ren, nahm tiefere Züge an. Dürrenmatt wurde im
Herbst 1974 vom israelischen Staat zu einem Besuch
eingeladen, er wurde vom Staatspräsidenten empfan-
gen und hielt an mehreren Universitäten einen Vor-
trag über seine Sicht des Gastlandes. Nach der Rück-
kehr in die Schweiz erweiterte er den Vortrag zu ei-
nem umfassenden Essay (mit eingeflochtener Erzäh-
lung) mit dem Titel Zusammenhänge, worin er die
aktuelle Situation der Israeli und der Palästinenser aus
der religiösen und politischen Geschichte heraus zu
verstehen suchte. Die Sympathie hielt ihn jedoch nicht
davon ab, die israelische Politik gegenüber den Paläs-
tinensern wiederholt und dezidiert zu kritisieren.
Dürrenmatt, den man von seinen konkreten poli-
tischen Positionen her am ehesten als linksliberal si-
tuieren konnte, geriet mit seinen Stellungnahmen zu-
nehmend ins Abseits des linksintellektuellen Main-
streams. Ironisch bezeichnete er sich in seiner Rede
Abb. 1.11  Dürrenmatt bei der Dankesrede für das Ehren­ für den Berner Literaturpreis 1979 als politisch weder
doktorat der jüdischen Universität Jerusalem, 1977. links noch rechts stehend, sondern quer liegend. Ge-
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 15

radezu störrisch beharrte er auf seinem Selbstver- buch, sondern auch als Darsteller der Schriftstellerfi-
ständnis als Einzelner, der sich in einem eigenständi- gur beteiligte.
gen Denkprozess abseits von Parteimitgliedschaft und
-parolen seine eigenen philosophisch-politischen Po-
sitionen erarbeitete. Das Bildwerk

Während der Dreharbeiten an diesem Film in seinem


Das Langzeitprojekt der Stoffe Wohnhaus in Neuchâtel lernte Dürrenmatt den Em-
mentaler Wirt und Kunstsammler Hans Liechti ken-
Aus dem Debakel der Mitmacher-Uraufführung von nen, der in der Nähe ein Restaurant führte. Zwar hatte
1973 schrieb sich Dürrenmatt in jahrelanger Arbeit Dürrenmatt nach seiner Entscheidung für den Beruf
frei, indem er dem Stück für die Buchpublikation ein des Schriftstellers im Jahr 1946 mit Ausnahme der sati-
Nachwort mit eingeflochtenen Erzählungen und auto- rischen Serie Die Heimat als Plakat (1964) nur gele-
biografischen Passagen nachschickte, das doppelt so gentlich Illustrationen zu seinen Werken und verein-
lang wie der eigentliche Dramentext ist und mit die- zelte Karikaturen publiziert, das Zeichnen und Malen
sem den 1976 publizierten Mitmacher-Komplex bildet. somit weitgehend als Privatangelegenheit betrieben.
Dieser entstand im Zeichen eines größeren Projekts: Bilder begleiteten seine dramatischen Inventionen
Die auf intensiven Lektüren basierende Auseinander- dennoch sein Leben lang. Als ihm die Umsetzung sei-
setzung mit den Komplexen Recht und Politik, Phi- ner Visionen auf dem Theater immer schwerer fiel, ge-
losophie, Naturwissenschaft und Religion in Dürren- wann das Zeichnen und Malen erneut an Dringlich-
matts ›dramaturgischem Denken‹ der 1970er Jahre keit und Spielraum. Die neue Freundschaft mit Liechti
ging einher mit einer zunehmenden Thematisierung spornte ihn an. Dieser organisierte 1975 die erste öf-
der eigenen Biografie. Seit seinem Herzinfarkt 1969 fentliche Ausstellung von Dürrenmatts Bildern in sei-
und mit zunehmender Intensität, parallel zum Schei- nem Restaurant, es folgten weitere in der Galerie Da-
tern neuer Anläufe auf dem Theater, setzte Dürren- niel Keel 1978 und 1983 im Musée d’Art et d’histoire in
matt zum Projekt einer »Geschichte [s]einer Schrift- Neuchâtel. Trotzdem verstand sich der Autodidakt
stellerei« (WA 32, 13) oder »Geschichte [s]einer Stof- Dürrenmatt nie als professioneller Zeichner und Ma-
fe« (ebd.; WA 28, 13; WA 29, 11) an – ein Projekt, das ler, wodurch er sich einerseits diesen künstlerischen
ihn bis zu seinem Tod 1990 begleiten sollte. Es ent- Ausdruck als privaten Schonraum und andererseits die
stand eine neuartige, vielschichtige Prosa aus dem Freiheit bewahrte, sich nicht mit zeitgenössischen
Gestus der Rückbesinnung auf die eigenen Anfänge Tendenzen und den Meinungen der Kritik auseinan-
und auf nicht realisierte literarische Projekte. dersetzen zu müssen.
Dass sich Dürrenmatt in dieses Langzeitprojekt
einschrieb, war auch Ausdruck der veränderten Le-
bensumstände. War sein Leben als Erfolgsdramatiker Einsamkeit in Neuchâtel und ein Verlags-
bis in die frühen 1970er Jahre von einer atemlosen wechsel
Hektik und ständiger Zeitnot geprägt, so stand er nun
mit der Abwendung der Theater und Regisseure zu- Dürrenmatt machte nach seinem Herzinfarkt von
nehmend allein. Es wurde still um ihn, und auch im 1969 immer wieder gesundheitliche Krisen durch.
Privaten wurde es einsam; die Kinder waren erwach- 1973 musste er eine USA-Reise infolge seiner Dia-
sen und lebten andernorts, Lotti zog sich zunehmend betes-Erkrankung frühzeitig abbrechen; im Herbst
in ihr Schlafzimmer zurück. Zwar hatte Dürrenmatt 1975 erlitt er eine weitere Herzattacke und musste wo-
finanziell keine großen Sorgen – nach wie vor flossen chenlang in ein Berner Krankenhaus. Er lebte in der
Tantiemen von den Aufführungen seiner Erfolgsstü- Folge weitgehend zurückgezogen und zunehmend
cke Der Besuch der alten Dame und Die Physiker, die einsam in Neuchâtel, auch bedingt durch den eben-
inzwischen auch zum Schulstoff geworden waren –, falls prekären Gesundheitszustand seiner Frau, die
die Öffentlichkeit zeigte jedoch nur noch sporadisch unter Depressionen litt und mit Alkohol- und Medi-
Interesse an ihm. Umso empfänglicher war er für kamentensucht kämpfte. Seine Kontakte konzentrier-
neue Impulse wie ab Herbst 1974 die Verfilmung des ten sich vermehrt auf einzelne Freundschaften.
Romans Der Richter und sein Henker durch Maximi- Im Herbst 1977 scheiterte auch ein neuer Anlauf
lian Schell, an der er sich nicht nur mit dem Dreh- auf der Bühne mit der Komödie Die Frist kläglich;
16 I  Biografie und Kontexte

Abb.  1.12  Dürrenmatt mit


seinem Verleger Daniel
Keel (Diogenes), 1986.

Dürrenmatt wurde von Regisseuren und Kritik gera-


dezu vorgeführt und lächerlich gemacht. Seine neuen
Werke wurden kaum mehr gespielt und verkauft, und
er machte sich doch zunehmend Existenzsorgen. So
wechselte er 1979 von Peter Schifferlis Kleinverlag
Die Arche, bei dem er seit 1952 fast alle Werke publi-
ziert hatte, zu Daniel Keels aufstrebendem Diogenes
Verlag. Keel war schon immer ein begeisterter Dür-
renmatt-Leser gewesen. Dieser Verlagswechsel brach-
te neuen Schwung, der Ende 1980 rechtzeitig vor dem
60. Geburtstag in einer 30-bändigen Werkausgabe
Ausdruck fand und im Herbst darauf in der Publikati-
on der Stoffe I–III. Erstmals nach langen Jahren fand
Dürrenmatt wieder größere Aufmerksamkeit als Pro-
saautor.

Aufbruch ins Spätwerk

Im Januar 1983 starb Lotti im Alter von 64 Jahren. Ihr


Tod stürzte Dürrenmatt in tiefe Verzweiflung und
Hilflosigkeit. Freunde holten ihn allmählich aus die-
sem trostlosen Zustand heraus. Mit Maximilian Schell
arbeitete er am Filmprojekt Midas; über ihn lernte er
Charlotte Kerr kennen, die von ihm ein einfühlsames
vierstündiges Filmporträt drehte, das Portrait eines
Planeten. Am Ende der Dreharbeiten, im Mai 1984,
Abb. 1.13  Dürrenmatt mit seiner zweiten Frau Charlotte heirateten die beiden. Die Ehe mit der streitbaren und
Kerr, um 1985. ungeduldigen Filmerin und Schauspielerin war kei-
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 17

neswegs konfliktfrei, doch zugleich gab sie Dürren- schließlich im Jahre 1990 doch noch zu Ende geführt,
matt die Energie, angefangene Arbeiten wieder auf- wenn auch in ganz anderer Form, als es in den frühen
zunehmen und neue Texte zu schreiben. 1985 ent- 1970er Jahren angelegt worden war. Dürrenmatts spä-
stand die von Tuschezeichnungen begleitete Ballade te Texte sind von einer eigenwilligen denkerischen
Minotaurus – ein Text, der wie kaum ein anderer eine Spiellust geprägt: Zum einen hatte er in den 1970er
nicht ironisch gebrochene Tragik des einsamen Tier- Jahren eine Art Wiederholung seines Philosophiestu-
Menschen zeigt. Im gleichen Jahr wurde das um 1960 diums vollzogen, indem er von Platon über Spinoza
abgebrochene Kriminalromanfragment Justiz abge- und Kant bis zu Schopenhauer, Marx, Kierkegaard
schlossen und publiziert. Ein Jahr darauf entwickelte und Nietzsche für ihn wichtige Denker wieder oder
sich die Novelle Der Auftrag aus einem geplanten neu las; hinzu kam das Studium zeitgenössischer Wer-
Filmprojekt von Kerr. Das Stück Achterloo, 1983 mit ke zu Mathematik, Physik, Astronomie, Kosmologie
bescheidenem Erfolg in Zürich uraufgeführt, wurde und Hirnforschung, dazu wissenschaftstheoretische
im Dialog mit Kerr mehrfach überarbeitet und zuneh- Abhandlungen von Karl Popper bis Gerhard Vollmer.
mend zum vielfach-reflektierten Metatheater getrie- Zum andern gab die gute Betreuung und Vermark-
ben. Die Stoffe, die mit dem 1981 publizierten ersten tung seines Werks durch den Diogenes Verlag Dür-
Band bei weitem nicht abgeschlossen waren, führten renmatt eine finanzielle Sicherheit, die ihm auch als
Dürrenmatt in immer verwickeltere Erinnerungs- aus der Mode gekommenem Dramatiker erlaubte, in
fluchten und Textzusammenhänge. 1989 verselbstän- der Prosa jenseits aller Konventionen zu schreiben,
digte sich daraus der Roman Durcheinandertal, in was und wie es ihm zusagte. So entstanden essayisti-
dem Dürrenmatt noch einmal zentrale Denkmotive sche Gedankenfluchten und waghalsige erzählerische
verdichtet und aus ironisch-distanzierter Perspektive Konstruktionen, die bei der Kritik eine gemischte
religiöse Motive inszeniert. Das Stoffe-Projekt wurde Aufnahme fanden, aber Ausdruck einer atemberau-
benden kreativen Spielfreude und gedanklichen
Spannweite sind.
Auch Dürrenmatts Alltag änderte sich, obwohl er
weiterhin in seinem Privatreich in Neuchâtel wohnte,
das ihm allein die konzentrierte Schreibarbeit erlaub-
te. Er reiste wieder mehr: Abgesehen von den Nach-
barländern der Schweiz, in denen er regelmäßig un-
terwegs war, besuchte er in den letzten sieben Lebens-
jahren in Begleitung seiner Gattin Griechenland,
Ecuador, Peru, Ägypten, England, Schweden, Polen
und die Sowjetunion.
Dürrenmatt war auch in den Medien präsent, nahm
in der Endphase des Kalten Krieges an Fernsehdiskus-
sionen mit prominenten Politikern und Forschern teil
– etwa dem bundesdeutschen Verteidigungsminister
Manfred Wörner, dem Abgeordneten Egon Bahr oder
dem Miterfinder der Neutronenbombe Edward Teller
– und reiste 1987 nach Moskau zum internationalen
Friedensforum von Michail Gorbatschow.

Das Ende

Nicht zufällig steht im Zentrum des zweiten Stoffe-


Bandes, Turmbau, die Auseinandersetzung mit dem
Tod in all seinen Facetten – eine Auseinandersetzung,
die auch in der intensivierten Malerei der letzten Le-
Abb. 1.14  Dürrenmatt mit Václav Havel in Rüschlikon, bensjahre ihren Ausdruck findet. Nach dem Ab-
14.11.1990. schluss des über mehr als zwanzig Jahre hinweg be-
18 I  Biografie und Kontexte

triebenen Großprojekts schien Dürrenmatt zutiefst Literatur


erschöpft. Bei seinem letzten Auftritt in der Schweiz Grimm, Gunter E.: Friedrich Dürrenmatt. Marburg 2013,
im November 1990, als er in einer Preisrede für den 15–35.
Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
tschechoslowakischen Staatspräsidenten und Berufs- Biographie. Zürich 2011.
kollegen Václav Havel die Schweiz mit einem selbst- Rusterholz, Peter: Nachkrieg – Frisch – Dürrenmatt – Zür-
gewählten Gefängnis verglich, provozierte er zwar cher Literaturstreit – Eine neue Generation (1945–1970).
noch einmal einen Skandal, doch war er physisch ge- In: Ders., Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literatur-
zeichnet. Einen Monat später, am 14.12.1990, starb geschichte. Stuttgart 2007, 241–344, v. a. 280–311.
Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Dürrenmatt in Neuchâtel an Herzversagen. Um ihn
Zürich 2020.
her waren die Vorbereitungen für die Feier seines
70. Geburtstags im Gang, der er sich mit Kerr durch Ulrich Weber
eine Weltreise hatte entziehen wollen.
2  Selbst- und Fremddarstellung: Mythos Dürrenmatt 19

2 Selbst- und Fremddarstellung: bemängelt hatte, schrieb er in einem Brief, jener kön-
Mythos Dürrenmatt ne sein Deutsch »wie ein Pudel, der seine Kunststücke
macht. Für Sie, lieber Weber, wird Sprache ewig etwas
sein, das nachzuahmen ist, doch belästigen Sie bitte
Friedrich Dürrenmatt war mit 40 Jahren ein welt- nicht jene, die Sprache erzeugen, hervorbringen. Blei-
berühmter Dramatiker und mit 60 Jahren ein von der ben Sie in Ihrem sprachlichen Museum, aber verbren-
Kritik mehrheitlich abgeschriebener Autor, dessen nen Sie sich die Hände nicht bei Naturvorgängen« (zit.
Schaffenskraft erschöpft sei. So kursierten bereits früh nach Weber 2020, 268).
Bilder und Klischees von ihm, zu denen er einerseits Dürrenmatt war ein lustvoller Selbstinszenierer.
beitrug und die ihn zugleich befremdeten und verletz- Über ihn kursierten und kursieren zahlreiche Anek-
ten. Insbesondere sein Spätwerk ist auch als Dialog doten, von denen er selbst viele erzählt und in die Welt
mit solchen Bildern zu verstehen. »Wir wurden mit gesetzt hatte. Er liebte es, Witze zu reißen, zu blödeln,
dezidiertem Wohlwollen empfangen. Frisch als Intel- sich in Clown-Posen fotografieren zu lassen: Bereits
lektueller, ich als Naturbursche« (WA 29, 64 f.), am 25.3.1963 erschien auf dem Titelblatt der Schwei-
schreibt Dürrenmatt in Turmbau. Stoffe IV–IX über zer Illustrierten ein Porträt mit seinem Nymphensit-
eine Tagung des Bayerischen Rundfunks in München tich Shakespeare, der auf seiner Glatze thronte; er po-
1956. Damit evoziert er nur eines von vielen Bildern, sierte für professionelle Fotografen mit Weinglas auf
die sich die Öffentlichkeit schon früh von den beiden dem Kopf oder im eigenen Swimming-Pool (vgl. Co-
Protagonisten der Schweizer Literatur der 1950er Jah- ver-Foto). Humor, Satire und Groteske verstand er als
re machte. ›Frisch und Dürrenmatt‹ war eine fixe For- seine Mittel zur Distanzierung gegenüber dem Pathos,
mel. 1956 nannte sie Manuel Gasser in der Weltwoche mit dem er sich immer schwer tat.
(10.2.1956), einem alten literaturgeschichtlichen und Doch hinter seiner vordergründig ruhigen Biogra-
mythischen Muster folgend, »unsere dramatischen fie und dem stets zum Spaßen aufgelegten, geselligen
Dioskuren«. Dürrenmatt greift das Bild in Turmbau Menschen steckte Dürrenmatts Selbstverständnis zu-
auf: »Wir stellten einmal am schweizerischen Schrift- folge ein Leben voller innerer Abenteuer. In der Tat
stellerhimmel ein Doppelgestirn dar, Kastor und Pol- stellt er dieses vor allem in seinen Briefen als ein Dra-
lux, wobei es unklar ist, wer von uns beiden Kastor ma mit Peripetien und Katastrophen dar. Und hinter
und wer Pollux darstellt, sind doch die beiden nur der Ausstrahlung gemütlicher Lebenslust, die er auch
scheinbar ein Doppelgestirn« (WA 29, 75). Kunstvoll gerne öffentlich zelebrierte, steckte ein hohes Ethos
demontiert er in der Folge das Bild als perspektivische der schriftstellerischen Arbeit; er bewies immer wie-
Täuschung und bestätigt dadurch doch zugleich seine der große Selbstdisziplin und arbeitete konzentriert
Gültigkeit, indem er Max Frisch zu seinem dialekti- an seinem Werk.
schen Gegensatz stilisiert. Das Doppelbild Frisch und Als 22-Jähriger schrieb er seinen Eltern im Herbst
Dürrenmatt wurde etwa auch auf den Gegensatz zwi- 1943, als er die Studienrichtung von Literatur und
schen dem Erzähler und dem Dramatiker, dem Politi- Kunstgeschichte zu Philosophie wechselte: »Ich freue
schen und dem Unpolitischen, dem Liberalen und mich aufs Studium, es wird mir gut tun. Es bedeutet
dem Konservativen, dem sauren Moralisten und dem nach der ›Schlacht um die Kunst‹, die ich geführt ha-
lebenslustigen Humoristen, dem ernsthaften Denker be, für mich eine geistige Erfrischung. Ich kann sagen,
und dem Clown zugespitzt. Zugleich wurden die bei- dass ich diese Schlacht gewonnen habe. Es bedeutet
den Autoren häufig verwechselt, was sie in verschiede- dies für mich das entscheidende Ereignis. Mit der Ko-
nen Werken thematisierten, z. B. Frisch in Montauk, mödie, die ich hier oben geschrieben habe, ist der ers-
Dürrenmatt im Nachwort des Herausgebers zu Justiz te Zykel meiner Werke geschlossen, den ich mit Chaos
(vgl. WA 25, 200). überschreiben möchte« (zit. nach ebd., 72).
Wenn sich Dürrenmatt als Opfer simplifizierender Als der vierzehnjährige Dürrenmatt nach Bern
Fremdbilder versteht, so steht dem gegenüber, dass er kam, fühlte sich der Pfarrerssohn – so zumindest die
selbst intensiv an diesen Bildern mitarbeitete, nicht rückblickende Darstellung – bereits als Einzelgänger
erst, seit er in den Stoffen sein Selbstbild prägte. Auch und Außenseiter. Damit nahmen ein Selbstverständ-
wenn er sich etwa gegen das Bild des »Naturburschen« nis und später eine Selbstdarstellung ihren Ausgangs-
wehrte, trug er zugleich zu diesem bei: Dem Kritiker punkt, die, unter dem Einfluss des von ihm hoch-
Werner Weber, der in seiner Besprechung der Erzäh- geschätzten Existenzphilosophen Søren Kierkegaard,
lung Die Panne gewisse sprachliche Nachlässigkeiten sehr stark auf die Kategorie des ›Einzelnen‹ ausgerich-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_2
20 I  Biografie und Kontexte

tet war. Dieses Selbstverständnis verband sich mit der renmatt im Schlussteil von Turmbau ein letztes Mal
labyrinthischen Weltsicht zum indirekten Selbstpor- indirekt als »metaphysischen Mumpitz-Gott« dar
trät als Minotaurus. Darin liegt auch der Ausdruck für (WA 29, 260). Hintergrund für dieses ironisch-indi-
ein geradezu autistisches Element seines künstleri- rekte Selbstporträt als »zuckerkranke[r] Gott ohne
schen Temperaments. Im Herbst 1942 schreibt er an Bart« (259) ist ein literarisches Selbstverständnis des
seinen Mentor Wilhelm Stein: »Mein Schicksal, mein Schriftstellers und Künstlers als eines Schöpfers von
Unglück und Glück, meine Stärke und meine Schwä- Figuren und Welten, der, ein Alter Deus, aus Nichts
che ist es, dass ich immer nur aus mir schaffen kann, etwas schafft.
dass mir die Verbindung mit der Aussenwelt von ir- Steht dieses Bild für die Allmacht über die eigenen
gendeinem Teufel stets durchschnitten wird, mit Erzählwelten, so taucht im Spätwerk auch wiederholt
einem Wort, dass ich eine Brille trage, die stets an- das Selbstbild des Scheiternden auf – auch dies als Re-
läuft« (zit. nach ebd., 71). aktion auf Kritiken, die ab den frühen 1970er Jahren
Er galt als eher unpolitischer Komödienschreiber, gehäuft befanden, Dürrenmatt sei erstarrt in seinen
insbesondere in den 1970er Jahren, als ›politisch‹ im Bildern und Klischees, wiederhole sich nur noch und
Kulturbereich geradezu synonym für ›linksintellek- schreibe seine Werke um. Die Präsentation des zwei-
tuell und engagiert‹ war. Als er 1979 zum wiederhol- ten Stoffe-Bandes Turmbau als Trümmer eines Er-
ten Male einen Berner Literaturpreis bekam, legte er innerungsgebäudes, das der Autor ursprünglich in-
in der Dankesrede – wohl zur Abgrenzung von Auto- tendierte, ist jedoch kaum einfach als Resignation,
ren wie Grass und Frisch – das Geständnis ab, er habe sondern zumindest auch als ästhetische Aufwertung
»zwar Freunde [...], aber keine Genossen« (WA 34, des Unabgeschlossenen, Unharmonischen zu verste-
169), und stellte sich selbst politisch weder als Rechten hen, das Dürrenmatt seinen so formal geschlossenen
oder Linken, sondern als einen »Queren« (173) dar. Werken wie Der Besuch der alten Dame oder Die Phy-
Die Meinung, »es sei in der letzten Zeit still um [ihn] siker entgegenstellte. So überarbeitete er auch seine
geworden« (167), quittierte er mit der Bemerkung: Komödie Achterloo (1983) von Fassung zu Fassung in
»hoffentlich. Wer nicht beizeiten dafür sorgt, daß er Richtung auf die Auflösung fester Strukturen und
aus dem Kulturgerede kommt, kommt nicht mehr Handlungszusammenhänge; in Achterloo IV (1988)
zum Arbeiten, und damit nicht mehr zu sich selber« tritt Georg Büchner als Alter Ego des Autors auf, der
(ebd.). auf der Bühne sein Werk zu schreiben versucht, wäh-
Weiter erzählte Dürrenmatt in seiner Dankesrede, rend seine Figuren bereits spielen und sich nicht an
er habe unlängst in einer Radio- und TV-Zeitschrift den Text halten.
einen Beitrag über den »Alten vom Berge« angekün-
digt gesehen und, interessiert am so bezeichneten Literatur
Matt, Peter von: Der Liberale, der Konservative und das
Scheich al-Djebal, dem Führer der persischen Sekte
Dynamit. Zur politischen Differenz zwischen Max Frisch
der Assassinen, näher hingeschaut und erkannt, dass und Friedrich Dürrenmatt. In: Ders.: Das Kalb vor der
mit dem Epitheton er selbst gemeint sei (vgl. 168). Das Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz.
Bild vom ›Großen Alten‹ entwickelte er später weiter. München 2012, 191–207.
Nachdem der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Reich-Ranicki, Marcel: Lieber, verehrter Herr Dürrenmatt.
sich in einem Gratulationsbrief zu Dürrenmatts Ein Brief von 1981, kommentiert von Heinz Ludwig
Arnold. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 161–166.
60. Geburtstag ausgemalt hatte, wie der Autor, kon- Stingelin, Martin: Der Fluch der Dioskuren. Die mythische
frontiert mit Postsäcken voller Gratulationsbriefe und ›Arbeitskameradschaft‹ von Friedrich Dürrenmatt und
-telegramme, seinem Sekretär in Frack befiehlt, diese Max Frisch. In: CH-Lit. Mitteilungen zur deutschsprachi-
ungelesen verbrennen zu lassen, griff dieser das Bild gen Literatur der Schweiz 13 (2005), 5–7.
im Roman Durcheinandertal auf in der Figur des Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt ermordet einen Papp-
kameraden. Striche und Streiche im Spätwerk Dürren-
Gangsterchefs, des »Großen Alten«, der aussah wie
matts. In: Lucas Marco Gisi, Hubert Thüring, Irmgard M.
»der Gott des Alten Testaments ohne Bart« (WA 27, Wirtz (Hg.): Schreiben und Streichen. Zu einem Moment
11), der an seinem Pool liegend, säckeweise Briefe un- produktiver Negativität. Göttingen 2011, 305–323.
gelesen in den Pool kippen lässt (vgl. 91 f.). Und nach- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
dem Reich-Ranicki in seiner Zeit-Kritik vom Zürich 2020, 13–16, 557 f.
10.11.1989 diesen Roman wiederum als »metaphysi- Ulrich Weber
schen Mumpitz« abqualifiziert hatte, stellte sich Dür-
3  Politisch-kulturelle Kontexte 21

3 Politisch-kulturelle Kontexte schontseins – das unserem Lande in der Folge mehr


Schaden zufügen sollte, als damals noch zu ahnen war
Als Friedrich Dürrenmatt 1921 in Konolfingen gebo- – stellte mich endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die
ren wurde, war gerade die Weimarer Republik ge- ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erden-
gründet worden. 1935 – die Familie zog nach Bern – ken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die
herrschte in Deutschland bereits der NS-Staat. Wäh- mich nicht fanden, zu erfinden« (WA 28, 67).
rend Dürrenmatt seine Maturität machte, war über Damit war eine Tonlage gefunden, die sich von An-
Europa der Zweite Weltkrieg hereingebrochen. Die fang an von der ›Geistigen Landesverteidigung‹ ab-
Schweiz blieb eine von wenigen Friedensinseln, ge- setzte: Für den selbstgerechten Patriotismus der
prägt von der patriotischen Kultur der ›Geistigen Lan- Schweiz im und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte
desverteidigung‹, die lange über das Kriegsende hi- Dürrenmatt zeitlebens bloß Spott übrig, angefangen
naus wirksam blieb. Als Dürrenmatt sich 1945/1946 bei den bissigen Kabarettnummern von 1948, etwa
für den Beruf des Schriftstellers entschied, endete zur Flüchtlingspolitik, über das heimatliche Umfeld
nach dem Atombombenabwurf auf Japan der Zweite des Kommissärs Bärlach und die Darlegung, dass Ver-
Weltkrieg. In Europa etablierte sich eine neue Ord- schontsein kein Verdienst sei, bis zu Essays wie Zur
nung im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges Dramaturgie der Schweiz (1968/70): »Unser Davon-
zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. kommen war nicht vorbildlich, auch eine erfolgreiche
Als Dürrenmatt 1956 mit Der Besuch der alten Dame Politik hat ihre bitterbösen Seiten. Wir ließen unsere
den ersten Welterfolg lancierte, sorgte in Deutschland Opfer nicht ins Land oder schoben sie wieder über
das sogenannte Wirtschaftswunder für zunehmenden die Grenze und damit aus unserem Bewußtsein. [...]
Wohlstand und eine neue Konsumkultur nach US- [W]ir hielten an unseren Idealen fest, ohne sie unbe-
amerikanischem Vorbild. Dürrenmatts Erfolgshöhe- dingt anzuwenden [...]. Tell spannte zwar die Arm-
punkt im Jahr 1962 nach der Uraufführung der Ko- brust, doch grüßte er den Hut ein wenig – beinahe fast
mödie Die Physiker, er war gut 40-jährig, fiel in eine nicht –, und das Heldentum blieb uns erspart« (WA
der brisantesten Phasen des Kalten Krieges mit dem 34, 63 f.). Und weiter: »Zu unserem Davonkommen
Bau der Berliner Mauer, der Kuba-Krise und der US- gehört die Schuld; gerade hier erweist sich die Schweiz
amerikanischen Drohung, einen Atomkrieg zu begin- als klein, kleiner noch als auf der Landkarte. Sie sieht
nen. Als Dürrenmatt 1968/69 in Basel sein intensivs- ihre Vergangenheit nur heldisch und human, sie will
tes Theaterengagement erlebte, stand der Westen im schuldlos davongekommen sein« (69 f.).
Zeichen der Popkultur, der Studentenrevolte und neo- Dürrenmatts literarischer Aufbruch nach dem
marxistischer Utopien. Als Dürrenmatt 1973 mit Der Zweiten Weltkrieg steht im Zeichen großer Skepsis ge-
Mitmacher sein größtes Theaterdebakel erlebte und genüber allem Kollektiven und der patriotisch bis tota-
als Dramatiker abgeschrieben wurde, stand die Welt litär eingeschworenen Gemeinschaft. Mit seiner Ori-
im Zeichen der Erdölkrise; der Bericht Die Grenzen entierung am Individuum, an der Erfahrung von Frei-
des Wachstums des Club of Rome führte zur Entwick- heit in einer Situation metaphysisch-religiöser Haltlo-
lung neuer Umweltbewegungen, zur Kritik von Um- sigkeit und seiner Darstellung von Individuen, die
weltzerstörung, Mobilitätswahn und der Risiken der plötzlich aus ihrem Alltag hinausgeworfen und in eine
Atomenergie. Während der Feierlichkeiten Dürren- Grenzsituation geraten (z. B. Der Tunnel, Die Panne),
matts 60. Geburtstag 1981 am Schauspielhaus Zürich steht Dürrenmatt im Kontext markanter Zeitströmun-
fanden rund um das Theater Demonstrationen der gen wie der des Existentialismus und – etwas später –
bewegten Jugend im Zeichen einer neuen konsumkri- des absurden Theaters. Obwohl er mit Martin Heideg-
tischen Alternativkultur statt. Und als Dürrenmatt ger nichts anfangen konnte, steht er mit seiner Re-
1990 seine letzten öffentlichen Auftritte hatte, bezogen zeption der Philosophie Søren Kierkegaards und der
sich diese auf das Ende des Kalten Krieges. dialektischen Theologie Karl Barths ebenfalls in einer
Dürrenmatts Werk stand in einer ständigen Span- Traditionslinie der Existenzphilosophie. Doch hielt er
nung zwischen Bezugnahmen auf diese Strömungen sich auf Distanz zum Existentialismus. Die Werke von
und Ereignisse und einer betonten monolithischen Ei- Sartre und Albert Camus standen in seiner Bibliothek.
genständigkeit. Als initiale Erlebnisse beschreibt er in Sartres Schauspiel Der Teufel und der liebe Gott kriti-
den Stoffen die Erkenntnis der eigenen grotesk-ko- sierte er anlässlich einer Aufführung in Zürich aber als
mischen, ja lächerlichen Situation in der verschonten den »nie ganz erquickliche[n] Fall [...], daß ein Philo-
Schweiz im Januar 1945: »[D]iese Groteske des Ver- soph in steigendem Maße Theaterstücke verfertigt«

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_3
22 I  Biografie und Kontexte

(WA 31, 52). Von Sartres späterem Konzept einer ›litté- rung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen
rature engagée‹ und seiner Wendung zum Marxismus durch die USA und die Sowjetunion, die die jewei-
distanzierte sich Dürrenmatt ebenso klar wie von der ligen Hauptstädte der Gegnermacht direkt hätten er-
brechtschen Lehrstück-Dramatik. Näher musste ihm reichen können. Das Stück Die Physiker, das die – un-
Camus liegen. Obwohl Dürrenmatt den Begriff als vermeidliche – zerstörerische Ausbeutung der natur-
Verneinung der Möglichkeit von Sinn für sich ablehn- wissenschaftlichen Erkenntnisse durch die Macht ver-
te, besteht doch eine Affinität zwischen Camus’ Begriff handelt, hatte seinen überwältigenden Erfolg auch
des Absurden (verstanden als einer Disproportion seiner brisanten Aktualität zu verdanken. Die atomare
zwischen menschlichem Ordnungsbedürfnis und ei- Bedrohung war das politische Thema; in der Schweiz
ner Welt, die sich menschlichen Deutungsversuchen fand wenige Wochen vor der Uraufführung des Stücks
entzieht) und Dürrenmatts Bild einer labyrinthischen eine Volksabstimmung darüber statt, ob eine atomare
Welt. Zudem gibt es auch eine gewisse Nähe zwischen Aufrüstung verboten werden sollte. Trotz des Engage-
Camus’ Mythos des Sisyphus mit seiner Betonung der ments Dürrenmatts und anderer Intellektueller
individuellen Rebellion und Dürrenmatts labyrinthi- stimmte das Volk gegen die Vorlage. Neben dem Risi-
schem Weltverständnis mit seiner Konzeption des ko der Eskalation der Stellvertreterkriege in der zwei-
›mutigen Menschen‹ (vgl. Burkard 1991). ten und dritten Welt zu einem atomaren Weltkrieg be-
Auf weltpolitischer Ebene war das Ende des Zwei- stand dasjenige eines atomaren Infernos durch Zufall
ten Weltkriegs zugleich der Beginn des Kalten Krie- oder Unfall. Es gab während der Phase des Kalten
ges. War der Bau der Atombombe von den USA aus Kriegs rund 1200 schwere Atomunfälle, was Dürren-
Furcht vor einer deutschen Atombombe forciert wor- matts Dramaturgie des Unfalls (vgl. WA 30, 203–205)
den, so stand deren Realität am Ausgangspunkt der und der Panne (vgl. WA 21, 37–39) in einen konkreten
Konfrontation zwischen zwei politischen Systemen: historischen Kontext stellt. Das ›Gleichgewicht des
einem grundsätzlich liberalen Kapitalismus unter der Schreckens‹, die angeblich friedenssichernde Dimen-
Schirmherrschaft der USA und einem totalitären So- sion der riesigen Waffenarsenale, hing wiederholt an
zialismus, dominiert von der UdSSR. Diese Bipolari- seidenem Faden.
tät bestimmte die ganze Epoche, in der Dürrenmatt Auch wenn Dürrenmatt die Einhaltung der Men-
schrieb, und prägte auch maßgeblich die politische schenrechte und Gedankenfreiheit als Grundvoraus-
Dimension seines Werks. setzungen jeder politischen Ordnung und diese nur
Der Kalte Krieg war durch eine unvorstellbare Auf- in demokratischen Strukturen gewährleistet sah, auch
rüstungsdynamik der konkurrierenden Supermächte wenn er, im Gegensatz zu vielen anderen europäi-
geprägt, die den technischen Fortschritt beflügelte. schen Intellektuellen seiner Zeit, den Marxismus nie
Schon im März 1946 prägte Winston Churchill das als ein taugliches politisch-wissenschaftliches Ge-
Wort des ›Eisernen Vorhangs‹, der sich quer durch schichtsmodell verstand, sondern als Religion be-
Europa ziehe. Die oberste politische Maxime der USA zeichnete, nahm er in seinem Werk mehrheitlich die
war die Eindämmung der weltweiten Ausbreitung des Position eines Diagnostikers und Beobachters der Dy-
Kommunismus. Immer wieder kam es zu Stellvertre- namiken der beiden Systeme und ihrer Konfrontation
terkriegen mit riesigen Verlusten – der größte 1953 in ein. In Der Besuch der alten Dame schrieb er ein
Korea, bei dem mehrere Millionen Menschen dem Gleichnis auf die Dominanz des Geldes, das im Osten
Machtkampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus teilweise als ›Totentanz des Kapitalismus‹ begrüßt
zum Opfer fielen. Bereits dieser Krieg drohte zum wurde; in Der Sturz stellte er auf der andern Seite den
neuen Weltkrieg zu eskalieren. Dürrenmatt schrieb selbstbezogenen politischen Leerlauf eines totalitären
vor diesem Hintergrund sein Hörspiel Der Prozeß um Herrschaftskollektivs dar, was zum Verbot des Textes
des Esels Schatten, bei dem die Stadt Abdera – stellver- in den sozialistischen Ländern führte; im Monster-
tretend für die Welt – einem zunächst lächerlichen vortrag über Gerechtigkeit und Recht schließlich ana-
Streit zwischen einem Eselvermieter und -mieter zum lysierte er aus distanzierter Perspektive die politischen
Opfer fällt und schließlich von den Bewohnern in Systeme zwischen den Polen Freiheit und Gerechtig-
Brand gesetzt wird. keit als ›bürgerliches Wolfs-‹ und sozialistisches ›Gu-
1956 und 1962 drohte der Kalte Krieg erneut zu es- te-Hirte-Spiel‹.
kalieren, 1956 mit dem (von der Sowjetunion und ih- Der Rüstungswettkampf stand auch im Hinter-
ren Verbündeten brutal niedergeschlagenen) Ungarn- grund des Wettlaufs um die Eroberung des Welt-
aufstand und der Suezkrise, 1962 mit der Stationie- raums, der Dürrenmatt ebenso faszinierte, wie er ihn
3  Politisch-kulturelle Kontexte 23

– gerade angesichts der weltweiten Bevölkerungs- Sowjetunion in Prag 1968 zwanzig Jahre lang gewei-
explosion – als neue »Verführung des Menschen« gert hatte, nach Russland zu reisen. Er starb ein Jahr
skeptisch stimmte: »Daß der Papst im gleichen Jahre, nach dem Fall der Berliner Mauer, keineswegs eupho-
da er vor dem Bildschirm die Mondlandung segnete, risch das Ende der Geschichte erwartend wie der da-
die Pille verbot, symbolisiert die Katastrophe, der wir, malige Trend-Philosoph Francis Fukuyama: Dürren-
schneller als den Sternen, entgegeneilen« (WA 33, matt machte sich Sorgen über das explosive Potential
31 f.). Der Himmel verführte, »ihn zu erobern, statt der deutschen Wiedervereinigung, wies auf die Ge-
das, was uns allein gehört, vernünftig zu gestalten: un- fahren des religiösen Fundamentalismus hin, war
sere Erde. Es gibt keine andere Heimat, und jeder skeptisch gegenüber der Euphorie des Triumphs des
Fluchtversuch ist eine Utopie. Der Weltraumflug hat liberalen Westens angesichts der ökologischen Risi-
nur dann einen Sinn, wenn wir durch ihn die Erde ken. Er glaubte auch jetzt nicht an einen kontinuierli-
entdecken und damit uns selber. Am 20. Juli 1969 bin chen Fortschritt der politischen Aufklärung. Gab es
ich wieder ein Ptolemäer geworden« (32). für ihn in Technik und Naturwissenschaft eine un-
Dürrenmatt machte sich zunehmend Sorgen um umkehrbare und unaufhaltsame Entwicklungsdyna-
die Ressourcenverschwendung und Umweltzerstö- mik – »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr
rung in einer ›Risikogesellschaft‹ (Ulrich Beck). Plas- zurückgenommen werden« (WA 7, 85) –, so blieb für
tisch schildert er etwa die Leerung eines Tankwagens ihn das politische Geschehen eher von Zyklen wech-
in der idyllisch gelegenen Deponie in einem Stein- selnder Machtkonstellationen geprägt, die mehr oder
bruch am Jurahang oberhalb seines Hauses: »Es war, weniger große Oasen der friedlichen Koexistenz und
als ob ein Dinosaurier an Durchfall litte: Die Scheiße Lebensorganisation ermöglichten. Auch in seiner
prasselte in einen schwarzen öligen See, besät mit Plas- letzten Rede, einen Monat vor seinem Tod gehalten,
tikflaschen. [...] Was die Straßenarbeiter aus der Kana- blieb sein Grundton apokalyptisch: »[W]ie das Weltall
lisation oder aus den Senklöchern pumpten, kam in expandiert auch die Menschheit, in absehbarer Zeit
dieses anrüchige Riesenloch hinein, [...] früher auch wird sie zehn Millarden [sic] Menschen zählen. Wir
die Heizölrückstände, die noch jetzt nicht versickert bauen uns eine technische und ökologische Katastro-
waren. Langsam sinterte diese dunkle Dreckbrühe phenwelt auf. Die Galaxis der Armut droht die unsere
zwischen den Felsschichten hinab, auf denen weiter des Wohlstands zu durchdringen, die freie Marktwirt-
unten mein Wohn- und Arbeitshaus standen, und fraß schaft beschwört Krisen herauf [...]. Aber eine furcht-
sich dem See entgegen, an dessen Steinhängen und lose Vernunft ist das einzige, was uns in der Zukunft
aufgeschütteten Ufern die Stadt liegt« (WA 36, 53). zur Verfügung steht, diese möglicherweise zu beste-
Die bipolare Konstellation des Kalten Krieges steht hen, uns [...] am eigenen Schopfe aus dem Untergang
auch noch im Hintergrund von Dürrenmatts letztem zu ziehen« (WA 36, 208 f.).
Stück, Achterloo, wo er angesichts der polnischen
Konflikte 1981 um die Gewerkschaft Solidarnóscz Literatur
Burkard, Martin: Dürrenmatt und das Absurde. Gestalt und
und der Ausrufung des Kriegsrechts die Frage nach Wandlung des Labyrinthischen in seinem Werk. Bern u. a.
dem richtigen politischen Handeln stellt. Er verfolgte 1991.
das weltpolitische Geschehen aufmerksam und nahm Centre Dürrenmatt Neûchatel (Hg.): Phantasie der Wissen-
im Kontext der in den Weltraum führenden US-ame- schaften. L ’ imaginaire des sciences. Neuchâtel 2017
rikanischen Rüstungsprogramme der 1980er Jahre an (Cahier 15).
Fischer, Michael: »Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das
Fernsehdiskussionen über deren Risiken teil. Die
Rauchen nicht verboten ist.« Friedrich Dürrenmatts poli-
Konstellation der Supermächte löste sich gegen Ende tisches Denken im Kalten Krieg. Diss. Universität Lau-
der 1980er Jahre auf. Dürrenmatt begrüßte die Ent- sanne 2020.
wicklungen in der Sowjetunion unter Michail Gorbat-
schow, nachdem er sich nach dem Einmarsch der Ulrich Weber
24 I  Biografie und Kontexte

4 Freundschaften spielern und Regisseuren (s. Kap. 5), doch war er –


sieht man von der Freundschaft mit Max Frisch ab –
Dürrenmatt war ein sehr geselliger Mensch, der mit nicht sonderlich erpicht auf Freundschaften mit Auto-
seinem Humor, seiner Gemütlichkeit, seinem Charis- renkollegen. Es blieb mehrheitlich bei sporadischen
ma und seiner Erzählfreude ein gern gesehener Gast freundschaftlichen Kontakten (Paul Celan, Eugène
und ein großzügiger Gastgeber war. Zu seinen Ge- Ionesco, Carlos Fuentes, Arthur Miller oder Günter
burtstagen und zum Schweizer Nationalfeiertag am Grass) oder eher distanzierten Gelegenheitsbegeg-
1.  August pflegte er stets Gäste um sich zu scharen. nungen (Bertolt Brecht, Samuel Beckett oder Jean-
Doch auch der Alltag in Neuchâtel mit Frau und drei Paul Sartre). Auch wenn er einzelne Freundschaften
Kindern war in den 1950er und 1960er Jahren kaum je zu Schweizer Autoren pflegte (s. Kap. 7), Ludwig Hohl
von Kleinfamilienatmosphäre geprägt: Ständig waren und Paul Nizon finanziell unterstütze und ein paar
Gäste da, Schauspielerinnen und Schauspieler, Regis- Jahre in intensivem Kontakt mit dem israelischen Au-
seure, Komponisten, Übersetzerinnen und Übersetzer, tor Tuvia Rübner stand (vgl. ebd., 428–433), blieb
Journalistinnen und Journalisten. Dürrenmatt war Dürrenmatt im Literaturbereich ein Einzelgänger. Die
stets offen dafür, die beruflich bedingten Begegnungen Gründe, weshalb er keine weitläufigen Dichterfreund-
in gesellige Abende mit nächtelangen Diskussionen schaften pflegte, sind leicht am Charakter seiner (sel-
ausufern zu lassen. Auch wenn es in den 1970er und tenen) Briefe abzulesen: Er war zu sehr in seinen eige-
1980er Jahren ruhiger um ihn wurde und Gefühle von nen Kosmos verstrickt, zu sehr auf sein eigenes Schaf-
Einsamkeit aufkamen, gab es immer noch solche fen bezogen, um sich gedanklich wirklich auf einen
Abende. Der Publizist Heinz Ludwig Arnold erinnert Dialog mit anderen zeitgenössischen Autoren ein-
sich etwa, wie er mühsam, mit Verzögerung und Hart- zulassen.
näckigkeit am 7.3.1973 um 15 Uhr zu einem ersten In- Etwas anders sah die Sache bei bildenden Künst-
terviewtermin kam. Kaum hatte er jedoch diese hohe lerinnen und Künstlern aus. Die Begegnung mit dem
Hürde überwunden, war Dürrenmatt sehr offen: Die Maler Walter Jonas war 1942/43 ein entscheidender
beiden kamen spontan ins Gespräch, Dürrenmatt ins Impuls für seine Entwicklung. Eng war die Freund-
Erzählen, ohne Rücksicht auf das Tonband. »In diesem schaft mit der Textilkünstlerin Elsi Giauque, als die
Gespräch erlebte ich Dürrenmatt zum ersten Male, Familie von 1949–1952 bei ihr auf der ›Festi‹ Ligerz
und gleich so unverstellt, ohne eine Rolle nach außen, wohnte. Dürrenmatt, der selbst eine Vielzahl von kari-
dem Interviewer gegenüber [...]. Als es draußen schon katuristischen Zeichnungen herstellte, war ein Lieb-
dämmerte, begannen wir endlich, auf Band zu spre- haber von Cartoons, und so schrieb er auch Geleit-
chen, um wenigstens noch etwas zu ›arbeiten‹ [...]. texte zu Cartoon-Büchern im Diogenes Verlag und
Aber die Pflicht allein trieb mich nicht mehr sonder- freundete sich dabei – vermittelt durch Verleger Da-
lich an« (Arnold 1998, 10–13). Das Gespräch wurde niel Keel – mit Paul Flora und Tomi Ungerer an. Er
gegen Abend durch einen Termin mit Dürrenmatts verkehrte mit dem Bildhauer Hans Aeschbacher und
Anwalt Horace Mastronardi unterbrochen, man traf schrieb auf der Grundlage von persönlichen Begeg-
sich anschließend zu dritt wieder im Restaurant zum nungen über Künstler wie Hans Falk, Eric Fischer und
Abendessen. Nachdem sich Mastronardi verabschie- Jef Verheyen. Geradezu eine Wahlverwandtschaft ver-
det hatte, wurde das Gespräch bei altem Wein bei Dür- band ihn mit dem Maler Varlin (Willy Guggenheim,
renmatt zuhause weitergeführt bis in die frühen Mor- 1900–1977), den er 1962 kennenlernte. Er sammelte
genstunden hinein. »Immer mehr erscheint mir vieles dessen Bilder – allen voran die Heilsarmee, ein monu-
an Dürrenmatt als das, was landläufig ›barock‹ heißt: mentales Bild von sieben Metern Breite, das zwanzig
die Figur, die Freude am Essen und Trinken; wie sich Jahre lang die Wand neben Dürrenmatts Schreibtisch
herausstellen wird: an ausschweifenden Gesprächen; einnahm. Er fühlte sich Varlins Werk, in dem er ein
überhaupt am Auskosten, Zur-Neige-Trinken« (zit. ebenso humorvolles wie ungeschöntes individualisti-
nach Weber 2020, 413). Zahlreiche Zeugnisse anderer sches Existenzverständnis verkörpert sah, zutiefst ver-
passen zu dieser Schilderung; auch die erste Begeg- bunden und flocht es wiederholt in eigene Fiktionen
nung Dürrenmatts mit seiner zweiten Frau Charlotte ein (Der Winterkrieg in Tibet, Der Auftrag). Er ließ sich
Kerr in der Wohnung von Maximilian Schell verlief auch wiederholt von Varlin porträtieren, schrieb meh-
ähnlich endlos (vgl. ebd., 490 f.). rere Aufsätze für Ausstellungskataloge und Werk-
Dürrenmatt hatte von seinen ersten Bühnenerfah- monografien und ließ sich die kleinen, sarkastischen
rungen 1947 bis ca. 1970 viele Freunde unter Schau- Bosheiten Varlins gefallen.

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_4
4 Freundschaften 25

Waren die Kontakte zu seinen Berufskollegen eher ehrung diese einfachsten Leute, Zeitungsverkäufer
die Ausnahme, so war der Berufskreis der – mehrheit- und Straßenhändler, über Dürrenmatt reden. Sie
lich männlichen, in der Schweiz ansässigen – Per- scheinen ihn alle zu kennen und grüßen ihn mit Freu-
sonen, mit denen Dürrenmatt phasenweise oder län- de, wenn er mit seinem Hund durch die Straßen
gerfristig lockeren oder intensiven freundschaftlichen walzt« (zit. nach Weber 2020, 104).
Umgang pflegte, umso weiter: Angefangen mit frühen Die Kehrseite der intensiven Freundschaftspflege
Freundschaften zum Altphilologen Eduard Wyss, den und Geselligkeit war, dass sie oft Kränkungen und
Germanisten Bernhard Böschenstein und Walter Verletzungen hinterließ, wenn Dürrenmatt – stets
Muschg, der Musikerin Antoinette Vischer, dem His- sein Werk als wichtigste Lebensaufgabe vor Augen –
toriker Markus Kutter und dem Biochemiker Hans schwieg oder sich zurückzog. Der Komponist Gott-
Noll sowie dessen Bruder, dem Rechtswissenschaftler fried von Einem beispielsweise, mit dem Dürrenmatt
Peter Noll, ergibt sich ein breiter gesellschaftlicher Fä- für die Oper Der Besuch der alten Dame zusammen-
cher; es folgen der Physiker Marc Eichelberg und der arbeitete und von dem über 70 Briefe im Nachlass zu
Astronom Fritz Zwicky, Regisseure wie Hubert Gi- finden sind, beklagt, dass Dürrenmatt nie schriftlich
gnoux und Erich Holliger sowie dessen Bruder, der geantwortet und nur selten zum Telefon gegriffen habe.
Musiker und Komponist Heinz Holliger, weiter der Und bei Umbrüchen in seinem Leben – etwa nach
Rocker ›Tino‹ (Martin Schipper), Filmemacher wie Abbruch des Studiums 1946 und der Wiederheirat
Erwin Leiser, Maximilian Schell und Ludy Kessler, der 1984 – ließ Dürrenmatt ganze Freundeskreise hinter
Wirt und Kunstsammler Hans Liechti, der Historiker sich. Trotzdem hielten sich einige Freundschaften
Jean Rudolf von Salis, der Kunstkritiker Manuel Gas- über die Jahrzehnte: Seine letzte geplante Weltreise
ser, die eigenen Anwälte Horace Mastronardi und Pe- sollte auch zu Hans Noll nach Hawaii führen, mit dem
ter Nobel, der Jurist Veit Wyler, die Verleger Peter er seit der Studienzeit verbunden war. Und noch den
Schifferli und Daniel Keel, Dürrenmatts Vertrauens- letzten Abend am 13.12.1990 verbrachte Dürrenmatt
arzt Fred Schertenleib, der Unternehmer François in schier endlosen Gesprächen mit seinem alten Phy-
Loeb, der Psychiater Otto Riggenbach und der Philo- sikerfreund Marc Eichelberg, den er 1954 kennenlern-
soph Samuel Gagnebin – und viele nicht näher be- te (vgl. ebd., 573–576).
zeugte Freundschaften lassen sich erahnen, wenn wie-
der ein Manuskript oder eine Zeichnung aus Privat- Literatur
Arnold, Heinz Ludwig: Querfahrt mit Friedrich Dürren-
besitz auftaucht, die Dürrenmatt einst verschenkt hat-
matt. Aufsätze und Vorträge. Zürich 1998.
te. Die schmale Korrespondenz steht in keinem Loetscher, Hugo: Friedrich Dürrenmatt – labyrinthische
Verhältnis zu seinem schier unüberblickbaren Freun- Erinnerungen. In: Ders.: Lesen statt klettern. Aufsätze zur
deskreis; er schrieb ungern Briefe, die ihm keineswegs literarischen Schweiz. Zürich 2003, 282–375.
leicht aus der Feder flossen. Sein Medium der Freund- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
schaft war das Gespräch. Wenn die hier skizzierte Pa- Biographie. Zürich 2011, 293–307, 355–360, 437–443,
628–630.
lette sich auf akademisch ausgebildete Personen kon- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
zentriert, so hatte Dürrenmatt als Kneipengänger vor Zürich 2020.
allem in den frühen Jahren auch stets einen guten
Draht zu Handwerkern und Bauern. Und Hans Noll Ulrich Weber
beschreibt 1948 in Basel, »mit welcher Liebe und Ver-
26 I  Biografie und Kontexte

5 Theater »An ihre Stelle muß die Intensität treten« (ebd.). War
die Arbeit am Schauspielhaus Zürich stets von gro-
Zu Beginn seiner Karriere wechselte Dürrenmatt zwi- ßem Zeitdruck und viel Improvisation geprägt, so er-
schen den Theatern in Basel und Zürich hin und her, lebte Dürrenmatt mit der Inszenierung von The Visit,
die einerseits personell eng verflochten waren, ande- der englischsprachigen Bearbeitung des Besuchs der
rerseits in einem Konkurrenzverhältnis standen. alten Dame, in der Inszenierung von Peter Brook ein
Wichtiger war die Tatsache, dass Kurt Horwitz, der ganz anderes Modell: einen Perfektionismus des ab-
nach Jahren am Zürcher Schauspielhaus seit 1946 das gesicherten Publikumserfolgs, wie er im deutschen
Theater Basel leitete, die Förderung des jungen Dra- Sprachraum zu dieser Zeit nicht existierte. Eine Pro-
matikers zu seiner persönlichen Sache machte. Nach- duktionsfirma leitete das Unternehmen, ganze Tour-
dem die Ablehnung seines vierten Stücks, Die Ehe des neen durch den angelsächsischen Sprachraum fanden
Herrn Mississippi, zu einer Krise zwischen Horwitz statt, bevor das Stück am Broadway in New York Pre-
und Dürrenmatt führte, fand der Autor – vermittelt miere hatte.
durch den Bühnenbildner Teo Otto – 1952 mit dem Theaterstücke zu schreiben, war für Dürrenmatt
Intendanten Hans Schweikart an den Münchner nicht eine rein literarische Tätigkeit, sondern ein
Kammerspielen einen Regisseur, der über anderthalb kollektiver Prozess: »Malt ein Maler für die Farbe?
Jahrzehnte jedes neue Stück selbst inszenierte, als Ur- Er malt, weil es Farben gibt. Die Farben sind seine
aufführung oder deutsche Erstaufführung. Trotzdem Möglichkeit, sich auszudrücken. Ich schreibe, weil es
blieb Dürrenmatt gegenüber Schweikart auf Distanz, Schauspieler gibt, weil die Schauspieler meine Mög-
zumal er sich bereits durch dessen zweite Inszenie- lichkeit sind, mich auszudrücken. [...] Ein Schauspie-
rung, Ein Engel kommt nach Babylon, völlig missver- ler ist mehr als ein Rollenträger, er ist ein Mensch auf
standen fühlte. Spätestens mit Der Besuch der alten der Bühne. [...] Die Bühne ist durch den Schauspieler
Dame fand Dürrenmatt am Schauspielhaus Zürich ei- mehr als Literatur« (WA 30, 141 f.). Diese Worte
ne feste Theaterheimat. Die Arbeit mit Schauspiele- schrieb Dürrenmatt 1967, in einer Zeit, als ihm die
rinnen und Schauspielern wie Therese Giehse, Maria Heimat am Schauspielhaus Zürich allmählich abhan-
Becker, Ernst Schröder oder Gustav Knuth, die Dis- den gekommen war.
kussion mit Schauspieler-Regisseuren wie Horwitz Nach der kontinuierlichen Auflösung des alten En-
(der später als Gastregisseur und -schauspieler nach sembles am Schauspielhaus Zürich erlebte Dürrenmatt
Zürich zurückkehrte), Ernst Ginsberg und Leonard 1968/69 noch einmal ein Jahr intensivster Theater-
Steckel, mit dem Bühnenbildner Teo Otto und im arbeit am Basler Theater in Co-Direktion mit Werner
Hintergrund mit dem Chefdramaturgen und späte- Düggelin. »Wenn man älter wird, sucht man ein Zu-
ren Direktor Kurt Hirschfeld waren für ihn ein ele- hause, und ein Theater ist eben ein Zuhausesein« (zit.
mentarer Bestandteil seiner kreativen Arbeit. Für nach Weber 2020, 323), erklärte er in einem Interview.
Dürrenmatt war dieser enge Kontakt, der ihm bei der Es waren für ihn glückliche Monate. War bereits König
Realisierung viel Spielraum und Mitsprachemöglich- Johann das Resultat enger Zusammenarbeit mit Regis-
keit bot, existentiell. Er konnte, wie er immer wieder seur Düggelin und seinem Team, so entstand die To-
erklärte, ein Stück nicht in eine gültige Form bringen, tentanz-Bearbeitung Play Strindberg – Dürrenmatts
ohne es auf der Bühne zu sehen. In der Regel gab er letzter großer Theatererfolg – gar ohne festen Text. Aus
vor Probenbeginn eine erste provisorische Fassung ab einer geplanten Strindberg-Inszenierung wurde im di-
und erschrieb sich die gültige Version – insbesondere rekten Austausch mit der Darstellerin und den zwei
den Schluss seiner Stücke – erst im Verlauf der Pro- Darstellern und dem Co-Regisseur zugleich Inszenie-
benarbeit. Die Arbeit an den jeweiligen Stoffen ging rung und Stücktext erarbeitet (vgl. Holliger 1996).
jedoch über die Uraufführung hinaus, er reagierte auf Nach dem Eklat in Basel (s. Kap. 1) hatte Dürren-
die Wirkung der aufgeführten Fassung und bearbei- matt zwar bald darauf wieder eine Art ›Heimbühne‹
tete sie oft erneut für die Buchpublikation und weitere am Schauspielhaus Zürich (bis 1983 mit Achterloo),
Aufführungen (für die wiederum das Schauspielhaus inszenierte dort mehrfach und stand gar als Direktor
Zürich Hand bot). Insofern war die Inszenierung in zur Diskussion, doch fehlte ihm dort die feste ›Fami-
den Entstehungsprozess der Stücke einbezogen. Das lie‹ mit Regisseuren und Schauspielern, die sich kon-
Schauspielhaus Zürich verstand er – mit seinen zwan- tinuierlich auf seine neuen Werke einließen. Es war je-
zig Premieren pro Saison – als »schnell atmende Büh- doch nicht nur das Fehlen eines eigenen Ensembles,
ne« (WA 30, 19), bei der Perfektion unmöglich sei. das ihm nun den Zugang zur Bühne und die Ausarbei-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_5
5 Theater 27

tung seiner Stücke erschwerte: Die Theaterszene hatte Theater [s]einer Einbildungskraft« (WA 15, 14) oder
sich in den 1960er Jahren so grundsätzlich weiterent- tingelte, wie im Fall der Komödienfassung von Die
wickelt und verwandelt, dass Dürrenmatt trotz aller Panne (1979), mit einem Tourneetheater durchaus er-
Experimente mit neuen Stücken nicht mehr den An- folgreich durch die Provinz.
schluss fand.
Mit dem Dokumentartheater und einer Politisie- Literatur
Amrein, Ursula: Irritation Theater. Max Frisch und das
rung in revolutionärem Geist entfernte sich das Schauspielhaus Zürich. Zürich 2013.
deutschsprachige Theater schon um 1968 von Dür- Holliger, Erich: Wie viele Runden hat ein Boxkampf? Erich
renmatts Parabeln. Als Theaterautor, der sich mit sei- Holliger im Gespräch mit Ernst Buchmüller. In: Play Dür-
nen Stücken in kritisch-parodistischer Abgrenzung renmatt. Zürich 1996, 228–230.
von dramatischer Komposition und Fabel leiten ließ, Kröger, Ute/Exinger, Peter: »In welchen Zeiten leben wir?«
Das Schauspielhaus Zürich 1938–1998. Zürich 1998.
hatte er in den Entwicklungen des postdramatischen
Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
und regiezentrierten Theaters, die ab Ende der 1960er Biographie. Zürich 2011, 682–707.
Jahre zunehmend das Theaterleben im deutschen Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Sprachraum prägten, keinen Platz mehr. So schrieb er Zürich 2020, 181 f., 329–344, 447–451.
seine Stücke, wie er in der Einleitung zu Die Frist
Ulrich Weber
(1977) notiert, »für eine imaginäre Bühne«, »für das
28 I  Biografie und Kontexte

6 Verlage die beiden Bärlach-Kriminalromane, nicht bei Arche.


Als Taschenbücher wurden sie ab 1959 bei Rowohlt zu
Dürrenmatts literarische Karriere als Buchautor wur- millionenfach verkauften Longsellern. Die übrigen
de weitgehend durch Schweizer Verlage geprägt: Die Werke erschienen bis 1978 hingegen praktisch aus-
ersten sieben Buchpublikationen bis 1952 erschienen nahmslos bei Arche.
in sieben verschiedenen Kleinverlagen. Dazu brachte Bei allen Mängeln wie dem Fehlen eines Lektorats
der Basler Theaterverlag Reiss (bzw. in Deutschland und der Unerfahrenheit des Verlegers war der Arche
Bloch Erben) von Anfang an sämtliche Theatertexte Verlag in den frühen 1950er Jahren eine gute Wahl.
für den Bühnengebrauch in Umlauf. Schifferli wurde zu einem der innovativsten Verleger
Ab 1952 wurde der Arche Verlag zu Dürrenmatts im deutschen Sprachraum, er brachte mit Neueditio-
Hausverlag, 1979 wechselte er zum Diogenes Verlag. nen und Anthologien die Dada-Bewegung und Ex-
Dürrenmatt wurde zwar immer wieder von deutschen pressionisten wie Jakob van Hoddis oder Walter Meh-
Verlegern umworben, doch war ihm die räumliche ring wieder ins Gespräch. Neben den Theaterwerken
und menschliche Nähe wichtig; er gewichtete sie hö- und Romanen Dürrenmatts druckte er in schmucken
her als den Nachteil des teilweise erschwerten Zu- Bänden der Reihe Die kleinen Bücher der Arche – oft il-
gangs zum deutschen Markt. lustriert – auch Dürrenmatts Hörspiele, Erzählungen
Der Arche Verlag war 1944 vom Studenten Peter und Reden.
Schifferli in Zürich gegründet worden und verstand Die 1960er Jahre waren für Dürrenmatt eine der-
sich durchaus als Rettungsboot für deutsche Autoren art intensive Theaterzeit, dass er sich nur am Rande um
zur Zeit des Zusammenbruchs des Nationalsozialis- Fragen der Buchpublikationen, geschweige denn ih-
mus und des Neubeginns des Verlagswesens: Er profi- res Lektorats und Vertriebs, kümmerte. Doch in den
lierte sich rasch mit der Publikation von Autoren der 1970er Jahren, als er als Dramatiker aus der Mode kam,
sogenannten inneren Emigration wie Werner Bergen- mit Aufführungen kaum mehr Aufmerksamkeit er-
gruen, Ernst Wiechert und Gottfried Benn. Dem Logo zeugte und die Aufführungstantiemen weniger reich-
des Verlags entsprechend – ein Schiff, dessen Mast ein lich flossen, spitzte sich die Situation zu: Dürrenmatt
Doppelkreuz bildet – wies das Programm in den ers- konstatierte im Dezember 1973: »Ich lebe zum größten
ten Jahren eine starke religiöse Tendenz auf; so er- Teil von meinen alten Arbeiten. [...] Was meine Bücher
schienen auch theologische Texte von Hans Urs von betrifft, bin ich noch nie offiziell auf einer deutschen
Balthasar, Thomas von Aquin und Kardinal John Hen- Bestsellerliste gewesen. Daher erstaunt es mich eigent-
ry Newman. lich, was ich mit meinen Büchern verdiene, besonders
Der Erzählband Die Stadt, der 1952 als Dürren- wenn ich bedenke, wie wenig meine letzten Werke [...]
matts erstes Buch beim Arche Verlag erschien, passt in besprochen worden sind« (ebd., 105).
weitem Sinn in dieses religiöse Umfeld. Die Erzählun- Es war gewiss nicht zuletzt die Passivität Schifferlis
gen Weihnacht und Pilatus bilden dessen Anfangs- bei der Promotion im Buchhandel, die dazu beitrug,
und Endtext. Allerdings war Dürrenmatts Entschei- dass auch für Dürrenmatt so kapitale Werke wie die
dung für diesen Verlag nicht dem religiösen Kontext, Zusammenhänge (1975) und der Mitmacher-Komplex
sondern freundschaftlichen Kontakten geschuldet: (1976) fast unbemerkt von der Öffentlichkeit erschie-
Kurt Horwitz, der selbst bei Arche eine Anthologie nen. In der Arche-Abrechnung für die erste Jahreshälf-
von Georg Trakl-Gedichten herausgab, wies Schifferli te 1978 vom 1.9.1978 figurieren zwar beispielsweise
auf seinen Protegé Dürrenmatt hin. Dieser erzählte 25.058 verkaufte Exemplare von Der Besuch der alten
1973 im Rückblick: Schifferli »war ein Anfänger, und Dame und 29.395 von Die Physiker, die in der Zwi-
ich war einer. Ich erinnere mich noch an einen Nach- schenzeit zum Lektürekanon der Mittelschulen gehör-
mittag in einem Gartenrestaurant. Er besaß die Mittel ten, aber nur 855 vom jüngsten Stück Die Frist (1977)
nicht, mir einen Vorschuß zu geben, den ich dringend und 487 vom Mitmacher-Komplex. Der keine drei Jah-
benötigte. Deshalb beschlossen wir, meine Kriminal- re zuvor publizierte große Israel-Essay Zusammenhän-
romane bei Benziger herauszugeben. Danach bin ich ge verkaufte sich in dieser Periode gerade 172 Mal (vgl.
endgültig beim Arche Verlag geblieben. Peter Schiffer- Weber 2015, 118, Anm. 32). Der Arche Verlag ent-
li hat immer alles gedruckt, was ich schrieb, manch- wickelte kaum Aktivitäten in Marketing und Verkauf
mal vielleicht etwas voreilig. Probleme gab es zwi- in Deutschland; es fehlte an Vertretern und weit-
schen uns nie« (G 2, 104). So erschienen ausgerechnet gehend auch an Werbung für den Autor. Dürrenmatt
zwei der erfolgreichsten Publikationen Dürrenmatts, musste zunehmend den Eindruck gewinnen, dass sich

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6 Verlage 29

der Verlag mit den alten Erfolgsstücken auf seine Kos- stieg: 1981 wurden von rund 50 Mitarbeitenden 169
ten über Wasser hielt. (Als Regina Vitali und Elisabeth neue Titel produziert. Beim Arche Verlag waren es in
Raabe den Arche Verlag wenige Jahre nach Dürren- den Jahren um 1980 jeweils gut zwanzig Titel.
matts Abgang übernahmen, konnten sie in kurzer Zeit 1980 unterzeichnete Dürrenmatt einen General-
die Präsenz im deutschen Buchhandel um 80 Prozent vertrag, der Diogenes die ausschließlichen Rechte an
erhöhen.) seinem neu entstehenden Werk gegen eine höhere
Zwischen 1978 und 1980 wechselte Dürrenmatt Tantieme einräumte, die zum Teil, einer Festanstel-
daher in mehreren Etappen zum Diogenes Verlag. Der lung gleichend, monatlich als fixer Vorschuss in der
Kontakt war nicht neu: Schon 1952 hatte der Jungver- Höhe eines gut mittelständischen Lohnes ausbezahlt
leger Daniel Keel Dürrenmatt um ein Vorwort zum wurde. Der Vertrag war auf zehn Jahre angesetzt, der
ersten Diogenes-Buch überhaupt gebeten, Ronald Se- Autor hatte in dieser Zeit nur die Möglichkeit, bei Ein-
arles Cartoon-Band Wem noch das Lämpchen glüht. stellung der Zahlungen den Vertrag zu kündigen, der
Seither war Keel ein Bewunderer Dürrenmatts, hatte Verlag verpflichtete sich seinerseits, alles zu drucken,
1963 den satirischen Bildband Die Heimat im Plakat was Dürrenmatt zu publizieren wünschte.
in bibliophiler Aufmachung publiziert und 1978 – pa- Schon der Start der neuen Bindung war aufsehen-
rallel zu einer Ausstellung in seiner Zürcher Galerie – erregend: Rechtzeitig zu Dürrenmatts 60. Geburtstag
den ersten großen Bildband zum künstlerischem erschien Ende 1980 eine neue Werkausgabe in 30 Bän-
Werk. Dazu druckte Diogenes 1978 Lizenzausgaben den, die formell eine Kooperation von Arche und Dio-
der Kriminalromane Der Richter und sein Henker und genes war, de facto aber vom Diogenes Verlag produ-
Der Verdacht, die Dürrenmatt das Potential dieses ziert wurde. Im Herbst 1981 folgte der erste Band der
Verlags zeigten. So kam es an einem Sonntag im Janu- Stoffe in einer Startauflage von 16.000 Exemplaren, die
ar 1979 zum folgenreichen Telefonanruf bei Keel: rasch verkauft war. Schon vor Jahresende wurde eine
»Wotsch du mi?« (»Willst du mich?«), fragte ihn Dür- zweite Auflage von 6000 Exemplaren gedruckt. Der
renmatt, wie sich Keel erinnert, fast wie bei einem Verlag brachte Dürrenmatt, der in den 1970er Jahren
Heiratsantrag (Kampa 2003, 349). fast vollständig vom deutschsprachigen Buchmarkt
Der Diogenes Verlag war zunächst als Einmann- verschwunden war, wieder ins Gespräch und in die
Unternehmen des Buchhändlers Keel mit vergleich- Buchhandlungen.
barem Improvisationsgeist wie der Arche Verlag in Die exklusive Bindung wurde Schritt für Schritt
Zürich entstanden, entwickelte sich allerdings ganz konsolidiert: 1985 gingen sämtliche älteren Buchrech-
anders. Im beengenden Bildungsklima der 1950er te an Diogenes über. 1986 wurde der alte Generalver-
Jahre prägte Keel seiner Galionsfigur entsprechend ei- trag durch einen neuen ersetzt, der sich auch auf den
ne im wahrsten Sinne kynische Gegenkultur im Ver- Nachlass bezog. Und 1987 übernahm Diogenes den
lag, die sich nicht um den sogenannten guten Ge- Reiss Verlag und damit auch die Bühnenrechte an
schmack und um den Bildungskanon, geschweige Dürrenmatts Werk (vgl. ebd., 352).
denn um Genre-Vorurteile kümmerte. Keel fing mit
Cartoon-Büchern und von Zeitgenossen illustrierten Literatur
Kampa, Daniel: Diogenes. Eine illustrierte Verlagschronik
Klassikern an. Zu ihm gesellte sich bald sein gleichalt-
1952–2002. Zürich 2003.
riger Jugendfreund Rudolf C. Bettschart als pekuniä- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
res Gewissen und Mitverleger. Dieser entwickelte in Biographie. Zürich 2011, 444–453.
den 1960er Jahren genuin marktbezogene Ideen: Die Weber, Ulrich: Von der Arche ins Fass des Diogenes. Dür-
Diogenes Sonderbände fanden Absatz zu Hundert- renmatts Verlagswechsel. In: Irmgard M. Wirtz, Ulrich
tausenden. 1971 wurde mit der Lancierung der Dioge- Weber, Magnus Wieland (Hg.): Literatur – Verlag –
Archiv. Göttingen, Zürich 2015, 109–131.
nes Taschenbücher (detebe) der Grundstein für ein
enormes Wachstum gelegt. Seine maximale Größe er- Ulrich Weber
reichte der Verlag just zur Zeit von Dürrenmatts Ein-
30 I  Biografie und Kontexte

7 Dürrenmatt im Literaturbetrieb Die Verbindung zu Muschg, die sich über die Jahre
freundschaftlich hielt, bedeutete für Friedrich Dürren-
Frühe Jahre und erste Erfolge matt vollends das Ankommen im Literaturbetrieb. Da-
vor waren ihm literarische Kreise verschlossen. Er fand
Meteorhaft tauchte Friedrich Dürrenmatt 1946 in der Gleichgesinnte in kleinen Zirkeln von Studierenden,
Schweizer Literaturszene auf. Erfolglos hatte sich da- so in den Anfängen seines Studiums in Bern um den
vor sein Freund und Mentor, der Altphilologe und Kunsthistoriker und Stefan-George-Verehrer Wilhelm
Gymnasiallehrer Eduard Wyss, ein Patensohn seines Stein oder in seinem Zürcher Studienjahr 1942/43 um
Vaters Reinhold Dürrenmatt, in Zürich um einen Ver- den Maler Walter Jonas. Hier lernte er den ihm noch
lag für seine Prosa bemüht: »Ich stieß an eine Wand, unbekannten Expressionismus kennen und Werke von
das Nein zu dieser Kunst war deutlich« (Rüedi 2011, Georg Heym, Georg Trakl und Franz Kafka.
213). Aber auf dem Intendantenpult von Kurt Horwitz, 1948 zog Dürrenmatt von Basel nach Ligerz in eine
Direktor das Stadttheaters Basel, entdeckte Peter Lotar, kleine Wohnung im Haus seiner Schwiegermutter, ein
Dramaturg im Kurt Reiss Verlag, nach Dürrenmatts Jahr später nach Schernelz. Die geringen Einkünfte
Umzug nach Basel dessen Stück Es steht geschrieben. aus den Theatern ließen ihn Auftragsarbeiten anneh-
Mit diesem ersten Theaterstück kam Dürrenmatt men. Er schrieb (mit wenig Erfolg) Chansons für das
zu seinem Theaterverlag. Für das eigene Haus lehnte Cabaret Cornichon und Theaterkritiken für die Zür-
Horwitz das Stück über die Wiedertäufer im westfäli- cher Wochenzeitung Die Weltwoche. Als einträglich
schen Münster ab, doch er inszenierte im April 1947 erwiesen sich Hörspiele, die er für deutsche Rund-
die Uraufführung am Schauspielhaus Zürich. Sie wur- funkanstalten verfasste: »Mein erster wirklicher Mä-
de zum Skandal. Publikum wie Kritik teilten sich in zen waren die deutschen Rundfunkanstalten, die mir
die zwei Lager der Ablehnung und der Zustimmung. für Hörspiele Preise offerierten, mit denen der Schwei-
Doch Einigkeit herrschte, dass sich hier ein Talent mit zerische Rundfunk nicht konkurrieren konnte« (WA
Wucht und Sprachmacht zu Wort gemeldet habe. 34, 57), erklärte er 1969 in seiner Dankesrede für den
Über das Basler Theater und Horwitz wurde Dür- Berner Literaturpreis.
renmatt mit dem Basler Literaturhistoriker Walter Die beiden Kriminalromane Der Richter und sein
Muschg bekannt, der in jener Zeit an seiner Tragi- Henker und Der Verdacht entstanden 1950 und 1951
schen Literaturgeschichte arbeitete. In einem Brief vom als Fortsetzungsromane für die Zeitschrift Der Schwei-
7.1.1947 stellte sich der Dramatiker vor ihrer ersten zerische Beobachter. Ihr Chefredaktor Max Ras lan-
persönlichen Begegnung als »Sohn eines Landpfar- cierte unter den Abonnenten und Abonnentinnen ei-
rers« vor: »Ich schreibe seit 1942, vorher beschäftigte ne ›Fünfliber-Aktion‹: 112 Beiträger zahlten während
ich mich mit der Malerei. Entscheidend war für mich dreier Jahre monatlich fünf Franken ein, was Dürren-
die Auseinandersetzung mit dem Glauben meines Va- matt zu monatlich 600 Franken verhalf. – Geld, das er
ters, sie bestimmte mich, Philosophie zu studieren. So wie die Honorare für die Kriminalromane dringend
ist meine Bildung eigentlich nicht eine literaturhis- benötigte. Erst mit dem weltweiten Erfolg des Theater-
torische. Ich habe nach drei unglücklichen germanis- stücks Der Besuch der alten Dame von 1956 kam er zu
tischen Semestern bei Strich, Ermatinger und Staiger, Reichtum.
[sic] sieben Semester fast ausschließlich Philosophie
studiert. Nach zehn Semestern verließ ich die Univer-
sität. Dies war 1946. Im gleichen Jahr habe ich auch Dürrenmatt und Frisch
geheiratet und lebe mit meiner Frau in Basel als
Schriftsteller. Es mag an der Richtung meiner Bildung Das erste Stück von 1946, die Komödie Es steht ge-
liegen, dass ich mit der neusten Literatur keinen Kon- schrieben, setzte auch den Anfang der Beziehung zwi-
takt habe. Sie ist mir fremd, und was ich gelesen habe, schen Dürrenmatt und Max Frisch. Frisch, damals be-
ist mir gleichgültig geblieben. Dies soll aber kein reits Autor des Reiss Verlags, las das Stück und schrieb
Werturteil sein, sondern nur eine Angabe der Positi- an Dürrenmatt: »Da ist so vieles, worum ich Sie auf-
on. Jünger hat mich nicht gleichgültig gelassen, doch richtig beneide, und ich hoffe, dass Sie meinen Brief
lehne ich ihn ab. Mit Mann, Wiechert und Bergen- nicht als väterlichen Zuspruch empfinden, als ein
gruen, um ganz verschiedenartige zu nennen, konnte Klopfen auf die Schultern; ich möchte Sie nur wissen
ich nie etwas anfangen. Frisch verstehe ich nicht« lassen, wie sehr ich begeistert bin und überzeugt, dass
(ebd., 297 f.). in Ihnen ein wirklicher Dichter angetreten ist, und ich

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_7
7  Dürrenmatt im Literaturbetrieb 31

beglückwünsche Sie zu Ihrem ersten Stück« (Frisch/ Beziehung zu bedeutenden Schriftstellern ist eigen-
Dürrenmatt 1998, 96). artig, es sind Blitzbeziehungen. So habe ich Thomas
Die Voraussetzungen der beiden waren allerdings Mann nur einmal für einen Moment, für eine Sekunde
gänzlich unterschiedlich. Frisch, zehn Jahre älter als gesehen – er hatte ein Stück von mir besucht, den En-
Dürrenmatt, konnte nach dem Zweiten Weltkrieg – gel, glaube ich. Fast ebenso erging es mir mit Benn, mit
inzwischen hatte er Architektur studiert und mit dem dem ich einmal in einer Lifttür zusammenstieß. Auf
Projekt des Freibads Letzigrund in Zürich ein eigenes einer Reise nach Hamburg habe ich Hans Henny
Büro eröffnet – an seine Anfänge als Schriftsteller und Jahnn einmal flüchtig kennengelernt. Er machte auf
seine journalistischen Arbeiten aus den 1930er Jahren mich einen sehr merkwürdigen, wie soll ich sagen:
anknüpfen und war durch seine drei Romane Jürg froschartigen Eindruck. Zweimal habe ich Brecht ge-
Reinhart (1934), Antwort aus der Stille (1937) und sehen; mit ihm sprach ich sehr ausführlich – über Zi-
J’adore ce qui me brûle (1943), die Blätter aus dem garren« (ebd., 193).
Brotsack (1940) und die Erzählung Bin oder die Reise
nach Peking (1945) bereits bekannt. Dürrenmatt kam
aus dem Nichts. Beziehungen zu weiteren Schriftsteller­
Die Beziehung zwischen Frisch und Dürrenmatt kollegen
kannte ihre Höhen und Tiefen. In einem Entwurf zu
den Stoffen schreibt Dürrenmatt: »Ich muß hier geste- Seit 1952 lebte Dürrenmatt im eigenen Haus hoch
hen, daß ich nie einen getreueren Kollegen gefunden über der Stadt Neuchâtel. Das kam seinem Einzelgän-
habe als Max Frisch, ja, daß ich seitdem es zum Bruch gertum zugute, er lebte in seinem eigenen Kosmos.
gekommen ist – aus Gründen, die ich nie gänzlich be- »Ich bin kein vereinsamter Mensch«, sagte er 1976 zu
griffen habe – ich glaube, es sind in Wirklichkeit unbe- Heinz Ludwig Arnold vor einer Kamera des Nord-
greifbare Gründe, Müdigkeit, Unwille, ständig gegen- deutschen Rundfunks. »Ich bin ein zurückgezogener
einander ausgespielt zu werden, Gründe, die im Klein- Mensch, das ist etwas ganz anderes. Ich bin sehr froh
staatlichen liegen – sei es wie es sei [sic] – daß ich mich über Besuche, ich habe Freude, wenn man mich be-
seitdem in einer vollkommenen Einsamkeit befinde, sucht. Ich könnte nicht in Zürich leben. Ich hätte da
genauer, in einer vollkommenen Vereinzelung, denn zu viele Literaten um mich, ich hätte auch zu viele
einsam kam ich mir immer schon vor« (ebd., 73). Menschen, die ich schätze. Ich sehe sie lieber einmal
In einem letzten Brief, 1986 zu Frischs 75. Geburts- im Jahr als jeden Tag. Es ist viel fruchtbarer« (Arnold
tag geschrieben und vom Empfänger nicht mehr be- 1998, 33).
antwortet, zieht Dürrenmatt Bilanz: »Ich habe dich in Zu den Besuchern in seinem Haus über Neuchâtel
Vielem bewundert, Du hast mich in Vielem verwun- zählten auch Paul Celan oder der Verleger Heinrich
dert und verwundet haben wir uns auch gegenseitig. Maria Ledig-Rowohlt, der sich – erfolglos – um Dür-
Jedem seine Narben. Diese Zeilen schreibe ich nicht renmatts Werk bemühte. Beharrlich hielt Dürrenmatt
ohne Nostalgie. Ich habe mich nie sonderlich um die an Peter Schifferli und seinem Arche Verlag fest, auch
Schriftstellerei unserer Zeit gekümmert, du bist seiner wenn der ihm wenig, vor allem kaum Präsenz auf dem
Zeit einer der wenigen gewesen, die mich beschäftigt deutschen Buchmarkt, nur bescheidene Werbung und
haben – ernsthaft beschäftigt wohl der Einzige. Als ei- nicht einmal ein Lektorat bieten konnte. Seit 1976
ner, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt übernahm es Arnold, dem Autor als freundschaftlich
macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu verbundener Lektor zur Seite zu stehen. 1979 wurde
seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schrei- dann Daniel Keel von Diogenes Dürrenmatts Verleger.
bens vorgekommen« (ebd., 166). Anders als Frisch war Dürrenmatt keiner, der Au-
Auf Dieter Fringelis Frage nach seinem Verhältnis torenkollegen um sich versammelte, auch keiner, der
zu Kollegen und Schriftstellerfreunden antwortete als väterlicher Freund und Förderer mit der nachfol-
Dürrenmatt 1977: »[I]ch war sehr lange mit Frisch in genden Generation im Austausch stand. Hugo Loet-
engem Kontakt. Natürlich kenne ich auch andere scher, der unter den zeitgenössischen Schriftstellern
Schweizer Schriftsteller. Aber ich bin eigentlich ein Dürrenmatt als Freund wohl am nächsten stand, for-
Mensch, der persönlich mehr mit Menschen verkehrt, mulierte es so: »Frisch suchte Jünger, Dürrenmatt hielt
die nichts mit Literatur zu tun haben, mit einigen Phy- Hof« (2003, 321).
sikern etwa, mit Malern auch, mit Ärzten« (G 2, 194). Dürrenmatt verschloss sich nicht, wenn es galt,
Im selben Gespräch erklärte er: »Meine persönliche Kollegen zu unterstützen. So etwa Paul Nizon: »Ein
32 I  Biografie und Kontexte

Jahr lang hatte mich Dürrenmatt unterstützt, was ich spiegeln auch die Preise und Auszeichnungen: Schon
einem Freund verdankte, der meine Mittellosigkeit sein erstes Stück, Es steht geschrieben, wurde mit dem
gesehen und ihn um Hilfe für mich gebeten hatte« Welti-Preis für das Drama ausgezeichnet, doch den
(Nizon 2017, 33). Über Jahre bezahlte Dürrenmatt die wichtigen Büchner Preis erhielt Dürrenmatt erst vier-
Telefonrechnungen von Ludwig Hohl. Solche Gesten zig Jahre später (1986). Das machten all die kleineren
geschahen im Verborgenen, und wenig Aufheben Preise, die Ehrendoktorate dazwischen nicht wett. Die
machte Dürrenmatt auch von seinen ideellen Unter- Anerkennung war nie selbstverständlich, und in die
stützungen, der Teilnahme an Aufrufen und Unter- Zustimmung mischte sich immer auch Kritik und Ab-
schriftensammlungen. 1968 organisierte er nach der lehnung.
Niederschlagung des Prager Frühlings durch die In den 1970er Jahren geriet Dürrenmatt zuneh-
Truppen des Warschauer Pakts eine Protestveranstal- mend ins Abseits des Literaturbetriebs und stellte sich
tung mit Max Frisch, Peter Bichsel, Günter Grass und mit seinem öffentlichen Bekenntnis zu Israel trotzig
Kurt Marti am Theater Basel. 1969 äußerte er sich zu gegen den linksintellektuellen Zeitgeist. Nach einigen
den Globus-Krawallen und reichte im selben Jahr den blamablen Theatermisserfolgen (v. a. Der Mitmacher,
Berner Literaturpreis als kulturpolitisches Statement 1973; Die Frist, 1977) wurde er von Theaterkritik und
an den Schriftsteller Sergius Golowin, den Journalis- -regie insbesondere in Deutschland kaum mehr ernst
ten Ignaz Vogel und den Dienstverweigerer und Poli- genommen.
tiker Arthur Villard weiter: »[D]ie Preise kommen, Dem Literaturbetrieb blieb Dürrenmatt im Grunde
wenn man sie nicht mehr braucht. Ich vermag mich sein Leben und Schreiben lang fern und fremd. Er ließ
längst aus eigener Kraft zu ernähren« (WA 34, 57). Die sich nicht eingliedern und kümmerte sich nicht um
Gelegenheit, anstelle des Malers Varlin (Willy Gug- Umkreis und Erwartungen, er blieb der große Einzel-
genheim) 1967 die Dankesrede für den Zürcher ne auf dem Berg. »Ich kann schreiben was ich will«,
Kunstpreis zu halten, nutzte Dürrenmatt zu einer Ant- sagte er in einem seiner letzten Gespräche, »[i]ch spie-
wort auf den Preisträger des Vorjahres, den Germa- le heute in der deutschen Literatur keine große Rolle
nisten und Goethe-Exegeten Emil Staiger, der mit sei- mehr« (G 4, 184).
ner Rede gegen die zeitgenössische Literatur aus der
Kloake und dem Geist des Nihilismus den Zürcher Li- Literatur
Primärtexte
teraturstreit provoziert hatte. Jeder bemühe sich seit
Frisch, Max/Dürrenmatt, Friedrich: Briefwechsel. Hg. von
jener Rede, der unsittlichste Dichter zu sein, dabei ha- Peter Rüedi. Zürich 1998.
be Staiger, dessen Name nicht fällt, niemand anderen
als ihn, Dürrenmatt gemeint. »Die Entfremdung unter Sekundärliteratur
den Dichtern nahm denn auch zu. Die Rede demorali- Arnold, Heinz Ludwig: Querfahrt mit Friedrich Dürren-
sierte sie. Freundschaften gingen in Brüche. Frisch matt. Aufsätze und Vorträge. Zürich 1998.
Loetscher, Hugo: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literari-
und ich verkehren nur noch über unsere Rechtsanwäl- schen Schweiz. Zürich 2003.
te. Wie Diggelmann mit mir verfährt, kann man in der Nizon, Paul: Die Republik Nizon. Eine Biographie in
›neuen presse‹ lesen. Hugo Loetscher behandelt mich Gesprächen, geführt mit Philippe Derivière. Innsbruck,
merklich kühler, vorher standen wir herzlich zueinan- Wien 2017.
der« (WA 32, 165). Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Biographie. Zürich 2011.

Urs Bugmann
Zwischen Annäherung und Ablehnung

Dürrenmatts Verhältnis zum Literaturbetrieb war ei-


ne wechselvolle Abfolge von Annäherung, Teilnahme,
wachsendem Missverständnis und Ablehnung. Das
II Schriftstellerisches Werk
A Frühe Prosa

8 Die Stadt matt ist in jener Zeit die Auseinandersetzung mit dem
Protestantismus von großer Bedeutung: »Ich bin ein
Entstehungs- und Publikationsgeschichte Protestant und protestiere. Ich verzweifle nicht, aber
ich stelle die Verzweiflung dar«, schreibt er im Er-
Die Stadt. Prosa I–IV (1952) ist Dürrenmatts vierte scheinungsjahr 1952 (WA 32, 32; s. Kap. 78).
Buchpublikation und die erste einer langen Reihe Den Auftakt des Bandes bildet der knapp halbseiti-
beim Arche Verlag (Zürich). Die neun Texte entstan- ge Text Weihnacht (verfasst 1942), ein nihilistischer
den zwischen 1942 und 1952. Das Bild des Sisyphos er- Abgesang auf das Christentum, der eine ebenso sinn-
schien zuerst in der Wochenpresse (Dürrenmatt wie wirkungslose Eucharistie erzählt (vgl. Diller
1947), Die Falle in einer kleinen illustrierten Ausgabe 1971). Das Ich geht an Weihnachten über die »weite
unter dem Titel Der Nihilist (Dürrenmatt 1950) und Ebene«, findet das »Christkind« erfroren im Schnee,
Pilatus als limitierter Einzeldruck (Dürrenmatt 1949). isst dessen Heiligenschein, der »wie altes Brot«
Alle anderen Texte wurden 1952 erstmals publiziert. schmeckt, und beißt »ihm den Kopf ab«: »[a]lter Mar-
In den Werkausgaben wurden die Erzählungen in ver- zipan« (WA 19, 11). Mit dem im ähnlichen Duktus
schiedenen Bänden mit anderen frühen Erzählungen kurzer Hauptsätze verfassten Der Folterknecht (ver-
publiziert (WA 19; WA 21); Dürrenmatts Auswahl im fasst 1943), der in Umkehrung des toten Christuskin-
Band Die Stadt wird in der WA nicht wiedergegeben. des aus Weihnacht einen folternden Gott ins Zentrum
stellt, sind es die einzigen Texte, die Dürrenmatt unbe-
arbeitet in den Band aufgenommen hat (vgl. Rüedi
Inhalt und Analyse 2011, 264). Werkgeschichtlich gehören auch Die
Wurst und Der Sohn in diesen Zusammenhang, die
Die neun Erzählungen sind in vier Einheiten geglie- erst 1978 publiziert wurden (vgl. Dürrenmatt 1978).
dert: I. Weihnacht, Der Folterknecht; II. Der Hund, Das Im Fokus der zweiten Gruppierung steht die zum
Bild des Sisyphos, Der Theaterdirektor, Die Falle; III. Scheitern verurteilte Produktion von Kunst. Das Bild
Die Stadt; IV. Der Tunnel, Pilatus. Im knappen Nach- des Sisyphos (verfasst 1945) ist eine düstere Kunst-
wort des Bandes stellt Dürrenmatt die Texte als »Vor- parabel über den Versuch, »aus Nichts Etwas [zu] ma-
feld« der Dramen dar und distanziert sich implizit chen« (WA 19, 55). Die grotesk zugespitzte Geschich-
von diesem Stil, indem er ihn als überwunden dar- te handelt vom Aufstieg und Fall eines Kunstmalers,
stellt (WA 19, 197). Dies mag zur eher stiefmütterli- der durch die Fälschung und den Verkauf eines Ge-
chen Behandlung der Erzählungen beigetragen ha- mäldes von Hieronymus Bosch unermesslich reich
ben, obwohl die Entstehungsdaten nicht in allen Fäl- geworden war und im Versuch, das Gemälde wieder
len vor den Dramen anzusiedeln sind, sondern sich zu erlangen, seinen Reichtum und Verstand verliert.
mit den Bühnenerfolgen überlagern (vgl. Weber Der Theaterdirektor (verfasst 1945) handelt von der
1980, 24–26). Zentrale Motive und Verfahren werden Macht des Theaters sowie der Korrumpierbarkeit der
fortgeführt und sind insbesondere in der späten Pro- Masse und des Einzelnen. Die Falle (verfasst 1946) er-
sa wichtig (vgl. Rüedi 2011, 245; Knapp 1993, 24; Mel- zählt die Geschichte eines gescheiterten Selbstmör-
ton 1973, 26). ders, der zum Mörder wird; erst nachdem er den
Auffällig ist die theologisch-christologische Rah- Mord dem Ich-Erzähler berichtet, den er verfolgt und
mung des Bandes: Er beginnt mit der Erzählung Weih- minutiös »studiert« (WA 19, 75) hat, vollzieht er den
nacht und endet mit Pilatus, ist also nicht chronolo- Suizid. Die die Textgruppe eröffnende Erzählung Der
gisch geordnet (vgl. Weber 1970, 38–42). Für Dürren- Hund (verfasst 1951) stellt einen Prediger ins Zen-

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36 II Schriftstellerisches Werk – A Frühe Prosa

trum, der von einem furchterregenden Hund beglei- keit des Protagonisten zur Handlung verstehen,
tet wird; sie zeichnet ebenfalls das Bild des kompro- schließlich ist die Befreiung aus dem Gefängnis nicht
misslosen Künstlers, der seiner ihn gefährdenden mit Denken zu bewerkstelligen, sondern nur mit dem
›Sendung‹ hartnäckig nachgeht bis in das Verbrechen, Versuch hinauszugehen, dem Kierkegaardschen
den Wahnsinn und den Tod. ›Sprung‹ zur Handlung (vgl. Weber 1980, 200–205).
Die Stadt ist die umfangreichste Erzählung der In dieser Betonung der Handlung spiegelt sich auch
Sammlung und bildet die dritte Abteilung. Sie hat die biografische Situation des jungen Autors Dürren-
auch dadurch, dass sie dem Band seinen Titel gibt, ei- matt, der sein theoretisches Denken in die Praxis der
nen besonderen Status und wird zudem im Nachwort Kunst übersetzt.
hervorgehoben. Dürrenmatt hat die Erzählung bis zur In Der Tunnel (verfasst 1952), der bekanntesten Er-
Publikation 1952 und darüber hinaus immer wieder zählung Dürrenmatts, stürzt ein Zug in einem plötz-
bearbeitet; im Band jedoch ist »im Großen jene [Fas- lich endlos gewordenen Tunnel in den Abgrund; der
sung] des Jahres 1947« (Dürrenmatt 1952, 183; vgl. Protagonist, ein Student, ist dazu verdammt, den Ein-
WA 19, 200) wiedergegeben. Nach einem Teilabdruck bruch des Absurden zu akzeptieren. Kompositorisch
1954 nimmt er sie unter dem Titel Aus den Papieren nimmt die Erzählung eine Sonderstellung ein, weil sie
eines Wärters in die Werkausgabe von 1980 auf (vgl. mehrere Jahre nach den anderen Texten entstanden ist
WA 19, 149–193). Den Stoff dieser »labyrinthische[n] und als einzige Erzählung über ein zunächst realisti-
Geschichte«, dieser »Wucherungen« (G 3, 186), hat sches Setting verfügt, das in einer Groteske endet.
Dürrenmatt nach eigener Aussage erst mit dem Win- In der Pilatus-Erzählung (verfasst 1946), die dem
terkrieg in Tibet abgeschlossen (vgl. G 3, 56; WA 19, Prozess und der Kreuzigung Jesu gewidmet ist, erlebt
198; WA 28, 68). Pilatus eine Epiphanie. Obwohl er in Jesus Gott er-
Die Erzählung wird mittels Herausgeberfiktion kennt, ist er »gezwungen, eine Grausamkeit um die
ausgegeben als »Anfang eines [...] fünfzehnbändigen andere an Gott zu begehen, weil er die Wahrheit wuß-
Werkes«, das den Titel Versuch zu einem Grundriß te, ohne sie zu verstehen« (WA 19, 112). In dieser letz-
trägt und, abgesehen vom vorliegenden Text, in einem ten Abteilung ist die Kategorie des Einzelnen zentral:
Brand verloren gegangen sei (WA 19, 118). Der na- Beide Protagonisten – der Student wie Pilatus – neh-
menlose Ich-Erzähler erinnert sein Leben in der men eine Sonderstellung ein, weil sie Gott und die Ab-
von einer omnipotenten »Verwaltung« beherrschten surdität der Welt wahrzunehmen vermögen.
Stadt; seine Zeit verbrachte er mit dem Bemalen seines
Zimmers und dem Verfassen von »sinnlose[n] Pam-
phlete[n] gegen die Stadt« (121 f.). Nach einem ge- Rezeption und Forschung
scheiterten Aufstand der Bevölkerung trat der Pro-
tagonist als Wärter in einem unterirdischen Kerker in In der frühen Rezeption des Bandes wurden durch-
den »Dienst der Stadt« (132). In der Dunkelheit ver- gängig die Bezüge zum dramatischen Werk sowie die
sucht er, den »Grundriß« (140) der Stollen zu begrei- religiösen Aspekte betont. Die Stadt wurde als bedeu-
fen; drohend ist die Ungewissheit, »ob ich nicht selbst tende Publikation wahrgenommen, gar als »das wich-
ein Gefangener sei und meine Stellung als Wärter nur tigste Buch eines Schweizers seit Jahren« (Gerster
eine Fiktion, mit der mich die Verwaltung täuschte« 1952). Der Bezug zu Kafka wurde oft erwähnt, derje-
(141 f.) – eine Thematik, die in zahlreichen späteren nige zu Camus und Sartre positiv hervorgehoben (vgl.
Texten zentral wird, besonders in der Rede Die Weber 1952); die »transzendente Wahrheit« der Texte
Schweiz – ein Gefängnis (1990; vgl. WA 36, 175–188). betonte Walter Muschg (1952). Die Erzählungen wur-
Die Absurdität der Lage, in der der Protagonist sich den aber auch kritisiert als »dumpfe Angstliteratur«
befindet, öffnet mehrere Deutungsperspektiven: Exis- und »Tiefengerede« (Dach 1953). Die Stadt ist kaum
tentialistische Lektüren betonen die Absurdität des Gegenstand neuerer Forschungsarbeiten; eine genaue
Daseins angesichts der Macht des Irrsinns; die Schil- Untersuchung vor dem Hintergrund zeitgenössischer
derung des Regimes sowie der Entstehungskontext la- Ansätze fehlt. Die Verbindung der frühen Prosa mit
den dazu ein, in ihr eine Kritik an jeglicher Form von den gleichzeitig entstandenen Stücken wurde bisher
Totalitarismus zu sehen. Die erkenntniskritische Lek- gleichfalls erst kursorisch herausgearbeitet (vgl. Mel-
türe wird vom Nachwort gestärkt; hier findet sich ein ton 1973). Lohnenswert wäre schließlich eine Studie,
Hinweis auf die Bedeutung von Platons Höhlengleich- die den motivischen und strukturellen Bezügen des
nis. Dieses lässt sich auch als Ausdruck der Unfähig- Frühwerks im Spätwerk der Stoffe nachgeht.
8  Die Stadt 37

Literatur Pilatus. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 169–194.
Primärtexte Pilatus. Erzählung. Zürich 1952.
Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952. Pilatus. Erzählung. Zürich 1963.
Weihnacht. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 9–12. Pilatus. In: WA 19, 97–116.
Weihnacht. In: Friedrich Dürrenmatt Lesebuch. Zürich Dürrenmatt-Lesebuch. Zürich 1978.
1978, 11–14.
Weihnacht. In: WA 19, 9–12. Sekundärliteratur
Der Folterknecht. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, Dach, Charlotte von: Blick in ein Zwischenreich. Zur Prosa
13–20. von Friedrich Dürrenmatt. In: Der Bund, 12.2.1953.
Der Folterknecht. In: WA 19, 13–20. Diller, Edward: Friedrich Dürrenmatt’s Weihnachten. A
Der Hund. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 23–34. Short, Short Revealing Story. In: Studies in Short Fiction 3
Der Hund. Eine Erzählung. In: WA 21, 9–18. (1966), 138–140.
Das Bild des Sysiphos. In: Sonntagsblatt der Basler Nach- Gerster, Georg: Dürrenmatt: Prosa I–IV. In: Die Weltwoche,
richten, 12.1.1947. 19.12.1952.
Das Bild des Sysiphos. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
1952, 35–56. Weimar 1993.
Das Bild des Sisyphos. Erzählung. Zürich 1968. Melton, Judith Mary: Friedrich Dürrenmatt’s Die Stadt.
Das Bild des Sisyphos. In: WA 19, 41–56. Analysis and Significance of Dürrenmatt’s Early Prose.
Der Theaterdirektor. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, Ann Arbor 1973.
55–68. Muschg, Walter: Erzählungen von Friedrich Dürrenmatt. In:
Der Theaterdirektor. In: WA 19, 57–69. Basler Nachrichten, 21.12.1952.
Der Nihilist [= Die Falle]. Illustrationen von Teo Otto. Hor- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen.
gen-Zürich 1950. Biographie. Zürich 2011.
Die Falle. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 73–104. Spycher, Peter: Friedrich Dürrenmatt. Das erzählerische
Die Falle. In: WA 19, 71–96. Werk. Frauenfeld, Stuttgart 1972.
Die Stadt. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 107–146. Weber, Emil: Friedrich Dürrenmatt und die Frage nach
Die Stadt. In: WA 19, 117–148. Gott. Zur theologischen Relevanz der frühen Prosa eines
Der Tunnel. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 149–168. merkwürdigen Protestanten. Zürich 1980.
Der Tunnel. In: Friedrich Dürrenmatt Lesebuch. Zürich Weber, Werner: Dichter oder Kritiker? Zur Prosa von Fried-
1978, 25–39. rich Dürrenmatt. In: Neue Zürcher Zeitung, 6.12.1952.
Der Tunnel. Eine Erzählung. In: WA 21, 19–34.
Pilatus. Olten 1949. Lukas Gloor
38 II Schriftstellerisches Werk – A Frühe Prosa

9 Der Tunnel Tunnel nimmt kein Ende, und der Zug bricht aus die-
ser horizontalen Raum- und Zeitordnung aus und
Entstehung stürzt in beschleunigter Fahrt dem Abgrund im Erd-
innern zu. Nur der Student scheint dies jedoch wahr-
Die vierzehnseitige Erzählung Der Tunnel wird 1951 zunehmen, während die übrigen Passagiere unbetei-
geschrieben und erstmals in der Prosasammlung Die ligt bleiben; im Speisewagen werden weiter Wiener
Stadt (1952) publiziert. Der Band vereinigt kürzere Schnitzel serviert. Der Student hingegen erwartet das
Prosatexte, die düstere, krude Gewalt provokativ in Verhängnis, den »Aufprall des rasenden Zuges am
biblisch getönten Gleichnisformen präsentieren, vom Fels«, »dieses Zerschmettern und Ineinanderschach-
Eingangstext Weihnacht bis zum abschließenden Pila- teln der Wagen« (ebd., 29). Eigentlich hatte er fast da-
tus. Ein zentrales Leitmotiv dieser literarischen Höl- rauf hingelebt, wie die Erzählstimme in Klammern er-
lenmaschinen ist der ›Abgrund‹. Der Tunnel teilt zwar gänzt, »auf diesen Augenblick des Einbruchs, auf die-
Motivik und parabolische Erzählform mit den Texten ses plötzliche Nachlassen der Erdoberfläche, auf den
der Sammlung. Seine Höllenfahrt hat jedoch einen viel abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere« (ebd., 30). Er ar-
konkreteren Ausgangspunkt in der schweizerischen beitet sich mit dem Zugführer, der die Gefahr eben-
Realität und ist mit einer ironischen Brechung der Per- falls erkennt, in den Führerstand der dahindonnern-
spektive erzählt, an der Walter Muschg schon 1952 ei- den Lokomotive vor. Doch dieser ist leer; der Lokfüh-
nen vielversprechenden, »aristophanischen« Ton he- rer ist längst abgesprungen. Auch der Griff zur Not-
raushört (Muschg 1998, 276). Seither hat die For- bremse bleibt wirkungslos. Als Zuschauer an der
schung die »neue Qualität« des Tunnels in Dürren- Frontscheibe der Lokomotive klebend, sieht sich der
matts Schreiben öfter bestätigt (Rüedi 2011, 445; vgl. Student selbst in einem »tödlichen Schauspiel« (WA
Knapp 1993, 35–38). Entsprechend wird die Erzählung 21, 98) gefangen, dem er nun mit geweiteten Sinnen
später vielfach separat publiziert oder neuen Antho- entgegenstarrt. Auf die Frage des Zugführers: »Was
logien einverleibt: ein Lesebuchtext, der als universelle sollen wir tun?« antwortet er mit dem letzten Satz des
Parabel zum wohl bekanntesten und am meisten über- Textes: »Nichts. Gott ließ uns fallen und so stürzen wir
setzten Kurzprosatext Dürrenmatts geworden ist. denn auf ihn zu« (ebd.).
Diesen Schluss überarbeitet Dürrenmatt für eine
Neupublikation im Friedrich Dürrenmatt Lesebuch
Inhalt (1978), die später auch in die WA übernommen wird.
Sie wirkt wie ein Widerruf der Erstfassung, indem die
Die Hauptfigur der Erzählung, der 24-jährige ver- Überarbeitung die Antwort des Studenten auf ein
bummelte Student, der an seinem Wohnort den Zug nacktes: »Nichts« (WA 21, 34) verkürzt. »Gott«, der in
nach seinem Studienort besteigt, trägt konkrete bio- der Erstfassung im dialektischen letzten Satz als ulti-
grafische Züge des Autors. Doch schon im ersten Satz mative Instanz erscheint und dessen Gravitation gera-
meldet sich hinter der Figur auch eine Erzählstimme, de diejenigen anzieht, die von ihm abfallen, ver-
welche gelegentlich mit ergänzenden Klammerbe- schwindet. Das »Nichts«, so isoliert, bezeichnet nun
merkungen das Geschehen kommentiert: »Ein Vier- nicht nur die fehlenden Handlungsmöglichkeiten vor
undzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hin- dem Untergang, sondern es ist der eigentliche Flucht-
ter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähig- punkt einer Welt, aus der Gott getilgt wurde.
keit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn Entsprechend verschwindet zuvor auch ein bib-
herankomme« (WA 21, 21). So erhält der Leser von lischer Verweis auf den Höllensturz der »Rotte Korah«
Anfang an eine ironisch getönte Distanz zur Haupt- (ebd., 97). Dafür wird die theatrale Metaphorik akzen-
figur, anders als in den anderen, unerbittlich dunklen tuiert, welche den Text einklammert, vom Blick hinter
Erzählungen der Sammlung Die Stadt. Im Tunnel wird die »Kulissen« am Anfang bis zum Absturz als einem
das Schwarz-Sehen in der Figur des Studenten mit »Schauspiel« (Knopf 2004, 137), das in der Zweitfas-
dunkler Sonnenbrille selbst zum Thema, als der Zug sung nicht mehr als »tödlich« qualifiziert wird. Ihm
aus der abendlich vergoldeten Schweizerlandschaft in begegnet der Student mit einer »gespensterhaften
den Tunnel eintaucht. Zwar tickt bis in die Hälfte der Heiterkeit« (WA 21, 34), die in der zweiten Fassung
Erzählung noch die normale Fahrplanzeit weiter, und schon fast nach einer Komödie klingt. So holt die
scheinbar fährt der Zug auch an realen Ortschaften an Überarbeitung den frühen Text in den Horizont von
der Strecke von Bern nach Zürich vorbei. Doch der Dürrenmatts späteren Kardinalkategorien hinein:

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_9
9  Der Tunnel 39

Dem »Nichts« kommt höchstens noch die »gespens- Katastrophenkultur weiter (vgl. Utz 2019). Auch im
terhafte Heiterkeit« der Komödie bei. Bild Die Katastrophe (1966) setzt Dürrenmatt bei
der Eisenbahn, dieser identitätsstiftenden Ikone der
Schweiz, an, um die helvetische Alpenidylle mit ihren
Deutungsaspekte Brücken und Tunneln in sich zusammenstürzen zu
lassen. Der Tunnel ist so ein frühes, dunkel funkeln-
Der Tunnel ist zunächst als existentialistisches Gleich- des, vieldeutiges Meisterstück von Dürrenmatts apo-
nis im Kontext der Sinnkrise der Nachkriegszeit ver- kalyptischer Fantasie.
stehbar (vgl. Freund 1996): Wenn der Einzelne aus sei-
nem Alltag stürzt, wenn er gezwungen ist, dem Tod Literatur
Primärtexte
ins Auge zu blicken, dann erst kann er sich individua- Der Tunnel. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 151–167.
lisieren. Dann kann er allenfalls auch – so religiöse Der Tunnel [Neufassung]. In: Friedrich Dürrenmatt Lese-
Deutungen des Schlusses in Anlehnung an Kierke- buch. Zürich 1978, 25–39.
gaard und Karl Barths Römerbrief-Auslegung – Gott Der Tunnel [Fassung 1978]. In: WA 21, 19–34 (Schluss der
selbst als den »verborgenen Abgrund« erkennen Erstfassung: ebd., 97 f.).
(Barth 1922, 23; vgl. Zobel 1995, 95). Gott bestimmt
Sekundärliteratur
eine vertikal-geistige Wertorientierung, die von der Barth, Karl: Der Römerbrief [1918]. 2. Aufl. München 1922.
horizontal-weltlichen her nicht einsehbar ist (Barth Bühler, Pierre: Le paradoxe chrétien et ses potentialités créa-
1922, 7 f.; vgl. Rusterholz 2017; Bühler 2000). Zwi- tives. In: Jürgen Söring/Annette Mingels (Hg.): Dürren-
schen diesen Achsen verläuft die parabolische Ver- matt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger Kollo-
laufskurve des Tunnels: Er bricht aus der Horizontalen quium 2000. Frankfurt a. M. 2004, 237–258.
Freund, Winfried: Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. Vor-
aus und nähert sich der Vertikalen an. So wird Der
lauf in den Tod. In: Interpretationen. Deutsche Erzählun-
Tunnel gewissermaßen zur Parabel einer Parabel; er fi- gen des 20. Jahrhunderts, Bd. 2. Stuttgart 1996, 153–166.
guriert damit, poetologisch gelesen, jene Gleichnis- Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. In: Werner
form, die für Dürrenmatts Schreiben zeitlebens Bellmann (Hg.): Klassische deutsche Kurzgeschichten.
grundlegend ist. In dieser reflexiven Selbstbezüglich- Interpretationen. Stuttgart 2004, 135–145.
keit kann die Lektüre, wie der Tunnel selbst, an kein Muschg, Walter: Die Stadt [1952]. In: Keel, Daniel (Hg.):
Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1998, 273–276.
Ende kommen (vgl. Renken 2009). Renken, Arno: Comment tomber dans un livre? Le Tunnel
Zum Ausbruch aus der helvetischen Realität nutzt de Dürrenmatt en bilingue et en biface. In: Figurationen
Der Tunnel die Möglichkeiten des fantastischen Er- 10 (2009), 1–2, 149–157.
zählens (vgl. Freund 1996). Er unterminiert damit Rusterholz, Peter: Christliches Paradox als Skandalon und
auch das Bild und Selbstbild einer vom Weltkrieg ver- Korrektiv der Nachkriegskultur nach 1945: Friedrich
Dürrenmatt und Karl Barth. In: Ders.: Chaos und Renais-
schonten Idyllenschweiz. Was sie und »unsere Zeit«
sance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg. von Hen-
an »Hölle« und »Abgrund« birgt, das kann man nur riette Herwig und Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017,
durch die Fantasie anschaulich machen, so Dürren- 15–34.
matt in einem Brief an Eduard Wyss vom 14.5.1946 Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
(zit. bei Rüedi 2011, 215–217, 216). Gleichzeitig wi- gangsszenarien aus der Schweiz. München 2013.
derspricht Der Tunnel damit jenem Katastrophenkon- Utz, Peter: Der steckengebliebene Gotthardexpress. Ein
unbekanntes frühes Filmtreatment von Friedrich Dürren-
sens, mit dem sich die Schweiz als Schicksalsgemein- matt. In: Ewa Wojno-Owczarska (Hg.): Literarische Kata-
schaft im Angesicht der Weltkatastrophen glorifiziert strophendiskurse im 20. und 21. Jahrhundert. Frankfurt
(vgl. Utz 2013). Im Eisenbahnzug des Tunnels, der in a. M., Bern 2019, 149–166.
den Abgrund rast, entsteht gerade keine Solidar- Zobel, Klaus: Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. In: Chris-
gemeinschaft. Im Fragment gebliebenen Script zu ei- tian Eschweiler, Klaus Zobel: Vergleichende Analysen zu
literarischer Kurzprosa. Northeim 1997, 67–122.
nem Film über den verschütteten Gotthardexpress
(1953), das thematisch an den Tunnel anschließt, Peter Utz
treibt Dürrenmatt diese Subversion der helvetischen
B Frühe Dramatik

10 Es steht geschrieben / Die Wieder- Nach Anfragen verschiedener Theater (u. a. des
täufer Schauspielhauses Zürich), das gesperrte Stück wieder
spielen zu dürfen, unternahm Dürrenmatt 1966 eine
Neubearbeitung, nun wieder unter dem Titel Die Wie-
Entstehungs-, Publikations- und Auf- dertäufer (s. Kap. 28). Das Drama wurde um ein Vier-
führungsgeschichte tel gekürzt und von der Grundkonzeption her zu einer
Komödie umgestaltet. Zugleich wurde die opulente
Nach verschiedenen unvollendet gebliebenen Theater- Sprache des Bühnenerstlings abgeschwächt. Zwanzig
versuchen (Der Knopf, Untergang und neues Leben, Jahre nach Es steht geschrieben wurde das Stück am
Thogarma) schrieb Dürrenmatt zwischen Juli 1945 16.3.1967 erneut im Schauspielhaus uraufgeführt (R.:
und März 1946 in Bern sein erstes zur Aufführung ge- Werner Düggelin). Im selben Jahr erschien im Arche
langendes Bühnenstück, zunächst unter dem Arbeits- Verlag die Buchausgabe, versehen mit dramaturgi-
titel Die Wiedertäufer, später mit dem Titel Es steht ge- schen Überlegungen zur Neubearbeitung. Es folgten
schrieben (wohl in Anspielung auf die täuferische Pra- verschiedene Aufführungen in Deutschland, Polen
xis des Bibelzitats). Das Drama wurde am 19.3.1947 und Frankreich. Zu einem großen Erfolg kam es 1968
unter der Regie von Kurt Horwitz im Zürcher Schau- in Prag, im Kontext des Prager Frühlings. 1973 wurde
spielhaus uraufgeführt. Es kam zu einem Theaterskan- im Zweiten Deutschen Fernsehen eine Fernsehinsze-
dal, über den sich der Autor hinter den Kulissen freute nierung unter der Regie von Heinrich Koch produ-
(vgl. G 1, 52–59). Die Länge des Stücks, die vielen bib- ziert. In die Werkausgaben von 1980 und 1998 wur-
lischen Anspielungen, Kirchenlieder und dichteri- den sowohl Es steht geschrieben als auch Die Wieder-
schen Texte, die drastischen Sprachbilder, die Wechsel täufer nach dem Text ihrer jeweiligen Urfassung über-
zwischen barock-erhabenem und zotenhaftem Stil, die nommen.
als blasphemisch empfundene Behandlung religiöser
Motive führten dazu, dass die Zuschauer zu randalie-
ren begannen und das Theater vorzeitig verließen. Das Inhalt und Analyse
Stück löste auch in der Presse eine heftige Debatte aus,
mit teils scharfen Verurteilungen. Zugleich wurde es Inspiriert durch eine 1896 von Georg Tumbült ver-
bereits 1948 mit dem wichtigen Welti-Preis für das öffentlichte Monografie, die Dürrenmatt in der väter-
Drama ausgezeichnet. Die Aufführungen in Wiesba- lichen Bibliothek entdeckt hatte, wählte er für sein
den (1950) und in Paris (1952, hier unter dem Titel Les Stück ein tragisches Kapitel der deutschen Reformati-
Fous de Dieu – die erste Dürrenmatt-Aufführung au- onsgeschichte, das bereits öfter als literarischer Stoff
ßerhalb des deutschen Sprachraums) waren allerdings bearbeitet worden war: den Aufstieg und Fall des
eher Misserfolge. Das trug wohl dazu bei, dass Dürren- Täuferreichs im westfälischen Münster in den Jahren
matt, sich von zu unmittelbar christlicher Vereinnah- 1534–1536. Im Zeichen apokalyptischer Naherwar-
mung distanzierend, dieses Stück wie auch Der Blinde tung erklärt eine radikale Gruppe der Täuferbewe-
für weitere Aufführungen sperren ließ. gung Münster zum himmlischen Jerusalem und in-
Als Buch erschien das Stück 1947 mit Zeichnungen stalliert eine tyrannische Theokratie. So erzählt das
des Autors im Basler Schwabe Verlag. 1959 wurde es Stück zunächst, wie die Täufer progressiv die Macht
im Zürcher Arche Verlag neu aufgelegt und 1964 in erobern, den Bischof und sein Gefolge sowie die An-
den Sammelband Komödien II und Frühe Stücke auf- hänger Luthers aus der Stadt vertreiben und strenge
genommen. Sitten- und Glaubensregeln nach biblischen Vor-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_10
10  Es steht geschrieben / Die Wiedertäufer 41

schriften einführen. Der Machtkampf innerhalb der deutscher Übersetzung uraufgeführt hatte (vgl. Wys-
Führergruppe fällt zugunsten des Hochstaplers Jo- ling 1996).
hannes Bockelson aus, der sich zum alleinigen König Natürlich spielte bei der Stoffwahl auch der zeit-
krönen lässt. Während er die Bevölkerung mit Stra- geschichtliche Kontext eine Rolle. Das Täuferreich
fen, Gerichten und Hinrichtungen terrorisiert, pflegt ließ sich als Gleichnis für zeitgenössische Ereignisse
er selbst einen erotisch wie gastronomisch über- verstehen: »Daß sich mir dieser Stoff 1945 aufdrängte,
schwänglichen Lebensstil. Bockelsons Gegenfigur ist erscheint mir nachträglich selbstverständlich: das ir-
der ehrbare Bernhard Knipperdollinck, der dem De- rationale Phänomen des Dritten Reichs, sein Unter-
magogen gottergeben seinen Reichtum und seine gang spiegeln sich [...] in diesem Stoff wider« (WA 1,
Frau überlässt und, gefolgt von seiner Tochter, den 250). Zugleich betonte Dürrenmatt aber, das Stück sei
Weg der Armut wählt. nicht einfach auf diese Facette zu reduzieren; die Stadt
Mit Hilfe des Kaisers Karl V. und des Landgrafen Münster sei für ihn auch eine Vision gewesen, »in mir,
Philipp von Hessen belagert der Bischof die Stadt und nicht außer mir, und so gestaltete ich das Drama aus
hungert sie aus. Im zweiten Teil beschreibt das Stück der Phantasie« (ebd.). Man wird also die Grundper-
die sich ausbreitende Not und das Gemetzel bei der spektive breiter auffassen müssen: Es geht dem Autor
Einnahme der Stadt: »Deine Mauern sinken dahin, darum zu erproben, was passiert, wenn der ideologi-
deine Türme zerbrechen! Blutige Nacht! Blutiger sche ›Größenwahn‹, das Reich Gottes auf Erden zu
Mond! Du schreckliche Fackel des Sieges! [...] Bleiches verwirklichen, zu einem ›Massenwahn‹ wird, der es
Antlitz voll Verwesung und Mord! O Schwärme pfei- manipulierenden Führern erlaubt, aus dem blinden
fender Ratten! O Schweigen des Doms, tot aufgereckt Vertrauen der Menschen Profit zu schlagen (vgl.
in das Leere! Wie ist dir nicht alles anheimgegeben, Zeindler 2011). In diesem Sinne wird hier bereits
ewige Qual, wie ist dir nicht alles verfallen, unend- Dürrenmatts späteres Grundmotiv des ›Mitmachens‹
licher Abgrund!« (WA 1, 142). Wie viele andere enden vorbereitet.
Bockelson und Knipperdollinck auf dem Rad. Diese kritische Sicht auf den Zynismus der Macht
In seiner Bearbeitung des historischen Stoffs voll- wird in der Fassung von 1967 dadurch verschärft,
zieht Dürrenmatt eine doppelte Kontrastierung: ei- dass Bockelson als Schauspieler und der Bischof als
nerseits zwischen dem in der Stadt herrschenden fa- Theaterliebhaber präsentiert werden. So wird denn
natischen Rausch, der zu allen möglichen Exzessen Bockelson am Schluss nicht, wie in Es steht geschrie-
führt, und einem besonnenen Bischof, der dem Schre- ben, aufs Rad geflochten, sondern wegen seines ko-
cken gegenüber um seine Ohnmacht weiß; anderer- mödiantischen Talents in die bischöfliche Theater-
seits, innerhalb der Stadt, zwischen dem demagogi- truppe aufgenommen. Die Mächtigen erkennen, dass
schen Verführer Bockelson und dem einfältigen Glau- er sie perfekt ›spielt‹. Deshalb ist Bockelson »ein The-
benseiferer Knipperdollinck, der nach Jesu Armuts- ma jeder Macht: Ihre Begründung durch Theatralik«
regeln lebt, um für das Übel zu büßen. (WA 10, 135).
Die spätere Komödie entschärft somit die religiöse
Konfrontation zwischen Bockelson und Knipperdol-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung linck, die 1947 im Zentrum stand. In der Gestalt Knip-
perdollincks vollzog sich Dürrenmatts Auseinander-
Dem Stück kommt in Dürrenmatts Gesamtwerk eine setzung mit dem vom Elternhaus geprägten Glauben,
wichtige Bedeutung zu; nicht so sehr, weil ihn – wie er hatte er doch einer anderen Gestalt im Stück die fol-
öfter scherzhaft betonte – der Skandal im Schauspiel- gende Selbstdarstellung in den Mund gelegt: Er sei »ein
haus berühmt gemacht hatte, sondern vielmehr weil im weitesten Sinne entwurzelter Protestant, behaftet
ihm »Es steht geschrieben die Zunge löste« (WA 1, mit der Beule des Zweifels, mißtrauisch gegen den
250). Das Drama wirkte wie eine Befreiung, die Dür- Glauben, den er bewundert, weil er ihn verloren« (WA
renmatt neue Sprachmöglichkeiten eröffnete und ihm 1, 58). So schließt das Stück in der frühen Fassung mit
so einen fulminanten Start auf der Theaterbühne ge- einem Gebet des geräderten Knipperdollinck, das die
währte. Wie Hans Wysling ausführlich gezeigt hat, paradoxe Spannung von Gericht und Gnade aus-
spielten dabei vielfältige literarische Einflüsse und Re- drückt: »Die Tiefe meiner Verzweiflung ist nur ein
miniszenzen eine wichtige Rolle, vor allem Paul Clau- Gleichnis Deiner Gerechtigkeit, und wie in einer Scha-
dels Stück Der seidene Schuh, das Horwitz im Juni le liegt mein Leib in diesem Rad, welche Du jetzt mit
1944 am Schauspielhaus in Hans Urs von Balthasars Deiner Gnade bis zum Rande füllst!« (148).
42 II Schriftstellerisches Werk – B Frühe Dramatik

Literatur Centre Dürrenmatt Neûchatel (Hg.): Les Fous de Dieu. Got-


Primärtexte tes Narren. Neuchâtel 2017 (Cahier 16).
Es steht geschrieben. Mit sechs Zeichnungen vom Autor. Wyrsch, Peter: Die Dürrenmatt-Story. In: G 1, 25–97, bes.
Basel 1947. 52–59.
Die Wiedertäufer. Eine Komödie in zwei Teilen. Zürich Wysling, Hans: Friedrich Dürrenmatt: Es steht geschrieben
1967. (1947). Protestantismus und Narzissmus [1982]. In: Hans-
Es steht geschrieben. Ein Drama. In: WA 1, 9–148. Rudolf Schärer, Jean-Pierre Bünter (Hg.): Streifzüge. Lite-
Die Wiedertäufer. Komödie. WA 10. ratur aus der deutschen Schweiz 1945–1991. Zürich 1996,
15–37.
Sekundärliteratur Zeindler, Matthias: Wider das Reich Gottes auf Erden. Reli-
Bühler, Pierre: Es steht geschrieben/Les fous de Dieu (1947). gionskritik und Ideologiekritik bei Friedrich Dürrenmatt.
Le jeune Dürrenmatt se confronte aux anabaptistes de In: David Plüss u. a. (Hg.): Imagination in der Praktischen
Münster. In: Mennonitica Helvetica 41 (2018), 7–26. Theologie. Zürich 2011, 159–169.

Pierre Bühler
11  Der Blinde 43

11 Der Blinde 13.1.1948). Diese Tendenz wurde damals von den


meisten öffentlichen Stimmen begrüßt und dem Au-
Entstehungs- und Wirkungsgeschichte tor außerordentliches Potential in dieser Richtung at-
testiert. Kritisiert wurde dagegen, dass das Stück als
Friedrich Dürrenmatt begann die Arbeit an seinem Drama noch unausgereift sei, kaum eine Handlungs-
zweiten Theaterstück Der Blinde noch vor der Urauf- entwicklung zeige und daher mit drei Stunden Auf-
führung von Es steht geschrieben – eine erste Fassung führungszeit zu lang dauere.
schrieb er im Januar 1947 innerhalb eines Monats nie- Dürrenmatt ließ den Blinden nach weiteren Auffüh-
der. Sie ist als Typoskript überliefert und wird mit wei- rungen in Zürich (1948) und Münster (1951) für das
teren Vorfassungen und Fragmenten im Schweizer Li- Theater sperren, vermutlich aufgrund der Kritik an der
teraturarchiv in Bern aufbewahrt. Die Erstfassung dramatischen Durchführung und weil er den Ruf des
steigt mit vier großen Monologen ein, die in der end- christlichen Tendenzdichters ablegen wollte. Erst 1960
gültigen Fassung, die Dürrenmatt im Winter 1947/48 publizierte er das Drama in leicht veränderter Fassung
fertigstellte, durch Dialoge ersetzt sind (vgl. Rusterholz in Buchform; 1980 und 1998 wurde diese Fassung oh-
2017, 23–25). Offenbar überarbeitete Dürrenmatt das ne weitere Überarbeitungen in die Werkausgaben
Stück zum Verdruss der Theatertruppe noch während übernommen. Die neuere Literaturkritik folgt der zeit-
der letzten Proben weiter. Die Uraufführung fand am genössischen darin, dass das Stück »undramatisch« sei
10.1.1948 unter der Regie von Ernst Ginsberg am (so Knopf 1988, 34), hebt demgegenüber aber hervor,
Stadttheater Basel statt, mit hochkarätiger Besetzung dass hier bereits mehrere charakteristische Aspekte
der Hauptrollen: Heinz Woester brillierte als der blin- von Dürrenmatts späterer Dramentheorie praktisch
de Herzog, Kurt Horwitz spielte dessen Widersacher umgesetzt seien (so Ringel 2002, bes. 347 u. 362).
Negro da Ponte, Bernhard Wicki den Herzogssohn Pa-
lamedes und Maria Becker die Tochter Octavia.
Das Stück des jungen »Stürmers und Drängers« Inhalt und Analyse
(Tages-Anzeiger vom 17.1.1948) wurde nach dem
Theaterskandal des vorigen Jahres mit angeregtem In- Das Drama Der Blinde spielt im Dreißigjährigen Krieg.
teresse erwartet. Am Mittwoch vor der Uraufführung Ein Herzog sitzt in den Trümmern seines Schlosses in-
hielt der Journalist und Redakteur Dr. Walter All- mitten seines verwüsteten Landes, von dessen Zerstö-
göwer im Rahmen einer fünfteiligen Vortragsreihe rung er nichts weiß, da er zum Zeitpunkt des Angriffs
zum modernen Dramenschaffen im überfüllten Uni- schwer erkrankt war und sein Augenlicht verlor (vgl.
onssaal der Basler Kunsthalle einen ausführlichen WA 1, 160). Sein schwermütiger Sohn Palamedes ver-
Vortrag über die geistige Situation im Allgemeinen sucht aus Mitleid die Illusion aufrechtzuerhalten, dass
und Dürrenmatts Stück im Besonderen, der am fol- Land und Schloss von den Kriegswirren verschont ge-
genden Wochenende im Sonntagsblatt der Basler blieben seien; das gelingt ihm, bis eines Tages Negro
Nachrichten in voller Länge publiziert wurde. da Ponte, Hauptmann der gegnerischen Armee Wal-
Anders als die Uraufführung von Es steht ge- lensteins, zufällig an der Ruine vorbeigeht und vom
schrieben endete diejenige des Blinden mit regem Ap- Herzog unversehens zu dessen Statthalter ernannt
plaus. Der überwiegende Teil der über vierzig Schwei- wird (vgl. 156). Negro da Ponte, irritiert von der Gut-
zer Pressestimmen würdigte sowohl die ausgezeich- gläubigkeit des Herzogs, nimmt das Amt an und be-
nete Aufführung als auch die »tiefe Frömmigkeit« schließt, dem Herzog mithilfe seines Gesindels die
der »gleichnishaften Predigt« (Basler Nachrichten, Zerstörung des Schlosses und des Reiches vorzuspie-
Abendblatt vom 12.1.1948; Solothurner Zeitung vom len und ihm so die vermeintliche Grundlage seines in-
13.1.1948). Während in der späteren Rezeption die neren Friedens zu nehmen. Der blinde Herzog schenkt
Darstellung des Glaubens im Stück zunehmend pro- dem Spiel Glauben und nimmt dafür in Kauf, sowohl
blematisiert wurde (s. u.), war in der zeitgenössischen seinen Sohn Palamedes als scheinbaren Verräter hin-
Meinung unter kirchenkritischen wie kirchennahen richten zu lassen (vgl. 208–216), sich einem Wallen-
Organen durchweg anerkannt, Dürrenmatt verkünde stein spielenden »Neger« zu unterwerfen (221–227),
»die Botschaft des Glaubens« (die sozialistische Zei- seinen Hofdichter Gnadenbrot Suppe eigenhändig zu
tung Vorwärts vom 15.1.1948), dass »der Glaube Ber- erwürgen (vgl. 228–230) und den Selbstmord seiner
ge versetzen und heldische Menschen im besten Sinne Tochter Octavia, die sich da Ponte als Gespielin hinge-
des Wortes erzeugen kann« (Solothurner Zeitung vom geben hatte, hinzunehmen (vgl. 236–241). Negro da

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
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44 II Schriftstellerisches Werk – B Frühe Dramatik

Ponte kapituliert vor der unbeirrbaren Glaubens- von Dirnen und Gaunern verkörpert, und Negro da
bereitschaft des Herzogs und verlässt ihn, »tappend Ponte deckt bis zum Schluss seine wahre Identität
wie ein Blinder« (242). nicht auf.
Die Handlung des Stückes rekurriert auf mehrere
Traditionen, die unterschiedlich eingesetzt oder ver-
fremdet werden. Die Funktion des Dreißigjährigen Deutungsaspekte
Krieges als Hintergrund ist es, in der Parallelität zu
den Schrecken des Nationalsozialismus sowohl die Der Fokus zeitgenössischer und späterer Interpretatio-
Aktualität als auch die Zeitlosigkeit des Geschehens nen liegt auf der Einschätzung des Glaubens des Her-
zu betonen. Es geht um den Menschen ›an sich‹ (vgl. zogs im Zusammenhang mit dessen Blindheit. Die Li-
Welskop 2014, 74). Das macht die Handlungsträger zu teratur nach dem Zweiten Weltkrieg hat eine auffällige
Typen: Gleich zu Beginn des Stückes werden durch Fülle von blinden Protagonisten hervorgebracht (vgl.
biblische Referenzen der Herzog als gottesfürchtiger Hinweise bei Welskop 2014). Die Blindheit literari-
Hiob und sein nihilistischer Widersacher Negro da scher Figuren weist stets über sich hinaus; sie verkör-
Ponte als dessen teuflischer Versucher stilisiert; auch pert entweder Hellsichtigkeit oder – und in der Nach-
auf sprachlicher Ebene wird durch eine Fülle alttesta- kriegszeit vermehrt – ein Gefühl der Vereinsamung.
mentlicher Bilder und Sprachmuster auf die biblische Dass die Blindheit des Herzogs neben dem ›höheren
Tradition Bezug genommen (vgl. ausführlich Grose- Wissen‹ auch eine egoistische Indifferenz mit sich
close 1974). Palamedes und Octavia stehen für zwei bringt, die an mutwillige Verblendung grenzt und ihn
glaubenslose Haltungen, prinzipientreue Melancholie von allen Mitmenschen entfremdet, ist erst in neue-
und opportunistischen Hedonismus; sie parodieren ren Interpretationen verstärkt hervorgehoben worden
mythische und historische Namensvettern aus der (vgl. etwa ebd., 66 f.). Dürrenmatt bedient sich einer
homerischen Ilias und der römischen Antike, indem primitiven Blindenpsychologie und ignoriert die Frage
sie eine »irritierende Gleichzeitigkeit« (Ringel 2002, nach der sinnlichen Kompensation (vgl. ebd., 61 f.; Die
353) der in den ursprünglichen Geschichten gegebe- Weltwoche vom 16.1.1948). Zwar behauptet der Her-
nen Ordnung und dem im Stück dargestellten Ord- zog: »Ich bin blind. Ich muß dem Menschen vertrauen,
nungsverlust evozieren (vgl. ebd., 353–358). um zu sehen« (WA 1, 156) – aber müsste er nicht tas-
Darüber hinaus werden im Stück zusätzliche Dop- tend begreifen, dass sein Schloss in Trümmern liegt?
pelbödigkeiten über die Sprache hergestellt; einerseits Einen Hinweis darauf, dass er sich womöglich ent-
durch die Diskrepanz zwischen der Sprache und der gegen seiner Worte wissentlich der Wirklichkeit ver-
bildlich dargestellten Realität, andererseits durch sich schließt, gibt der vieldiskutierte Mord am Hofdichter
widersprechende Sprachspiele (vgl. ebd., 355). Dür- Suppe, den der Herzog erwürgt, als dieser ihm die
renmatt reflektierte 1954 in Theaterprobleme, der ›Wahrheit‹ aufdecken will (vgl. die unterschiedlichen
grundlegende Einfall des Stückes sei gewesen, das Deutungen bei Ringel 2002, 358–361; Welskop 2014,
Wort gegen das Bild zu stellen: »Der dramatische Ort 67 f.; Groseclose 1974, 69 f.; Luzerner Neueste Nach-
ist der gleiche, aber durch das Spiel, das man dem richten vom 12.1.1948).
Blinden vorspielt, wird er ein Doppeltes, ein Ort, den Die Frage, ob der blinde Herzog glauben muss und
der Zuschauer sieht, und ein Ort, an welchem sich der dementsprechend die unausweichliche Erfordernis
Blinde glaubt« (WA 30, 45; vgl. selbstkritisch WA 30, des Glaubens mutig bejahe, oder ob er nicht glauben
142; vgl. Frisch 1998, 573 f.). Tatsächlich bleibt der müsste und die willentliche Entscheidung zum Glau-
Schauplatz das ganze Stück hindurch, das ursprüng- ben daher als feige und gewissenlos zu betrachten wä-
lich als Vierakter aufgeführt, für die Buchform aber als re, ist nicht letztgültig zu klären. Evident ist dagegen,
Einakter umgestaltet wurde, die Schlossruine, deren dass die »elementare Kraft« (WA 31, 142) dieser völlig
Realität von zwei gegenläufigen Schauspielen paro- entschränkten Glaubensbereitschaft den Herzog für
diert wird: zuerst von der heilen Welt, die Palamedes die Sehenden »schrecklich und auf eine gespenstische
seinem Vater vorgaukelt, dann von deren Zerstörung, Art unmenschlich« macht (WA 1, 256), indem der
die da Ponte inszeniert. Auch das zweite Schauspiel Herzog jedem Menschen alles glaubt und so »sein
steht der bildlich dargestellten Wirklichkeit entgegen, Land von einem Augenblick auf den andern einem
denn die vermeintliche ›Flucht‹ vor den Truppen Wal- bösartigen, ja teuflischen Abenteurer« überlässt und
lensteins führt den Herzog in seiner Ruine im Kreis demselben Sohn und Tochter in die Hände und in den
herum, die Würdenträger aus dessen Armee werden Tod spielt (Brock 1948, 746). Dürrenmatt selber will
11  Der Blinde 45

diesen grotesken Zug erst später bemerkt haben und Literatur


weist im Nachwort der Werkausgabe darauf hin, das Primärtexte, Quellen
Stück sei nur als Experiment, nicht als Allegorie zu ver- Der Blinde. Ein Drama. Zürich 1960.
Der Blinde. In: WA 1, 149–243, 255–257.
stehen (vgl. WA 1, 256). Ebenfalls erst viel später äu- Der Blinde: 1.–3. Fassung und Fragmente. Typoskripte.
ßerte er gar den Gedanken, das Stück sei »von der Fra- Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m10.
ge angeregt, wie wohl Hitler und damit der Glaube an Agendaeinträge vom 1. und 27.1.1947. Schweizerisches Lite-
ihn möglich geworden war« (WA 31, 142). Der Theo- raturarchiv, Sig. SLA-FD-C-1-d-1947.
loge Karl Barth, der der Premiere des Stückes beige- Brief an Maria Becker [1967]. In: WA 30, 140–142.
Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. [1980]. In: WA 31,
wohnt hatte, sah dagegen im Blinden eine christliche
139–167, bes. 142.
»Theologie wie etwa die des ›Römerbriefs von 1921‹«, Theaterprobleme [1954]. In: WA 30, 31–72, bes. 45 u. 63.
seiner einflussreichen Frühschrift (zit. bei Rüedi 2011, Vinter [1970–1990]. In: WA 29, 189–231, bes. 192.
313, vgl. 312 f.; vgl. WA 29, 192). Während sicher ist,
dass Dürrenmatt sich zur Entstehungszeit des Blinden Sekundärliteratur
und lange darüber hinaus intensiv mit Barths Theo- Brock, Erich: Friedrich Dürrenmatt: Der Blinde. In: Schwei-
zer Monatshefte 27 (1948), 11, 745–748.
logie auseinandergesetzt hatte (vgl. Rusterholz 2017),
Frisch, Max: Tagebuch 1946–1949. In: Gesammelte Werke
scheint es problematisch, das Stück für den christli- in zeitlicher Folge, Bd. 2. Hg. von Hans Mayer u. a. Frank-
chen Glauben in Anspruch zu nehmen, da der Glaube furt a. M. 1998, bes. 573 f.
des Herzogs in der experimentellen Anlage des Stückes Groseclose, Sidney: The Murder of Gnadenbrot Suppe.
nicht auf den verborgenen Gott, sondern die verborge- Language and Levels of Reality in Friedrich Dürrenmatt’s
ne Welt gerichtet ist (vgl. ebd., 28). Die Problematik Der Blinde. In: German Life & Letters 28 (1974), 64–71.
Pressedokumentation zu den Aufführungen des Blinden in
dieser Ersetzung und der von Dürrenmatt hergestellte Basel und Münster [enthält alle im Text zitierten Presse-
Bezug zum Glauben an Hitler sind in den bisherigen stimmen]. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-
Interpretationsversuchen noch wenig berücksichtigt D-10-b-BLI.
worden und würden ebenso eine vertiefte Beschäfti- Ringel, Stefan: Der stumme Hiob. Parodie in Dürrenmatts
gung verdienen wie die abschließende Frage, ob der Dramentheorie und in seinem frühen Stück Der Blinde.
In: Monatshefte für Deutschsprachige Literatur und Kul-
Herzog als Sieger über den geschlagenen Negro da
tur 94 (2002), 3, 346–367.
Ponte zu bezeichnen sei, weil er in seinem Glauben Rusterholz, Peter: Christliches Paradox als Skandalon und
letztlich recht behalte (so etwa Welskop 2014, 56). Da Korrektiv der Nachkriegskultur nach 1945. Friedrich
der Herzog im Laufe des Stückes alle menschlichen Be- Dürrenmatt und Karl Barth. In: Ders.: Chaos und Renais-
ziehungen verspielt, ist mit Rusterholz (2017, 26) zu sance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg. von Hen-
erwägen, dass einem solchen Glauben, auch wenn er riette Herwig und Robin-M. Aust. Würzburg 2017, 15–34.
Welskop, Nena: Der Blinde. Konstruktionen eines Motivs in
alle Schläge unerschüttert übersteht, eine unangeneh- der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Würzburg
me Fragwürdigkeit anhaftet. 2014, bes. 55–76.

Kathrin Schmid
C Kabarett

12 Kabarett-Texte ihm mit, dass ihm auf der Arche aufgrund der Über-
bevölkerung und des schützenswerten großen Tier-
1933 emigrierte das von Erika Mann in München mit- bestandes kein menschenwürdiges Leben ermöglicht
begründete Kabarett Die Pfeffermühle in die Schweiz werden könne. Er könne lediglich in einem »sichern
und legte den Grundstein für die Entstehung des ers- Winkel« dankbar verharren (133). Darauf springt der
ten schweizerischen Kabaretts: Am 30.12.1933 grün- Schiffbrüchige zurück ins Meer. Dürrenmatt verband
den Walter Lesch, Otto Weissert, Emil Hegetschweiler im Sketch das Programmthema der ›Arche‹ mit der
und Alois Carigiet in Zürich das Cabaret Cornichon. seit 1942 allgemein bekannten Metapher vom ›vollen
Das Cornichon war ein Unterhaltungskabarett, das Boot‹, das für eine Schweiz stand, die keine Flüchtlin-
von 1934 bis 1954 insgesamt 64 Programme aufführte ge mehr aufnehmen konnte, da sie sonst selber unter-
und in dieser Zeit zum wichtigsten Kleinkunstensem- gehen würde. Entgegen dem durch die Propaganda
ble der Schweiz avancierte. Innenpolitisch verstand es gepflegten Selbstbild einer humanitären Schweiz stell-
sich als eine Stütze der ›Geistigen Landesverteidi- te er dem Flüchtling eine kaltherzige und unmensch-
gung‹, außenpolitisch wandte es sich gegen den Natio- liche Bürokratie gegenüber. Dass sich der Sketch kri-
nalsozialismus und den Faschismus. tisch auf die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz
1948 schrieb Friedrich Dürrenmatt für das Corni- bezieht, geht etwa auch aus der Namensgebung her-
chon einige Kabarett-Texte. Walter Lesch hatte im vor: Mit Dr. Matthias Blauhals spielte Dürrenmatt of-
Sommer 1947 mit Max Werner Lenz seinen wichtigs- fensichtlich auf Heinrich Rothmund an, den dama-
ten Autor verloren. Auf der Suche nach einem Ersatz ligen Chef der Fremdenpolizei im Eidgenössischen
wurde er auf Dürrenmatt aufmerksam, der am Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Dieser galt als
19.4.1947 mit seinem ersten Theaterstück Es steht ge- zentrale Figur der schweizerischen Flüchtlingspolitik
schrieben am Schauspielhaus Zürich erstmals für Fu- der Kriegszeit. Im August 1942 hatte er gestützt auf ei-
rore gesorgt hatte. Nachdem am 10.1.1948 das zweite nen Bundesratsbeschluss die Weisung erlassen, dass
Theaterstück Der Blinde am Theater Basel uraufge- Flüchtlinge aus Rassegründen grundsätzlich abzuwei-
führt wurde, schickte Lesch seinen Co-Leiter Peter sen seien. Rothmund reagierte prompt auf die von
Wyrsch nach Basel, um den jungen Dramatiker für die Dürrenmatt an ihn adressierte, satirische Kritik und
Mitarbeit zu gewinnen und machte ihm das Angebot beschwerte sich in einem Brief bei seinem ehemaligen
von monatlich 500 Franken für jeweils drei Sketche Studienfreund Walter Lesch über die »Verleumdung«
pro Programm. Für Dürrenmatt war die Mitarbeit (Rothmund 1948).
beim Cornichon primär ein Broterwerb, gleichzeitig Der zweite Sketch im Arche-Programm trug den
bot ihm das Kabarett aber auch die Möglichkeit, einige Titel Apokalypschen oder Der Erfinder (WA 17, 136–
seiner frühen dramatischen Ideen auf der Kleinkunst- 151). Er thematisiert die Bedrohung durch die Atom-
bühne erstmals zu erproben. bombe im Kontext des beginnenden Kalten Krieges.
Im Mai 1948 wurden im Programm Arche Noah die Der Sketch spielt in einem bürgerlichen Salon auf der
ersten beiden Dürrenmatt-Nummern aufgeführt. Der Arche: An der Wand hängen Ferdinand Hodlers Wil-
Sketch Der Gerettete (WA 17, 127–135) spielt im Büro helm Tell und Die Toteninsel von Arnold Böcklin. Der
von Dr. Matthias Blauhals, dem Chef des Amtes für aus einem Irrenhaus geflohene »Professor Zweistein«
Schiffbrüchige, auf der »Arche« (127). Der Schiffbrü- tritt als Erfinder der Atombombe auf (137). Er führt
chige Armin Schlucker erklärt, er sei ins Meer ge- einen Koffer mit Miniatur-Atombomben bei sich, mit
sprungen, nachdem der Abschaum der Menschheit denen er zu experimentellen Zwecken die Arche in die
sich seines Bootes bemächtigt habe. Der Beamte teilt Luft sprengen will. Der Archenpräsident zieht jedoch

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_12
12 Kabarett-Texte 47

einen Revolver und erklärt dem Professor, er befinde Macht dient. In seinen Hoffnungen enttäuscht, wen-
sich auf einer Arche, deren Nationalheld auch nicht det sich der besorgte Kleinbürger resigniert von der
vor einem Mord zurückgeschreckt sei. Nachdem der Politik ab. Der Sketch Gib Gas! nahm ein aktuelles Er-
Präsident den verrückten Professor von seinem Vor- eignis aus dem Motorsport zum Anlass. Nach einigen
haben abbringen kann und dieser das Schiff verlässt, schweren Unfällen wurden 1948 Stimmen laut, die
entdeckt der Archenpräsident im Dekolleté seiner den Grand Prix Bern verbieten wollten. Im Sketch
Frau eine kleine Atombombe, die Zweistein dort überfährt ein Autorennfahrer in einem makabren
heimlich versteckt hat. Der Präsident steht am Ende Running Gag nacheinander ein Kaninchen, eine Zie-
alleine auf der Bühne und hält die Bombe in seinen ge, einen Briefträger und einen Kegelclub. Während
zitternden Händen, während im Hintergrund Böck- der Tachometer des Rennfahrers immer höher steigt,
lins Gemälde von der untergehenden Sonne beschie- erreicht der Sketch am Ende seine Klimax in einem
nen wird. Das Motiv des Untergangs der Menschheit abrupten Stopp.
durch die Atombombe behandelte Dürrenmatt auch Die Erwerbsarbeit für das Cornichon wurde für
in seiner ersten Komödie Der Knopf (1943/1951), im Dürrenmatt allerdings mehr und mehr zu einer lästi-
Hörspiel Das Unternehmen der Wega (1954) und spä- gen Nebenbeschäftigung. Er ärgerte sich über die Kür-
ter in der Tragikomödie Die Physiker (1962). Für das zungen und Streichungen seiner Sketche durch die
Cornichon-Programm hatte er zudem ein Chanson Leitung. Als ihm im Sommer 1948 das Honorar von
geschrieben, das den Titel Der Mister oder Das Lied 500 auf 300 Franken gekürzt wurde, kam es endgültig
vom Pflanzer auf dem hintersten Planet trug (unpubli- zum Bruch. 1963 schrieb er noch die Kabarettnum-
ziert; im SLA Bern als Typoskript zugänglich). Im mer Die Hochzeit der Helvetia mit Merkur, die von Ti-
Chanson kontrastiert Dürrenmatt das Motiv einer bor Kasics als Kantate für Voli Geiler und Walter Mo-
atomaren Katastrophe mit dem idyllischen Bild eines rath vertont wurde. Die ersten beiden Cornichon-
gepflegten Gemüsegartens im Weltall. Die Erde wurde Nummern Der Gerettete und Der Erfinder nahm Dür-
durch einen Atomkrieg zerstört, die letzten Menschen renmatt in die Werkausgabe von 1980 auf; die anderen
sind auf den hintersten Planeten geflüchtet. Dort Kabarett-Texte blieben unveröffentlicht.
pflügt ein ›Mister‹ Planetenmist um und pflanzt Boh- Die Kabarett-Texte von 1948 sind auch deshalb von
nenstangen, Kopfsalat sowie rote und gelbe Rüben. Im Interesse, weil sie zentrale Themen vorwegnehmen,
Hörspiel und in der Komödie Herkules und der Stall mit denen sich Dürrenmatt auch später in seinen po-
des Augias (1954/1962) griff Dürrenmatt den ›Mist‹ litischen Reden, Essays und Theaterstücken auseinan-
als komödiantisches Leitmotiv wieder auf. Die Welt- dergesetzt hat. Mit seiner Art Kabarett, das weder Lö-
all-Phantasie erinnert zudem an den Psalm Salomos sungen noch Versöhnung anbot, stieß er bei der Cor-
aus den Physikern, mit welchem Möbius seinen Wahn- nichon-Leitung, aber auch beim Publikum und der
sinn zu demonstrieren versucht, sowie an eine ähn- Kritik auf Unverständnis. »Ihre Sketche scheinen den
liche lyrische Szene in der Komödienfassung der Pan- Rahmen des Cabaret zu sprengen. Es sind keine Sket-
ne (1979), wo die Pensionäre kurz vor dem tragischen che mehr, sondern gefährliche und unbequeme Dro-
Ende ebenfalls ein wildes, blasphemisches Lied auf die hungen. Dahinter ist eine Art Gericht, das man bei
Planeten anstimmen. Bier, Wein und Café nicht gerne hat. Selbst die erns-
Für das Cornichon-Programm Es liit i dr Luft vom testen Dinge von Lenz sind harmlos gegen Ihre Dyna-
Herbst 1948 schrieb Dürrenmatt dann die Sketche mik-Attentate«, schrieb ihm damals Kurt Horwitz,
Die Amtssprache, Hochschule der Politik und Gib Gas! der Schauspieldirektor des Stadttheaters Basel (Hor-
(ebenfalls alle unpubliziert und zugänglich im SLA witz 1948).
Bern). Der Sketch Die Amtssprache ist eine politische Als Theaterautor wurde Dürrenmatt später wieder-
Satire, in der sich Hitler, Mussolini und Franco zu- holt der Hang zum ›Kabarettistischen‹ zum Vorwurf
sammen mit den Sowjets, den USA, dem Vatikan, den gemacht, da manche Kritiker den Klamauk als unnö-
Arabern, Charles de Gaulle und den Schweizer Politi- tiges Anhängsel verstanden. Die Komik erfüllt in Dür-
kern in der Hölle versammeln, wobei sämtliche ideo- renmatts Theaterstücken jedoch eine wichtige drama-
logische Feindbilder ad absurdum geführt werden. turgische Funktion, da sie dem tragischen Ernst der
Im Sketch Hochschule der Politik konfrontiert der Au- von ihm behandelten Stoffe entgegenwirkt. Erst aus
tor einen Velohändler mit einem Professor, der ein dem Kontrast von Komischem und Tragischem ergibt
machiavellistisches Politikverständnis propagiert, in sich die für ihn charakteristische Form der Tragiko-
dem die Politik allein dem eigenen Streben nach mödie: »Das Komische gilt als das Minderwertige,
48 II Schriftstellerisches Werk – C Kabarett

Dubiose, Unschickliche, man läßt es nur gelten, wo ei- skript. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-
nem so kannibalisch wohl wird als wie fünfhundert A-r220.
Säuen. Doch in dem Moment, wo das Komische als Die Hochzeit der Helvetia mit Merkur. Typoskript. Schwei-
zerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m252_XII.
das Gefährliche, Aufdeckende, Fordernde, Moralische Brief von Kurt Horwitz an Friedrich Dürrenmatt vom
erkannt wird, läßt man es fahren wie ein heißes Eisen, 1.5.1948. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-B-
denn die Kunst darf alles sein, was sie will, wenn sie 2-HOR.
nur gemütlich bleibt«, schrieb Dürrenmatt im Essay Brief von Heinrich Rothmund an Walter Lesch vom
Theaterprobleme (1954; WA 30, 69). 11.5.1948. Cabaret-Archiv, Gwatt, L 4.1.

Literatur Sekundärliteratur
Primärtexte, Quellen Keller, Peter Michael: Friedrich Dürrenmatt im Nachkriegs-
Der Gerettete. In: WA 17, 127–135. Cornichon. In: Cabaret Cornichon. Geschichte einer
Der Erfinder. In: WA 17, 136–151. nationalen Bühne. Zürich 2011, 341–361.
Hochschule für Politik. Typoskript. Schweizerisches Litera- Kreis, Georg: Die Schweizerische Flüchtlingspolitik der
turarchiv, Sig. SLA-FD-A-r220. Jahre 1933–1945. In: Schweizerische Zeitschrift für
Die Amtssprache. Typoskript. Schweizerisches Literatur- Geschichte 47 (1997), 552–579.
archiv, Sig. SLA-FD-A-r220. Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Gib Gas! Typoskript. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. Biographie. Zürich 2011, 338–341, 492–493.
SLA-FD-A-r220. Wyrsch, Peter: Die Dürrenmatt-Story. In: G1, 25–97.
Das Lied vom Pflanzer auf dem hintersten Planet. Typo-
Michael Fischer
D Hörspiele

13 Hörspiele der Lektüre der Forschungsliteratur der Eindruck,


als handle es sich bei Dürrenmatts Hörspielen aus-
Einführung schließlich um Auftragsarbeiten, die seinem ansons-
ten selbstbestimmten Œuvre nicht zuzurechnen sei-
Das Hörspiel als Stiefkind in der Forschung
en, ohne dessen Wert zu schmälern.
Das Hörspiel als Forschungsgegenstand fristet in der Ebenso wie seine Kriminalromane schrieb Dürren-
Literaturwissenschaft gemeinhin ein Schattendasein. matt seine Hörspiele durchaus auch aus Gründen des
Zu sehr bewegt es sich an den Grenzen zu Literatur- Broterwerbs, zumal er mit seinen Theaterarbeiten zu-
fernem: zu Klangcollagen, zur Unterhaltungsliteratur, nächst wenig erfolgreich war. Im Gespräch mit Heinz
zu reiner Zweitverwertung. Stirnrunzelnd ordnet die Ludwig Arnold sagt er: »Da muss ich dem deutschen
deutschsprachige Literaturwissenschaft das Hörspiel Rundfunk sehr dankbar sein, denn der wurde so etwas
dem Gebiet der Medienwissenschaft zu. Tatsächlich wie mein Mäzen« (Arnold 1990, 313). Deutsche Sen-
ist zwar der Rundfunk und alles, was damit zusam- der hatten eine große Reichweite, und sie zahlten gut.
menhängt, Domäne der Medienwissenschaft. Da der
Anteil von Hörspielen am Gesamtprogramm der
Brotberuf als schriftstellerisches Stimulans
Rundfunksender selbst in den Blütephasen der 1920er
und 1950er Jahre nie über drei Prozent lag, ist aller- Das Hörspiel hatte im Deutschland der Nachkriegszeit
dings auch in der Medienwissenschaft das (literari- Hochkonjunktur; zahlreiche namhafte Schriftstellerin-
sche) Hörspiel eine Forschungsnische. nen und Schriftsteller haben solche geschrieben (u. a.
Entsprechend sind die Analysen der Hörspiele Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll,
Friedrich Dürrenmatts, von denen er zwischen 1951 Günter Eich, Wolfgang Hildesheimer). Diese immense
und 1960 immerhin acht geschrieben hat, eher spär- schriftstellerische Betätigung in Sachen Hörspiel mit
lich. Das ist umso befremdlicher, als sich gerade in den Honoraren allein zu begründen, greift allerdings zu
Deutschland, wo seine Hörspiele überwiegend produ- kurz. Ein weiterer Aspekt war, dass man über den Laut-
ziert und gesendet wurden, das Medium als literari- sprecher schlicht mehr Rezipienten erreichte als über
sche Gattung bei Publikum und Autorenschaft weit Druckseiten oder Theaterbühnen. Die Radio-Affinität
größerer Beliebtheit erfreut als in anderen Ländern war in Deutschland seit jeher hoch. Schon im Dritten
und Literaturen. Reich war der Rundfunk massiv propagiert worden. In
der Nachkriegszeit bauten die Alliierten innerhalb kür-
zester Zeit ein flächendeckendes Sendenetz auf, da der
Hörspiel-Schreiben als Brotberuf
Rundfunk das verlässlichste Medium war. Die mediale
Wenn man sich nun von literaturwissenschaftlicher Infrastruktur lag danieder; Druckereien, Theater und
Seite über zahlreiche Monografien hinweg mit einem Kinos waren großteils zerstört, Papier war knapp. Auch
Autor auseinandersetzt und dabei einen umfangrei- war Radiohören schlicht kostengünstiger, als Bücher zu
chen Bereich seines Schaffens ausklammert, ergibt erstehen. Und nicht zuletzt gab es in Deutschland
sich ein gewisser Erklärungsdruck. In der Regel wird 11.000 erblindete Kriegsheimkehrer, die mit Literatur
auf die wirtschaftliche Notsituation verwiesen, die versorgt sein wollten und ein forderndes Publikum dar-
Dürrenmatt zum Schreiben von Hörspielen geradezu stellten. So gründete der Bund der Kriegsblinden
gezwungen habe. Hörspiele seien, schreibt beispiels- Deutschlands e. V. 1950 den Hörspielpreis der Kriegs-
weise Wolfgang Pasche, sein »finanzieller Rettungs- blinden, der binnen kurzem zu einer weithin anerkann-
anker« gewesen (1997, 109). Zuweilen entsteht bei ten literarischen Auszeichnung avancierte.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_13
50 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

Ob aus Gründen des Broterwerbs oder doch aus deren Umsetzung Dürrenmatt allerdings nicht beteiligt
Überzeugung, Dürrenmatt hat sich intensiv mit der war. So wirkte er etwa bei der Hörspielversion von Das
Gattung auseinandergesetzt und die Notwendigkeit Sterben der Pythia (1981) lediglich als Sprecher mit.
des Hörspielschreibens sogar als positiv empfunden: Die nachfolgend zu analysierenden acht Hörspiele
Ȇberhaupt tut es dem Schriftsteller gut, sich nach sind dagegen keine Zweitverwertungen anderer Texte,
dem Markte zu richten. Er lernt so schreiben, listig sondern Originale dieser Gattung: Herkules und der
schreiben, das Seine unter auferlegten Bedingungen Stall des Augias bearbeitete Dürrenmatt erst 1962 für
zu treiben. Geldverdienen ist ein schriftstellerisches die Bühne, neun Jahre nach der Ursendung im Nord-
Stimulans« (WA 32, 59). westdeutschen Rundfunk (NWDR), und Die Panne
Immerhin trug die Beschäftigung mit dem Hör- wurde als Hörspiel am 17.1.1956 vom Bayerischen
spiel nicht ›nur‹ finanzielle Früchte: 1957 erhielt Dür- (BR) und Süddeutschen Rundfunk (SDR) urgesendet,
renmatt den Preis der Kriegsblinden für Die Panne, erst später im Jahr erschien sie als Erzählung; als Büh-
ein Jahr später den Prix Italia für Abendstunde im nenstück wurde Die Panne 1979 aufgeführt. Diese Be-
Spätherbst. Und auch seitens der Literaturwissen- arbeitungen sind natürlich für eine Analyse der Hör-
schaft werden seine Hörspiele nicht durchgängig ab- spiele wichtig, da sich anhand der jeweiligen Unter-
getan. So gehört für Birgit Lermen Die Panne »zu den schiede einerseits Einblicke in den Produktionsprozess
gültigsten Leistungen der deutschen Hörspielproduk- gewinnen lassen (da Bühne, Papier und Lautsprecher
tion« (1975, 87); Gerhard P. Knapp überzeugt im Fall unterschiedliche Herangehensweisen an einen Stoff
von Herkules und der Stall des Augias (1954) oder der nötig machen). Andererseits werden dadurch Weiter-
Abendstunde im Spätherbst (1957) »der Hörspielent- entwicklungen im Stoff selbst erkennbar, die womög-
wurf auf lange Strecken mehr als die Bühnen- bezie- lich das Hörspiel als Vorläufer- und Testversion der
hungsweise Filmrealisierung, gerade weil die Be- späteren Bühnenrealisierungen erweisen. Bearbeitun-
schränkung auf das Wort eine (sprachliche) Konzen- gen in die Gegenrichtung, also Umwandlungen eines
tration erzwingt, die die Bühne nicht leistet« (1993, dramatisch konzipierten Textes in ein Hörspiel, finden
72). Und Murray B. Peppard meint, dass Dürrenmatt sich in Dürrenmatts Werk nirgendwo.
in den Hörspielen Inhalt und Form so meisterhaft auf-
einander abgestimmt habe, dass sie als Bearbeitungen
Hörspielgeschichte als Provokation
für die Bühne alle gleichermaßen erfolglos waren (vgl.
1969, 90). Die Untersuchung von Dürrenmatts Hörspielen hin-
Dürrenmatt selbst empfand das Ignorieren des sichtlich ihrer Stellung im Gesamtwerk oder im Kon-
Hörspiels seitens der Kritik sogar als Vorteil: »Nach ei- text der entsprechenden Bühnenwerke wurde in der
nem Theaterstück tut es gut, einen Roman zu schrei- Forschung bisher zwar durchaus geleistet, allerdings
ben, nach dem Roman erwacht die Lust auf ein Hör- fast ausschließlich den reinen Text betreffend. Die Ge-
spiel, nach dem Hörspiel wagt man sich wieder an ein schichtlichkeit und Funktionsweisen der Gattung sind
Theaterstück: Blutkreislauf. [...] Und dann noch das indes bisher in Bezug auf die Analyse der Hörspiele
Beste: mit deinen Hörspielen tauchst du wieder unter Dürrenmatts nicht zur Kenntnis genommen worden –
(falls du nicht gar zu offensichtlich in ihnen dichtest, und das, obwohl eine Einordnung nicht nur wichtig
reines Wort, Raumlosigkeiten usw.), kein ernsthafter ist, um die Stücke an sich besser verstehen zu können.
Kritiker nimmt sie wahr, liest sie, er schaut sie ja nur Dieses Bezugsfeld ist auch zentral, um zu verstehen,
als reine Gelegenheitsarbeit an, und so läßt sich gera- worin die Sonderrolle des Schweizers Dürrenmatt im
de in ihnen ungestört oft das Wesentlichste tun oder bundesdeutschen Hörspielschaffen der Nachkriegs-
doch vorbereiten« (WA 17, 157). zeit besteht, das dem Schweizer Umgang mit der Gat-
tung in geradezu diametraler Weise gegenübersteht.
Das Nichteinordnen in den Hörspielkontext der
Hörspieladaptionen
Zeit kann zu Fehlinterpretationen führen. Beispiels-
Dürrenmatt war ein Meister der Zweitverwertung: Von weise schreibt Hansueli Beusch, dass Dürrenmatt die
den meisten seiner Romane und Bühnenstücke existie- Möglichkeiten, die Gattung und Medium bieten, nicht
ren mehrere Fassungen (s. Kap. 28, 63). Noch in den ausschöpfe, sie geradezu missachte (vgl. Beusch 1979,
1950er Jahren wurden Hörspieladaptionen der Büh- 153 u. 202 f.), da in seinen Hörspielen Hintergrund-
nenstücke Romulus der Große, Ein Engel kommt nach geräusche kaum eine Rolle spielen würden. Die Be-
Babylon und Der Besuch der alten Dame gesendet, an obachtung an sich ist durchaus richtig. Daraus zu
13 Hörspiele 51

schließen, Dürrenmatt habe sein Handwerkszeug dau um Kasperl, 1932), pazifistisch bei Edlef Köppen
»nicht im Griff« gehabt (Kuckhoff 2007, 197) oder (Wir standen vor Verdun, 1931) und Ernst Johannsen
aber die spartanische akustische Untermalung sei in- (Brigadevermittlung, 1929). Aber auch die nationalso-
dividuelle Handschrift (Brock-Sulzer 1980, 210; Mit- zialistische Art des Hörspiels zeichnete sich mit Eber-
rache 1999, 62), ist entschieden zu kurz gegriffen. Die- hard Wolfgang Möllers Douaumont (1932) bereits so-
ser sparsame Umgang mit Geräuschkulissen trifft für wohl formal als auch inhaltlich ab.
die meisten Hörspiele der 1950er Jahre zu; er war In der Schweiz wurden ebenfalls 1923 die ersten
schlichtweg − und das, wie sich noch zeigen wird, aus Rundfunkstationen eingerichtet, die ein regelmäßiges
gutem Grund − allgemeines Programm dieser Zeit. Programm ausstrahlten, zunächst in Lausanne und
Bern. Der Zuspruch der Bevölkerung der neuen Tech-
nik gegenüber hielt sich jedoch in Grenzen. Die Zu-
Die Entwicklung des Hörspiels in Deutschland
wachsraten der Hörerschaft waren weit weniger
und der Schweiz
sprunghaft als in Deutschland: Bis Ende 1924 zählte
Die Art und Weise, wie sich das Hörspiel in den man in der Schweiz lediglich 16.964 registrierte Hörer.
1950er Jahren darstellte, ist das Resultat einer über Auch an die neue Kunstform ›Hörspiel‹ tastete man
30-jährigen Entwicklung. In Deutschland begann am sich sehr vorsichtig heran: Experimentelles Hörspiel
29.10.1923 die Funk-Stunde AG Berlin mit der Aus- wurde im Schweizer Rundfunk nicht praktiziert, und
strahlung eines regelmäßigen Programms. Das neue inhaltlich beschränkte man sich von vornherein auf
Medium wurde begeistert aufgenommen; die Zahl der Adaptionen bewährter Klassiker. Das erste Schweizer
gemeldeten Rundfunkgeräte nahm innerhalb kurzer Hörspiel wurde am 3.1.1925 auf Radio Zürich gesen-
Zeit ungeahnte Ausmaße an: Im März 1924 waren es det: die Bearbeitung eines der ältesten literarischen
etwas mehr als 2500, im Mai 11.000, im Juni 70.000, Denkmäler der Schweiz überhaupt, das um 1511 von
und bis Ende des Jahres hatten bereits über eine halbe einem unbekannten Autor verfasste Urner Spiel von
Million Deutsche ein Radio angemeldet. Die deut- Wilhelm Tell. Es folgten zwei geistliche Dramen, ein
schen Hörspielmacher entwickelten eine ungemeine Teil eines Osterspiels aus dem 15. Jahrhundert und
Liebe zum Experiment. Bereits das erste Hörspiel Calderóns Großes Welttheater. 1926 folgte dann das
Zauberei auf dem Sender, ausgestrahlt am 24.10.1924, Spiel vom verlorenen Sohn von Johannes Salat aus dem
ist alles andere als ein langsames Herantasten an die Jahr 1537. Im gleichen Jahr wurde auch erstmals ein
neue Technik und die neue Gattung, sondern ein Spiel Hörspiel eines Zeitgenossen gesendet, das Schützen-
mit dem Hörer, dessen voraussichtliche Erwartungen festspiel Die Schweizer von Cäsar von Arx, das sich in
von vornherein auf ein Karussell gesetzt werden. Inhalt und Form allerdings ebenfalls in ausgespro-
Schon früh machten sich Schriftsteller von Rang chen traditionellem Rahmen bewegte. Die Hörspiel-
ausführliche Gedanken darüber, was ein Sendespiel, produktion von Radio Bern wurde 1926 mit Anton
Funkspiel, Funkdrama – der Begriff ›Hörspiel‹ etab- Tschechows Lustspiel Heiratsantrag (1888) eröffnet,
lierte sich erst nach und nach − leisten kann, darf oder einem ebenfalls höchst bewährten Klassiker (vgl.
muss und welche Möglichkeiten und Grenzen es hat, Schwitzke 1963; Leonhardt 2001; Krug 2003; Strzolka
so etwa Alfred Döblin in seinem Vortrag auf der Ta- 2004; Schweiss u. a. 2008).
gung Dichtung und Rundfunk der Preußischen Aka-
demie der Künste in Kassel (1929) oder Bertolt Brecht
Das Hörspiel nach 1933
in verschiedenen zwischen 1927 und 1932 veröffent-
lichten Arbeiten, die später zu einer ›Radiotheorie‹ Die Zeit des radiofonen Experimentierens und Aus-
zusammengefasst wurden. lotens des Möglichen und Machbaren in Deutschland
In Fritz Walter Bischoffs Hörspiel Hallo! Hier Welle war mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten
Erdball! (1928) wird collageartig das Stakkato der schlagartig vorbei: Die prominentesten Radiomacher
Großstadt wiedergegeben; Weekend von Walter Rutt- wurden noch im Frühjahr 1933 zugunsten linien-
mann vom Juni 1930 besteht ausschließlich aus Ge- treuer Nazis ihrer Ämter enthoben und mit Berufs-
räuschen und kommt vollkommen ohne Text aus. In- verbot belegt. Statt experimenteller und sozialkriti-
haltlich wurde das Hörspiel schon bald für politische scher Hörspiele wurden nunmehr bei sinkenden Pro-
Botschaften genutzt – links bis sozialistisch geprägt duktionszahlen ausschließlich leicht verständliche
bei Brecht (Der Lindberghflug, 1929), Erich Kästner Stücke präsentiert, die in erster Linie Propagandazwe-
(Leben in dieser Zeit, 1929) und Walter Benjamin (Ra- cken dienten.
52 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

In der Schweiz war mit der zunehmenden faschisti- setzten, auf Dialoge und innere Monologe. Eines der
schen Bedrohung aus Italien die Bewegung der so- ersten deutschen Original-Hörspiele nach dem Krieg,
genannten ›Geistigen Landesverteidigung‹ entstan- Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür aus dem Jahr
den. Spätestens mit dem Beginn des Dritten Reichs 1947, gab die Richtung vor, an der man sich allgemein
wurde sie zum kulturpolitischen Programm und do- orientierte.
minierte mithin auch das Schweizer Hörspielgesche- Für den Rundfunk der Schweiz bedeutete das Jahr
hen. Neben militärischer und wirtschaftlicher Selbst- 1945 ebenso wenig eine Zäsur wie das Jahr 1933: Der
behauptung sollten auch die geistigen Kräfte für die öffentliche Zuspruch war gleichbleibend zögerlich,
Stärkung des Nationalbewusstseins eingesetzt werden. die Sender waren weniger zahlreich, die Programme
Für den Rundfunk bedeutete das, wie Kurt Schen- dünner, und nach wie vor legte man Wert darauf, sich
ker, der Chef der Sektion Radio im Stab Bundesrat Ab- vom nördlichen Nachbarland abzuheben. Man blieb
teilung Presse und Funkspruch, im April 1938 formu- der ›Geistigen Landesverteidigung‹ weiterhin verhaf-
lierte: »Wir senden weiter Bilder unserer Heimat, Lie- tet, Klassiker, leichte Krimis und harmlose Mundart-
der unseres Volkes, die Sprache unserer Altvorderen. komödien dominierten das Hörspielprogramm.
Was bodenständig und echt, gehört neben den Arbei- Dass Dürrenmatts Hörspiel-Erstling Der Doppel-
ten unserer geistigen Elite ans Mikrophon. [...] Wir gänger 1946 von Radio Bern abgelehnt wurde, er-
sind aber auch verpflichtet zu zeigen, dass unser Volk scheint vor diesem Hintergrund in keiner Weise ver-
ebenfalls seine Feste und Freuden, die Frau ihren wunderlich. Das Stück war weder im Dialekt noch
Kuchen und der Mann seinen Stumpen hat. Kurz ge- hielt es ›Schweizer Grundwerte‹ hoch noch war es so-
sagt: Wir müssen in die Schweizer Schädel hinein- zial und politisch leichte Kost. Dass sich Dürrenmatt
hämmern, dass es uns gar nicht schlecht, zum min- fürderhin an deutsche Rundfunkanstalten hielt, war
desten besser als den uns umgebenden Ländern nur konsequent.
geht« (Schenker, zit. nach Wüthrich 2003, 339). Ge- Dürrenmatt macht Hörspiele für ein deutsches Pu-
sellschaftskritisch, was die nationalen Verhältnisse be- blikum, er kennt die deutschen Hörspiel-Gepflogen-
traf, durfte man also beim Rundfunk nicht sein; auf heiten, und er versteht diese so gut in sein Schaffen zu
der anderen Seite war die Schweizerische Rund- integrieren, dass man ihm hohe Auszeichnungen zu-
spruchgesellschaft gehalten, stets die schweizerische spricht (vgl. Dedner 1971; Döhl 1979; Bloom 1985;
Neutralität zu wahren und »sich daher mit auslän- Friedrich 1991; Dussel 2010).
dischen politischen Verhältnissen besser überhaupt
nicht zu befassen« (Radio-Zeitung [1938], zit. nach
Dürrenmatts Hörspiel-Sonderweg
Weber 1995, 64). Für das Hörspielprogramm blieben
mithin fast nur Mundartkomödien übrig. Nichts an- Aber schrieb Dürrenmatt seine Hörspiele als Schwei-
deres ist aus dieser Zeit überliefert (vgl. Jorio 2006; zer? In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung
Döhl 1992; Weber 1995; Tribelhorn 2013). des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 2.4.1957
geht er humorvoll lapidar auf diese Frage ein: »Ich bin
Schweizer, wenn auch mein Fall insofern etwas ge-
Das Hörspiel nach 1945
mildert wird, als ich aus Neuchâtel komme, einer Stadt,
Nach dem Ende des Dritten Reichs konnten oder die bis vor etwas mehr als hundert Jahren zu Preußen
wollten die deutschen Hörspielmacher an die beiden gehörte« (WA 16, 177). Tatsächlich ist dies, was die
Hörspieltraditionen der Vergangenheit nicht anknüp- Inhalte seiner Hörspiele betrifft, einer der springenden
fen: Die Freude am Experiment wollte so gar nicht zur Punkte: Die thematischen Vorgaben, die ein bundes-
deutschen Nachkriegsliteratur passen, und es waren ja republikanisches (oder auch DDR-)Nachkriegshör-
zunächst die Literaten, die in der neu entstehenden spiel seinem bundesrepublikanischen (oder deutsch-
Hörspielszene den Ton angaben. Die propagandis- demokratischen) Autor fast schon diktiert, gelten für
tische und auf Allgemeinverständlichkeit ausgerichte- Dürrenmatt nur bedingt. Die beiden großen deut-
te Tradition der nationalsozialistischen Produktionen schen Traumata, die Bewältigung des Dritten Reichs
wollte/konnte man ebenfalls nicht fortführen. Die einerseits, die deutsche Teilung andererseits, betreffen
Konsequenz waren unaufgeregte Hörspiele, die auf ihn nicht, bzw. aus einem anderen Blickwinkel heraus.
ausladende Geräuschkulissen weitgehend verzichte- Auch das Wiederaufrüsten und der Kalte Krieg spie-
ten und stattdessen auf das reine Wort mit einer über- len für Schweizer eine andere Rolle als für Deutsche,
schaubaren Anzahl an Sprecherinnen und Sprechern resp. als für deutsche Schriftstellerinnen und Schrift-
13 Hörspiele 53

steller, die sich ihres dichterischen Auftrags sehr wohl rer knappen und konzentrierten Form ein deutliche-
bewusst sind. Dürrenmatt weiß natürlich um den Un- res Bild dieser Entwicklung liefern, als es aus den
terschied: »[E]s ist ein menschliches Problem, um das Bühnenstücken zu gewinnen ist« (1976, 127). Ein-
es geht, ein Problem, das sich hinter der Feststellung gedenk dessen sollen die Hörspiele im Folgenden in
verbirgt, die ein Schweizer oft zu hören bekommt, der chronologischen Reihe ihrer Entstehung dar-
nämlich, er habe nichts durchgemacht. Präziser, er ha- gestellt werden.
be keinen Krieg durchgemacht« (ebd.).
Als Nicht-Deutscher kann sich Dürrenmatt größe-
re Freiheiten erlauben. Und er erlaubt sie sich. Dort, Die Hörspiele
wo deutsche Hörspiele zum überwiegenden Teil posi-
Der Doppelgänger
tiv enden, einen Weg aufzeigen, zumindest eine Per-
spektive, weg vom Faschismus, hin zu neuen politi- Das Stück gehört zu Dürrenmatts frühesten Werken;
schen und gesellschaftlichen Formen, folgen seine es entstand 1946 noch während seiner Studienzeit in
Hörspiele dem Diktum, dass eine Geschichte erst Bern. Erst vierzehn Jahre nachdem es von Radio Bern
»dann zu Ende gedacht [sei], wenn sie ihre schlimmst- abgelehnt worden war, erschien es 1960 bei Dürren-
mögliche Wendung genommen« habe (WA 7, 91). matts ›Stammverlag‹ Arche in Buchform. Im Dezem-
Diese schlimmstmögliche Wendung kann gerade ber desselben Jahres wurde es in einer Gemeinschafts-
auch darin bestehen, dass es eben keine Entwicklung produktion des BR und Norddeutschen Rundfunks
gibt, dass die Geschichten im Kreis verlaufen – am (NDR) gesendet. Ob Dürrenmatt das Stück bereits
deutlichsten ausgeführt in Die Panne und Abendstun- vorher einem deutschen Sender angeboten hatte, ist
de im Spätherbst, die jeweils mit der Wiederholung der nicht bekannt. Im Jahr 1946 wäre es dafür definitiv zu
Anfangsszene enden. Zwar machen die Protagonisten früh gewesen; in den unmittelbaren Nachkriegsjahren
eine Entwicklung durch, begreifen sogar etwas; die wurden überwiegend amerikanische, französische
höhere Einsicht oder gar eine Läuterung, die dem und britische Hörspiele gesendet sowie Hörspielbear-
Lernprozess folgen sollte, bleibt jedoch aus. beitungen von Exilliteraten. Der von den Briten ein-
Wessen Hörspiele vorwiegend auf bundesrepubli- gerichtete NWDR startete sein Hörspielprogramm im
kanischen Sendern gespielt werden, der wird haupt- September 1945 mit Carl Zuckmayers Hauptmann von
sächlich von bundesrepublikanischem Publikum emp- Köpenick. Auch Original-Hörspiele deutscher Autoren
fangen; inwiefern Dürrenmatt dieses nun allerdings wurden bereits früh gesendet – im Januar 1946 Der
auch anspricht, muss am Einzelfall geprüft werden. Held von Volker Starke und im Februar 1947 das pro-
Immerhin sagt er, es falle ihm »gar nicht ein, mich in minenteste Beispiel des neu entstehenden Nachkriegs-
erster Linie an die Deutschen zu wenden, sondern ich hörspiels, Borcherts Draußen vor der Tür. Doch war
wende mich vor allem an die Schweizer« (Dürrenmatt, hier die Thematik mehr oder weniger vorgegeben: Die
zit. nach Döhl 1978). Beschäftigung mit den konkret benennbaren Proble-
men nach dem Zweiten Weltkrieg. Dürrenmatts Moti-
ve hätten sich in dieses Schema kaum einpassen lassen.
Die Hörspiele im Kontext des Gesamtwerks
Im Doppelgänger wird innerhalb eines Rahmen-
Dürrenmatts Hörspiele zu interpretieren, ohne deren dialogs zwischen dem Regisseur und dem Autor (ge-
Stellenwert im Gesamtwerk und die Bezüge zu seinem sprochen von Dürrenmatt selbst), die das Geschehen
restlichen Schaffen zu berücksichtigen, wäre ebenso kommentierend begleiten, der zunächst namenlose
unzulänglich wie das Außer-Acht-Lassen der deut- Protagonist von seinem Doppelgänger aus dem Schlaf
schen und schweizerischen Hörspielhistorie. Herkules geschreckt. Dieser eröffnet ihm, er sei zum Tode ver-
und der Stall des Augias und Die Panne gibt es zusätz- urteilt, aufgrund eines Mordes, den nicht er selbst be-
lich zur Hörspiel- auch als Theater- bzw. Prosafassung; gangen habe, sondern eben sein Doppelgänger. Als
ein Vergleich dieser Doppelfassungen drängt sich ge- Folge der ungerechtfertigten Verurteilung wird der
radezu auf. Andererseits bietet es sich an, die Hörspie- Protagonist im Laufe des Stücks allerdings tatsächlich
le im Zusammenhang mit den thematisch verwandten zum Mörder − am Doppelgänger und an seiner Frau
Bühnen- und Prosawerken zu betrachten. Anhand –, wird schuldig und stellt sich in Erwartung einer ge-
dieses Vorgehens lässt sich die künstlerische Entwick- rechten Strafe dem »hohen Gericht« (WA 1, 321). Der
lung Dürrenmatts in ihrer Gesamtheit erkennen, zu- Hörspielregisseur will sich diesem Paradox nicht beu-
mal die Hörspiele, wie Renate Usmiani meint, »in ih- gen, mischt sich in die Handlung ein und versucht
54 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

den Protagonisten davon abzuhalten, das Urteil an- Auch wenn man im Produktionsjahr 1960 bereits
zunehmen: neue Hörspielwege beschritt, die sich vom Nach-
»DER MANN Ich war ein Mörder, ohne zu töten, kriegshörspiel wegbewegten, ist Der Doppelgänger
ich war des Todes schuldig, ohne ein Verbrechen be- von der Machart ein Worthörspiel der unmittelbaren
gangen zu haben. / REGISSEUR Das ist ungerecht. Nachkriegszeit par excellence: Sieben Stimmen, zum
Vom Menschen aus gesehen, ist das ungerecht. / DER Schluss hin ein wenig Hall, an einigen Stellen werden
MANN Ich habe es aufgegeben, vom Menschen aus Szenen sporadisch mit Musik unterlegt; Hintergrund-
zu sehen. / REGISSEUR Was von Ihnen in jener geräusche fehlen bis auf einen merkwürdig deplatzier-
nächtlichen Stunde im Gefängnis verlangt wurde, ten Schuss komplett.
kann von keinem Menschen verlangt werden. / DER
MANN Wurde von mir mehr verlangt als Glaube? /
Der Prozeß um des Esels Schatten
REGISSEUR verwundert Glaube? / DER MANN
Glaube an die Gerechtigkeit des hohen Gerichts. / RE- Dürrenmatts zweitem Hörspiel wurde mehr Erfolg
GISSEUR Wenn Sie jetzt glauben, das hohe Gericht zuteil. Es wurde mehrfach gesendet: zunächst am
habe recht, müssen Sie sich aufgegeben haben. / DER 5.4.1951 auf Radio Bern, ein Jahr später folgten Neuin-
MANN Ich habe mich aufgegeben. / [...] / Nur wer sei- szenierungen des Südwestfunks (SWF) und des BR,
ne [des hohen Gerichts, D. L.] Ungerechtigkeit an- dann des NWDR, des NDR, des Österreichischen
nimmt, findet seine Gerechtigkeit, und nur wer ihm (ORF), des SDR und Saarländischen Rundfunks (SR),
erliegt, findet seine Gnade« (321 f.). des Rundfunks der DDR und zuletzt 1990 der Deut-
Die Thematisierung von Glaubensproblemen und schen Welle. Gedruckt erschien das Hörspiel 1958
den Widersprüchlichkeiten des religiösen Lebens, bei Arche.
aber auch die Auflehnung des Pastorensohns gegen Der Umstand, dass das Stück in der Schweiz des
das Christentum ziehen sich durch Dürrenmatts kom- Jahres 1951 gesendet wurde, scheint den bisherigen
plettes Frühwerk: Im Doppelgänger geht es um eines Ausführungen zu widersprechen, thematisch scheint
der Urthemen der christlichen Lehre, die Prädestina- es eher an den bundesrepublikanischen Hörspiel-
tion, das Schuldigwerden des Menschen, die Gerech- gepflogenheiten der Zeit orientiert: Eingebettet in sei-
tigkeit Gottes und die Unterwerfung des Menschen ne literarische Vorlage – das vierte Buch des Romans
unter Gottes Urteil. Indem der Mensch Mensch ist, ist Die Abderiten von Christoph Martin Wieland – wird
er auch schon der Sünde schuldig (Röm 5, 12). die westeuropäische Nachkriegsgesellschaft satirisch
Als zusätzliches Paradoxon kommt hinzu, dass, wie überzeichnet, die Gefahr eines Atomkriegs und die
Regisseur und Autor am Ende feststellen, das hohe Gier der Kriegsgewinnler dargestellt. In diesem Sinn
Gericht – und somit wohl auch Gott – überhaupt nicht und mit der Anleihe aus Brechts Ballade von den See-
existieren. Der Sitz des Gerichts wird in Form eines räubern (Publikationsjahr 1927) passte das Stück frei-
Rokokoschlösschens beschrieben, die schwarzen Au- lich auch in den DDR-Rundfunk. Dabei bleibt es aber,
tomobile der Richter sind im Schatten der Bäume da- wie Renate Usmiani anmerkt, »durchaus im Rahmen
vor geparkt; der Gerichtssaal selbst jedoch ist öde und des Gemütlichen«, bleibt »spöttisch überlegen« und
leer, nur eine längst verwitterte Statue der Justitia deu- kompatibel zum Hörspiel schweizerischen Zuschnitts,
tet auf seine ursprüngliche Funktion hin. obwohl der Stoff an sich durchaus brisant war (1976,
Das Motiv der paradoxen Gerechtigkeit prägt Dür- 133). Auch trägt das »lausige thrazische Nest Abdera«
renmatts gesamtes Frühwerk. Der Doppelgänger ist (WA 8, 121), in dem Der Prozeß um des Esels Schatten
damit seiner frühen Prosa, aber auch seinen ersten spielt, deutlich schweizerische Züge.
beiden Bühnenwerken Es steht geschrieben (1945/46) Der Zahnarzt Struthion aus Abdera mietet für eine
und Der Blinde (1947) verwandt. Geschäftsreise einen Esel. Unterwegs lässt er sich in
Die Unterwerfung des Menschen unter eine höchs- dessen Schatten nieder, worauf es mit dem Eselstrei-
te Autorität, seine Schuld, die Frage nach seiner Eigen- ber Anthrax zum Streit über die Frage kommt, ob
verantwortlichkeit wären zwar vor dem Hintergrund Struthion zusammen mit dem Esel auch dessen Schat-
des gerade zu Ende gegangenen ›Tausendjährigen ten gemietet habe. Da sich die beiden Kontrahenten
Reichs‹ auch aus bundesrepublikanischer Sicht eine nicht einigen können, ziehen sie vor Gericht. Der
interessante Themenstellung gewesen. Im Jahr 1946 Streit um die Eselsmiete eskaliert schnell zu einem
war die Zeit dafür allerdings noch nicht reif, zu meta- Streit um Prinzipien, um Götterglaube, Menschlich-
physisch war die Geschichte, zu wenig konkret. keit, das Wohl des Proletariats und schließlich die
13 Hörspiele 55

Freiheit, die verteidigt werden muss. Beziehungen, nicht dazu bringt, von seinem Auftrag Abstand zu
Bestechung und Propaganda spielen plötzlich eine nehmen. Ihm ist es einerlei, ob seine Delinquenten
Rolle. Die Prozesskosten bringen die Kontrahenten schuldig oder unschuldig sind. Er berichtet aus sei-
buchstäblich um Weib und Kind, um Zahnarztpraxis nem Berufsleben, von den Erfahrungen, die er mit sei-
und Esel. Staats- und Volksversammlung schalten sich nen Opfern gemacht hat. Es ist ein großer Monolog
ein, der Fremdenverkehrsverein, der Tierschutz, die über die Kunst des Sterbens, die Kunst, seinen Tod in
Zünfte und schließlich die Waffenindustrie. Nachdem Demut anzunehmen. Was der Schriftsteller schließ-
letztendlich die ganze Stadt in Flammen aufgegangen lich auch tut.
ist, sucht man nach einem Schuldigen, an dem man Das Nächtliche Gespräch weist einige Reminiszen-
seine Wut auslassen kann, und findet − den Esel. zen an den Doppelgänger auf: Auch hier steht die mo-
Wie im Doppelgänger geht es um das Paradoxon der ralische Komponente im Vordergrund. Der Lehrcha-
Gerechtigkeit, und diesmal gibt es auch ein Gericht, rakter wird bereits im Untertitel Ein Kurs für Zeitge-
das allerdings korrupt und ineffektiv ist. Dabei ist das nossen angedeutet, und tatsächlich ähnelt der Mono-
Hörspiel frei von Moralpredigten, dafür voller Humor, log des Henkers in weiten Teilen einer Predigt. In
locker im Ton, reich an Übertreibungen und Wort- deren Zentrum steht wiederum ein christliches Motiv,
spielen, was zu unterschiedlichen Bewertungen führt: die Demut: Das sinnvolle Sterben, vielmehr Hinge-
So ist es für Peppard aus diesem Grund eines von Dür- richtetwerden nach einem Verbrechen oder als Rebell
renmatts besten, leichtesten und komischsten Stü- im Kampf für seine Ideale, gebe es – so der Henker −
cken (1969, 92 f.). Usmiani hingegen hält es, gerade nicht mehr in einer Gesellschaft, die keine mensch-
deswegen und weil er »zu viel im Stil widersprüchli- lichen Werte mehr kenne. Der einzig ›gute Tod‹, den
ches Fremdmaterial aufgenommen hat«, für »das am man heute noch sterben könne, sei der in Demut:
wenigsten gelungene Hörspiel Dürrenmatts« (1976, »Dies ist, was ich, ein Henker, ein verachteter Mensch,
133). von den Unschuldigen lernte, die mein Beil fällte und
die sich nicht wehrten: Daß einer in der Stunde seines
ungerechten Todes den Stolz und die Angst, ja auch
Nächtliches Gespräch mit einem verachteten
sein Recht ablegt, um zu sterben, wie Kinder sterben,
Menschen
ohne die Welt zu verfluchen, ist ein Sieg, der größer ist,
Die Uraufführung von Dürrenmatts drittem Hörspiel als je ein Sieg eines Mächtigen war« (WA 17, 29).
fand am 25.6.1952 als szenische Lesung an den Wie im Doppelgänger haben wir eine höchste In-
Münchner Kammerspielen statt, drei Tage später wur- stanz, wieder ist sie ungerecht, wieder hat man sich ihr
de es vom BR gesendet. Diese Produktion wurde im zu fügen. Der Unterschied und das doppelt Paradoxe
folgenden Jahr von Radio Bern übernommen, in ist aber, dass nicht nur sie selbst um ihre Ungerechtig-
Buchform erschien das Stück 1957. Weitere Produk- keit weiß, sondern auch ihre ausführende Gewalt, der
tionen folgten 1958 (ORF), 1959 (Hessischer Rund- Henker, der indes subversiv genug ist, dem Delin-
funk; HR) und 1961 (DRS). Jiří Smutný vertonte die quenten zu verraten, wie man diese Instanz besiegt,
Geschichte 1968 als Kurzoper unter dem Titel Nächt- nämlich indem man sich ihrem Urteil in Demut fügt.
liches Gespräch. Wieder handelt es sich um ein Hörspiel, das auf
Mitten in der Nacht taucht in der Wohnung des bundesdeutsche Hörergewohnheiten zugeschnitten
Schriftstellers der Henker auf; der Schriftsteller hat scheint: Im vorgestellten Staat werden Bücher ver-
ihn bereits erwartet: Er war vom Ministerpräsidenten boten, gebildete Menschen leben gefährlich, offen Op-
des Landes verbal angegriffen worden, und solche An- position zu bekunden, kommt einem Todesurteil
griffe ziehen in der Regel eine Verurteilung zum Tod gleich. Soweit könnte es sich auch um eines der auto-
und die rasche Vollstreckung des Urteils nach sich. ritären Systeme im ›Osten‹ handeln, und als ein sol-
Man lebt in einem nicht benannten, aber eindringlich ches ist der Handlungsort des Nächtlichen Gesprächs
genug beschriebenen totalitären Staat. Der Schriftstel- von den Zeitgenossen auch oft verstanden worden.
ler ist seinem Henker gegenüber zwar höflich, macht Dürrenmatt selbst wollte sein Stück als Allegorie ver-
aber aus seiner Verachtung keinen Hehl. Es entwickelt standen wissen, als Bild des totalitären Staats an sich,
sich ein Dialog, in dem der Schriftsteller anfangs ver- nicht nur in Hinsicht auf Vergangenes oder Gegen-
sucht, den Henker von seiner Unschuld und der Un- wärtiges. Dennoch wird Dürrenmatt an zwei Stellen
gerechtigkeit dieses Urteils zu überzeugen, wofür die- konkret, indem eine »schimmelnde Stelle oben an
ser durchaus Verständnis aufbringt, was ihn jedoch der Decke, die fast wie Europa aussieht« (18), erwähnt
56 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

wird und der Sohn des Schriftstellers sich »in irgend- beinlose Invalide Adolf Josef Stranitzky und sein
einem Konzentrationslager« befindet (12). Der Begriff kriegsblinder Freund Anton hegen nun die Hoffnung,
›Konzentrationslager‹ wurde im Nachkriegsdeutsch- man könne den Nationalhelden, der ja nun ebenfalls
land des Jahres 1952 auf die spezifisch deutsche Ver- Invalide sei, von der Notwendigkeit der Solidarität al-
gangenheit bezogen und hatte entsprechend allzu pro- ler Invaliden überzeugen, von einer großen Solidar-
vokatorisches Potential, als dass man ihn leichtfertig gemeinschaft, davon, »daß man sich zusammentun
für Verallgemeinerungen hätte verwenden können. muß, die Oberen und die Unteren, die Reichen und
Insofern lässt sich das Nächtliche Gespräch als Beitrag die Armen« (61). Stranitzky und Anton leben diesen
zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus verstehen. Zusammenhalt vor, indem sie die Beeinträchtigung
Im Hinblick auf die Machart, das fast vollständige des je anderen kompensieren: Stranitzky leiht Anton
Fehlen von Geräuschkulissen und die Konzentration sein Augenlicht, indem er ihm die Richtung weist, und
auf das gesprochene Wort ist es gleichzeitig ein typi- Anton trägt Stranitzky auf seinen Schultern oder zieht
sches Hörspiel der Innerlichkeit. ihn in einem Wägelchen.
Tatsächlich bekommen die beiden eine persönliche
Audienz beim Nationalhelden gewährt und träumen
Stranitzky und der Nationalheld
bereits vom »Wendepunkt der Weltgeschichte« (65).
In Dürrenmatts nächstem Hörspiel wird diese Dar- Bei der abendlichen Rundfunkübertragung des Tref-
stellung der Ohnmacht gesellschaftlicher Randfiguren fens müssen sie aber feststellen, dass die Rede Stranitz-
auf ein konkretes Dilemma der deutschen Gegenwart kys komplett gestrichen wurde, dass Anton und er nur
der 1950er Jahre bezogen, die in dieser Zeit so virulen- als Statisten benutzt wurden, um die Großherzigkeit
te Kriegsheimkehrerproblematik. Bezeichnenderwei- des Nationalhelden zu unterstreichen, der in einem
se wurde keine der deutschen Produktionen (NWDR Akt der Nächstenliebe zwei einfache Leute empfangen
und SDR 1952, BR 1954, Radio DDR 1965) im Schwei- habe. Als sich die Hoffnung der beiden Invaliden der-
zer Rundfunk übernommen. Erst 1989 produzierte gestalt in Nichts auflöst, lenkt Stranitzky seinen blin-
das Schweizer Radio DRS eine eigene Fassung. Die den Träger in einen Kanal und damit in den gemein-
Buchausgabe erschien 1959. samen Ertrinkungstod. Mit in seiner spezifisch deut-
Die Problematik der invaliden Kriegsheimkehrer, schen Problematik und dem Anklang an das Dritte
die in der Gesellschaft des aufkommenden westdeut- Reich im Namen des Protagonisten ist Stranitzky und
schen Wirtschaftswunders keinen Platz finden, wird der Nationalheld vielleicht Dürrenmatts am meisten
mit der Kritik an den ›Massenmenschen‹ verbunden, auf das deutsche Publikum zugeschnittene Hörspiel.
die sich von den Medien dergestalt manipulieren las-
sen, dass sie über den Ereignissen in der ›großen wei-
Herkules und der Stall des Augias
ten Welt‹ die Probleme vor ihrer eigenen Haustüre
nicht mehr als relevant empfinden bzw. gar nicht mehr Nach diesem ›deutschen Hörspiel‹ hält sich Dürren-
wahrnehmen. Darüber hinaus lässt sich das Hörspiel matt in seinem nächsten Radiostück wieder, wie im
auch als Satire auf sein eigenes Massenmedium verste- Prozeß um des Esels Schatten, an ›schweizerischere‹
hen, den Rundfunk, der den Hörern suggeriert, sie Hörspielwerte. Herkules und der Stall des Augias ist
seien persönlich angesprochen, der sie aber einzeln abermals im antiken Griechenland angesiedelt, wie-
nur als Vertreter einer anonymen Masse versteht. Mit- der steht das Humoristische bis Slapstickhafte stark
hin ist es ein dezidiert deutsches Hörspiel, was sich im Vordergrund; es herrscht bis kurz vor Ende ein
auch im Namen des Nationalhelden Baldur von Moe- spöttisch-amüsanter Tonfall vor. Wo im Prozeß um
ve zeigt: unverkennbar eine Anspielung auf den Füh- des Esels Schatten der Handlungsort Abdera milde an
rer der Hitlerjugend Baldur von Schirach. Schweizer Verhältnisse erinnert, repräsentiert das
Die Geschichte handelt vom »Nationalhelden Bal- Land Elis, in dem der Stall des Augias steht, unver-
dur von Moeve, den alle Welt kennt und von dem die kennbar die Schweiz: Die Elier tragen Namen wie
ganze Welt spricht, und von einem Invaliden, den nie- Pentheus vom Säuliboden oder Kadmos von Käsin-
mand kennt« (WA 17, 35). Der Nationalheld, Staats- gen. Mit zahlreichen Seitenhieben und Anspielungen
oberhaupt eines nicht namentlich bezeichneten und wird gegen die schweizerische Biederkeit und den
durch etliche Widersprüche verrätselten und nicht Amtsschimmel polemisiert, Dürrenmatt geht mit sei-
eindeutig identifizierbaren Landes, ist an der großen nen Landsleuten nicht zimperlich um: »Die Elier sind
Zehe des linken Fußes »aussätzig geworden« (38). Der ein Bauernvolk. Fleißig, einfach, ohne Kultur. Sie ver-
13 Hörspiele 57

mögen nur bis drei zu zählen. Geistig eben zurück- Augias, und den Briefträger Lichas; dafür streicht er
geblieben« (WA 8, 191). zwei Figuren der Hörspielfassung, den Volksschulleh-
Wie im Stranitzky haben wir es mit einem Natio- rer Schmied und den Redaktor Xenophon.
nalhelden zu tun, diesmal jedoch nicht mit einem se- Herkules und der Stall des Augias dürfte Dürren-
nilen Popanz, sondern mit einem echten griechischen matts am wenigsten bekanntes Hörspiel sein, zumin-
Nationalhelden von Format, der Großes zu leisten im- dest ist es das von der Forschung am wenigsten beach-
stande war und nach wie vor wäre, wenn man ihn nur tete. Thematisch und inhaltlich weist es deutliche Pa-
ließe. Allerdings ist auch Herkules ein Produkt, hier rallelen zu Dürrenmatts ›Prosakomödie‹ Grieche sucht
nicht der Medien, sondern der zwanzig bestallten Griechin auf, die unmittelbar im Anschluss an das
Schriftsteller, die ihn des lieben Geldes wegen dem Hörspiel entstanden ist.
Volk der Elier gegenüber heroisch und erhaben dar-
stellen, wobei er selber aber bemerkt: »Ich kann es mir
Das Unternehmen der Wega
einfach nicht leisten, nicht nach dem Wunsche des
Volkes zu leben, ich muß schließlich darauf achten, Das Hörspiel entstand 1954 und wurde in zwei Pro-
daß ich Aufträge bekomme, und geschäftlich geht es duktionen im Januar 1955 im BR und NWDR gesen-
mir gar nicht etwa besonders« (202 f.). det, vom SWF im Juli 1955; die Buchausgabe erschien
Herkules wird von den Eliern für die Ausmistung 1958. Radio DRS sendete erst im Jahr 1968 eine vom
des mythischen Stalls engagiert, scheitert schließlich Autor um zwei Szenen ergänzte eigene Produktion.
aber an der allmächtigen Bürokratie des verdreckten Bereits an dieser zeitlichen Verzögerung ist ersicht-
und vermisteten Landes und beschließt zuletzt, zu- lich, dass es sich beim Unternehmen der Wega wieder
sammen mit seiner Geliebten Deianeira das Land un- um ein Stück handeln muss, das am bundesdeutschen
ausgemistet zu verlassen. Markt orientiert war: Es geht um den Kalten Krieg
Ausgeschmückt wird das Stück durch humoristi- und die atomare Aufrüstung der Supermächte, mithin
sche Episoden, durch Anspielungen auf die Schweiz ein konkretes in der Zeit verortbares Thema, das na-
und Spiele mit mythologischen Referenzen; verschie- türlich auch in der Schweiz von Interesse gewesen wä-
dene Versatzstücke der griechischen Mythologie wer- re, allerdings im Schweizer Rundfunk nur unter Wah-
den aufgenommen und neu – und in der Regel nur be- rung eines ›neutralen‹ Standpunktes. Und vor allem
dingt sinnvoll – kombiniert. Form und Inhalt entspre- nicht im Hörspiel, insbesondere nicht, wenn die poli-
chen einander: Die Schriftsteller, allen voran Polybios, tische Sonderlage der Schweiz direkt thematisiert
der Erzähler des Stücks, erschaffen die Welt so, wie sie wird: »BONSTETTEN Du wirst dich erholen müssen,
es wollen, bzw. so, wie es das Lese- resp. Hörpublikum wenn du zurückkehrst. Geh in die Schweiz. Ins Enga-
von ihnen verlangt. Und die meisten von ihnen sind din. Ich war einmal dort im letzten Sommer vor fünf-
darin nicht sonderlich virtuos. zehn Jahren. Ich vergesse nie die Bläue dieses Him-
Dürrenmatt hat sich des Stücks immer wieder und mels. / WOOD Ich fürchte − die politische Lage − /
von verschiedenen Seiten angenommen: 1953 schrieb BONSTETTEN Natürlich. Eure politische Lage. Da-
er einen Entwurf zu Herkules und der Stall des Augias, ran habe ich gar nicht gedacht« (WA 17, 118).
1954 erschien das Hörspiel in Buchform; im Dezem- Das Unternehmen der Wega ist ein Science-Fiction-
ber desselben Jahres wurde es vom NWDR und dem Hörspiel, es spielt im Jahr 2255 − und der Kalte Krieg
SDR gesendet und 1955 von Radio Bern übernom- dauert immer noch an. Eine Delegation der ›Vereinig-
men. Eine weitere Produktion wurde 1956 vom BR ge- ten, freien Staaten Europas und Amerikas‹ macht sich
sendet. Das Stück wurde in Deutschland also ver- mit dem Raumschiff Wega auf den Weg zum Planeten
gleichsweise spärlich gesendet; offenbar fehlte der Be- Venus, der beiden irdischen Machtblöcken als Straf-
zug zu Deutschland und die Verortbarkeit in der kolonie für Kriminelle und Oppositionelle dient. Man
Tradition des deutschen Nachkriegshörspiels. 1962 möchte die Bewohnerschaft zur Zusammenarbeit mit
schrieb Dürrenmatt eine Bühnenfassung, die 1963 im dem Westen bewegen, da der Kalte Krieg gegen die
Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt wurde und kra- östliche Koalition auf der Erde (bestehend aus Russ-
chend durchfiel. Daraufhin überarbeitete er den Text; land, Asien, Afrika und Australien) unmittelbar davor
diese Fassung erschien 1963. Eine weitere Neufassung steht, in einen heißen Krieg umzuschlagen. Für den
des Theaterstücks schrieb Dürrenmatt schließlich Fall, dass die Mission nicht den gewünschten Erfolg
1980 für die Werkausgabe. Er fügt in den Bühnenfas- zeitigen sollte, hat man vorsichtshalber einige Atom-
sungen zwei neue Figuren ein: Iole, die Tochter des bomben an Bord.
58 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

Die Bewohner und Bewohnerinnen der Venus sind Geschichte um Alfredo Traps ihren Ruhm dem Hör-
aber im Kampf mit den Elementen dergestalt aus- spiel verdankt: Es wurde 1956 vom DRS, BR/SDR und
gelastet, dass sie auf Schiffen leben, da die pausenlosen dem NDR produziert, mithin innerhalb eines Jahres
Erdbeben und Vulkane die Landmasse unbewohnbar von drei deutschen und einem Schweizer Sender, fand
machen. Daher gibt es keine Städte auf der Venus und also in beiden Ländern sein Publikum und wurde
auch keine Regierung. Man hat noch nicht einmal 1957 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden aus-
ständige Unterhändler, die sich mit der irdischen De- gezeichnet. Die Buchausgabe erschien diesmal nicht
legation beschäftigen können oder wollen. Das Inte- Jahre nach der Erstsendung, sondern noch im glei-
resse, sich in einen kriegerischen Konflikt auf der Erde chen Jahr, 1956. Peter André Bloch wertet – ohne nä-
hineinziehen zu lassen, ist entsprechend gering: »Die here Erklärung oder Begründung – das Hörspiel als
Venus ist groß, und wir sind klein. Sie ist grausam. Wir ›Entwurf‹ (1980, 208), Beusch geradezu als Verfeh-
müssen kämpfen, wenn wir leben wollen. Wir können lung (1979, 149 u. 153).
uns Politik nicht leisten« (95). Nachdem Alfredo Traps im Anschluss an den
Nachdem die Versuche, mit den Venus-Bewohnern feuchtfröhlichen Herrenabend für den Mord an sei-
und -Bewohnerinnen übereinzukommen, allesamt nem Chef verurteilt und auf sein Zimmer gebracht
scheitern, macht sich die Delegation mit ihrem Raum- wird, weichen die verschiedenen Versionen der Panne
schiff auf den Rückweg zur Erde – nicht jedoch, ohne voneinander ab: In der Erzählung erhängt sich Traps
vorher die Venus zu bombardieren und das Leben in der Nacht, im Theaterstück erschießt er sich. Im
dort zu vernichten, um zu verunmöglichen, dass sich Hörspiel (und in der Verfilmung von Fritz Umgelter,
die Venusianer und Venusianerinnen mit den ›Rus- 1957) hat er am nächsten Morgen seinen Rausch aus-
sen‹ verbünden können. geschlafen und alles vergessen, er setzt sich unbehel-
Verglichen mit den bisherigen (und auch den wei- ligt in seinen mittlerweile reparierten Wagen und
teren) Hörspielen Dürrenmatts fällt – uns liegt die fährt seiner Wege.
Produktion des SWF vor − bereits in der ersten Szene In der Erzählung wird also eine Figur, die sich
die relativ opulente Hintergrundgeräuschkulisse auf: schuldlos wähnt, eines Verbrechens überführt; sie er-
ein ›Science-Fiction-mäßiger‹ elektronischer Ton, die kennt ihre Schuld und richtet sich selbst. Im Hörspiel
Abspieltasten des Tonbandgeräts, Schritte, verfremde- findet zwar ein Erkenntnisgewinn statt, der indes am
te Stimmen, das Einströmen von Sauerstoff und Heli- nächsten Morgen vergessen ist. Der Schluss ist die nur
um, das Starten des Raumschiffs. Und das, obwohl in unwesentlich variierte Eingangsszene: Man hört die
Dürrenmatts Regieanweisungen lediglich ein »[l]eiser gleiche Musik aus dem Autoradio, Traps verwendet in
Summton« und ein »leises Zischen« vorgegeben wird seinem Monolog die gleichen Formulierungen, hat
(81). Die Regie dürfte sich hier weniger an der Hör- die gleichen hinterhältigen Gedanken hinsichtlich sei-
spiel-Mode der Zeit orientiert haben, zumal Science- nes beruflichen Fortkommens. In den Regieanwei-
Fiction im deutschsprachigen Hörspiel der 1950er sungen wird am Anfang »[l]eichte Schlagermusik«,
Jahre etwas ausgesprochen Ungewöhnliches darstell- zum Schluss »[l]eise Schlagermusik« vorgegeben (WA
te, sondern vielmehr an den zahlreichen SciFi-Filmen, 16, 11 u. 55), in der uns vorliegenden Realisierung des
die in den 1950er Jahren im großen Stil die Kinos er- NDR werden Autogeräusche und dasselbe Musik-
oberten. stück zu Beginn ein-, zum Schluss ausgeblendet.
Die Erzählung hat also einen Anfang und ein Ende.
Das Hörspiel hingegen verläuft im Kreis; es hört auf,
Die Panne
wie es begonnen hat, und in dieser Kreisstruktur setzt
Angesichts des Umstands, dass es von der Panne eine es sich vom bundesrepublikanischen Hörspiel-Typus
Hörspiel- und eine Prosafassung gibt, die in etwa der 1950er Jahre ab, in dem zumindest ein Appell zu
gleichzeitig entstanden sind (die Bühnenfassung folg- einer inneren Umkehr ein wesentliches Element war.
te erst im Jahr 1979), liegt es nahe, diese beiden Texte Formal entspricht das Hörspiel durchaus den ›Vorga­
miteinander zu vergleichen, was zwar in der For- ben‹ des bundesrepublikanischen Worthörspiels: spar-
schung durchaus unternommen wird, allerdings sam eingesetzte Geräusche, Konzentration auf das ge-
durchaus seltener, als dass die Erzählung ohne Rekurs sprochene Wort. Während die Erzählung Die Panne
auf das Hörspiel analysiert wird. Wo dieser Vergleich ein Einzelschicksal darstellt, hebt das Hörspiel dieses
angestellt wird, zeitigt er größerenteils ein umso er- Einzelschicksal auf eine metaphorische Ebene: Nichts
staunlicheres Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die ändert sich, Läuterung ist nicht möglich; die Welt
13 Hörspiele 59

dreht sich im Kreis. Insofern wäre die ›schlimmstmög- Welt der Boulevard-Presse, sowohl Produzenten als
liche Wendung‹ im Hörspiel erreicht. Die Handlung ist auch Rezipienten, wüssten genau, dass er seine litera-
in der Schweiz verortet, wenngleich sehr dezent ange- rischen Morde auch in der Realität begehe; man wür-
deutet: Pilet, der Henker, war »einer der vortrefflichs- de es ihm nicht nur nicht verübeln, sondern verlange
ten, tüchtigsten im Nachbarlande« (27). es geradezu von ihm, da man wisse, dass er diese Mor-
Die 1979 von Dürrenmatt zum Bühnenstück um- de nach begangener Tat literarisch verewige: »Damen
gearbeitete Panne scheint eine Kombination der bei- der höchsten Gesellschaft, Bürgersfrauen, Dienst-
den Vorgängerversionen zu sein: Auch hier bringt sich mädchen bieten sich [...] an, sich von mir ermorden zu
Traps um, allerdings wird das Ende vorweggenom- lassen« (191). Und wie zum Beweis für die Hörer und
men, indem zu Beginn des Stücks die übrigen Figuren Fürchtegott Hofer, und auch, weil die Welt ohnehin
um seinen Sarg herumstehen und das Geschehen aus ein neues Buch mit einem neuen Mord erwartet,
der Retrospektive kommentieren (s. Kap. 28). stürzt er Hofer vom Balkon. Dieser ruft zwar um Hilfe,
worum sich aber, wie von Korbes vorhergesagt, nie-
mand kümmert.
Abendstunde im Spätherbst
Abendstunde im Spätherbst vereinigt eine Reihe
Dürrenmatts letztes Hörspiel, geschrieben 1956, wur- Dürrenmattscher Motive und Stilmittel: Ebenso wie
de in Deutschland (NDR 1957), Österreich (ORF Die Panne endet das Stück mit den gleichen Worten,
1957), der Schweiz (DRS 1958 unter dem Titel Herr mit denen es begonnen hat. Allerdings fügt Dürren-
Korbes empfängt) und der DDR (1969) gesendet; die matt ein Paradoxon hinzu, indem er die Kreisstruktur
österreichische Produktion wurde 1958 mit dem Prix mit einer geraden Linie verbindet, einer Krimihand-
Italia ausgezeichnet. lung mit Opfer, Mörder und Motiv und im Resultat
Einerseits geht es in dem Stück wieder um den gro- wohl einer Publikation, einer zielgerichteten Entwick-
ßen Themenkomplex ›Verbrechen – Schuld – Strafe‹, lung also. Indem sich Korbes’ Morde aber alle auf ähn-
andererseits wird die Sensationsgier der Menschen liche Weise abspielen, haben wir es doch mit einer
dargestellt und mit einer Kritik des Literaturbetriebs Wiederholung zu tun. Und aus dieser paradoxen
verknüpft. Die Hörspielhandlung ist auf kein spezifi- Schleife heraus erzeugt sich der Text aus sich selbst:
sches Land oder Ereignis beschränkt, trotzdem »Ich diktiere: Meine Damen, meine Herren. Zu Be-
kommt der Schweiz aber eine Sonderrolle zu. Ort der ginn halte ich es für meine Pflicht, Ihnen den Ort die-
Handlung ist ein Grandhotel in der fiktiven Stadt Isel- ser vielleicht etwas seltsamen, aber − ich schwöre es −
höhebad, der Beschreibung nach an einem der ober- wahren Geschichte zu beschreiben« (195; vgl. 171).
italienischen Seen gelegen. Hier residiert der Erfolgs- In dieser Figur deuten sich die großen Gleichnisse
schriftsteller Maximilian Korbes, ein Kriminalautor, von Dürrenmatts Spätwerk an, wo in Selbstgespräch
wie er im Buche steht, »dick, braungebrannt, unra- (WA 36, 115–118) Gott in einem Monolog seine eige-
siert, kahler Riesenschädel. Meine Eigenschaften: bru- ne Existenz von der menschlichen Rede abhängig
tal, gehe aufs Ganze, versoffen« (WA 9, 172 f.), immer macht, oder wo Das Hirn (WA 29, 233–263) sich die
mit einem Glas Whisky in der Hand und ständig un- Welt erdenkt und am Ende auf den Autor stößt, der
terwegs. Er bekommt Besuch von Herrn Fürchtegott sich das Hirn erdenkt, das sich die Welt erdenkt. In
Hofer, seines Zeichens Schweizer und in seinem ge- dieses Paradoxon ist auch die Figur des Schriftstellers
samten Auftreten ein Biedermann, der sich seit seiner gedacht: Im Doppelgänger erschafft er eine Welt, die er
Pensionierung als Detektiv in Sachen Literatur be- von außen betrachten und mit dem Regisseur dis-
tätigt. Hofer stellt fest, dass sämtliche 22 Morde in kutieren kann, die er indes nicht vollständig in der
Korbes’ 22 Romanen keineswegs fiktiv, sondern real Hand hat; zuweilen entgleitet ihm die Handlung, er
passiert sind, und zwar an Orten, an denen sich der kann sie nicht beeinflussen, nur zur Kenntnis neh-
Autor just zur jeweiligen Tatzeit eben aufhielt. Und men: »REGISSEUR wütend Und damit soll ich mich
nun möchte er, Hofer, von Korbes ein »kleines Ta- zufriedengeben? / SCHRIFTSTELLER Damit m ü s -
schengeld [...], so sechshundert oder siebenhundert s e n wir uns zufriedengeben« (WA 1, 324). In Nächt-
Schweizerfranken im Monat« (187), um weiterhin die liches Gespräch mit einem verachteten Menschen mag
Möglichkeit zu haben, seinem Idol nachreisen zu kön- die Figur des Schriftstellers eine Parallelwelt schaffen,
nen. Korbes gesteht die Morde, zeigt aber weder Reue in der Realität bewirkt er nichts und ist zum Scheitern
noch Furcht vor Aufdeckung oder Strafe. Dass er ein verurteilt. In Herkules und der Stall des Augias wird die
Mörder sei, sei alles andere als ein Geheimnis: Die Welt des Protagonisten von Schriftstellern erschaffen,
60 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

denen allerdings die Welt selbst diktiert, wie sie aus- sagt er im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold, »wie
zusehen hat. In der Abendstunde im Spätherbst haben die Novelle das Hörspiel weiterführe, denke die Ko-
wir einen Schriftsteller, der die Welt erschafft, deren mödie die Novelle weiter« (Dürrenmatt, zit. nach Pa-
Teil er selbst ist. Mit diesem fortwährenden Schaffen sche 1997, 109). Wenngleich wir den Hörspielskepti-
und Selbsterschaffen ist ein immer stärkerer Schaf- kern an dieser Stelle keineswegs das Wort reden wol-
fensdruck verbunden: Ebenso wie Herkules von len, muss − und damit wären wir wieder am Aus-
Abenteuer zu Abenteuer hastet, um zu überleben, has- gangspunkt − der Vollständigkeit halber ein weiterer
tet Korbes von Mord zu Mord. möglicher Punkt erwähnt werden, vorstellbar immer-
hin wäre es: Dürrenmatt hörte auf, Hörspiele zu
schreiben, weil er es finanziell nicht mehr nötig hatte.
Abschied vom Hörspiel
Literatur
Primärtexte
Abendstunde im Spätherbst wurde in allen vier seiner- Abendstunde im Spätherbst. In: Akzente, 3, 1957, 194–216.
zeitigen deutschsprachigen Ländern ausgestrahlt und Abendstunde im Spätherbst. In: WA 9, 169–196.
mit dem renommiertesten internationalen Hörspiel- Der Doppelgänger. Ein Spiel. Zürich 1960.
preis ausgezeichnet − ein größerer Erfolg ist kaum Der Doppelgänger. In: WA 1, 295–324.
vorstellbar. Es stellt die Quintessenz von Dürrenmatts Herkules und der Stall des Augias. Mit Randnotizen eines
Kugelschreibers. Zürich 1954.
bisherigen Hörstücken dar und setzt insofern einen
Herkules und der Stall des Augias. In: WA 8, 179–226.
Schlusspunkt. Sollte das der Grund sein, warum Dür- Hörspielerisches. In: WA 17, 155–157.
renmatt nach Abendstunde im Spätherbst keine weite- Nächtliches Gespräch. In: Das Lot, Bd. 6, Juni 1952.
ren Hörspiele mehr geschrieben hat? Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. Ein
Auch andere Gründe sind vorstellbar. – Das ständi- Kurs für Zeitgenossen. Zürich 1957.
ge Schaffen, Sich-selbst-Erschaffen, Sich-selbst-neu- Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. In:
WA 17, 9–32.
Erschaffen mag nicht nur für Maximilian Korbes gel-
Die Panne. Ein Hörspiel. Zürich 1960.
ten, sondern auch für das Genre ›Krimi‹ und die Gat- Die Panne. In: WA 16, 9–56.
tung ›Hörspiel‹. Mit zunehmender Popularität wächst Die Panne [Rundfunkproduktion 1956] und eine kurze
auch der Druck, diese zu bedienen, dem Publikum Rede des Autors. Audio-CD. Basel 2010.
immer weiter entgegenzukommen, bis im Extremfall Die Physiker. In: WA 7.
der Publikumsgeschmack irgendwann einmal zum Der Prozeß um des Esels Schatten. Ein Hörspiel (nach Wie-
land, aber nicht sehr). Zürich 1956.
Gesetz wird. Krimi und Hörspiel feierten in den Der Prozeß um des Esels Schatten. In: WA 8, 119–174.
1950er Jahren Hochkonjunktur; die vom BR produ- Schriftstellerei als Beruf. In: WA 32, 54–59.
zierte Hörspiel-Krimiserie Dickie Dick Dickens prägte Stranitzky und der Nationalheld. Hörspiel. In: Hörspielbuch
1957 den Begriff ›Straßenfeger‹. Damit hatte das Hör- 1953. Frankfurt 1953, 151–185.
spiel einen nicht mehr zu überbietenden Gipfelpunkt Stranitzky und der Nationalheld. In: WA 17, 33–76.
Das Unternehmen der Wega. Hörspiel. In: Hörspielbuch
erreicht, der indessen zwar inhaltlich witzig gemachte,
1955, Frankfurt a. M. 1955, 43–80.
aber eher oberflächliche Unterhaltungsliteratur war. Das Unternehmen der Wega. In: WA 17, 77–124.
Tatsächlich zogen sich ab 1960 viele der eingangs er- Vier Hörspiele mit schlimmstmöglicher Wendung: Die
wähnten Schriftsteller aus dem Hörspielgeschehen zu- Panne und eine kurze Rede des Autors. Herr Korbes emp-
rück. Neue Autorinnen und Autoren betraten die fängt oder Abendstunde im Spätherbst. Nächtliches
Rundfunkstudios: Ernst Jandl und Friederike Mayrö- Gespräch mit einem verachteten Menschen. Das Unter-
nehmen Wega. Audio-CD/Hörbuch, Basel 2005.
cker, Wolf Wondratschek, Paul Wühr oder Ludwig
Harig. Dem ›Hörspiel der Innerlichkeit‹ folgte das Sekundärliteratur
›Neue Hörspiel‹; es dominierte wieder das Experi- Arnold, Heinz Ludwig: Schriftsteller im Gespräch mit Heinz
ment, in dem Wörter nicht ausschließlich als Träger Ludwig Arnold. Zürich 1990.
von Inhalten, sondern auch als Klangelemente ver- Beusch, Hansueli: Die Hörspiele Friedrich Dürrenmatts.
Zürich 1979.
standen wurden.
Bloch, Peter André: Die Panne. In: Daniel Keel (Hg.): Über
Auch Dürrenmatt konnte oder wollte sich dem Friedrich Dürrenmatt. Essays und Zeugnisse von Gott-
neuen Hörspieltrend nicht anpassen. Womöglich hat fried Benn bis Saul Bellow. Zürich 1980, 194–208.
er sich während der Arbeit an Der Besuch der alten Bloom, Margret: Die westdeutsche Nachkriegszeit im litera-
Dame und Die Panne endgültig für die ›bestmögliche‹ rischen Original-Hörspiel. Frankfurt a. M. u. a. 1985.
Plattform entschieden: Bühne statt Radio. Immerhin Brock-Sulzer, Elisabeth: Die Hörspiele. In: Daniel Keel
13 Hörspiele 61

(Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. Essays und Zeugnisse Lermen, Birgit H.: Das traditionelle und neue Hörspiel im
von Gottfried Benn bis Saul Bellow. Zürich 1980, 209– Deutschunterricht. Paderborn 1975.
230. Mayer, Hans: Dürrenmatt und Frisch. Anmerkungen. Pful-
Camp, George Selvidge: Fixed sensory images of characters lingen 1963.
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1982. drei Versionen der Panne von Friedrich Dürrenmatt.
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E Kriminalromane und Erzählungen

14 Der Richter und sein Henker struieren« (Vogt 2011, 215), und trug maßgeblich da-
zu bei, dass Kriminalromane heute als literarische
Entstehungs-, Publikations- und Wirkungs- Gattung ernster genommen werden als damals; er
geschichte wird auch als einziger deutschsprachiger Krimiautor
in angloamerikanischen Standard- und Nachschlage-
Dürrenmatt schrieb seinen ersten Kriminalroman in werken genannt (vgl. ebd., 217).
verschiedenen Phasen von Ende 1948 bis Herbst 1950
als Auftragsarbeit für die Zeitschrift Der Schweizerische
Beobachter. Er erschien in acht Folgen zwischen dem Inhalt und Analyse
15.12.1950 und dem 6.3.1951. Nachdem der Autor den
Text im Frühjahr 1952 noch einmal intensiv überarbei- Dürrenmatt präsentiert seinen Stoff in 21 Kapiteln.
tet hatte, erschien die Buchfassung im Herbst 1952 im Das Geschehen, das sich zwischen dem 3. und 7. No-
Benziger Verlag in einer Auflage von 5000 Exemplaren vember 1948 abspielt, wird von einem allwissenden
(Fassungsvergleich Müller/Thiel 2016, 217 f.). In späte- Erzähler, der allerdings oft hinter seine Figuren zu-
ren Neuausgaben (ab 1979 im Diogenes Verlag) erfolg- rücktritt, in ironisch grundiertem Ton in chronologi-
ten nur noch geringfügige Textänderungen. scher Abfolge vermittelt – wobei es in den Dialogen
Dem Genre entsprechend gab es keine großen Re- Rückblenden auf frühere Lebensphasen der Protago-
zensionen. Der Roman wurde jedoch über die Jahr- nisten gibt. Die meist antagonistisch geführten Dia-
zehnte mit zahlreichen Neuauflagen, Lizenzausgaben loge nehmen viel Raum ein. Mit ihren dialektalen und
und Übersetzungen millionenfach verkauft. Dazu französischen Einsprengseln widerspiegeln sie typi-
trug insbesondere seine Aufnahme in den Lektüreka- sche schweizerische Sprachhybridizität. Dürrenmatt
non von deutschsprachigen Mittelschulen bei (vgl. greift für die Schauplätze auf eine ihm vertraute Um-
Vogt 2011, 217; Ladenthin 2016), die sich u. a. in einer gebung zurück: Er lässt den handlungseröffnenden
breiten Palette von Unterrichts- und Lektürehilfen Mord wenige hundert Meter von seinem damaligen
manifestiert (z. B. Knapp 1983). Wohnort Ligerz am Bielersee geschehen und bringt
1957 wurde der Stoff als erste abendfüllende Spiel- sich selbst in der Figur des Schriftstellers ins Spiel ein.
film-Eigenproduktion des deutschen Fernsehens rea- Der zweite Schauplatz ist die Stadt Bern, in der Dür-
lisiert (R.: Franz-Peter Wirth). An dieser wie am Kino- renmatt elf Jugendjahre verbrachte.
film von Maximilian Schell (1978) war Dürrenmatt als Die Handlung: Der Berner Kriminalpolizist
Mitautor des Drehbuchs beteiligt. Daneben existieren Schmied ist in seinem Wagen auf dem Rückweg nach
mehrere fremdsprachige TV-Verfilmungen und eine Bern von einer Abendgesellschaft beim dubiosen und
Version als Graphic Novel. In jüngerer Zeit wurde der reichen Herrn Gastmann erschossen worden. Der
Stoff auch mehrfach für die Theaterbühne adaptiert. magenkranke, alternde Kommissär Bärlach über-
Dürrenmatt hatte eine ambivalente Haltung zu Kri- nimmt zusammen mit dem jungen Polizisten Tschanz
minalromanen; er schrieb solche nur auf äußeren An- die Untersuchung. Der Verdacht richtet sich zunächst
lass hin. Zugleich sah er darin eine Chance: »Wie be- auf Gastmann und sein Umfeld. Die Leserinnen und
steht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Al- Leser erfahren, dass Gastmann ein Verbrecher im
phabeten? [...] Vielleicht am besten, indem er Krimi- großen Stil und als einstiger Jugendfreund Bärlachs
nalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand dessen mörderischer Gegenspieler ist: Der Ermordete
vermutet« (WA 30, 71 f.). Dürrenmatt schrieb Werke, hatte für Bärlach heimlich gegen Gastmann ermittelt.
die »die Regeln des Genres zugleich erfüllen und de- Trotzdem lässt Bärlach durchblicken, dass er Gast-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_14
14  Der Richter und sein Henker 63

mann nicht für den Täter hält. Gastmann erweist sich derpolizisten Tschanz als berechenbare Spielfigur im
als scheinbar allmächtig, doch Bärlachs junger, ehr- Kampf gegen Gastmann. Bärlachs Dämonie offenbart
geiziger Mitarbeiter Tschanz, der dem verstorbenen sich in der Ambivalenz und Paradoxie dieser eigen-
Schmied nacheifert, begibt sich auf eigene Faust zu mächtigen Wiederherstellung einer höheren Gerech-
Gastmann und erschießt diesen nebst seinen Leib- tigkeit: Er realisiert in seiner Selbstjustiz jenes perfekte
wächtern. Der Fall scheint nach außen gelöst, zumal Verbrechen, dessen Möglichkeit er in der Wette aus-
sich bei Gastmann Unterlagen finden, die nicht nur geschlossen hatte; er treibt Tschanz in den Selbst-
seine Verbrechen belegen, sondern auch, dass er mord, womit sich der einzige Mitwisser und das In-
Schmied durchschaut hatte. Doch am Schluss hält strument seiner Selbstjustiz selbst liquidiert. Die Wie-
Bärlach über seinen Mitarbeiter Tschanz bei einem derherstellung der Gerechtigkeit jenseits mensch-
opulenten Mahl Gericht. Tschanz, der Schmied aus licher Justiz manifestiert sich in einem perfekten, mit
Eifersucht und mit Kalkül umgebracht hatte, muss er- der Eleganz des Schachspielers delegierten, indirekten
kennen, dass er von Bärlach schon lange als Mörder Doppelmord des Kriminalisten. In dieser Selbst-
identifiziert und gewissermaßen als Henker gegen ermächtigung wird Bärlach zugleich zur »tragischen
Gastmann instrumentalisiert wurde; er nimmt sich in Figur«, die »Unrecht tun muss, um Gerechtigkeit zu
der Folge das Leben. schaffen« (Ladenthin 2016, 405).
Der Roman spielt mithin auf einer doppelten Ebe-
ne: Vordergründig geht es um die Aufklärung des
Mordes an Schmied, doch diese steht im Zeichen des Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Zweikampfs zwischen Bärlach und Gastmann. Aus-
gangspunkt dazu war eine »trotzig in den Himmel In der Forschungsliteratur lassen sich verschiedene
hinein« gehängte »Wette«, verlockend wie ein »fürch- Diskussionsschwerpunkte herauskristallisieren:
terliche[r] Witz«, die Bärlach und Gastmann in ihrer
Jugend abschlossen (WA 20, 69). Dabei ging es um die 1. Die Einordnung in die Tradition und die Rolle des Zu-
Frage, ob menschliche Unvollkommenheit, Unvor- falls: Dürrenmatts Roman wird gedeutet als »Variati-
hersagbarkeit des Handelns und Zufall »die meisten on und Parodie, Verfremdung, Subversion oder De-
Verbrechen zwangsläufig zutage fördern« (Bärlachs konstruktion, Demontage oder Destruktion des De-
These) oder ob vielmehr »die Verworrenheit der tektivschemas« (Gasser 2009, 55 f.). Formal wird die
menschlichen Beziehungen es möglich mache, Ver- Nähe des Romans zum traditionellen Rätselroman
brechen zu begehen, die nicht erkannt werden könn- mit fixen Spielregeln betont (Jambor 2007, 151), wobei
ten« (Gastmanns These; 68). Der junge Bärlach be- die entscheidende Differenz in der bedeutenden Rolle
gründete damals seine Auffassung damit, dass »es un- des Zufalls liege, angefangen mit dem Kugelfund beim
möglich sei, mit Menschen wie mit Schachfiguren zu Tatort. Die Figur des ehrgeizigen Polizisten Tschanz
operieren« (ebd.). Durch die mörderische Wette ma- erscheint geradezu als »Allegorisierung des Zufalls«
chen die beiden ihren Zweikampf im Umgang mit den (ebd., 170). Sein Mord bedeutet für Bärlach zunächst
Mitmenschen zur Schachpartie – ein Moment, das einen unglücklichen Zufall, doch erkennt er darin die
Detektiv und Mörder, die sich »auf den ersten Blick« Chance, den Mörder zu seiner Waffe gegen Gastmann
(67) liebten, auf eine gleiche Ebene bringt. Bärlach er- zu machen.
scheint geradezu als Alter Ego von Gastmann. Es wurde auf die Verwandtschaft des Ermittlers
Gastmann ist Bärlach stets einen Zug voraus. Als Bärlach mit Georges Simenons Inspektor Maigret und
auch noch Schmied ermordet wird und Gastmann auf Stoff-Analogien hingewiesen, insbesondere zu
dessen Unterlagen in seinen Besitz bringt, scheint die Maigrets erste Untersuchung (vgl. Arnold 1981, 158–
Partie für Bärlach verloren. Nach der Konfrontation 163). Eine Szene mit Gastmanns Hund, der Bärlach
mit Gastmann überfällt ihn der Schmerz; er wälzt sich angreift, erscheint andererseits als Reminiszenz an
in Verzweiflung am Boden: »›Was ist der Mensch?‹ Arthur Conan Doyles Der Hund der Baskervilles (vgl.
stöhnte er leise, ›was ist der Mensch?‹« (73). Doch Ladenthin 2016, 398). Am offensichtlichsten scheint
Bärlach rafft sich nach diesem Schachmatt wieder auf: jedoch der Bezug zu Friedrich Glauser, wobei wohl
Er gibt das Spiel nach gesetzlichen Regeln (es sind zu- nicht dessen Romane, deren damalige Kenntnis Dür-
gleich die des ›klassischen‹ Detektivromans) auf und renmatt dezidiert in Abrede stellte, sondern die Ver-
spielt die Partie mit andern Mitteln und mit anderer filmungen von Leopold Lindtberg bei Dürrenmatt
Zielsetzung zu Ende: Er instrumentalisiert den Mör- früh Eindrücke hinterließen (v. a. Wachtmeister Stu-
64 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

der, 1939; vgl. G 2, 195). Neben den gemeinsamen auch mit Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus
Berner Schauplätzen ist auf den ersten Blick eine gro- gelesen werden (vgl. Przytocka/Sośnicka 2014).
ße Nähe Bärlachs zum Berner Wachtmeister Studer Es geht um Grundsatzfragen von Gerechtigkeit
evident. Bei aller vordergründigen Verwandtschaft und Recht. Zum einen entwickelt der Roman eine
der beiden brummigen Ermittler, die es mehr mit den übermenschliche Dimension, indem Bärlach jenseits
einfachen Leuten als mit ihren Vorgesetzen bei der des Gesetzes gottähnlich seinen Richterspruch fällt:
Kantonspolizei und den wirtschaftlichen und politi- Gastmann hat er »zum Tode verurteilt« und schickt
schen Führungsfiguren halten und nicht vor Kom- ihm seinen Henker »in Gottes Namen« (WA 20, 100).
petenzüberschreitungen zurückschrecken, darf man Tschanz verbannt er, nachdem er ihn überführt hat,
die Unterschiede nicht übersehen: Bärlach – wie Stu- aus seinen Weltenrichteraugen. Damit steht Der Rich-
der als sympathische, väterliche Figur eingeführt – er- ter und sein Henker in der von Edgar Allan Poe be-
weist sich am Schluss zugleich als rücksichtslose Ver- gründeten Tradition des Kriminalromans als einer
körperung menschlicher Hybris. »erzählten Theorie des Absoluten nach dem Tod des
absoluten Gottes« (Ladenthin 2016, 407). Bei Bärlach
2. Werkzusammenhang: Die Relation zwischen den kommt eine geradezu archaische Dimension des Ver-
ersten beiden Kriminalromanen Dürrenmatts, die zehrens hinzu. Seine Magenerkrankung spiegelt »sei-
Held und Schauplatz teilen und eine unmittelbare ne moralisch fragwürdigen Entscheidungen [...] wi-
zeitliche Abfolge Ende 1948 darstellen, beschränkt der« (Nelles 2018, 142). Ein gegenläufiger Höhepunkt
sich nicht auf den seriellen Aspekt (vgl. dazu Müller/ ist am Schluss die »doppelte Henkersmahlzeit: erstens
Thiel 2016). Sie bilden »eine Art kontrastiv und kom- für Tschanz, der sich vom Kommissar durchschaut
plementär angelegten Ditpychons [sic]« (Jambor findet, aber zweitens auch für den todkranken Kom-
2007, 13). Dieses entstand nachträglich, als Der Ver- missar [...]. Seine Souveränität, seine Ruhe und Stärke
dacht bereits in Fortsetzungen erschienen war und sind nur gespielt, inszeniert in einer Orgie der Einver-
Dürrenmatt den ersten Kriminalroman einer starken leibung« (Battegay 2019, 243).
Überarbeitung für die Buchfassung unterzog. Die bei- Zum andern steht Bärlach in einer konkreten
den Romane boten ihm Gelegenheit zur Entfaltung ei- Rechtstradition. Sein Vorgesetzter Lucius Lutz vertritt
ner Typologie des Bösen, wie aus dem neu eingeführ- eine aus den nordamerikanischen Großstädten her-
ten Gespräch zwischen dem Schriftsteller und Bärlach gebrachte »wissenschaftliche[...] Kriminalistik« (WA
(WA 20, 81–83) indirekt hervorgeht: Gastmann im 20, 18) mit Anspruch auf lückenlosen Beweis. Bär-
Richter und Emmenberger in Der Verdacht erscheinen lach dagegen orientiert sich kriminalpsychologisch
als spiegelbildliche Typen moralischer Nihilisten, am einzelnen Menschen, am Verdacht gegenüber
während die Nebenfiguren der beiden Romane ver- Tschanz, der ihm selbst die Beweise für seine Tat lie-
schiedene Formen des Bösen aus psychologischen fert. Damit steht Bärlach in der Folge des österreichi-
Deformationen heraus zeigen. Tschanz erscheint ent- schen Hochschullehrers und Kriminalisten Hans
sprechend als Verbrecher aus Eifersucht und krank- Gross, der schon Wachtmeister Studers (und Franz
haftem, streberischem Ehrgeiz. Beide Bärlach-Roma- Kafkas) Lehrmeister war (vgl. Bergengruen 2014, 57).
ne legen die Grundlage für die Fundamentalkritik am
Genre, die im Requiem auf den Kriminalroman – so 4. Intertextualität und ironische Narration: Der Richter
der Untertitel – Das Versprechen (1958) folgt. und sein Henker ist gespickt mit literarisch-künstleri-
schen Reminiszenzen. Die Wette zwischen Bärlach
3. Gesellschaftskritik, Rechtstradition und -verständnis: und Gastmann, eine »teuflische Versuchung des Geis-
Der Roman zeigt eine zeit- und gesellschaftskritische tes durch den Geist« (WA 20, 69), erinnert an die Wet-
Dimension in der Tradition Glausers. Bezeichnend te zwischen Gott und Mephistopheles in Goethes
dafür sind die Hindernisse, die Bärlach über den ein- Faust – korrespondierend mit dem Gespräch zwi-
flussreichen Anwalt und Nationalrat von Schwendi in schen Bärlach und Emmenberger im zweiten Bärlach-
den Weg gelegt werden. Dieser repräsentiert eine ge- Roman Der Verdacht, das an die Versuchung Christi
sellschaftliche Elite, die Recht mit der Bestätigung der in der Wüste erinnert. Bärlachs Ausruf nach seinem
bestehenden Machtverhältnisse gleichsetzt. Nicht nur Zusammenbruch: »Was ist der Mensch?« ist eine an-
die Nachkriegsgesellschaft steht dabei im Fokus; der thropologische Leitfrage Immanuel Kants, die im Ver-
Opportunismus und das Hofieren gegenüber dem dacht wieder aufgegriffen wird (vgl. WA 20, 250). Der
skrupellos-kriminellen Gastmann kann durchaus Name Bärlach scheint schließlich auch auf Ernst Bar-
14  Der Richter und sein Henker 65

lach anzuspielen, dessen Drama Die Sündflut Dürren- Sekundärliteratur


matt 1948 las (vgl. Rüedi 2011, 338) und dessen Dar- Arnold, Armin: Die Quellen von Dürrenmatts Kriminal-
stellung des Kampfs eines Nihilisten gegen Gott auch romanen. In: Gerhard P. Knapp, Gerd Labroisse (Hg.):
Facetten. Studien zum 60. Geburtstag Friedrich Dürren-
Dürrenmatts damalige Dramatik prägte. Die Nihilis- matts. Bern u. a. 1981, 153–174.
mus-Thematik, verbunden mit der Frage nach dem Battegay, Caspar: Fressen. Gericht und Gedächtnis bei
Menschen und der Freiheit zum Verbrechen, lässt den Friedrich Dürrenmatt. In: Ders., Lena Henningsen, Kai
Existentialismus Jean-Paul Sartres anklingen (vgl. Wiegandt (Hg.): Gegessen? Essen und Erinnerung in den
Knapp 1983, 42 f.) Literaturen der Welt. Berlin 2019, 235–252.
Bergengruen, Maximilian: »Vergessen Sie jedoch nicht, daß
Die Nennung von Arnold Böcklins Toteninsel (vgl.
die Zeit auch vor dem berühmtesten Kriminalisten nicht
WA 20, 15) ordnet sich in eine Reihe von Todessym- haltmacht.« Paradigmen der Kriminalistik in Friedrich
bolen ein. Die Erwähnung der Bilder des Schweizer Dürrenmatts Der Richter und sein Henker. In: Ulrich
Malers Friedrich Traffelet im Büro des Vorgesetzten Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie, Göttingen
Lutz (vgl. 17) hingegen stellt diesem apokalyptischen 2014, 41–60.
(»finster wie der Letzte Tag«, 12) oder mythischen Ge- Gasser, Peter: »... unsere Kunst setzt sich aus etwas Mathe-
matik zusammen und aus sehr viel Phantasie.« Zu Fried-
schehen (›der blaue Charon‹, vgl. 30) wiederum die
rich Dürrenmatts Kriminalromanen. In: Ders., Elio Pellin,
patriotisch-positive Stimmungslage der Nachkriegs- Ulrich Weber (Hg.): »Es gibt kein größeres Verbrechen als
jahre in der Schweiz entgegen. die Unschuld«. Zu den Kriminalromanen von Glauser,
Dürrenmatt hat auch einen kleinen Hinweis auf Dürrenmatt, Highsmith und Schneider. Göttingen,
Theodor Fontane platziert (vgl. 99) und nennt im Zürich 2009, 53–75.
Rückblick dessen Stechlin als sprachliches Vorbild für Jambor, Ján: Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klas-
sischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach-Roma-
den Roman (vgl. G 2, 195). Das mag im Hinblick auf nen Friedrich Dürrenmatts. Prešov 2007.
seine damals für ihn neue Hinwendung zum von Dia- Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Der Richter und
logen dominierten, realistischen Erzählen gelesen sein Henker. Frankfurt a. M. u. a. 1983.
werden, das im Roman zugleich ironisiert wird. Im Ladenthin, Volker: Warum man heute Friedrich Dürren-
Gespräch mit Bärlach vergleicht sich der Schriftsteller matts Roman Der Richter und sein Henker lesen sollte. In:
Stefan Neuhaus, Uta Schaffers (Hg.): Was wir lesen sollen.
mit dem Kriminalisten (»es sei auch sein Beruf, den
Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahr-
Menschen auf die Finger zu sehen«, WA 20, 81). Ana- hunderts. Würzburg 2016, 387–413.
log zur Autonomie und Willkür des Spielers Bärlach Müller, Ralph/Thiel, Franziska: Roman und Serialität in der
»treibt der Erzähler auch mit dem Leser sein insze- Zeitschrift. Dürrenmatts Der Richter und sein Henker und
niertes Sprachspiel« (Ladenthin 2016, 403). Damit Der Verdacht im Schweizerischen Beobachter. In: Stefanie
geht die Erzählhaltung über ein dem Genre entspre- Leuenberger u. a. (Hg.): Literatur und Zeitung. Fallstudien
aus der deutschsprachigen Schweiz von Jeremias Gotthelf
chendes realistisches Erzählen hinaus, als ein Spiel mit bis Dieter Bachmann. Zürich 2016, 205–223.
»inszenierten Requisiten« (ebd., 394) realistischen Er- Nelles, Jürgen: Friedrich Dürrenmatt. In: Susanne Düwell
zählens und symbolischer Bedeutsamkeit. Aus diesem u. a. (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien –
Spiel entwickelt sich die spezifische Qualität des Ro- Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 141–146.
mans als »(postmoderne) Literarisierung des Trivia- Przytocka, Małgorzata/Sośnicka, Dorota: Die Schweiz – ein
Gefängnis? Zeit- und Gesellschaftskritik in den Kriminal-
len« (ebd., 403), die wegweisend für die Aufwertung
romanen Wachtmeister Studer von Friedrich Glauser und
des Genres wird, wie sie bei Umberto Eco und ande- Der Richter und sein Henker von Friedrich Dürrenmatt.
ren fortgeführt wird. In: Colloquia Germanica Stetinensia 23 (2014), 73–99.
Vogt, Jochen: Krimis, Antikrimis, ›Gedanken‹-Krimis. Wie
Literatur Friedrich Dürrenmatt sich in ein gering geschätztes Genre
Primärtexte einschrieb. In: Véronique Liard, Marion George (Hg.):
Der Richter und sein Henker. In: Der Schweizerische Beob- Dürrenmatt und die Weltliteratur. Dürrenmatt in der
achter, 15.12.1950 (24. Jg., Nr. 23) bis 6. März 1951 (25. Jg., Weltliteratur. München 2011, 215–235.
Nr. 6) (8 Folgen).
Der Richter und sein Henker. Einsiedeln 1952. Ulrich Weber
Der Richter und sein Henker. In: WA 20, 9–117.
66 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

15 Der Verdacht im Juni 1945 das Leben. Die Beisetzung auf dem
Friedhof Grafenhausen muss in aller Stille erfolgt sein;
Entstehungs- und Publikationsgeschichte, sein Name erscheint noch Jahre später auf Fahndungs-
Rezeption listen, und 1953 wird er aufgrund seiner Verbrechen
in absentia zum Tod verurteilt. Diese Analogie und
Der Verdacht ist Dürrenmatts zweiter (Bärlach-)Kri- insbesondere die Spezifik des lebensrettenden Ein-
minalroman, und er folgt auch punkto Rezeptions- griffs durch einen Kriegsverbrecher lässt Ritzel ver-
intensität dem klassischen Erstling Der Richter und muten, dass Dürrenmatt von dem Ereignis in einem
sein Henker (Buchausgabe 1952). Wie dieser erschien kleinen Schwarzwalddorf vernommen haben muss –
der Roman zunächst wöchentlich in Fortsetzungen in eine These, die auch aufgrund der Nähe zu seinem da-
Der Schweizerische Beobachter (September 1951–Fe- maligen Wohnort (Basel) plausibel scheint.
bruar 1952), als Buchausgabe dann 1953 im Benziger 1993 wurde der Roman als Comic umgesetzt (Dür-
Verlag, Einsiedeln. Letztere ist seither in verschiede- renmatt/Städtisches Literargymnasium Bern-Neufeld
nen Lizenzausgaben wie in Übersetzungen erschie- 1993), 1999 vom Schweizerischen Radio SRF als Hör-
nen. Die Differenzen zwischen der Erstpublikation spiel produziert (R.: Manfred Mixner) und 2008 vom
und der Buchfassung wurden, obwohl erheblich, Diogenes Verlag als Hörbuch eingespielt (Sprecher:
noch nicht Gegenstand einer umfassenden Unter- Hans Korte). Im Gegensatz zu anderen Dürrenmatt-
suchung. Die unveröffentlichte Seminararbeit Mari- Krimis gibt es nur eine einzige (italienischsprachige)
on Gerbers (Deutsches Seminar, Univ. Bern, 2009) TV-Verfilmung des Romans: Il sospetto (1972) (R.:
gibt jedoch erste Aufschlüsse; nach ihrer Beobach- Daniele d’Anza, Paolo Stoppa in der Rolle Bärlachs).
tung zielt die Bearbeitung vor allem auf eine Straffung Wie der Dichte der schulischen Sekundärliteratur zu
und stilistische Glättung. Dürrenmatts »Arbeits- entnehmen ist (vgl. u. a. Matzkowski 2014), gehört der
exemplar« (SLA, Sig. A-m125_I) nimmt textgene- Roman, wie Der Richter und sein Henker, nach wie vor
tisch eine Mittelstellung zwischen Zeitschriften- und zum gymnasialen Lektürekanon. Dies dürfte vor al-
Buchfassung ein. Chronologisch wohl vor der Be- lem in Deutschland auch dem Stoff geschuldet sein:
obachter-Fassung anzusiedeln, erlaubt es näherungs- Der Verdacht bietet eine frühe und anspruchsvolle li-
weise die Eingriffe seitens der Redaktion von jenen terarische Thematisierung der NS-Medizin (vgl. Bat-
des Autors zu unterscheiden. tegay 2015). In Hinsicht auf das Genre liegt die Bedeu-
Ergänzend zu den Auskünften der Forschung lässt tung, wie die der anderen kriminalliterarischen Texte
sich hinsichtlich des Stoffs, der um die Identifikation Dürrenmatts, in ihrer Poetologie: im Umstand, dass
und Ergreifung eines sadistischen Naziarztes kreist, sie »Anti-« oder »Metakrimis« darstellen (Vogt 2014;
erstmals eine wahrscheinliche historische Quelle be- Genç 2018).
nennen: Wie der Journalist und Krimiautor Ulrich
Ritzel in einem Briefwechsel mit Peter von Matt (ver-
fügbar im Schweizerischen Literaturarchiv Bern) Inhalt und Analyse
plausibel vermutet, könnte Dürrenmatt bei der Figur
des Arztes Nehle/Emmenberger der deutsch-schwei- Der Roman ist in achtzehn unnummerierte, aber mit
zerische Anatom August Hirt (1898–1945) vor Augen Titeln versehene Kapitel gegliedert, die in zwei in etwa
gestanden haben (zu Hirt vgl. Benzenhöfer 2010). Der gleich umfangreiche Teile verfallen. Die erzählte Zeit
SS-Mann war im elsässischen KZ Natzweiler-Struthof umfasst nur wenige Tage (27.12.1948–6.1.1949), die
für eine Gaskammer verantwortlich und an Men- grundsätzlich chronologisch zur Darstellung kom-
schenversuchen beteiligt. Im Herbst 1944 kam er auf men. Die Erzählinstanz ist nicht Teil der erzählten
der Flucht vor anrückenden französischen Truppen Welt (Heterodiegese), und sie verfügt prinzipiell über
auf einem Einödhof in der Nähe von Schönenbach Einsicht in die Psyche der Ermittlerfigur Bärlach (in-
unter; laut der dörflichen Überlieferung wurde er terne Fokalisierung). In dokumentarischem Modus
dort geduldet, weil er der Tochter des Bauern, die an wiedergegebene Dialog-Szenen mit langen Redese-
einem Abszess im Hals zu ersticken drohte, durch die quenzen dominieren den Roman, was zu einem stark
Notoperation einer Koniotomie (umgangssprachlich variierenden Erzähltempo führt.
fälschlich auch ›Luftröhrenschnitt‹ genannt) das Le-
ben rettete. Genau diesen Eingriff nimmt in einer Not- 1. Teil (Kap. 1–7): Die Handlung setzt mit dem titel-
situation auch Dürrenmatts Figur vor. Hirt nahm sich gebenden ›Verdacht‹ ein: Kommissär Hans Bärlach

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_15
15  Der Verdacht 67

wird wenige Tage nach seiner Pensionierung einer man zum Teufel« (WA 20, 160). Auf Bärlachs Frage,
Operation unterzogen. Sie bestätigt die Vermutung: Er »was ein Massenmörder wohl für ein Mensch ist«
leidet an einem Magenkrebs in fortgeschrittenem Sta- (152), entgegnet er: »Alle Menschen sind gleich. Nehle
dium; man rechnet mit seinem baldigen Tod. Über- war ein Mensch. Also war Nehle wie alle Menschen.
raschend stabilisiert sich aber Bärlachs Zustand. Er ist Das ist ein perfider Syllogismus, doch kann niemand
in der Lage, mit seinem Arzt und Freund Samuel Hun- gegen ihn aufkommen« (153). Wie Hungertobel geht
gertobel einen Artikel aus einer alten Nummer der auch Gulliver davon aus, dass sich Nehle nach der Ver-
Zeitschrift Life zu diskutieren: »Sieh dir dieses Bild aus öffentlichung des Life-Artikels das Leben nahm. Die
dem Konzentrationslager Stutthof an! Der Lagerarzt Analyse der (Un-)Ähnlichkeiten zwischen Nehle und
Nehle führt an einem Häftling eine Bauchoperation Emmenberger führen Bärlach und Hungertobel vor al-
ohne Narkose durch« (WA 20, 123). Als Hungertobel lem durch das körperliche Merkmal der Narbe und
angesichts der Fotografie erbleicht, erwacht im Mori- durch stilistische Untersuchungen von Nehles Fach-
bunden sofort der Ermittler. Hungertobel wird durch publikationen zu einem vorläufigen Ergebnis: Es sei
das Bild des Arztes in Schutzmaske an seinen Studien- wahrscheinlich, dass Emmenberger als Nehle im Stutt-
kollegen Fritz Emmenberger erinnert, der mittlerweile hof Menschen zu Tode operiert habe, während es Neh-
am Zürichberg die Privatklinik Sonnenstein betreibt. le als Emmenberger gewesen sei, der in Chile tätig war.
Damit ist der Verdacht erregt: Bärlach will herausfin- Als zweites besucht der verkrachte Berner Schriftsteller
den, ob Emmenberger mit dem Naziarzt Nehle iden- Fortschig den Ermittler. Er soll, so Bärlachs Plan, durch
tisch ist, der 1945 Selbstmord begangen haben soll. einen Enthüllungsartikel in seinem antibürgerlichen
Aus dem Spitalbett ermittelnd verdichten sich die Hin- Protestblatt den Arzt aus der Reserve locken. – Damit
weise für und gegen die Hypothese eines Namens- sind die Fäden eingeführt, die im zweiten Teil weiter
und/oder Identitätstauschs. Für Hungertobel ist der verflochten und schließlich in bestimmter Weise auch
Verdacht zunächst »ein lächerlicher Irrtum« (126); er wieder gelöst werden. Der Übergang beider Textteile
verweist dafür auf die durch Publikationen belegte me- korrespondiert mit dem Ortswechsel von Bern nach
dizinische Forschungspraxis Nehles in Chile während Zürich: Bärlach hatte Hungertobel gebeten, ihn »unter
der Kriegsjahre. Zugleich erkennt er aber auf dem Bild dem Namen Blaise Kramer als frischoperierten [...] Pa-
eine Operationsnarbe über der Schläfe wieder, hatte er tienten« in der Klinik Sonnenstein anzumelden (166).
Emmenberger doch selbst operiert. Ebenso entschei- Und Hungertobel ist es auch, der ihn am Silvester-
dend ist aber eine zweite Erinnerung: »Ich war einmal abend 1948 nach Zürich fährt und auf dieser, so Bär-
dabei, [...] als Emmenberger einen Eingriff ohne Nar- lach, »Fahrt nach der Realität« (193) begleitet.
kose ausführte« (140). Während einer Bergtour sei ei-
ner der Teilnehmer unglücklich gestürzt und drohte zu 2. Teil (Kap. 8–18): Bärlachs prekärer Zustand wird
ersticken. Emmenberger habe den Verunfallten mittels nun bestimmend für den weiteren Gang der Erzäh-
einer »Coniotomie«, einem chirurgischen Schnitt lung. Er pendelt zwischen moribunder Ohnmacht und
»über dem Kehlkopf, zwischen dem Adamsapfel und fatalistischer Selbstüberschätzung. So lässt sich Em-
dem Ringknorpel«, gerettet, dabei sei aus dessen Au- menberger durch das offensive Auftreten des inkogni-
gen aber »etwas Teuflisches, eine Art übermäßiger to Ermittelnden und dessen allgemeiner Thematisie-
Freude, zu quälen« (144), hervorgebrochen. rung seiner Investigation in Analogie zur medizini-
Am Krankenbett erhält Bärlach mehrfach Besuch. schen Tätigkeit – »Sie spüren Krankheiten auf und ich
Der erste (und heimliche) Besucher ist der hühnenhaf- Kriegsverbrecher« (202) – keineswegs irritieren; Bär-
te Jude Gulliver, der im KZ Stutthof interniert war, und lach selbst muss sich fragen: »Wer verhört wen?« (203).
berichtet, dass er als einziger Nehles Operationspraktik Im Gespräch geben die Analogien von medizinischer
überlebt hat; er war es auch, der Life die Fotografie zu- und kriminalistischer Praxis aber auch Anlass zu allge­
gespielt hatte. Ebenfalls entdeckt er Bärlach, dass Nehle meinsten anthropologischen Schlüssen: Wenn Krebs-
seine Operationen ohne Narkose »mit der Zustim- erkrankungen und Kriegsverbrechen in jedem Land
mung seiner Opfer ausführte« (159). Allein die Hoff- möglich sind, so könne, was »in Deutschland ge-
nung auf die von Nehle versprochene Freiheit habe schah«, »in jedem Land« geschehen (ebd.). Bärlach
Hunderte dazu bewogen, sich ihm auszuliefern: »Die macht auch Bekanntschaft mit Dr. Marlok, Emmen-
Liebe und der Glaube, die gingen in Stutthof zum Teu- bergers rechter Hand. Sie ist eine ehemalige Kom-
fel, aber die Hoffnung«, die anders als bei Paulus (vgl. 1. munistin jüdischer Abstammung, die das Lager über-
Kor. 13) größte Kardinaltugend, »die blieb, mit der ging lebt hat, indem sie Emmenbergers Geliebte wurde.
68 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

Wie im ausführlich dokumentierten Gespräch mit der als einzelne die Welt nicht retten [...]. Wir können nur
Morphiumabhängigen deutlich wird, ist ihre Loyalität im einzelnen helfen [...]. So sollen wir die Welt nicht
keinem situativ verständlichen Opportunismus ge- zu retten suchen, sondern zu bestehen, das einzige
schuldet; sie ist die Konsequenz einer ganz und gar wahrhafte Abenteuer, das uns in dieser späten Zeit
schwarzen Anthropologie. Bärlach wird sediert und in noch bleibt« (264).
ein anders Zimmer verlegt, das sich als das jeweils be-
wusst zur psychischen Destablisierung individuell an-
gepasste »Sterbezimmer« (210) der Klinik erweist. Der Deutungsaspekte
Versuch, die ihn betreuende Emmentalerin Schwester
Kläri auf seine Seite zu ziehen, scheitert an ihrer per- Wie anhand der bisherigen Paraphrase zu erahnen
vertierten Frömmigkeit, die mit den praktischen Kon- und der vorliegenden Forschung im Einzelnen zu ent-
kretionen von Emmenbergers Weltanschauung kom- nehmen ist, sind es wenigstens vier Aspekte, die in ih-
patibel ist. Auch das Manöver mit Fortschigs Zeitungs- rer Kombinatorik und ihren Querbezügen das Profil
artikel scheitert: Da dieser nach der Publikation nicht des Romans ausmachen.
– wie mit Bärlach vereinbart – untertaucht, wird er
zum Opfer des ›Zwergs‹, eines weiteren von Emmen- 1. Bezugsdiskurs NS/Shoa: Der Verdacht ist offensicht-
berger im Stutthof auf perfide Weise instrumentalisier- lich ein Kriminalroman nach der Shoa. Während die
ten Schergen. erwähnte Beziehung der Figur Emmenberger/Nehle
Die finale Konfrontation zwischen Täter und Er- auf den historischen August Hirt wohl hypothetisch
mittler ist allerdings nicht der Showdown eines krimi- bleiben muss, hat Dürrenmatt mit dem KZ Stutthof
nalistischen und rechtsstaatlichen Whodunit, sondern klar einen faktualen Schauplatz gewählt: Es gab un-
vielmehr die weltanschauliche Disputation der Tat- weit von Danzig ein Vernichtungslager dieses Na-
motivation bzw. ihrer Sanktionierung, die in eine De- mens, in dem auch Menschversuche durchgeführt
batte um die Opposition von Nihilismus und Glauben wurden. Dieses Lager ist innerfiktional auch der bio-
mündet. Bärlachs Urteil über Emmenberger, er sei grafische Schnittpunkt zentraler Figuren: Emmenber-
»Nihilist« (247), kontert dieser mit der Gegenfrage ger, Marlok, Gulliver und der Zwerg kennen sich von
nach dessen Glaube. Emmenberger selbst bekennt dort. Entsprechend zeichnet sich Der Verdacht gegen-
sich offensiv zu einem Materialismus, der gänzlich frei über dem ersten Bärlach-Roman durch einen deutlich
ist von humanistischen Idealen: »Es gibt keine Ge- stärkeren zeitgeschichtlichen Bezug aus. Dieser geht
rechtigkeit – wie könnte die Materie gerecht sein –, es aber zugleich, in signifikanter ›antirealistischer‹ Ge-
gibt nur die Freiheit [...], die man sich nehmen muß. genläufigkeit, einher mit einer genuin literarischen
Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie Dimension. Durch die Anreicherung des Figurenarse-
selbst ein Verbrechen ist« (252). Habe Bärlach ein nals um Gulliver und den Zwerg – und die offene The-
stärkeres Credo, verspreche er ihm, der zu Tode ope- matisierung der betreffenden literarischen Traditio-
riert werden soll, die Freiheit: »Der Glaube an das Gu- nen (vgl. 138 f.) – weist der Roman zugleich »mär-
te wird doch wenigstens im Menschen gleich stark chenhafte Züge« (Weber 2020, 149) auf und wird auch
sein wie der Glaube an das Schlechte! [...] [Z]eigen Sie in diesem Sinn zu einem Meta-Kriminalroman. Diese
mir Ihren Glauben!« (255). Im Hintergrund nimmt Anlage gibt dem Roman, als Werk eines Schweizer Re-
Bärlach das Ticken einer Uhr wahr: Es wird zum formierten, eine literaturgeschichtliche Sonderstel-
Countdown des angekündigten Operationstermins lung: »Möglicherweise ist Der Verdacht die erste fikti-
und grundiert das finale Kapitel: Bärlach wartet auf ve Holocaust-Erzählung eines nicht persönlich betrof-
den Tod (vgl. 256), seine Zeit läuft ab – manifestiert im fenen (und nicht-jüdischen) Autors, der sich in die
Artefakt der tickenden Uhr –, schließlich wird er Gedanken von Mörder oder Täter versetzt« (Battegay
selbst zur »lebende[n] Uhr« (258), zählt das Springen 2015, 174, Anm. 3). Diese Konstellation verweist im
des Zeigers, bis sich die Tür öffnet. Doch nicht Em- Blick auf den Autor ebenso auf dessen intensive Be-
menberger tritt ein, sondern Gulliver, der als Deus ex schäftigung mit der Schweiz als ›verschonter‹ Nation,
machina Emmenberger gezwungen hat, eine Giftkap- wie auf sein Interesse am Judentum, der Shoa und der
sel zu schlucken (wie dieser den echten Nehle). Gul- politischen Bedeutung Israels. Mit Bezug auf die poe-
liver ist es auch vorbehalten, das schonungslose tologische Dimension ist darüber hinaus von Belang,
Schlusswort zu sprechen: »Die Nazis haben Stutthof dass mit der Figur Gullivers ein Opfer – ein geflohener
gewollt, die Millionäre diesen Spittel [...]. Wir können KZ-Häftling – zur Instanz wird, die den Täter nicht
15  Der Verdacht 69

nur in physischer Hinsicht zu überwinden vermag: vollen ihres ›Bestehens‹ (vgl. ebd.). Angesichts dieser
»Gerechtigkeit lässt sich nicht wieder herstellen. Nur fundamentalen Diagnose wirkt die anlässlich der Klä-
Gulliver, der als Opfer spiegelverkehrt die Erfahrung ri-Figur beiläufig eingespielte Kritik an der unbeirr-
des Täters teilt und zum Untoten geworden ist, kann baren und darin latent gewaltbereiten Frömmlerei des
den Souverän aushebeln, derweil er durch seine Er- schweizerischen ›Bible Belts‹ des Emmentals fast tri-
fahrung für immer aus der ›Menschenordnung‹ aus- vial (vgl. 228).
geschieden ist, die auch Emmenberger in andere Rich-
tung überschritten hat« (ebd., 194). 3. Bezugsdiskurs Schweiz: Die Hintergrundthematik
der verschonten Nation und die Frömmigkeitskritik
2. Bezugsdiskurs Religion: Die Handlungs- und Figu- erschöpfen längst nicht das Spektrum der Schweiz-
renentwicklung geht von Anfang an mit einem reli- Bezüge: Dass Bärlach ein Berner ist, spielt ebenso in
giösen Deutungs- und Sprachregister einher: Em- seiner Beziehung zu Kläri wie zum Berner Emmen-
menberger wird etwa als »Teufel« (WA 20, 153 u. 157 berger eine (auch ermittlungsrelevante) Rolle. Ein
u. 224) oder »Höllenfürst[...]« (226) bezeichnet und pointiertes ›Bern-Bashing‹ betreibt der Schriftsteller
das KZ wie sein Zürcher Pendant als »Hölle« (159 u. Fortschig (vgl. 179 f.). Vergleichbare Vorbehalte be-
220). Diese religiöse Perspektivierung des Verbre- gleiten Bärlach bei seiner Ankunft in der ihm unsym-
chens wird ausdifferenziert durch den Antagonismus pathischen Stadt Zürich: »[V]ierhunderttausend
von Judentum und Christentum (bzw. auch durch die Schweizer auf einem Fleck fand er etwas übertrieben«
Opposition zur Heilslehre des Kommunismus, wie er (193). Die gewichtigste Pointe des Schweiz-Bezugs
durch die frühere Kommunistin Marlok repräsentiert liegt aber gerade in dessen universalisierender Über-
wird). Es scheint bezeichnend, dass die zentrale jü- schreitung: Was in den Lagern geschah und in der
dische Figur – Gulliver – zumindest teilweise ›aus ei- Zürcher »Hölle der Reichen« geschieht, kann überall
ner anderen Welt‹ zu kommen scheint. Auch abge- geschehen. Dürrenmatt vollzog damit 1952 die skan-
sehen von seinem Namen ist er mit literarischen Ei- dalöse ›Nestbeschmutzung‹, derer Jahrzehnte später
genschaften und philosemitischen Stereotypen aus- Adolf Muschg für seinen Essay Wenn Auschwitz in der
gestattet und erweitert so, wie der Zwerg, das Schweiz liegt (1997) bezichtigt wurde. Charakteris-
textimmanente Realitätssystem. Dass es Gulliver ge- tisch für Dürrenmatts narrative durchgeführte These
lingt, die Operation zu überleben, akzentuiert gerade, ist einerseits ihre theologisch-anthropologische Fun-
wie fatal die Hoffnung ist, die seine Glaubensgenossen dierung, andererseits die damit verbundene interna-
veranlasste, sich Emmenbergers ärztlichen Praktiken tionalistische Pointierung: Gulliver schärft, existen-
auszuliefern. In Marloks Auslegung wird dieser tiell bezeugt, ein, dass der Unterschied zwischen »Pei-
Schritt ausdrücklich als Konversion zu einem »neuen niger und Gepeinigten« tiefer liege als der »zwischen
Gott« charakterisiert (224). Der Jude Gulliver ist auf- den Völkern«, den »guten und schlechten Nationen«
grund der genannten Disposition besser in der Lage, (WA 20, 157 f.).
die Zeichen der Zeit zu verstehen als der ›Christ‹ Bär-
lach, der von ihm als »ein Mann der sittlichen Welt- 4. Bezugsdiskurs Kriminalliteratur/Rechtssystem (vgl.
ordnung« (159) angesprochen wird. Diese massiv de- Nelles 2018, 142 f.; Vogt 2011; Weber 2006): »Das liest
stabilisierte Weltordnung wird aber mehrfach direkt sich wie ein Kriminalroman« (WA 20, 135), meint
auf die theologische Ordnung bezogen. Gullivers sar- Bärlach angesichts der medizinischen Fachartikel, die
kastische Theodizee – »Jehova war fern, mit anderen den Verdacht gegen Emmenberger erhärten. Dieser
Welten beschäftigt, oder er studierte an einem theo- Satz kann gleichsam emblematisch für den genrerefle-
logischen Problem herum, das gerade seinen erhabe- xiven Grundzug des Romans stehen. Dürrenmatt ar-
nen Geist in Anspruch nahm« (158) – korrespondiert beitet mit offenkundigen (nicht aber markierten) in-
insofern aber auch mit Bärlachs Unwilligkeit/Un- tertextuellen Verweisen. So realisiert die Ermordung
fähigkeit zu einem Credo gegenüber Emmenberger. Fortschigs das Motiv des ›Locked-Room Mystery‹, das
Das letzte Wort hat der »ahasverische[...] Rächer« seit Poes The Murders in the Rue Morgue (1841) ein ei-
(Battegay 2015, 175) Gulliver, der von der »Begren- gentliches Subgenre der Verbrechensliteratur bildet.
zung des armen Juden« auf die »Begrenzung aller Ähnlich verbreitet, nicht nur kriminalliterarisch (u. a.
Menschen« (WA 20, 264) schließt und defensiv plä- Schiller, Droste-Hülshoff), ist das Motiv der Narbe als
diert für eine Umstellung vom aussichtslosen Versuch Erkennungsmerkmal. Aber auch diese Bezüge schei-
einer ›Rettung‹ der Welt auf den seinerseits anspruchs- nen sekundär gegenüber der Entschiedenheit, mit
70 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

welcher der Roman das faktisch investigierte Verbre- Literaturverzeichnis


chen als Indiz einer generell gestörten Ordnung zur Primärtexte, Quellen
Darstellung bringt. Wie im ersten Bärlach-Roman Der Verdacht (Fortsetzungsdruck). In: Der Schweizerische
Beobachter 25 (15.9.1951), 7 – 26 (29.2.1952), 4.
kann der Täter auch hier nicht durch professionelle Der Verdacht. Einsiedeln 1953.
Ermittlungsarbeit innerhalb der regulären rechts- Der Verdacht. In: WA 20, 119–265.
staatlichen Ordnung gefasst werden. Emmenberger Handexemplar, Schweizerisches Literaturarchiv, Sig.
wird, wie viele Verbrecher des NS-Regimes, von dieser A-m125_I.
Seite weder verfolgt noch belangt. Die ›Lösung‹ des Der Verdacht. Hörbuch, gelesen von Hans Korte. Zürich
2008.
Falls sowie die Rettung des unprofessionell agieren-
Dürrenmatt, Friedrich/Germann, Brigitte/Städtisches Lite-
den Ermittlers sind nur möglich durch die illegale rargymnasium Bern: Der Verdacht. Comic auf der
Selbstjustiz eines Opfers. Diese verschiedenen Be- Grundlage des Romans. Luzern 1993.
zugsdiskurse werden in Gullivers Schlussvotum noch
einmal äußerst prägnant eng geführt: »Man kann heu- Sekundärliteratur
te nicht mehr das Böse allein bekämpfen, wie die Rit- Battegay, Caspar: »Wahnsinn als Methode«. Friedrich Dür-
renmatts Der Verdacht als Kriminalroman nach der
ter einst allein gegen irgendeinen Drachen ins Feld zo-
Shoah. In: Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.): Krimi-
gen. Die Zeiten sind vorüber, wo es genügt, etwas nalliteratur und Wissensgeschichte. Genres – Medien –
scharfsinnig zu sein, um die Verbrecher, mit denen Techniken. Bielefeld 2015, 173–196.
wir es heute zu tun haben, zu stellen. Du Narr von ei- Benzenhöfer, Udo: August Hirt. Verbrecherische Menschen-
nem Detektiv; die Zeit selbst hat dich ad absurdum ge- versuche mit Giftgas und »terminale« Anthropologie. In:
führt!« (WA 20, 260). In diesem Sinn lässt sich auf die Ders. (Hg.): Mengele, Hirt, Holfelder, Berner, von Ver-
schuer, Kranz. Frankfurter Universitätsmediziner der NS-
gelegentliche Kritik des Romans als Kriminalroman Zeit. Münster 2010, 21–42.
erwidern, dass vor allem das Finale nicht als ›unglaub- Genç, Metin: Gattungsreflexion. In: Susanne Düwell u. a.
würdig‹ oder ›Fehler‹ zu sehen ist, sondern als eine (Hg.): Handbuch der Kriminalliteratur. Theorien –
Demontage des konventionellen Genre-Modells, das Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 3–13.
der Wirklichkeit nicht mehr beikommt (Weber 2006). Gerber, Marion: Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht. Ein
Bericht über den Vergleich verschiedener Fassungen. Unv.
Seminararbeit Univ. Bern 2009.
Keller, Otto: Dürrenmatts Gangster. Von den Kriminal-
Zur Forschung romanen der 1950er zum Justizroman der 1980er Jahre.
Bern 2014, 23–42.
Die genannten Aspekte werden durch die verfügbare Matzkowski, Bernd: Textanalyse und Interpretation zu
Forschung im Einzelnen gut erschlossen. Ihr komple- Friedrich Dürrenmatt Der Verdacht. Hollfeld 2014.
Nelles, Jürgen: Friedrich Dürrenmatt. In: Susanne Düwell
xes Zusammenspiel scheint aber noch nicht hinrei- u. a. (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien –
chend erfasst, nicht anders als die angedeuteten text- Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 141–146.
genetischen Zusammenhänge und die narratologi- Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung. Friedrich
schen Charakteristika des Romans. Neben dieser ein- Dürrenmatt und der klassische Detektivroman. Marburg
zeltextbezogenen Desiderate scheint auch die Stellung 2000, 165–189.
Spedicato, Eugenio: Das Böse im Land des Paradoxes. Über-
des Verdachts innerhalb des kriminalliterarischen
legungen zu Friedrich Dürrenmatts Erzählwerk. In: Ders.
Werks Dürrenmatts (bzw. der Bärlach-Minireihe) (Hg.): Das Böse. Fragmente aus einem Archiv der Kultur-
noch weiterer Beschäftigung wert (trotz Keller 2014). geschichte. Bielefeld 2001, 121–141.
Im Anschluss an den Impuls Riedlingers (2000, 173 f.) Vogt, Jochen: Krimis, Antikrimis, »Gedanken«-Krimis. Wie
wäre es mit Blick auf das Gesamtwerk schließlich auch Friedrich Dürrenmatt sich in ein gering geschätztes Genre
reizvoll, die Beziehung zwischen der Ermittlerfigur einschrieb. In: Véronique Liard, Marion George (Hg.):
Dürrenmatt und die Weltliteratur, Dürrenmatt in der
und Dürrenmatts ›mutigem Menschen‹ genauer aus-
Weltliteratur. München 2011, 215–235.
zuloten. Dürrenmatt sieht, wie er in Theaterprobleme Weber, Ulrich: Starke und weniger starke Abgänge. Zerfalls-
(1955) ausführt, in der Darstellung dieses Typus eines erscheinungen der Detektivfigur bei Dürrenmatt und
seiner zentralen Anliegen, und in dessen Entfaltung Highsmith. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen
bezieht er sich ausdrücklich auf die (swiftsche) Gul- Literaturarchivs 21/22 (2006), 80–98.
liver-Gestalt und den »Entschluß [...], die Welt zu be- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Zürich 2020.
stehen« (WA 30, 63).
Andreas Mauz
16  Grieche sucht Griechin 71

16 Grieche sucht Griechin ten im kapitalistischen System, und Chloé, von ihm
verstoßen, ist verschwunden.
Entstehungs- und Wirkungsgeschichte »ENDE I« schreibt der Erzähler unter diesen
Schluss, und: »Es folgt das Ende für Leihbibliotheken«
Die Umstände, unter denen der Roman Grieche sucht (ebd., 154): Archilochos macht sich auf die Suche nach
Griechin entstand, waren unglücklich: Der Achtungs- Chloé, findet sie schließlich, und sie gehen zusammen
erfolg von Ein Engel kommt nach Babylon (1953) ihrem Glück entgegen: »ENDE II« (ebd., 162).
brachte Dürrenmatt endgültig zur Überzeugung: »Als In der Prosakomödie treffen Ordnung und Zufall
Dramatiker bin ich ein unvermeidliches Mißver- als Prinzipien aufeinander: Archilochos versucht, die
ständnis« (WA 28, 217). Als seine Frau Lotti schwer Welt in eine Ordnung zu bringen, in der alles be-
erkrankte und er für die Operation bezahlen musste, stimmt und nichts zufällig sein soll. Er will Sicherheit
spitzte sich die finanzielle Situation weiter zu und er bis über den Tod hinaus, glaubt er als »Altneupres-
begann, eine nur vage im Geist entwickelte Filmidee byteraner« (22) doch unerschütterlich an die Ewigkeit
tatsächlich niederzuschreiben: »Der Vorschuß mußte der Höllenstrafen. Diesen Halt gibt ihm seine sittliche
her, ich schrieb das Buch voll böser Ahnungen in we- Weltordnung, die aus sieben Personen des öffent-
nigen Tagen zu Ende« (ebd., 219). Am 21.1.1955 wird lichen Lebens besteht – und seinem kriminellen Bru-
der Vertrag zwischen Dürrenmatt und dem Arche der Bibi, von dessen gutem Kern er jedoch überzeugt
Verlag unter Peter Schifferli geschlossen und aus dem ist. Die im Verlauf der Handlung sichtbar werdenden
Arbeitstitel Ich heiratete eine Kurtisane wird Grieche Widersprüche zwischen der Vorstellung, die er sich
sucht Griechin – Eine Prosakomödie. Obwohl sie typi- von seinen Vorbildern gemacht hat, und der Wirk-
sche Mittel Dürrenmattschen Erzählens ebenso ent- lichkeit integriert er kreativ in sein Weltbild, und
hält wie zentrale Themen bzw. Motive seines Schrei- Chloé macht er aus innerer Notwendigkeit zu einer
bens (z. B. Gerechtigkeit, Gnade, Moral, Ideologiekri- Heiligen. Als er schließlich die Wahrheit über Chloé
tik) und die Mehrdeutigkeit des Textes deutlich auf und die Gründe für seinen märchenhaften Aufstieg
deren Gleichnisgehalt verweist, wurde sie fast einhel- nicht mehr ignorieren kann, ist er dem Chaos schutz-
lig als Unterhaltungsliteratur bzw. als Spiel mit ihr ge- los ausgeliefert und droht, an ihm zu scheitern. Der
lesen und spielte beim Lesepublikum wie in der For- Staatspräsident – eine der christologischen Figuren
schung kaum eine Rolle (vgl. Obermeier 2015, 91). im Werk Dürrenmatts – fungiert jedoch als Geburts-
Zur Verfilmung kam es 1966 unter der Regie von Rolf helfer und kann Archilochos schließlich zur Wahrheit
Thiele. Der Text der WA ist nach der gegenüber der verhelfen: zur Geburt zu sich selbst. Das Motiv der
Erstausgabe leicht redigierten Fassung der Werkaus- Geburt ist in Grieche sucht Griechin von Beginn an an-
gabe 1980 wiedergegeben. gelegt: Als milchtrinkender Mitarbeiter in der Ge-
burtszangenabteilung seines Vorbildes Petit-Paysan
muss ihn seine Pensionswirtin neun Monate lang be-
Inhalt und Analyse arbeiten, bevor Archilochos sich endlich überreden
lässt zu heiraten. Dass der Grieche nun in der Lage ist,
»Grieche sucht Griechin!« (WA 22, 23), so lautet der sich die nötige Distanz zur Welt zu schaffen und sie als
übersichtliche Text der Kontaktanzeige, mit der Ar- Chaos innerhalb der Ordnung anzunehmen, ermög-
nolph Archilochos, kurzsichtiger Abstinenzler mit licht es ihm, sich in der Welt als ›Einzelner‹ im Sinne
sittlicher Weltordnung und Unterbuchhalter einer Kierkegaards zu positionieren (vgl. Mingels 2003).
Maschinenfabrik (Abteilung Geburtszangen), tat- Trotz objektiv demonstrierter Sinnlosigkeit mensch-
sächlich die bezaubernde Griechin Chloé Saloniki lichen Handelns – nach einem Regierungssturz ver-
nicht nur ansprechen, sondern sie bereits bei ihrem ändern sich die (Macht-)Verhältnisse und trotzdem
ersten Treffen zur Heirat bewegen kann. In diesem bleibt alles, wie es war – setzt eine Gegenbewegung
märchenhaften Tempo geht es weiter: Archilochos ein: Die Suche des Helden geht weiter, aber sie behält
steigt kometenhaft auf, um sogleich umso tiefer zu fal- ihren subjektiven Charakter, indem sie nicht-objekti-
len, als er während der Hochzeitsfeier erkennt, dass vierter Teil der Geschichte ist. Was beschrieben wird,
Chloé die berühmteste Kurtisane der Stadt gewesen ist die ›Suche nach der Liebesgöttin‹; was sich dahinter
ist, und er Nutznießer der Abschiedsgeschenke ihrer verbirgt, bleibt die Sache des Einzelnen.
einflussreichen Kunden. Seine Ordnung entpuppt sich Der Einzelne, der ›mutige Mensch‹, das ist der Held
als Chaos, die ehrwürdigen Vorbilder sind Marionet- Dürrenmatts, der nicht einfach zu charakterisieren ist

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_16
72 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

und für den Leser oder Zuschauer kaum eine Identifi- den Leser, durch den Zuschauer, und das nur, wenn er
kationsfläche bietet (s. Kap. 72). Er ist gebrochen, aber vom Gleichnis betroffen ist, sonst bleibt für ihn das
er verzweifelt nicht an der Sinnlosigkeit der Welt, son- Gleichnis nur eine belanglose, verrückte Geschichte,
dern übt sich im ›dennoch‹ und sucht den Sinn hinter und viele glauben, ich hätte nur solche geschrieben«
allem Unsinn. Archilochos ist die einzige Figur Dür- (WA 29, 131).
renmatts, die in Bezug auf die Gnade – in diesem Fall Bringt man die offensichtlichen Griechenland-Be-
die Liebe zu sich selbst und die Liebe zu Chloé – eine züge in Grieche sucht Griechin (vgl. Obermeier 2015,
zweite Chance erhält. Als mutiger Mensch nimmt er 182) mit den Idyllen von Salomon Geßner in Verbin-
das Wagnis der Liebe auf sich und im Gegensatz zu dung, dann kann Dürrenmatt durch den Bezug auf
Doc aus dem Mitmacher und Übelohe aus Die Ehe des diese Gedankenwelt die idyllischen Verhältnisse der
Herrn Mississippi überwindet er die Furcht vor ihr, Schweiz parodieren und demontieren, die ihr von Au-
weil er keine Angst mehr hat, sich selbst zu verlieren. ßenstehenden auch dadurch zugeschrieben werden,
dass Geßners Werke als Annäherung zwischen Arka-
dien und der Schweiz rezipiert wurden. Außerdem
Deutungsaspekte schicken sich sowohl Geßner als auch Dürrenmatt an,
mit Literatur zur Überwindung gesellschaftlicher Hie-
Dürrenmatt bezeichnet in Theaterprobleme die Ko- rarchien und zur Herausbildung einer öffentlichen
mödie als eine »Mausefalle, in die das Publikum im- Kommunikation beizutragen, und teilen die Einschät-
mer wieder gerät und immer noch geraten wird« (WA zung darüber, wie gesellschaftliche Veränderungen
30, 64). In Grieche sucht Griechin versteckt sich die vonstatten gehen können: Das Veränderungspotential
›Mausefalle‹ im Anmerkungssatz »Es folgt das Ende wird beim Einzelnen gesehen. Wo aber die Idylle
für Leihbibliotheken«, den die meisten Leser aber Glückseligkeit in der Flucht vor der Gesellschaft sieht,
wohl nicht als Falle, sondern als Bestätigung ihrer Le- kann bei Dürrenmatt die Reise nach Griechenland
seerwartung rezipieren. Dieser Satz – ein ›Zeichen des zum einen als politische Option für den Einzelnen ge-
Widerspruchs‹ im Sinne Kierkegaards – ist nur deutet werden und zum anderen wird der Prozesscha-
scheinbar paratextueller Art: Er gehört zum eigentli- rakter der Sehnsucht betont, denn die eigentliche Reise
chen Text und ist durch seine ironische Form das endet eben nicht beim Erreichen des Sehnsuchtsorts.
stärkste Mittel, auf das Prinzip der indirekten Mittei-
lung hinzuweisen, das dem ganzen Text zugrunde Literatur
Primärtexte
liegt. Er ist der Ort für Dürrenmatt, indirekt aus- Grieche sucht Griechin. Eine Prosakomödie. Zürich 1955.
zudrücken, dass er sich indirekt ausdrückt. Gerade in Grieche sucht Griechin. In: WA 22, 9–162.
diesem Satz, wo er unterschiedlichen Lesarten zufolge
als Autor in Erscheinung tritt (vgl. Obermeier 2015, Sekundärliteratur
197–219), ist er als solcher am wenigsten zu fassen. An Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln
dieser Stelle wird der ›Einzelne‹ angesprochen, auf in-
2003.
direktem Weg, denn über das Allgemeine ist er nicht Obermeier, Monika: Nur eine belanglose Geschichte? Eine
zu erreichen. Hier entscheidet sich, ob es Dürrenmatt Interpretation der Prosakomödie Grieche sucht Griechin
gelingt, sich dem Leser als Individuum mitzuteilen von Friedrich Dürrenmatt und ihre Verortung innerhalb
und ihm sein eigenes Verständnis des Gleichnisses zu des Gesamtwerkes. Hamburg 2015.
überlassen, denn »Gleichnisse sind an sich mehrdeu- Monika Obermeier
tig, eindeutig werden sie nur durch den Deuter, durch
17  Die Panne 73

17 Die Panne Inhalt und Struktur

Entstehungs- und Wirkungsgeschichte Im kurzen ersten Teil der Erzählung wird die Frage er-
örtert, ob es noch »Geschichten für Schriftsteller« ge-
Am 17.1.1956 wurde Dürrenmatts Hörspiel Die Pan- be, und der Erzähler gibt sich als einer zu erkennen,
ne zum ersten Mal ausgestrahlt. Im Herbst desselben der nicht »von sich erzählen« will (WA 21, 37). Doch
Jahres erschien die gleichnamige Erzählung mit dem wie ist so der Welt erzählend noch beizukommen?
Untertitel Eine noch mögliche Geschichte. Diese Chro- »Die Ahnung steigt auf, es gebe nichts mehr zu erzäh-
nologie mag dazu beigetragen haben, dass manche len« (ebd., 38). Denn die moderne Welt sei – und da-
glaubten, das Hörspiel sei vor der Erzählung entstan- mit wird ein Gedanke aus den Theaterproblemen
den (z. B. Mayer [1967] 1998, 300). Tatsächlich aber (1955) wieder aufgenommen – unübersichtlich ge-
hat Dürrenmatt zuerst an der Erzählung gearbeitet. worden. Was der Einzelne erlebe, sei »ohne Zusam-
Später schrieb er parallel dazu auch am Hörspiel, wo- menhang mit dem Weltganzen« (ebd.). Das »Schick-
bei sich komplexe Wechselwirkungen ergaben. Das sal« habe »die Bühne verlassen« und zurückgeblieben
geht aus einem Brief des Autors vom 17.12.1956 an sei eine »Welt der Pannen«, in der »kein Gott mehr«
Werner Weber hervor: »Die Panne [gemeint ist die drohe, »keine Gerechtigkeit, kein Fatum« (ebd., 39).
Erzählung] existiert in fünf Fassungen [...], zwischen Alle Ereignisse seien nur noch Zufälle, Unfälle und
der Prosafassung Drei und Vier liegen noch drei Fas- kontingente Fehlleistungen, und nur ganz selten wür-
sungen des Hörspiels Die Panne, Fassungen, die den sich »noch einige mögliche Geschichten ergeben,
wieder die späteren Prosafassungen stark veränder- indem aus einem Dutzendgesicht die Menschheit
ten« (zit. nach Rüedi 2011, 419). Auf der Grundlage blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet,
der ausgestrahlten Hörspielfassung verfasste Dürren- Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht
matt dann das Drehbuch zum Fernsehspiel Die Pan- auch Gnade, zufällig aufgefangen, widergespiegelt
ne (1957), in dem Fritz Umgelter Regie führte. Und vom Monokel eines Betrunkenen« (ebd.).
über zwanzig Jahre später hat er den Pannen-Stoff Nach diesem Satz, der in seiner ungeschmeidigen
schließlich noch einmal aufgenommen und für die Struktur, wie auch andere Passagen, gleichsam syntak-
Bühne bearbeitet: Die Panne. Eine Komödie wurde am tischer Ausdruck der Zusammenhanglosigkeit der
13.9.1979 unter seiner eigenen Regie in Wilhelmsbad/­ Pannen-Welt ist (vgl. Weber 1956), setzt der zweite
Hanau uraufgeführt. Teil des Textes ein, in dem exemplarisch die Geschich-
Sowohl die Erzählung als auch das Hörspiel waren te des Textilkaufmanns Alfredo Traps erzählt wird.
große Erfolge. Für Letzteres erhielt Dürrenmatt 1957 Dieser hat in ländlicher Gegend eine Autopanne, fin-
den wichtigen Hörspielpreis der Kriegsblinden, und det in der Villa eines pensionierten Richters Unter-
die Erzählung – versehen mit in heutigen Ausgaben kunft und beteiligt sich bei einem lukullischen Gelage
kommentarlos weggelassenen Illustrationen des da- an einem Gesellschaftsspiel, das sein namenloser
mals noch ganz jungen Rolf Lehmann – erlebte zahl- Gastgeber (im Hörspiel heißt er Werge, in der Komö-
reiche Auflagen, in denen der Text wiederholt leicht die Wucht) zusammen mit dem ehemaligen Staats-
redigiert wurde (der Wortlaut in WA 21 entspricht anwalt Zorn, dem früheren Strafverteidiger Kummer
dem der Werkausgabe von 1980). Der Erfolg der Er- und dem pensionierten Henker Pilet entwickelt hat.
zählung zeigt sich auch daran, dass sie 1960 unter dem Dabei schlüpfen die vier Greise in die Rollen ihrer frü-
Titel The Deadly Game in einer Theateradaption von heren Berufe und halten Gericht – ein Motiv, zu dem
James Yaffe am Broadway aufgeführt wurde (die wie- Dürrenmatt zum einen durch eine Anekdote über
derum George Schaefer zu seinem gleichnamigen zwei entlassene Beamte inspiriert wurde, die alte Ak-
Film von 1982 anregte) und dass Ettore Scola sie 1972 ten aufkauften, um ihren Beruf als Spiel weiter aus-
in einer freien Bearbeitung unter dem Titel La più bel- üben zu können (vgl. Dürrenmatt 1996, 115), zum an-
la serata della mia vita verfilmte. Dürrenmatts Komö- dern durch eine Erzählung Maupassants, wahrschein-
die Die Panne konnte nicht mehr an die Erfolge des lich Le Voleur (1882; vgl. Spycher 1972, 231, Anm.
Hörspiels und der Erzählung anknüpfen. 4). Die Rolle des Angeklagten besetzen die Pensio-
nierten oft mit einer historischen Persönlichkeit, doch
wenn möglich vergnügen sie sich »am lebenden Mate-
rial« (WA 21, 46). So wird Traps gebeten, den Part des
Angeklagten zu übernehmen, und das Spiel besteht

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_17
74 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

nun darin, dem nach herkömmlichen juristischen so dass Zorns (Re-)Konstruktion der Traps-Vita in ei-
Kriterien unbescholtenen Gast ein Verbrechen nach- nem positiven Sinne als die im Untertitel angekündig-
zuweisen und ihn zu verurteilen – ein Motiv, das vage te noch mögliche Geschichte erscheint. Aber hat der
an Kafkas Prozess (1925) erinnert. Staatsanwalt tatsächlich das letzte Wort? Oder besteht
Im Laufe des Tischgesprächs, das zugleich immer die noch mögliche Geschichte in der Panne insgesamt,
schon Verhör ist (vgl. Hess-Lüttich 2008), erfährt der in deren Rahmen Zorns (Re-)Konstruktion vom Er-
Staatsanwalt von Traps’ steilem beruflichen Aufstieg. zähler zwar als Deutungsangebot präsentiert, zugleich
Sogleich wittert er Zweifelhaftes, und als deutlich aber auch kritisch perspektiviert wird?
wird, dass Traps bei seiner Karriere vom Tod seines Für die erste Lesart spricht, dass im theoretischen
einstigen Chefs Gygax profitiert hat, ist zur Freude der Vorspann davon die Rede ist, dass die hie und da noch
Alten auch schon eine Leiche gefunden. Als sich dann möglichen Geschichten »vom Monokel eines Betrun-
aber auch noch erweist, dass Traps vor dem Ableben kenen« widergespiegelt würden (39). Dieses Monokel
seines Vorgesetzten ein Verhältnis mit dessen Ehefrau steht metonymisch für den Staatsanwalt, der, wie man
unterhalten und dafür gesorgt hatte, dass der herz- später erfährt, Monokelträger ist (vgl. ebd., 45). Nur
kranke Gygax davon erfuhr, ist für den Staatsanwalt aus dessen Perspektive ergäbe sich demnach noch eine
klar: Traps ist für dessen Tod verantwortlich und muss mögliche Geschichte im Zeichen von »Gericht und
deshalb zum Tode verurteilt werden. Zwar weist der Gerechtigkeit« (ebd., 39). Eine solche Lektüre könnte
Verteidiger diese Anklage als absurd zurück, weil auch gestützt werden durch Dürrenmatts Ansprache
überhaupt kein zwingender Kausalnexus zwischen anläßlich der Verleihung des Kriegsblinden-Preises
Traps’ Handlungen und dem Tod von Gygax bestehe. (1957). Denn dort meint er, die »Welt als ganze« sei
Doch der hoffnungslos betrunkene Traps will nichts zwar »in Verwirrung«, doch die »Welt des Einzelnen«
davon hören. Denn in der Version seiner Biografie, die sei »noch zu bewältigen«; hier gebe es, wie in seiner
der Staatsanwalt rekonstruiert hat, sieht er sich end- Panne, »noch Schuld und Sühne« (WA 16, 179). Und
lich – und sei es durch ein genial geplantes Verbrechen weiter könnte noch angeführt werden, dass es wohl
– aus seiner nichtssagenden Durchschnittsexistenz kaum ein Zufall ist, dass Dürrenmatt den Staatsanwalt
gleichsam in den Adelsstand des Außergewöhnlichen nach einer Emotion benannte, die er in den unmittel-
erhoben. Er bekennt sich deshalb mit Begeisterung bar zuvor niedergeschriebenen Theaterproblemen als
schuldig und wird vom Richter unter allgemeinem zentral für seine eigene Gegenwartskritik nennt:
Gejohle zum Tode verurteilt – freilich nicht, weil der »[V]or allem der Zorn reiß[t] seinen [des Schriftstel-
Richter die Argumentation des Staatsanwalts teilen lers] Mund auf« (WA 30, 70).
würde, sondern »juristisch nur darauf gestützt, daß Gegen diese Lesart spricht allerdings, dass Zorns
der Verurteilte sich selbst als schuldig« bekennt (WA Sicht der Dinge in der Erzählung nicht unwiderspro-
21, 91). Danach torkelt Traps beglückt in sein Zimmer, chen bleibt. Der Verteidiger weist sie als absurd zu-
wo er sich – zum Schrecken seiner Mitspieler – tat- rück, und auch der Richter sieht sie kritisch. Daran
sächlich erhängt, jedenfalls in der Erzählfassung. Im zeigt sich übrigens, dass die Greise keineswegs, wie
Hörspiel schläft er seinen Rausch aus und geht am Hans Mayer meint, alle »strenge Anhänger der in der
nächsten Tag seinen Geschäften nach, als wäre nichts Strafrechtslehre längst abgeschafften ›Bedingungs-
gewesen. In der Komödie wiederum erschießt er sich. theorie‹ [sind], wonach einem Täter, der irgendeine
Bedingung gesetzt hat, die zu einer strafbaren Hand-
lung führte, diese Straftat juristisch zugerechnet wird«
Deutungsaspekte (Mayer 1967/1990, 294). Ihre Argumentationen diffe-
rieren entscheidend (vgl. Büttner 2009). Eine weitere
In Traps’ Name kann das englische trap mitgehört Relativierung der Position des Staatsanwalts – und
werden, und tatsächlich geht der Textilkaufmann in überhaupt des ganzen ›Gerichts‹ – ergibt sich durch
eine Falle. Er wird im geschickt gewobenen Text des das groteske Setting der Verhandlung. Und zu denken
Tischgesprächs und vor allem in der Anklage des geben muss auch der Umstand, dass die vom Staats-
Staatsanwalts Zorn gefangen. Nicht nur Traps steht anwalt (re-)konstruierte Geschichte ausgerechnet vom
freilich im Bann von Zorns Worten, sondern auch das zweifelhaften Traps in den höchsten Tönen gelobt wird
Lesepublikum der Panne. Denn unversehens gerät (vgl. WA 21, 83). Sie kommt deshalb kaum in einem
auch es in den Deutungssog der Anklage – die auch affirmativen Sinne als ›noch mögliche Geschichte‹ in
eine Abrechnung mit dem Geist der 1950er Jahre ist –, Frage. Vielmehr besteht die noch mögliche Geschichte
17  Die Panne 75

darin, erzählend vorzuführen, wie nach dem Strick- Die Panne. Ein Hörspiel. Zürich 1961.
muster des Staatsanwalts gearbeitete Geschichten Die Panne. Eine Komödie. Zürich 1979.
letztlich eben gerade nicht mehr möglich sind. Die Panne. Hörspiel und Komödie. WA 16.
Die Panne. In: Der Hund. Der Tunnel. Die Panne. Erzählun-
Die Panne thematisiert mithin die für Dürrenmatts gen. WA 21, 35–94.
»Dramaturgie der Panne« insgesamt typischen »nie Die Entstehung der Panne. In: Luis Bolliger, Ernst Buchmül-
lösbaren Auseinandersetzungen zwischen Sinn- ler (Hg.): Play Dürrenmatt. Ein Lese- und Bilderbuch.
gebung und Sinntilgung« (Neumann 1969, 32). Sie er- Zürich 1996, 115–118.
zählt eine noch mögliche Geschichte von der Sinn-
Sekundärliteratur
gebung und Sinntilgung durch Erzählen und führt
Büttner, Urs: Urteilen als Paradigma des Erzählens: Dürren-
vor, wie prekär Sinnstrukturen in der Moderne gewor- matts Narratologie der Gerechtigkeit in seiner Geschichte
den sind. Die Labilität dieser Strukturen zeigt sich Die Panne (1955/56). In: Monatshefte 101 (2009), 4, 499–
nicht nur daran, dass sie – wie im Spiel der Alten – 513.
bloß noch unter dem Vorbehalt des ›Als-ob‹ sichtbar Cuonz, Daniel: Über den Rahmen des Möglichen. Übertra-
werden, sondern auch daran, dass sie sich in ihrer gung, Inszenierung, Spiel – Zu Friedrich Dürrenmatts
Panne. In: Daniel Müller-Nielaba (Hg.): Rhetorik der
Scheinhaftigkeit nur zufällig ergeben. Sie sind so kon- Übertragung. Würzburg 2013, 181–192.
tingent wie alles andere in der »Welt der Pannen« (WA Hess-Lüttich, Ernest W. B.: Pannen vor Gericht. Sprache,
21, 39). So kommt es nur zur ›Gerichtsverhandlung‹, Literatur und Recht in einem frühen Hörspiel von Fried-
weil Traps eine Autopanne hatte, und als Angeklagter rich Dürrenmatt. In: Elke Gilson u. a. (Hg.): Literatur im
macht sich dieser die Perspektive des Staatsanwalts Jahrhundert des Totalitarismus. Hildesheim 2008, 149–
169.
keineswegs aus einer gleichsam inneren Notwendig-
Mayer, Hans: Die Panne [1967]. In: Daniel Keel (Hg.): Über
keit heraus zu eigen, sondern bloß, weil er, wie sein Friedrich Dürrenmatt [1988]. 6. Aufl. Zürich 1998, 292–
Verteidiger bemerkt, eine »geistige Panne« (88) erlit- 308.
ten hat. Und auch sein Selbstmord erfolgt nicht aus ei- Mitrache, Liliana: Intertextualität und Phraseologie in den
ner tieferen Einsicht heraus – ein Umstand, den Dür- drei Versionen der Panne von Friedrich Dürrenmatt.
renmatt nicht zuletzt dadurch unterstrichen hat, dass Aspekte von Groteske und Ironie. Uppsala 1999.
Neumann, Gerhard: Friedrich Dürrenmatt. Dramaturgie
er Traps in der Hörspielfassung konsequenzenlos
der Panne. In: Ders., Jürgen Schröder, Manfred Karnick:
überleben lässt. Die Entscheidung dieses »Durch- Dürrenmatt. Frisch. Weiss. Drei Entwürfe zum Drama der
schnittsmenschen« (ebd., 91) fällt einmal so aus, ein- Gegenwart. München 1969, 27–59.
mal anders. Sie ist vom Zufall abhängig. Es ist deshalb Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
auch problematisch, den Schluss der Erzählung als Biographie. Zürich 2011.
»folgerichtiger[...]« (Mayer 1990, 303) als den des Schnyder, Peter: Pannenpoetik. Dürrenmatt als Nachfahr
Schillers? In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der
Hörspiels zu bezeichnen, denn gerade die Kategorie Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und intermedial. Göt-
der Folgerichtigkeit steht hier ja im eigentlichen Sinn tingen, Zürich 2014, 61–76.
auf dem Spiel. Spycher, Peter: Die Panne. In: Ders.: Friedrich Dürrenmatt.
Das erzählerische Werk. Frauenfeld 1972, 231–271.
Literatur Weber, Werner: Dürrenmatts Panne. In: Neue Zürcher Zei-
Primärtexte tung, 15.12.1956, Blatt 1.
Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. [Mit Illustratio-
nen von Rolf Lehmann]. Zürich 1956. Peter Schnyder
76 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

18 Das Versprechen Mitte Dezember 1957 Zeit, die »Novelle so zu schrei-


ben, wie Sie sie verantworten können« (zit. nach ebd.,
Entstehungs-, Publikations- und Auf- 60). Gleichzeitig sieht er mit dieser weiteren Verzöge-
führungsgeschichte rung aber auch die Existenz der Praesens gefährdet
und appelliert an das Gewissen des Autors. Vielleicht
Im Frühjahr 1957 beauftragt Lazar Wechsler, der Pro- beginnt Dürrenmatt deshalb Mitte Oktober 1957 nun
duzent der Praesens-Film (Zürich), Dürrenmatt da- doch mit der Arbeit am Drehbuch. Auch knüpft der
mit, für ihn einen Film über »Sittlichkeitsverbrechen« neu verpflichtete Regisseur Vajda seine Mitarbeit an
(Dürrenmatt 1957a, 1) an Kindern zu konzipieren. Der die Bedingung, dass »der Autor auch die Filmfassung
Autor verfasst am 27.3.1957 ein Exposé von zwei Seiten schreiben müsse« (zit. nach ebd., 153).
und soll laut Vertrag ab Mitte Mai 1957 für die Dauer Diese erste Drehbuch-Fassung ist Anfang Januar
von drei bis vier Monaten ausschließlich der Praesens- 1958 beendet. Es folgen bis zum Februar 1958 unter
Film zur Verfügung stehen und zunächst Treatment der Mitarbeit von Dürrenmatt, Vajda, Wechsler und
und Dialoge entwickeln, wobei sämtliche Arbeits- möglicherweise auch Richard Schweizer (vgl. Dumont
schritte Wechsler zur Diskussion und Genehmigung 1987, 490), dem ›Haus-Drehbuchautor‹ der Praesens,
vorzulegen sind. Möglicherweise mit Blick auf die von drei weitere Fassungen. Der Filmtitel Es geschah am
Anfang an geplante Buchpublikation des Stoffes bei Pe- hellichten Tag stammt von Staudte. Dürrenmatt möch-
ter Schifferli im Arche Verlag (Zürich) schreibt der mit te den Film lieber Schrott geht bummern [sic] oder Gott
dem Medium Film noch sehr unerfahrene Dürrenmatt schlief am Vormittag nennen (vgl. Möbert 2011, 148 f.).
nun allerdings statt eines Treatments eine Filmerzäh- Auch Der Köder ist offenbar zwischenzeitlich als Titel
lung, die er noch vor ihrer Beendigung in mehreren im Gespräch (vgl. ebd., 149 f.).
Schritten überarbeitet. Weder die erste noch die zweite Heinz Rühmann wird erst spät für die Rolle des
Fassung der Filmerzählung – beide bereits mit Das Ver- Kommissärs verpflichtet. Vertraglich wird ihm zuge-
sprechen betitelt – besitzen einen Schlussteil. Die zweite sichert, dass sein eigener Drehbuchautor, Hans Jacoby,
Fassung bricht unvermittelt nach Kapitel 36 ab und ist als Berater hinzugezogen werde. Diesem kommt nun
vermutlich im Juli 1957 beendet. die Aufgabe zu, Dürrenmatts Stoff dem Image Rüh-
Unter dem Druck Wechslers beginnt Dürrenmatt manns anzupassen, der damals ein gefeierter Star ist.
in der zweiten Augusthälfte die Arbeit am Schlussteil Mit Datum vom 11.3.1958 legt Jacoby die aus 21 Blät-
der Filmerzählung. Anfang September 1957 liegt diese tern bestehenden Aenderungen am Drehbuch ›Es ge-
schließlich vollständig vor. Wechsler urteilt, sie sei schah am hellichten Tag‹ vor, welche insbesondere
»gut und stark«, doch sei sie »unfertig und es wird Dürrenmatts Schluss der vierten Drehbuchfassung –
noch sehr viel Arbeit brauchen, bis man einen Film der Grundlage für die Dreharbeiten – entscheidend
daraus machen kann« (zit. nach Möbert 2011, 55). Um verändern. Am 18.2.1958 fällt die definitive Entschei-
die Produktion voranzubringen, wird zwischen dem dung über die Realisierung des Films, bereits zwei Ta-
23.9. und dem 5.10.1957 ein Arbeitstreffen zwischen ge später beginnen die Dreharbeiten. Laut den Skript-
dem erfahrenen Drehbuchautor Jochen Huth und büchern des Skriptgirls Marty Vlasak enden die Dreh-
Dürrenmatt arrangiert. Der von Huth verfasste Hand- arbeiten Anfang Mai 1958. Am 4.7.1958 wird der Film
lungsablauf eines Films nach der Novelle von Friedrich im Rahmen der VIII. Internationalen Filmfestspiele
Dürrenmatt ›Das Versprechen‹ entspricht zwar endlich Berlin in Anwesenheit von Dürrenmatt uraufgeführt.
einem Treatment, doch möchte Dürrenmatt sich nun Im Vorspann werden lediglich Dürrenmatt, Jacoby
wieder der Filmerzählung zuwenden. und Vajda als Urheber des Drehbuchs genannt. Irre-
Damit ist Wechslers Zeitplan endgültig geplatzt: führend ist zudem der Hinweis »nach dem Roman
Der Film sollte im Januar 1958 in die Kinos kommen; ›Das Versprechen‹ von Friedrich Dürrenmatt« auf den
als Regisseur war bereits Wolfgang Staudte und für die Filmplakaten (zit. nach Möbert 2011, 206 f.), während
Rolle des Kommissärs Matthäi Martin Held verpflich- die Kinobetreiber von der Praesens-Film für die Inse-
tet worden. Nach wiederholten Verschiebungen der rate um die zutreffendere Formulierung »Nach einer
Dreharbeiten standen aber beide nicht mehr zur Ver- Original Filmstory von Friedrich Dürrenmatt« gebe-
fügung. Im Oktober 1957 wird nun erstmals Ladislao ten werden (zit. nach ebd., 169).
Vajda, der in seinen Filmen großes Geschick bei der Von März bis Juli 1958 arbeitet Dürrenmatt die
Arbeit mit Kindern bewiesen hatte, als Regisseur ge- Filmerzählung zum Roman Das Versprechen mit dem
nannt. Der Produzent gibt Dürrenmatt jedenfalls bis Untertitel Requiem auf den Kriminalroman um. Ver-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_18
18  Das Versprechen 77

leger Schifferli, der im Juni 1957 noch eine ›Novelle‹ einem einsamen Tal. Er hat einen tiefgreifenden Ent-
erwartet hatte, sprach einen Monat später bereits von schluss gefasst, und er wartet auf etwas. Es folgt ein
einem ›Roman‹: »Ich habe den Umfang des Romans in Perspektivwechsel zu dem Hausierer von Gunten, der
unserem Herbstprogramm mit ca. 240 Seiten angege- nach einer üppigen Mahlzeit am Waldrand döst: »So
ben« (zit. nach ebd., 366). Doch dieser erscheint erst sah er denn Schrott nicht, der mächtig und entschlos-
1958, zunächst als Vorabdruck in der Neuen Zürcher sen aus dem Wald trat, wie ein böser Gott, [...] und
Zeitung (5.–28.8.1958) und in der Illustrierten Con- auch nicht das Mädchen, das [...] die Strasse von Mä-
stanze (ab Nr. 17/58 vom 17.8.1958). Noch im selben gendorf heranhüpfte, herantanzte« (ebd., 6 f.). Von
Jahr erfolgt die Buchpublikation im Arche Verlag mit Gunten wird durch einen Schrei geweckt, bricht über-
einem Nachwort des Autors. Die – später weggelasse- stürzt auf und findet im Wald die Mädchenleiche. Vol-
ne – Widmung »an Lazar Wechsler / den Chef / und ler Panik flüchtet er nach Mägendorf und verständigt
Ladislao Vajda / den Regisseur« (Dürrenmatt 1958b, von dort aus die Kantonspolizei. Kommissär Matthäi
5) verrät, dass das Verhältnis zwischen dem Schrift- übernimmt die Ermittlungen, doch steht sein Wechsel
steller und dem Produzenten durchaus nicht ohne nach Jordanien kurz bevor. Der Mutter des ermorde-
Spannung war. ten Gritli Moser verspricht er »bei meiner Seligkeit«
Am 3.9.1959 wird die britische Verleihfassung in (ebd., 21), den Täter zu finden. Matthäi tritt seinen
London unter dem Titel It Happened in Broad Day- Flug nicht an und ermittelt auf eigene Faust weiter: Er
light erstaufgeführt; die Szenen des Polizeikomman- zieht mit der alleinerziehenden Frau Heller und deren
danten und des Psychiaters waren mit englischen Dar- Tochter Annemarie in ein verkommenes Haus, das er
stellern nachgedreht worden. Diese Fassung muss sich als »Benzinverkaufstelle« (ebd., 111) hat einrich-
heute als verschollen gelten. ten lassen. Mit Annemarie als Lockvogel möchte Mat-
Auf der Grundlage des Spielfilms von 1958 gibt es thäi den Mörder fassen. Dieser geht ihm auch tatsäch-
mehrere Neuverfilmungen: Szürkület/Crépuscule/ lich in die Falle; im Zweikampf mit dem Kommissär
Twilight/Dämmerung (H/CH, 1990), R.: György Fe- wird Schrott tödlich verwundet. Die Filmerzählung
hér; The Cold Light of Day/Tod im kalten Morgenlicht endet damit, dass Matthäi Gritlis Mutter mitteilt, er
(GB/NL/D, 1994), R.: Rudolf van den Berg; Es geschah habe sein Versprechen gehalten, doch diese antwortet
am hellichten Tag (D, 1997), R.: Nico Hofmann (TV- ihm nicht mehr: »Ihre Augen waren leer, ihr Gesicht
Produktion). Auch der Roman wird verfilmt: La pro- tot, nur die Zugluft spielte manchmal mit ihrem Haar,
messa/Das Versprechen (I/CH/D, 1978), R.: Alberto die eiskalt aus der dunklen Höhle der Türe drang;
Negrin; The Pledge (USA, 2001), R.: Sean Penn. das war das einzige Leben an ihr. Matthäi wurde von
Der Roman Das Versprechen wird seit 2005 zudem Grauen erfüllt« (Dürrenmatt 1957c, 139).
– wie es für das Gegenwartstheater bezeichnend ist – In dieser Frühphase der Stofffindung im Sommer
regelmäßig für die Bühne adaptiert. Namhafte Häuser 1957 können die intertextuellen Bezüge dieses Stoffes
nahmen das Stück in ihren Spielplan auf, darunter: am deutlichsten an der Filmerzählung aufgezeigt wer-
Thalia Theater, Hamburg (2005); Schauspielhaus Zü- den. Dürrenmatt übernimmt aus den Kriminalroma-
rich (2012); Theater Basel (2018). nen Wachtmeister Studer (1936) und Matto regiert
(1937) von Friedrich Glauser und aus verschiedenen
Erzählungen Glausers zentrale Motive, die er verfrem-
Inhalt und Analyse det und neu arrangiert. Die Kurzgeschichte Der alte
Zauberer (1932/33) etwa handelt von dem Bauern
Die zweite Fassung der Filmerzählung beginnt mit der Leuenberger, der seine sehr viel jüngeren Ehefrauen in
Einführung der Figur Schrott: »Er hatte sich noch zu der Überzeugung ermordet hat, nach der siebenten
rasieren. Er stand vor dem Lavabo im Badzimmer. toten Ehefrau bekomme man die Gewalt, da könne
Aus dem Spiegel blickten ihm über dem Schaum eher man fliegen. Dürrenmatt übernimmt das titelgebende
gutmütige Augen entgegen. [...] Was da allmählich aus Motiv und lässt den ebenfalls wahnsinnigen Schrott
dem Seifenmeer auftauchte, strahlte in dumpfer Treu- für Annemarie zu einem ganz realen ›Zauberer‹ wer-
herzigkeit, zu der nur der Umstand nachdenklich den (vgl. Dürrenmatt 1957c, 125). Der ganze Plot wie-
stimmen musste, dass Schrott nach beendigter Proze- derum ist sehr stark an den Roman Maigret stellt eine
dur das Rasiermesser nicht zu den übrigen Utensilien Falle (frz. 1955) von Georges Simenon angelehnt, und
legte« (Dürrenmatt 1957b, 1). Schrott fährt mit sei- auch aus weiteren Kriminalromanen Simenons wer-
nem Buick aus der Stadt hinaus, hält schließlich bei den Motive übernommen. Bereits im Exposé hatte
78 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

Dürrenmatt den Gedanken geäußert, für den ›Detek- schehen um Matthäi nun retrospektiv entwickelt. Die
tiv‹ die Figur des ›Wachtmeisters Studer‹ zu überneh- lineare Struktur der Erzählweise wird im Roman auf-
men (vgl. Dürrenmatt 1957a, 1). gegeben, sämtliche Szenen mit dem Mörder Schrott
Dürrenmatts Vorstellung einer grotesken Welt wird werden gestrichen. Der Schluss ist völlig neu gestaltet:
u. a. an der Figur des Psychiaters Professor Locher Der Kommissär wartet nun vergeblich, durch das
deutlich. Dieser wird als schwerer Alkoholiker ge- Einwirken des Zufalls ist der Mörder längst ums Le-
zeichnet, der zudem morphiumabhängig ist, in voll- ben gekommen (vgl. WA 23, 14–16 u. 153–161). Auch
trunkenem Zustand das Tatmotiv des Mörders er- der Roman weist zahlreiche intertextuelle Bezüge auf.
schließt und sich fürchtet, selbst wahnsinnig zu wer- Dürrenmatts apokalyptische und groteske Welt er-
den (vgl. Dürrenmatt 1957b, 100–103). Bei der »beim fährt hier zumindest teilweise ihre feierliche Wieder-
Dorfe Maringen« (ebd., 80) gelegenen Privatklinik auferstehung.
orientiert sich Dürrenmatt an der psychiatrischen Kli-
nik Préfargier in Marin bei Neuchâtel. Die in der Film-
erzählung beschriebene Villa nebst den in ihr unter- Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
gebrachten Patienten (vgl. ebd., 93–95) wiederum
stellt eine Präfiguration der Villa des privaten Sanato- In Turmbau. Stoffe IV–IX erweckt Dürrenmatt den
riums ›Les Cerisiers‹ des späteren Stücks Die Physiker Eindruck, dass er bereits im Sommer 1957 die Idee
(1962) dar. Schon sehr filmisch gestaltet ist der bum- des scheiternden Detektivs der späteren Romanfas-
melnde, andächtig eine Schaufensterauslage betrach- sung hatte: »Wollte Wechsler eine logische, berechen-
tende Schrott: »[e]in Kindersarg mit Silber verziert, bare Handlung, faszinierte mich die Möglichkeit, eine
Engelchen drauf, umflossen von Schrottens geister- grundsätzlich unberechenbare Welt aufzuzeigen, an
haftem Spiegelbild« (Dürrenmatt 1957b, 40). der eine grundsätzlich richtige Überlegung scheitert«
Insbesondere die zahllosen Märchen-Motive wie (WA 29, 41). Im Nachwort zum Roman weist Dürren-
auch die biblischen und mythologischen Motive, wel- matt darauf hin, dass er »Kritik an einer der typischs-
che die große Vielfalt und den besonderen Reichtum ten Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts« (WA
der Filmerzählung ausmachen, werden in den nach- 23, 203), dem Detektiv, habe üben wollen. Und im
folgenden Textstufen wieder sukzessive aus dem Stoff Untertitel nennt er seinen Roman nun Requiem auf
eliminiert. Im Film sind sie nicht mehr, im Roman nur den Kriminalroman – mit seiner Genreverletzung
noch ansatzweise enthalten. Die Gründe dafür sind strebt Dürrenmatt die Dekonstruktion dieser Gat-
vielfältig. tung an.
Die Interessen Wechslers und seines Autors diver- Die Annahme, Dürrenmatt habe mit dieser Neu-
gieren von Anfang an. Dürrenmatt möchte seinen konzeption den Stoff lediglich »jenseits des Pädagogi-
Stoff in eine unheilvolle Märchenwelt einbetten; ihm schen« (ebd.) weiterdenken wollen, greift aber zu
sind seine thematischen Leitmotive wie Glaube und kurz. Tatsächlich übt er mit dem Roman massive Kri-
Gerechtigkeit wichtig, er schafft eine absurde und tik an dem Film, wenn er den Kommandanten am
apokalyptische Welt voller grotesker Elemente. Dür- Schluss ausführen lässt, wie eine solche Geschichte
renmatt will Gesellschaftskritik üben. Dabei schreckt nun für den Film aufbereitet werden könne, worauf
er auch vor Tabubrüchen nicht zurück, wenn er Frau die Schlussszene des Films ziemlich genau wieder-
Heller eine ehemalige Prostituierte sein lässt. Wechs- gegeben wird (vgl. ebd., 142 f.). Durch diesen ge-
ler hingegen verfolgt gänzlich andere Intentionen: schickten Dreh muss der Leser annehmen, dass der
Ihm schwebt ein Aufklärungsfilm mit unterhalten- Film tatsächlich auf der Grundlage dieser Darstellung
dem Charakter vor. Die Handlung soll in der Realität im Roman entstanden sei – was aber nicht zutrifft.
angesiedelt sein; der Mörder soll am Ende gefasst und Film und Roman bleiben als zwei voneinander ab-
auf die Sehgewohnheiten und Moralvorstellungen der weichende Fassungen desselben Stoffes nebeneinan-
1950er Jahre soll Rücksicht genommen werden. der bestehen. Leser und Zuschauer reagieren verstört.
Als Jacoby ohne Dürrenmatts Einverständnis den Es handelt sich hier weder um eine ›Literaturverfil-
Schluss der vierten Drehbuchfassung abändert, arbei- mung‹ (was der Vorspann des Films und der Roman
tet der Autor die Filmerzählung im Sinne der späte- nahelegen) noch um eine ›Verbuchung‹ (was man
ren Roman-Konzeption vollständig um: Er schafft ei- wiederum vermuten könnte, da der Roman ja erst
nen doppelten Erzählrahmen mit zwei langen Rück- nach der Aufführung des Films publiziert wird). Der
blenden, in denen der Polizeikommandant das Ge- Roman stellt trotz seines abweichenden Inhalts auch
18  Das Versprechen 79

kein ›Buch zum Film‹ dar, vielmehr handelt es sich um Das Versprechen. Schlussteil der Filmerzählung. Typoskript.
einen ›Gegenentwurf‹. 18 Seiten. 16./18.8.1957 bis 2.9.1957 (1957c). Archiv der
Philipp Bühler konstatiert, dass »die fast unerträg- Praesens-Film, Zürich.
Drehbuch zum Film Es geschah am hellichten Tag. Erste Fas-
liche atmosphärische Spannung [...] Es geschah am sung. Typoskript mit handschriftlichen Änderungen und
hellichten Tag zum besten deutschen Nachkriegsfilm« Collagen. 210 Seiten. 15.10.1957 bis 8.1.1958 (1958a).
(2014, 429) mache. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m104_V.
Peter Rüedi erkennt im Roman »die in ihrer Form Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Zürich
vollkommenste und vielschichtigste aller Detektiv- 1958 (1958b).
Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. WA 23,
geschichten Dürrenmatts [...]: eine virtuose Parabel
11–163 u. 203.
über das prekäre Verhältnis von Verbrechen und Stra- Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29, 37–41.
fe, Kunst und Wirklichkeit, der ästhetischen Folge- Huth, Jochen: Handlungsablauf eines Films nach der
richtigkeit und der dem Zufall unterworfenen Wirk- Novelle von Friedrich Dürrenmatt Das Versprechen.
lichkeit. Über das Scheitern eines Aufklärers als Typoskript. 17 Seiten. 23.9. bis 5.10.1957. Schweizerisches
Gleichnis für das Scheitern der Aufklärung« (2011, Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m104_IV.
Jacoby, Hans: Aenderungen am Drehbuch Es geschah am
608 f.). hellichten Tag. 21 Blätter. 11.3.1958. DFF – Deutsches
Verbindendes Glied zwischen Film und Roman Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt a. M.
aber ist die bildgewaltige Filmerzählung. Nur mit ih- Vajda, Ladislao (Regie): Es geschah am hellichten Tag. CH/
rer Kenntnis lässt sich das erste realisierte, genuin fil- D/E, 1958. Spielfilm. 99 Min.
mische Projekt Dürrenmatts wirklich verstehen.
Sekundärliteratur
Literatur Bühler, Philipp: Es geschah am hellichten Tag. In: Paul Dun-
Primärtexte, Quellen can, Jürgen Müller (Hg.): Film Noir. 100 All-Time Favo­
Exposé zum Film. Typoskript mit handschriftlichen Ände- rites. Köln 2014, 424–429.
rungen. 2 Seiten. 27.3.1957 (1957a). In: Oliver Möbert: Dumont, Hervé: Geschichte des Schweizer Films: Spielfilme
Intertextualität und Variation im Werk Friedrich Dürren- 1896–1965. Lausanne 1987, 490–494.
matts. Zur Textgenese des Kriminalromans Das Verspre- Möbert, Oliver: Intertextualität und Variation im Werk
chen (1957/58) unter besonderer Berücksichtigung des Friedrich Dürrenmatts. Zur Textgenese des Kriminal-
Spielfilms Es geschah am hellichten Tag (CH/D/E, 1958). romans Das Versprechen (1957/58) unter besonderer
Frankfurt a. M. 2011, 39 f. Berücksichtigung des Spielfilms Es geschah am hellichten
Das Versprechen. Filmerzählung. Zweite Fassung, ohne Tag (CH/D/E, 1958). Frankfurt a. M. 2011.
Schlussteil. Typoskript. 122 Seiten. 14.7.1957 (1957b). Rüedi, Peter: Das verhüllte Gericht oder Requiem auf die
Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m131_ Gerechtigkeit. In: Ders.: Dürrenmatt oder Die Ahnung
III. vom Ganzen. Biographie. Zürich 2011, 607–618.

Oliver Möbert
80 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

19 Der Pensionierte Inhalt und Analyse

Entstehung Das Fragment besteht nur aus der Exposition zu ei-


nem Kriminalroman: Höchstettler wird als 60-Jähri-
In Dürrenmatts Nachlass fand sich das Fragment ei- ger anlässlich eines Führungswechsels frühzeitig pen-
nes Kriminalromans, das in mehreren Arbeitsfassun- sioniert. Den Würdigungen durch die Vorgesetzten
gen zwischen Ende 1969 und 1979 entstanden war. am letzten Arbeitstag entzieht er sich, stattdessen geht
Einen Hinweis auf dessen Existenz hatte der Autor in er seinen ›unerledigten Fällen‹ nach, konkret einem
seinen um die Jahreswende 1969/70 entstandenen Autofriedhofbetreiber und Einbrecher sowie einem
Sätzen aus Amerika gegeben: »In San Juan [...] Wirtepaar, das Versicherungsbetrug begangen hatte.
schrieb ich [...] an einem neuen Roman, Der Pensio- Auch ein Bilderfälscher taucht auf, dem Höchstettler
nierte. Der Roman handelt davon, wie nach den ers- für seine Kunstfertigkeit Anerkennung zollt. In jedem
ten Tagen nach seiner Pensionierung ein bernischer zehnten Fall hatte er die Delinquenten laufen lassen.
Polizeikommissär alle seine Verbrecher aufsucht, die Nun demonstriert er den Kriminellen, dass er durch-
er im Verlauf seiner langen Tätigkeit aus Humanität aus in der Lage gewesen wäre, sie zu überführen, gibt
und Wissen um das Ungenügen menschlicher Ge- sich aber versöhnlich, ja freundschaftlich und wird
rechtigkeit hatte entkommen lassen« (WA 34, 91). gar mit einer Liebesnacht durch eine frühere Pros-
Das Fragment wurde 1995 als Text letzter Hand in der tituierte belohnt, die er einst vor Strafverfolgung ver-
Reinschrift von Juni 1979 mit Faksimiles der ur- schont hatte.
sprünglichen Handschrift von 1969/70 und einer Ar- Es wird also ein geradezu idyllisches Szenario ent-
beitsfassung von Mai 1979 mit textgenetischem Kom- wickelt, das allerdings nur den Vordergrund zu einem
mentar publiziert. Selbstmord und einem Mord bilden sollte, wie Dür-
Der Pensionierte knüpft deutlich an die Bärlach- renmatt in den Sätzen aus Amerika schreibt (vgl. WA
Romane Der Richter und sein Henker und Der Ver- 34, 92), ohne Konkreteres über den Handlungsverlauf
dacht an: Kommissär Gottlieb Höchstettler von der zu verraten. Der Suizid wird in der letzten ausgeführ-
Berner Kantonspolizei zeigt ähnlich eigenbrötlerische ten Szene angedeutet: Es ist jener des ehemaligen Re-
Züge wie sein Vorgänger. Die Romanhandlung wird gierungsrats von Rubigen, der durch eine politische
jedoch in der Entstehungszeit des Textes angesiedelt. Intrige einschließlich der Drohung, den verheirateten
Wie bereits die früheren Kriminalromane, so Peter Mann als Homosexuellen zu outen, zum Rücktritt ge-
Rüedi im Nachwort, entsprang der Beginn der Nie- zwungen und in seinem Amt vom Intriganten Gümm-
derschrift dem »Versuch, sich aus einer Krise zu be- liger beerbt wurde. Im Zentrum des Interesses sollten
freien« (Dürrenmatt 1995, 184). Dürrenmatt hatte also »vermutlich [...] vor allem gesellschaftskritische
1969 einen Herzinfarkt erlitten, und die Mitarbeit in und politisch brisante Aspekte stehen« (Spedicato
der Direktion des Basler Theaters war in einem gro- 2005, 146). Zur gleichen Zeit als Dürrenmatt im
ßen Krach zu Ende gegangen. Dass Dürrenmatt ei- Schweizerpsalm III über ein Land wetterte, in »wel-
nen Roman unvollendet liegen ließ, war eher die chem es langsam genierlich« werde, einem »Bundesrat
Regel als die Ausnahme – ihm fehlte oft die Geduld, die Hand zu reichen« (WA 34, 185), ließ er also seinen
begonnene Texte zum Abschluss zu bringen, was er menschlichen Kommissär Höchstettler wörtlich mit
teilweise in seinem Stoffe-Projekt nachholte. Dass er der Kleinkriminalität auf Einbruch und ins Bett gehen.
1979 noch einmal am Romanfragment arbeitete, Es besteht kaum Zweifel, dass Dürrenmatt mit die-
hing vermutlich mit dem soeben vollzogenen Ver- ser idyllischen Note als »Mausefalle« (wie er es einst
lagswechsel und dem Wunsch des Diogenes-Ver- mit Bezug auf die Komödie umschrieb) die Leserin-
legers Daniel Keel zusammen, einen neuen Kriminal- nen und Leser auf Gemütlichkeit einstimmen wollte,
roman zu präsentieren. Doch die Handlung wurde um sie dazu zu bringen, »sich Dinge anzuhören, die
auch bei der Wiederaufnahme kaum weitergeführt, sie sich sonst nicht so leicht anhören würde[n]« (WA
vielmehr arbeitete Dürrenmatt vor allem den be- 30, 64), und sie in menschliche Abgründe eines ver-
stehenden Teil aus. So ist die Handlung trotz ins- kommenen Politsystems, wenn nicht einer ganzen so-
gesamt 330 überlieferten Manuskriptseiten nicht we- zialen Elite, zu führen. Doch ist es müßig, hier über
sentlich über den 1969/70 auf 50 handschriftlichen den weiteren Handlungsverlauf zu spekulieren.
Seiten entworfenen Anfang hinaus entwickelt (vgl. Im Prozess der Überarbeitung zwischen 1971 und
ebd., 195). 1979 lassen sich zwei Tendenzen erkennen: Die eine

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_19
19  Der Pensionierte 81

ist ein Zug ins Maßlose, der vor allem in einer Essens- tionellem Sinne zu Ende zu schreiben, obwohl ihm,
szene zwischen Höchstettler und dem Gerichtsprä- wie die ausgearbeiteten Kapitel zeigen, die erzähleri-
sidenten Ellenberger ins Auge fällt (WA 37, 151–158): schen Mittel dazu keineswegs abhanden gekommen
Während der Gerichtspräsident, ein Berg von einem waren. Vor diesem Hintergrund, verbunden mit der
Menschen, bei Essen und Trinken keine Grenzen Tatsache, dass Höchstettler überraschend erfährt, dass
kennt, ist der Kommissär (wie einst Claire Zachanas- er von seiner ersten Frau einen erwachsenen Sohn hat,
sian) maßlos in Bezug auf Ehen, kommen die beiden liegt doch eine Vermutung über die geplante Fortset-
doch gerade vom Gerichtstermin zu Höchstettlers sie- zung am nächsten: »Vielleicht wäre Der Pensionierte
benter Scheidung. Dieser Zug verstärkt die Komik des [...] zur Selbstprüfung eines Mannes geworden, der
Romans, die sich auch in der Dialogführung zeigt, hinter seinen ungeklärten Fällen, man könnte auch sa-
und übersteigert sie ins Groteske. gen: seinen nicht bewältigten Stoffen, die Wahrheit
Die andere Tendenz zeigt sich in der Folgeszene über sich selbst sucht« (Krättli 1996, 36).
(159–164): Höchstettler steigt nach dem Essen in sei- An Dürrenmatts Stelle hat der Schweizer Schrift-
nen Chevrolet Impala – ein Wagenmodell, das auch steller Urs Widmer einen Schluss des Fragments ge-
Dürrenmatt selbst fuhr. Diese Fahrt gehört zu den schrieben, der in der Taschenbuchausgabe abgedruckt
stärksten Teilen des Fragments: Er fährt angetrunken ist (Dürrenmatt 1997). Widmer war allerdings ver-
im zunehmenden Schneegestöber ohne Ziel los und ständnisvoll genug, Dürrenmatts selbstbezügliche
landet schließlich, ohne bewusst darauf zugesteuert zu Ironie aufzunehmen: Die Fortsetzung ist eine Art Epi-
sein, bei seinen ›unerledigten Fällen‹. Diese Schnee- log mit humoristischen Zügen, der nichts über die
fahrt durch das Vergessen und das unverhoffte Ent- Weiterentwicklung des Kriminalfalls verrät. Der pen-
decken des Unerledigten als Ziel kann als Sinnbild für sionierte Polizeibeamte geht – zehn Jahre nach dem
die literarische Hauptarbeit der späten 1970er Jahre Hauptgeschehen – erneut mit den bekannten Klein-
gelesen werden: das Erinnerungsprojekt der Stoffe kriminellen auf Einbruch, diesmal beim Schriftsteller
(vgl. Rüedi 1995, 188 f.). Die selbstreflexive Dimensi- in Neuchâtel, der in Zürich gerade seine Skandal-Rede
on wird durch die Tatsache unterstrichen, dass der über die Schweiz als Gefängnis hält. Dieser kehrt aller-
Kommissär während seiner Fahrt am Autoradio eine dings wegen Unwohlseins frühzeitig zurück und
Kultursendung über einen Schriftsteller hört, »dessen überrascht die Einbrecher, lädt sie jedoch gastfreund-
Untergang längst unaufhaltsam geworden sei« (WA lich zu einer Flasche Wein ein.
37, 160). Genussvoll entfaltet Dürrenmatt doppelspu-
rig zum einen die Schneefahrt, zum andern in der Ra- Literatur
Primärtexte
diosendung die vorweggenommene Kritik am Krimi-
Friedrich Dürrenmatt: Der Pensionierte. Fragment eines
nalroman, den er gerade schreibt, der dem Sprecher Kriminalromans. Text der Fassung letzter Hand. Faksi-
als Ausdruck der Unverbindlichkeit und der Krise er- mile des Manuskripts. Faksimile des Typoskripts mit
scheint: »Der Schneesturm ist das Gleichnis einer er- handschriftlichen Änderungen. Zürich 1995.
starrten Schöpferkraft, und die Rückkehr zum Krimi- Friedrich Dürrenmatt: Der Pensionierte. Fragment eines
nalroman ein verzweifelter Versuch, sie wiederzuer- Kriminalromans. Mit einem möglichen Schluß von Urs
Widmer und einem Nachwort von Peter Rüedi. Zürich
langen. Jazz wäre jetzt das Richtige [...], dachte der 1997.
Kommissär« (163). Friedrich Dürrenmatt: Der Pensionierte. Fragment eines
In dieser Szene (die ihre Parallele in der Schnee- Kriminalromans. In: WA 37, 145–216.
fahrt Lotchers in der Stoffe-Erzählung Mondfinsternis
hat, vgl. WA 28, 223–225) kann man auch den poeto- Sekundärliteratur
Krättli, Anton: Angefangenes von Dürrenmatts Werkplatz.
logischen Grund vermuten, der Dürrenmatt an der
Der Pensionierte – Fragment eines Kriminalromans. In:
Weiterführung und Vollendung des Fragments hin- Schweizer Monatshefte 76 (1996), 4, 34–36.
derte: Sein Schreiben hatte sich im Verlauf der 1970er Spedicato, Eugenio: Schweizer, wie sie sein sollten. Zu Fried-
Jahre so sehr in eine selbstreferentielle Wiederholung, rich Dürrenmatts Der Pensionierte im Kontext seiner
Variation und Reflexion seines früheren Werks hinein Detektivromane. In: Sandro M. Moraldo (Hg.): Mord als
entwickelt, dass er offensichtlich keine Lust hatte oder kreativer Prozess. Heidelberg 2005, 145–153.
nicht mehr in der Lage war, eine Handlung in konven- Ulrich Weber
F Tragische Komödien

20 Romulus der Große wie die umfassende Dokumentation im Schweizeri-


schen Literaturarchiv, Bern).
Entstehungs-, Publikations- und Auf-
führungsgeschichte
Stoff und Quellen
Mit der im Winter 1948/49 in Ligerz am Bielersee ent-
standenen, am 23.4.1949 im Stadttheater Basel urauf- Dürrenmatt bezeichnet sein Stück im Untertitel mit
geführten und am 16.10. desselben Jahres im Theater dem Oxymoron Eine ungeschichtliche historische Ko-
der Stadt Göttingen erstmals in Deutschland insze- mödie (nur in der dritten Fassung ist, wohl versehent-
nierten Komödie Romulus der Große hat Dürrenmatt lich, »historische« entfallen) und deutet damit an, dass
seinen literarischen Durchbruch erzielt. Weitere Auf- er zwar auf einzelne Fakten und Personen Bezug
führungen fanden in Zürich (Dezember 1949), Darm- nimmt, aber äußerst frei mit ihnen verfährt. Im Jahre
stadt (1950) und Wien (1951) statt. 476 hatte der Germane Odoaker als Offizier in der kai-
Von dem Stück existieren – neben verschiedenen serlichen Leibgarde einen Militärputsch organisiert,
Rollenbüchern für den Theatergebrauch – fünf Fas- wurde am 23.8. zum König der germanischen Trup-
sungen. Insbesondere hat Dürrenmatt für die Wieder­ pen in Italien ausgerufen und hat am 4.9. den letzten
aufführung im Zürcher Schauspielhaus am 24.10.1957 weströmischen Kaiser Romulus (mit dem spöttischen
eine grundlegende, das Sujet teilweise anders ak- Beinamen Augustulus) abgesetzt (grundlegend für die
zentuierende Neubearbeitung vorgenommen. Sie er- politische Geschichte in der zweiten Hälfte des 5. Jahr-
lebte am 23.5.1958 in den Kammerspielen München hunderts: Henning 1999).
ihre Erstaufführung in Deutschland, wurde zwischen Die Handlung des Stückes ist erfunden. Die von
1958 und 1961 auch in Frankreich, Polen, Argenti- dem Dichter selbst angeführten Quellen – August
nien und den USA gespielt und ist 1957 als ›Zweite Strindbergs Novelle Attila und die Gestalt des alten
Fassung‹ erstmals in Buchform veröffentlicht worden. Dubslav in Fontanes Roman Der Stechlin (vgl. WA 2,
Alle späteren Fassungen haben nur noch weniger gra- 122 f.) – haben allenfalls als stoffliche Anregungen ge-
vierende Änderungen. 1961 erschien eine dritte Fas- dient oder einige Parallelen in der Lebensführung ge-
sung, 1964 eine vierte – angefertigt anlässlich der liefert (vgl. Profitlich 1981, 254). Das Motiv des Hüh-
Aufführung des Stückes in Paris, diente sie auch als ner züchtenden Herrschers geht auf eine Anekdote
Basis für die am 6.6.1965 in der ARD und im Schwei- zurück, die Prokop von Kaisareia über den weströmi-
zer Fernsehen erstausgestrahlte Fernsehinszenierung schen Kaiser Honorius anlässlich der Eroberung
Helmut Käutners. 1980 entstand schließlich die in Roms durch den westgotischen König Alarich im Jah-
den Werkausgaben von 1980 und 1998 abgedruckte re 410 berichtet (Bellum Vandalicum 3, 2, 25 f.; vgl.
fünfte Fassung (am 31.12.1980 in Zürich aufgeführt). Bossard 1998; Engels 2009).
Das Stück wurde auch im Bayerischen Rundfunk Ähnlichkeiten mit Motiven und Handlungszügen
(1951, 1968) sowie im Süddeutschen Rundfunk bei weiteren Autoren und Werken sind festzustellen
(1956) als Hörspiel gesendet und nochmals 1971 in (vgl. Wagener 1985, 25 f.; Knapp 1985, 17; Delbrück
einer französischen Fernsehfassung vom Sender TFI 1993), bleiben aber peripher. Auffallend sind Ansätze
ausgestrahlt. – Die Erstfassung des vierten Aktes ist einer Sophokles- und einer Shakespeare-Parodie – ins-
im Anhang zu WA 2 abgedruckt (grundlegend besondere bei dem missglückten Attentat auf den Kai-
Scholdt 1978; zur Aufführungs-, Druck- und Fas- ser als Persiflage auf Julius Caesar (vgl. Durzak 1972,
sungsgeschichte vgl. den Nachweis in WA 2, 166 f. so- 66 f.; Wagener 1985, 19 u. 26). Einzelne Motive er-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_20
20  Romulus der Große 83

innern auch an Petrons Satyricon (vgl. Bursch 2006, Deutungsaspekte und Positionen der
28–43). Schließlich steht Dürrenmatt mit seinem Forschung
Stück und seinen theoretischen Überlegungen – na-
mentlich in der Anmerkung über die Komödie von 1952 Wie sich namentlich im dritten Akt in den Dialogen
(WA 30, 20–25) – in einer auf Aristophanes zurückrei- mit seiner Frau Julia und seiner Tochter Rea sowie in
chenden Tradition (vgl. Nesselrath 2004, 113–119). seiner Ansprache an die Attentäter zeigt, ist Romulus
skeptisch gegenüber dem an der griechischen Tragö-
die geschulten Heldenethos und dem Patriotismus
Inhalt und Analyse seiner Umgebung (vgl. 77 f. u. 80 f. u. 91 u. 93). Die
Vergangenheit des römischen Staates erscheint ihm
Zu Beginn des Stückes wird die komische Diskrepanz als verbrecherisch, und er selbst hat jeglicher Macht-
zwischen dem aufreizenden Müßiggang des Kaisers politik abgeschworen. So übergibt er in der ersten
und der panischen Stimmung am Hofe angesichts des Fassung des Stückes im vierten Akt das Reich den
drohenden Untergangs (eine teils erstarrte, teils in Auf- Germanen, damit diese es mit »Menschlichkeit« re-
lösung begriffene Verwaltung, Korruption und Intri- gieren. Er überredet Odoaker, ihn zu pensionieren,
gantentum) vorgeführt. Romulus wird von seiner Frau und wird als »Romulus der Große« gepriesen (ebd.,
Julia, dem oströmischen Kaiser Zeno sowie seinen 140–142).
Freunden und Ministern vergebens bedrängt, den Vor- Hierin schlägt sich deutlich die Polemik des Autors
marsch der Germanen aufzuhalten. Sie verschwören gegen nationalistische Parolen seiner Gegenwart nie-
sich gegen ihn und versuchen, ihn zu ermorden. Als ihr der. In Anmerkungen zu dem Stück aus dem Jahre
Plan scheitert, fliehen sie. Nach der Ankunft Odoakers 1949 hat er den »Landesverräter«, der »einem Welt-
wird der Kaiser pensioniert: »Damit [...] hat das rö- reich den Todesstoß« gibt, gerechtfertigt und betont,
mische Imperium aufgehört zu existieren« (WA 2, 115). dass er »einen Helden nicht an der Zeit, sondern eine
Charakteristisch ist der Einfall, dass Romulus zwei Zeit an einem Helden zugrunde gehen« lasse. Sein
Jahrzehnte lang Rom durch konsequentes Nichtstun Stück richte sich gegen den »Großstaat«, den »Staat
und Nichtregieren systematisch geschwächt und des- [...], der unrecht hat«: »Der Verfasser ist von Natur aus
sen Untergang planmäßig herbeigeführt hat. Zu die- gegen die Weltreiche« (ebd., 121–124). Dabei war er
sem Zweck hat Dürrenmatt aus dem Minderjährigen, sich zwar des spielerisch-utopischen Charakters sei-
der erst am 31.10.475 in Ravenna zum Kaiser erhoben ner Konzeption bewusst, ließ aber eine vage Hoffnung
worden war, während sein Vater Orestes als Reichs- auf einen Sieg der Humanität durchblicken. Später hat
feldherr faktisch die Regierungsgeschäfte führte, ei- Dürrenmatt diese in der Situation der unmittelbaren
nen Mann von »über fünfzig« gemacht (ebd., 16; vgl. Nachkriegszeit wurzelnde Zuversicht zunächst an-
ebd., 120 f.). satzweise relativiert und schließlich durch eine radi-
Weitere Änderungen betreffen die historischen Per- kale Skepsis ersetzt. Bereits die Ende 1949 in Göttin-
sonen, die auftreten oder erwähnt werden, sowie den gen und Zürich gespielte Version hat auf manche ko-
Ort und vor allem die Zeit der Handlung. Dürrenmatt mischen Episoden verzichtet und enthält stattdessen
führt den oströmischen Kaiser als Verbannten ein, der ernstere Züge. Der utopische Schluss aber bleibt erhal-
Feldherr Orestes ist bei ihm nicht Romulus’ Vater, der ten (vgl. Scholdt 1978, 276–279).
ostgotische König Theoderich ist der Neffe Odoakers Die grundlegende Neufassung der Komödie von
(den er tatsächlich ab 486 im Auftrag Zenos bekämpft 1957 betrifft vor allem den vierten Akt. Odoaker er-
und 493 besiegt und eigenhändig ermordet hat), und weist sich jetzt als ein ebenso der Macht überdrüssiger
das Stück spielt nicht in Ravenna, sondern in der Villa Herrscher wie Romulus. Sein Wunsch, »den Krieg hu-
des Romulus in Campanien, also bereits in der Nähe man zu führen« (WA 2, 107), hatte sich nicht erfüllt.
der Villa des Lucullus, des Ortes seiner späteren Ver- Romulus, der eigentlich bereit ist zu sterben, muss den
bannung. Insbesondere aber hat Dürrenmatt, um die Widerstrebenden regelrecht überreden, sein Erbe an-
grundsätzliche Untergangsstimmung, aber auch den zutreten – und im Hintergrund wartet bereits Theo-
Kontrast zu einer heroischen Vergangenheit zu ver- derich, der Odoaker einst ermorden, das Römerreich
stärken, ab der zweiten Fassung die Vorgänge vom wiederherstellen und dessen alte Machtpolitik weiter
September auf den Morgen des 15. bis zum Morgen betreiben wird (vgl. ebd., 107–110). Die Geschichte
des 16.3.476 – also auf die Iden des März – verlegt, den erweist sich als ein verhängnisvoller und sinnloser
Jahrestag von Caesars Ermordung im Jahre 44 v. Chr. Kreislauf. Das Einzige, was Romulus und Odoaker zu
84 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

erreichen vermögen, ist ein Aufschub von einigen Jah- nicht mehr möglich an, nicht aber das Tragische (vgl.
ren (vgl. ebd., 112 f.). WA 30, 62 f.). Die Angehörigen des Kaisers, von de-
Dürrenmatts Stück endet zwar auch in der neuen nen in der ersten Fassung nur gesagt wird, dass sie ge-
Fassung mit denselben Worten wie in der ursprüng- flohen seien, kommen jetzt auf der Flucht um, und
lichen – aber die Pensionierung wird nicht mehr von Romulus bedenkt, wie viel Leid seine Politik des
Romulus selbst, sondern von Odoaker initiiert, und Nichtregierens über die Menschen gebracht hat, und
seine Lobpreisung als ›Romulus der Große‹ ist entfal- will dafür mit dem Tod sühnen (vgl. WA 2, 108 f.). Die
len. Er ist aus einer überlegenen zu einer lächerlichen Pensionierung ist jetzt für ihn »das Entsetzlichste, was
Figur geworden. Schien in der ersten Fassung in der mir zustoßen könnte« (ebd., 111). Der Schriftsteller
Gestalt des »als Narr verkleideten Weltenrichters« hat 1957 seinen Romulus als »witzig, gelöst, human«,
(ebd., 120) der Gegenentwurf einer humanen Politik aber zugleich als einen Menschen bezeichnet, »der mit
wenigstens ästhetische Wirklichkeit zu werden, so äußerster Härte und Rücksichtslosigkeit vorgeht und
enthüllt sich nunmehr der Weltenrichter als Narr nicht davor zurückschreckt, auch von andern Abso-
(vgl. Scholdt 1978, 279). Der weströmische Kaiser lutheit zu verlangen, ein gefährlicher Bursche, der sich
und der germanische König sind gleichermaßen ge- auf den Tod hin angelegt hat«. Die Tragik »dieses kai-
scheitert (vgl. Daviau 1979, 107). Die historische Rea- serlichen Hühnerzüchters« liege »genau in der Komö-
lität siegt über utopische Wunschvorstellungen; eine die seines Endes, in der Pensionierung«; doch habe er
gerechte Weltordnung ist nicht möglich. Der vorsich- »die Einsicht und die Weisheit [...], auch sie zu akzep-
tige Optimismus von 1948/49, dass einige vernünftige tieren« (ebd., 120).
Persönlichkeiten der Weltgeschichte einen freundli- Dieser Romulus ist eine schillernde, mehrschichti-
cheren Verlauf bereiten können, ist 1957 – charakte- ge, tragikomische Gestalt, die gleichermaßen Sym-
ristisch für den Wandel von Dürrenmatts Geschichts- pathien wie Antipathien erweckt – problematisiert ge-
bild angesichts der Entwicklung nach dem Zweiten genüber der ersten Fassung, aber mehr als nur ein
Weltkrieg – resignativer Satire gewichen. Das Schei- Ideologe und realitätsferner Idealist (vgl. Scholdt 1978,
tern wird zu einer zentralen Kategorie seines Werkes 279–282; Daviau 1979, 104–106), dessen Ideen nicht
(vgl. Paganini 2004). allein an der Wirklichkeit scheitern, sondern auch in
Wenn Romulus der Große in der Neufassung bei al- sich selbst kritikwürdig sind (vgl. Profitlich 1981, 261–
lem Pessimismus nicht in absoluter Verzweiflung en- 163). Dabei sollte man allerdings nicht tadelnd von ei-
det, dann geschieht dies dadurch, dass Dürrenmatt nem zyklisch-fatalistischen Weltbild des Autors spre-
dem Einzelnen zumindest die Möglichkeit einräumt, chen (vgl. Scholdt 1978, 279 f.) oder ihm gar vorwer-
für eine begrenzte Zeit gemäß seinen Vorstellungen zu fen, kein politisches oder soziales Modell zu geben
agieren. Er bezeichnet es in dem Essay Theaterproble- (vgl. Daviau 1979, 108 f.). Die eigentliche Problematik
me von 1955 sogar als sein »Hauptanliegen«, dass es liegt in den geschichtlichen Abläufen selbst, die keine
»immer noch möglich [sei], den mutigen Menschen Lösungen bieten, sondern nur das Durchspielen un-
zu zeigen« (WA 30, 63; vgl. Daviau 1979, 107). aufhebbarer Konflikte erlauben. Es deutet sich hier ei-
Das Stück trägt in sämtlichen Fassungen die Gat- ne poetische Konzeption an, die Dürrenmatt später als
tungsbezeichnung ›Komödie‹ – in Übereinstimmung »Dramaturgie des Labyrinths« bezeichnen wird (WA
mit dem eben genannten Essay, in dem Dürrenmatt 28, 69–86, hier 69; vgl. Riedel 2011, 100 f.).
von der »heutige[n] Welt« sagt, dass sie »nicht mehr in Neben der historischen Einordnung des Stückes
der Form des geschichtlichen Dramas Schillers zu be- und seiner Fassungen werden in der Forschung gat-
wältigen« sei, und allein die Komödie, die durch einen tungstheoretische Fragen erörtert, vor allem das Ver-
»Einfall« Distanz schaffe, für eine unserer Zeit ad- hältnis zwischen Tragischem und Komischem – bis
äquate dramatische Gattung hält (WA 30, 59–63). Da- hin zum Burlesken und Grotesken (vgl. Farag 2015).
bei handelt es sich um durchaus unterschiedliche Dabei wird auch der streng ›klassizistische‹ Charakter
Spielarten des Komischen. Hat die erste Fassung des Stückes hinsichtlich der Einheit der Zeit, des Ortes
Merkmale des Lust-, ja des Possenspiels, so ist die und der Handlung betont (vgl. Durzak 1972, 68 f.).
zweite eher als Tragikomödie zu bezeichnen. So sind Romulus der Große ist beispielhaft für Dürrenmatts
einerseits farcenhafte Züge des vierten Aktes entfallen späteren Umgang mit antiken Motiven. Skepsis, Ironie
(vgl. Daviau 1979, 106; Bursch 2006, 42 f.); anderer- und Sarkasmus bestimmen auch Herkules und der Stall
seits hat das Stück tragische Elemente erhalten. Dür- des Augias und Der Besuch der alten Dame (vgl. Riedel
renmatt sieht zwar die Tragödie für unsere Zeit als 2011, 97 f.), und die anhaltende Affinität zur Spätanti-
20  Romulus der Große 85

ke als einem Reservoir für eine hintergründige Aus- Komödie« Romulus der Große. In: The German Quarterly
einandersetzung mit der Geschichte schlägt sich noch- 66 (1993), 291–317.
mals in dem 1963 geschriebenen Fragment Kaiser und Durzak, Manfred: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches
Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stutt-
Eunuch und in der Bearbeitung von Shakespeares Titus gart 1972, 58–69.
Andronicus aus den Jahren 1969/70 nieder – sogar in Engels, David: Der Hahn des Honorius und das Hündchen
einer Verbindung zwischen Romulus Augustulus und der Aemilia. Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmoti-
Justinian, in einer Berufung auf Prokop und in der neu vik bei Prokop. In: Antike und Abendland 55 (2009), 118–
eingeführten Gestalt des Alarich: »Auch hier findet die 129.
Farag, Sami Samir Gohar: Dürrenmatt und das Groteske. Zu
Antike ihr Ende« (WA 11, 211; vgl. Riedel 2011, 98 f.).
Form und Funktion des Grotesken bei Friedrich Dürren-
matt am Beispiel der Komödie Romulus der Große, Ham-
Literatur
burg 2015.
Primärtexte
Henning, Dirk: Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten
Romulus der Große. Vierter Akt der ersten Fassung. In:
in der Krise des weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr.
WA 2, 125–142.
Stuttgart 1999.
Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Romulus der
Komödie in vier Akten. Zweite Fassung 1957. In: Fried-
Große. Frankfurt a. M., Berlin, München 1985.
rich Dürrenmatt: Komödien I, Zürich 1957, 7–85.
Nesselrath, Heinz Günther: Aristophanes und Friedrich
Romulus der Große. Eine ungeschichtliche Komödie in vier
Dürrenmatt. In: Jürgen Söring, Annette Mingels (Hg.):
Akten. Dritte Fassung 1961. In: Friedrich Dürrenmatt:
Dürrenmatt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger
Komödien I [1957]. 4. Aufl. Zürich 1961, 7–86.
Kolloquium 2000. Frankfurt a. M. u. a. 2004, 109–128.
Romulus der Große. Ungeschichtliche historische Komödie
Paganini, Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich
in vier Akten. Neue Fassung 1964. In: Friedrich Dürren-
Dürrenmatt. Hamburg 2004.
matt: Komödien [1957]. I. 7. Aufl. Zürich 1965, 7–79.
Profitlich, Ulrich: Geschichte als Komödie – Dürrenmatts
Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische
Romulus der Große. In: Walter Hinck (Hg.): Geschichte als
Komödie in vier Akten. Neufassung 1980. WA 2.
Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretatio-
nen. Frankfurt a. M. 1981, 254–269.
Sekundärliteratur
Riedel, Volker: Antikerezeption bei Friedrich Dürrenmatt.
Bossard, Walter: Der Kaiser als Hühnerzüchter. Eine neue
Die Komödie Romulus der Große und ihr literatur-
Quelle bringt Licht in die Entstehungsgeschichte von
geschichtlicher Kontext. In: Véronique Liard, Marion
Dürrenmatts Komödie Romulus der Große. In: Schweizer
George (Hg.): Dürrenmatt und die Weltliteratur – Dür-
Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur 78 (1998),
renmatt in der Weltliteratur. München 2011, 83–103.
49–53.
Scholdt, Günter: Romulus der Große? Dramaturgische Kon-
Bursch, Roland: »Wir dichten die Geschichte«. Adaption
sequenzen einer Komödien-Umarbeitung. In: Zeitschrift
und Konstruktion von Historie bei Friedrich Dürrenmatt.
für deutsche Philologie 97 (1978), 270–287.
Würzburg 2006, 37–64.
Wagener, Hans (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Romulus der
Daviau, Donald D.: Friedrich Dürrenmatts Romulus der
Große. Stuttgart 1985.
Große: A Traitor for our Time? In: The Germanic Review
54 (1979), 104–109. Volker Riedel
Delbrück, Hansgerd: Antiker und moderner Helden-
Mythos in Dürrenmatts »ungeschichtlicher historischer
86 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

21 Die Ehe des Herrn Mississippi Sanssouci Verlag, Zürich. Die für Paris erarbeitete
Fassung wurde im Januar 1962 in Graz in deutscher
Entstehungs-, Publikations- und Auf- Sprache aufgeführt und erschien 1964 als dritte Fas-
führungsgeschichte sung im Oprecht Verlag und 1966 zusammen mit dem
Drehbuch im Arche Verlag. Eine in Dürrenmatts Bas-
Die Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi entstand ler Theaterzeit entworfene vierte Fassung wurde am
1949/1950 in Ligerz am Bielersee. Dürrenmatt hatte 20.9.1970 im Hamburger Thalia-Theater aufgeführt.
mehrere Arbeitsfassungen erstellt und gliederte die Sie erschien 1972 als ›Fassung 1970‹ in einer Co-Edi-
ursprünglich fünf Akte schließlich in zwei Teile. Da tion des Europa Verlags und des Arche Verlags. Die
die Freunde Kurt Horwitz und Ernst Ginsberg das Fassung in den Werkausgaben von 1980 und 1998 be-
Stück ablehnten, wurde es nicht in der Schweiz ur- schrieb Dürrenmatt als »eine Art Synthese: Es galt,
aufgeführt, sondern am 26.3.1952 an den Münch- Kühnheiten wiederaufzunehmen, die ich nur in der
ner Kammerspielen (R.: Hans Schweikart). Diese ers- ersten Fassung wagte, und Erfahrungen beizubehal-
te deutsche Uraufführung verhalf dem Autor zum ten, die nach und nach kamen« (WA 3, 210). Neben
Durchbruch in Deutschland. Im selben Jahr erschien der Komödie wird dort auch der Text des Drehbuchs
die Erstfassung im Oprecht Verlag, Zürich (mit Copy- von 1961 abgedruckt.
right des Europa Verlags).
Tilly Wedekind, Frank Wedekinds Witwe, erhob ge-
gen Dürrenmatt einen Plagiatsvorwurf: Er habe im ers- Inhalt und Analyse
ten Akt Wedekinds Schloss Wetterstein nachgeschrie-
ben. In seiner öffentlichen Antwort am 9.8.1952 in Die Der Schauplatz ist ein spätbürgerliches Zimmer. Man
Tat kehrt Dürrenmatt den Vorwurf ironisch um in ein könne sogar sagen, dass »die folgenden Geschehnisse
Lob auf Wedekind: »Daß ein Dramatiker von der Po- die Geschichte dieses Zimmers darstellen« (WA 3, 11).
tenz Wedekinds auf andere Dramatiker wirkt, ist na- In der Mitte des mit vielen Stilmöbeln ausgestatteten
türlich« (WA 3, 215). Er sei von ihm inspiriert worden, Raumes steht »ein rundes Biedermeier-Kaffeetisch-
aber nicht vom Schloss Wetterstein, sondern von Der chen, die eigentliche Hauptperson des Stücks, um das
Marquis von Keith: »ein Theaterstück, das ich für We- herum sich das Spiel dreht« (12). An diesem wird Kaf-
dekinds bestes halte und welches mich auf die Idee fee getrunken, manchmal mit zuckerförmigem Gift,
brachte, die Menschen als Motive einzusetzen. In die- manchmal ohne. Der komplexe Stoff handelt von
sem Stück ging mir die Möglichkeit einer Dialektik mit Treue und Verrat in unterschiedlichen Variationen.
Personen auf« (216; vgl. Maharens 1990 für einen aus- Seit fünf Jahren lebt in diesem Haus ein sonderbares
führlichen Vergleich). Ehepaar: der strenge Staatsanwalt Florestan Mississip-
Die erste Schweizer Aufführung fand im Februar pi, der das Gesetz Moses wieder einführen will und
1954 in Bern statt, von Dürrenmatt selbst inszeniert. sich rühmt, bereits 350 Todesurteile durchgesetzt zu
Für eine Neuinszenierung am 11.4.1957 am Zürcher haben, und seine Frau Anastasia, welche die zum Tod
Schauspielhaus durch Leopold Lindtberg schrieb der Verurteilten betreut. Die Ehe war durch einen Mord
Autor eine neue Fassung, in der er das sprachliche Pa- zustande gekommen: Anastasia hatte ihren früheren
thos und zu direkte religiöse Anklänge reduzierte. Mann angeblich wegen Ehebruchs vergiftet. Mississip-
Diese zweite Fassung erschien im selben Jahr als Ein- pi kam hinter diesen Mord, weil der das Gift zur Ver-
zelausgabe im Oprecht Verlag und im Sammelband fügung stellende Arzt gestanden hatte. Anastasia wuss-
Komödien I im Arche Verlag, Zürich. Nach Auffüh- te aber nicht, dass die Geliebte ihres Mannes Mississip-
rungen in New York und London (1958–1959) über- pis damalige Frau war, die Mississippi mit dem vom
arbeitete Dürrenmatt das Stück erneut für die franzö- geständigen Arzt abgegebenen Gift im Namen des mo-
sische Erstaufführung in Paris (1960). saischen Gesetzes hingerichtet hatte. Anstatt Anastasia
Weil der Justiz-Stoff, der durch Lazar Wechsler ver- vor Gericht zu stellen, zwingt er sie zur Heirat: Sie soll
filmt werden sollte, nicht termingerecht vorlag, zusammen mit ihm für ihren Mord sühnen, indem sie
schrieb Dürrenmatt Ende 1960/Anfang 1961 ein zum »Engel der Gefängnisse« wird (39; vgl. 35). Die
Drehbuch zu Die Ehe des Herrn Mississippi, das 1961 Ehe beruht jedoch auf einem Verrat: Bis zuletzt ver-
unter der Regie von Kurt Hoffmann verfilmt wurde. birgt Anastasia ihrem neuen Mann, dass der eigentli-
Der Film wurde an den Berliner Filmfestspielen 1961 che Grund ihres Mordes eine Liebesbeziehung zum
gezeigt; das Drehbuch erschien im selben Jahr im Gift liefernden Arzt war. Mit ihm, einem reichen und

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_21
21  Die Ehe des Herrn Mississippi 87

adligen Jugendfreund, Graf Bodo von Übelohe-Za- Daß aufleuchte Seine Herrlichkeit, / genährt durch
bernsee, wollte sie ein neues Leben beginnen. unsere Ohnmacht« (WA 3, 114).
Im Namen der Regierung bittet der Justizminister Nicht zufällig endet das Stück mit Don Quijote. In
Diego Mississippi, seine Rechtspraxis zu mäßigen. einer unveröffentlichten Notiz schreibt Dürrenmatt,
Dieser bleibt jedoch stur. Auch als ein alter Freund, der Haupteinfluss sei nicht vom Theater gekommen,
der Kommunist Frédéric René Saint-Claude, Missis- »sondern von Cervantes, der seine Zeit bekanntlich
sippi in seine Revolution einspannen will, weigert er durch einen Verrückten darstellte, dass ich gleich drei
sich mitzumachen. Daraufhin macht Saint-Claude brauchte, um die unsrige darzustellen, mag bedenk-
Mississippis dubiose Vergangenheit publik (sie hatten lich stimmen« (SLA-FD-A-m105_I).
gemeinsam in einem Bordell gearbeitet und waren mit Die drei Verrückten sind Mississippi, Saint-Claude
der Kasse geflohen), um so eine Revolte gegen ihn an- und Übelohe. Alle drei bemühen sich um eine Frau –
zuzetteln, die dann zur Revolution führen soll. Anastasia –, so dass das Stück auch »Frau Anastasia
Als der Arzt damals vernommen hatte, was mit und ihre Liebhaber« (WA 3, 15) heißen könnte. Diese
dem Gift tatsächlich geschehen war (er meinte, es sei Frau lebt ganz im Augenblick, ohne Idee, »weder dem
für einen kranken Hund), floh er nach seinem Ge- Himmel noch der Hölle, sondern allein der Welt nach-
ständnis ins Ausland. Er steckte sein ganzes Vermögen gebildet« (58). Die drei Männer möchten diese Welt
in ein Urwaldspital auf Borneo, wo er sich auch allerlei verändern, jeder auf seine Art: Mississippi hatte in jun-
tropische Krankheiten holte. Doch nun ist er zurück, gen Jahren die Bibel entdeckt und sieht das Heil allein
ruiniert, krank und stets betrunken. Er sieht aber im mosaischen Gesetz, während Saint-Claude Das Ka-
trotzdem die Möglichkeit, mit Anastasia noch glück- pital gelesen hatte und nun die Welt durch die kom-
lich zu werden – unter der Bedingung, dass sie Missis- munistische Revolution befreien will. Übelohe hin-
sippi die Wahrheit sagt. Sie verleugnet aber ihre Liebe gegen wurde in seiner Jugend christlich erzogen und
zu Übelohe vor Mississippi, kurz bevor dieser in die will »die Welt durch die Liebe retten« (WA 3, 120), so
Irrenanstalt abgeführt wird, weil sein Pochen auf das dass das Stück ebenso gut »Die Liebe des Grafen Bodo
mosaische Gesetz als krankhaft gilt. Ihre Liebe wäre von Übelohe-Zabernsee« (WA 3, 15) heißen könnte.
möglich gewesen, sie ist aber durch den Verrat un- Weil sich die Welt nicht verändern lässt, scheitern
möglich geworden. schließlich alle drei an ihr, wie ehedem Don Quijote.
Inzwischen misslingt Saint-Claudes Revolution: Unter vielen Aspekten bildet dieses Stück ein for-
Der Opportunist Diego hat sie zu seinen Gunsten ma- males Experiment: Innovative Mittel werden ein-
nipuliert, gemäß seinem Credo: »Alles in der Welt gesetzt, um die Theatersituation zu verfremden, wie
kann geändert werden, [...] nur der Mensch nicht« etwa groteske Raumgestaltung, Vor- und Rückblen-
(44). Saint-Claude kommt zu seiner ehemaligen Ge- den, die Antizipation des Endes am Anfang des Stücks,
liebten Anastasia und schlägt ihr vor, mit ihm zu flie- das Heraustreten der Figuren aus ihren Rollen, um in
hen und sich für seine nächste Revolution nützlich zu grossen Monologen das Geschehen auf der Bühne
machen – als Dirne, dem Einzigen, was sie wirklich und die Absichten des Autors zu kommentieren, usw.
könne. Sie lehnt ab und versucht, ihn mit vergiftetem Durch die Stilisierung ihrer Profile wie auch durch die
Kaffee zu töten. Im Drehbuch zur Verfilmung heiratet Extravaganz ihrer Namen werden die Hauptgestalten
Anastasia Diego, der an die Macht kommt. Im Thea- stark typologisiert. Das entspricht der bei Wedekind
terstück kommt sie zusammen mit dem aus der Irren- erahnten ›Dialektik mit Personen‹.
anstalt geflüchteten Mississippi um: Er schenkt ihr Diese Perspektive findet im Spätwerk Turmbau ei-
vergifteten Kaffee ein, um sie vor dem Tod zur Wahr- nen interessanten Nachklang: Über sein Verhältnis zu
heit zu zwingen, während er unwissend den für Kierkegaard sprechend, sagt Dürrenmatt, dieser sei
Saint-Claude vorbereiteten Kaffee trinkt. Zugleich dramaturgisch der einzige Nachfolger Lessings, und
wird Saint-Claude von Auftragsmördern erschossen. zwar »nicht nur weil er die Grenze des tragischen Hel-
Im Drehbuch wird Übelohe in ein Armenspital ein- den und damit der Tragödie aufzeigt, sondern weil er
geliefert, das er selbst gegründet hat. Im Theaterstück ›dramaturgisch‹ denkt« (WA 29, 125). Das heißt für
tritt er am Schluss als Don Quijote auf, mit verbeultem Dürrenmatt: »Nicht die Begriffe sind bei ihm dialek-
Helm und verbogener Lanze, gegen die Windmühle tisch gesehen, sondern die ›Positionen‹« (ebd.). In die-
des Bösen kämpfend. Sie aber stürzt ihn mit seiner sem Sinne vertreten die drei ›Verrückten‹ im Theater-
Schindermähre in den Abgrund, was er mit folgen- stück Positionen: Wahrheits- und Lebenseinstellun-
dem Schlusssatz kommentiert: »Eine ewige Komödie / gen, mit Hilfe derer sie auf die Welt einzuwirken ver-
88 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

suchen, ähnlich den Existenzsphären Kierkegaards. dern daß es ihm darum ging zu untersuchen, was sich
Die Ehe des Herrn Mississippi ist deshalb das Theater- beim Zusammenprall bestimmter Ideen mit Men-
stück Dürrenmatts, das wohl am stärksten vom dä- schen ereignet, die diese Ideen wirklich ernst nehmen
nischen Philosophen inspiriert wurde. und mit kühner Energie, mit rasender Tollheit und
mit einer unerschöpflichen Gier nach Vollkommen-
heit zu verwirklichen trachten« (WA 3, 57). Es sei ihm
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung auf die Frage angekommen, ob der Geist eine Welt än-
dern könne, die ohne Idee existiert (vgl. ebd.).
Nach drei Stücken, deren Handlung in weltgeschicht- Der Aufprall leidenschaftlicher Überzeugungen
lichen Zusammenhängen spielt (Es steht geschrieben in auf eine unverbesserliche Welt: Das gilt hier allgemein
der Reformation; Der Blinde im Dreißigjährigen Krieg; als Grundthematik der drei ›Verrückten‹. Der Figur
Romulus der Große im römischen Reich) und einem des Grafen kommt jedoch ein besonderes Gewicht zu,
gescheiterten Drama, das dem Mythos vom Turmbau weil sein Scheitern eine religiöse Dimension an-
zu Babel gewidmet war, experimentiert Dürrenmatt nimmt. Übelohe, der in einer ganz frühen Arbeitsfas-
mit Die Ehe des Herrn Mississippi an etwas Neuem: ei- sung (SLA-FD-E-30-A-2-2) noch John Stämpfli alias
nem Stück, das in der Gegenwart spielt und dessen Anastasius Sturm hieß, trägt in der Erstfassung expli-
ganze Handlung sich in einem Zimmer entfaltet, um zit christologische Züge, die in den späteren Fassun-
ein Kaffeetischchen herum. Nach Rüedi (2011, 368) gen verschwinden. So beschreibt er dort das Scheitern
geschieht hier ein »Paradigmenwechsel«. Die Auf- an Anastasias Verleugnung als Kreuzigung: »[G]ena-
merksamkeit gilt nun ganz der Interaktion der Haupt- gelt ans Kreuz meiner Lächerlichkeit hänge ich nun an
figuren. Diese spielt jedoch auf verschiedenen Ebenen. diesem Balken, der mich verspottet, schutzlos, dem
In den frühen Fassungen handelt es sich um eine Antlitz Gottes entgegengehoben, ein letzter Christ«
existentiell-religiöse Konfrontation. Wie Habermann (Dürrenmatt 1952, 75).
(1997) und Maharens (1990) überzeugend gezeigt ha- Im Monolog wird ohne christologische Anspielung
ben, vollzieht sich mit dem Drehbuch und den späte- hervorgehoben, dass Übelohe der Einzige sei, den der
ren Fassungen eine Verschiebung zur politischen Ko- Autor »mit ganzer Leidenschaft liebte«, weil er allein
mödie. Mit den Worten Dürrenmatts: »[A]us einer das Abenteuer der Liebe auf sich nehme, »dieses erha-
mehr vielleicht religiös bestimmten Komödie wurde bene Unternehmen, das zu bestehen oder in dem zu
eine politische Farce« (G 1, 128). Habermann (1997, unterliegen die größte Würde des Menschen aus-
349) spricht von einer »Posse«. Die Hauptfiguren ver- macht« (WA 3, 58). Doch indem er ihm Anastasia als
treten Ideologien, die am Zynismus der Machtverhält- Geliebte schenkte, habe ihn sein Autor, »dieser zäh-
nisse scheitern. Mississippi und Saint-Claude rücken schreibende Protestant und verlorene Phantast«, »in
ins Zentrum. In einer noch im Gang befindlichen For- den Tiegel seiner Komödie« geworfen, ihn entwür-
schungsarbeit interpretiert Michael Fischer das Stück digt, um seinen »Kern zu schmecken« (ebd.). Gemäß
vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Hier wird Übelohe hätten dabei zwei Motive mitgespielt: Einer-
Übelohe zum Vertreter eines »dritten Weges«, ori- seits habe ihn der Autor in die Position des Besiegten
entiert am Einzelnen. bringen wollen, »die einzige Position, in die der
In der Fassung für die Werkausgabe hat Dürren- Mensch immer wieder kommt«, und andererseits ha-
matt wiederum diese politische Dimension teilweise be er prüfen wollen, »ob denn wirklich Gottes Gnade
zurückgenommen. Das spricht dafür, die existentiell- in dieser endlichen Schöpfung unendlich sei, unsere
religiöse Perspektive der frühen Fassungen nicht ganz einzige Hoffnung« (ebd.). Auch dieses paradoxe In-
zu vernachlässigen. Aus dieser Sicht spielt die Gestalt einander von menschlichem Scheitern und göttlicher
des Grafen eine wichtigere Rolle. Das zeigt sein – Gnade ist Kierkegaardscher Prägung.
durch alle Fassungen hindurch erhalten gebliebener – In Turmbau betonte Dürrenmatt, Kierkegaard ha-
Monolog (WA 3, 56–60), von dem Dürrenmatt in der be die Grenze der Tragödie aufgezeigt. Diese Spur
zitierten Nachlass-Notiz sagt: »Im Übrigen habe ich verfolgt Dürrenmatt auch in Die Ehe des Herrn Mis-
dem Monolog des Grafen Bodo von Übelohe-Zabern- sissippi, wie er es selbst 1967 (also zwischen der drit-
see nichts hinzuzufügen« (SLA-FD-A-m105_I). ten und der vierten Fassung) zur Sprache gebracht
An dieser Stelle bringt Übelohe das Grundanliegen hat, indem er das Groteske als Grenze zwischen Tra-
des Autors explizit zum Ausdruck: Er glaube diesem, gödie und Komödie hervorhebt. Es möge zynisch
dass er seine Figuren nicht leichtfertig erschuf, »son- klingen, ein Stück, in dem fast alle Helden umkom-
21  Die Ehe des Herrn Mississippi 89

men, als Komödie zu bezeichnen. Doch echt zynisch Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
wäre vielmehr, es eine Tragödie zu nennen. »[D]enn Zürich 1952.
das Schicksal ihrer Gestalten ist zu grotesk, um unser Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
Zweite Fassung. In: Komödien I. Zürich 1957, 81–157.
Mitgefühl zu erwecken, und will dies auch nicht: Das Die Ehe des Herrn Mississippi. Ein Drehbuch mit Szenenbil-
Stück ist bewußt ganz in den Witz hineingehängt. Ge- dern. Zürich 1961.
rade das Groteske jedoch ist ein Stil der Komödie« Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
(WA 3, 217 f.). Das gilt sowohl für die existentiell-re- Fassung 1970. Zürich 1972.
ligiöse als auch für die politische Dimension: Auch in Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
Neufassung 1980. In: WA 3, 9–114.
der ›Fassung 1970‹ ist der Stil der grotesken Komödie
Die Ehe des Herrn Mississippi. Drehbuch. In: WA 3, 115–
beibehalten, den Dürrenmatt auf Aristophanes, Swift 205.
und Wedekind zurückführt. [Notiz zur dritten Fassung von Die Ehe des Herrn Missis-
Nicht mit-leidend, tränenüberströmt und schluch- sippi]. Oktober 1960. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig.
zend, wie die Tragiker, bringe der Autor seine Helden SLA-FD-A-m105_I.
um, sondern hohnlachend. »Er hat zwar Witz, doch
Sekundärliteratur
geht es in seinem Stück ungemütlich zu. Die Wahrheit Bühler, Pierre: »[Dieser] zähschreibende Protestant und ver-
sagt er mit einer Grimasse, und die Beziehung, die er lorene Phantast«. Der junge Dürrenmatt im Kampf mit
zu seinem Publikum hat, ist vielleicht am besten mit seinem Glauben. In: Andreas Mauz u. a. (Hg.): »Wunder-
jener zu vergleichen, die zwei Faustkämpfer zueinan- liche Theologie«. Konstellationen von Literatur und Reli-
der haben« (218 f.). In Theaterprobleme hatte Dürren- gion im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015, 199–219.
Habermann, Britta: Friedrich Dürrenmatt: Die Ehe des
matt dieses Ineinander von Witz und Ungemütlichkeit
Herrn Mississippi. Von der Komödie zur Posse – ein Ver-
in Anlehnung an Shakespeare als das Tragikomische, gleich der Fassungen und ihrer Konfiguration. In: Karl
das Tragische aus der Komödie heraus charakterisiert: Konrad Polheim (Hg.): Die dramatische Konfiguration.
»Wir können das Tragische aus der Komödie heraus Paderborn 1997, 349–377.
erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Mo- Maharens, Gerwin: Franz Wedekinds Der Marquis von Keith
ment, als einen sich öffnenden Abgrund, so sind ja und Friedrich Dürrenmatts Die Ehe des Herrn Mississippi.
In: Linda Dietrich u. a. (Hg.): Momentum dramaticum.
schon viele Tragödien Shakespeares Komödien, aus
Festschrift für Eckehard Catholy. Waterloo 1990, 493–519.
denen heraus das Tragische aufsteigt« (WA 30, 63). Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Biographie. Zürich 2011, 360–375.
Literatur
Primärtexte, Quellen Pierre Bühler
Die Ehe des Herrn Mississippi. Typoskript. o. J. Schweizeri-
sches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-E-30-A-2-2.
90 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

22 Ein Engel kommt nach Babylon den Turm (134–136) und Der Uhrenmacher (137–140)
sowie prospektiv auf den vierten Band der textgeneti-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte schen Ausgabe des Stoffe-Projekts (Zürich 2020), in
dem die vier überlieferten Akte des gescheiterten
Wie Dürrenmatt 1977 im Programmheft der Urauf- Turmbau-Dramas erstmals publiziert werden.
führung zu Rudolf Kelterborns Opernbearbeitung
(Abdruck in WA 4, 128–133) wissen lässt, entstand der
erste Akt des Dramas bereits 1948, angedacht als Inhalt und Analyse
Auftakt einer als solche nie realisierten Komödie mit
dem Titel Der Turmbau zu Babel. Im gleichen Jahr ver- Im Vorfeld der dramatisch offen (atektonisch) aus-
brannte Dürrenmatt fast alle Entwürfe des Projektes – gestalteten Komödie stehen politische Reformen Kö-
Inhalt und Gründe, die zum Scheitern führten, sind in nig Nebukadnezars: Nachdem sein Vorgänger König
Stoffe IV–IX skizziert (vgl. WA 29, 50–58) –, bevor er Nimrod gestürzt und verhaftet wurde (vgl. WA 4, 17),
den Turmbau-Komplex mit dem zwischen 1950 und will dieser sein Reich in den »wahrhaft sozialen Staat«
1953 entstehenden Engel doch wieder aufgreift: Er re- (18) umwandeln. Daher – denn einem sozialen Staat
konstruiert den ersten Akt, schließt dann aber eine an- stünde die Notwendigkeit zu betteln nicht zu Gesicht
dere Handlung an, in der die zum Turmbau führenden – hat er das Betteln verbieten und sämtliche Bettler in
Gründe entfaltet werden. Geplant ist nun eine Trilogie den Staatsdienst aufnehmen lassen (vgl. ebd.). In die-
zum Turmbau-Stoff (vgl. WA 4, 128), die ebenfalls nie sem Kontext entfaltet sich das Szenario des ersten Ak-
realisiert wird. Noch 1953 erfährt die Komödie ihre tes: Nebukadnezar steht dem letzten verbliebenen
Uraufführung am 22.12. in den Münchner Kammer- Bettler Akki gegenüber, einer Art Diogenes von Sino-
spielen (R.: Hans Schweikart); es schließen sich Auf- pe oder Eulenspiegel (vgl. Brock Sulzer 1980, 123), der
führungen am Düsseldorfer (9.1.1954) und, die erste als »freischaffender Künstler« (WA 4, 56) seine erbet-
Aufführung in der Schweiz, am Zürcher Schauspiel- telten Reichtümer im Euphrat versenkt (vgl. 52) und
haus (30.1.1954, R. beide Male: Oskar Wälterlin) an; sich beharrlich weigert, sein Gewerbe aufzugeben
am 15.5.1954 folgt die österreichische Erstaufführung (vgl. 18 f.). Anstatt den Bettler jedoch sogleich hin-
im Akademietheater Wien (R.: Joseph Glücksmann). richten zu lassen, will es der König zunächst »mit Hu-
Die im Arche Verlag erscheinende Druckfassung manität« versuchen (19): Verkleidet als der »Erste
mit dem Untertitel Eine Komödie in drei Akten liegt Bettler von Ninive« (25) sucht er den Meisterbettler
erstmals 1954 vor; eine mit überarbeitetem dritten auf, um diesen zu »überreden, dem Staatsdienst bei-
Akt erscheinende zweite Fassung (Untertitel: Eine zutreten« (19).
fragmentarische Komödie in drei Akten) wird 1957 als In diese Konstellation hinein stößt der titelgebende
Einzelausgabe und im Sammelband Komödien I ge- Engel. Herabgestiegen aus dem »unermeßliche[n]
druckt und am 6.4. am Deutschen Theater Göttingen Himmel [...], in dessen Mitte der Andromedanebel
aufgeführt (R.: Horst Loebe). 1963 inszeniert William schwebt« (13), bringt er das just von Gott »aus dem
Dieterle im Rahmen der Bad Hersfelder Freilichtspie- Nichts« (14 f.) erschaffene Mädchen Kurrubi (partiell
le diese zweite Fassung; vom Hessischen Rundfunk lautlich isomorph zu Cherub), das er, ohne zu wissen
aufgezeichnet erlebt die Aufführung am 18.11.1964 warum, dem »geringsten der Menschen zu überge-
ihre Ausstrahlung. Gemeinsam mit Kelterborn über- ben« hat (16). Dieser Geringste soll, so entnimmt es
arbeitet Dürrenmatt zwischen November 1974 und der Engel seiner Karte, Akki sein, »der einzige noch
August 1976 die Komödie als Opernlibretto (er­ erhaltene Bettler der Erde« (ebd.). Unversehens sieht
schienen 1976 als Begleitheft zur Uraufführung vom sich der Engel nun aber zwei Bettlergestalten gegen-
5.6.1977 im Opernhaus Zürich). Die dritte und letzte über. Antwort auf die Frage, wer der geringere ist und
Fassung schließlich fertigt Dürrenmatt eigens für die Kurrubi erhält, soll ein Wettstreit geben, der zugleich
Werkausgabe an: eine »Zusammenfassung verschie- auch über Akkis Eintritt in den Staatsdienst entschei-
dener Versionen« (WA 4, 8), basierend auf der Erst- det (vgl. 26 f.). Der bettlerischen Virtuosität Akkis ist
fassung und unter Berücksichtigung von Zweitfas- Nebukadnezar freilich nicht gewachsen. Nicht nur
sung und Libretto. Verwiesen sei abschließend noch dass Akki ein Vielfaches mehr an Almosen erhält; ihm
auf das Gedicht Die Geschichte vom großen Turm (141) gelingt, woran Nebukadnezar (obgleich er sich als Kö-
und die ebenfalls in der Werkausgabe enthaltenen nig zu erkennen gibt) zuvor kläglich scheitert: den
Fragmente des Turmbau-Komplexes Gespräche über verhafteten Exkönig Nimrod, der während des Wett-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_22
22  Ein Engel kommt nach Babylon 91

streits durch die Szenerie geschleppt wird, aus den der Theologie, vom Volk endlich um seiner Habe wil-
Händen seiner Wachen zu erbetteln (vgl. 27–39). len verraten (vgl. 121), wird das Mädchen Akki über-
Somit erhält Nebukadnezar das Mädchen, das sich geben, der in der Amtstracht des Henkers unerkannt
überdies längst in den vermeintlichen Bettler verliebt bleibt (vgl. 120). Voller Zorn und (Selbst-)Hass erklärt
hat (vgl. 33). Der König aber vermag Kurrubi, die Nebukadnezar, den mythischen Turm zu Babylon zu
»Gnade des Himmels« (42), nicht anzunehmen. Wie errichten, »durchmessend die Unendlichkeit, mitten
nur kann der Himmel ihm in der Rolle des Bettlers in das Herz meines Feindes« (121), während Akki mit
das Geschenk der Gnade machen? Wie es wagen, sie Kurrubi in die Wüste flieht (vgl. 122 f.).
nicht dem König zu geben, der ihrer bedarf? Voller
Zorn verstößt Nebukadnezar das Mädchen und tritt
es im Tausch gegen Nimrod an Akki ab (vgl. 46–48). Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Fortan lebt Kurrubi mit dem Meisterbettler. Rasch
jedoch wird das Mädchen zum Objekt kollektiver Be- Die zentrale Opposition des Stücks ist deutlich: Mög-
gierde und Eifersucht: Während sich Arbeiter, Ban- lichkeit der Gnade, Menschlichkeit, Freiheit und Ar-
kiers und Weinhändler in das Mädchen verlieben, es mut auf der einen, Macht, gesellschaftliche Position
begehren und besitzen wollen, begegnet ihm das weib- und Geld auf der anderen Seite. Das manifestiert sich
liche Volk mit Hass. Ein sich entspinnender Tumult auch in der Figurenkonstellation: Akki und Kurrubi
wird durch das erneute Erscheinen des Engels auf- vs. Nebukadnezar und (Hof-)Volk (vgl. auch Paganini
gelöst, das mit einer regelrechten Bekehrungswelle 2004, 93, die die Opposition auf Nebukadnezar und
(vgl. 70 f. u. 96) und dem Beschluss einhergeht, Kur- Akki beschränkt).
rubi zur Königin zu machen (vgl. 72 f.). Akki indes soll Mit dem Begriff der Gnade (s. Kap. 67) ist bereits die
nun doch hingerichtet werden. Ihm aber gelingt ein theodizeeische Dimension angesprochen, auf die Dür-
weiteres Glanzstück seiner Bettlertätigkeit: Er erbettelt renmatt selbst verwiesen hat (vgl. WA 31, 147). Wenn-
sich den Beruf seines Henkers (vgl. 80–84), was ihm ge- gleich man im Stück sicherlich keinem »deus abscon-
stattet, sich ebenfalls am königlichen Hof zu bewegen. ditus« begegnet, der »seine Schöpfung [...] sich selbst
Von der Euphratbrücke, unter welcher der zweite überläßt« (Jenny 1967, 50), so doch einem »zerstreu-
Akt spielt, verschiebt sich die Handlung im Schlussakt ten Weltschöpfer«, »der seine Schöpfungen offenbar
in den königlichen Thronsaal, den das Volk – im reli- immer wieder vergesse« (WA 31, 147). Und nicht nur,
giösen Eifer und in der Absicht, Nebukadnezar zur dass Dürrenmatt selbst vom Himmel als dem »Unbe-
Ehe mit Kurrubi zu drängen – im Begriff zu stürmen greiflichen« (WA 30, 46) sprach; angesichts eines En-
ist. Doch obgleich das Mädchen vor Nebukadnezar gels, der – mehr Physiker als Anthropologe (vgl. WA 4,
steht und in ihm den vermeintlichen Bettler erkennt 42) – »dem Menschenschicksal gegenüber unempfind-
(die Anagnorisis des Stücks), verweigert sie sich der lich« (Brock-Sulzer 1980, 121) ist und keinerlei Wissen
Ehe. Warum? Weil sie nur den Bettler Nebukadnezar, über die Pläne und Absichten Gottes hat (vgl. WA 4,
nicht aber das »Gespenst« (102) des Königs liebe: »Du 15), wird fraglich, was Gott über die Menschen weiß.
bist«, so sagt sie, »Schein; der Bettler, den ich suche, »Gegenseitiger Agnostizismus« (Große 1998, 67) herr-
ist Wirklichkeit« (113). Damit zerschlägt sie das po- sche in der gnadenlosen Welt des Stücks (vgl. ebd., 64).
litische Ränkespiel, die Macht des Königs qua Hei- Zugleich darf man aber nicht übersehen, dass die
rat »metaphysisch zu verankern« (98). Verzweifelt Unmöglichkeit der Gnade Schuld der menschlichen
kommt man überein, den Engel gegen die Hälfte der Hybris ist: Erwies sich im Turmbau die in Kurrubi al-
Staatseinkünfte durch die Theologie leugnen zu las- legorisierte Gnade noch als »Gericht des Himmels
sen (vgl. 108 f.) und Kurrubis göttliche Herkunft ab- über die Menschen«, wandelt sie sich im Engel zu ei-
zustreiten: Sie soll »zur ausgesetzten Tochter des Her- nem »Angebot des Himmels, das die Menschen vor
zogs Lamasch« (109) erklärt werden. Als dann das die freie Wahl stellt und zu Richtern macht« (Wirtz
Volk tatsächlich in den Thronsaal eindringt, erfährt 2000, 151). Der Turmbau, so Dürrenmatt, erfolge we-
Kurrubis Schicksal eine letzte Wendung. Da niemand, niger »aus der Wut des Königs Nebukadnezars heraus,
weder König noch Volk, dem Nebukadnezar das Mäd- daß Kurrubi, das Geschenk des Himmels, für den
chen anbietet, sich entschließen kann, zu jenem Bett- ärmsten der Menschen bestimmt war, sondern viel-
ler zu werden, den Kurrubi sucht, beschließt man, sie mehr seiner unermeßlichen Empörung wegen, daß
hinrichten zu lassen. Vom König um seiner Macht, der Himmel offenbar ihn, der sich doch für den mäch-
vom Minister um der Staatskunst, vom Priester um tigsten der Menschen hielt, als den ärmsten betrachte-
92 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

te« (WA 4, 128). Wie in der Genesis (1. Mose 11,1–9) Literatur
versteigen sich die Menschen; sie sind »durch ihre blu- Primärtexte
tigen Welthändel« unfähig, die »greifbare Gnade« zu Ein Engel kommt nach Babylon. Eine Komödie in drei
Akten. Zürich 1954.
sehen und anzunehmen (Knopf 1987, 69). Allein Akki Ein Engel kommt nach Babylon. Eine fragmentarische
scheint der Gnade würdig zu sein (vgl. Paganini 2004, Komödie in drei Akten. Zweite Fassung. Zürich 1957.
95); ihm, »der sie am wenigsten braucht« (Jenny 1967, Ein Engel kommt nach Babylon. Oper in drei Akten. Kassel
58), fällt sie zu, weniger weil er sie verdient (vgl. Knapp 1976.
1980, 55), sondern weil er sich – im Gegenteil – eben Ein Engel kommt nach Babylon. Eine fragmentarische
Komödie in drei Akten. Neufassung 1980. WA 4.
nicht um sie bemüht. In ihm begegnet man einem je-
Der Turmbau zu Babel. In: WA 29, 50–58.
ner mutigen Menschen (s. Kap. 72), von denen Dür- Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. In: WA 31, 139–167.
renmatt in Theaterprobleme spricht (vgl. WA 30, 63):
einem, »der sich in einem totalen Staat die Freiheit be- Sekundärliteratur
wahrt hat« (Poser 1975, 89) und dem es gelingt, sich Brock-Sulzer, Elisabeth: Ein Engel kommt nach Babylon
nicht etwa als Revolutionär, aber als »Lehrer« und [1954]. In: Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt.
Zürich 1980, 120–123.
»Erzieher der Völker« (WA 4, 39) der Welt gegenüber
Gabor, Olivia G.: The Stage as ›Der Spielraum Gottes‹. Bern
zu positionieren. »Die Chance«, so hat es Ulrich We- 2006, 159–207.
ber formuliert, »sah Dürrenmatt abseits der grossen Große, Wilhelm: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1998,
Imperien und Turmbauten, an den Rändern der Ge- 59–67.
sellschaft« (2006, 88). Insofern wird das Stück lesbar Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1980,
als Reflexion des vergeblichen menschlichen Bemü- 54–56.
Knopf, Jan: Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. Berlin
hens um Permanenz: sei’s in Form des Staates, der 1987, 66–72.
Stadt Babylon (vgl. Gabor 2006, 177), sei’s allgemeiner Paganini, Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich
in Form einer doxa: einer Ideologie, einer Ökonomie, Dürrenmatt. »Ich bin verschont geblieben, aber ich
eines bestehenden Machtverhältnisses usw. Die Nich- beschreibe den Untergang.« Hamburg 2004, 92–95.
tigkeit all dessen erfasst Akki, der sich »jedes Jahrhun- Poser, Therese: Friedrich Dürrenmatt. In: Rolf Geißler (Hg.):
Zur Interpretation des modernen Dramas. Brecht, Dür-
dert einen anderen Namen zusammen[bettelt]« (WA
renmatt, Frisch [1960]. Frankfurt a. M. 1975, 88–96.
4, 22): Zeichen seines kontingenten und gewisserma- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
ßen antidoxalen Wesens. Ob man im Engel allerdings Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006,
die »endgültige Absage des Autors an metaphysische 87 f.
Lösungsversuche der diesseitigen Misere« (Knapp Wirtz, Irmgard: Die Verwandlung des Engels. Von Friedrich
1980, 56) erkennen muss oder sich aus den zahlrei- Dürrenmatts früher Komödie zur späten Prosa Turmbau
IV–IX. In: Peter Rusterholz, Dies. (Hg.): Die Verwandlung
chen (Neu-)Bearbeitungen des Stoffes (vgl. Wirtz der Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürren-
2000) ein versöhnlicheres Bild zeichnen ließe, bliebe matts Spätwerk. Berlin 2000, 145–159.
zu diskutieren.
Benjamin Thimm
23  Der Besuch der alten Dame 93

23 Der Besuch der alten Dame dort geschieht ein Verbrechen durch eine Gemein-
schaft (vgl. von Matt 2012, 146–150). Wie weit Dür-
Der Besuch der alten Dame, geschrieben 1955, urauf- renmatt dieser Bezug bewusst war, lässt sich nicht
geführt in Zürich am 29.1.1956, wurde ein Welterfolg, entscheiden. Es ist aber auffällig, dass auch das zweite
der bis heute anhält. Damit rückt diese Tragische Ko- Meisterwerk des Jahres 1955, die Erzählung Die Pan-
mödie (so die Gattungsangabe im Untertitel) in das ne, einen Bezug zu Gotthelf aufweist. Ihr Schluss deckt
Feld jener Dramen, die unmittelbar nach dem Zweiten sich mit dem Ende einer der eindrücklichsten Kurz-
Weltkrieg das internationale Theater prägten und auf geschichten dieses Autors: Wie man kaputt werden
den Bühnen des 21. Jahrhunderts noch immer gegen- kann (vgl. Gotthelf 1932, 217). In beiden Werken
wärtig sind: Les Mains sales (1948) von Jean-Paul Sar- hängt zuletzt ein Selbstmörder im Fensterrahmen, als
tre, Death of a Salesman (1949) von Arthur Miller, The schwarze Silhouette vor dem Morgenlicht.
Cocktail Party (1949) von T. S. Eliot, Les Chaises (1952) Aber Claire Zachanassian, die alte Dame, ist gewiss
von Eugène Ionesco, En attendant Godot (1953) von kein Teufel, wie er bei Gotthelf auftritt. Sie wurde viel-
Samuel Beckett, Cat on a Hot Tin Roof (1955) von Ten- mehr als junge, verliebte Frau zum Opfer eines fiesen
nessee Williams und Long Day’s Journey into Night Kerls und seiner ebenso fiesen Kumpane. Und jetzt,
(1956) von Eugene O’Neill. Schon an dieser fragmen- als Edelprostituierte maßlos reich geworden, kehrt sie
tarischen Übersicht ließe sich das breite thematische zurück in die Stadt ihrer Kindheit, um sich zu rächen.
und formale Spektrum im Theater jener Jahre aufzei- Das kann man verstehen, auch wenn der Racheplan
gen. Gleichzeitig könnte man hier studieren, welche grausam ist. Sie fordert, dass die Einwohner von Gül-
aktuellen Spielformen auch Dürrenmatt in seinem be- len ihren einstigen Liebhaber, Alfred Ill, umbringen.
rühmtesten Stück aufgegriffen hat. Die scheinbar wi- Dafür wird sie die vergammelte Stadt zu einer Boom-
dersprüchliche Verzahnung von Realismus und Gro- town machen, wo noch der letzte Bürger die Taschen
teske, von Gesellschaftsanalyse und komödiantischer voller Geld hat. Dies erklärt sie öffentlich gleich zu Be-
Typisierung, von vordergründigem Spektakel und ginn und wartet dann gelassen, bis der Mord ge-
transzendenten Signalen wird einleuchtend, wenn schieht. Sehr lange dauert es nicht.
man erkennt, wie sehr sie die Vielfalt der damals mo- Soweit in groben Zügen der Plot, und so betrach-
dernsten Bühnenarbeit spiegelt. (Zu den verschiede- tet, könnte man auch auf eine recht triviale Handlung
nen Fassungen vgl. die Hinweise in WA 5, 153–155.) schließen. Der ungeheure Erfolg des Stücks, der nun-
mehr über 60 Jahre andauert – auch in Film und
Fernsehen (s. Kap. 60), in Oper (von Einem, Wien
Umriss der Handlung 1971) und Musical (Kander/Ebb, New York 2001;
Schneider/Reed/Struppeck/Hofer, Thun/Wien 2013)
Kern der Handlung ist ein uraltes Motiv. Man könnte –, müsste dem nicht unbedingt widersprechen. Thea-
es die Versuchung der Menschen durch den Teufel ter darf immer auch knallendes Spektakel sein. Aber
nennen. Dieser Akt steckt schon im berühmten Be- ein späteres Stück von Dürrenmatt, Der Mitmacher
richt vom Apfelbiss im Paradies, ebenso in Mt 4,7, wo von 1973, ist noch weit spektakelmäßiger und wurde
der Teufel dem fastenden Jesus in der Wüste »alle Kö- doch ein bitterer Misserfolg. Der Besuch der alten Da-
nigreiche der Welt und ihre Pracht« verspricht, wenn me muss ein Geheimnis haben.
er ihn dafür anbete. Von diesen Urszenen nähren sich
viele volkstümliche Teufelsgeschichten. Eine davon hat
Dürrenmatt schon als Kind gekannt und damals auch, Das Geheimnis Zachanassian
wie er selbst berichtet, gezeichnet (vgl. WA 28, 12). Es
ist Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf. Diese Dieses Geheimnis ist die Dame selbst, Claire Zacha-
berühmte Erzählung, auf die Gotthelfs umfangreiches nassian, geborene Wäscher. Wir wissen alles über ihr
Werk heute weitgehend zusammengeschrumpft ist, Leben, und doch ist ihre Identität unheimlich fluk-
nimmt sich aus wie ein fernes Modell für die Geschich- tuierend. Der Autor arbeitet sich gezielt daran ab. Er
te von der Alten Dame. Im Unterschied zu den meisten legt immer neue Bestimmungen ihrer Existenz vor.
Teufelsgeschichten wird hier nämlich nicht ein Einzel- Viele weist er sofort zurück, dann tauchen sie doch
ner vom Satan in Versuchung geführt, sondern die wieder auf. Bei jedem andern Schriftsteller würde
Bevölkerung eines ganzen Dorfes, ein Kollektiv also, man sagen, er wolle durch solche Verwirrungen inte-
wie auch die Bewohner von Güllen es sind. Hier wie ressant erscheinen. Dürrenmatt aber ist der gespens-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_23
94 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

tischen Frau gegenüber tatsächlich hilflos, ist nicht unseren Augen« (ebd., 102). Mit diesem Wort »Erzhu-
Herr über sein eigenes Geschöpf. Und diese Macht, re« rückt sie in die Nähe der Magna meretrix, der Gro-
die sie über ihn hat, überträgt sich auf die Leser und ßen Hure Babylon in der Johannes-Apokalypse (Offb
Zuschauer. Auch sie, auch wir alle werden mit dieser 17 f.), einer mythischen Gestalt, deren Auftritt den
Zachanassian nicht fertig. Weltuntergang und das Weltgericht ankündigt (vgl.
Das hängt mit dem wichtigsten Element von Dür- Schu 2007, 145 f. und passim).
renmatts Kreativität zusammen: Er ist von Bildern Dürrenmatt bestätigt diesen Zusammenhang in ei-
verfolgt. Sie sind unerwartet da und verlangen Gestal- ner Schlussszene, die er für die deutsche Erstauffüh-
tung. Diese kann glücken oder scheitern. Aber das rung schrieb. Darin ruft die Zachanassian, als sie mit
Bild – vielfach sagt er: die Vision – steht immer am Ills Leiche abreist, den reichgewordenen Bürgern
Anfang. Die Vision regiert sein Schaffen. »Nicht mei- (und Mördern) zu: »Einst war die Hure ich, die Huren
ne Gedanken erzwingen meine Bilder«, heißt es in der seid jetzt ihr. / Doch auch ihr, meine Herren / Werdet
Einleitung zu den Stoffen, »meine Bilder erzwingen sehn mich wiederkehren / Und kehr ich wieder, wer-
meine Gedanken« (WA 28, 15). So erschien vor ihm det ihr verlieren / Man wird mit euch verfahren wie
eines Tages diese Zachanassian und erzwang sein mit Tieren / Ich bin das Ende und das End ist nah /
Nachdenken, forderte die künstlerische Form. Nicht mitzulieben, mitzuhassen bin ich da« (SLA-FD-
Im Nachwort erklärt er zunächst, man solle sich A-m24_IX, vgl. Weber 2010, 103). Zwar hat er diese
über die Person der Frau nicht weiter den Kopf zerbre- Verse in den Druckfahnen der Buchausgabe wieder
chen, es sei alles ganz einfach. Bei der Begründung gestrichen; die Ankündigung des großen Untergangs,
aber gelangt er zum genauen Gegenteil, zur Beschwö- der Letzten Dinge, erschien ihm wohl als überdeut-
rung einer dämonischen Gestalt. Dieser Widerspruch lich, und sie kollidierte auch mit dem triumphalen
verlangt eine genaue Betrachtung. Der Autor schreibt: Schlusschor der Bürger. Dennoch ist der Text ein
»Claire Zachanassian stellt weder die Gerechtigkeit wertvolles Dokument für die apokalyptische Dimen-
dar noch den Marshallplan oder gar die Apokalypse, sion von Dürrenmatts unheimlichster Heldin.
sie sei nur das, was sie ist, die reichste Frau der Welt, Dazu gehört auch ihr rätselhaftes ›Versteinern‹,
durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der das sie dem Tod zu entziehen scheint. Dürrenmatt
griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, spricht davon im obigen Zitat aus dem Nachwort, und
wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. Die Dame hat bei ihrem letzten Auftritt im Stück wird sie beschrie-
Humor, [...] eine seltsame Grazie ferner, einen bösarti- ben, wie sie in ihrer Sänfte sitzt, »unbeweglich, ein al-
gen Charme. Doch, da sie sich außerhalb der mensch- tes Götzenbild aus Stein« (WA 5, 134). Damit in un-
lichen Ordnung bewegt, ist sie etwas Unabänderli- tergründiger Beziehung steht wiederum das Motiv im
ches, Starres geworden, ohne Entwicklung mehr, es sei Stück, dass ihr Körper zu einem großen Teil aus Pro-
denn die, zu versteinern, ein Götzenbild zu werden« thesen besteht.
(WA 5, 142 f.). In der Apokalypse des Johannes reitet die Große Hu-
Das geht weder logisch noch psychologisch auf, re Babylon auf einem Tier mit sieben Köpfen, hat einen
wird aber sofort stimmig, wenn man es als den tasten- goldenen Becher in der Hand und ist überreich ge-
den Versuch des Dichters liest, die Vision zu beschrei- schmückt mit Perlen und Juwelen. So wurde sie von
ben, von der er förmlich besessen ist. Und wer sich Dürer bis William Blake vielfach dargestellt. Im ersten
länger mit Dürrenmatt beschäftigt hat, weiß ohnehin: Band der Stoffe zählt Dürrenmatt Dürers Holzschnitt-
Sobald dieser Mann etwas bestreitet, muss man auf- Serie über die Apokalypse – dabei auch ein Blatt mit
merken. Denn was er verneint, hat stets eine eigene der Magna meretrix – zu den Bildern, die ihn als Kind
Wahrheit. So gehört die Gerechtigkeit sehr wohl zur am tiefsten beeindruckten: »Die Bilder stürzten auf
Zachanassian, gebraucht sie das Wort doch fast wie ei- mich ein. Sie ließen mich nicht mehr los« (WA 28, 33).
nen Refrain. Auch steht das Stück durchaus in einem Auch die Zachanassian reist mit sieben Begleitern,
Bezug zum Marshallplan; der Untertitel lautete ja zu- mehrheitlich monströsen Wesen, darunter ein schwar-
nächst Komödie der Hochkonjunktur (ebd., 139). Und zer Panther, und ihr Reichtum ist ebenfalls unbegrenzt.
schließlich ist die Vision dieser Frau tatsächlich auch Dennoch wäre es falsch, in diesen Anspielungen kur-
mit der Apokalypse verknüpft. Denn nicht nur wird zerhand den Schlüssel zum Stück zu sehen. Die Evoka-
sie laufend als Hure bezeichnet und nennt sich auch tion der Magna meretrix gehört zum Werk, gehört zur
selbst so, sondern der gebildete Lehrer spricht sie ex- Figur, aber sie ist nicht gleichzusetzen mit deren per-
plizit an als »Erzhure, die ihre Männer wechselt vor sonaler Identität. Es verhält sich da wie mit der mythi-
23  Der Besuch der alten Dame 95

schen Gestalt der Medea, mit der die Zachanassian so- schließlich seiner Ermordung zu. Ein einziges Mal,
wohl in Dürrenmatts Nachwort wie im Stück ebenfalls dem Bürgermeister gegenüber, spricht er sich darüber
verglichen wird. Sie ist eine Zauberin, Enkelin des Son- aus, und er nennt, was er jetzt erfährt und was ihm be-
nengottes und eine gnadenlose Rächerin, ein furcht- vorsteht: »Gerechtigkeit« (WA 5, 109). Dieses ernste
bares Denkbild aus dem ältesten Erzählen der Mensch- Geschehen steht in schroffem Gegensatz zum Berei-
heit, von Euripides dramatisiert. Medea und die Magna cherungstumult der Güllener und zu den Clownerien
meretrix erscheinen hinter der Bühnenfigur Claire Za- von Zachanassians Begleitung. Aber der Autor schafft
chanassian wie riesige dunkle Umrisse. es, dass die Dissonanzen nicht als Stilbruch empfun-
Ähnlich mehrdeutig muten einzelne ihrer Aus- den werden. Alles erscheint als ein zwingendes Gefü-
sagen über sich selbst an, wenn sie etwa auf das weh- ge und stellt damit die kompositorische Meisterschaft
leidige Jammern Ills, er habe in der Hölle gelebt, ant- des Stücks unter Beweis.
wortet: »Und ich bin die Hölle geworden« (WA 5, 38). Diesen Aufbau gliedern die zwei Szenen draußen
Da rückt die Vorstellung vom Teufel und die Assozia- im Wald, wo das einstige Liebespaar sich wieder trifft.
tion an die Schwarze Spinne wieder nahe. Ebenso In der ersten, im ersten Akt, ist Ill noch ganz der
zwielichtig ist ihre unmittelbar anschließende Erklä- Heuchler, der glaubt, die Frau wieder um den Finger
rung: »Ich kenne die Welt. [...] Weil sie mir gehört« wickeln zu können; in der zweiten, im dritten Akt, ist
(ebd.). Friedrich Dürrenmatt war und blieb »ein Dich- er verwandelt, bereit zu sterben, und er spricht ganz
ter der letzten Dinge«, wie Grillparzer sich selbst ein- sachlich vom Sarg, der in der Stadt für ihn bereit steht.
mal nannte (Grillparzer 1960, 518), aber er konnte da- Er dankt sogar für dessen reichen Schmuck. Und ob-
von nicht im Klartext reden, sondern, um eine Meta- wohl alles nach dem unerbittlichem Willen der Za-
pher aus der Bühnenanweisung zum Schlusschor auf- chanassian abläuft, lebt die alte Liebe noch einmal auf
zunehmen, nur »als gäbe ein havariertes Schiff, weit zwischen den beiden, und der Abschied mit den ein-
abgetrieben, die letzten Signale« (WA 5, 132). fachen Worten: »Adieu, Alfred« – »Adieu, Klara« wird
1953, drei Jahre vor der Niederschrift des Besuchs zum ergreifendsten Moment des Werks (ebd., 118).
der alten Dame, hatte Dürrenmatt das Kerngeschehen Diese zwei Waldszenen halten die voranstürzende
des Stücks bereits für eine Novelle entworfen, mit ei- Handlung, die Präzipitation, wie Schiller die zielge-
nem rachesuchenden Heimkehrer als Hauptfigur. Da- richtete Dynamik auf der Bühne nennt, je für eine
von sind nur wenige Aufzeichnungen erhalten. Für kurze Zeitspanne auf und verleihen so dem Ganzen
sein Spätwerk Stoffe hat er dieses imaginäre Projekt eine markante Struktur.
um 1978 doch noch ausgeführt, als eine Art Erinne- In der Neufassung 1980 hat Dürrenmatt zwischen
rungsspiel, unter dem ursprünglichen Titel Mondfins- diese zwei einsamen Begegnungen noch eine dritte
ternis (WA 28, 171–269). Von der Zachanassian, sei- gerückt, im zweiten Akt, in der genauen Mitte des
ner komplexesten Schöpfung, ist dabei keine Spur Stücks (ebd., 78 f.). Ill ist hier nicht mehr der üble
vorhanden (Rusterholz 2017). Schmeichler wie im ersten Akt, aber auch noch nicht
von der tragischen Einsicht gezeichnet wie im dritten.
Ihn hetzt vielmehr eine verzweifelte Panik. Er verlangt
Das Gefüge des Stücks von der Frau den Abbruch ihres tödlichen Spiels, und
in einem atemraubenden Moment richtet er sogar das
Es ist erstaunlich, dass das dramatische Gefüge dieses Gewehr auf sie. Sie aber redet ruhig weiter von ihrer
Stücks nicht auseinanderbricht. Denn was um die Za- einstigen Liebe – geisterhaft unverletzbar. Da senkt Ill
chanassian herum geschieht, ist schrill und grotesk, das Gewehr und beginnt zu begreifen. Dramaturgisch
von einer Slapstick-Komik, die keinen Effekt scheut, ist dies die Peripetie des Stücks.
während die Handlung um ihren einstigen Geliebten
Alfred Ill unaufhaltsam ernster und schließlich im
strengen, im antiken Sinne tragisch wird. Anfangs ist Die Modernität der Bühne
Ill ein egoistischer Spießer wie alle andern, noch im-
mer der fiese Kerl, der einst das Mädchen Klara ver- Die breite Popularität dieses Werks hat dazu geführt,
raten und zwei Kumpane zum Meineid angestiftet hat. dass auch Volksbühnen es bald mit Begeisterung auf-
In seiner wachsenden Einsamkeit aber, als er sich zuführen begannen. Dabei wurde die schneidende
schrittweise von allen im Stich gelassen und dem Tod Modernität der Form meistens gedämpft und den her-
ausgeliefert sieht, erkennt er seine Schuld und stimmt kömmlichen Bühnengewohnheiten angeglichen. Aber
96 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

auch Theater von Rang neigen heute dazu, die sze- Übung für Kritiker.)« (WA 5, 142). Dürrenmatt be-
nischen Kühnheiten zurückzubinden. Zum Beispiel streitet hier einmal mehr etwas, das er gleichzeitig ein-
verlangt die Bühnenanweisung, dass die Bäume des gesteht. Ohne Zweifel operiert er nämlich in der Szene
Waldes, in dem das alte Paar sich trifft, von Schauspie- mit Stühlen, wie Wilder es tut, aber ebenso berechtigt
lern verkörpert werden, die einige Äste in den Händen ist seine im Klammersatz versteckte Aussage, dass die
tragen. Und als Klara ausruft: »Schau mal, ein Reh« bühnentechnische Anlehnung an den US-Amerikaner
(37), muss einer dieser Schauspieler über die Bühne die schroffe Differenz zwischen dem bürgerlich-huma-
rennen; ein anderer klopft mit dem Hausschlüssel auf nen Thornton Wilder und dem Apokalyptiker Fried-
seine Tabakpfeife und ist mithin ein Specht. Das macht rich Dürrenmatt nicht verwischen darf.
jeden konventionellen Bühnenrealismus unmöglich. Wieweit Wilders antiillusionistische Szenerie, eine
Um die Zuschauer nicht zu irritieren, hat man daher Arte povera des Theaters, auch mit Brechts epischem
schon früh versucht, die extravaganten Szeneneinfälle Theater zu tun hat, ist hier nicht zu fragen. Die beiden
wirklichkeitsnäher und also publikumsfreundlicher zu nahezu gleichaltrigen Dramatiker wussten voneinan-
machen. Je mehr aber dieses Werk den Volksstücken der. Wilder beherrschte die deutsche Sprache und
Horváths oder Zuckmayers angeglichen wird, umso lebte 1928 in Berlin. Brechts berühmte Gegenüber-
mehr verschwindet auch seine beklemmende Grau- stellung von dramatischem Theater und epischem
samkeit, und die apokalyptischen Zeichen, die Andeu- Theater (Brecht 1967, 1009 f.) wurde 1931 veröffent-
tungen eines Mysterienspiels, verblassen. licht, im selben Jahr erschien auch das Stück von Wil-
Theatergeschichtlich folgt Dürrenmatts Bühne hier der, das seine Ästhetik der leeren Bühne erstmals
deutlich dem Vorbild Thornton Wilders, insbesonde- konsequent verwirklichte – und dabei für eine Auto-
re dem radikal entleerten Raum in dessen Stück Our fahrt vier Stühle bereitstellte: The Happy Journey to
Town – Unsere kleine Stadt. 1938 wurde es in den USA Trenton and Camden / Eine glückliche Reise (vgl. Wix-
uraufgeführt, die deutschsprachige Erstaufführung son 1972).
folgte bereits 1939 im Schauspielhaus Zürich. Dabei
spielten u. a. Therese Giehse, Ernst Ginsberg und Leo-
nard Steckel – drei Schlüsselfiguren in Dürrenmatts Die Paradoxie des Tempos
späterer Theaterkarriere. Im Diskurs über den Drama-
tiker Dürrenmatt ist Wilder heute hinter der Gestalt Wenn man die dramaturgischen Verfahren im Besuch
Brechts fast völlig verschwunden, obwohl der Ame- der alten Dame studiert, ist auch von einem Phäno-
rikaner für die szenische Form der frühen Stücke so- men zu sprechen, das beim Lesen oder Zuschauen
wohl Dürrenmatts wie Frischs prägender war als kaum auffällt, tatsächlich aber eine faszinierende Pa-
Brecht. Im Nachkriegsdeutschland verkörperte Unse- radoxie darstellt. Die erlebte Geschwindigkeit der
re kleine Stadt als meistgespieltes Stück die Theater- Handlung, die Präzipitation des Stücks, steht in einem
moderne schlechthin (vgl. Beckmann 1966, 130–132). schroffen Gegensatz zur Zeitstrecke, die für das tat-
Wilders maßgebliche Leistung war die radikale sächliche Geschehen angenommen werden muss. Zu
Ausräumung der Illusionsbühne mit ihren bunten Ku- Beginn des Ganzen ist die Stadt Güllen im Zustand ei-
lissen und lebensechten Requisiten. Er braucht nichts nes trostlosen Ruins. Häuser, Kirchen und Fabriken
weiter als ein, zwei Tische und einige Stühle, die dann sind am Zerfallen, die Einwohner hungrig und ver-
für alles Mögliche stehen können. In der Kleinen Stadt lumpt. Es besteht keine Hoffnung auf eine Sanierung.
kommt dazu ein Spielleiter, der dem Publikum laufend Dann erscheint Claire Zachanassian, verspricht die
erklärt, was passiert und was die Stühle von Fall zu Fall ökonomische Wiedergeburt der Stadt und Wohlstand
darstellen. In der Alten Dame gibt es diesen Spielleiter für alle. Die Einwohner müssen dafür bloß ihren Mit-
nicht, die legendären Wilder-Stühle aber sehr wohl. So bürger Alfred Ill töten. Dieses Ansinnen weisen sie
werden in der zweiten Fassung für die Autofahrt der empört zurück, beginnen aber umgehend, sich mit al-
Familie Ill statt eines Wagens kurzerhand vier Stühle lem Schönen und Kostbaren einzudecken, auf Kredit
auf die Bühne gerückt, den Rest muss man sich nach und im schweigenden Vertrauen auf die baldige Liqui-
den Worten und Gesten der Spieler vorstellen. Im dierung ihres Mitbürgers. Daraus ergibt sich einer der
Nachwort äußert sich Dürrenmatt dazu auf etwas ver- stärksten Bühneneffekte des Stücks und ein legendä-
rätselte Weise. Er schreibt: Man »spiele auch die Auto- res Zeugnis für Dürrenmatts theatralischen Instinkt.
szene einfach, am besten mit vier Stühlen. (Diese Sze- An den neuen, leuchtend gelben Schuhen, den teuren
ne hat nichts mit Wilder zu tun – wieso? Dialektische Kleidern, Fahrzeugen und Delikatessen kann das Pu-
23  Der Besuch der alten Dame 97

blikum die wortlose Zustimmung der Menschen von Literatur


Güllen zum Todesurteil mit eigenen Augen verfolgen. Primärtexte
Das läuft rasch ab, dauert, so will es scheinen, nur Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie in drei
Akten. Zürich 1956.
wenige Tage. In dieser Zeit sitzt die Zachanassian auf Der Besuch der alten Dame. Tragische Komödie. WA 5.
dem Balkon ihres Hotels und blickt dem Einkaufstru- Mondfinsternis. In: WA 28, 171–269.
bel regungslos zu. Und bald vollzieht man denn auch, Brecht, Bertolt: Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall
um des Reichtums willen, den Justizmord nach den der Stadt Mahagonny. In: Gesammelte Werke 17, Schriften
bewährten Regeln der direkten Demokratie. zum Theater 3. Frankfurt a. M. 1967, 1004–1016.
Brief von Schiller an Goethe am 2. Oktober 1797. In: Der
Als die alte Dame am Schluss den ungeheuren
Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in drei Bän-
Scheck überreicht und mit dem toten Geliebten ver- den, Bd. 1. Hg. von Hans Gerhard Gräf und Albert Leitz-
schwindet, stimmen die Frauen und Männer von Gül- mann. Leipzig 1912, 415–417.
len den Schlusschor an, eine Travestie auf das zweite Gotthelf, Jeremias: Wie man kaputt werden kann. In: Rudolf
Chorlied in der Antigone. Darin beschreiben und fei- Hunziker, Hans Bloesch (Hg.): Sämtliche Werke in 24
ern sie den wiedererlangten Wohlstand und die neue Bänden, Bd. 24. Erlenbach-Zürich 1932, 215–217.
Grillparzer, Franz: Gedichte, Epigramme, Dramen I. In:
Herrlichkeit ihrer Stadt.
Sämtliche Werke, Bd. 1. München 1960.
Dieser rasante Ablauf ist ein Triumph der drama-
tischen Präzipitation über die Logik der Handlung. Sekundärliteratur
In Wahrheit könnte die Wiederherstellung Güllens Beckmann, Heinz: Wilder. Velber bei Hannover 1966.
jetzt erst langsam beginnen. Sie ist aber bereits voll- Matt, Peter von: Der Autor in der Falle / Fragmente zu F. D.
endet, und der Widerspruch stört uns als Zuschauer In: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische
und politische Schweiz. München 2001, 241–259.
nicht. Wir sind mitgesaust im unwiderstehlichen Matt, Peter von: Was bleibt nach den Mythen? Das neue lite-
Zug der szenischen Dynamik und folgerichtig am rarische Nachdenken über die Schweiz / Der Liberale, der
Ziel angelangt. Alles stimmt, auch wenn es so gar Konservative und das Dynamit. Zur geschichtsphiloso-
nicht sein kann. phischen Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich
Diese kühne Operation mit der Zeit ist nur möglich Dürrenmatt / Wenn Dürrenmatt Geschichten erzählt. In:
Ders.: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und
durch eine berechnete Geschwindigkeit des dramati-
Politik der Schweiz. München 2012, 139–156, 191–219.
schen Prozesses, die uns die natürlichen Zwischenräu- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
me vergessen lässt. Dürrenmatt macht hier genau das, Biographie. Zürich 2011.
was Schiller einmal triumphierend über seine Arbeit Rusterholz, Peter: Differenzen der Geschlechter. Dürren-
am Wallenstein schreibt: Es sei ihm gelungen, »die matts Mondfinsternis und ihre Genese. In: Ders.: Chaos
Handlung gleich vom Anfang in eine solche Präzipita- und Renaissance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg.
von Henriette Herwig und Robin-M. Aust. Baden-Baden
tion und Neigung zu bringen, dass sie in stetiger und 2017, 73–85.
beschleunigter Bewegung zu ihrem Ende eilt« (Schil- Schu, Sabine: Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dür-
ler/Goethe 1912, 416). Das berühmteste Beispiel aus renmatt. Eine Untersuchung des dramatischen Werkes.
der Theatergeschichte für diese Kunst des gesteigerten St. Ingberg 2007.
Tempos über breite Zeitlücken hinweg ist Shake- Weber, Ulrich: Ob die Gemeinschaft würdig sei, in einen
Chor auszubrechen – Friedrich Dürrenmatts Besuch der
speares Macbeth. Die großen Dramatiker begegnen ei-
alten Dame, textgenetisch betrachtet. In: Elio Pellin,
nander über die Jahrhunderte hin in den Kunstgriffen Ulrich Weber (Hg.): »Wir stehen da, gefesselte Betrach-
ihres Handwerks, zu denen sie in der Regel schweigen. ter«. Theater und Gesellschaft. Göttingen, Zürich 2010,
Friedrich Dürrenmatt ist einer von ihnen. 87–112.
Wixson, Douglas C., Jr.: The Dramatic Techniques of Thorn-
ton Wilder and Bertolt Brecht. A Study in Comparison.
Modern Drama 15 (1972), 2, 112–124.

Peter von Matt


98 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

24 Frank der Fünfte Den Schlusspunkt der Bochumer Fassung schließlich


bildet das maliziöse Gelächter, mithin der Triumph
Entstehungs-, Publikations- und Auf- der Nachgeborenen über die herrschende Ordnung,
führungsgeschichte wenn Herbert verkündet, die Mutter habe die Bank
»saniert« (146). Freiheit wird den Figuren in sämtli-
Die Keimzelle des Werks bildete, so Dürrenmatt, eine chen Schlussfassungen verwehrt.
Theaterprobe der Titus Andronicus-Inszenierung von Frank der Fünfte zählt zu den eher selten aufgeführ-
Peter Brook in Paris 1958, die den Autor dazu anregte, ten Stücken des Autors, hat im Zuge der Finanzkrise
ein Shakespearesches Königsdrama moderner Prä- 2008 indes wieder an Aktualität gewonnen (zuletzt:
gung auf die Bühne zu bringen: »Ich kam vom Wun- Bern 2013, Esslingen bei Stuttgart 2019/2020).
sche nicht mehr los, etwas Wildes, Groteskes, Shake-
spearehaftes zu schreiben, ein Stück für die Gegen-
wart« (WA 29, 48). Dürrenmatt war von der Zürcher Inhalt und Analyse
Neuen Schauspielhaus AG damit betraut worden, eine
Ode anlässlich ihres zwanzigjährigen Jubiläums zu Gottfried Frank alias Frank V. , Direktor einer traditi-
verfassen. In Zusammenarbeit mit dem Operetten- onsreichen »Gangsterbank« (22), und seine Gattin Ot-
komponisten Paul Burkhard entstanden »in etwa zwei- tilie sehen sich angesichts unzeitgemäßer Geschäfts-
mal fünf Tagen« (G 1, 119) in Neuchâtel noch vor Skiz- praktiken gezwungen, die Liquidation ihres im Nie-
zierung des Handlungsgerüsts mehrere Chansons, die dergang begriffenen Familienunternehmens einzulei-
in der Folge zu einer Oper ausgebaut wurden. ten. Skrupulös planen sie den Scheintod des Patrons
Die Uraufführung von Frank der Fünfte. Oper einer und das Verschwinden des Personals, um dank des ab-
Privatbank am Schauspielhaus Zürich vom 19.3.1959 gezweigten Schwarzgelds »den Lebensabend gemein-
(R.: Oskar Wälterlin) war ein »eklatanter und für den sam unter einem anderen Namen in einem humaneren
Autor sehr schmerzlicher Mißerfolg« (Helbling 1982, Klima« (23) verbringen zu können. Mehrere durch ab-
85). Dasselbe Schicksal erlitt die überarbeitete Büh- surde Zufälle ruinierte Geschäfte und die eigenen Kin-
nenfassung für die deutsche Erstinszenierung an der durchkreuzen jedoch diesen Plan. Die vermeint-
den Münchner Kammerspielen vom 18.10.1960. lich rechtschaffenen Internatszöglinge Franziska und
Nach weiteren Erstaufführungen in Amsterdam, Prag, Herbert erachten die Liquidationsabsichten der Eltern
Wien, Brüssel und Paris kam es im Vorfeld der Bochu- als das eigentliche Verbrechen und erpressen die Bank:
mer Inszenierung 1963 (R.: Dürrenmatt und Erich Sollten binnen einer Woche nicht 20 Millionen Fran-
Holliger) zur Auseinandersetzung mit dem Intendan- ken gezahlt werden, droht die Offenlegung des Ver-
ten Hans Schalla, worauf der Autor sein Stück per sicherungsbetrugs. Inmitten dieser Krisensituation
einstweiliger Verfügung sperren ließ. Die Bochumer versucht jeder noch rasch seine Schäfchen ins Trocke-
Fassung fand Eingang in die Neuausgabe von 1964 ne zu bringen. Es kommt zum nächtlichen Showdown
und mit neuem Untertitel Komödie einer Privatbank der bis an die Zähne mit Maschinenpistolen und Nach-
in den Sammelband Komödien II und Frühe Stücke schlüsseln bewaffneten Angestellten vor dem Tresor
(1963), während der Erstdruck bei Arche 1960 als im Keller. Herbert und Franziska geben sich zu erken-
Oper figurierte. Bereits 1966 erfolgte eine neuerliche nen und usurpieren die Bank. In einer zynischen
Umarbeitung zum Drehbuch für den NDR. Das Fern- Schlussvolte wird dieser sogar eine Sanierung durch
sehspiel wurde mit Hubert von Meyerink (Frank), den Staatspräsidenten zuteil, der den Bankrott auf-
Therese Giehse (Ottilie), Willy Maertens (Böckmann) grund der Größe der verübten Verbrechen und der
und Hans Korte (Egli) in den Hauptrollen am Verfilzung mit dem Staat vereitelt: »Ich müßte ja die
16.2.1967 erstausgestrahlt. Für die Neufassung 1980 ganze Weltordnung umstürzen« (122).
schrieb Dürrenmatt das Werk abermals um und ent- Frank der Fünfte ist damit im Kern eine Verfalls-
schied sich für den ursprünglichen Schluss der Zür- geschichte. Der sich auf Handlungsebene Bahn bre-
cher Uraufführung, die mit dem Chorgesang und der chende Verfall von Dynastie und Unternehmen geht
Einsicht in den fragil-illusorischen Freiheitswunsch einher mit einer Genealogie der Amoral und des Wer-
von Machtkollektiven ausklingt. Die erste Buchaus- teverfalls auf Ebene der Figuren. In Zeiten des Erfolgs
gabe betont dagegen den Prozess des Niedergangs qua partizipieren die durch die Unternehmensphilosophie
Ankündigung einer künftigen »Eiswelt« (WA 6, 152), augenfällig korrumpierten Bankangestellten nahezu
die noch viel schlimmer werde, als die bestehende. bedingungslos am verbrecherischen Treiben des Hau-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_24
24  Frank der Fünfte 99

ses: Sie »[m]orden, prellen und betrügen«, sie »[w]u­ Desillusionierung im doppelten Sinne, weil der Wech-
chern, stehlen, hehlen, lügen« (25). Doch der brüchige sel von Figurenrede und -gesang über den verfrem-
Kitt des unheilvollen Zusammenhalts besteht schon denden Akt der Illusionsdurchbrechung hinaus zur
da im Wissen um die Missetaten der andern, im viru- satirisch-moralischen Entlarvung der Figuren bei-
lenten denunziatorischen Potential und in der Furcht trägt, die »singen [...], wenn sie lügen« (G 1, 120). Die
vor gegenseitiger Entdeckung. Im Augenblick des Opernform leistet zum andern einer antithetischen
ökonomischen Niedergangs beginnt die Loyalität des Struktur Vorschub, die sich in diversen motivischen
Einzelnen zum Kollektiv erwartungsgemäß zu brö- Antagonismen wie Gangster vs. Bürger, Individuum
ckeln. Die Verfallsdynamik ist Ausdruck einer Ver- vs. Kollektiv oder Eltern vs. Kinder widerspiegelt. Die
unsicherung und eines übergeordneten Ordnungszer- an Shakespeares Königsdramen geschulte Kontrast-
falls, der sich nahtlos in eine Ästhetik der Moderne ästhetik (vgl. Profitlich 1973, 12 f.) fällt in eins mit ei-
und deren »Entdeckung einer radikalen Kontingenz, ner Ästhetik des Grotesken (vgl. Grimm 1961). Ange-
die [...] die Ordnung selbst antastet« (Waldenfels 2006, sichts einer als krisenhaft wahrgenommenen Welt der
19), einlesen lässt. Das Urteil des Staatspräsidenten Moderne bedient sich Dürrenmatt dieses paradigma-
Traugott von Friedemann ist insofern an Zynismus tischen Schreibverfahrens zur Darstellung von Zer-
kaum zu überbieten, als dieser selbst Akteur und fallsdynamiken, da es das Spannungsverhältnis zwi-
Symptom einer Welt ist, deren Ordnung maßgeblich schen Krise und Komik auf der Bühne zu verhandeln
auf Korruption, Bigotterie und volatilen sozialen vermag, ohne die Zuschauer durch allzu bereitwillige
Asymmetrien beruht. Eine Ordnung aber, die den Auflösung der Paradoxien und Preisgabe des Ernstes
Rechtsstaat aus den Angeln hebt und zum ohnmächti- in ein kathartisches Lachen der Entlastung zu entlas-
gen Zuschauer degradiert, Politiker als Kollaborateure sen oder dem erbaulichen Klamauk anheim zu fallen
entlarvt, die wechselseitige Affinität von Gangster und – den es freilich zumal in den Gesangspartien gibt.
Bürger fördert, ist längst gestürzt, ist pervertiert. Die Zusammenführung von Komik und Grauen
Frank der Fünfte wirft mithin ein grelles Schlaglicht manifestiert sich am deutlichsten im Protagonisten
auf eine Welt in Unordnung. Dürrenmatt operationa- selbst, der keine Gelegenheit auslässt, seine humanis-
lisiert hierfür den Topos des mundus inversus, der als tische Gesinnung zu betonen, während der selbst-
Instrument der Systemkritik und zur Deutung einer ernannte »Menschenfreund« (WA 6, 14) gleichzeitig
krisenhaften Welt fungiert: Franks Bank schmückt das mörderische Treiben seiner an Lady Macbeth ge-
sich damit, »noch nie ein ehrliches Geschäft abge- mahnenden Gemahlin Ottilie und seiner Angestellten
wickelt« (WA 6, 22) zu haben, der Schalterbeamte Hä- nicht nur duldet, sondern explizit anordnet. Franks
berlin schwärmt vom freien Leben im Zuchthaus, Moralbezeugungen entpuppen sich als hohles Ritual
Doktor Schlohberg gilt als »Ehrenmann«, da er »noch eines falschen Priesters, der die »Welt des Geistes« (62)
jeden unserer Morde durch ein Attest gedeckt« (65) und die Verehrung für Goethe und Mörike vorschützt,
habe, und Ottilie postuliert als Handlungsmaxime: um seine Verbrechen unter dem Deckmantel der
»Was ich auch tu, es ist verquer« (47). Lüge und Ver- Menschlichkeit zu camouflieren. Parodistisches Po-
brechen avancieren im frankschen Kosmos zu Tugen- tential entfaltet das Stück bereits qua Franks telling na-
den, und das Täterkollektiv stilisiert sich in einem bi- me: Akzentuiert die Ableitung aus der Schweizer Wäh-
gotten Gesangsreigen schamlos zu Opfern. rung ›Franken‹ die Ökonomie als gesellschaftlichen
Die Modernität des Stücks liegt neben der Proble- Brennpunkt, unterminiert das anklingende Reimwort
matisierung eines Ordnungsverlusts und Kontingenz- ›krank‹ zugleich deren Integrität. Über die Kritik am
zuwachses in der Pluralität seiner ästhetischen Ver- homo oeconomicus und dessen scheinbar unverbrüch-
fahren. Ungeachtet der Kritik an der inkonsistenten lichen Glauben an »die ökonomische Kausalität«
dramatischen Funktion der Musik (vgl. Jauslin 1964, (Durzak 1969, 109) der Welt hinaus verweist das as-
105 f.) erscheint die Gattungswahl plausibel. Sie kon- soziierbare ›frank und frei‹ auf das Freiheitsthema. Die
gruiert mit Dürrenmatts Dramenpoetik, deren Ent- Figuren sind sowohl Gefangene des paranoiden Über-
wicklung er in seiner Standortbestimmung (1960) auf wachungskollektivs als auch ihres »Selbstbetrugs«
die griffige Formel »vom ›Denken über die Welt‹ zum (Jauslin 1964, 108), wenn sie dem naiven Traum vom
›Denken von Welten‹« (WA 6, 155) brachte und die Spießerglück mit Familie und Einfamilienhaus anhän-
das Fingieren möglicher Modellwelten gegenüber der gen. Ihr Ansinnen ist lediglich ein Feigenblatt, ein un-
realistischen Wiedergabe tatsächlicher Gesellschafts- aufrichtiger Entlastungswunsch von eigener Schuld.
verhältnisse priorisiert. Die Oper konstituiert eine Freiheit muss für jene, die ihre Missetaten idealistisch
100 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

verbrämen, letztlich eine Illusion bleiben: »Die Frei- heit erschaffen und der Freiheit überlassen!« (WA 6,
heit ist schön, ach, das wissen wir alle / Doch willst du 92). Böckmann zeigt, dass der Einzelne seine Ent-
sie greifen, vergeht sie im Nu« (WA 6, 79). scheidungen der ihm oktroyierten Kollektivzwänge
zum Trotz frei treffen kann. Was Loetscher resümie-
ren ließ: »In dieser Entdeckung der Freiheit zum Bö-
Deutung und Positionen der Forschung sen liegt das Moment des Moralischen bei Dürren-
matt« (1980, 168). Wenn das selbstkritische Individu-
»[W]ie ißt man Dürrenmatt?« (Loetscher 1980, 162). um die pervertierte Welt auch nicht zurückzukehren
Auf Hugo Loetschers hintersinnige Frage im Zürcher vermag, so ist es doch imstande, jederzeit selbst um-
Programmheft, die den Anfang der kritischen Rezep- zukehren. Dass Böckmann die Beichte am Ende ver-
tion des Stücks markiert, haben Literaturkritik und wehrt bleibt, weil Ottilie den ohnehin im Sterben Lie-
-wissenschaft mit Verdauungsproblemen reagiert und genden umbringt, ist die böse wie geniale Pointe die-
den Autor förmlich aufgefressen bzw. »abgespritzt« ser Tragikomödie. Dürrenmatt hielt sie nicht zu Un-
(WA 6, 165). Zwar anerkannte man die Bühnenwirk- recht für »meine beste Szene« (WA 25, 150).
samkeit einzelner Szenen, doch überwog die Kritik an
der misslungenen Gesamtstruktur und an Unstim- Literatur
Primärtexte
migkeiten in der Figurenzeichnung. Manche Forscher Frank der Fünfte. Oper einer Privatbank. Musik von Paul
sprachen der Komödie in Verkennung der primär auf Burkhard. Zürich 1960.
»Problemträchtigkeit« (159) abhebenden Dramen- Frank der Fünfte. Eine Komödie. Mit Musik von Paul Burk-
poetik sogar die Glaubwürdigkeit ab (vgl. Arnold hard. Bochumer Fassung. Zürich 1964.
1969, 75). Kontrovers diskutiert wurde die Frage, in- Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. In: Komödien
II und frühe Stücke. Zürich 1963.
wiefern es sich bei Frank eingedenk der augenfälligen
Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. Neufassung
formalen und thematischen Analogien um eine Vari- 1980. Zürich 1980.
ante, Kopie oder Parodie von Brechts Dreigroschen- Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. WA 6.
oper handle. Manfred Durzak unterstrich etwa die Zu- Friedrich Dürrenmatt interviewt Friedrich Dürrenmatt. In:
spitzung der brechtschen Sozialparabel im Sinne einer WA 25, 140–167.
Umkehr der Räuber-Bürger-Dialektik (vgl. Durzak [Gespräch mit] Horst Bienek [1961]. In: G 1, 114–131.
Querfahrt. In: WA 29, 23–84.
1969, 105 f.). Dürrenmatt betonte demgegenüber den
Bezug zu Shakespeares Richard III. Die Eingangs- Sekundärliteratur
losung »Wie Helden von Shakespeare« (WA 6, 11) bil- Arnold, Armin: Friedrich Dürrenmatt [1969]. Berlin 1986,
det einerseits eine ironische Setzung, da es der willfäh- 72–76.
rige Personalchef Richard Egli ist, der den prätentiö- Durzak, Manfred: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Stuttgart
sen Vergleich zieht, und die klassischen Helden längst 1972, 102–115.
Grimm, Reinhold: Parodie und Groteske im Werk Friedrich
im Kollektiv der Moderne untergegangen sind. Die Dürrenmatts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift
Referenz akzentuiert andererseits aber ebenso die his- 11 (1961), 431–450.
torische Kontinuität der Gefährdung individueller Helbling, Robert: Frank der Fünfte. Eine kritische Bilanz der
Freiheit innerhalb hierarchischer Machtsysteme (vgl. Gangsterbank nach über zwanzig Jahren. In: Armin
Käppeli 2013, 251). Egli benennt im moritatenhaften Arnold (Hg.): Zu Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1982,
85–96.
Prolog bereits das Grundthema, weshalb das verschie-
Jauslin, Christian Markus: Friedrich Dürrenmatt. Zur Struk-
dentlich geäußerte Monitum erstaunt, wonach dem tur seiner Dramen. Zürich 1964, 104–110.
Stück eine »zentrale Idee« (Jenny 1970, 79) fehle. Jenny, Urs: Friedrich Dürrenmatt. Velber 1970, 73–79.
Die zentrale Freiheitsproblematik behandelt auch Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
die tragisch tingierte Böckmann-Szene. Frank und matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
Ottilie haben dem treuen Prokuristen zwei Jahre lang Werks. Köln 2013, 190–264.
Loetscher, Hugo: Frank V. – Oper einer Privatbank. In:
seine Krebsdiagnose verschwiegen, aus Angst, er kön- Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. Essays
ne unter Narkose delikate Bankdetails preisgeben. und Zeugnisse von Gottfried Benn bis Saul Bellow. Zürich
Den Tod vor Augen gelangt Böckmann zur Einsicht 1980, 130–138.
der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstbestimmt- Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie
heit des Menschen: »In jeder Stunde hätten wir um- des Fremden. Frankfurt a. M. 2006.
kehren können, in jedem Augenblick unseres bösen Moritz Wagner
Lebens. [...] Wir waren frei, falscher Priester, in Frei-
25  Die Physiker 101

25 Die Physiker und darin »literarisch gültige[...]« Version seines Tex-


tes ab (8).
»Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie Handlungsschauplatz ist das private »Sanatori-
ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat« um[...] ›Les Cerisiers‹«, lakonisch auch als »Irren-
(WA 7, 91). Dieses Diktum findet sich in Dürrenmatts haus[...]« bezeichnet (11). Es befindet sich in der he-
Kommentar zur Komödie Die Physiker, die mit Der runtergekommenen Villa der einst mächtigen Familie
Besuch der alten Dame zu seinen bekanntesten und von Zahnd, »deren letzter nennenswerter Sproß« die
auch populärsten Arbeiten für das Theater gehört. Die »bucklige Jungfer« Mathilde von Zahnd ist, eine be-
Erfolgsgeschichte seiner Komödie in zwei Akten ver- rühmte Ärztin, die sich als Psychiaterin und Gründerin
dankt sich mit der bühnenwirksam in Szene gesetzten der Heilanstalt einen Namen machte (12). In der Villa
Dramaturgie des Zufalls, der Verhandlung brisanter befinden sich derzeit drei Patienten. Es sind dies Her-
Zeitfragen im Modus der Groteske sowie der formalen bert Georg Beutler (genannt Newton), Ernst Heinrich
Anlehnung an die Kriminalkomödie entscheidend Ernesti (genannt Einstein) sowie Johann Wilhelm Mö-
auch dem Zürcher Schauspielhaus. Dürrenmatt ent- bius (vgl. 10). Alle drei sind Physiker oder geben sich
wickelt Die Physiker in enger Zusammenarbeit mit der als solche aus. Die beiden ersten beanspruchen die
renommierten Bühne, die das Werk am 21.2.1962 in Identität zweier Schlüsselfiguren der modernen Phy-
der Regie von Kurt Horwitz uraufführt. Die Auffüh- sik. Möbius hingegen behauptet, dass ihm der biblische
rung wird zum Triumph für alle Beteiligten. Der Er- König Salomo erscheine. Er ist Physiker, verheiratet,
folg ist wechselseitig und verschafft sowohl dem Dra- Vater von drei Buben und bereits seit fünfzehn Jahren
matiker als auch dem Schauspielhaus internationale in der Klinik. Newton und Einstein kamen erst Jahre
Geltung. Während Dürrenmatt von einer Bühne pro- später hinzu. Über ihr Privatleben ist nichts bekannt.
fitiert, deren Ästhetik stilbildend für die Nachkriegs- Der erste Akt beginnt mit der Aufklärung eines
moderne ist und die er treffsicher umzusetzen weiß, Mords. Im Salon der Villa liegt die ermordete Kranken-
sieht sich das Schauspielhaus umgekehrt in seiner schwester Irene Staub. Kriminalinspektor Voß leitet die
epochalen Bedeutung bestätigt. Ermittlungen. Der Täter ist rasch gefunden. Einstein
bekennt sich unumwunden zur Tat. Doch der Fall ist
kompliziert. Es handelt sich bereits um den zweiten
Textfassung, Aufbau und Handlung Mordfall im Sanatorium. Auch das erste Opfer war eine
Krankenschwester, ermordet von Newton. Der Ruf der
Parallel zur Uraufführung veröffentlicht Dürrenmatt Klinik steht auf dem Spiel. Newton und Einstein aber
das Stück im Zürcher Arche Verlag. Mit dem Verleger lassen sich nicht zur Verantwortung ziehen; die Patien-
Peter Schifferli verbindet ihn ebenfalls eine langjähri- ten sind unzurechnungsfähig, wie Mathilde von Zahnd
ge Zusammenarbeit. Die Textfassung ist mit einer resolut betont. Ein unerwarteter Besuch treibt die
ausführlichen Bühnenanweisung versehen, hinzu Handlung voran. Damit kommt Möbius ins Spiel. Lina
kommen die 21 Punkte zu den ›Physikern‹, die bereits Rose, ihre drei Buben und ihr neuer Ehemann, Missio-
im Programmheft abgedruckt waren. Das Buch ist nar Oskar Rose, wollen sich von Möbius verabschieden.
Therese Giehse gewidmet; sie gehört zum legendären Lina ist die seit kurzem geschiedene Frau von Möbius,
Emigrantenensemble und soll Dürrenmatt dazu an- sein »Verrücktsein« kostete sie »bestialische Summen«
geregt haben, die ursprünglich einem Schauspieler (44), deshalb will sie sich jetzt eine neue Existenz auf ei-
zugedachte Hauptrolle für sie umzuschreiben. Sie ner Missionarsstation im Stillen Ozean aufbauen (vgl.
brilliert in der Rolle der grotesk überzeichneten Ir- 32). Ihr Abschied ist rührselig, Möbius wendet sich
renärztin »Fräulein Dr. h. c. Dr. med. Mathilde von brüsk ab. Sarkastisch kommentiert er die Weltverbes-
Zahnd« (12) und trägt, wie schon sechs Jahre zuvor serungspläne des Missionars und verflucht ihn, weil er
als Claire Zachanassian in Der Besuch der alten Da- König Salomo, den »Psalmendichter«, beleidigt hätte.
me, entscheidend zur begeistert aufgenommenen Ur- Möbius behauptet, »Salomo von Angesicht zu Ange-
aufführung bei. Als Dürrenmatt Die Physiker 1980 in sicht« zu kennen, längst habe der »arme König der
seine Diogenes-Werkausgabe aufnimmt, überarbei- Wahrheit« abgedankt, sitze nun »nackt und stinkend«
tet er den Text geringfügig. Auf diese Fassung stützen in seinem Zimmer, seine Psalmen hätten ihren Zauber
sich die vorliegenden Ausführungen. Dürrenmatt er- verloren und seien bloß noch »schrecklich« (40). Im
klärt die Neufassung für verbindlich; sie bilde nicht »Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen«, ent-
die »theatergerechte[...]«, sondern die »dichterische« wirft er das Schreckszenario eines radioaktiv verseuch-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_25
102 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

ten und zerstörten Universums (41 f.). Geschockt reist Verbrennung der Manuskripte ist auch das begehrte
die Missionarsfamilie ab. Möbius indes erklärt, aus »hu- Objekt vernichtet. Die Physiker beschließen, im Irren-
mane[n]« Gründen gehandelt zu haben. Mit seinem haus zu bleiben. »Nur im Irrenhaus sind wir noch frei.
»wahnsinnigen Betragen«, so gegenüber Schwester Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Frei-
Monika, habe er der Familie den Abschied erleichtert. heit sind unsere Gedanken Sprengstoff« (75). Eine
Sie könne jetzt einen »Schlußstrich« ziehen und ihn Freiheit außerhalb der Klinik ist jedoch allein schon
»mit gutem Gewissen vergessen« (44). Ein Happy End deshalb nicht denkbar, weil sie gemordet haben. Das
scheint sich abzuzeichnen. Schwester Monika gesteht Irrenhaus wäre insofern nur gegen das Gefängnis zu
ihm ihre Liebe, sie halte ihn nicht für verrückt und habe tauschen. Die Situation ist paradox: »Verwandeln wir
bereits ein Leben außerhalb der Anstalt organisiert. uns wieder in Verrückte«, lautet die Devise, wir sind
Möbius drängt sie, ihre Pläne aufzugeben. Einstein »[v]errückt, aber weise«, »[g]efangen, aber frei«, »Phy-
kommt hinzu und warnt ebenfalls. Auch Schwester Ire- siker, aber unschuldig« (77).
ne wollte mit ihm ausbrechen, da habe er sie »erdros- Das Stück könnte hier zu Ende sein. Doch abermals
selt«, denn es »gibt nichts Unsinnigeres auf der Welt als kommt es zu einer irrwitzigen Verkehrung der Situati-
die Raserei, mit der sich die Weiber aufopfern« (48). Un- on. Die Irrenärztin tritt auf die Szene. Und mit ihr
versehens reißt Möbius den Vorhang herunter und wie- nimmt die Geschichte ihre schlimmstmögliche Wen-
derholt Einsteins Tat. Er ermordet Schwester Monika. dung: Sie hat das Gespräch ihrer Patienten abgehört
Der zweite Akt präsentiert sich als Wiederholung und Möbius’ Schriften längst kopiert. Sein Wissen ist
und groteske Zuspitzung des ersten Akts: Im Salon nicht mehr aus der Welt zu schaffen: »Was einmal ge-
liegt jetzt die ermordete Krankenschwester Monika dacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen wer-
Stettler. Erneut ermittelt Kriminalinspektor Voß. Im den« (85). Die Weltformel diente Mathilde von Zahnd
Fortgang der Handlung stellt sich heraus, dass Newton, zum Aufbau eines wirtschaftlichen Imperiums, als dä-
Einstein und Möbius alle aus demselben Grund zu monische Göttin in Weiß übernimmt sie die »Welt-
Mördern wurden. Sie wollten ihre im Irrenhaus an- herrschaft« (82). Die Irre triumphiert. Und die ver-
genommene Identität nicht preisgeben. Die drei meintlich Irren ergeben sich in ihr Schicksal als Mör-
Schwestern sind ihren Patienten auf die Spur gekom- der und Verrückte.
men und mussten deshalb beseitigt werden. Doch was
treibt die Insassen an? Was hält sie im Irrenhaus? Für
das Publikum klärt sich diese Frage in einer Szene, die Thema
ausschließlich unter den Physikern spielt. Möbius hat
als genialer Physiker das »Problem der Gravitation« Im Mittelpunkt der Physiker steht die Frage nach der
gelöst, die sogenannte »Weltformel« entdeckt und das Verantwortung der Wissenschaft im Zeitalter der ato-
»System aller möglichen Erfindungen« aufgestellt; die maren Bedrohung. Die Frage ist brisant. Kann es der
Auswirkungen seiner Forschung wären indes »verhee- Forschung gleichgültig sein, was mit ihren Erkennt-
rend« (69). Denn was die Menschheit technisch voran- nissen passiert? Ist sie gemäß ihrem eigenen Ethos tat-
bringen kann, enthält auch das Potential zu ihrer Ver- sächlich zweckfrei? Oder unterliegt sie nicht vielmehr
nichtung. Diese Erkenntnis treibt ihn ins Irrenhaus. Er institutionellen Vorgaben, die diesen Anspruch hin-
zieht sich die »Narrenkappe« (74) an und versteckt tertreiben und sie machtpolitischen Interessen unter-
sich mit seinem Wissen an einem scheinbar sicheren werfen? Im Kontext des Kalten Kriegs beziehen sich
Ort. Die Geheimdienste zweier Großmächte machen solche Überlegungen spezifisch auf das Wettrüsten
ihn jedoch ausfindig. Newton alias Beutler entpuppt der beiden Großmächte UdSSR und USA. Die wech-
sich jetzt als Alex Jasper Kilton; er ist tatsächlich Physi- selseitig praktizierte nukleare Abschreckung etabliert
ker und Agent einer der beiden Großmächte. Dasselbe ein Gleichgewicht des Schreckens, das der Friedens-
gilt für Einstein alias Ernesti; auch er ist Physiker, heißt sicherung dienen soll. Doch die Atombombe – als an-
Joseph Eisler und arbeitet für die Gegenseite. Als Mö- gebliches Mittel zur Sicherung des Weltfriedens –
bius bekennt, seine Manuskripte nach dem Mord an wird im Wettrüsten der beiden Großmächte zur glo-
Monika Stettler verbrannt zu haben, entspannt sich ein balen Bedrohung. Die USA und die UdSSR treiben ei-
Disput über Freiheit und Verantwortung der Wissen- ne Forschung voran, die in sich das Potential zur
schaft, über machtpolitische Interessen und das Risiko, Auslöschung der Menschheit enthält.
ein Waffenarsenal aufzubauen, das zuletzt den »Unter- Dürrenmatt exponiert solche Kippeffekte. Seine
gang der Menschheit« (73) herbeiführen kann. Mit der Dramaturgie, die auf die schlimmstmögliche Wendung
25  Die Physiker 103

zielt, ist daraufhin angelegt. Nicht die Ereignisgeschich- unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische
te interessiert in dieser Konstruktion. Die Figuren re- Form bei« (WA 7, 12). Verwiesen ist damit auf die dia-
präsentieren keine historischen Personen, sondern bil- lektische Verschränkung von Ordnung und Chaos,
den konfliktreiche Konstellationen im Spannungsfeld Kalkül und Zufall, die leitmotivisch das ganze Stück
von Wissenschaft und Macht ab. Am Ende steht die apo- durchzieht. Die einleitende Bühnenanweisung liefert
kalyptische Vision einer »sinnlos« im entleerten Uni- eine detaillierte Schilderung des Schauplatzes. Das
versum kreisenden »radioaktive[n] Erde« (87). Dürren- Stück spielt ausnahmslos im »Salon« jener »verlotter-
matt selbst erklärte, die Idee zu Die Physiker sei ihm im ten Villa des »privaten Sanatoriums ›Les Cerisiers‹«
Spätsommer 1959 während eines Kuraufenthalts im (11). Die Anspielung auf Anton Tschechows Der
Unterengadin gekommen (WA 29, 35–37). Der Stoff in- Kirschgarten. Eine Komödie in vier Akten (1904) ist
des beschäftigte ihn schon länger. Die Faszination für offensichtlich. Die Physiker sind entsprechend im
Astrophysik, Kosmologie und apokalyptische Szena- Kontext der modernen gesellschaftskritischen Komö-
rien dokumentiert sich nicht zuletzt in Dürrenmatts die situiert. Spiegelt Tschechow den Untergang einer
bildkünstlerischem Werk. Hinzu kommt das breite In- überlebten Gesellschaft in der Auflösung einer russi-
teresse an philosophischen, wissenschaftlichen und schen Gutsbesitzerfamilie, so überträgt Dürrenmatt
auch populärwissenschaftlichen Abhandlungen zur diese Endzeitsituation modellhaft in die eigene Ge-
Kernphysik (vgl. Weber 2020, 392 f.). Speziell hervorzu- genwart. Unter dem Stichwort »[n]ähere Umgebung«
heben ist Robert Jungks Bestseller Heller als tausend entwirft er eine Szenerie, die in ihrer vordergründigen
Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher (1956). Dürren- Idyllik das Bild schierer Trostlosigkeit abgibt. Abbild-
matts Rezension des Buches erschien im Dezember glei- bar auf der Bühne sind diese Anweisungen nicht, bloß
chen Jahres in der Schweizer Zeitschrift Die Weltwoche der »Genauigkeit zuliebe« sei das »Örtliche« beschrie-
(vgl. WA 34, 20–24). Wesentliche Überlegungen, die in ben (WA 7, 11). Interieur und Ausstattung des Salons
Die Physiker eingehen, sind hier bereits ausformuliert. rücken jetzt in den Fokus. Im Salon hinten führen drei
Sie betreffen namentlich die Verantwortung der Wis- Türen in die Patientenzimmer, eine Flügeltür links auf
senschaft gegenüber Politik und Gesellschaft sowie Fra- die Terrasse, von rechts betreten Personal und Besu-
gen des Machtmissbrauchs durch korrupte Eliten. cher den Salon. Sämtliche Auftritte sind in diesem
Mit der Verortung des Geschehens in einem Irren- Raum angesiedelt. Mit dem Ort ist auch die Einheit
haus, das sich zuletzt als Gefängnis entpuppt, unter- von Zeit und Handlung gewährt. Die gespielte Zeit
streicht Dürrenmatt den modellhaften Charakter der deckt sich praktisch mit der Handlung, die ihrerseits
Handlung. Das Irrenhaus fungiert als Metapher für stringent komponiert ist. In einem entscheidenden
die verkehrte Welt. Die scheinbar festgefügten Gren- Punkt aber weicht diese von der herkömmlichen Dra-
zen zwischen Vernunft und Wahn lösen sich auf, die maturgie ab. In ihrem zweigeteilten Aufbau (der Un-
angestrebte Freiheit verkehrt sich in ihr Gegenteil. Die tertitel Eine Komödie in zwei Akten hebt diesen Um-
Geschichte der Physiker wird dadurch auf eine über- stand hervor) folgt sie nicht dem klassischen Prinzip
zeitliche Perspektive hin geöffnet. Was sich in der Ge- der Peripetie, sondern der Logik einer Anhäufung von
genwart des Kalten Kriegs ereignet, verweist ins- Katastrophen. Die Peripetie ist durch die permanente
gesamt auf eine aus den Fugen geratene Welt. Diese Abfolge schlimmstmöglicher Wendungen ersetzt, wo-
Denkfigur ist in Dürrenmatts Werk vielfach präsent. mit letztlich auch offen bleibt, ob die Komödie am
Sie erfährt wiederholte Bearbeitung, prominent aus- Schluss wirklich an ihr Ende kommt.
formuliert zuletzt in der Rede Die Schweiz – ein Ge- Die Handlung selbst beginnt als Kriminalgeschich-
fängnis (vgl. WA 36, 175–188), gehalten anlässlich der te. Dürrenmatt nimmt das zuvor in den Prosaschriften
Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav erfolgreich erprobte Genre auf und überträgt dieses
Havel am 22.11.1990 in Zürich, Dürrenmatts letztem auf die Bühne. Gleichzeitig arbeitet er mit Elementen
öffentlichem Auftritt in der Schweiz. der Verwechslungskomödie und lässt auch das popu-
läre Heimatschutztheater anklingen (1914 anlässlich
der Landesausstellung in Bern vom Sprachwissen-
Formale Aspekte schaftler Otto von Greyerz als Laientheater gegrün-
det). In Kontrast zu den lustspielartigen Sequenzen
Dramaturgisch setzt Dürrenmatt prononciert auf die stehen die zahlreichen Anspielungen auf kanonische
»Einheit von Raum, Zeit und Handlung«. Denn, so Texte der Weltliteratur. Dazu zählen Möbius’ Kontra-
der sarkastische Kommentar, »einer Handlung, die faktur der alttestamentlichen Psalmendichtung sowie
104 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

die vielen Verweise auf die aristotelische Poetik und fremdung arbeitet, findet bei Dürrenmatt und Frisch
Dramen der klassischen Antike in der einleitenden Anklang. Brechts direkter Einfluss wird in der Litera-
Bühnenanweisung sowie in den nachgelagerten 21 turgeschichtsschreibung indes überschätzt. Am
Punkten zu den ›Physikern‹. Mit Sophokles’ Ödipus Schauspielhaus etablierte sich während des Zweiten
(vgl. 92) ist hier namentlich die Urform des analyti- Weltkriegs eine Spielpraxis, die das Interesse an Brecht
schen Dramas aufgerufen. Die Aufdeckung eines dem überhaupt erst ermöglichte (vgl. Amrein 2007, 155–
Bühnengeschehen vorausliegenden Ereignisses be- 162). Dürrenmatt bezieht sich auf diese Praxis, wie
stimmt dessen Handlung. Indem Dürrenmatt Die Phy- entlang seiner Theatertheorie deutlich wird.
siker mit der Aufklärung eines Mords beginnen lässt,
überblendet er raffiniert das der Populärliteratur zu-
zurechnende Genre des Krimis mit der Tragödie, die Theatertheorie und Wirkungsgeschichte
vom tragischen Scheitern der Selbsterkenntnis han-
delt. Gleichzeitig aber sind Die Physiker ausdrücklich Der Genrebezeichnung ›Komödie‹ sind theatertheo-
nicht als Tragödie, sondern als Komödie definiert. Er retische Überlegungen eingeschrieben, die Dürren-
zeige das »Satyrspiel«, das »im Gegensatz zu den Stü- matt seit den 1950er Jahren beschäftigen. Im Zentrum
cken der Alten« bei ihm der Tragödie vorausgehe (14). dieser Überlegungen steht die Frage nach der Dar-
In der genannten Mischung der Stillagen erweisen sich stellbarkeit der Gegenwart. Dürrenmatt distanziert
Die Physiker als hybride und darin bereits auf formaler sich ausdrücklich von einem Verfahren, das »Tendenz
Ebene ins Groteske weisende Konstruktion. oder Reportage« sein will (WA 30, 25). Dagegen setzt
Figurenzeichnung und Sprache unterstreichen das er seine Ästhetik der Distanz (vgl. Amrein 2004, 256–
Komische und Groteske. Es sind Typen und nicht In- 258; Amrein 2007, 150 f. u. 160–162). Exemplarisch
dividuen, die Dürrenmatt auftreten lässt. Auch hier ausformuliert ist diese in den Anmerkungen zur Ko-
zeigt sich seine eminente dramatische Begabung. mödie (1952) sowie in Theaterprobleme (1954).
Sein Schaffen ist inspiriert vom großartigen Ensemble Dürrenmatt rekurriert hier gattungstypologisch
des Zürcher Schauspielhauses. Giehse gibt in der Ur- auf den Gegensatz von Tragödie und Komödie, wobei
aufführung die verrückte Irrenärztin, »[b]ucklig, etwa er letztere ins Groteske ausweitet. Die »Tragödien stel-
fünfundfünfzig, weißer Ärztemantel, Stethoskop« len uns eine Vergangenheit als gegenwärtig vor, [sie]
(24), Kommissar Voß (Fred Tanner) agiert stilgerecht überwinden Distanz, um uns zu erschüttern« (WA 30,
in »Hut und Mantel« (14), Newton (Gustav Knuth) 24). Die Komödie hingegen verfahre umgekehrt. Ihr
präsentiert sich »in einem Kostüm des beginnenden Ziel sei es, die Gegenwart in die Ferne zu rücken und
achtzehnten Jahrhunderts mit Perücke« (18), Ein- sie dadurch erkennbar zu machen. Das Mittel zur
stein (Theo Lingen) müht sich völlig untalentiert am Schaffung von Distanz heißt bei Dürrenmatt »Einfall«
Geigenspiel ab, während Möbius (Hans Christian (61). Der Begriff bezeichnet eine verblüffende Idee,
Blech) das »Pech« hat, dass ihm »der König Salomo meint aber auch eine physisch vernichtende Kraft.
erscheint« (45). Bereits in den 1950er Jahren bringt Dürrenmatt zur
Literaturgeschichtlich betrachtet gelten Die Physi- Veranschaulichung dieser Theorie die Atombombe
ker als herausragendes Beispiel für die Modell- und ins Spiel: »Sichtbar, Gestalt wird die heutige Macht
Parabelstücke der Nachkriegsmoderne. Die For- nur etwa da, wo sie explodiert, in der Atombombe, in
schung verweist in diesem Zusammenhang insbeson- diesem wundervollen Pilz, der da aufsteigt und sich
dere auf den Vorbildcharakter von Bertolt Brecht, des- ausbreitet, makellos wie die Sonne, bei dem Massen-
sen Lehrstücke das Zürcher Schauspielhaus zeigte, mord und Schönheit eins werden« (60). Und er fährt
1941 beginnend mit der Uraufführung von Mutter fort, indem er die »Atombombe« mit den »apokalypti-
Courage und ihre Kinder (vgl. Schröder 1994, 261 u. schen Bilder[n] des Hieronymus Bosch« analogisiert
268 f.). Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen und sie dadurch dem Grotesken zurechnet: »Doch das
Exil nahm Brecht im November 1947 zunächst Wohn- Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinn-
sitz bei Zürich, bevor er im Mai 1949 nach Ost-Berlin liches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt,
übersiedelte. Während dieser Zeit wurde er sowohl für das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genau so wie
Max Frisch als auch Dürrenmatt zum gleichermaßen unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht
bewunderten wie bekämpften Vorbild. Brechts epi- mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unse-
sches Theater, das sich gegen das sogenannte Illusi- re Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe exis-
onstheater richtet und mit dem Stilmittel der Ver- tiert: aus Furcht vor ihr« (62).
25  Die Physiker 105

Die Physiker liefern Jahre später das Exempel dazu. u. 49). Die künstlerische und intellektuelle Ausrich-
Gleichzeitig nimmt Dürrenmatt seine theatertheore­ tung der Pfauenbühne war wesentlich geprägt von
tischen Überlegungen auf und verdichtet diese in den Kurt Hirschfeld. 1933 als jüdischer Emigrant nach Zü-
21 Punkten zu den ›Physikern‹ gleichsam zu einem rich gekommen, arbeitete er zunächst als Dramaturg
Manifest. Als Dramatiker interessiere ihn nicht eine und Regisseur und übernahm 1961 die Direktion.
»These«, sondern eine »Geschichte«. Unausgespro- Hirschfeld förderte sowohl die Bühnenkarrieren von
chen distanziert er sich damit auch von den Lehrstü- Frisch als auch Dürrenmatt (vgl. Amrein 2013, 13–15
cken Brechts sowie der zur Tendenz erklärten Doku- u. 82–84). Die Zusammenarbeit erreichte in der Spiel-
mentarliteratur. Eine Geschichte wiederum funktio- zeit 1961/62 ihren Höhepunkt. Klug kalkulierend
niere nur, wenn sie zu »Ende gedacht« werde. Dieser setzte Hirschfeld in seiner ersten Saison nacheinander
Punkt sei erreicht, »wenn sie ihre schlimmstmögliche die Uraufführungen von Frischs Andorra und Dür-
Wendung genommen hat« (WA 7, 91). Kalkulierbar renmatts Die Physiker an. Er konnte damit einen sen-
ist dieses Ereignis nicht. Es tritt durch »Zufall« ein sationellen Erfolg verbuchen. Die Dramatiker festig-
und trifft jene »am schlimmsten«, die »[p]lanmäßig« ten ihren Weltruhm, während das Schauspielhaus
vorgehen. Sophokles’ Ödipus kann exemplarisch da- noch einmal ins Scheinwerferlicht der internationalen
für einstehen. Die Gegenläufigkeit von Plan und Zu- Theateröffentlichkeit rückte.
fall sei »grotesk«, nicht aber »sinnwidrig«, sondern ei- Die doppelte Uraufführung steigerte das Interesse
gentlich »paradox«, da sie mit Logik allein nicht zu an beiden Autoren und potenzierte die Wirkung zwei-
bewältigen wäre. Daraus schließt Dürrenmatt: »Ein er Werke, die sich inhaltlich und formal überraschend
Drama über die Physiker muß paradox sein«. Es darf nahe stehen. Während Frisch mit Andorra zum Zeit-
nicht den »Inhalt der Physik zum Ziele haben, son- punkt des international beobachteten Eichmann-Pro-
dern nur ihre Auswirkung« (92). Diese betrifft die zesses in Jerusalem den Antisemitismus auf die Bühne
ganze Menschheit, weshalb jeder »Versuch eines Ein- bringt, rekurriert Dürrenmatt auf die nicht minder
zelnen«, die dadurch entstehenden Probleme zu lö- präsente Debatte über die Atombombe. Die Bezug-
sen, zwingend zum Scheitern verurteilt ist. Das Fazit: nahme auf die zeitgenössische Aktualität in der Ge-
»Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit«, und um- schichte und Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs
gekehrt lasse sich daraus folgern: »Wer dem Parado- verleiht den Stücken Brisanz, sie erfolgt indes nicht im
xen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus«. Modus einer dokumentarischen Abbildästhetik, son-
Die Aufgabe des Dramatikers mithin bestehe darin, dern zielt auf überzeitliche Gültigkeit.
den Zuschauer dieser »Wirklichkeit auszusetzen«, Dürrenmatts Reflexion auf die Naturwissenschaf-
ohne ihn aber zu »zwingen, ihr standzuhalten oder sie ten in ihrer Verantwortung gegenüber der Gesell-
gar zu bewältigen« (93). Um eine lehrhafte Sentenz als schaft steht darüber hinaus im Dialog mit Zeitstücken,
Legitimation seines Schaffens kommt damit auch die in Zürich als Uraufführungen oder schweizerische
Dürrenmatt nicht herum. Erstaufführungen schon früh auf die Bühne kamen.
Dürrenmatts Theatertheorie verdankt sich in vie- Dazu zählen Brechts Leben des Galilei (1943) sowie
lem der Zusammenarbeit mit dem Zürcher Schau- Carl Zuckmayers Das kalte Licht (1955). Auf Dürren-
spielhaus, das nach 1933 zur wichtigsten deutschspra- matts Die Physiker folgte 1965 mit Heinar Kipphardts
chigen Exilbühne aufstieg. Während des Zweiten In der Sache J. Robert Oppenheimer die Inszenierung
Weltkriegs etablierte sich eine am Humanitätsideal des wohl umstrittensten Stücks über den Erfinder der
der deutschen Klassik orientierte Spielpraxis. Auf der Atombombe und dessen Verurteilung wegen illoyalen
Bühne sollte die Gegenposition zu einem Regime Verhaltens gegenüber der US-amerikanischen Regie-
sichtbar sein, das im Begriff war, die Grundwerte der rung. Auf diesen Prozess bezog sich bereits Zuckmay-
Zivilisation und jegliche Form von Humanität aus- er. Auch Jungk referierte den Fall in der oben genann-
zulöschen. Gezeigt wurden neben Klassikern auch ten Geschichte der Atomforschung. Kipphardt nun
zeitgenössische Werke, sofern sie modellhaft und pa- arbeitet mit den Mitteln des Dokumentartheaters, er
rabelhaft arbeiteten (vgl. Amrein 2007, 157–162). stützt sich auf Quellenmaterialien und historisch ver-
Auch Brecht passte mit seinem epischen Theater per- bürgte Fakten. Das Schauspielhaus zeigte sein auf-
fekt in diese Konzeption. Als Referenzstück indes galt sehenerregendes Werk als Konzession an die aktuelle
Thornton Wilders Unsere kleine Stadt, 1939 in Zürich Debatte, äußerte indes große Vorbehalte gegenüber
als deutschsprachige Erstaufführung gezeigt, auf das der Form des szenischen Berichts, wie Kipphardt sein
sich auch Dürrenmatt explizit bezieht (vgl. WA 30, 44 Stück im Untertitel nannte.
106 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

Dürrenmatts Komödie verfährt hier radikal an- ›Heller als tausend Sonnen‹. Zu einem Buch von Robert
ders. Die Präferenzen sind in der normativen Ästhe- Jungk. In: WA 34, 20–24.
tik des Schauspielhauses eindeutig und werden über Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72.
Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29.
Zürich hinaus geteilt. Seine Favoritenrolle ist unbe- Gottwald, Benjamin: Die Physiker. Eine Graphic Novel.
stritten. Damit ist ein wichtiger Faktor in der Erfolgs- Frankfurt a. M., Wien, Zürich 2018.
geschichte der Physiker benannt. Hinzu kommt, dass
das parabelhafte Stück in seinem überzeitlichen An- Sekundärliteratur
spruch auf vielfältige Kontexte übertragbar ist. Nach Amrein, Ursula: Das Groteske als Existenzchiffre der
Moderne. In: Das Groteske – Le grotesque – The grotes-
der Uraufführung in Zürich gehörten Die Physiker zu
que. Colloquium Helveticum 35 (2004), 243–266.
den meistgespielten Stücken auf den deutschsprachi- Amrein, Ursula: Ästhetik der Distanz. Klassik und Moderne
gen Bühnen, sie avancierten zum Welterfolg und in der Dramaturgie von Max Frisch und Friedrich Dür-
wurden auch verfilmt (WA 7, 94 f.; vgl. Probst/Zim- renmatt. In: Dies.: Phantasma Moderne. Die literarische
merli 2001). Die wissenschaftliche Auseinanderset- Schweiz 1880 bis 1950. Zürich 2007, 149–166.
zung mit dem Stück erfolgt primär in Zusammen- Amrein, Ursula: irritation | theater. Max Frisch und das
Schauspielhaus Zürich. Zürich 2013.
hang mit Dürrenmatts dramatischem Schaffen ins- Schröder, Jürgen: Das Jahrzehnt Frischs und Dürrenmatts.
gesamt. Themenschwerpunkte bilden Fragen zur Parabeltheater aus der Schweizer Loge. In: Wilfried Bar-
Textgenese, zur Verortung in der Nachkriegszeit so- ner u. a. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von
wie zur Entwicklung der Atomphysik. Hinzu kom- 1945 bis zur Gegenwart. München 1994, 260–269.
men Überlegungen zur Intertextualität (spezifisch die Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker
[1979]. 11. Aufl. Frankfurt a. M. 1999.
Beschäftigung mit Brecht) sowie zur Komödientheo-
Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Apokalypti-
rie. Bis heute gehört die Komödie zum schulischen sches Narrenspiel. In: Interpretationen. Dramen des
Lektürekanon (Payrhuber 2019). Am Schauspielhaus 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, Bd. 2, 109–125.
Zürich waren Die Physiker zuletzt 2013 in der Insze- Payrhuber, Franz-Josef: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker.
nierung von Herbert Fritsch zu sehen. Dietzingen 2019.
Profitlich, Ulrich (Hg.): Komödientheorie. Texte und Kom-
Literatur mentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek bei
Primärtexte Hamburg 1998.
21 Punkte zu den ›Physikern‹. In: WA 7, 91–93. Probst, Rudolf/Zimmerli, Beat: Friedrich Dürrenmatt: Die
Anmerkungen zur Komödie. In: WA 30, 20–25. Physiker. Multimediale Dokumentation zum Text, zur
Die Physiker. Komödie in 2 Akten. Zürich 1962. Entstehung und zur Wirkungsgeschichte. Bern 2001.
Die Physiker. WA 7, 9–87. Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Gedenkrede auf Kurt Hirschfeld. In: WA 30, 121–123. Zürich 2020.

Ursula Amrein
26  Herkules und der Stall des Augias 107

26 Herkules und der Stall des Augias annimmt, sich zur Tilgung der Schulden als Hetäre zu
prostituieren (vgl. WA 8, 22 f. u. 52). Anders als im My-
Entstehungs-, Publikations- und Auf- thos ist es dabei weniger die physische Unmöglichkeit
führungsgeschichte der Aufgabe (dort müssen die gigantischen Ställe be-
kanntlich binnen eines Tages ausgemistet werden), die
Herkules und der Stall des Augias existiert in mehreren in der Adaption Dürrenmatts das zentrale Motiv aus-
Varianten. Ein Entwurf zum Hörspiel (Erstabdruck im macht, als vielmehr Herkules’ Scheitern an der elischen
Programmheft der Uraufführung, Wiederabdruck in Bürokratie. Die dem Mythos entstammende Umset-
WA 8, 175–178) entstand 1953, das Hörspiel selbst zung des Plans, die Flüsse Alpheios und Peneios zu
dann 1954. Noch im gleichen Jahr wurde dieses vom stauen, um den Mist ins Meer zu spülen (vgl. 59), be-
Nordwestdeutschen Rundfunk erstmals gesendet (R.: darf zunächst der »Genehmigung des Wasseramtes«
Gert Westphal), am 20.10. von Radio Bern übernom- (64), dann der Bewilligungen des Fremden- und Ar-
men und vom Zürcher Arche Verlag [m]it Randnoti- beits-, des Tiefbau,- des Finanz-, ja selbst des Mistamts
zen eines Kugelschreibers erstmals verlegt; eine Neu- (vgl. 71). Was das Drama strukturell wie inhaltlich aus-
ausgabe folgte 1960 im gleichen Verlag. 1957 brachte zeichnet, ist ein Moment des Ver- und Aufschiebens:
die Deutsche Grammophon Gesellschaft eine von strukturell insofern, als dass drei Bilder verstreichen,
Dürrenmatt mit einer Kurzfassung des Hörspiels be- bevor Herkules überhaupt in Elis eintrifft, und die Ein-
sprochene Schallplatte heraus. Die Bühnenfassung des heit der Zeit durch Anachronismen aufgebrochen wird
Stücks wiederum entstand 1962. Ihre überwiegend (bereits im fünften Bild wird der Tod des Herkules in-
negativ aufgenommene Uraufführung erlebte sie am szeniert); inhaltlich in Form eben jener Verkettung bü-
20.4.1963 am Zürcher Schauspielhaus (R.: Leonard rokratischer Vorgaben. Die Herkulestat wandelt sich so
Steckel). Die Kritiken veranlassten den Autor, den in einen »Mythos des Scheiterns des Einzelkämpfers
Text zunächst für die gleiche Inszenierung, anschlie- an den strukturellen Missständen« (Weber 2006, 104):
ßend auch für die Buchausgabe mit dem Untertitel Seiner Heldenrolle überdrüssig (vgl. WA 8, 49), selbst
Eine Komödie in 15 Bildern zu überarbeiten, die 1963 seiner Geliebten ratend, Phyleus, den Sohn des Augias’,
in zwei Versionen im Arche Verlag erschien: einerseits an seiner statt zu heiraten (vgl. 81), reist der Heros zu-
mit Zeichnungen Dürrenmatts versehen und auf dem letzt unverrichteter Dinge ab, um sich den stympha-
Umschlag als Festspiel untertitelt, andererseits im lischen Vögeln zu widmen (vgl. 111). Der mythologi-
Sammelband Komödien II und Frühe Stücke erweitert sche Augiasstall wird lesbar als metaphorischer Au-
um den abschließenden Chor der Parlamentarier. Die giasstall der Politik, als das »Gesichtslose, Unüber-
Bühnenfassung wurde selten gespielt; Erstaufführun- schaubare moderner Macht- und Finanzstrukturen«
gen fanden 1963 in Plzni (R.: Jan Fisner), 1966 in (Weber 2006, 104), als Bürokratie einer Politik, die in
Dortmund (R.: Rolf Schneider), 1967 in Vincennes ihrer »Nabelschau« das Totalversagen des Staates zeigt
bei Paris (R.: Patrick Antoine) und 1972 in London (Tegelkamp 2013, 32). Bezeichnend, dass Elis demo-
(R.: Frederick Proud) statt. 1980 erschien die Komö- kratisch organisiert, König Augias eigentlich nur Parla-
die in der WA in ihrer »Endfassung«, ihrer »literarisch mentspräsident ist (vgl. WA 8, 28); dass der Große Na-
gültigen« Form (8). Diese wurde am 2.5.1991 in ge- tionale Rat sich als unfähig erweist, das beschlossene
kürzter Version anlässlich der 700-Jahr-Feierlichkei- Ausmisten auch umsetzen zu lassen – allein im zwölf-
ten der Schweiz durch Lukas Leuenberger im Natio- ten Bild verhandelt er die Bildung einer ›Kommission‹,
nalratssaal des Bundeshauses in Bern inszeniert und einer ›Gegenkommission‹ und einer ›Zwischenkom-
live im Schweizer Fernsehen übertragen. mission‹, um die kulturellen, wirtschaftlichen und mi-
litärischen Folgen des Ausmistens zu prüfen (vgl. 92–
98) –; dass schließlich die Statue der Eleutheria, der
Inhalt und Analyse Göttin der Freiheit, gemäß den Regieanweisungen zum
Bühnenbild »während der Handlung allmählich ver-
Bereits der Titel des Dramas verweist auf die parodierte sinkt« (11).
oder travestierte (vgl. Steinberger 1991, 48) mythologi- Ist in der Hörspielfassung noch ein positiver Aus-
sche Folie: die fünfte der zwölf Herkulesarbeiten des gang für Elis angedeutet – der Mist wird zu Humus,
Dodekathlos. Zweifellos eine ehrlose Aufgabe, die der auf dem ein Garten entsteht, der künftig wohl von
Herkules des Stücks auch nur aufgrund seiner Insol- Phyleus bewirtschaftet werden wird (vgl. WA 8, 225 f.)
venz und der Androhung seiner Geliebten Deianeira –, verweist die Bühnenfassung eher auf einen kata-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_26
108 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

strophalen Ausgang. Zwar gibt es den Garten, doch nerationen hinweg« (Große 1998, 118) noch möglich
wird Phyleus Deianeira, die ihn am Traualtar stehen sein könnten: »Die Chance«, so Dürrenmatt in Vom
lässt (vgl. ebd., 111), nachreisen, Herkules herausfor- Sinn der Dichtung in unserer Zeit, »liegt allein noch
dern und im Zweikampf sterben (vgl. 38 u. 116). beim Einzelnen« (WA 32, 67; vgl. Schu 2008, 137).
Sind die abweichenden Enden von Hörspiel- und
Bühnenfassung das Resultat von Dürrenmatts Be-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung obachtung, dass sich die Welt in den die Textvarianten
trennenden Jahren nicht geändert hat (vgl. Whitton
Die angedeutete politische Dimension des Dramas ist 1990, 127)? Das muss hier unentschieden bleiben.
– ungeachtet bestehender Unklarheiten, wofür der
Mist tatsächlich steht (vgl. Arnold 1986, 81; Knapp Literatur
Primärtexte
1993, 98) – alsbald von der Forschung erkannt und bis Herkules und der Stall des Augias [Hörspiel]. Mit Randnoti-
in die jüngste Zeit betont worden: Es handle sich um zen eines Kugelschreibers. Zürich 1954.
ein »sehr schweizerisches Stück« (Brock-Sulzer 1971, Herkules und der Stall des Augias. Eine Komödie. Zürich
35), ein »Stück über die Schweiz bzw. die Schweizer« 1963.
(Große 1998, 113; vgl. Whitton 1990, 67), um eine Herkules und der Stall des Augias. Eine Komödie. Neufas-
sung 1980. In: WA 8, 9–117.
»ironische Kritik an den Mängeln des politischen Sys-
[Gespräch mit] Andreas Conrad [1983]. In: G 3, 168–194.
tems der Schweiz und verwandter direkter und par-
lamentarischer Demokratien« (Weber 2006, 104; vgl. Sekundärliteratur
Knapp 1993, 97). Tatsächlich lässt sich das 1963 iro- Arnold, Armin: Friedrich Dürrenmatt [1969]. Berlin 1986.
nisch als Festspiel untertitelte Stück in die Schweizer Brock-Sulzer, Elisabeth: Dürrenmatt in unserer Zeit. Eine
Tradition des Volkstheaters und der theatralischen Werkinterpretation nach Selbstzeugnissen. Basel 1968.
Große, Wilhelm: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1998.
Selbstdarstellung des Landes einreihen, die ihren Hö-
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
hepunkt in der ›Geistigen Landesverteidigung‹ wäh- Weimar 1993.
rend der NS-Zeit erreichte: ein Anti-Festspiel gewis- Schu, Sabine: »Das Prinzip Hoffnung als denkfaule Schlam-
sermaßen. Ist das Stück Ausdruck einer »kulturpessi- perei«? Das Aufscheinen utopischer Tendenzen in Dür-
mistische[n] Einstellung« (Usmiani 1976, 132)? Nicht renmatts Hörspielen Herkules und der Stall des Augias und
unbedingt. Wie Dürrenmatt bekannt hat, ist der Mist Das Unternehmen der Wega. In: Zeitschrift für Literatur-
wissenschaft und Linguistik 38 (2008), 150, 131–144.
auch ein »Fruchtbarkeitssymbol« (G 3, 181). Und ge- Steinberger, Martina: Das Antike-Bild Friedrich Dürren-
wiss ist Herkules »Sinnbild eines unzeitgemäßen He- matts. Unv. Diss. Universität Salzburg 1991.
roentums« (Weber 2006, 104) und Augias kein »Revo- Tegelkamp, Martin W. J.: Recht und Gerechtigkeit in Dür-
lutionär« (WA 8, 72), der eine blitzartige Veränderung renmatts Dramen und Prosa. Baden-Baden 2013.
bewirken könnte; Letzterem aber scheint es zu gelin- Usmiani, Renate: Die Hörspiele Friedrich Dürrenmatts.
Unerkannte Meisterwerke. In: Gerhard P. Knapp (Hg.):
gen, »im kleinen das beste« zu leisten (Arnold 1986,
Friedrich Dürrenmatt. Studien zu seinem Werk. Heidel-
81): Sein Garten wird – ähnlich demjenigen aus Vol- berg 1976.
taires Candide – zum Zeichen der Selbstbescheidung, Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
der Absage an hochtrabende Ideologien und politische Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
Würfe (vgl. Große 1998, 118), zum Verweis auf die Whitton, Kenneth S.: Dürrenmatt. Reinterpretation in
»kleinen, hoffnungsvollen und aussichtsreichen Ver- Retrospect. New York, Oxford, München 1990.
änderungen« (Schu 2008, 137), die allenfalls »über Ge- Benjamin Thimm
27  Der Meteor 109

27 Der Meteor richtet sich Schwitter im Bett auf und ruft nach seiner
wiederholten Auferstehung verzweifelt und bevor die
Entstehungs-, Publikations- und Auf- Posaune der Heilsarmee zur letzten Strophe des Lie-
führungsgeschichte des Morgenglanz der Ewigkeit ansetzt: »Wann krepiere
ich denn endlich!« (WA 9, 165). In der zweiten Fas-
Die Idee dieser Komödie in zwei Akten beschäftigte sung erwürgt Schwitter vor seinem Verzweiflungsruf
Dürrenmatt seit den späten 1950er Jahren. Am den Heilsarmeemajor Friedli, bleibt aber nicht liegen
30.12.1963 schrieb er: »Ich werde ein neues Stück und läuft hinaus (vgl. ebd., 95). Dürrenmatts Kom-
schreiben. Das Thema: der Tod« (WA 9, 159). Im Mit- mentar auf die Frage, ob das nicht gerade der entschei-
telpunkt stehe ein sterbender Mensch von heute. Das dende Punkt sei: »Sein Fortrennen ist der Lauf in die
Bewusstsein des nahen Todes verleihe ihm eine un- Welt, in das Leben hinein. Allein dieses Hinauslaufen
geheure Kraft, sein Individualismus übersteigere sich, kennzeichnet die Neufassung, gegenüber der stati-
und jede gesellschaftliche Bindung falle dahin. Nihi- schen Lösung der Unbeweglichkeit in Zürich« (SLA-
lismus sei, wie er zeigen wolle, keine Lehre, sondern FD-D-11-MET-08, 24).
eine Haltung des Menschen. Der Meteor heiße das
Stück. Am 20.1.1966 wurde es am Zürcher Schauspiel-
haus unter der Regie Leopold Lindtbergs mit Leonard Inhalt und Analyse
Steckel in der Rolle Wolfgang Schwitters – des Ster-
benden – uraufgeführt. Eine erste, Steckel gewidmete, Die Hauptperson des Stücks – der frühere Maler und
leicht überarbeitete Druckfassung erschien 1966 im nun Literatur-Nobelpreisträger Schwitter –, kommt,
Arche Verlag. Es folgten u. a. Aufführungen in Ham- während am Radio sein Tod mitgeteilt wird, in sein
burg, München, London und Warschau (1966), Tel früheres Atelier zurück, das nun von dem wenig talen-
Aviv (1967) und Philadelphia (1969). Eine unter der tierten Maler Nyffenschwander und seiner als Modell
Filmregie von Ettore Cella vom Deutschschweizer wirkenden Frau Auguste bewohnt wird. Er übergibt
Fernsehen produzierte Aufzeichnung der Urauffüh- dem Maler seine letzten Manuskripte und sein Ver-
rung wurde am 24.10.1967 erstmals gesendet. Dür- mögen in Tausendernoten und heißt ihn, alles zu ver-
renmatt revidierte den Text der Erstausgabe für seine brennen. Dann legt er sich zum Sterben nieder, erlebt
eigene Inszenierung des Stücks in Wien 1978 (sog. aber immer wieder die von ihm verfluchte Auferste-
›Wiener Ausgabe‹), und zwar vor allem den Schluss. hung. Während er bis zum Schluss überlebt, sterben
Diese zweite Fassung wurde für die Werkausgabe 1980 schließlich alle, die in Schwitters Sterben geraten. Der
nochmals überarbeitet. Pfarrer, der am Sonntag die Auferstehung und das Le-
Für eine öffentliche Diskussion im Schauspielhaus ben predigt, stirbt an Herzversagen, überwältigt vom
Zürich am 25.2.1966 schrieb der Autor Zwanzig Punk- Wunder der Auferstehung Schwitters. Den großen
te zum ›Meteor‹ (WA 9, 159–162), in denen er seine Muheim, den Unternehmer, der sich rühmt, aus Liebe
Idee und sein Verhältnis zur Kritik des Stücks erläu- zu seiner Frau im Konkurrenzkampf der Gemeinste
tert. Dessen Idee sei die Geschichte eines Mannes, der zu sein, weil nur der Gemeinste siege, zerstört die Ei-
auferstehe, an das Wunder seiner Auferstehung aber fersucht: der bloße Verdacht, Schwitter hätte mit sei-
nicht glaube. Er sei ein doppeltes Ärgernis: für die Ei- ner Frau geschlafen. Statt Schwitter tötet er den von
nen als Auferstandener, für die Anderen als nicht Schwitter betrogenen Nyffenschwander und wird als
Glaubender. Deshalb sei er ein paradoxer Mensch – Mörder verhaftet. Nyffenschwander malte unaufhör-
tragisch und komisch zugleich –, aber nicht so, dass lich seine schöne nackte Frau und glaubte, so das Le-
sich das Tragische und das Komische aufheben wür- ben zu malen. Aber er versäumte es, mit seiner Frau zu
den, sondern so, dass sie sich schroff gegenüberstün- leben. Schwitter aber schläft mit ihr und meint: »Ihre
den. Deshalb sei Der Meteor ein »wildes Stück« (160). Frau war tot in Ihren Armen, wie sie tot in Ihren Bil-
Ursprünglich hätte das Christentum an die verheiße- dern ist« (WA 9, 62). Der Arzt, Professor Schlatter, hat
ne Auferstehung im Jüngsten Gericht geglaubt; heute seinerzeit Schwitter für tot erklärt, nun halten ihn die
aber stünde in Frage, ob die Christenheit das wirklich Einen für verblödet, die Andern für von Gott zum
noch glaube. Narren gehalten. Schwitter vermag zwar den Anlass
Im Programmheft der Wiener Aufführung (1978) dafür zu schaffen, dass andere über der Einsicht zu-
beantwortet Dürrenmatt die Frage nach den Verände- sammenbrechen, ihr Leben sei eine Lüge gewesen.
rungen in der zweiten Fassung. In der ersten Fassung Doch auch er selbst unterliegt als Künstler demselben

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_27
110 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

Schicksal: »Vor der ungeheuerlichen Unordnung der ßendste zugleich, unter seinen Stücken »das attraktiv
Dinge kerkerte ich mich in ein Hirngespinst aus Ver- widerwärtigste, lustigste und beste«. Obwohl der Au-
nunft und Logik ein. Ich umstellte mich mit erfunde- tor mit dem Auftritt der Abortfrau Nomsen »die letz-
nen Geschöpfen, weil ich mich mit wirklichen nicht ten Grenzen des geschmacklich Möglichen einzurei-
abgeben konnte, denn die Wirklichkeit ist nicht am ßen« suche, genießt er offensichtlich »Dürrenmatts
Schreibtisch faßbar« (91). Er sagt dies zu seiner Rache an seinen Figuren« und spricht von ›gelungener
Schwiegermutter, der Mutter seiner vierten Frau, der Blasphemie‹. Er lobt trotz jenen, »denen der Jux mit
Abortfrau Nomsen. Sie ist noch radikaler auf das Ge- dem Tode, denen das schwarz grundierte Trubelspiel
schäft fixiert als der große Muheim, der wenigstens mit dem verhinderten Sterben über die Hutschnur des
das Gefühl der Liebe kennt. Sie meint, Gefühle hätte Erträglichen ging«, Steckels »artistische Kraft« (ebd.).
man nicht zu haben, es sei denn, man mache ein Ge- Wie Luft bezeugt Elisabeth Brock-Sulzer in der Tat
schäft mit ihnen. Frau Nomsen hat ihre Tochter Olga vom 23.1.1966 »den Eindruck eines überwältigenden
in diesem Sinn erzogen, als Call-Girl. Doch trotz ihrer Theatergeschehens«. Sie teilt aber dessen Urteil über
Warnungen hätte sie Schwitter geliebt und geheiratet, Dürrenmatts Figuren als Objekte seines Spotts nicht,
und nun hätten sie beide ihr Kind zu beklagen, das sondern betont, dieser habe weder den Pfarrer noch
sich aus Liebe umgebracht hätte. »Wissen sie warum?« die Heilsarmee lächerlich machen wollen. Sie weist
fragt sie Schwitter. »Weil sich Olga Gefühle leistete, auch die Vermutung zurück, der Autor habe sich in
ich warnte sie immer davor, doch einer Mutter Wort der Figur des Nobelpreisträgers Schwitter selbst gese-
schlägt man in den Wind« (89). Schwitter erwidert, er hen, differenziert aber diese These, wenn sie lobt: »Es
wolle sich weder rechtfertigen noch beschuldigen. Er ist, als ob Dürrenmatt in einem verwegenen Balan-
verzichte auf Geschmacklosigkeiten wie Schuld, Süh- ceakt versucht hätte, die Gestalt des um seinen Tod ge-
ne, Gnade, Liebe, »die erhabenen Ausreden und Be- prellten Literaten sich selber gerade soweit anzunä-
gründungen, die der Mensch für seine Ordnungen hern, wie es braucht, um umso stärker den Gegen-
und Raubzüge braucht« (90). Frau Nomsen schweigt stoß« zu führen. Ihr Schluss über den Meteor bleibt
und stirbt. Zuletzt gerät auch Schwitters Sohn Jochen aktuell, wenn sie sagt, wir seien noch lange nicht am
in den Strudel des Todes. Er wurde von Schwitters Ende »mit seinen Rätseln und seinem gefährlichen
Verleger Koppe aufgeklärt, die Bücher seines Vaters Leuchten« (ebd.).
seien aus der Mode gekommen, die Welt wolle harte Max Frisch hatte den Entwurf des Meteor gelesen
Tatsachen, Dokumente, nicht Unterhaltung. Er hätte und dem Freund geschrieben, er käme ihm vorerst wie
nicht viel gewollt, nur seines Vaters Vermögen, doch eine Flaschenpost vor, eine »Standortmeldung von ei-
das hätte dieser mit einigen Streichhölzern erledigt. nem Freund, den man zuletzt auf einem robusten
Mit den Worten »Es ist aus mit der Schwitterei« (94) Kahn gesehen hat, und es tönt nach grimmiger See-
bricht Jochen zusammen, und Major Friedli kommt not« (Frisch/Dürrenmatt 1998, 159). Das Stück sei na-
mit der Heilsarmee zur Begrüßung des Auferstande- he an dem Punkt, wo einer nur noch schweige. – Stellt
nen ins Atelier. Der Meteor nicht alles in Frage? Verschiedene Deutun-
gen widersprechen sich, weil sie die Perspektive des
Autors nicht von den Perspektiven seiner Figuren un-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung terscheiden. Wegen der Nähe zur Auferstehung durch
Christus – im Entwurf hatte Dürrenmatt noch Lazarus
Die Uraufführung war dank des verblüffenden Ein- genannt – haben kritische Stimmen dem Autor Blas-
falls des Autors, seiner optischen Fantasie, der artisti- phemie vorgeworfen und Schwitter als unwürdige Fi-
schen Vitalität des Hauptdarstellers Steckel und der gur betrachtet. Jan Knopf wendet sich sowohl gegen ei-
Regie Leopold Lindtbergs, der das symbolische Poten- ne Interpretation als theologische Komödie, »als ein
tial der Requisiten optimal zu nutzen verstand, ein Stück, das insgeheim einen christlichen Lehrsatz um-
großer Erfolg. Obgleich schon die ersten Kritiken eine setzt«, wie gegen die Antithese, welche behaupte, »daß
Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten in Betracht zo- das Stück mit seinen Blasphemien den christlichen
gen, waren sie sich nur einig über den Rätselcharakter Gehalt unterlaufe und parodiere« (Knopf 1987, 121).
des Stücks, nicht aber über dessen Sinn und Bedeu- Offensichtlich aber stellt das grotesk-komische Spiel
tung. Unter Dürrenmatts Inventionen sei Der Meteor, Schwitters den konventionellen kirchlichen Glauben
schreibt Friedrich Luft in der Welt vom 22.1.1966 be- in Frage. Offen aber bleibt, ob – wie im ersten Schluss
geistert aber ambivalent, das eingängigste und absto- des Stücks – eine Möglichkeit des Glaubens der Heils-
27  Der Meteor 111

armee überlebt oder ob, wie im zweiten Schluss, da Kritik und betonte, dass es nicht nur um Schwitters
Major Friedli durch Schwitters Hand stirbt, auch diese Fall, sondern auch um seinen eigenen, des Autors Fall
Möglichkeit entfällt. Auf jeden Fall »ist der Auferstan- und um den Fall der Unordnung der Welt gehe, so
dene, der nicht an seine Auferstehung glaubt«, für dass er sich selbst nicht als schuldloser Beobachter,
Dürrenmatt bewusst »eine Gestalt, die die heutige sondern als Mitangeklagter sehe (handschriftl. Brief-
Christenheit versinnbildlicht« (WA 9, 161). entwurf in SLA-FD-A-m249_X). Und wenn es in den
Offensichtlich fällt es der Forschung schwer, den Zwanzig Punkten heißt, Der Meteor sei »ein Stück über
Doppelcharakter Schwitters als Mensch und als das Nicht-glauben-Können« (161), so weist das auf
Künstler zu verstehen. Er kann als Mensch nicht ster- wichtige Wandlungen in Dürrenmatts Selbst- und
ben, weil er nicht gelebt und geliebt hat. Er wurde zwar Dichtungsverständnis hin.
von zwei Frauen geliebt, von Auguste und von Olga,
seiner vierten Frau. Er hat zwar seine Frauen genos- Literatur
Primärtexte, Quellen
sen, aber er liebte sie nicht. Auch als Künstler hat er Der Meteor. Eine Komödie in zwei Akten. Zürich 1966.
versagt und nicht gelebt, weil er sich nur mit erfunde- Der Meteor. Eine Komödie in zwei Akten. Wiener Fassung
nen, nicht mit wirklichen Geschöpfen, weil er sich 1978. In: WA 9, 9–95.
nicht mit »der ungeheuerlichen Unordnung der Din- Programmheft Wiener Aufführung. Theater in der Josef-
ge« befasst hat (WA 9, 91). Dies rechtfertigt aber die stadt. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-D-11-
MET-08, 23–26.
These Knapps nicht, diese Komödie würde »zur Ma-
Handschriftlicher Briefentwurf. Schweizerisches Literatur-
nier, zur rein artistischen Beschreibung einer zwi- archiv, Sig. SLA-FD-A-m249_X.
schen Chaos und Kloake hin und her gezerrten Welt«,
der mit theatralischen Gegenprojektionen nicht mehr Sekundärliteratur
zu helfen sei (Knapp 1993, 102). Schwitters Sohn trifft Brock-Sulzer, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt. Der Meteor.
mit seiner Parole »Der Schriftsteller engagiert sich In: Die Tat, 23.1.1966.
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
oder wird überflüssig« (WA 9, 92) eine damals aktuel-
Weimar 1993, 99–103.
le Problematik des Theaters und der Kunst (Bertolt Knopf, Jan: Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. Berlin
Brecht, Peter Weiss), mit der sich Dürrenmatt kritisch 1987, 117–127
beschäftigt, aber nicht identifiziert hat. Luft, Friedrich: Von einem, der nicht sterben konnte. In: Die
Obschon Schwitter sich auch mitschuldig fühlt an Welt, 22.1.1966.
der Unordnung der Welt und sich gerade deshalb von Rüedi, Peter (Hg.): Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt Brief-
wechsel. Zürich 1998.
ihr abwendet, ist er doch nach der Intention Dürren- Scheid, Judith R.: Poetic and Philosophical Einfall. Aristo-
matts der radikale Egoist und Nihilist ohne gesell- phanes’ and Hegel’s Influences on Dürrenmatt’s Theory of
schaftliche Bindung (vgl. WA 9, 159). »Sterben ist die Comic Action and on His Comedy Der Meteor. In: Semi-
letztmögliche Vereinzelung« (WA 9, 162), sagt Dür- nar 15 (1979), 128–142.
renmatt in seinen Zwanzig Punkten. Der Autor ist Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006,
zwar mit keiner Perspektive seiner Figuren zu ver-
47–49.
wechseln. Trotzdem distanzierte sich Dürrenmatt in
einer öffentlichen Diskussion von moralisierender Peter Rusterholz / Pierre Bühler
G Dramenbearbeitungen und Regie

28 Bearbeitungen eigener Werke Die Wiedertäufer. Eine Komödie in zwei


Teilen (1967)
Dürrenmatt ist kein Autor, der seinen Texten statuari-
sche Letztgültigkeit zugedacht hätte. Seine Schriften Die Komödie Die Wiedertäufer feierte im Frühjahr
befinden sich im Gegenteil ständig ›im Fluss‹, oft auch 1967 am Schauspielhaus Zürich Premiere. Der Kom-
noch nach Veröffentlichung bzw. Uraufführung. Gera- mentar der Werkausgabe vermutet, dass Dürrenmatts
de seine Theaterstücke kommen kaum ohne zusätzli- Überarbeitung von der Anfrage des Zürcher Schau-
che Anmerkungen, Überlegungen und Kommentare spielhauses induziert wurde, das Stück zum zwanzigs-
aus, die sich teils aus der eigenen dramaturgischen Ar- ten Jahrestag der Uraufführung von Es steht geschrie-
beit, teils aus den Reaktionen des Publikums und der ben (in punktuell gleicher Besetzung) wiederauf-
Kritik speisen. Stets spiegeln die Varianten, Variatio- zunehmen (vgl. WA 1, 328). In jedem Fall wurde Dür-
nen und Überarbeitungen wider, dass die öffentlich- renmatt nach eigener Aussage von der Gelegenheit
keitswirksame Resonanz der Literatur für Dürrenmatt verlockt, »noch einmal das alte Spiel, bewußter jetzt,
durchaus im Zentrum stand. durchzuspielen« (WA 10, 137).
Als Ausdruck dieses fluiden und politischen Lite- Den beiden Fassungen ist mehr als die stoffliche
ratur- und Werkbegriffs sind auch die drei regelrech- Ausgangslage gemeinsam: Der Gottesstaat, den die
ten Umarbeitungen, Fortschreibungen und ironi­ Wiedertäufer 1534 im westfälischen Münster errich-
schen Selbstüberbietungen zu verstehen, die Dürren- teten und der bereits im Jahr darauf blutig nieder-
matt über Jahrzehnte, durch mehrere Werkphasen geschlagen wurde, wird in beiden Versionen nicht als
hindurch und über mehrere Medien- und Gattungs- Historiendrama verarbeitet, sondern als (relativ zufäl-
grenzen hinweg vorgenommen hat und die im Fol- lig ausgewählte) Episode eines Welttheaters, das den
genden im Zentrum stehen: Die Komödie Die Wieder- paradigmatischen Menschen in seiner ideologischen
täufer ist eine Neubearbeitung von Dürrenmatts skan- Befangenheit zeigt, in seinem durch und durch unver-
dalträchtigem Erstlingsdrama Es steht geschrieben. nünftigen Glauben an eine vernünftige Welt. Die For-
Der Stoff um Die Panne erfährt gar mehrere mediale schung identifiziert in den beiden »Variationen des-
Umsetzungen: 1955 als Erzählung verfasst, wird 1956, selben Themas« (Brock-Sulzer 1973, 168) als Haupt-
noch vor der Buchveröffentlichung, vom NDR ein themen Dürrenmatts Auseinandersetzung mit der
Hörspiel unter dem gleichen Titel gesendet. 1960 wird (Kierkegaardschen) Theologie (vgl. Wysling 1996, 22)
die Erzählung für den Broadway adaptiert (The Dead- sowie seine Beschäftigung mit dem Phänomen Hitler
ly Game), 1972 wird der Stoff als La più bella serata und dem Dritten Reich (vgl. Böschenstein 2012, 101).
della mia vita in einer italienisch-französischen Pro- Die auffälligsten Unterschiede zwischen Es steht ge-
duktion verfilmt, was Dürrenmatt veranlasst, 1979 ei- schrieben und Die Wiedertäufer betreffen neben der
ne eigene Komödie zu erarbeiten und uraufzuführen. stringenter durchgeführten Form den Umgang mit Il-
Die Komödie Dichterdämmerung von 1980 schließ- lusionsbrüchen und Verfremdungseffekten, die im
lich ist eine szenische Bearbeitung des frühen Hör- späteren Stück deutlich zugunsten einer Allegorie auf
spiels Abendstunde im Spätherbst. das (Welt-)Theater zurückgenommen werden. Dür-
renmatt rückt in seiner »seit dem Romulus vollzoge-
ne[n] Wendung zur Komödie« (Brock-Sulzer 1973,
162) eine Ebene der Reflexion über das Theater ins
Zentrum: Bockelson, der spätere ›König‹ des Täufer-
reichs, wird, indem er sich von Anfang an als Schau-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_28
28  Bearbeitungen eigener Werke 113

spieler zu erkennen gibt (vgl. WA 10, 18), als ein ahis- und künstlerisch unbefriedigenden Rollen, die zum
torischer »Schmierenkomödiant« (Brock-Sulzer 1973, Schluss des Stücks auftreten, hätten es nicht gerechtfer-
162) fokussiert, der die Fäden stets souverän in der tigt, die Schauspielerinnen und Schauspieler so lange
Hand hält und seinen religiösen Furor nur gezielt vor- warten zu lassen. »[W]ie Peer Schmidt, der die Rolle
spielt, um an die Macht zu kommen und in seinem des Alfredo Traps spielt, in den Sarg gekommen ist, aus
Spiel die Welt(-geschichte) als groteske Komödie zu dem er jetzt eben steigt, warum er da hineinkam, wird
entlarven. Anders als in Es steht geschrieben, wo er zu- das Spiel ohnehin zeigen« (WA 16, 78).
sammen mit seinem Gegenspieler Knipperdollinck Die Pointe dieses Vorgehens scheint in einer ähn-
gerädert wird, kommt Bockelson in Die Wiedertäufer lichen Volte zu bestehen, wie die früheren Fassungen
am Ende davon: »Ich stellte einen König dar / Und re- mit der Erzählbarkeit von ›noch möglichen‹ Ge-
zitierte komödiantisch einen Possentext / Durchsetzt schichten gespielt hatten. Analog dazu legt die analyti-
mit Bibelstellen und mit Träumen einer beßren Welt / sche, mit den katastrophischen Schluss beginnende
Die halt das Volk so träumt / [...] / Das Spiel ist aus, ihr Dramenform ein tragisches Deutungsschema nahe,
Fürsten ohnegleichen / Ich trug eure Maske bloß, ich das Dürrenmatts Komödie anschließend anhand ih-
war nicht euresgleichen« (WA 10, 118 f.). rer Hauptfigur dialektisch aufheben kann. Denn: »Die
Die theologische Perspektive, welche das Erstlings- Spielwelt dieser Komödie ist nicht determiniert: Traps
drama auch in sprachlich-stilistischer Hinsicht, in sei- erleidet kein Schicksal, sondern eine Panne« (65). Die
nem ostentativen »Nebeneinander von Bibelspruch simple Panne, das Missverständnis und der Unfall als
und Zote« (Allemann 1958, 420) dominiert hatte, tritt die zeitgemäße Form dessen, was ehemals als Schick-
damit insgesamt zugunsten von Dürrenmatts ›drama- salsmächte hätte gedeutet werden können, waren von
turgischem Denken‹ zurück (s. Kap. 87). In den Dra- Dürrenmatt in seinem ›dramaturgischen Denken‹
maturgischen Überlegungen zu den Wiedertäufern wiederholt pointiert worden. Traps, der sich nach er-
wird diese Wendung zur »Dramaturgie der Komödie littenem Autodefekt beim Gelage mit den pensionier-
als Welttheater« (WA 10, 133) als »ein Gleichnis, im- ten Juristen nur zu gerne mit dem ihm unterstellten
mer wieder neu zu erdenken« (136), anhand des Hel- Mord identifiziert, weil dies ihm erlaubt, die Rolle des
den Bockelson ausführlich reflektiert. tragischen Helden zu übernehmen, stellt geradezu ei-
nen Modellfall für diese Diagnose dar.
Nicht so sehr Gerechtigkeit als vielmehr der Begriff
Die Panne. Eine Komödie (1979) der Schuld steht in der Komödie im Zentrum, die da-
mit zum »Meta-Text der beiden früheren Fassungen«
Wohl auch wegen des Erfolgs der Erzählung Die Pan- (Utz 2013, 56) avanciert. In seinem Schlussplädoyer
ne. Eine noch mögliche Geschichte (1956) und des im charakterisiert der Verteidiger Kummer Traps als »ein
gleichen Jahr erstmals ausgestrahlten Hörspiels ent- Beispiel für viele«: zur Schuld unfähig und doch nicht
schloss sich Dürrenmatt 1979 zu einer Komödienfas- schuldlos, im Gegenteil »verstrickt in alle möglichen
sung in zwei Teilen (im Druck 1980). Auktoriale Arten von Schuld« (WA 16, 146). Anders als in den an-
Überlegungen zur Dramaturgie hatten schon die Er- deren beiden Fassungen erhält Traps in absurder Fei-
zählung eingeleitet, was konnte also näherliegen, als erlichkeit vom selbst nicht unschuldigen Gericht aus
den Stoff in tatsächlicher Komödienform auf die Büh- Pensionierten zwei Urteile: zunächst ein »metaphysi-
ne zu bringen? Für die Bühnenadaption nahm Dür- sches« Todesurteil (das ihn und das Gericht mit Stolz,
renmatt allerdings gewichtige Änderungen des zuvor ja »unbeschreibliche[r] Ehre« erfüllt) und hinterher,
nur an minimalen Stellen variierten Plots vor. juristisch, einen Freispruch, der ihn »fassungslos« zu­
Der auffälligste Eingriff besteht in einer komödian- rücklässt (162 f.). Traps wurde nämlich im Laufe des
tischen Umkehr (vgl. Bloch 1980, 205), nämlich darin, weinseligen Verfahrens, wie der Verteidiger sagt, als
dass im Schauspiel die Ereignisse um die Panne nicht Angeklagter »in einen allzu begreiflichen Größen-
chronologisch dargestellt werden, sondern das Stück wahn getrieben, in den Größenwahn des Jahrhunderts:
gleichsam mit der Schlussszene beginnt und den schuldig zu sein« (140). Doch »das Schicksal«, so be-
Selbstmord des Protagonisten Traps anschließend ana- gründet Richter Wucht, hat »die Bühne verlassen, und
lytisch vor den Augen der Zuschauerschaft entwickelt. an seine Stelle ist der Zufall getreten, die Panne« (162).
Der Schauspieler, der den Richter Wucht gibt, richtet Dass der schicksals- und bewusstseinslose Traps
sich nach der ersten Szene vor Traps’ Sarg an das Publi- trotzdem beharrlich auf seiner eigenen Schuldhaftig-
kum und erklärt diese Panne in Die Panne: Die kleinen keit besteht, ist nicht nur in seinem »Wunsch-Ver-
114 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

brecher-Ich« (Bloch 1980, 196) begründet, sondern Bühnenbildes, in dem sie sich bewegen, oder wegen
auch darin, dass er Justine verfällt, der Enkelin der unklaren Inszenierungspolitik zweier uneiniger
Wuchts. Die Figur der mannstollen Justine ist eine Regisseure und einer Vielzahl von Dramaturgen. Wo
»Ergänzung des Stoffes, die nun einmal die Bühne das Hörspiel allerdings mit dem Diktat eines neuen
erzwingt« (WA 16, 64), indem sie eine komödianti- Hörspiels des Autors schließt und damit an seinen An-
sche Nebenhandlung anstößt, welche Traps’ Identifi- fang zurückkehrt, belässt es die Komödie nicht bei die-
kation mit dem tragischen Helden zusätzlich moti- ser selbstreflexiven Volte: »Dürrenmatt hat einen neu-
viert. Denn auch dieser fragwürdigen Allegorie der en Schluß geschrieben« (143), verkündet auf der Büh-
Gerechtigkeit fühlt sich der Trunkene verpflichtet: ne eine junge Dame, die sich ebenfalls danach sehnt, in
»Nur als Mörder bin ich deiner würdig, Justine« die Weltliteratur einzugehen. Weil der Autor sich aber
(159). Es entspricht der von der Komödie selbst ver- weigert, sie umzubringen, sticht umgekehrt sie ihn nie-
mittelten Zeitdiagnose, dass auch die Selbsttötung der, worauf er röchelt: »Mein letztes Werk bleibt un-
Traps’ letzten Endes nicht als Sühne gelten darf, son- vollendet: die schlimmst-mögliche Wendung« (145).
dern als: »eine Panne« (73). Dürrenmatts Dichterdämmerung macht bei die-
sem komischen Selbstzitat und weiteren Allusionen
nicht Halt: Nicht nur, dass der Autor-Schauspieler, ge-
Dichterdämmerung. Eine Komödie (1980) nauso wie der tote Besucher sich quicklebendig wei-
terunterhalten, nicht nur, dass die gesamte Szene vom
Ebenfalls als eine »Mise-en-abîme« der tragischen Ka- Sekretär auf Band aufgenommen wurde (»die best-
tastrophe (Utz 2013, 59), die nicht mehr möglich ist, mögliche Wendung«, 147); aus einem vermeintlichen
weil das nachmoderne Welttheater Schuld nicht Aschenbecher entwickelt sich auch noch ein Schwar-
kennt, kann Dichterdämmerung von 1980 gelten, die zes Loch, das allmählich die gesamte Bühne mitsamt
szenische Bearbeitung von Dürrenmatts letztem Hör- ihren Akteurinnen und Akteuren verschluckt. Vor
spiel Abendstunde im Spätherbst. den schwarzen Vorhang tritt Oberst Macfire, eine
Text und Handlung der Komödie sind bis auf klei- ›gestrichene‹ Figur, die im Personenverzeichnis nicht
ne, sich auf die abstrakte Inszenierung selbst bezie- auftaucht, und hält eine apokalyptische Rede auf
hende Zusätze im Wesentlichen identisch zum Hör- den subventionierten Theaterbetrieb. Mit dem Schrei
spiel. Der Autor führt sich auch hier gleich selbst als »Weltuntergang, ahoi!« (154) fällt er in den Orches-
Hauptperson ein, bevor die eigentliche Handlung be- tergraben, nur um – in einer abermaligen Wendung
ginnt. Der Nobelpreisträger wird von einem Verehrer – dort die Leiche des einen Regisseurs zu entdecken;
in seinem mondänen Arbeitszimmer besucht, der, wie eine weitere Leiche, jene des Intendanten, wird unter
sich herausstellt, nicht nur das Werk ausgezeichnet der großen Trommel aufgefunden. Mit dieser Rück-
kennt, sondern in langjähriger Detektivarbeit auch kehr in die Farce endet das endlos in sich gewundene
herausgefunden hat, dass der Nobelpreisträger die 21 Ende von Dichterdämmerung. Der »mehrfach nach-
oder 22 Morde, die in seinen Romanen vorkommen, zündende[...] Schluss« macht eines deutlich: »Damit
allesamt tatsächlich verübt hat. Wider Erwarten be- scheint auch die ›Katastrophe‹ im ursprünglichen
streitet der Autor die ihm vorgeworfenen Taten nicht, Sinn des fünften Tragödienaktes endgültig unmög-
im Gegenteil: Mit einem gewissen Stolz gibt er alles zu lich geworden« (Utz 2013, 59).
und behauptet, die literarische Welt wisse längst Be-
scheid. Weil er auf der Suche nach einem neuen Stoff Literatur
Primärtexte
ist, bedroht er den Besucher mit einem Revolver: »Sie Abendstunde im Spätherbst. Ein Hörspiel. In: WA 9, 169–
gaben mir die Idee zu einem Theaterstück. [...] Durch 196.
mich werden Sie in die Weltliteratur eingehen [...]. Dichterdämmerung. Eine Komödie. In: WA 9, 97–156.
Das Stück, das ich über Ihre Ermordung schreiben Dramaturgische Überlegungen zu den Wiedertäufern. In:
werde, wird über alle Bühnen gehen« (WA 9, 138 f. vgl. WA 10, 127–137.
Es steht geschrieben. Ein Drama. In: WA 1, 9–148.
193 f.). Vor Angst stürzt sich der literaturkundige Be-
Die Panne. Ein Hörspiel. In: WA 16, 9–56.
sucher über den Balkon und stirbt als ein weiteres Op- Die Panne. Komödie. Zürich 1979.
fer des Autors. Die Panne. Eine Komödie. In: WA 16, 57–173.
In der Komödienfassung wird dieser Dialog immer Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. In: WA 21,
wieder dadurch durchbrochen, dass die Schauspieler 35–94.
aus der Rolle fallen – wegen des reichlich abstrakten Die Wiedertäufer. Eine Komödie. In: WA 10, 9–122.
28  Bearbeitungen eigener Werke 115

Sekundärliteratur spektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur.


Allemann, Beda: Dürrenmatt – Es steht geschrieben. In: München 2012, 101–106.
Benno von Wiese (Hg.): Das deutsche Drama. Düsseldorf Brock-Sulzer, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt. Stationen
1958, 415–432. seines Werkes [1960]. Zürich 1973.
Bloch, Peter André: Die Panne. Das Zuendedenken einer Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
Idee. In: Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. gangsszenarien aus der Schweiz. München 2013.
Zürich 1980, 194–208. Wysling, Hans: Streifzüge. Literatur aus der deutschen
Böschenstein, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts erstes Stück Schweiz 1945–1991. Hg. von Hans-Rudolf Schärer und
Es steht geschrieben. Eine Skizze. In: Günter Butzer, Joa- Jean-Pierre Bünter. Zürich 1996.
chim Jacob (Hg.): Berührungen. Komparatistische Per-
Simon Aeberhard
116 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

29 Shakespeare-Bearbeitungen als Johann Ohneland, war der jüngste Sohn Eleonores


von Aquitanien und Heinrichs II. von England. Er be-
Die Hauptwerke Shakespeares, die schon seit dem stieg den englischen Thron 1199 nach dem Tod seines
Sturm und Drang im Zentrum der Entwicklung zu ei- Bruders Richard Löwenherz. Im britischen Verständ-
ner eigenständigen Bühne in den deutschsprachigen nis erinnert man sich an ihn als einen der schlechtes-
Gebieten gestanden hatten, gehörten auch für Dür- ten Könige Englands, vor allem im Rahmen der Robin
renmatt zum festen Repertoire. Doch ein direkter Zu- Hood-Legenden. Das herausragende Ereignis seiner
griff auf das Gesamtkorpus fand erst in Verbindung Herrschaft war die Magna Charta, die Johann 1215 un-
mit dem Basler Theaterprojekt (1967–1969) statt, als terschreiben musste, um die rebellierenden Barone zu
Dürrenmatt mit Werner Düggelin die Leitung des besänftigen. Dieses Dokument, das den Handlungs-
Theaters Basel übernahm in der Hoffnung, dort einen spielraum des Königs stark begrenzte, gilt den Briten
eigenen Wirkungsraum zu entfalten. Er suchte nach heute als Beginn der Machtbeschneidung der Monar-
einem eigenen Repertoire an Stücken, die seine Vision chie und somit ihrer konstitutionellen Ordnung.
von der Funktion des Theaters tragen konnten und auf Shakespeare erwähnt dieses Ereignis jedoch nicht,
die aktuelle Zeitlage antworteten. Es sei »sinnlos« die vielleicht weil sich Königin Elisabeth daran gestoßen
Hauptwerke Shakespeares umzuarbeiten. Die weniger hätte. Der Dramatiker setzt den Akzent eher auf die
bekannten Dramen erschienen ihm teils unbefriedi- Themen, die auch seine Zeit bewegten, vor allem die
gend, doch vielleicht gerade deswegen erkannte er in Frage der Legitimität. Johanns Anspruch auf den
ihnen »mehr Rohstoff für Stücke als Stücke« (WA 11, Thron war ebenso fragwürdig wie der Elisabeths, und
212). Dass Shakespeare selbst seine Stoffe früheren beide versuchten, sich ihrer Nebenbuhler zu entledi-
Texten entnahm, galt Dürrenmatt als Legitimation, gen (Arthur bzw. Maria Stuart). Die drohende Invasion
»meine Bearbeitung der Bearbeitung Shakespeares« durch fremde Armeen (Frankreich bzw. Spanien) und
(ebd., 201) auf die Bühne zu bringen. die schwierigen Beziehungen zum Papst werden eben-
falls thematisiert. Shakespeare kondensiert den Stoff
stark, so dass die Abfolge der Ereignisse heute teilweise
König Johann grotesk wirken kann. Die Figuren werden vom Schick-
sal getrieben; politische Intrigen erscheinen ebenso
Das erste Resultat dieser Auseinandersetzung war das sinnlos wie (seltene) moralische Taten. Johann selbst
Stück König Johann. Es entstand in den Jahren 1967/68 stirbt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern – ohne tragi-
und wurde am 18.9.1968 in der Regie Düggelins am sche Größe – im Fieberwahn. Ihm zur Seite steht die
Basler Theater uraufgeführt. Es folgten bis in die Figur des Bastards. Obwohl dieser sich teilweise an den
1970er Jahre weitere Aufführungen in Europa. Der Machtintrigen beteiligt, erscheint er meistens als chor-
Text erschien 1969 erstmals als Einzelausgabe und artige Figur, die versucht, dem Geschehen eine mora-
wurde 1972 in den Sammelband Komödien III des Ar- lische Deutung abzuringen. Seine vermeintlich patrio-
che Verlags aufgenommen. In der Werkausgabe 1980 tischen Schlussworte verliehen dem Stück im England
strich Dürrenmatt die letzten zwei Sätze der Figur des des 19. Jahrhunderts große Beliebtheit.
Bastards; in dieser Form wurde der Text in die WA auf- Dürrenmatts Umarbeitung hat ein ähnliches The-
genommen (vgl. WA 11, 223 u. 233). Vorlage war The ma: Menschliches Tun scheitert an der Unberechen-
Life and Death of King John, das Shakespeare wahr- barkeit der Realität. Der Bastard verkörpert das auf
scheinlich Mitte der 1590er geschrieben hatte und das Ausgleich und Verzicht individueller Glücksrealisie-
1598 uraufgeführt wurde. Dürrenmatt bediente sich rung gegründete Humanitätsprinzip. Obwohl er fähig
der Übersetzung Schlegels sowie einer eigenen wörtli- ist zu Verrat zugunsten von politischen Kompromis-
chen Übersetzung und der Quellen Shakespeares. sen, tut er dies, um Krieg und Inhumanität ein Ende
In der postumen ersten Gesamtausgabe der Werke zu setzen.
Shakespeares, dem sogenannten First Folio von 1623, Dürrenmatt verändert jedoch den dramatischen
wurde das Stück unter der Kategorie der Histories ge- Charakter Johanns und unterlegt ihm eine kohärente
führt. Es handelt sich dabei um Dramen, in denen ideologische Handlungsbegründung. Er gestaltet ihn
Shakespeare die englische Geschichte aus der Perspek- als machiavellistischen Herrscher, der sein Handeln
tive seiner Zeit ideologisch so ordnete, dass die Gegen- klug berechnet und auf Machtausbau ausrichtet. Dür-
wart als notwendiger Zielpunkt der Entwicklung er- renmatt meint, »wir können Shakespeare nur noch
schien. König Johann (ca. 1166–1216), auch bekannt politisch lesen« (WA 11, 210), behauptet aber auch:

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_29
29 Shakespeare-Bearbeitungen 117

»[I]ch bin nur einer, der seine mißglückteren Spiele in über die Intensität der dramatischen Situation und der
unsere Zeit zu transponieren versucht« (ebd., 216). So ästhetischen Formen.
behandelt er im Gegensatz zu Shakespeare u. a. das Die Bearbeitung entstand jedoch im Kontext der
Zusammenspiel von Volk und Mächtigen. Der Mono- Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Dürrenmatt
log König Johanns, in dem er einsieht »Was wir Gesin- und dem Basler Ensemble unter Düggelin. Dürren-
del heißen, dem gehört / Das Land« und die Charta matt arbeitete seit 1969 an seinem Text, gestützt auf
feiert als »Einschränkung meiner königlichen Macht, die Übersetzung durch Graf von Baudissin. Doch zog
/ Freiheit der Stände, Schutz vor Willkür der / Gerich- der Regisseur Hans Hollmann eine eigene Bearbei-
te« (ebd., 110), kann mit Recht als Dürrenmatts politi- tung (Titus Titus – 50 Theatralische Vorgänge) derjeni-
sche Utopie, als Ausdruck seiner 1968er Vision inter- gen Dürrenmatts vor. Während Hollmanns Text 1969
pretiert werden. Der Zuschauer weiß zu diesem Zeit- am Basler Theater uraufgeführt wurde, fand die Pre-
punkt, dass der König sterben muss, was den uto- miere des Dürrenmattschen Stücks erst am 2.12.1970
pischen Charakter der Worte im Sinne einer tragi- am Düsseldorfer Schauspielhaus unter der Regie von
schen Ironie unterstreicht. Am Ende verflucht Johann Karl-Heinz Stroux statt. Doch das Stück fiel durch.
das Vernunftprinzip, das seinen Untergang nicht auf- Das Publikum, das wohl mit der wenig bekannten
halten konnte, während sein unmündiger Sohn zu ei- Shakespeareschen Vorlage nicht vertraut war, schrieb
nem Spielball in den Händen seiner Barone und ei- die Gewalttaten dem Bearbeiter zu. Nackte Brüste und
nem ungefährlichen Gegner für Frankreich heran- Wehrmachtsuniformen auf der Bühne machten den
wächst. Dass Dürrenmatt den Stoff noch weiter kon- Theaterskandal perfekt. Das Dürrenmattsche Stück
densiert als Shakespeare, trägt zum Eindruck der wurde nie wieder aufgeführt. Diese Erfahrung führte
absurden Abfolge unwägbarer Ereignisse bei. vermutlich auch dazu, dass Dürrenmatt seine geplante
Bei Dürrenmatt wie auch schon bei Shakespeare Troilus und Cressida-Umarbeitung nie durchführte.
können die Schlussworte des Bastards problematisch Titus erschien 1970 als Einzelausgabe und wurde 1972
wirken. 1980 relativiert Dürrenmatt selbst seine poli- im Sammelband Komödien III des Arche Verlags
tische Vision einer vom Volk ausgehenden Demokra- aufgenommen. Dürrenmatt entschied sich, für die
tie: »In der letzten Szene des König Johann habe ich Werkausgabe 1980 die erste Szene in der Baudissin-
nachträglich die letzten Worte des Bastards ›Und sen- Übersetzung voranzustellen; in dieser Form wurde
ke in das Volk die Kraft des Löwen! / Nur so ist diesem der Text in die aktuelle WA aufgenommen (vgl. ebd.,
England noch zu helfen.‹ abgeändert. Mein Vertrauen 223 u. 233).
in das Volk ist in letzter Zeit zu arg erschüttert worden; Titus Andronicus firmiert im Shakespeareschen
schon das Wort ›Volk‹ ist politisch so zweideutig ge- First Folio unter den Tragödien; in der Sekundärlitera-
worden, daß es kaum anständig verwendet werden tur wird es gelegentlich zu den roman plays gezählt.
kann« (ebd., 223). Mit Blick auf die Renaissance-Vor- Doch haben wir es hier mit einem fiktiven Endzeit-
lage wird hier nicht nur mit dem geschichtlichen Rom zu tun, dessen ideologische Grundlagen von in-
Handlungsanspruch des Volkes abgerechnet, sondern nen her zerfallen und das von außen durch die Bar-
auch mit vermeintlich patriotischen Diskursen. baren bedroht wird. Shakespeare schrieb das Stück
Der große Erfolg dieser Dürrenmatt-Düggelin Zu- vermutlich um 1590, als der Typus der revenge tragedy
sammenarbeit steht in starkem Kontrast zum Fehl- auf dem Höhepunkt seines Erfolges stand. Die Rache-
schlag, den der Autor mit seinem Titus Andronicus tragödie nach dem Vorbild des Seneca und des Tho-
hinnehmen musste. mas Kyd setzt eine tragische Kausalität von Mord und
Vergeltung in Gang, die am Ende alle Protagonisten
verschlingt.
Titus Andronicus Shakespeare stellte den Feldherren Titus Androni-
cus in den Mittelpunkt, der alles, auch seine Kinder,
Der Bezug Dürrenmatts zu diesem Shakespeare-Stück der römischen Ideologie der Überlegenheit durch
reichte weiter zurück. 1958 hatte er in Paris einer Pro- Recht und Ordnung unterwirft. Als der Kaiser dieses
be für die Inszenierung des Titus Andronicus durch Recht bricht, sich mit der im Krieg unterlegenen Bar-
Peter Brook beigewohnt: »[D]er Eindruck [war] au- barin vermählt, deren Kinder Titus’ Tochter vergewal-
ßerordentlich« (WA 11, 208). Vor allem die Bildmäch- tigen und verstümmeln und zuletzt auch Titus selbst
tigkeit des Stücks faszinierte ihn, denn für ihn erfolgte betrügen, nimmt er grausame Rache. Nach dem Vor-
die Wirkung nicht über den englischen Text, sondern bild des Thyestes aus der Atriden-Sage tötet er die Kin-
118 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

der der Barbarin und setzt sie ihr zur Speise vor. Am Status simpler Übersetzungen hinaus und werden zu
Ende sterben alle. Werken von Dürrenmatt, nach Shakespeare.
Während Dürrenmatt diese Endzeit-Konstellation Aber nicht nur die Überwindung einer zeitlichen
in Romulus der Große komisch interpretiert, greift er Barriere, sondern auch einer sprachlich-kulturellen
hier auf eine extrem blutige Bildwelt zurück. Doch verlangt nach Veränderung. Vor allem Titus sei »un-
geht es ihm nicht um das kathartische Tragödienmus- übersetzbar«; ein »dramaturgisches Credo« Dürren-
ter, sondern um einen Erkenntnisvorgang, der bei matts besagt: »Ändert sich die Sprache, ändert sich der
Romulus in einer komischen, bei Titus in einer absur- Stoff« (WA 11, 208 f.). Der logische Schluss: »Aus ei-
den Peripetie mündet. Titus’ Glaube an die römische ner Bearbeitung wurde eine Umarbeitung« (ebd.,
Überlegenheit schlägt um in eine Parodie derselben, 212). Umformung ist nicht einfach künstlerische Frei-
die jede Illusion einer geschichtlichen Entwicklung heit oder gar Willkür, sie ist Notwendigkeit.
zur Humanität zersetzt. Am Ende lässt der Gote Ala- So stellen die beiden Bearbeitungen innerhalb des
rich, den Dürrenmatt als »mythische zerstörerische Dürrenmattschen Werks eigenständige Leistungen
Größe« (ebd., 211) hinzufügt, alle Römer töten und dar, die einerseits Brechts Versuche mit dem Coriolan
Rom anzünden. fortschreiben, andererseits eine neue Linie der Shake-
Obwohl sich Shakespeares Stück in die Kategorie speare-Bearbeitungen initiieren (u. a. Botho Strauß,
der revenge tragedy einreiht, erscheint die ununterbro- Heiner Müller), die bis heute anhält.
chene Reihe der Grausamkeiten für den modernen
Zuschauer oft grotesk (z. B. in der Filmadaptation 1999 Literatur
Primärtexte
durch Julie Taymor). Dürrenmatt arbeitet besonders König Johann. Zürich 1969.
diesen Aspekt heraus, so dass das Stück zu einer Komö- König Johann. In: Komödien III. Zürich 1972.
die nach Shakespeare werden kann. Die Enttäuschung König Johann. In: König Johann. Titus Andronicus. Shake-
der politischen Utopie wird deutlich. Im Schluss- speare-Umarbeitungen. WA 11, 9–113.
monolog beschreibt Alarich Geschichte als eine belie- Titus Andronicus eine Komödie nach Shakespeare. Zürich
1970.
bige Abfolge von inhumanen und sinnlosen Herr-
Titus Andronicus. In: Komödien III. Zürich 1972.
schaftsformen ohne Hoffnung auf Fortschritt: »Sie alle Titus Andronicus. In: König Johann. Titus Andronicus.
gierig nach der Weltherrschaft, / Die eine kurze Welt- Shakespeare-Umarbeitungen. WA 11, 115–197.
sekunde unser. / Was soll Gerechtigkeit, was soll da Ra-
che? / Nur Namen sind’s für eine üble Mache. / Der Sekundärliteratur
Weltenball, er rollt dahin im Leeren / Und stirbt so Erne, Lukas: Lamentable Tragedy or Black Comedy? Fried-
rich Dürrenmatts adaptation of Titus Andronicus. In:
sinnlos, wie wir alle sterben: / Was war, was ist, was
Sonia Massai (Hg.): World-Wide Shakespeares: Local
sein wird, muß verderben« (ebd., 197). Appropriations in Film and Performance. London 2005,
88–94.
Lerner, Laurence: King John, König Johann: War and Peace.
Von Dürrenmatt, nach Shakespeare Shakespeare Survey 54 (2001), 213–222.
Marquardt, Anne-Kathrin: »Halb Shakespeare, halb Dür-
renmatt« – Friedrich Dürrenmatts Titus Andronicus. In:
Dürrenmatt verknappt und konzentriert die barocken Véronique Liard, Marion George (Hg.): Dürrenmatt und
Bildwelten Shakespeares auf eine durchgängig lo- die Weltliteratur – Dürrenmatt in der Weltliteratur. Mün-
gisch-intellektuelle Handlungsfolge. Diese Moder- chen 2011, 105–129.
nisierung schlägt den Bogen zu einem Theater, das Ranke, Wolfgang: Adaption und Intertextualität: Friedrich
nicht (nur) bildungsbürgerliches Repertoire anbietet, Dürrenmatts König Johann und die Tradition der deut-
schen Shakespeare-Bearbeitung. In: Jahrbuch für Interna-
sondern auf aktuelle Zeitprobleme antworten will.
tionale Germanistik 24 (1992), 8–36.
Durch diesen Schritt gelangen die Stücke über den
Anne-Kathrin Marquardt
30  Play Strindberg 119

30 Play Strindberg Stück wurde zwischen 1969 und 1971 auf über 30
deutschsprachigen Bühnen und später auch in ande-
Entstehungs-, Publikations- und Auf- ren europäischen Städten (Paris, London, Athen,
führungsgeschichte Warschau) sowie in den USA und Japan aufgeführt.
Die Uraufführung wurde 1971 auch im deutschen
Das Drama Play Strindberg. Totentanz nach August Fernsehen (ARD/SDR) ausgestrahlt. Nach der breiten
Strindberg basiert auf dem schwedischen Ehedrama frühen Theaterrezeption geriet Dürrenmatts Bearbei-
und Klassiker Dödsdansen (dt. Totentanz) August tung in der folgenden Zeit in Vergessenheit und wird
Strindbergs. Das Stück entstand 1968 und wurde am heute nur noch selten aufgeführt (vgl. WA 12, 202 f.),
8.2.1969 in der Regie von Friedrich Dürrenmatt und etwa 2014 am Royal Theatre in Bath oder 2016 am
Erich Holliger am Basler Theater uraufgeführt. Dür- Basler Theater.
renmatts Auseinandersetzung mit Strindberg fällt in
Bezug auf seine Theaterarbeit in die Zeit eines Um-
bruchs. Nach dem Abgang am Schauspielhaus Zürich Inhalt und Analyse
schöpfte er mit der Anstellung am Theater in Basel
neue Hoffnung, die eigenen Vorstellungen von einem Das Ehepaar Edgar und Alice lebt in einem alten Ge-
anderen, modernen Theater realisieren zu können. fängnisturm auf einer Insel in den schwedischen
Als Teil der Direktion – Seite an Seite mit dem Inten- Schären. Die beiden – er, ein heruntergekommener
danten Werner Düggelin – hegte er den Wunsch, ein Hauptmann und Militärschriftsteller; sie, eine wenig
eigenes Theater zu gründen (vgl. Rüedi 2011, 692). erfolgreiche Schauspielerin – sind seit 25 Jahren ver-
Geplant war ursprünglich, dass der Regisseur Erich heiratet. Abgeschottet von der Gesellschaft liefern sie
Holliger, auf Vorschlag des Dramaturgen Hermann sich einen schonungslosen Ehestreit. Ihr einziger Ka-
Beil, Strindbergs Totentanz inszenieren sollte (vgl. nal zur Außenwelt ist der Telegrafenapparat. Zeitwei-
ebd., 696). Dürrenmatt besuchte Proben, konnte sich lig unterbrochen wird dieser Streit durch die Ankunft
jedoch nicht mit dem Stück anfreunden. Die Mühe von Alices Vetter Kurt. Dieser gibt vor, nach seiner
mit dem Stück bekundete er in seinem Bericht, den er langjährigen Abwesenheit zurück auf die Insel ge-
im Programmheft der Uraufführung abdrucken und kommen zu sein, um Quarantänemeister zu werden.
auch den Buchausgaben beifügen ließ: »1968. Lese die Mit der Ankunft Kurts verschärft sich der Konflikt
ersten Seiten des Stücks, finde den Theatereinfall inte- zwischen den beiden Ehepartnern. Alice versucht per
ressant, stoße mich an seiner Literatur (Plüsch × Un- Telegrafenmitteilung an den Oberst die Absetzung
endlichkeit)« (WA 12, 193). Dürrenmatt war gegen ei- Edgars einzufädeln und ihn wegen Geldunterschla-
ne »theaterübliche Strindberg-Bearbeitung« (ebd.) gung ins Gefängnis zu bringen. Edgar beabsichtigt,
und entschied sich kurzerhand für eine Umarbeitung Alice aufgrund ihrer Zuneigung zu Kurt zum Ehe-
des Stücks. Es folgte eine intensive Auseinanderset- bruch anzustiften. Während eines durch Edgar vor-
zung mit dem Stoff und dem Text, den er zuhause in getäuschten Ohnmachtsanfalles steigt Alice tatsäch-
Neuchâtel, aber auch in enger Zusammenarbeit mit lich mit Kurt ins Bett, womit Edgars Plan aufgeht. We-
dem Regisseur und den Schauspielern während der nig später eröffnet Edgar seiner Frau, dass er sie in Be-
Proben in Basel weiterentwickelte (vgl. WA 12, 202). zug auf das unterschlagene Geld angelogen habe:
Dürrenmatt arbeitete nach eigener Aussage mit einer Nicht er, sondern der Oberst habe Geld veruntreut,
»Rohübersetzung« (WA 12, 193) des schwedischen womit nicht er, sondern vielmehr der Oberst in Zug-
Originals. In seinem Nachlass befinden sich zwei zwang gerate. Zudem gesteht er Alice und Kurt, die
deutschsprachige Totentanz-Ausgaben von zwei ver- Ohnmachtsanfälle nur vorgetäuscht zu haben. Kurze
schiedenen Übersetzern, die als Grundlage der Über- Zeit später glaubt Edgar, Kurt als Kleinkriminellen
arbeitung in Frage kommen (vgl. Winkler 2009). entlarven zu können, der als Bankangestellter in Ame-
Play Strindberg, wie Dürrenmatt die Bearbeitung in rika Geld unterschlagen habe und nur deshalb als
Anspielung auf die damals sehr populären Play Bach- Quarantänemeister auf die Insel gekommen sei, um
Alben des Jacques Loussier Jazztrios betitelte, wurde sich der Strafverfolgung zu entziehen. Als Edgar nach
1969 beim Arche Verlag in leicht überarbeiteter Fas- einem Angriffsversuch auf Alice und Kurt – mit einem
sung publiziert, erschien 1972 unverändert im Sam- Säbel – erneut zusammenfällt und einen Schlaganfall
melband Komödien III und wurde 1980 ebenfalls un- erlebt, halten Alice und Kurt dies lediglich für eine
verändert in die Werkausgabe aufgenommen. Das Fortsetzung seiner Täuschungsversuche. Edgar ver-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_30
120 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

liert durch den Schlaganfall jedoch tatsächlich die greift, fehlen gerade diese Markierungen von Befind-
Sprache und kann nur noch zuhören, wie Kurt am En- lichkeiten in Play Strindberg durchgängig. Die Eintei-
de des Stücks Alice gesteht, kein Kleinkrimineller, lung des Dialogs in Runden und einzelne Dialogblö-
sondern ein reicher Geschäftsmann und Millionär zu cke unterstützt die Wirkung eines nicht mehr durch
sein, der längst den Oberst als Teilhaber seiner Ge- die Intentionen und Emotionen der Figuren gesteuer-
schäfte auf seine Seite gebracht habe. ten, sondern von außen auferlegten und organisierten
Das Bühnenbild wird von Dürrenmatt als »Szene« ›verfremdeten‹ Dialogs.
bezeichnet, die aus einem mit Scheinwerfern beleuch-
teten Ring besteht, der mit einzelnen Möbeln (»Kla-
vier«, »Stuhl 1«, »Hocker 2« etc.) ausgestattet ist (WA Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
12, 10). Die Handlung des Stücks ist in zwölf Runden
eingeteilt, deren Beginn jeweils durch einen im Ne- Dürrenmatt selbst schreibt in seinem Bericht nicht nur
bentext vermerkten Gong eingeläutet wird. Dadurch von der Verwandlung eines »Schauspielerstück[s]« in
wird die Nähe zu einem Boxkampf unmissverständ- ein »Stück für Schauspieler« (WA 12, 193), sondern
lich angezeigt. Die Runden sind zu Beginn länger und auch von »Schauspielerartistik« (194), was die Wich-
werden gegen Schluss immer kürzer. Jede wird durch tigkeit anzeigt, die er dem Bühnengeschehen beimisst.
die Figuren angekündigt. Dadurch entsteht eine dop- Die Entstehung aus der Inszenierungspraxis heraus
pelte Handlungsebene, ein episches Element, das die würdigte Dürrenmatt denn auch mit der Gattungs-
Schauspieler kontinuierlich von ihrer Rolle distan- bezeichnung Übungsstück für Schauspieler. Vor diesem
ziert. Die Figurenrede wird während des gesamten Hintergrund verweist der Titel Play Strindberg gerade
Stücks von einem ausführlichen Nebentext begleitet, nicht nur auf den spielerischen Umgang mit dem klas-
der die nonverbalen Handlungen der Figuren im De- sischen Stoff, sondern auch auf den Versuch einer Ab-
tail beschreibt und damit die Wirkung eines genau or- kehr vom textuell fixierten, einmaligen Theaterstück
chestrierten Bühnengeschehens unterstützt. zugunsten einer gemeinschaftlichen und fortwähren-
Ist bei Strindberg noch eine stark naturalistisch ge- den praktischen Auseinandersetzung mit Text und
prägte Darstellung des bürgerlichen Milieus der Jahr- Stoff. Wohl aufgrund der Kenntnis der von Dürren-
hundertwende sichtbar, fällt in Play Strindberg genau matt intendierten engen Verbindung zwischen Büh-
dieses Illusionselement weg. Dürrenmatts Eliminie- nenarbeit und der Arbeit am Text hat man in der For-
rung der literarischen Seite (vgl. WA 12, 193) und die schung den Standpunkt vertreten, der Text sei ohne die
Akzentuierung des Spielcharakters geschieht nicht Umsetzung auf der Bühne gar nicht als Theaterstück zu
nur durch das hochartifizielle Bühnenbild und die Ne- begreifen (vgl. Rumler-Gross 1985, 218).
bentexte, sondern ebenso durch die Veränderung der Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung
sprachlichen Handlungen der Protagonisten. Erinnert mit dem Stück ist generell stark geprägt von den Über-
sich Alice im Totentanz noch an bessere gemeinsame legungen und Standpunkten, die Dürrenmatt selbst in
Zeiten während einer Kopenhagen-Reise – »Es waren seinem Bericht notiert. Im Zentrum stehen die Fragen
doch unsere besten Stunden!« (Strindberg 1958, 11) –, des Verhältnisses zwischen Originaltext (bzw. dessen
meint sie in Play Strindberg in kühlem Ton: »Meine deutschsprachiger Übersetzung) und der Bearbeitung
schönste Zeit in Kopenhagen war die Zeit, als ich dich sowie der dahinterliegenden Konzeption und Wir-
noch nicht kannte« (WA 12, 18). Tritt im Totentanz kungsabsicht Dürrenmatts. Betont wird, dass es nicht
der Ehestreit – so unerbittlich er ist – noch als funk- wie bei Strindberg um die genaue sprachliche Schil-
tionierender wechselseitiger Sinnaushandlungspro- derung der Figuren und ihrer inneren Befindlichkei-
zess zu Tage, fehlt bei Play Strindberg die ›Illusion‹ ei- ten gehe, sondern um die Darstellung eines gnadenlo-
nes produktiven Streits weitgehend. So richtet Alice in sen Ehekampfes (vgl. Tiusanen 1977, 332). Dabei wer-
Play Strindberg zwar die gleichen Vorwürfe an ihren den die auch für andere Dramen Dürrenmatts kenn-
Mann wie im Totentanz (Altersschwäche und Krank- zeichnenden stilistischen Elemente der Kürze und
heit, fehlendes Geld, die verlorene gesellschaftliche Knappheit sowie der Stilisierung der Figurenrede ge-
Stellung), jedoch scheint die gewollte Provokation in nannt. Sharp (1970, 280) fasst diesen Charakter präg-
Play Strindberg nicht mehr zu funktionieren. Zeigen nant mit der Metapher eines »word ping-pong«. In der
die Nebentexte im Totentanz noch an, dass sich Edgar stilisierten und stichomythischen Sprache findet der
über die Vorwürfe seiner Frau ärgert, weil sie ihn da- Emotionsausdruck keinen Platz mehr. Die Figuren in
mit im Kern seines bürgerlich-männlichen Stolzes an- Play Strindberg sind laut Sammern-Frankenegg (1991,
30  Play Strindberg 121

92) »keiner echten Gefühlsregung mehr fähig, weder sondern er ist vielmehr a priori vorhanden und wird
von Liebe noch Haß bewegt«. Aus den leidenden Fi- auch nicht durch die Figuren gelöst. Das Tragische im
guren des Totentanzes werden Rollen. Der schicksal- aristotelischen Sinn ist auch bei Strindberg nicht er-
hafte eheliche Einzelfall wird bei Dürrenmatt durch kennbar (vgl. Treib 1980, 119–121). Er legt mit dem
Mittel der Distanzierung zum grotesk dargestellten Dödsdansen also ein Fundament, das zumindest dra-
Modell. Dabei zeigen sich die Züge Dürrenmattscher menkonzeptionell bereits Charakteristika des moder-
Theaterintention besonders deutlich anhand der Fi- nen Dramas Dürrenmatts trägt, auch wenn es in Be-
gur Kurts, der nicht – wie bei Strindberg – als Quaran- zug auf die sprachliche Umsetzung – vielleicht nicht
tänemeister auf die Insel kommt, sondern sich als rei- zuletzt wegen der zugrunde liegenden deutschspra-
cher und krimineller Geschäftsmann entpuppt und chigen Übersetzungen – weit von Dürrenmatts Vor-
feststellt: »Ich durfte in eure kleine Welt hineinsehen. stellungen entfernt ist.
In der großen Welt, in der ich lebe, geht es in keiner
Weise schlechter zu: Nur die Dimensionen sind an- Literatur
Primärtexte
ders« (WA 12, 91). Damit löst sich die im Totentanz Play Strindberg. Totentanz nach August Strindberg. Zürich
verankerte Tragik des ehelichen Geschlechterkampfes 1969.
auf. Die bei Strindberg noch angelegte Heiligkeit und Play Strindberg. Totentanz nach August Strindberg. In: WA
Verklärung der Ehe ist in Play Strindberg durch deren 12, 9–93.
Gleichsetzung mit den kriminellen Handlungen in
der großen Welt Kurts nichtig geworden. Die Ehe und Sekundärliteratur
Rumler-Gross, Hanna: Thema und Variation. Eine Analyse
die darin stattfindenden zwischengeschlechtlichen der Shakespeare- und Strindberg-Bearbeitungen Dürren-
Konflikte fungieren nur noch als Modell für die (grau- matts unter Berücksichtigung seiner Komödienkonzep-
same) Wirklichkeit. tion. Köln, Wien 1985.
Das Groteske offenbart sich auch in der Figur Ed- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen.
gars, dessen Pläne und Handlungen infolge von Kurts Biographie. Zürich 2011.
Sammern-Frankenegg, Fritz: Exit Strindberg. Zur Eliminie-
Geständnis unterwandert und sinnlos werden. Die
rung Strindbergs in Friedrich Dürrenmatts Play Strind-
groteske Wirkung wird dadurch verstärkt, dass Edgar berg. In: Studia neophilologica 63 (1991), 89–93.
nicht wie im Totentanz stirbt, sondern lallend und un- Sharp, Sister C.: Dürrenmatt’s Play Strindberg. In: Modern
deutliche Laute von sich gebend überlebt. Die Wir- Drama 13 (1970), 276–283.
kung auf den Rezipienten ist nicht Identifikation und Strindberg, August: Totentanz. Erster Teil. Deutsch von Emil
Mitleid, sondern ein »Lachen als Ausdruck der Dis- Schering. München 1958.
Tiusanen, Timo: Dürrenmatt. A study in plays, prose,
tanzierung« (Treib 1980, 132). Dürrenmatt fasst diese theory. New Jersey 1977.
Verschiebung im Bericht wie folgt zusammen: »Aus ei- Treib, Manfred: August Strindberg und Edward Albee. Eine
ner bürgerlichen Ehetragödie wird eine Komödie vergleichende Analyse moderner Ehedramen (Mit einem
über die bürgerlichen Ehetragödien« (WA 12, 194). Exkurs über Friedrich Dürrenmatts Play Strindberg).
Angemerkt sei jedoch, dass der Dialog bereits bei Frankfurt a. M. 1980.
Winkler, Oliver: Von Strindbergs Dödsdansen zu Dürren-
Strindberg – zumindest im schwedischen Originaltext
matts Play Strindberg. Die Darstellung des Ehekonflikts in
– an etlichen Stellen durchaus groteske Züge trägt. Original, Übersetzung und Bearbeitung. In: Mona Enell-
Auch im Dödsdansen entsteht und entwickelt sich der Nilsson, Niina Nissilä (Hg.): VAKKI Symposium XXIX.
Konflikt weitgehend nicht durch die rationalen Ent- Sprache und Macht. Vaasa 2009, 409–420.
scheidungen und Handlungen der einzelnen Figuren,
Oliver Winkler
122 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

31 Dürrenmatt als Regisseur nierung der Komödie Der Besuch der alten Dame
(Stadttheater Basel, EA 12.11.1956), die Oskar Wälter-
Dürrenmatts Tätigkeit als Regisseur begann 1954 mit lin bereits in Zürich mit großem Erfolg auf die Bühne
der Inszenierung seines Stücks Die Ehe des Herrn Mis- gebracht hatte. Im Programmheft begründet Dürren-
sissippi in Bern und endete 1988 mit Achterloo IV, das matt seine Regie wie folgt: »Den Versuch, selber zu in-
der Dramatiker für die Schwetzinger Festspiele insze- szenieren, habe ich unternommen, meinem Stück
nierte und mit dem er seinen Abschied vom Theater weiterzuhelfen, es von der Handlung her noch einmal
(WA 18, 568–586) markierte. In diesem Zeitfenster durchzudenken. Nach der Arbeit am Schreibtisch
brachte er einige seiner eigenen Stücke auf die Bühne, muß die Arbeit auf der Bühne kommen. Eine Not-
nahm aber gelegentlich auch die Herausforderung der wendigkeit, die im Metier liegt« (Dürrenmatt 1956, 4).
üblichen Regiesituation an und inszenierte Fremdtex- Diese »Notwendigkeit« wird der Dramatiker während
te. Da die Aufführungen nur in Ausnahmefällen auf- seiner Karriere ständig fühlen, gleichgültig ob er selbst
gezeichnet wurden, sind die meisten Inszenierungen oder andere Regie führen. Ebenso spricht er im Pro-
Dürrenmatts lediglich aus sekundären Hinweisen zu grammheft über ein weiteres Erfordernis, nämlich
rekonstruieren. Während seine Klassikerinszenierun- über die Notwendigkeit, während der Proben Text-
gen (Zürich, 1970–1974) detailliert analysiert wurden änderungen zu machen (vgl. ebd.) – eine andere Kon-
(vgl. Carasevici 2011), standen Dürrenmatts Mise-en- stante seiner Theaterpraxis. Die Rezensionen beurteil-
scènes eigener Stücke bislang im Zentrum keiner aus- ten die Regie wieder negativ, während sie den Text
führlichen Studie. priesen: »Das Stück ist stärker als Dürrenmatts Regie-
Können« (Basellandschaftliche Zeitung, 20.11.1956).
Die Reaktion des Publikums scheint dagegen über-
Regietätigkeit in Bern und Basel wiegend positiv gewesen zu sein (vgl. Tages Anzeiger,
1.12.1956).
Die Perspektive einer konkreten Bühnenarbeit hat Die Bühnenrealisierung von Der Besuch der alten
sehr früh Dürrenmatts Interesse geweckt, noch vor Dame beschäftigte Dürrenmatt weiter, und 1959 in-
seinem einschlägigen Essay Theaterprobleme (1954). szenierte er das Stück in Bern am Atelier-Theater (UA
1950 verfasste er einen programmatischen Text, der 25.11.1959). Für diese Bühne erstellte er eine Neufas-
die Grundlage für ein gewagtes Projekt bilden sollte: sung, in der er die Figurenzahl und einige Szenen re-
die »Schweizerischen Kammerspiele«, ein neues Ber- duzierte. Sowohl diese Fassung als auch die Regie wur-
ner Theater, dessen Gründer ein junger Regisseur, ein den von den Rezensenten gelobt, die auch von einem
junger Theaterleiter und ein junger Dramatiker (na- »stürmischen Beifall« (Berner Tagblatt, 27.11.1959)
mens Friedrich Dürrenmatt) waren (vgl. Carasevici der Zuschauer und Zuschauerinnen berichteten.
2011, 46–49). Das Unternehmen wurde nie verwirk- Erst 1966 inszenierte Dürrenmatt wieder, diesmal
licht, aber Bern blieb der Ort von Dürrenmatts erster aber nicht für die Theaterbühne, sondern für das
wichtigen theaterpraktischen Erfahrung: der Insze- Fernsehen: Frank V (NDR, 16.2.1967). Eigentlich hat-
nierung von Die Ehe des Herrn Mississippi (Stadt- te der Dramatiker drei Jahre früher an einer Inszenie-
theater Bern, EA 3.2.1954). Seine Motivation bestand rung desselben Stücks in Bochum gearbeitet; nach
darin, sowohl sein Komödienkonzept als auch das Auseinandersetzungen mit dem Intendanten Hans
Schlüsselprinzip seines Theaterdenkens – nämlich Schalla hatte er das Projekt aber fallen gelassen. 1966
»mit der Bühne zu dichten« (WA 30, 12) – in der Pra- bearbeitete der Autor den Text wieder und so entstand
xis auszuprobieren (vgl. Dürrenmatt 1954, 2). Die die Fernsehfassung, die er für den NDR inszenierte –
meisten Rezensionen lobten den Dramentext, zeigten allerdings nicht mit großem Erfolg (vgl. Neue Zürcher
aber weniger Interesse an der Regie an sich, und wenn Zeitung, 19.2.1967).
doch, dann in kritischer Weise: Der Regisseur Dür- 1968 übernahm Werner Düggelin die Leitung der
renmatt habe eine offensichtliche Vorliebe für starke vereinigten Basler Theater und lud Dürrenmatt ein,
Bühneneffekte (vgl. Der Bund, 5.2.1954), es fehle aber dem neugebildeten Stab als künstlerischer Berater
die Routine des Praktikers (vgl. Tages Anzeiger, beizutreten. Der Dramatiker nahm die angebotene
9.2.1954). Dieselben Rezensionen berichteten auch Stelle an, »in der Hoffnung, hier sein ›BE‹, sein ›Basler
von einer geteilten Publikumsreaktion. Ensemble‹ zu finden« (Rüedi 2004, 286) und – wie
Zwei Jahre später übernahm Dürrenmatt wieder Brecht – seinen »Traum vom eigenen Theater« (Rüedi
die Rolle des Regisseurs, diesmal für eine Basler Insze- 1996, 222 f.) zu verwirklichen. In Basel bearbeitete

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_31
31  Dürrenmatt als Regisseur 123

Dürrenmatt zwei Dramentexte – Shakespeares König 171), und Dürrenmatts Verwendung dieser Text-In-
Johann und August Strindbergs Totentanz – an deren serate ist ebenfalls im Sinne Brechts als episches Thea-
Inszenierung er auch aktiv teilnahm. Im Falle von To- ter zu verstehen (vgl. Carasevici 2011, 86–89). Die Be-
tentanz, das Play Strindberg wurde, war er neben Erich setzung ist an sich ein grotesker Grundeinfall, denn
Holliger sogar Co-Regisseur: »Die ›Auftragswerke‹ Dürrenmatt lässt keinen jungen, sondern einen alten
König Johann und Play Strindberg entstehen in enger Mann – den unverjüngten Faust – ein junges Mäd-
Zusammenarbeit mit Ensemble und Dramaturgen als chen verführen. Das gesamte dramaturgische Denken
eine ›Bühnenpartitur‹, die erst während der Proben hinter der Inszenierung ist stark von Dürrenmatts Ko-
ihre endgültige Gestalt gewinnt, ja die sich im Fall von mödienkonzeption geprägt (vgl. Carasevici 2016,
Play Strindberg erst in der Zusammenarbeit mit den 146). Der Zürcher Urfaust beinhaltet auch Reminis-
Schauspielern konstituiert« (Rumler-Gross 1985, 69). zenzen der Basler Umarbeitungen, besonders Play
Diese Arbeitsweise wird Dürrenmatt von nun an wei- Strindberg: einerseits das Konzept der ›Bühne auf der
terentwickeln, besonders in Zürich, wo er wieder selb- Bühne‹, andererseits die Bühnenverwandlungen ohne
ständig inszeniert, meistens nicht seine eigenen Dra- Bühnenarbeiter, sondern mit den Schauspielern bei
mentexte. Sein Regiedenken ist am besten anhand offener Szene, was ganz im Sinne Peter Brooks eine ge-
dieser üblichen Regiesituation zu beurteilen. wisse Theaterwerkstatt-Atmosphäre schafft. Die zwie-
spältigen Rezensionen neigen dazu, den Regisseur
und sein Team (Schauspieler, Bühnenbildner Michel
Zürich: Klassikerinszenierungen Raffaëlli usw.) an gegensätzlichen Extremen zu posi-
tionieren (vgl. Carasevici 2011, 106–111).
1970 wurde Dürrenmatt von Harry Buckwitz und Nach dem Urfaust führte Dürrenmatt seine Regie-
Werner Wollenberger vom Schauspielhaus Zürich als tätigkeit am Schauspielhaus Zürich mit der Inszenie-
künstlerischer Mitarbeiter der Direktion eingeladen. rung einer Neubearbeitung seines eigenen Stücks Por-
Hier inszenierte er Goethes Urfaust, Büchners Woy- trät eines Planeten fort (UA 25.3.1971). Im Programm-
zeck und Lessings Emilia Galotti, aber auch zwei eige- heft macht er entscheidende Bemerkungen zur zen-
ne Stücke: Porträt eines Planeten und – in letzter Mi- tralen Funktion der Schauspieler: »Ich schreibe meine
nute – Der Mitmacher. Wie bei Play Strindberg kann Theaterstücke nicht mehr für Schauspieler, ich kom-
auch die Aufführung des letztgenannten Stücks nicht poniere sie mit ihnen. Ich gebe die Literatur zuguns-
hundertprozentig als eigene Inszenierung gelten: ten des Theaters auf« (Dürrenmatt 1971, 5). Die meis-
Infolge des Rückzugs von Andrzej Wajda musste der ten Kritiker beurteilten Dürrenmatts Text negativ,
Dramatiker kurz vor der Uraufführung die Regie hielten seine Regiearbeit aber für ziemlich gelungen
übernehmen (vgl. Weber 2006, 51). Die Mise-en-­ (vgl. Bachmann 1971), zumindest im Vergleich zur
scène wurde von der Kritik verrissen, aber Dürren- Düsseldorfer Uraufführung (1970, R.: Erwin Axer).
matt kapitulierte nicht und inszenierte das Stück im Dürrenmatts Woyzeck-Inszenierung (UA 17.2.1972)
selben Jahr noch einmal am Mannheimer National- stützt sich auf eine Collage aus Büchners vier verschie-
theater (EA 30.10.1973). Obwohl überwiegend nega- denen Manuskripten (vgl. Carasevici 2011, 118–131).
tiv, betonten die Rezensionen den Umstand, dass die Die Novität besteht grundsätzlich im Zusammenbrin-
Mannheimer Inszenierung besser als jene in Zürich gen zweier Szenen, was die Gleichsetzung zwischen
gewesen sei (vgl. Rühle 1973). Woyzeck und einem von Büchner unbenannten Bar-
Zurück ins Jahr 1970 und zu den Klassikern: Dür- bier bzw. zwischen dem Tambourmajor und einem
renmatts Wahl, den Urfaust zu bearbeiten und zu in- ebenfalls unbenannten Unteroffizier zur Folge hat (vgl.
szenieren (UA 22.10.1970), wird von seinem Wunsch Weber 2011, 199). Dürrenmatts Beschäftigung mit den
begleitet, Goethe und seinen Faust-Stoff zu entmythi- Möglichkeiten der Schauspielerei wird immer intensi-
sieren (vgl. Carasevici 2011, 86–92). Im Vergleich zu ver, und in Verbindung damit ist auch der extreme Mi-
seinen Basler Umarbeitungen lässt er in seiner Ur- nimalismus des Bühnenbildes zu sehen. In dieser Hin-
faust-Bearbeitung das Original fast unberührt und sicht lässt sich Dürrenmatts Regiedenken auch in An-
konzentriert sich eher auf strukturelle Änderungen lehnung an Peter Brooks Theorie vom ›leeren Raum‹
und besonders auf einige Einfügungen aus dem Volks- (vgl. Brook 1968) verstehen. Aus fast allen Rezensio-
buch vom Doktor Faustus. Den Urfaust im Hinblick nen, die nicht sehr positiv waren, resultiert das Bild ei-
auf das Volksbuch zu inszenieren, ist eine Idee, die ei- nes eher zurückhaltenden Regisseurs (vgl. Carasevici
gentlich von Brecht stammt (vgl. George 2011, 161– 2011, 151).
124 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

Zwischen zwei Klassiker-Inszenierungen kehrte (UA 13.9.1979 in Wilhelmsbad/Hanau). Die Rezen-


Dürrenmatt 1973 mit den erwähnten Mitmacher-In- sionen waren hauptsächlich negativ (vgl. Schnell
szenierungen, aber auch mit einer Mise-en-scène von 1979) und vergällten Dürrenmatts Abschied, der oh-
Die Physiker (für das Schweizer Tournee-Theater) nehin keiner war.
wieder zu seinem eigenen Werk zurück. Trotz der Be- Der tatsächliche Abschied von der Regie und vom
kanntheit des Textes und des Autor-Regisseurs wird Theater im Allgemeinen erfolgte neun Jahre später mit
die letztgenannte Inszenierung von der Kritik nahezu der Inszenierung von Achterloo IV für die Schwetzin-
ignoriert. ger Festspiele (UA 17.7.1988) mit Josef Svoboda als
Dürrenmatts letzte Inszenierung am Schauspiel- Bühnenbildner. Die Kritik reagierte weniger auf die
haus Zürich war Emilia Galotti (EA 5.6.1974). Der Regie, sondern eher auf die glänzende Besetzung und
Text bleibt fast unangetastet, es gibt nur einige Striche: auf das Element der Sensation: Dürrenmatts Abschied
Gekürzt werden in erster Linie alle Übertreibungen von der Bühne (vgl. Schär 1988). Roman Brodmann,
und Künstlichkeiten eines Aufklärungsdramas, um der die Proben mit der Filmkamera verfolgt hat, skiz-
den Weg zum zeitgenössischen Publikum zu finden ziert im Programmheft das Bild des Autors als Regis-
(vgl. ebd., 168–172). Darauf zielt eigentlich das ge- seur, wie es aus der Regiearbeit zu Achterloo IV her-
samte Regiekonzept, in dem Dürrenmatt zwei wichti- vorgeht. Seine Worte gelten eigentlich für das ganze
ge Aspekte von Lessings Text in den Vordergrund Regiedenken Dürrenmatts: »Nie ein besserwisseri-
stellt: die Kritik an einem politischen System und den scher Peitschenknall, Führung schon: Dürrenmatt
Konflikt zwischen Mann und Frau, wobei beide As- kommt es darauf an, daß der Schauspieler genau weiß,
pekte unter dem Stichwort ›Missbrauch‹ verbunden was er warum sagt, und daß er bei der Wahl seines
werden (ebd., 173–177). Im Vergleich zu den Urfaust- Ausdrucks von diesem Wissen Gebrauch macht. Es ist
und Woyzeck-Inszenierungen kann man bei Emilia ein Idealfall von Theater« (Brodmann 1988, 7). In der
Galotti keineswegs von einem minimalistischen Büh- Beschreibung einer Probe nennt Brodmann das Stich-
nenbild sprechen. Die prächtige Renaissance-Szenerie wort, das ebenfalls für die gesamte Regietätigkeit des
erlaubte keine Theaterwerkstatt-Atmosphäre (vgl. Dramatikers steht: »Theaterwerkstatt« (ebd.).
ebd., 181–183). Ironischerweise war das Bühnenbild
das Einzige, was die Kritik an der Inszenierung lobte Literatur
Primärtexte
(vgl. ebd., 184–189).
Abschied vom Theater. In: WA 18, 568–586.
Begründung einer Regie. In: Programmheft zu Der Besuch
der alten Dame. Stadttheater Basel 1956, 4.
Der lange Abschied von der Regie Die Ehe des Herrn Mississippi. Nachschrift zur Schweizer
Erstaufführung. In: Programmheft zu Die Ehe des Herrn
Mississippi. Stadttheater Bern 1954, 2.
Erst vier Jahre nach der produktiven, für ihn aber ent-
Etwas über die Kunst, Theaterstücke zu schreiben. In: WA
täuschenden Zürcher Bühnenerfahrung führte Dür- 30, 11–15.
renmatt erneut Regie: Es ging diesmal wieder um ei- Gespräch mit Nicolaus Windisch-Spoerk (1978). In: Pro-
nen eigenen Text, nämlich um Der Meteor (Theater in grammheft zu Der Meteor. Theater in der Josefstadt, Wien
der Josefstadt, Wien, UA 23.11.1978). In einem im 1978, 22–25.
Programmheft veröffentlichten Interview sagt der Au- Porträt eines Planeten. Vorwort zur Zürcher Fassung. In:
Programmheft zu Porträt eines Planeten. Schauspielhaus
tor, dass jede Regie eine Neufassung sei und dass die
Zürich 1971, 2–6.
Ursache der Veränderungen die Schauspieler und
Schauspielerinnen seien (vgl. Dürrenmatt 1978, 22). Sekundärliteratur
Die Theaterrezensionen waren positiv und berichte- Bachmann, Dieter: Wie es euch gefällt. In: Die Weltwoche,
ten auch von einer affirmativen Publikumsreaktion 2.4.1971.
(vgl. Sebestyen 1978). Brodmann, Roman: Der Dramatiker führt Regie. In: Pro-
grammheft zu Achterloo IV. SDR 1988, 7.
Trotz des Wiener Erfolgs beschloss der Dramatiker, Brook, Peter: The Empty Space. London 1968.
seinen Abschied von der Regie vorzubereiten: Die In- Carasevici, Dragoş: Die Klassiker dürrenmattisiert. Fried-
szenierung der Panne werde seine letzte Regiearbeit, rich Dürrenmatt als Regisseur. In: Ders., Alexandra Chi-
so Dürrenmatt (vgl. Berner Zeitung, 19.9.1979). Auf riac (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Rezeption im Lichte der
die Bitte seines Freundes Egon Karter (vgl. 1991, 75) Interdisziplinarität. Iaşi, Konstanz 2016, 143–152.
Carasevici, Dragoş: Produktive Rezeption im deutschspra-
dramatisierte der Autor seine gleichnamige Novelle
chigen Theater. Dramen der Weltliteratur in Friedrich
und inszenierte sie für das Gastspieltheater Karters
31  Dürrenmatt als Regisseur 125

Dürrenmatts Umarbeitung. Diss. Universität Genf, Uni- Anfang eines langen Abschieds. In: Jürgen Söring,
versität Jassy 2011. Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. Frank-
George, Marion: Lesarten – Goethes Urfaust bei Brecht und furt a. M. 2004, 285–306.
Dürrenmatt. In: Véronique Liard, Dies. (Hg.): Dürrenmatt Rüedi, Peter: Der Traum vom eigenen Theater. In: Luis Bol-
und die Weltliteratur – Dürrenmatt in der Weltliteratur. liger, Ernst Buchmüller (Hg.): Play Dürrenmatt. Ein Lese-
München 2011, 157–190. und Bilderbuch. Zürich 1996, 222–223.
Karter, Egon: Hommage an Friedrich den Grossen von Rühle, Günther: Dürrenmatt rettet sich selbst. In: Frankfur-
Konolfingen. Geschichten von und mit Friedrich Dürren- ter Allgemeine Zeitung, 2.11.1973.
matt. Hg. von Raymond Petignat. Basel 1991. Rumler-Gross, Hanna: Thema und Variation. Eine Analyse
N. N.: Basler Stadttheater: Der Besuch der alten Dame. In: der Shakespeare- und Strindberg-Bearbeitungen Dürren-
Basellandschaftliche Zeitung, 20.11.1956. matts unter Berücksichtigung seiner Komödienkonzep-
N. N.: Blick auf den Bildschirm: Frank V von Friedrich Dür- tion. Köln, Wien 1985.
renmatt. In: Neue Zürcher Zeitung, 19.2.1967. Schär, Markus: Abgang mit Achterloo: Der alte Fritz hat alles
N. N.: Der Besuch der alten Dame im Atelier-Theater. In: gesagt. In: Sonntagszeitung, 19.6.1988.
Berner Tagblatt, 27.11.1959. Schnell, Urs: Ein offener Brief statt Theaterkritik. In: Berner
N. N.: Dürrenmatt als Regisseur. In: Tages-Anzeiger, Zeitung, 11.12.1979.
1.12.1956. Sebestyen, György: »Der Tod ist das einzig Wirkliche«. In:
N. N.: Schweizer Bühnen: Dürrenmatt-Erstaufführung in Wiener Zeitung, 25.11.1978.
Bern. In: Tages Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich, Weber, Ulrich: »Der grässliche Fatalismus der Geschichte«.
9.2.1954. Friedrich Dürrenmatt und Georg Büchner. In: Véronique
N. N.: Stadttheater Bern: Die Ehe des Herrn Mississippi. Liard, Marion George (Hg.): Dürrenmatt und die Weltlite-
Eine Komödie von Friedrich Dürrenmatt. In: Der Bund, ratur – Dürrenmatt in der Weltliteratur. München 2011,
5.2.1954. 191–213.
N. N.: Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts Panne. In: Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
Berner Zeitung, 19.9.1979. Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
Rüedi, Peter: Die glücklichste Zeit, die schlimmste Erfah-
rung. Friedrich Dürrenmatts Basler Abenteuer oder Der Dragoş Carasevici
H Späte (Meta-)Dramatik

32 Porträt eines Planeten Am Anfang steht das Bühnenbild: »Im Hinter-


grund leuchtet [...] die Milchstraße auf« (WA 12, 97).
Entstehung Vier greise Gestalten treten ein, die sich als Götter vor-
stellen. Auf ihrer Wanderung durch das All gönnen sie
Porträt eines Planeten mit dem Untertitel Übungs- sich ermüdet eine Sitzpause. Man beobachtet ein
stück für Schauspieler wurde am 10.11.1970 in Lichtphänomen in der Milchstraße: »Eine Sonne dort
Düsseldorf uraufgeführt. Die für die Saison 1969/70 geht hops. [...] Sie wird eine Supernova.« Man macht
in Basel geplante Premiere wurde durch den Herz- sich Gedanken: »Ob sie wohl Planeten hat? [...] Mit
infarkt des Autors und sein Ausscheiden aus den Pflanzen, Tieren, Menschen.« Aber die Gesprächs-
Basler Theaterprojekten vereitelt. 1971 inszenierte partner sind schwerhörig und vegetieren am Rande
Dürrenmatt eine Neufassung des Stückes am Schau- der Demenz: »Mit Lebewesen kenne ich mich auch
spielhaus Zürich. Diese Aufführung wurde vom nicht aus. [...] Spielt ja auch keine Rolle. [...] Hops geht
Schweizer Fernsehen in Koproduktion mit dem Süd- sie ohnehin« (98–101). Am Ende des Stückes wird,
deutschen Rundfunk aufgezeichnet. Zur Erstaus- formal rahmenbildend, derselbe Dialog wiederholt,
strahlung dieser Aufzeichnung am 15.11.1971 trug aber in die Vergangenheitsform transponiert. Die kos-
Dürrenmatt einen Text vor, den er 1980 als Nachwort mische Katastrophe ist vorbei, die Götter ziehen wei-
zu ›Porträt eines Planeten‹ in die Werkausgabe auf- ter. Diese gleichgültige Haltung kann das Publikum
nahm (vgl. WA 12, 195–201). Die Erstausgabe des nicht einnehmen, denn auf dem Planeten, von dem
Stücks erschien 1971 im Arche Verlag. die Rede ist, leben wir Menschen. Die Parodie der
Götter wird zum Reflexionsanstoß, der den Menschen
auf sich selbst zurückwirft.
Inhalt und Form Wie die Menschen auf dem in den nächsten Minu-
ten verdampfenden Planeten sich verhalten würden,
In Porträt eines Planeten wird die Erde »im Lichte ih- was ihnen in dieser Situation wichtig wäre, was sie von
res plötzlichen Untergangs« (WA 12, 197) porträtiert. dieser Situation überhaupt erfassen und wie sie ihr
Das Licht dieser Katastrophe wird als Energiewelle ei- Wissen und ihre Werte am Ende leben würden – dem
ner explodierenden Sonne vorgestellt, die ihr Plane- geht das Porträt eines Planeten in kaleidoskopartig
tensystem in den Untergang reißt. Auf einem dieser komponierten Szenen nach. Viele beleuchten das The-
Planeten leben wir Menschen. Dieses Ereignis ist un- ma Krieg: Ein Soldat stirbt an einem Bauchschuss (vgl.
wahrscheinlich, denn unsere Sonne gilt als stabil auf 123–125); Kriegswitwen blättern im Coiffeursalon in
lange Frist. Aber auch das Unwahrscheinliche kann Modejournalen und suchen Vergessen in einem tod-
eintreten, es ist nicht unmöglich (vgl. WA 30, 203). Im traurigen Konsumalltag (vgl. 125–128); Diplomaten
Zeitalter des Vietnamkriegs und der sich anbahnen- rauchen in einer Verhandlungspause Zigarre und re-
den Klimaerwärmung unternimmt Dürrenmatt, was den zynisch darüber, warum der Krieg nicht zu früh
Karl Kraus mit seiner »bis ins Enorme aufgeschwol- enden darf (vgl. 128–130). Diese Szenen sind komple-
lene[n] Tragödie« Die letzten Tage der Menschheit mentär aufeinander bezogen. Andere sind so ange­
(1919/22; WA 12, 197 f.) auch wollte: seine Zeit kri- ordnet, dass sich rahmenbildende Symmetrien erge­
tisch darzustellen. Anders als Kraus versucht er dies ben, z. B. spiegeln sich vier Monologe uralter Frauen zu
bühnentechnisch mit »kärglichsten Mitteln« (198), Beginn des Stückes und vier Monologe uralter Männer
was den Schauspielern allerdings das Extremste an gegen Ende. Ihre Lebensbilanzen sind Bilanzen des
Verwandlungskunst abverlangt. Scheiterns. Doch Scheitern erzeugt keine Gemeinsam-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_32
32  Porträt eines Planeten 127

keit. Gescheitert wenden sie sich voneinander ab (vgl. nen-Setting gerade nicht realistisch ist (z. B. das ver-
164) oder leben in den geschlossenen Räumen ihrer folgte Liebespaar in Zeiten der Apartheid, in dunkels-
Demenz. Nur selten erscheinen Menschen, die auch ter Nacht – bei hell erleuchteter Bühne, vgl. 130–136).
am Ende noch das Wagnis der Liebe eingehen; ange- Mit solchen Theaterstrategien zielt Dürrenmatt auf die
sichts ihrer Trauer erwacht für Sekunden Mitgefühl aktive Beteiligung des Zuschauers beim imaginären
und Sympathie. Ein Beispiel: Ein Mann und eine Frau Aufbau der Theater-Fiktionen. Das dargestellte ›Reale‹
ducken sich im Dschungel unter einem Bomber- weist stets gleichnishaft auf das Gemeinte, auf eine Be-
angriff. Die Szene evoziert den Vietnam-Krieg. Die deutung, die nur das Publikum konstituieren kann.
beiden fürchten um das Leben ihres Sohnes. Doch als Das Risiko dieser Strategie ist hoch, denn wenn das Pu-
die Frau Zweifel am Sinn des Krieges ausspricht, ohr- blikum die mitdenkende und mitfühlende Aufbau-
feigt sie ihr Mann: Es ist lebensgefährlich, unter dem arbeit verweigert, bleiben nur triviale Alltagssituatio-
totalitären Regime Zweifel auszusprechen. Die Ohrfei- nen auf der Bühne zurück (vgl. 197).
ge ist ein Zeichen der Angst, aber auch ein Zeichen der Es gibt allerdings einen roten Faden, der dem Zu-
Sorge und der Liebe und wird als solches verstanden schauer von Szene zu Szene erlauben würde, einen Zu-
(vgl. 122). Genau in der Mitte von Porträt eines Plane- sammenhang zu bilden. Aber dieser Zusammenhang
ten befindet sich das Gespräch dreier Kriegsgefange- ist kein dramatisch handlungsbezogener, er zeigt viel-
ner angesichts ihrer unmittelbar bevorstehenden Hin- mehr die physikalische Entwicklung des Systems Erde
richtung. Diese Szene ist als genaues Gegenstück zum in seinem Bezug zum Kosmos auf. Der Klimawandel
rahmenbildenden Dialog der Götter komponiert und zieht sich als Leitmotiv durch alle Szenen. Sogar die
fasst die noch mögliche humane Weltsicht zusammen: Soldaten im Dschungelkrieg nehmen die zunehmende
»Ein Wissenschaftler hat mir gesagt, wenn die Erde Hitze wahr und sie fluchen: Die »Scheißsonne« »könn-
kleiner wäre, hätte sie keine Atmosphäre, und wenn sie te zur Abwechslung auch mal explodieren« (124). Sie
näher an der Sonne läge, würde sie verbrennen.« wissen nicht, was wir als Zuschauer aufgrund des ein-
»Wahrscheinlich.« »Die Erde ist eine Chance.« »Offen- leitenden Dialogs der Götter wissen: Die Sonne ist ge-
sichtlich.« »Der Mensch kann denken.« »Manchmal.« rade dabei, es zu tun. Das Katastrophenbewusstsein
»Seine Ideen können nicht erschossen werden.« »Of- wird akut in der Szene, die im Kommandobunker des
fenbar.« »Die bessere Welt liegt in der Zukunft.« »Ver- Staatspräsidenten einer Großmacht spielt (vgl. 172–
mutlich.« »Du bist pessimistisch.« »Wir werden an die 179). Der Präsident ist ungehalten über die wachsende
Wand gestellt« (146). Gleich darauf singen drei Schau- Anzahl zerstörerischer Hurrikane, denn sie verhin-
spielerinnen das Lied Der Wanderer an den Mond von dern die Fortsetzung des Dschungelkrieges. Nun be-
Franz Schubert: »Ich auf der Erd’, am Himmel du, / wir ginnt der Streit der Experten. Die Erklärung des Kli-
wandern beide rüstig zu« (147 f.). Nach beendigtem mawandels durch die unmittelbar bevorstehende In-
Gesang werfen sie die Notenblätter in einen Blech- stabilität der Sonne wird zwar von einem Professor der
kübel. Drastischer könnte man nicht zeigen, dass die Temple University in Philadelphia vertreten, aber die-
im Lied implizierte harmonisch-heimatliche Kosmo- ser wird umgehend zum Narren erklärt, denn die In-
logie für Dürrenmatt nicht mehr zu den »noch mögli- stabilität der Sonne würde ja das Ende der Erde bedeu-
che[n] Geschichte[n]« (WA 21, 35) gehört. ten, und das könne nicht sein.
Die Klimaerwärmung wird in Porträt eines Plane-
ten als Konsequenz erhöhter Sonnenaktivität ver-
Kontextwissen, Wirkungsästhetik standen, die sich in einer höheren Anzahl beobacht-
barer Sonnenflecken manifestiert (z. B. 168 f.). Das
Dürrenmatt war sich bewusst, mit seinem experimen- entspricht dem möglichen Wissen zur Entstehungs-
tellen Übungsstück »an die Grenze dessen vorgestoßen zeit des Übungsstücks. Bis etwa 1960 verlief die Kurve
zu sein, was eigentlich Theater vermag« (WA 12, 199). der Klimaerwärmung parallel zur Kurve vermehrter
Porträt eines Planeten weist keine durchgehende Hand- Sonnenflecken-Tätigkeit. Ab 1960 ging die Sonnenfle-
lung auf. Acht Schauspielerinnen und Schauspieler er- cken-Aktivität wieder zurück, die Erderwärmung je-
halten die Aufgabe, sich auf offener Bühne in Sekun- doch nicht (vgl. Russel 2014). Dieses Auseinandertre-
denschnelle in verschiedene Personen zu verwandeln ten der Kurven ist heute ein starkes Argument dafür,
und nur mit Hilfe spärlichster Requisiten unterschied- den Klimawandel als menschengemacht zu verstehen.
lichste Situationen zu evozieren, die für den Zuschauer In den späten 1960er Jahren war dieses Argument
als Theater-Fiktionen funktionieren, obschon das Büh- noch nicht möglich.
128 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

Dürrenmatt weist im Nachwort zu ›Porträt eines selten, oft gerade nicht oder doch nur in verkümmer-
Planeten‹ auf den Kontext einer »kosmologischen Hy- ten Ansätzen zur Sprache. Die Konfrontation mit dem
pothese« hin, die behauptet, »daß Planeten [...] nur Ethischen ist vielmehr als Wirkung des Übungsstückes
dann entstehen, wenn die auseinanderfegende Mate- im »äußeren Kommunikationssystem« (ebd.) zu ver-
rie von explodierenden Sonnen (Supernovae) Wasser- stehen, als Appell an das Publikum. Dieser Appell
stoffwolken beschmutzt, [...] so daß wir eigentlich auf könnte lauten, angesichts der Endlichkeit des Lebens
den Überresten einer unvorstellbaren Weltkatastro- auf der Erde nicht zum zynischen Nihilisten zu werden,
phe leben« (WA 12, 195). Diese kosmologische Hypo- sondern sich auf die Seite derjenigen zu stellen, die das
these bezieht sich auf die Theorie der Entstehung der Wagnis der Liebe eingehen, die also um etwas zu trau-
schweren Elemente in Supernovae, die Fred Hoyle ern haben, falls die Katastrophe eintreten sollte.
1946 und 1954 aufgestellt hat. In Dürrenmatts Biblio-
thek befindet sich dessen astrophysikalisches Einfüh-
rungswerk Das grenzenlose All (1963); aus dieser Rezeption
Quelle bezieht der Autor u. a. sein Wissen über die
Evolution des Kosmos. Die Literaturkritik hat sich zur Deutung des Porträt[s]
Fast alle der im Porträt dargestellten Menschen ha- eines Planeten bisher meist auf einzelne inhaltliche
ben astronomisches Wissen oder Halbwissen und bau- Hinweise zur Kosmologie aus dem Nachwort gestützt
en es in ihre Haltung gegenüber dem unausweichlichen und sich kaum auf die Analyse des Werks eingelassen.
Ende ein. Die Art und Weise, wie sie mit diesem Wissen Da es in diesem neuartigen Theaterstück nicht mehr
umgehen, charakterisiert ihre existentielle Position zu möglich ist, die Handlung eines ›mutigen Menschen‹
Leben und Tod und zu den Werten, die Humanität de- als Plot zusammenzufassen, scheint die Kritik dem Ex-
finieren könnten. Damit bestätigt sich auch in Porträt periment eher hilflos und verärgert gegenüberzuste-
eines Planeten, was in Dürrenmatts literarischen Texten hen. Stellvertretend sei auf Rusterholz (2007, 300 f.)
immer wieder zu beobachten ist: Die Bezugnahme auf verwiesen, der, den Tenor bisheriger Beurteilung zu-
den Kosmos ist perspektivisch gebrochen. Damit öff- sammenfassend, dem Stück »Trivialität« und »unfrei-
nen sich Spielräume für ironische Strategien und für die willige Komik« vorwirft, aber die Leitmotive des Kli-
wirkungsästhetische Lenkung von Sympathie in allen mawandels und des astronomischen Wissens nicht re-
Schattierungen des Bewertungsspektrums zwischen konstruiert, die Funktion der Kulturzitate daher ver-
mitfühlender Identifikation und empörter Distanzie- kennt und die wirkungsästhetische Dimension außer
rung. Wie ergiebig es sein kann, die wirkungsästheti- Acht lässt. Mit seinem dramaturgischen Experiment
schen Kategorien der Dramenanalyse von Pfister (1975; realisiert Dürrenmatt bereits in den späten 1960er Jah-
1978) im Umgang mit Dürrenmatts Theaterpartituren ren, was Michel Serres 2016 in einem geschichtsphi-
konsequent anzuwenden, hat Käppeli (2013) gezeigt. losophischen Essay fordert: Die traditionelle histori-
Das wirkungsästhetische Konzept seiner neuen ex- sche Selbstreflexion des (europäischen) Menschen ha-
perimentellen Darstellungsweise hat Dürrenmatt am be mehrere Akte des Vergessens rückgängig zu ma-
präzisesten in seinen Sätzen über das Theater dar- chen: das Vergessen der kulturellen Vielfalt, der
gestellt, die zeitlich parallel zum Porträt eines Planeten Umwelt, der biologischen Evolution, des Planeten, des
entstanden und deren Kernsatz er in seinem Nachwort Universums und seiner astrophysikalischen Aspekte.
zitiert. Nach Dürrenmatts ›Poetik des Unwahrscheinli- Man kann Dürrenmatt und seinem gewagten drama-
chen‹ ist es die Aufgabe des Dramatikers, »daß er be- turgischen Experiment vieles vorwerfen, aber nicht,
schreibt, was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn dass er diese Kultur des Vergessens weitergeführt habe.
sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereig-
nen würde« (WA 30, 207). »Durch die schlimmstmög- Literatur
Primärtexte
liche Wendung, die ich einer dramatischen Fiktion ge- Porträt eines Planeten. Übungsstück für Schauspieler.
be, erreiche ich auf einem merkwürdigen Umweg über Zürich 1971.
das Negative das Ethische: Die Konfrontierung einer Porträt eines Planeten. Übungsstück für Schauspieler. In:
gedanklichen Fiktion mit dem Existentiellen« (209). WA 12, 95–189.
Diese Konfrontation mit dem Ethischen, mit dem Exis-
tentiellen, findet im Wesentlichen nicht auf der Bühne Sekundärliteratur
Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
statt, nicht im »inneren Kommunikationssystem« matt. Weimar 2013.
(Pfister 2001, 67). Dort kommt sie nämlich nur ganz
32  Porträt eines Planeten 129

Pfister, Manfred: Das Drama [1975]. München 2001. behauptungen/behauptung-die-sonne-verursacht-den-


Pfister, Manfred: Zur Theorie der Sympathielenkung im klimawandel (12.8.2019).
Drama. In: Werner Habicht, Ina Schabert (Hg.): Sym- Rusterholz, Peter: Friedrich Dürrenmatt. In: Ders., Andreas
pathielenkung in den Dramen Shakespeares. München Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart,
1978, 20–34. Weimar 2007, 280–311.
Russel, John: Behauptung: »Die Sonne verursacht den Kli- Serres, Michel: Darwin, Bonaparte et le Samaritain: une phi-
mawandel«. In: https://www.klimafakten.de/ losophie de l’histoire. Paris 2016.

Rudolf Käser
130 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

33 Der Mitmacher Inhalt und Analyse

Entstehungs-, Publikations- und Auf- Ein heruntergekommener, einst in der Spitzenfor-


führungsgeschichte schung tätiger Biochemiker (Doc) lässt sich in einer
namenlosen Großstadt von einem Gangster (Boss)
Gemäß Dürrenmatts Darstellung in Der Mitmacher. dazu anheuern, Leichen durch ein chemisches Ver-
Ein Komplex (WA 14, 232–235) hatte er den Einfall fahren spurlos aufzulösen. Er arbeitet schon einige
zum Mitmacher-Stoff 1959 anlässlich eines New York- Zeit für dieses Unternehmen, als der Polizeichef der
Aufenthalts. Dürrenmatt hat diesen ersten Ansatz erst Stadt (Cop) die Machenschaften entdeckt und eine
nach der Uraufführung der Komödie 1973 wieder auf- Beteiligung von 50 Prozent an den Zahlungen für die
genommen und als ursprüngliche Version des Stoffs Leichenvernichtung erpresst. Doc hegt die Hoffnung,
in der Erzählung Smithy »rekonstruiert« (ebd., 261). bald aussteigen und ein neues Leben mit seiner Ge-
Die Komödie selbst wurde in den Jahren 1971–1973 liebten Ann beginnen zu können. Doch gerät er zu-
(mit den Arbeitstiteln Die Erfindung und Die Mit- nehmend in Verstrickungen: Nicht nur ist Ann ohne
macher) niedergeschrieben und am 5.3.1973 am sein Wissen zugleich die Geliebte von Boss; Doc sieht
Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Der Urauffüh- sich zudem in seiner ›beruflichen‹ Funktion unver-
rung waren Auseinandersetzungen Dürrenmatts mit mittelt seinem eigenen Sohn Bill gegenüber, der – als
dem polnischen Regisseur Andrzej Wajda voraus- Erbe eines Chemiekonzerns der reichste Mann des
gegangen, die in dessen Rückzug eine Woche vor dem Landes – die Gangsterbande für seine revolutionären
Premierentermin gipfelten. Der Autor übernahm da- Zwecke einspannen will und eine Serie von Präsiden-
raufhin selbst die Regie. Die Uraufführung war ein tenmorden plant, aber seinerseits von seinem Auf-
Misserfolg – Dürrenmatt sprach im Rückblick von ei- sichtsrat auf die Abschussliste gestellt wird. Diese in-
nem »Debakel« (WA 30, 236) und von einer seiner stitutionellen und privaten Konflikte führen dazu,
»grössten Theaterniederlagen« (zit. nach Weber 2007, dass schließlich alle Hauptfiguren bis auf Doc als
88). Nach der Uraufführung interessierte sich kein Leichen im unterirdischen Lagerraum enden, wo Doc
größeres Theater mehr für die Übernahme des von der sein Geschäft betreibt.
Kritik verrissenen Stücks. Immerhin wurde der Autor Doc und Cop sind nicht nur im Schriftbild Spiegelfi-
vom Nationaltheater Mannheim zu einer eigenen In- guren: Beide stehen für gegensätzliche Haltungen in
szenierung eingeladen, deren Premiere am 31.10.1973 der Frage nach dem ›Mitmachen‹ und nach der Mög-
stattfand. Für die Mannheimer Inszenierung über- lichkeit der Freiheit, die sich – vergleichbar mit Der Be-
arbeitete und erweiterte Dürrenmatt den Text. Auf der such der alten Dame – in Form einer Absonderung des
Basis dieser Fassung wurden Ende 1973 die Druckfah- Einzelnen von einem negativen kollektiven und sys-
nen für die Buchpublikation im Arche Verlag gesetzt. tembestimmten Handeln manifestiert. Doc, der mit
Doch wurde das Stück erst 1976 als Teil des Werk- seiner Anstellung im Unternehmen von Anfang an sei-
zusammenhangs Der Mitmacher. Ein Komplex. Text ne biochemischen Kenntnisse für ein perverses Ziel
der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen, Berichte, Er- einsetzt, entscheidet sich für das Überleben, das nur um
zählungen publiziert. Eine Neufassung der Komödie den Preis des Mitmachens und der Selbstverleugnung
erschien in der Werkausgabe von 1980 und dient als zu haben ist; er verleugnet seine Geliebte Ann und drei-
Textgrundlage auch für die WA. Eine letzte Umarbei- mal (wie einst Petrus) seinen Sohn Bill. Dagegen er-
tung erstellte Dürrenmatt für die Inszenierung des greift der nur scheinbar korrupte Cop die »letztmögli-
Stücks durch seine Ehefrau Charlotte Kerr 1989 in Aa- che Freiheit« (WA 14, 211). Durch seinen Mord an Bill,
chen. Sie ist allerdings nur in Auszügen im Pro- dem reichsten Mann des Landes und Auftraggeber des
grammheft publiziert. Darin werden vor allem An- Unternehmens, lässt er das große Geschäft platzen, oh-
spielungen auf zeitgenössische Politik eingeführt. Der ne sich jedoch Illusionen über eine dauerhafte Störung
Mitmacher wird bis heute nur selten inszeniert, meist des Systems zu machen: Es geht ihm nur noch um seine
auf kleinen Bühnen. Selbstachtung und darum, »eine kurze Weltsekunde
lang [...] dem fatalen Abschnurren der Geschäfte Ein-
halt« zu gebieten (ebd., 87), im Bewusstsein, dass er die-
sen Verrat am Unternehmen mit dem Leben bezahlen
wird. Das Motiv des subjektiv freien Handelns ohne Il-
lusionen über objektive, gesellschaftsverändernde Aus-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_33
33  Der Mitmacher 131

wirkungen verbindet die Figur Cop mit dem 1955 in die das Stück prägt: »Ich bin in eine Geschichte ver-
den Theaterproblemen formulierten Konzept des ›mu- strickt, die mich nicht zu Wort kommen läßt, in eine
tigen Menschen‹. Dürrenmatt wird im Nachwort zum heil- und sprachlose Angelegenheit, sprachlos, weil sie
Mitmacher in der Weiterführung und Zuspitzung die- im Verschwiegenen spielt, so daß die Beteiligten
ses Konzepts Cop mit Bezug auf Kierkegaard als ›iro- schweigen, auch wenn sie miteinander reden« (WA
nischen Helden‹ (vgl. ebd., 202 f.) interpretieren: Sein 14, 15). Die Monologe sind ans Publikum gerichtet
moralisches Handeln ist für Außenstehende unver- und geben diesem einen Wissensvorsprung gegen-
ständlich; es hat den Charakter eines Verbrechens und über den Figuren. Dadurch werden die Dialoge von
ist zugleich die einzige Möglichkeit, den Systemmecha- der Funktion der Zuschauerinformation entlastet und
nismen mit Bezug auf eine ethische Position Wider- können beinahe vollständig in ihrer Doppelfunktion
stand entgegenzusetzen, es ist mithin paradox. Dem als reduktionistische Sprachkomposition und als ver-
steht auf Seiten des sozio-ökonomischen Systems die baler Kampf zwischen den Figuren aufgehen.
»große[…] Korruption« (ebd., 84) gegenüber: Die
staatlichen Instanzen wollen allesamt das verbrecheri-
sche Geschäft nicht unterbinden, sondern selbst davon Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
profitieren, so dass sich als Systemlogik die Verstaatli-
chung des ›Unternehmens‹ vollzieht. Kennzeichnend für die Dramaturgie des Mitmachers
Steht Doc für die bereits in den Physikern zentrale ist ein konsequentes Prinzip des Nicht-Zeigens der
Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der ganzen Grausamkeit des Geschehens. Sprachlich ma-
Naturwissenschaft, so repräsentiert Bill im Ansatz nifestiert sich diese Ästhetik in Euphemismen wie
Dürrenmatts Anliegen, mit naturwissenschaftlichen ›Ware‹ für die Leichen und ›Unternehmen‹ für die Kil-
Denkweisen Erkenntnisse über die Gesellschaft und lerorganisation, visuell in der Tatsache, dass die Tötun-
ihre Funktionsweise zu gewinnen; doch bleibt er zu- gen jenseits des Sichtbaren bzw. Gezeigten stattfinden
gleich in seinen ideologischen Voraussetzungen be- und (bis auf Bill) weder die Leichen noch der Leichen-
fangen und scheitert (vgl. Käppeli 2013, 233–237). auflösungsapparat, von seinem Erfinder Doc ›Nekro-
Das Stück ist in zwei Teile gegliedert. Doch besteht dialysator‹ genannt, auf der Bühne sichtbar sind.
es in der Fassung der Erstpublikation im Rahmen die- Mit diesen Prinzipien der Darstellung wie auch mit
ser Zweiteilung aus fünf gleichförmigen Segmenten, der Einheit des Ortes und der Zeit – die Handlung
die je durch einen epischen, aus dem »inneren Kom- spielt sich, abgesehen von zwei Rückblenden, inner-
munikationssystem« (Weber 2007, 41; vgl. Käppeli halb von zwei Tagen ab – knüpft Dürrenmatt in seiner
2013, 246) der Spielebene heraustretenden Monolog schwarzen Komödie an die Ästhetik der klassischen
eines der fünf Protagonisten eingeführt werden, ge- Tragödie an (vgl. Weber 2007, 95–137; Käppeli 2013,
folgt von daran anknüpfenden Dialogen. In der Neu- 244–247). Dass dieser Bezug auf »Klassik« (Probst
fassung von 1981 kommt ein weiterer Monolog von 1996, 41) Methode hat, zeigt sich in weiteren Eigen-
Jack hinzu, der dadurch aus der Nebenfigur zu einer arten des Stücks, in der (in der Erstfassung) hinter-
sechsten Hauptfigur wird. Die Person, die den Mono- gründig auf fünf Akte hin angelegten Struktur, in den
log hält, tritt in der Folge jeweils in einen Dialog mit Dialogen, die zu Stichomythien, zu knappstem Schlag-
Doc. Sieht man von den Monologen ab, ist dieser – abtausch mit Worten verdichtet sind, im Spiel mit der
ähnlich wie die Hauptfiguren in Romulus der Große Anagnorisis (der Wiedererkennungsszene), die neben
und Der Meteor – in allen Szenen des Stücks präsent. der Peripetie zu den aristotelischen Grundelementen
Docs Wohn- und Arbeitsort ist der einzige Schau- der Dramaturgie zählt. In der Tat hat Dürrenmatt be-
platz: das fünfte Untergeschoss einer alten, unbenutz- reits früh (1951 im Text Etwas über die Kunst, Theater-
ten Lagerhalle, in das eine Wohnnische sowie ein stücke zu schreiben) davon gesprochen, es sei in seiner
Kühlraum eingebaut wurde, wo Doc seinem Geschäft Zeit für die »Liebhaber[…] der strengen Form« wieder
nachgeht. Dieser geschlossene Raum befindet sich möglich, die »geschlossene Form aus Kühnheit« als
in einer unbenannten Großstadt, die an New York »Ausnahme« anzustreben (WA 30, 15) und so – wie er
oder Chicago erinnert, aber – der stilisierenden Ab- über den Mitmacher sagt – »Klassik als Experiment«
straktion des gesamten Stücks entsprechend – nicht (G 2, 95) zu realisieren.
beim Namen genannt wird. Doch weist nicht nur das grotesk-makabre Szena-
In seinem Eingangsmonolog stellt Doc program- rio der Leichenvernichtungsmaschinerie die Bezüge
matisch die Kommunikationssituation ins Zentrum, zu ›Klassik‹ als Parodie aus; die ›klassischen‹ Elemente
132 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

werden in systematischer Weise dysfunktional ange- in Deutschland virulente Auseinandersetzung zwi-


wendet (vgl. Weber 2007, 115–117): Zwar wird bei- schen der ›Mitmacher‹-Generation der Nazizeit (die in
spielsweise von Anfang an auf das Wiedererkennen der Tötungs- und Vernichtungsmaschinerie und im
hingewiesen, doch wird dieses Wiedererkennen nicht euphemistischen Sprachgebrauch mitzudenken ist)
als Handlungsfaktor eingelöst (Boss kommt bis zu und den Rebellen der 1968er-Bewegung bis hin zu den
seiner Hinrichtung durch Cops Handlanger ›nicht terroristischen Aktivitäten der Roten Armee Fraktion
drauf‹, wo er Cop schon getroffen hat). Das Drama er- (RAF). Dürrenmatt selbst weist in einer zu Lebzeiten
weist sich als Schein- oder Post-Drama (vgl. ebd., unpublizierten Erinnerung den italienischen marxisti-
119–137): Die repräsentativen Figuren sind nur noch schen Verleger Giangiacomo Feltrinelli als eine mögli-
scheinbar die Handelnden, die Antagonismen bloße che Modellfigur für den Rebellen Bill aus (vgl. Dürren-
dramaturgische Spiegelfechterei ohne Auswirkungen matt: Rekonstruktionen, 26). Durch seine ideologische
auf das Funktionieren des ökonomischen Systems. Befangenheit bleibt es Bill verwehrt, seinen Versuch
Dies entspricht einer Verlagerung des Fokus von den zur politischen Anwendung experimentell-naturwis-
Figuren auf die »systemischen Bedingungen« (Käppe- senschaftlichen Denkens aufklärerisch fruchtbar zu
li 2013, 170). Der Mitmacher kann als die konsequen- machen, wie es Dürrenmatt in Anlehnung an Karl
teste dramaturgische Umsetzung und Fortführung Popper postuliert (vgl. Käppeli 2013, 233).
der These aus den Theaterproblemen interpretiert wer-
den, dass heute »Kreons Sekretäre [...] den Fall Anti- Literatur
Primärtexte
gone« (WA 30, 60) erledigten: Am Ende ist Doc neben Der Mitmacher. Eine Komödie. In: Zürich 1976, 7–78.
den Statisten, die vordergründig – stellvertretend für Der Mitmacher. Eine Komödie. In: WA 14, 13–93.
ein totalitäres, an diktatorische Verhältnisse erinnern- Dramaturgie eines Durchfalls. In: WA 30, 231–249.
des System von Wirtschaft und Staat – die Macht Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. In: WA 31, 139–167,
übernehmen, der einzige Überlebende. Am Schluss bes. 159 f.
[Gespräch mit] Dieter Bachmann [1973]. In: G 2, 84–91.
stehen nur noch die ›Sekretäre‹, hier, die Handlanger
[Gespräch mit] Peter André Bloch/Herbert Tiefenbacher
der anonymen, unsichtbaren Macht des Systems auf [1973]. In: G 2, 92–108.
der Bühne. Rekonstruktionen. Mit einem Kommentar von Ulrich
Komposition und Sprache werden dabei zunächst Weber. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 19–35.
konsequent als Ausdruck dieses unmenschlichen Sys-
temcharakters eingesetzt, in den späteren Fassungen Sekundärliteratur
Arnold, Heinz Ludwig: Theater als Abbild der labyrinthi-
treten jedoch die Klassik-Bezüge und der ›systemati-
schen Welt. In: Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürren-
sche‹ Charakter des Stücks in den Hintergrund und matt. Essays und Zeugnisse von Gottfried Benn bis Saul
die damit verbundene strenge Komposition wird zu- Bellow [1980]. Zürich 1998, 80–100.
nehmend gelockert – möglicherweise als Konsequenz Brack, Gerhard: Durchfall einer Philosophie. Friedrich Dür-
der Erkenntnis, dass sie in der Rezeption der Auffüh- renmatts Der Mitmacher. Dramaturgie, Entstehung,
rungen in ihrer Logik kaum wahrgenommen wurden. Zusammenhänge. Erlangen 1997 (Mikrofiches).
Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
Trotz der konsequenten Stilisierung fehlt es nicht matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
an historischen Kontexten, auf die das Stück bezogen Werks. Köln, Weimar, Wien 2013.
werden kann: Die Verstrickung korrupter Behörden Probst, Rudolf: Die Komödie Der Mitmacher: Abschied vom
mit einer mächtigen Mafia in den nordamerikanischen Drama? In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Lite-
Großstädten der 1960er Jahre war zur Zeit der Urauf- raturarchivs (1996), 7, 39–58.
Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
führung ein aktuelles Medienthema (vgl. Brack 1997),
der Mitmacher-Krise. Basel, Frankfurt a. M. 2007.
doch zugleich widerspiegelt der Generationenkonflikt
zwischen Doc und seinem Sohn Bill die insbesondere Ulrich Weber
34  Die Frist 133

34 Die Frist den Diktator wurde ein Operationssaal in der Resi-


denz El Pardo eingerichtet, was dem Autor den Anstoß
Die Frist. Eine Komödie, ab Dezember 1975 unter den für das räumliche Setting seiner Komödie vermittelte.
Arbeitstiteln Exitus und Höllenfahrt – Untergang eines Dürrenmatt schildert in Wie ›Die Frist‹ entstand seine
Regimes entwickelt, wurde am 6.10.1977 am Schau- Situation als Patient und Weltbeobachter. Die Komö-
spielhaus Zürich in der Regie von Kazimierz Dejmek die ist ein Versuch, der eigenen Krankheit und den
uraufgeführt. Parallel dazu wurde es in Basel von schwer durchschaubaren politischen Geschehnissen
Hans Neuenfels inszeniert (Premiere: 19.10.1977). eine poetische ›Gegenwelt‹ entgegenzusetzen und es
Kurz vor der Uraufführung erschien eine erste Text- dem Zuschauer zu überlassen, kraft der eigenen Fan-
fassung. 1978 wurde die Komödie überarbeitet und tasie »auf der Bühne die Wirklichkeit zu entdecken«
im Friedrich Dürrenmatt Lesebuch des Arche Verlags (WA 15, 13). Anders als z. B. Rolf Hochhuth versucht
publiziert, 1980 erschien sie in einer weiteren Fassung Dürrenmatt nicht, ein dokumentiertes Zeitstück zu
in der Werkausgabe. Für das Programmheft der Ur- schreiben; ihm geht es um »Welttheater« (s. Kap. 99),
aufführung schrieb Dürrenmatt einen Begleittext, Wie dessen Verhältnis zur Gegenwart ein völlig anderes
›Die Frist‹ entstand (WA 15, 135–147), der leicht ver- ist: »Alles ist Erinnerung, vom Gegenwärtigen herauf-
ändert und gekürzt in die Stoffe (WA 28, 161–167) ein- beschworen [...]. Das Gegenwärtige, vom Herauf-
gegangen ist. Unter den wenigen Inszenierungen sind beschworenen durchdrungen, entlädt sich in Visio-
zu erwähnen die polnische Erstaufführung in Lodz nen« (WA 15, 146). Dürrenmatt hat diese Poetologie
(9.3.1978) und die DDR-Erstaufführung im Volks- des »Welttheaters« weiter ausgeführt im Nachwort zu
theater Rostock am 8.2.1979. Diese wurde vom DDR- Achterloo (WA 18, 556), in den einleitenden Passagen
Fernsehen aufgezeichnet (Erstsendung 13.10.1979). zu Stoffe IV: Begegnungen (WA 29, 15 f.) und schließ-
lich, parodistisch, unter dem Stichwort »Wirrkopfs
Wirklichkeitsphilosophie« in der posthum erschiene-
Inhalt nen Erzählung Der Versuch (WA 37, 127 f.).

Der Titel bezieht sich auf das medizinisch hinausgezö-


gerte Sterben eines Diktators. Der Ministerpräsident Anregungen, Umsetzungen
des Staats versucht, die Machtansprüche potentieller
Nachfolger gegeneinander auszuspielen und eine po- In Wie ›Die Frist‹ entstand benennt Dürrenmatt weite-
litische Lösung zu finden, die den drohenden Bürger- re Erinnerungen, die durch die aktuellen politischen
krieg vermeidet. Um dafür Zeit zu gewinnen, wird der Ereignisse heraufbeschworen wurden. Zunächst evo-
Diktator auf der in seiner Residenz eigens eingerichte- ziert die Agonie des Diktators gleichnishaft die mythi-
ten Intensivstation am Leben erhalten und mehreren sche Figur des Atlas, der unter dem Gewicht der Welt
Operationen unterzogen. Seine Agonie wird im Fern- zusammenbricht (vgl. WA 15, 135 u. 142 f.). Das hi-
sehen übertragen, um im Volk Mitleid zu erregen und nausgezögerte Sterben erinnert Dürrenmatt an Expe-
mögliche Putschisten am Handeln zu hindern. Im rimente, die von Ärzten während der NS-Zeit durch-
mittelalterlichen Thronsaal machen sich Bildschirme geführt wurden und die er in seinem Kriminalroman
der medizinischen Geräte und Scheinwerfer des Fern- Der Verdacht thematisiert hat (vgl. WA 20, 119–265).
sehens breit. Das Sterben als Spektakel wird zur medi- Die Figur des Arkanoff, ein untergetauchter Lagerarzt,
enkritischen Tragikomödie. der bereit ist, dem sterbenden Diktator ohne Narkose
das Herz des soeben zum Selbstmord gezwungenen
Geheimdienstchefs zu implantieren, erinnert an den
Zeitgeschichte vs. Welttheater Arzt Nehle/Emmenberger aus Der Verdacht. Die Über-
steigerung ins Groteske ist eine Antwort auf die eupho-
Die realgeschichtlichen Analogien zur Agonie des spa- risch gefeierten Erfolge der Transplantationsmedizin,
nischen Diktators Franco (gest. 22.11.1975) und zum z. B. der ersten Herztransplantation durch Christiaan
anschließenden Prozess der ›Transition‹ Spaniens sind N. Barnard (1967). Diese medizinischen Erfolge wer-
nicht zu übersehen. Dürrenmatt verfolgte das politi- den in den 1970er Jahren kontrapunktisch begleitet
sche Geschehen vom Spital aus; am 12.10.1975 war er von einer zunehmenden Problematisierung des Ster-
mit akuten Herzbeschwerden eingeliefert worden. bens auf der Intensivstation. 1974/75 kam es in Zürich
Franco erlitt seinen Herzinfarkt am 15.10.1975. Für zu einer öffentlich ausgetragenen Kontroverse um die

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_34
134 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

Legitimität passiver Sterbehilfe in Spitälern (›Affäre selber sind, / [...] / Das Weibliche, es hat zum Ziele / Die
Haemmerli‹). Folgen und Grenzen der modernen Me- Ewigkeit und das Sterile« (WA 15, 131). Unverkennbar
dizin werden thematisiert durch Philippe Ariès’ Studi- ist dieser Schlusschor als Kontrafaktur des Schlusses
en zur Geschichte des Todes im Abendland (dt. 1976) von Goethes Faust II konzipiert (vgl. Weber 2013,
und durch den polemischen Essay Die Nemesis der Me- 363 f.). Allerdings sollte man die letzte Bühnenanwei-
dizin (dt. 1977) von Ivan Illich. sung nicht übersehen: »Die Unsterblichen fallen in sich
Arkanoffs Gegenpart, der Arzt und Friedensnobel- zusammen und sterben« (WA 15, 131). Die Engfüh-
preisträger Goldbaum, ist laut Dürrenmatt eine Trans- rung »Unsterbliche sterben« ist ein Ironiesignal (Esslin
position des russischen Physikers und Friedens-No- 1983, 145): Wenn am Schluss der Dürrenmattschen
belpreisträgers Andrei Dmitrijewitsch Sacharow (vgl. Komödien im Chor gesungen wird, ist die Spitze der
WA 15, 142), der ab 1973 in der Sowjetunion regime- Verblendung auf der Bühne erreicht. Das Publikum
kritische Pressekonferenzen abhielt, in denen er den wird nicht aufgefordert, dabei mitzumachen.
menschenrechtswidrigen Umgang mit politisch Dis-
sidenten anprangerte.
In Dürrenmatts Welttheater verschmelzen also Forschung
Anregungen durch die politischen Reformprozesse in
Spanien und der Sowjetunion. Aus dieser Fusion kon- Die Forschung zu Die Frist hat sich vor allem mit der
zipiert er die Vision eines Transitionsprozesses, in dem Deutung der provokativen Schlussszene befasst. Cro-
der prometheisch-idealistische Weltkritiker Gold- ckett nimmt den Chor der Unsterblichen ohne Iro-
baum zum Atlas werden muss, zum verantwortlichen nieverdacht ernst: Dürrenmatt hätte hier der »Ver-
Weltenträger, der sich den korrumpierenden Gesetzen lockung des Nihilismus nicht widerstehen« können.
der Machtausübung zu beugen hat. Nach der Ermor- Er hält das Motiv der Unsterblichen für »eine Assozia-
dung des Ministerpräsidenten durch den Bauern Toto, tion zu viel«, die das Theaterstück zum Scheitern brin-
den Vater eines hingerichteten Partisanen, muss Gold- ge (Crockett 1998, 159 f.). Weber (2013) untersucht
baum dessen Amt übernehmen: »Zu menschlich für die Intertextualität mit Goethes Faust II, hinterfragt
diese Welt, werden Sie in die Unmenschlichkeit gesto- aber die Gültigkeit der Sterilitätsvision der Unsterbli-
ßen. Und wenn Sie jetzt nicht unmenschlich werden, chen nicht und vernachlässigt damit ebenfalls die wir-
wird dieses Land noch unmenschlicher« (125). kungsästhetische Ironiestrategie des Chor-Schlusses.
Einen weiterführenden Interpretationsansatz ent-
wickelt Schu: Sie weist darauf hin, dass dem Tod und
Dürrenmatts Feminismus-Vision dem Todesbewusstsein im Kontext des evolutions-
geschichtlichen Denkens bei Dürrenmatt eine huma-
Diese skeptische Sicht wird mit noch dunkleren Per- nisierende Funktion zugedacht wird. Seine defor-
spektiven versehen durch die visionäre Umsetzung fe- mierten Frauenfiguren, angefangen mit Claire Zacha-
ministischer Diskurse der 1970er Jahre, z. B. in Ernest nassian aus Der Besuch der alten Dame bis hin zum
Bornemanns Das Patriarchat (1975). Der Geschlech- Schlusschor der Unsterblichen in Die Frist, blieben
terkampf, gesehen als archaische Unterdrückung des in ihrer Opfer- und Rächer-Rolle befangen: »Diesen
Matriarchats durch das Patriarchat und als nun anbre- apokalyptischen Frauenfiguren wird jeglicher Fort-
chende Rache der Opfer, führt zur Theatervision einer schritt abgesprochen, sie sind in einem unveränder-
Horde uralter weiblicher Wesen, der Großmütter und lichen evolutionären Ist-Zustand gefangen« (Schu
Urgroßmütter, Tanten und Großtanten des Diktators, 2007, 285). In ihrer Lebensfeindlichkeit werden sie
die sich für »Unsterbliche« halten. Sie hausen in einem dem Publikum als Warnvisionen einer nicht zukunfts-
überwachten Winkel des Palasts, brechen aber ab und fähigen Haltung vorgestellt. Ein steriler Kosmos ent-
zu gewaltsam aus. Den Machtkampf der Männer be- spricht nicht dem Denken des Autors, sondern ist eine
lauern sie aus dem Hintergrund und begleiten das Ge- Ideologie der in ihrer Opferrolle befangenen Figuren.
schehen mit hämischen Kommentaren. Am Schluss
fleddern sie die Leiche des Diktators und vereinen sich Literatur
Primärtexte
zu einem Chor, der den Rachesieg feiert: »Jetzt sinkt Die Frist. Eine Komödie. Zürich 1977.
zurück ins weiße All, / Was Männer schufen, Männer Die Frist [Neufassung]. In: Friedrich Dürrenmatt Lesebuch.
dachten, / Ein unfruchtbarer Erdenball / Erlöst von Zürich 1978, 141–253.
Spermen und vom Schlachten, / Unsterblich wie wir Die Frist. Eine Komödie. Neufassung 1980. WA 15.
34  Die Frist 135

Sekundärliteratur renmatt. Eine Untersuchung des dramatischen Werks.


Crockett, Roger Alan: Understanding Friedrich Dürren- St. Ingbert 2007.
matt. Columbia 1998. Weber, Ulrich: »Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern«.
Esslin, Martin: Die Frist. Dürrenmatt’s late Masterpiece. In: Friedrich Dürrenmatts Umgang mit Goethe. In: Oliver
Moshé Lazar (Hg.): Play Dürrenmatt. Malibu 1983, 139– Ruf (Hg.): Goethe und die Schweiz. Hannover 2013, 351–
153. 374.
Schu, Sabine: Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dür-
Rudolf Käser
136 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

35 Achterloo I–IV fassendere Gewalt zu verhindern, nämlich den Ein-


marsch der sowjetischen Truppen und – im schlimms-
Entstehung und Struktur ten Fall – einen nuklear geführten Weltkrieg. Die Er-
eignisse seien deshalb ein Beleg für die »Notwendig-
Dürrenmatt verfasste Achterloo. Eine Komödie in zwei keit des Verrats in der Politik« (WA 18, 553). Achterloo
Akten zwischen April 1982 und Oktober 1983. Im sel- ist also ein »Zeitstück«, wie Dürrenmatt im Nachwort
ben Jahr erschien das Stück im Diogenes Verlag. Ur- zu Achterlooo IV schreibt (ebd.) – allerdings eines, das
aufgeführt wurde es am 6.10.1983 am Schauspielhaus die eigene Zeit in einer ganzen Reihe von historischen
Zürich. Die Kritiken fielen verhalten bis ablehnend Epochen, Personen und Ereignissen spiegelt und die
aus. Zwischen Juni 1984 und Januar 1985 schrieb Dür- Weltgeschichte als chaotisches Feld ineinander ver-
renmatt eine zweite Fassung, die 1986 in französischer schachtelter Analogien vorführt.
Übersetzung in der Zeitschrift Lettre Internationale Der Titel Achterloo hat ebenfalls Teil an dieser pro-
erschien. Zusammen mit seiner zweiten Ehefrau, der grammatischen Mehrdeutigkeit. Er erinnert an Con-
Filmemacherin Charlotte Kerr, publizierte der Autor rad Ferdinand Meyers Märchenballade Fingerhütchen,
1986 die Dokumentation Rollenspiele, die Materialien in der ein buckliger Korbflechter »[t]ief im Tal von
zur Entstehung des Theaterstücks enthält: das Proto- Acherloo« (Meyer 1963, 44) von Elfen geheilt wird,
koll einer fiktiven Inszenierung – ein literarisiertes, weil er einen Vers eines Elfenliedes komplettiert. Das
über den Zeitraum von zwei Jahren immer wieder Stück bezieht sich kaum auf diesen »unheimlichen
aufgenommenes Gespräch zwischen Kerr und Dür- Reim« (WA 18, 415), außer dass der Ort der Handlung
renmatt –, ein dreiseitiges Zwischenwort, eine Serie »Achterloo in Acherloo irgendwo bei Waterloo« (WA
von Filzstiftzeichnungen, die seine Vorstellung vom 18, 10) als textueller Nicht-Ort gedeutet werden kann
Stück visualisieren sowie eine stark veränderte Ver- (vgl. Zeller 2002). Zudem spielt der Titel auf den his-
sion mit dem Titel Achterloo III. Ein Rollenspiel. Als torischen Wendepunkt – die Achterbahn der Geschich-
Achterloo IV. Komödie betitelte Dürrenmatt den für te – und die Figur Napoleon Bonapartes an. Achterloo
die Schwetzinger Festspiele im Sommer 1988 erstell- ist aber auch der Name einer fiktiven psychiatrischen
ten Text, den er selbst inszenierte. Klinik, in der die Patientinnen und Patienten während
Im Nachwort zu ›Achterloo IV‹ ist die Rede von wei- einer Rollentherapie historische und/oder fiktive Figu-
teren Bearbeitungen. Dies belegen verschiedene Nach- ren verkörpern. So steht etwa der Reformator Jan Hus
lassdokumente im Schweizerischen Literaturarchiv. für den polnischen Gewerkschaftsvorsitzenden und
Insgesamt muss also eher von einer »variantenrei- Dissidenten Lech Wałęsa, Napoleon für den Jaruzelski,
che[n] Textur« (Klimant 2014, 11) als von Versionen Robespierre für den sowjetischen KP-Chef, Benjamin
eines Stückes die Rede sein. Diese Textur unterläuft Franklin für den Außenminister der USA etc. Im Zug
dramatische Konventionen ebenso wie die Ansprüche der Bearbeitungen wird dieses Rollenspiel immer ab-
an einen realistischen Plot, eine nachvollziehbare, gründiger; in einer Art Wahnlogik werden immer wie-
chronologische Handlung oder psychologische Cha- der Rollen hinter Rollen sichtbar. Ein weiterer inhalt-
raktere. Die Achterloo-Textur stellt eine in höchstem licher Unterschied zwischen Achterloo III und IV zu
Masse selbstreflexive »Collage« (WA 18, 225) dar, die der ersten Bearbeitung besteht darin, dass die Spielsi-
mit ihrer labyrinthischen Struktur (vgl. Bloch 2018, tuation in der Klinik bereits zu Beginn des Stücks deut-
307) auf theatrale Schreib- und Inszenierungsprakti- lich gemacht wird.
ken der 1990er und 2000er Jahre verweist. Der Text der Dürrenmatts grundsätzliches Verfahren besteht
WA folgt wortgetreu den jeweiligen Erstausgaben. darin, mit der Denkfigur des Spiels die Gegensätze
von Kontingenz und Notwendigkeit, von Realität und
Fiktion in der »Theaterrealität« (WA 18, 131) aufzuhe-
Hintergrund und Analyse ben und eine parahistorische Gleichzeitigkeit zu si-
mulieren (vgl. Bloch 2017, 307). Der Autor nutzt nicht
Den politischen Impuls zu den Achterloo-Texten bil- nur den alten und in Die Physiker prominent verwen-
den die Ereignisse in Polen im Dezember 1981: die deten Topos von der Welt als Irrenhaus, sondern ent-
Verhängung des Kriegsrechts unter Wojciech Jaruzel- wirft ein nicht leicht zu durchschauendes Rollenspiel,
ski und die Zerschlagung der Gewerkschaft Solidar- in das auch die Instanz des Autors eingebunden ist. So
ność. Dürrenmatt deutet den Coup im Kontext des tritt in Achterloo IV der Autor Georg Büchner als Au-
Kalten Krieges als Versuch, mittels Gewalt noch um- toren-Figur auf, der den anderen Figuren ihren Text

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35  Achterloo I–IV 137

zu schreiben vorgibt, obwohl er behauptet, eigentlich Verabschiedung teleologischer Welt- und Geschichts-
»Erbe einer Spanferkelkette« (WA 18, 442) zu sein. Als deutungen ausschlaggebend für seine eigene pessi-
Antwort auf die Frage Kerrs, warum Dürrenmatt his- mistische Sicht auf die Geschichte, in der sich Kata-
torische Ereignisse fiktionalisiere und abändere, ant- strophen unablässig wiederholen.
wortet der Autor: »Ich spiele. [...] Schreiben ist Rollen- Allemann (1991) widmet sich der erkenntnis- und
therapie« (WA 18, 136). literaturtheoretischen Dimension des Werks und
weist auf den spezifischen Charakter der Spiel-im-
Spiel-Situation hin: Im Gegensatz zu Brecht folge die-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung se nicht dem rezeptionsästhetischen »Prinzip der
Darstellungspraxis auf der Bühne«; für Dürrenmatts
Nicht ohne Ironie sieht Dürrenmatt die potentiellen Maskenspiel gelte vielmehr, dass es »die Dialektik der
literaturwissenschaftlichen Analysen der Achterloo- Bühne selbst thematisiert, wodurch die dramatis per-
Texte: »[D]a haben die Germanisten Futter« (225). sonae in ihrer Rollenhaftigkeit erst zum Vorschein
Entgegen dieser Vorhersage bleibt die Forschungslite- gebracht werden, und zwar durch dramaturgische,
ratur vergleichsweise schmal. Federico (1989) liest das nicht durch darstellungstechnische Mittel« (Allemann
Stück im Kontext der nuklearen Bedrohung im Kalten 1991, 105). Gemäß Zeller habe Dürrenmatt so die
Krieg. Achterloo demonstriere die Notwendigkeit, das Weigerung der modernen Literatur, »dort Sinn zu
politische Denken konstant zu revidieren. Das Drama produzieren, wo es in Anbetracht der Krise aller Wert-
richte sich gegen den Wahrheitsanspruch von Ideo- und Sinnsysteme keinen Sinn mehr gibt, im Medium
logien und verneine die Möglichkeit fester Kriterien des Theaters« dargestellt (2002, 295). Dedner (2003)
für gerechtes Handeln. Vielmehr zeige Dürrenmatt, stellt Dürrenmatts Stück in den literaturhistorischen
dass nur die pragmatische Orientierung am jeweiligen Zusammenhang der Reflexion der Französischen Re-
Resultat als Gradmesser politischen Handelns gelten volution in der deutschsprachigen Dichtung und Dra-
könne. Auch Goltschnigg geht ausführlich auf die matik. Sie liest es als selbstreflexive Verabschiedung
Vorgänge in Polen ein und sieht bei Dürrenmatt eine einer potentiell gemeinschaftsstiftenden Tradition des
desillusionierende »Warnutopie vor einem Frieden Revolutionsdramas unter den politischen Bedingun-
um jeden Preis« (2002, 409) am Werk, die keinerlei gen des späten 20. Jahrhunderts. Descourvières (2006)
Alternativen andeute. Des Weiteren thematisiert er sieht Achterloo als Radikalisierung von Dürrenmatts
neben der intertextuellen Anlage von Achterloo IV, für Werk. Die oft zitierte »schlimmstmögliche Wendung«
die Dürrenmatt öfter die Metapher des mit immer (WA 30, 209) ergebe sich in Achterloo nicht mehr als
gleichen Mustern gewobenen Teppichs verwendet, plötzlicher Einfall oder Zufall, sondern sie sei schon
auch dessen Referenzen auf Friedrich Hebbel, Johann immer als permanentes Bewusstsein des Scheiterns
Nestroy, Shakespeare, Schiller, Bernard Shaw, Peter jedem (politischen) Handeln eingeschrieben. Der
Weiss und nicht zuletzt sein eigenes Werk (s. Kap. 92). emanzipatorische Anspruch, gesellschaftliche Prozes-
Hingewiesen wird außerdem auf die verschachtelte se durch die Groteske aufzudecken, sei damit aber kei-
Anlage der Figuren in Achterloo IV. Diese treten prin- neswegs ganz aufgegeben. Die Wahrnehmung der
zipiell immer als auf der diegetischen Ebene reale Per- Ausweglosigkeit werde mit einer (auch im Schaffens-
sonen, als Wahn- und als Therapierolle auf, wobei sie prozess von Achterloo I bis IV feststellbaren), immer
in jeder Rolle gezwungen sind, die Traumata ihrer an- radikaler werdenden Verästelung der dramatischen
genommenen Identitäten zu wiederholen. So spielt Form beantwortet. Von Dürrenmatt selbst wird diese
die Enkelin eines KZ-Kommandanten in ihrem Wahn Radikalisierung als Übergang der Komödie in die
die Rolle der Judith aus Friedrich Hebbels gleichnami- »Posse« gekennzeichnet (WA 18, 270).
ger Tragödie (1840), die im Therapiespiel wiederum Klimant verfolgt den Ansatz der »Transzendental-
Jeanne d’Arc darstellt, in dieser Rolle aber einen Mit- dramaturgie«. Damit ist eine »Verquickung erkennt-
patienten ermordet. Zentral in diesem Vexierspiel nistheoretischer und dramaturgischer Reflexion Dür-
zwischen Geschichte, Literatur und diegetischer Rea- renmatts« gemeint. In Anlehnung an Friedrich Schle-
lität ist die Figur Büchners. Dürrenmatt orientiert sich gels Konzept der Transzendentalpoetik wird Dürren-
explizit an dessen Montagetechnik und übernimmt li- matts Spätwerk als eine performative Kunst gedeutet,
terarische Figuren wie Franz Woyzeck aus dem Dra- die ihre äußeren Bedingungen und poetologischen
menfragment Woyzeck (1837), das Dürrenmatt 1972 Konsequenzen ausstelle und quasi durchspiele. Die
in Zürich selbst inszeniert hat. Zudem ist Büchners Dramaturgie Achterloos folge also gleichsam einer
138 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

»Dramaturgie aller möglichen Dramaturgien« (Kli- Achterloo IV. In: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg.
mant 2014, 14) und lote mit ihrer selbstbezüglichen von Franz Josef Görtz. Zürich 1988, 335–459.
Form die Möglichkeiten eines Bühnenstückes in der Achterloo I. Rollenspiele. Achterloo IV. WA 18.
Rollenspiele. Achterloo IV. Komödie. WA 16.
Gegenwart aus. Darin läge allerdings auch die Verbin- Das Hirn. In: WA 29, 233–269.
dung zu konstruktivistischen Denkfiguren, die Dür- Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Werke. Historisch-kri-
renmatt parallel in den Stoffen stark beschäftigt haben. tische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch.
Der Auftritt Büchners etwa, mit dem er sich selbst als Erster Band: Gedichte. Bern 1963, 44.
Autor parodiert, sowie die Inszenierung seiner eige-
Sekundärliteratur
nen Rolle als Autor in den Rollenspielen, werden von
Allemann, Beda: Friedrich Dürrenmatt – Literatur und
der Fragwürdigkeit der Unterscheidbarkeit von Fikti- Theater. In: Jürgen Söring, Jürg Flury (Hg.): Hommage à
on/Spiel und wahrgenommener Realität angetrieben. Friedrich Dürrenmatt. Neuenburger Rundgespräch zum
Von dieser Fragwürdigkeit geht auch Dürrenmatts Gedächtnis Friedrich Dürrenmatts. Neuchâtel 1991,
letzter zu Lebzeiten publizierter literarischer Text Das 77–124.
Hirn aus. Dieser bleibt allerdings nicht bei der an- Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und
Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen –
genommenen Ununterscheidbarkeit von Möglichkeit Interpretationen. Göttingen 2017.
und Wirklichkeit stehen, sondern führt eine Kategorie Dedner, Ulrike: Deutsche Widerspiele der Französischen
ein, die keinen Möglichkeitshorizont enthält und des- Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im
halb unbezweifelbar real ist. Dieser Ort ist für Dürren- selbstbezüglichen Spiel von Goethe bis Dürrenmatt.
matt in Das Hirn das Vernichtungslager Auschwitz: Tübingen 2003, 261–298.
Descourvières, Benedikt: Die Welt als Rätsel und die Bühne
ein Ort, der »undenkbar« sei und deshalb »[s]innlos
als Welt. Friedrich Dürrenmatts Komödien Der Besuch
wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und oh- der alten Dame und Achterloo. In: Ders. (Hg.): Mein
ne Grund« (WA 29, 263). Die Kulmination der Ge- Drama findet nicht mehr statt. Deutschsprachige Theater-
waltgeschichte im industriellen Massenmord – die als Texte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2006, 119–137.
historisches Trauma auch das ›Posthistorienspiel‹ in Federico, Joseph: Political Thinking in a Nuclear Age. Hoch-
der Klinik Achterloo antreibt – entzieht sich dem hut’s Judith and Dürrenmatt’s Achterloo. In: The German
Quarterly 62 (1989), 3, 335–344.
Möglichkeitshorizont und hat deshalb wirklichkeits-
Goltschnigg, Dietmar: Dürrenmatts Tragikomödie Achter-
stiftende Funktion. Diese absolut pessimistische Poin- loo. Ein Stück Welt- und polnische Zeitgeschichte. In:
te wird im Mord am Schluss von Achterloo angedeutet Edward Białek (Hg.): Literatur im Zeugenstand. Beiträge
und gleichzeitig durch Jeannes Vision als Judith in ei- zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte.
nen mythischen Kontext gerückt. Die Realität des Gu- Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orlowski.
ten bleibt dagegen fragwürdig. So bleibt der letzte Satz Frankfurt a. M. 2002, 393–410.
Klimant, Tom: Dürrenmatts Transzendentaldramaturgie.
von Achterloo IV, gesprochen von der Klinikleiterin Die Achterloo-Varianten (1982–1988) als Beitrag zur Aus-
Frau von Ziemsen, kryptisch: »Ich war der Liebe Gott« einandersetzung zeitgenössischer Dramaturgie mit radi-
(WA 18, 537). Innerhalb der in Achterloo als großes kal konstruktivistischen Denkfiguren. Berlin 2014.
Weltlabyrinth ausgestellten Gewaltgeschichte scheint Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
Menschlichkeit vielleicht nur noch in einem ebenso Weimar 1993, 125–130.
Zeller, Rosmarie: »Ein doppelt verrücktes Unternehmen«.
burlesken wie absurden Humor auf.
Das Delirium des Irr-Sinns in Dürrenmatts Achterloo. In:
Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in
Literatur
Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten –
Primärtexte
realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne
Achterloo. Eine Komödie in zwei Akten. Zürich 1983.
Wünsch. Kiel 2002, 279–297.
Rollenspiele. Zürich 1986.
Caspar Battegay
I Späte Prosa

36 Der Sturz A D
B C B C
Entstehungs- und Publikationsgeschichte D E F E
F G M N
Die Entstehung der kurzen, in der WA 55 Seiten um- H I H G
fassenden, und, wie man gesagt hat, »höchst ›drama- K L K I
turgisch‹ konzipierten Erzählung« Der Sturz (Knapp M N O L
1980, 108) geht zurück auf zwei längere Aufenthalte O P P
Dürrenmatts in der Sowjetunion 1964 und 1967. Ein
erster Entwurf lag vermutlich bereits 1965/66 vor. Zu Jeder der Buchstaben verweist dabei auf einen Amts-
Beginn des Jahres 1966 teilte Dürrenmatt im Ge- inhaber und dessen mit einem Sitzplatz korrespondie-
spräch mit Urs Jenny mit, er sei »mitten in einer neu- rende hierarchische Position innerhalb des Sitzungs-
en Arbeit: Dreizehn Personen in einem geschlos- zimmers des ›Politischen Sekretariats‹ eines nicht nä-
senen Raum, die Mächtigsten eines Landes, wie sie her spezifizierten diktatorischen Staates: A, am Kopf-
miteinander konspirieren, einander bekämpfen, bis ende des Sitzungszimmers sitzend, bekleidet dabei die
der Mächtigste liquidiert wird und ein neuer nach- Position des Machtinhabers, B bis O stellen die im zu-
rückt und alles von vorne beginnt – denken Sie an ei- nehmenden Maße weniger mächtigen Minister dar –
ne Kreml-Geheimsitzung, an Stalins Sturz« (Jenny vom Außenminister B, über den Postminister N, aus
1966, 12). Den finalen Impuls, die endgültige, 1970 dessen Perspektive erzählt wird (interne Fokalisie-
abgeschlossene, 1971 im Zürcher Arche Verlag er- rung), bis hin zum Atomminister O und dem Chef der
scheinende Version zu verfertigen, die auch als Text- Jugendgruppe P, die als nicht Stimmberechtigte am
grundlage der WA diente, gab aber erst die Teilnahme Fuße der Machtpyramide stehen. Die untergebene
an der Eröffnungszeremonie des vierten Sowjeti- Position der Minister zeigt sich nicht zuletzt an den
schen Schriftstellerkongresses am 22.4.1967 in Mos- Spitznamen, die A seinen Untergebenen gibt: Den
kau, wie Dürrenmatt im Gespräch mit Christoph Chef der Geheimpolizei C nennt er »Staatstante« (26),
Geiser und innerhalb des Stoffe-Komplexes bekannt den Parteisekretär D »Wildsau« (ebd., 15), die Erzie-
hat (vgl. G 2, 31; WA 28, 297–301). Die Entstehung hungsministerin M »Parteimuse« (ebd., 22) usw.
des Textes fällt somit in eine Zeit, in der Dürrenmatt Der eigentliche Fließtext nun bildet den Übergang
kaum episch gearbeitet hat. Folgt man einer Notiz des vom ersten zum zweiten Tableau; er entfaltet die Pro-
Programmhefts zu Der Mitmacher, soll Der Sturz zu- zesse, die zum namensgebenden Sturz des Machtinha-
sammen mit Play Strindberg und Porträt eines Plane- bers A und der Umstrukturierung des Politbüros wäh-
ten als »stilistische Vorübung« zum ursprünglich als rend einer Parteisitzung führen. Katalysator des Stur-
Novelle konzipierten Stück Der Mitmacher entstan- zes ist das Fehlen des Atomministers O, das die ohne-
den sein (Bänziger 1976, 216). hin in Furcht voreinander befangenen Mitglieder des
Politbüros zur Annahme eines Komplotts verführt.
Gerüchte wollen von einer Verhaftung wissen, Bemer-
Inhalt und Analyse kungen über O’s Fernbleiben werden als ihre Bestäti-
gung der Gerüchte gedeutet, Versuche, das Fehlen
Die ›Dramatik‹ der Erzählung entfaltet sich zwischen durch eine Krankheit zu erklären, als Lügen betrach-
zwei den Text rahmenden Tableaus (WA 24, 10 u. tet. Jede Äußerung, jede Geste wird daraufhin inter-
64): pretiert, was sie für das Machtgefüge des Politbüros

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_36
140 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

bedeutet und für Konsequenzen hat. Die geschilderte mimetischer Versuch, »die Konzentration der Macht
Sitzung gleicht einem Schachspiel (s. Kap. 79), bei in einem Kollektiv ›an sich‹ darzustellen« (G 2, 30).
dem sämtliche Mitglieder des Politischen Sekretariats Der Text ist Beispiel des ›dramaturgischen Denkens‹
ihre individuellen eigentlichen Aufgaben und Zustän- (s. Kap. 87), das Dürrenmatt im Monstervortrag skiz-
digkeiten zurückstellen, um die Züge des anderen zu ziert hat (vgl. WA 33, 91–94; ferner etwa auch Knapp
interpretieren und vorauszusehen. Tatsächlich gilt A 1980, 108; Spycher 1972, 342). Dürrenmatt interessiert
als »gerissener Taktiker«, dessen »verblüffenden das Mögliche im Unterschied zum Tatsächlichen, das
Schachzügen im Spiel um die Macht [...] niemand ge- Modellhafte, die Abstraktion. Der Sturz widmet sich
wachsen« war (ebd., 36). Als A dann die Auflösung dem »Wesen des Totalitarismus« (Weber 1971, 273),
des Politischen Sekretariats verkündet – die Partei den Mechanismen der Macht, ohne dabei jedoch zum
müsse sich demokratisieren, das Politische Sekretariat Schluss zu kommen, korrumpierte Macht sei per se
daher »seine Macht einem erweiterten Parteipar- dem Untergang geweiht: Macht und ihre Mechanis-
lament delegiere[n]« (ebd., 30) –, glaubt man auch men sind zeitlos (vgl. Crockett 1998, 170 f.). Anstatt al-
gleich, den politischen Schachzug zu durchschauen: so eine Identifikation des fiktiven Staates mit der Sow-
Die Auflösung des Politischen Sekretariats würde A’s jetunion vorzunehmen, lässt sich Der Sturz vielmehr
Alleinherrschaft begründen. Aufgrund der vermeint- als »tragikomisch gestaltete Auseinandersetzung« mit
lichen Verhaftung O’s in Angst vereint, positioniert Staaten wie der Sowjetunion verstehen (Spycher 1972,
sich das Politische Sekretariat geschlossen gegen A 342). Trotz des Primats des Modellhaften handelt es
und isoliert ihn. Schließlich – und analog zum dritten sich demnach gleichwohl um einen hochgradig politi-
der 21 Punkte zu den ›Physikern‹ – kommt es zur schen Text. Werkimmanente Bezüge zu Dürrenmatts
schlimmstmöglichen Wendung (s. Kap. 98) für A (vgl. politisch-ideologischem Denken lassen sich zu Meine
Spycher 1972, 357). Sein Sturz vollzieht sich »nüch- Rußlandreise (Dürrenmatt, 10.7.1964), Sätze aus Ame-
tern, sachlich, mühelos, gleichsam bürokratisch« (WA rika (bes. Sätze 56–61, WA 34, 100–102) wie auch zum
24, 58): L erdrosselt ihn mit dem Gürtel K’s. bereits genannten Monstervortrag (s. Kap. 50) herstel-
Erst am Ende des Textes klärt sich das Fehlen des len (vgl. auch Spycher 1972).
Atomministers auf. Die Witz der Erzählung liegt im
Zufall (s. Kap. 84), einem Irrtum, der die Peripetie erst Literatur
Primärtexte
ermöglicht: O erscheint und erklärt, sich im Datum
Der Sturz. Zürich 1971.
geirrt zu haben. In neuer Konstellation wird die Sit- Der Sturz. In: WA 24, 9–64.
zung des Politischen Sekretariats fortgesetzt – mit der [Gespräch mit] Christoph Geiser [1971]. In: G 2, 30–40.
Festlegung der neuen Sitzordnung (zweites Tableau). Meine Rußlandreise. In: Zürcher Woche, 10.7.1964.

Sekundärliteratur
Bänziger, Hans: Frisch und Dürrenmatt [1960]. Bern, Mün-
Deutungsaspekte chen 1976, 214–216.
Crockett, Roger A.: Understanding Friedrich Dürrenmatt.
Auffällig ist, dass trotz des sich ereignenden Sturzes Columbia, South Carolina 1998, 167–171.
keine Änderung des politischen Systems eintritt (vgl. Goertz, Heinrich: Friedrich Dürrenmatt mit Selbstzeugnis-
Goertz 1987, 103; Paganini 2004, 50 f.). Darin besteht sen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1987,
102 f.
ein offenkundiger Unterschied zur Geschichte des
Jenny, Urs: Lazarus, der Fürchterliche. Urs Jenny im
sowjetrussischen Politbüros (vgl. Goertz 1987, 103). Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt über dessen neue
Wenngleich auch »unzweideutig das sowjetrussische Komödie Der Meteor. In: Theater heute 7 (1966), 2, 10–12.
Politbüro unmittelbar vor Stalins Ende« als Vorlage Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1980,
diente (Spycher 1972, 329, vgl. ferner 346 f.), wäre eine 107 f.
Interpretation, die die Erzählung nur als Chiffretext Paganini, Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich
Dürrenmatt. »Ich bin verschont geblieben, aber ich
liest, verkürzt. Warum? Weil es Dürrenmatt weniger beschreibe den Untergang.« Hamburg 2004, 50–55.
um eine Kritik am realen Vorbild, am Stalinismus, an Spycher, Peter: Friedrich Dürrenmatt. Das erzählerische
der Sowjetunion, dem marxistischen Kommunismus Werk. Frauenfeld, Stuttgart 1972, 329–367.
geht. Gemäß eigener Aussage ist er »mehr Konstruk- Weber, Werner: Der Sturz [1971]. In: Daniel Keel (Hg.):
teur als Beobachter« (G 2, 30). Somit erweist sich Der Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1980, 269–273.
Sturz als »Denkspiel« (Bänziger 1976, 215), als nicht Benjamin Thimm
37  Abu Chanifa und Anan ben David 141

37 Abu Chanifa und Anan ben David den Hungertodes das Überleben zur Demonstration
der Ergebenheit in Gottes Willen wird, finden beide
Entstehungs- und Publikationsgeschichte Gelegenheit, die wahre Demut und Frömmigkeit des
jeweils anderen zu erkennen, und essen fortan ge-
Dürrenmatts Erzählung über die beiden Theologen meinsam. Auf die erste Annäherung folgt ein from-
Abu Chanifa und Anan ben David (1975) gehört in mes Gespräch, unterbrochen von Gebeten, die sogar
den Kontext des essayartigen Komplexes Zusammen- die Folterknechte in den Nachbarverliesen vertreiben.
hänge. Essay über Israel. Eine Konzeption (WA 35, Der Dialog überdauert die Jahrhunderte, die Herr-
9–162), verfasst anlässlich der Berufung Dürrenmatts schaft al-Mansurs und seiner Nachfolger, Kriege und
auf eine Gastprofessur an der Ben-Gurion-Universität Expansionen des Gefängnisses. Als die Gesprächs-
in Be’er Scheva (1974). Über einen längeren Zeitraum partner ihre heiligen Schriften durch Rattenfraß ver-
(1974–1975) geschrieben, verknüpft der Essay ge- lieren, ersetzt das Gespräch Koran und Thora.
schichtsphilosophische Erörterungen mit Elementen Durch den Willkürakt eines neuen Herrschers am-
einer Reiseerzählung. Dürrenmatt, der sich in einem nestiert, verlässt Anan ben David den Kerker und sei-
thematisch affinen Text als »Drauflosdenker« charak- nen Gefährten. Er tritt eine Jahrhunderte dauernde
terisiert (Über Toleranz, WA 33, 149), macht den Essay Wanderung durch die Welt an, die sich so verändert
zum Dokument dieses Denkstils. Die Erstausgabe des hat, dass man seine Sprache kaum mehr versteht. Als
expansiven Textes wird 1976 im Arche Verlag (Zü- Ketzer angegriffen, flieht er ins Gefängnis zurück und
rich) publiziert. Am Ende des Zweiten Teils findet sich sucht vergeblich nach Abu Chanifa; fünfzehn Jahre
ein erster Teil der Theologen-Erzählung (WA 35, 82– später verlässt er die Stadt bei einem Brand. Wiede-
87), ganz am Ende der vierteiligen Zusammenhänge rum zweihundert Jahre danach fragt er in Granada
dann der umfangreichere zweite Teil (ebd., 148–162). vergebens nach Rabbi Moses ben Maimon, wird unter
Dabei erfolgt der Anschluss an die zuvor unterbroche- Karl V. von der Inquisition verfolgt, sucht Zuflucht in
ne Geschichte fast übergangslos, wie denn die Zusam- Synagogen, Ghettos, Lehrhäusern. Zur Legende ge-
menhänge insgesamt nicht allein auf inhaltlicher Ebe- worden, dient er dem Maggid von Mesritsch, gerät
ne von Zusammenhängen sprechen, sondern ihre nach Auschwitz, wird zum Versuchsobjekt eines NS-
Teilthemen auch textgestalterisch eng miteinander Arztes, der ihn einfriert, aber nicht zu töten vermag
verweben. Kompositorisch als Beitrag zur Darstellung und als Putzkraft beschäftigt, bis der Jude wiederum
übergreifender historischer und denkgeschichtlicher verschwindet. Während all der Zeit sitzt Abu Chanifa
Zusammenhänge arrangiert, steht die parabelartige im Verlies zu Bagdad, in eine »Art Stalagmit« (WA 24,
Geschichte von Abu Chanifa und Anan ben David ih- 81) transformiert, von den Ratten aus alter Gewohn-
rerseits im Zeichen mehrschichtiger Zusammenhän- heit miternährt. Anan ben David trifft in Istanbul ei-
ge. Herausgelöst aus ihrem Erstkontext geht sie 1978 nen betrunkenen Schweizer Whiskyschmuggler und
in bearbeiteter Form in das Friedrich Dürrenmatt Le- fährt mit diesem nach Bagdad, wo der Bus explodiert.
sebuch (Arche Verlag, Zürich) sowie in die Werkaus- Ein Hund weist ihm den Weg zu Abu Chanifa, ohne
gabe ein. Einen wichtigen Eingriff nimmt der Autor dass man sich erkennt. Ein mörderischer Kampf ent-
auf der Ebene der Erzähltempora vor: Wird in der Es- brennt aus vermeintlicher Feindschaft. Erst der Blick
say-Fassung der erste Teil im Wesentlichen im Präteri- ins Gesicht des Gegenübers löst ein Wiedererkennen
tum, der zweite Teil dann im Präsens erzählt, so steht aus; der Bann des Hasses bricht mit der Ansprache des
die separat veröffentlichte Erzählung ganz im Präsens. Gegenübers als »Du« (ebd., 86). So erkennen beide,
wie es abschließend heißt, »daß beider Eigentum, das
Gefängnis des Abu Chanifa und der Kerker des Anan
Inhalt und Analyse ben David, die Freiheit des einen und die Freiheit des
anderen ist« (ebd.).
Zwei Theologen, der Korankenner Abu Chanifa und
der Rabbi Anan ben David, werden um 760 in Bagdad
vom Kalifen al-Mansur gleichzeitig eingekerkert. Bei- Deutungsaspekte
de empfinden die Nähe des anderen zunächst als de-
mütigende Zusatzstrafe. In stummer Feindseligkeit Motivisch und thematisch ist die Geschichte inner-
verschmähen sie lange sogar das zu teilende Essen, das halb von Dürrenmatts Werk vielfach vernetzt. Im Is-
ihnen ein Wärter bringt. Erst als angesichts des nahen- rael-Essay-Komplex, der die Geschichte des Staates

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_37
142 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

und der Idee Israel in einen menschheitsgeschicht- langen Wanderung Anan ben Davids ist vor allem die
lichen Zusammenhang stellt, wirkt sie zugleich para- Legende um den Ewigen Juden Ahasver. Die weitläu-
bolisch und illustrierend. Die beiden Theologen figu- figen verwirrenden Gefängnisarchitekturen gehören
rieren zunächst den Religionskonflikt zwischen Mus- ins Spektrum von Dürrenmatts Labyrinthen, in denen
limen und Juden; ihre zwischen Disput und gemein- sich metaphorisch eine labyrinthische Welt spiegelt,
samer Meditation changierenden Dialoge über Gott ein Durcheinandertal (WA 27). Die existentielle Ver-
erinnern an die Textform des Religionsgesprächs, wie lassenheit des Einzelnen im Labyrinth und seine
sie seit dem Mittelalter belegt ist, so durch Boccaccios Angst vor Begegnungen mit einem potentiell mörde-
Decamerone und durch Lessings Ringparabel (Nathan rischen Gegenüber erinnern an den Protagonisten im
der Weise), wo die bei Dürrenmatt explizit erörterte Winterkrieg in Tibet (WA 28, 11–170) und an die Mi-
Toleranz-Idee entfaltet wird. Die christlich-westlich notaurusfigur, insbesondere die der Minotaurus-Bal-
geprägte Welt bleibt in der Erzählung eher im Hinter- lade (WA 26, 9–32). Dort treffen der als Minotaurus
grund, repräsentiert durch Inquisitor, NS-Sadist und maskierte Theseus und sein Opfer als Doppelgänger
Schweizer Schmuggler. Implizit reflektiert wird auch aufeinander, so wie hier die beiden Theologen, die –
der aktuelle israelisch-palästinensische Konflikt als nun aber unter positiven Vorzeichen –, zu einem Dop-
politische und militärische Eskalation der alten Geg- pelgängerpaar werden, weil sie so vieles verbindet.
nerschaft zwischen Juden und Arabern. Der Kampf mit dem Doppelgänger im Labyrinth bil-
Mit ihrem skurril-versöhnlichen Ende scheint die det ein Scharnier zu Max Frischs Roman Stiller (1954),
Erzählung für eine ethisch fundierte Konfliktlösung wo sich zudem eine Version der Geschichte Rip van
zu optieren; als groteske Utopie erscheint die Schil- Winkles findet, die in Dürrenmatts Erzählung eben-
derung wechselseitigen Erkennens und enger Verbrü- falls anklingt.
derung – wobei das Erkennen Anagnorisis ist. Und
die Verbrüderung als Entdeckung von Wesensgleich- Literatur
Primärtexte
heit mit dem Anderen erscheint als ein Schritt zur Abu Chanifa und Anan ben David. In: Friedrich Dürren-
Selbsterkenntnis. Als Voraussetzungen der utopischen matt Lesebuch. Zürich 1978, 41–62.
Lösung erscheinen das Gespräch (als unermüdlicher, Abu Chanifa und Anan ben David. In: WA 24, 65–86.
unbegrenzter Dialog) sowie der Blick ins Gesicht des Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption.
Anderen. Während letzteres Konzept ein Echo der Zürich 1976.
Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption. In:
Ethik von Emmanuel Lévinas sein mag, konkretisiert
WA 35, 9–162.
sich im Motiv des interkulturellen und interreligiösen
Gesprächs eine Ethik des Worts, die an die gemein- Sekundärliteratur
samen Grundlagen von Judentum, Islam und Chris- Bursch, Roland: »Wir dichten die Geschichte«. Adaption
tentum erinnert. Die Annäherung des Juden und des und Konstruktion von Historie bei Friedrich Dürrenmatt.
Moslems erscheint allerdings ironischerweise keines- Würzburg 2006.
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
wegs als direktes Resultat religiöser Meditation und
gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln,
spiritueller Lebenshaltung; sie nimmt ihren Weg viel- Weimar, Wien 2003, bes. 323–338.
mehr über geteilte Mahlzeiten, einen geteilten Alltag, Schmitz-Emans, Monika: Am Ende – die Toleranz. Abu
geteilte Leiden. Die finale Erleuchtung bedarf der Chanifa, Anan ben David und Friedrich Dürrenmatts
sinnlich-konkreten Anschauung des anderen. Religionsgespräch. In: Oxana Zielke (Hg.): Nathan und
Dürrenmatts Text enthält Reminiszenzen an tradi- seine Erben. Würzburg 2005, 143–161.
tionsreiche Vorstellungsbilder und Stoffe: Modell der Monika Schmitz-Emans
38  Smithy 143

38 Smithy auf Smithy konzentriert und die Zeit auf sein Erleben
hin gebündelt ist, präsentiert sich das Geschehen als
Entstehung und Hintergrund Krisengeschichte. Eingangs erinnert sich Smithy in
Rückblende an die Tagesereignisse; seine Schwierig-
Die Erzählung Smithy entstand im Rahmen des um- keiten hatten sich ebenso kontinuierlich gesteigert
fangreichen Nachworts zur Komödie Der Mitmacher, wie die Hitze der Stadt und sein Alkoholpegel. Kom-
das Dürrenmatt von 1974 bis 1976 schrieb. Die Refle- plexe Verhandlungen mit Gangstern und Polizei und
xionen über das Stück sind als Prozess der subjektiven personelle Veränderungen führten zu »Schwierigkei-
und poetischen Sinnstiftung in einer literarischen wie ten, nichts als Schwierigkeiten« (WA 14, 236). Smithy,
existentiellen Krisenerfahrung verstehbar (vgl. Weber der sich »wenn nicht arriviert, so doch gesichert ge-
2020, 375–404). Das Nachwort wird zum eigenständi- fühlt hatte« (235), ist am Ende des Tages geschäftlich
gen literarischen Text, mit philosophierenden, auto- an einem Tiefpunkt. Als er spät nachts seinen Ar-
biografischen und dramaturgischen Exkursen sowie beitsort aufsucht, kommt es zu einem überraschen-
den eingeschobenen Erzählungen Smithy als ›Urfas- den Ereignis: Eine unbekannte Frau spricht ihn an
sung‹ des Mitmacher-Stoffes und Das Sterben der Py- und bietet sich ihm an, und aus einem »wilde[n] Hu-
thia als narrative Verhandlung von Problemstellungen mor« (242) heraus lässt sich Smithy auf das Abenteu-
eines auf der Bühne gescheiterten Dramas. er ein. Die Begegnung mit der Frau, die ihm den »Ein-
Der Einfall zu Smithy hat der Darstellung im Mit- druck von etwas Vornehmem, von etwas Ungewöhn-
macher-Komplex zufolge seinen Ursprung in der ersten lichem« (243) vermittelt, irritiert ihn. Obwohl sie sich
Begegnung des Autors mit der Stadt New York (1959), distanziert gibt, kaum ein Wort spricht und nur Sex
im überwältigenden Eindruck der »ungeheuerlich in will, wird die elementare Liebeserfahrung für Smithy
den einnachtenden Himmel ragenden Stadt« (WA 14, nachträglich zum Auslöser eines neuen Selbst-
262). Dürrenmatt schrieb unmittelbar nach dem Auf- bewusstseins, für eine innere Freiheit gegenüber den
enthalt einen ersten handschriftlichen Textanfang nie- Zwängen seiner schmutzigen Existenz. Frühmorgens
der, der fünfzehn Jahre liegen blieb, bis ihn der Autor wird er für einen vielversprechenden Auftrag in ein
beinahe wörtlich als Auftakt für die rekonstruierte Er- Nobelhotel geführt und erkennt in der Leiche, die er
zählung verwendete (vgl. WA 14, 235–237). beseitigen soll, die Frau, mit der er geschlafen hat. Er
Smithy erschien erstmals 1976 in Der Mitmacher – stellt ihren Ehemann, einen hohen ausländischen Po-
Ein Komplex. Text der Komödie, Dramaturgie, Erfah- litiker, der sie ermordet hat und die Leiche beseitigen
rungen, Berichte, Erzählungen im Arche Verlag Zü- lassen will, zur Rede und schlägt sein lukratives An-
rich. Die Werkausgaben von 1980 und 1998 übernah- gebot – es wäre das »Geschäft [s]eines Lebens« (261)
men den Text der Erstausgabe und präsentierten ihn – aus. Wie die Frau sich ihm »[g]ratis« (243) hingege-
jeweils zweimal: einerseits im ursprünglichen Kon- ben hatte, demonstriert Smithy seine Überlegenheit
text des Mitmacher-Nachworts (WA 14, 235–261) so- und Verachtung gegenüber dem »Mann, der so [...]
wie textidentisch als für sich stehende Erzählung (WA erhaben war, wie der liebe Gott« (255), indem er die
24, 87–115). Bezahlung ablehnt und die Leiche »gratis« (258) ver-
schwinden lässt. Diese Manifestation von Freiheit ge-
genüber dem Geschäft, eine kleine Rebellion gegen
Inhalt und Analyse die Sachzwänge seiner schäbigen Existenz und das
Machtgefüge, kostet Smithy das Leben: Da er damit
Der Titelheld ist ein beschränkter, mit sozialen Vor- auch für Polizeichef und Gangsterboss ein großes Ge-
urteilen behafteter, moralisch gleichgültiger Klein- schäft hat platzen lassen, wird er von einem Gehilfen
unternehmer. Sein Geschäft besteht darin, zusammen des Gangsters hingerichtet.
mit seinem Gehilfen Leibnitz die Leichen von Mord- Smithy wird als »jämmerliche[r] Held« (261) dar-
opfern, die ihm von Seiten der Mafia wie korrupter gestellt, dessen Horizont sich auf sein Geschäft be-
Polizeivertreter geliefert werden, durch Sezieren und schränkt, der das Andere nur als Schimpfwort und Vor-
ein Säurebad zum Verschwinden zu bringen. Die Er- urteil kennt (alle, die ihm Schwierigkeiten bereiten,
zählung bildet rund 24 Stunden an einem heißen sind ›Juden‹, ›Kommunisten‹ und ›Schwule‹), und der
Maitag im Leben Smithys in New York ab. Die Ereig- auch in seiner Verweigerung weder eine moralische
nisse werden in chronologischer Abfolge erzählt. In- Gewissensentscheidung trifft noch ein kritisches Be-
dem die Perspektive (in personaler Erzählsituation) wusstsein hat. Es ist allein die Erinnerung an die schein-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_38
144 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

bar rein animalisch-sexuelle Begegnung mit dieser im monetären Wertesystem. Smithys Aufbegehren
schönen Frau, die Smithy zur Verweigerung bewegt – nimmt damit – jenseits aller Konfession und über den
als Wunsch und anschließender Stolz, sich der geheim- Akt der Individuation hinaus – den Charakter eines re-
nisvollen Frau nachträglich als würdig zu erweisen. ligiösen Urerlebnisses an.
Im Kontext des Mitmacher-Komplexes entwickeln
sich zusätzliche Bedeutungsdimensionen. Dürren-
Deutungsaspekte matt präsentiert Smithy als ersten Einfall des Stoffes,
den er zur Komödie Der Mitmacher entwickelte. Die
Die Erzählung, bei der jemand aus seinem Alltag hi- Erzählung wird im Textzusammenhang aber zugleich
nausgerissen wird und unverhofft zu einem neuen zur Variation auf das fertige Stück, enthält sie doch ei-
Selbstverständnis durchdringt, wobei ihm das Über- ne Vielzahl wörtlicher Zitate aus dem Drama, die vom
leben gleichgültig wird, knüpft an frühe Texte wie Der Autor gezielt in die nachträgliche Rekonstruktion der
Tunnel oder Die Panne an. Diese existentialistische Di- angeblichen Vorstufe eingestreut wurden. Die Erzäh-
mension verbindet sich jedoch mit einer auffallenden lung bildet damit einen Gegenentwurf und eine Fort-
sprachlichen Eigenart: Obwohl die Geschichte vorder- setzung des Stückkommentars im Mitmacher-Nach-
gründig keinerlei Bezug zur Religion hat, gibt es zahl- wort mit anderen Mitteln.
reiche religiöse Namen und Übernamen wie ›Holy‹ Schließlich verweist eine weitere sprachliche Auf-
(der Gangsterboss trägt einen Priestermantel, um sei- fälligkeit auf den Kontext im Mitmacher-Komplex und
ne Waffen zu verstecken) oder ›van der Seelen‹ (der darüber hinaus: Smithys Bindung an die Frau erfolgt
mit ›Leibnitz‹ ein bedeutungsträchtiges Namenspaar primär über ihr edles Kleid, das ihm am Schluss von
bildet). Der Politiker, der seine Frau umgebracht hat, ihr übrigbleibt: »Smithy fühlte nichts als den Stoff des
aus Smithys Sicht als »der liebe Gott persönlich« (255), Kleides, über das seine Hände fuhren, ein leichter Fet-
»Jahwe« oder »Gott der Allmächtige« (256), logiert in zen, mehr nicht« (260). Damit deutet sich die selbst-
einem unendlich hohen Stockwerk des Coburn-Ho- referentielle Dimension der Erzählung auf den Mit-
tels, wo »hinter riesigen Glaswänden der heiße Him- macher-Komplex an. Hier schreibt Dürrenmatt: Stü-
mel wie eine Betonmauer stand« und die tote Frau in cke, auf die man sich einlasse, seien »mehr oder weni-
einem »Himmelbett« liegt, »vom Betthimmel hingen ger glückliche Liebesgeschichten mit Stoffen« (229),
Wolken von weißen Schleiern herunter« (253). In Ver- was wiederum auf das Stoffe-Projekt insgesamt ver-
bindung damit steht eine implizite Darstellung New weist, in dessen Rahmen der Mitmacher-Komplex zu
Yorks mit seiner unerträglichen Hitze als irdische Höl- sehen ist (vgl. Weber 2007, 191–193).
le, genauer als modernes Babylon, wo eine für Smithy
undurchschaubare Internationalität und babylonische Literatur
Primärtexte
Sprachverwirrung herrscht. Vor diesem Hintergrund Smithy. Eine Novelle. In: Der Mitmacher – Ein Komplex.
verweist das im Gegensatz zum endlosen Feilschen um Text der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen, Berichte,
Preise und Prozente stehende, zweimal vorkommende Erzählungen. Zürich 1976, 202–226 (Titel und Gattungs-
Wort »gratis« auf seinen lateinischen Wortsinn der bezeichnung nur im Inhaltsverzeichnis).
gratia (Gnade; s. Kap. 67). Mit dieser semantischen Smithy. Eine Novelle [im Nachwort zum Mitmacher]. In: WA
14, 235–261 (Titel und Gattungsbezeichnung nur im
Ebene etabliert die Erzählung – wie es für das Spätwerk
Inhaltsverzeichnis).
Dürrenmatts charakteristisch ist – eine auf das eigene Smithy. In: WA 24, 87–115.
Frühwerk bezogene Intertextualität, primär zum Dra-
ma Ein Engel kommt nach Babylon (vgl. Weber 2007, Sekundärliteratur
182 f.). Dort erweist sich der König Nebukadnezar des Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
göttlichen Gnadengeschenks des Mädchens Kurrubi der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung.
Frankfurt a. M. 2007, 173–196.
als unwürdig und verspielt die Chance zum Glück.
Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Hier ist die Situation gerade umgekehrt: Der schäbige Zürich 2020.
und korrupte Smithy wird durch das Gratis-Geschenk
der geheimnisvollen Frau erweckt und befreit sich – Ulrich Weber / Kathrin Schmid
um den Preis des Lebens – aus seiner Gefangenschaft
39  Das Sterben der Pythia 145

39 Das Sterben der Pythia renmatts Das Sterben der Pythia wird wissentlich und
mit handfesten Interessen gehandelt, vor allem auch
Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Tiresias, der sich als Vertreter der Vernunft be-
zeichnet, und von Pythia, der Vertreterin der Fantasie
Das Sterben der Pythia entstand im Rahmen des Mit- (vgl. WA 24, 157). Das Orakel von Vatermord und In-
macher-Komplexes und wurde zum ersten Mal 1976 in zest mit der Mutter soll dazu dienen, Laios davon ab-
diesem Zusammenhang, als angehängte Erzählung im zuhalten, überhaupt Nachkommen zu zeugen. Das
Nachwort zum Nachwort publiziert. 1980 wurde der zweite Orakel, welches die Pest betrifft, sollte Kreon,
Text als eigenständige Erzählung unverändert in die den Tiresias für gefährlich hält, beseitigen, beseitigt
Werkausgabe aufgenommen (entsprechend der zwei- aber Ödipus als König, den Tiresias stützen wollte.
malige Abdruck in der WA: WA 14, 274–313; WA 24, Das für Ödipus bestimmte Orakel sodann wird von
117–158). Im gleichen Jahr entstand eine Radiofas- Pythia aus reinem Übermut gesprochen. Ödipus weiß,
sung von Hans Hausmann (Radio DRS). dass Polybos und Merope nicht seine Eltern sind, aber
er möchte herausfinden, wer seine wirklichen Eltern
sind: Es sind jene, an denen sich das Orakel erfüllt, in-
Inhalt und Analyse sofern hat die Pythia, wie es im Text heißt, einen »Zu-
fallstreffer« (127) gelandet. Der Zufallstreffer geht so
Das Sterben der Pythia erzählt die Geschichte von weit, dass Ödipus auch seine möglichen oder wahr-
Ödipus als die Geschichte einer Reihe von Zufällen. In scheinlichen Väter tötet, den Gardeoffizier Mnesippos
der antiken Mythologie ist Ödipus das klassische Bei- und den Wagenlenker Polyphontes. Wenn es hier
spiel für das Wirken des Schicksals: Ödipus will sei- scheint, als wäre das Schicksal durch die Hintertür
nem von einem Orakel vorausgesagten Schicksal, dass doch wieder hereingekommen, so wird diese Deutung
er seinen Vater Laios töten und seine eigene Mutter Io- durch die Version der Sphinx unterlaufen. Denn sie
kaste heiraten werde, entgehen, wobei alles, was er da- erzählt, dass Ödipus ihr Sohn sei und nicht der von Io-
für unternimmt, das Unvermeidliche erst recht her- kaste. Allerdings, so Tiresias, ist die Sphinx die Toch-
beiführt. Die Orakel, die nicht nur Ödipus, sondern ter des Hermes, »des Gottes der Diebe und der Betrü-
auch diversen anderen Personen gegeben werden, ger« (155). Damit repräsentiert sie, die hier eine ganz
können in Dürrenmatts Welt nicht von irgendeiner neue Rolle zugesprochen erhält, auch den erfinden-
metaphysischen Instanz stammen; sie werden viel- den Dichter, der mit einer letzten Volte seiner Fantasie
mehr aus Übermut oder politischem Interesse ver- vermeidet, dass eine Version des Textes als »die Wahr-
kündet. Das Prinzip des Textes besteht darin, dass ne- heit« (ebd.) durchgehen kann. Ja er erfindet eine neue
ben der Pythia und Tiresias auch die Hauptfiguren des Geschichte, in der Ödipus nicht mehr der Sohn des
Mythos (Ödipus, Iokaste, Laios und die Sphinx) ihre Laios und der Iokaste ist – und damit nicht mehr der
Version der Geschichte vor der sterbenden Pythia er- Ödipus des antiken Mythos, der durch diese Bezie-
zählen, wobei keine Figur alles weiß. So ist zum Bei- hung definiert ist –, sondern der Sohn der Sphinx und
spiel nicht einmal klar, wer der Vater des Ödipus ist: des Wagenlenkers Polyphontes. Tiresias bezeichnet
vielleicht Laios, vielleicht der Gardeoffizier Mnesip- sich und die Pythia als »Hauptpersonen« (156), weil
pos, vielleicht der Wagenlenker Polyphontes. Ja, man sie das Ganze in Gang gesetzt haben, das allerdings zu
weiß letztlich auch nicht, ob Ödipus der Sohn der Io- einem »wüsten Durcheinander« geführt hat, zu einem
kaste oder der Sphinx ist und wie viele Ödipusse es ei- »gigantischen Knäuel[...] von phantastischen Fakten,
gentlich gibt (vgl. WA 24, 156). Dürrenmatt benützt die, ineinander verstrickt, die unverschämtesten Zu-
hier bereits ein Verfahren, das er in Durcheinandertal fälle bewirken« (ebd.).
zur Virtuosität treiben wird.
Einen Dramatiker, der sein Leben lang über Schick-
sal, Notwendigkeit und Zufall reflektierte, musste der Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Ödipus-Stoff interessieren, dieser »Urstoff[...]« des
Theaters (WA 14, 314), der als Modell für das unaus- Die Erzählung wurde in der Dürrenmatt-Forschung
weichliche Schicksal und zugleich als exemplarisch vor allem im Zusammenhang mit Der Mitmacher be-
für das analytische Drama gilt. An ihm kann der Au- handelt und in Arbeiten zum Mythos in der Moderne.
tor von Die Panne demonstrieren, wie in der Moderne So sieht Kundert (2010) die Erzählung unter dem As-
das Schicksal durch den Zufall ersetzt wird. In Dür- pekt des Rätsels, das im Text selbst eine nebensächli-

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146 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

che bis keine Rolle spielt, wobei er den Begriff meta- mit Das Sterben der Pythia hat er zu einer ästhetisch
phorisch anwendet und die Welt als Rätsel sieht. adäquaten Darstellung gefunden, indem es ihm ge-
Dehrmann (2005) und Spedicato (2006) sehen Dür- lingt, eine Variante des Mythos durch die nächste auf-
renmatt vor allem als Dekonstrukteur des klassischen zuheben.
Mythos, dessen Ausgang aber doch erhalten bleibe
(vgl. Dehrmann 2005, 409). Wenn man unter dem Literatur
Primärtexte, Quellen
Ausgang die Selbstblendung des Ödipus meint, ist Das Sterben der Pythia. Erzählung. In: Der Mitmacher. Ein
dem zuzustimmen. In Dürrenmatts Text geht es aber Komplex. Text der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen,
nicht um den Ausgang, sondern um die Varianten der Berichte, Erzählungen. Zürich 1976, 239–274.
Geschichte, die so kompliziert sind, dass sie schließ- Das Sterben der Pythia. Erzählung. In: WA 14, 274–313.
lich jede eindeutige Sinnzuschreibung verhindern. Das Sterben der Pythia. In: WA 24, 117–158.
Das Sterben der Pythia. Radiofassung und Regie: Hans
Die verschiedenen Varianten, die Dürrenmatt die ver-
Hausmann, DRS Basel, 1980. Schweizerisches Literatur-
schiedenen Personen erzählen lässt und die Multipli- archiv, Sig. SLA-FD-A-r67.1.
kation der Perspektiven, der Eigenschaften der Figu-
ren und der Figuren selbst (Ödipus als Sohn der Iokas- Sekundärliteratur
te und des Laios, als Sohn der Iokaste und des Garde- Dehrmann, Mark-Georg: Dürrenmatt in Delphi. Korrektu-
offiziers, als Sohn der Sphinx und des Wagenlenkers, ren des Ödipus-Mythos im Sterben der Pythia. In: Martin
Vöhler, Bernd Seidensticker, Wolfgang Emmerich (Hg.):
als Sohn der Sphinx, der gegen den Sohn der Iokaste
Mythenkorrekturen. Berlin, New York 2005, 401–409.
ausgetauscht wurde, usw.) werden in solchen Deutun- Kundert, Mathias: »Ein Stoff, der uns Rätsel aufgibt«. Fried-
gen nicht berücksichtigt. Dürrenmatt hat jedes Detail rich Dürrenmatts Nachfragen zur Rätselhaftigkeit in Das
des Mythos remotiviert – von Laios’ möglicher Ho- Sterben der Pythia. In: Variations 18 (2010), 113–126.
mosexualität über Kreons spartanisches Wesen bis Spedicato, Eugenio: Mythisches Pech. Wozu Dürrenmatt
hin zum Seher Tiresias, der seine Blindheit nur spielt. griechische Mythen wiederaufnahm und neu erzählte. In:
Silvio Vietta, Herbert Uerlings (Hg.): Moderne und
Tiresias ist im Übrigen die aus Dürrenmatts Werk Mythos. Paderborn, München 2006, 245–258.
wohlbekannte Figur, eine Art Nachfahre von Romulus Spycher, Peter: From Der Mitmacher to Smithy and Das Ster-
dem Großen, der die Welt mit seinen Orakeln zum ben der Pythia. In: Moshe Lazar (Hg.): Play Dürrenmatt.
Guten verändern will und dabei scheitert, weil es in Malibu 1983, 107–124.
der Wirklichkeit anders zugeht als berechnet. Das Be- Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung,
sondere an Dürrenmatts Ödipus-Version zeigt sich,
Frankfurt a. M. 2007, 197–230.
wenn man sie mit Max Frischs Homo Faber vergleicht: Zeller, Rosmarie: Über das Ende des Textes hinausschreiben.
Frisch zeigt in einer Reihe von Zufällen, wie der Vater Das Beispiel Ödipus. In: Véronique Liard, Marion George
zum Liebhaber der Tochter wird, wobei dies ganz oh- (Hg.): Dürrenmatt und die Weltliteratur – Dürrenmatt in
ne Orakel geht. Das Orakel dient Dürrenmatt im Ge- der Weltliteratur. München 2011, 49–63.
genzug dazu, den Zufall als Zufall zu diskutieren, was Rosmarie Zeller
ihn spätestens seit Die Physiker interessiert. Aber erst
40  Minotaurus 147

40 Minotaurus parodierend, travestierend auf kanonische Texte zu-


rückgreift und mit ihnen spielt (vgl. Gasser 2014).
Entstehungs-, Publikations- und Auf- Der Minotaurus ist im Werk des Zeichners, Malers
führungsgeschichte und Schriftstellers omnipräsent. Die Gouache Der
entwürdigte Minotaurus (1958), die Federzeichnung
Die Idee zur Ballade Minotaurus entwickelte Dürren- Der verängstigte Minotaurus (1974), die Mischtechnik
matt 1984 – in der Anfangsphase seiner Beziehung Minotaurus (1975), Weltstier (1975) und Minotaurus,
zur Schauspielerin und Filmerin Charlotte Kerr, die Frau vergewaltigend (1976), die Tuschserie von 1975
er im Mai 1984 heiratete. Das erste Zeugnis des Stoffs und die Illustrationen (1984/1985) zur Ballade Mino-
ist die mündliche Erzählung der Geschichte während taurus sind die hauptsächlichen bildlichen Variatio-
des Malens der Bilder im Kerr-Film Portrait eines Pla- nen, mit denen Dürrenmatt die Muster traditioneller
neten (Dreharbeiten Anfang Mai 1984 abgeschlossen, Labyrinthdarstellungen mit-, weiter- und umdenkt
Erstsendung 6.12.1984). In den ersten Manuskripten und in Persönliche Anmerkung zu meinen Bildern und
von Juni 1984 trägt der Stoff den Untertitel Ein Ballett. Zeichnungen (WA 32, 201–216) gleich selber kom-
Publiziert wurde er mit dem Untertitel Eine Ballade. mentiert (vgl. Dürrenmatt 1994, 193–205). Die in den
Mit Zeichnungen des Autors im Mai 1985. Die neun Stoffen I integrierte »Dramaturgie des Labyrinths,
lavierten Tuschezeichnungen entstanden zwischen Minotaurus« (WA 28, 69–86, hier 69) stellt das Motiv
1984 und Februar 1985. Der Text gehört zu den mei- in den Kontext der antiken Vorlage, setzt sich mit Be-
strezipierten im Spätwerk Dürrenmatts. Er wurde deutungsmöglichkeiten des Mythos auseinander und
vielfach übersetzt, und es entstanden auch Be- fragt punktuell nach der gegenwärtigen Erzählbarkeit
arbeitungen in Form von Tanz- und Musiktheater des Labyrinth-Stoffs. Die eigentliche poetische Um-
(s. Kap. 101). setzung dieser poetologischen Überlegungen ist die
1985 erschienene Ballade Minotaurus (WA 26, 9–32),
für die der Autor eine spezielle gattungsübergreifende
Exposition des Themas Schreibform wählt, die das Lyrische, Epische und
Dramatische vereint. Sie sticht auch deshalb aus Dür-
Schriftsteller sollten, so Dürrenmatt in den Stoffen, renmatts Beschäftigungen mit dem mythologischen
nicht nach chronologischen und literaturgeschicht- Untier hervor, weil sie Bild- und Textschöpfung ge-
lichen Kriterien eingeordnet werden, sondern nach nuin verknüpft (vgl. Bigler 2014; Schmitz-Emans
»Urstrukturen, Urmotiven und Urbildern«, die sie 2004). Eine reflexive Ergänzung zu Dürrenmatts Ar-
verwenden (WA 28, 70). Zu diesen archetypischen beit am Labyrinth-Mythos bilden die Gespräche, be-
Bildern gehören in seinem eigenen Fall insbesondere sonders das 1982 geführte Interview mit Franz Kreu-
die Mythen, die er reichlich aufnimmt in Text und zer (G 3, 121–167).
Bild und immer wieder neu belebt: u. a. Atlas, Prome-
theus, Sisyphos, Midas, Herkules, den Minotaurus im
Labyrinth. Der Rückgriff auf mythische Erzählungen Motivanalyse
ist keineswegs als Zeichen mangelnder oder versie-
gender Fantasie auszulegen, denn nach Dürrenmatt Die poetologischen Erwägungen in der Dramaturgie
ist die »Suche nach Stoffen überhaupt [...] ein Zurück- des Labyrinths – erstmals unter diesem Titel und in ge-
gehen auf die Mythen« (G 3, 31). Der Mythos ist in ringfügig abweichender Form erschienen in Text + Kri-
seinen Augen »ein Archetypus, eine Urerscheinung, tik (56, 1977, 1–7) – befragen den persönlichen Zugang
eine Urkonstellation, in die der Mensch immer wie- des Autors zum Urmotiv des Labyrinths, erzählen die
der gerät. Er ist das immer Wiederholbare innerhalb griechische Sage von ihren Quellen her nach, prüfen
des Menschlichen« (ebd.) und berührt Themen wie überlieferte Varianten kritisch, stellen eigene Spekula-
das Welt-Ertragen, die Rebellion, das Nie-Aufgeben, tionen zum Stoff an und diskutieren verschiedene Deu-
Macht, Heldentum, die menschliche Verlorenheit in tungsmöglichkeiten. In Dürrenmatts Lesart ist der Mi-
einer undurchschaubaren Welt (vgl. ebd., 217). Der notaurus mit dem Kopf eines Stiers und einem Men-
dialogische Bezug auf wissenschaftliche, philosophi- schenleib ein Wesen, das weder zum Sprechen noch
sche, biblische oder eben mythologische Prätexte cha- zum Denken fähig ist, sich jedoch instinktiv als »etwas
rakterisiert das für Dürrenmatt typische Schreibver- Einzigartiges« fühlt und unbewusst ein Mensch wer-
fahren des Palimpsests, mit dem der Autor zitierend, den will (WA 28, 78). Seine Gefangenschaft im Laby-

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148 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

rinth ist eine »Unbegreiflichkeit«, denn er ist ein titätsprozess dort, wo die Individuation eine Sozialisa-
»schuldig Unschuldiger« (ebd., 81), der für ein Unrecht tion mit einschließen sollte.
büßen muss, das er nicht begangen hat, nämlich eine
minotaurische Ungestalt zu sein, weder ganz Tier noch
Mensch noch Gott. Er wird für eine Schuld bestraft, die Deutungsaspekte und Positionen der
ihn ohne sein Einwirken trifft, weil deren Ursache vor Forschung
seiner Geburt liegt. Durch seine Ungestalt verkörpert
der Minotaurus sowohl den absolut Einzelnen, der sich In Dürrenmatts Worten ist der Minotaurus die »exis-
mit seiner Umwelt auseinandersetzt, als auch die Kom- tentielle Darstellung des Menschen als verlorenes Ich
plexität des Menschseins, das sich bloß an Individuali- [...], der das Du sucht und es nur in der Katastrophe
täten – also nur plural – beschreiben lässt. Der Mino- findet« (G 4, 84). In der Verlängerung dieses Eigen-
taurus spiegelt gleichnishaft die Vielfalt des Menschen kommentars lässt sich in der Ballade das Gleichnis ei-
und ist, wie alle Gleichnisse, mehrdeutig. Genauso nes Selbstbewusstseins- und Selbstwerdungsprozesses
mehrdeutig ist die avantgardistische Fiktionalisierung mitlesen (Gasser 2004/2014). Die thematisierte Ent-
des Labyrinths, der die Labyrinthform selber als Er- stehung des Selbstbewusstseins, als spiegelbildliche
zählmodell dient (Schmeling 1987). Vielfältig sind fer- Begegnung mit sich selbst und mit den andern dar-
ner die Darstellungsmöglichkeiten des Labyrinths, die gestellt, gibt den labyrinthischen Weg als Initiations-
sich um den Labyrinth-Erbauer Dädalus, den Laby- weg zu erkennen, der nicht ans Ende gelangt. Das
rinth-Begeher Theseus oder den Labyrinth-Bewohner Tanzlied demonstriert, wie menschenzugeneigte Lust
Minotaurus organisieren können. (Minotaurus) der menschlichen List (Theseus) zum
Ganz aus der wenig vertrauten minotaurischen Opfer fallen kann. Dürrenmatt verfremdet die mytho-
Opferperspektive und in einem »Ausbruch der Spra- logische Vorlage des menschenfressenden Monsters
che« (G 3, 232) lässt die Ballade Minotaurus das aus und des heldenhaften Befreiers im Umkehrungsver-
der Verbindung Pasiphaes mit einem Poseidon ge- fahren, das die tierhafte Menschlichkeit gegen die
weihten Stier geborene Wesen aus einem langjährigen menschliche Dämonie ausspielt und damit die ur-
Schlaf in einem Spiegelkabinett aufwachen. Der Dua- sprünglich wesensspezifischen Merkmale austauscht.
lismus von Schlafen und Wachen deutet auf ein der Die Ballade erzählt eine »exemplarische Geschichte
mythologischen Tradition teures Motiv, wonach das der Einsamkeit« (Hennig 2015, 93) und erinnert, weil
Labyrinth der Ort einer Initiation ist, an dem das In- sie auf die Thematik der Vereinzelung angelegt ist (vgl.
dividuum einen Bewusstseins- und Reifeprozess G 4, 177), an Kierkegaards Menschenbild des Einzel-
durchläuft. Der zu Beginn ›Wesen‹ Genannte muss nen (vgl. ebd., 173). Der Mensch lebt im Urkonflikt,
sich erst zum ›Minotaurus‹ entwickeln. Im Spiegel – ein Doppelwesen zu sein, ein Einzelwesen wie auch ein
sinnfällige Metapher von Subjektivität – nimmt der einer Gemeinschaft angehöriges Wesen. Sinnbild die-
Stiermensch allmählich wahr, »daß er sich selber sich / ses existentiellen Urdramas ist der Stiermensch Mino-
gegenüber befand« (WA 26, 28). Tanzend feiert der taurus, der »zwei gegensätzliche Prinzipien in sich ver-
Minotaurus sein gesteigertes Selbstgefühl, gleichzeitig einigt und der als das Unikum, das Einzelwesen
ist der Tanz auch sein körpersprachliches Mittel, um schlechthin, weder sich selbst, noch die Anderen oder
sich am andern zu erfahren. In den sukzessiven Be- die Welt begreifen kann« (Mingels 2004, 266 f.). Eine
gegnungen mit dem Mädchen, das er liebt und durch weitere Lesart des Tanzlieds, die sich auf den Schluss
Ungeschick trotzdem tötet, mit einer Gruppe von der Dramaturgie berufen kann, deutet Minotaurus
Mädchen und Jünglingen, in denen er ein Feindbild und Theseus als bloß »verschiedene Masken des einen
erblickt und sie in einem Gemetzel zerfetzt, und Menschenwesens« (Rusterholz 1998, 330), insofern
schließlich mit Theseus, der unter der Stiermaske vor- der Versuch, »diese Welt denkend zu bewältigen [...],
erst als seinesgleichen und Freund erscheint, ihn dann ein Kampf ist, den man mit sich selber führt« (WA 28,
aber ersticht, durchläuft der Minotaurus verschiedene 86). Die gescheiterte Menschwerdung des Minotaurus
Bewusstseinsstufen, welche die spiegelbildliche wird ebenso als Reflexionsunvermögen (Wirtz 1996,
Selbstbegegnung um die Fremdbegegnung erweitern. 336) einer Figur gedeutet, die »Höhlenbewohner Pla-
Der letzte Tanz der Zweisamkeit mit Theseus endet für tons« geblieben ist und die von Camus beschriebene
den Minotaurus in der Einsamkeit des Todes, »ohne Erfahrung des Absurden (Knapp 1993, 151) erleidet,
die Erfahrung des Andern, des Du« (WA 32, 212). Da- das sich als unüberwindbare Kluft zwischen dem Ich
mit scheitert der in der Ballade thematisierte Iden- und der Welt erweist, oder gar als politische Parabel ei-
40 Minotaurus 149

ner Welt als Gefängnis (Craciun 2000, 261–324). Das Gasser, Peter: Die Geburt der Literatur aus dem Geiste des
Lesen der vieldeutigen Ballade kann ein Verlesen nie Spiels. Zu Friedrich Dürrenmatts Dramaturgie der Phan-
ausschließen, aber die Fülle der Deutungsperspektiven tasie. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der
Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und intermedial. Göt-
zeugt von der Faszination, die Dürrenmatts Minotau- tingen 2014, 19–40.
rus-Version ausübt und den Maler wie Schriftsteller Hennig, Matthias: Gefangen zwischen Spiegelbildern. Fried-
aufgrund seiner Arbeit am Mythos in die Nähe von Pi- rich Dürrenmatts Ballade Minotaurus (1985). In: Ders.:
casso (Ziolkowski 2014), Borges, Butor, Eco, Gide, Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur
Kafka, Perec und Robert Walser rückt (Jambor 1997). des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2015, 80–93.
Jambor, Jan: Labyrinth, Spiegel, Tanz. Drei zentrale Bilder in
Die Pluralität der Deutungspositionen und ihre Un-
Dürrenmatts Minotaurus. In: Brücken. Neue Folge 5
vereinbarkeit entsprechen ganz dem poetologischen (1997), 293–317.
Selbstverständnis Dürrenmatts, für den »die Frage: Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1976]. 2. Aufl.
Wer ist Minotaurus?« unbeantwortbar, der »Sinn des Stuttgart, Weimar 1993.
Labyrinths« undefinierbar ist (G 3, 154). Mingels, Annette: Jener Einzelne. Kierkegaards Kategorie
des Einzelnen als Grundkonstante in Dürrenmatts ideo-
Literatur logiekritischem Denken. In: Jürgen Söring, Annette Min-
Primärtexte gels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. 7. Internationales
Minotaurus. Eine Ballade. Mit Zeichnungen des Autors. Neuenburger Kolloquium 2000. Frankfurt a. M. u. a. 2004,
Zürich 1985. 259–284.
Minotaurus. Der Auftrag. Midas. WA 26, 9–32 (ohne Zeich- Rusterholz, Peter: Metamorphosen des Minotaurus. Entmy-
nungen). thologisierung und Remythisierung in den späten Stoffen
Dramaturgie des Labyrinths. In: Text + Kritik 56 (1977), Dürrenmatts. In: Verena Ehrlich-Häfeli (Hg.): Antiquita-
1–7. tes Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wir-
Dramaturgie des Labyrinths. In: WA 28, 69–86 (revidierte kung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift
Fassung). für Renate Böschenstein zum 65. Geburtstag. Würzburg
[Gespräch mit] Franz Kreuzer [1982]. In: G 3, 121–167. 1998, 323–331.
Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Hg. vom Schmeling, Manfred: Der labyrinthische Diskurs. Vom
Schweizerischen Literaturarchiv Bern und Kunsthaus Mythos zum Erzählmodell. Frankfurt a. M. 1987.
Zürich. Bern, Zürich 1994. Schmitz-Emans, Monika: Im Labyrinth der Bilder und
Texte. In: Jürgen Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürren-
Sekundärliteratur matt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger Kollo-
Bigler, Regula: Surreale Begegnungen von Bild und Text. quium 2000. Frankfurt a. M. u. a. 2004, 11–44.
Lektüren im intermedialen Dialog. Paderborn 2014, 206– Wirtz, Irmgard: Mit Minotaurus im Labyrinth? Eine semio-
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Gasser, Peter: Dramaturgie und Mythos. Zur Darstellbarkeit bei Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
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Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. dial. Göttingen 2014, 239–260.
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furt a. M. 2004, 191–209.
Peter Gasser
150 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

41 Justiz genretypische ›Aufklärungsversprechen‹ nicht ein-


lösen (vgl. Schmidt 2014, 56), sondern von Orientie-
Entstehungs- und Rezeptionskontexte rungslosigkeit, Inkohärenz und Destabilisierung ge-
kennzeichnet sind. Ihre Erzählweise ist fragmenta-
Dürrenmatts Justiz findet bis heute weit weniger Be- risch und weniger chronologisch-logisch als in tradi-
achtung bei Krimi-Fans und in der Literaturwissen- tionellen Krimis.
schaft als seine anderen Kriminalromane. Dabei böte Die zeitgenössischen Rezensionen von Dürren-
Justiz durchaus Stoff für philologische wie philosophi- matts Justiz sind daher durchaus positiv und würdigen
sche Entdeckungen und Lesefreude, stellt der Roman insbesondere dessen unterhaltsame, satirische Zeit-
doch eine innovative, satirisch-groteske Dekonstruk- kritik (vgl. Knapp 1993, 148). Einzelne negative Stim-
tion des Krimi-Genres dar. men, etwa Marcel Reich-Ranicki (Ein Germanist wird
Eine Nachschrift zum Roman reißt dessen komple- ermordet, FAZ, 30.11.1985), beanstanden jedoch die
xe, werkumspannende Entstehungsgeschichte an: wenig stringente, wenig plausible Konstruktion von
Dürrenmatt begann die Arbeit an Justiz angeblich Handlung und Figuren (vgl. Knapp 1993, 148). Sol-
1957 (tatsächlich vermutlich 1959; vgl. WA 25, 236) in cher Kritik zum Trotz wird der Roman freilich kurz
der Hochphase seiner Krimi-Produktion als mögliche nach seinem Erscheinen ins Italienische übersetzt und
Filmerzählung, die sich immer weiter auswuchs, 1960 1986 mit dem Premio Letterario Internazionale Mon-
aber unvollendet liegen blieb. 1980 nahm er das Pro- dello ausgezeichnet (vgl. ebd.). 1993 verfilmt Hans
jekt im Kontext der Werkausgabe wieder auf, führte es Wilhelm Geißendörfer Justiz (vgl. Grimm 2008, 57)
jedoch erneut nicht zu Ende. Als der Verleger Daniel mit prominenter Besetzung. Bei den Golden Globes
Keel 1985 anriet, den Text als Fragment zu publizie- 1994 steht diese Adaption gar auf der Nominierungs-
ren, machte sich Dürrenmatt daran, ihn nun doch fer- liste für den besten fremdsprachigen Film.
tigzustellen (vgl. 235–237; Knapp 1993, 148; Weber
2006, 74; Auge 2004). Noch im selben Jahr wurde Jus-
tiz zuerst als leicht gekürzter Fortsetzungsroman im Inhalt und Struktur
Stern, dann in Buchform veröffentlicht; die Werkaus-
gabe von 1998 übernahm den Text der revidierten Wäre Justiz ein gängiger Detektivroman, wäre seine
zweiten Auflage vom Oktober 1985. Geschichte nach wenigen Seiten zu Ende erzählt: Kan-
Die Entstehungsgeschichte, mit den Hauptarbeits- tonsrat Dr. h. c. Isaak Kohler erschießt 1955 mitten in
phasen in den späten 1950er und dann den 1980er dem eleganten Society-Lokal »Du Théâtre« in einer
Jahren, bewegt sich damit in einer Zeit, die für die namenlosen, jedoch deutlich als Zürich erkennbaren
deutschsprachige Kriminalliteratur wichtige Wende- Stadt den Germanistikprofessor Adolf Winter – in al-
punkte bereithält (vgl. dazu Bartl 2018, 326–328 u. ler Öffentlichkeit und vor mehreren Zeugen. Kohler
331–334): Nach Ende des Zweiten Weltkriegs avan- wird festgenommen und zu einer langjährigen Haft-
ciert die Kriminalliteratur (gerade angloamerika- strafe verurteilt. Damit würde ein klassischer Detektiv-
nischer Prägung) rasch zu den viel gelesenen Genres. roman enden, doch damit beginnt Justiz. Aus dem Ge-
Deutschsprachige Krimis, wie etwa die ›Tatsachen- fängnis heraus beauftragt Kohler nämlich den jungen
romane‹ Will Bertholds, fokussieren sich dabei oft auf Anwalt Felix Spät, den Fall unter der Prämisse neu auf-
die gesellschaftskritische Verarbeitung aktueller The- zurollen, dass er den Mord nicht begangen habe. Die-
men, durchaus auch die Folgen von Krieg und Fa- ser Impuls setzt sich explosionsartig fort: Die juristi-
schismus (vgl. Götting 1998, 170–172). Diese sozial- sche Gewissheit gerät immer mehr ins Wanken und in
kritische Tendenz, die Justiz ebenfalls eingeschrieben einem zweiten Prozess wird Kohler schließlich frei-
ist, vermischt sich im deutschsprachigen Krimi der gesprochen. Dr. Benno, ein zu Unrecht des Mordes an
1980er Jahre – nicht zuletzt im Gefolge von Umberto Winter Verdächtigter, begeht Selbstmord. Spät, eigent-
Ecos Il nome della rosa / Der Name der Rose (1980/dt. lich ein Gerechtigkeitsfanatiker, verzweifelt darüber
1982) – mit einem postmodernen, parodistischen und rutscht ab – in den Alkoholismus und in wilde Ra-
Spiel mit gängigen Mustern des Krimi-Genres. Das chefantasien gegen Kohler. Erst 1984, nach fast 30 Jah-
führt insbesondere in der Phase von 1968 bis in die ren, löst sich das Knäuel der rätselhaften Handlungs-
1990er Jahre zur Etablierung von ›Anti-Detektiv- fäden auf – zu spät. Längst sind alle Akteure tot, mit
romanen‹, die keiner klaren (juristischen, mora- Ausnahme des mittlerweile greisenhaften Kohler und
lischen, erzähllogischen) Ordnung folgen und das seiner Tochter Hélène. Im Nachhinein werden durch

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_41
41  Justiz 151

deren Erzählungen Tathergang und Mordmotiv ent- prinzipielle Unfähigkeit des Menschen, so etwas wie
hüllt: Kohler ermordete Winter, angestiftet von seiner eine absolute Wahrheit oder einen größeren Zusam-
Tochter Hélène, um dadurch quasi à la bande (vgl. WA menhang zu erkennen, weil es beides in einer post-
25, 19) noch drei weitere Figuren mitzuvernichten. faschistischen, kapitalistischen oder postmodernen
Das Motiv? Rache und Selbstjustiz. Die von Kohler Welt eben nicht gibt.
›Bestraften‹ hatten seine Tochter Hélène vergewaltigt.
Oder ging es doch um einen unternehmerischen
Machtkampf, wie Kohler zunächst behauptet? Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Dieser bizarre Plot wird in drei recht heterogenen
Teilen erzählt (vgl. Keller 2014, 43–128): Der Ich-Er- Justiz bündelt viele, im Grunde fast alle zentralen The-
zähler der Teile I und II ist der verkrachte Rechts- men und Motive Dürrenmatts; dieser Roman vereint
anwalt Felix Spät, der fragmentarisch und wenig chro- aufgrund seiner werkumspannenden Entstehungs-
nologisch von Kohlers Mord an Winter und dessen geschichte die Charakteristika eines die Themen ent-
Folgen berichtet. Die (zunehmend verwirrten) Lese- wickelnden Frühwerks und eines die Themen sam-
rinnen und Leser können sich nur anhand einzelner melnden Spätwerks. Es sind dies beispielsweise fol-
eingestreuter Daten und Motive (z. B. welches Auto gende Aspekte: Themen wie Recht, Gerechtigkeit, Jus-
fährt Spät in der jeweiligen Szene?) orientieren, von tiz und Selbstjustiz, um die Dürrenmatt in seinem
welcher Phase der Handlung der sprunghaft und weit- Gesamtwerk »fast wie besessen« (Losch 2003, 196)
schweifig vor sich hin schwadronierende Erzähler ge- kreist, mit stark justizkritischem Impetus (»Ein Rich-
rade berichtet. Die Szenen aus Teil I und II spielen in ter brauche persönlich ebensowenig gerecht zu sein
den Jahren 1955 bis 1958. Teil III, ein zur Fiktion ge- wie der Papst gläubig«, WA 25, 189). Hinzu kommen
hörendes Nachwort des Herausgebers (WA 25, 199), ist Darstellungsformen des Grotesken, Ironischen, Skur-
hingegen etwa im Jahr 1984 situiert und hat einen an- rilen und Monströsen sowie kleine, jedoch wichtige
deren Ich-Erzähler: einen namenlosen Schriftsteller, und das Gesamtwerk durchziehende Motive wie Essen
dem das – mit Teil I und II des Romans identische – und Trinken, Rauchen, Teufel/Teufelspakt, Henker/
Manuskript Späts zugeschickt wird; er ähnelt zum ei- Hinrichtung, Verkleidung/Theatralität und Nicht-Or-
nen spielerisch-metaleptisch Dürrenmatt selbst, zum te wie Sanatorium/Irrenanstalt/Gefängnis.
anderen dem ebenfalls namenlosen Krimi-Autor in All diese Elemente tragen ihren Teil zur Gesell-
der Rahmenerzählung von Das Versprechen (vgl. 212; schaftsdiagnostik und -kritik des Romans bei, der in
Bartl 2018, 327). Letztere Analogie ist eins von mehre- langen essayistisch-satirischen Gedankengängen über
ren (ironischen) Selbst- und Fremdzitaten, die gerade die Schweiz nachdenkt und an diesem spezifischen
den dritten Teil prägen. Modell die Verflochtenheit von Ökonomie, Macht
Beide Erzähler – Spät und der Schriftsteller – sind und Rechtsprechung in kapitalistischen Industrie-
freilich gleichermaßen unzuverlässig. Spät beispiels- nationen in den 1950er bis 1980er Jahren offenlegt.
weise ist permanent »stockbetrunken« (WA 25, 13) Die in diesen Gesellschaftssystemen Lebenden sind
und kann nur mit Mühe den roten Faden seines Be- Täter und Opfer zugleich, überblicken jeweils nur Tei-
richts im Blick behalten. Ihm wird zudem mehr und le des Ganzen und sind durchweg alleinstehende Fi-
mehr bewusst, wie wenig er eigentlich über die Hin- guren ohne konstruktive Bindungen an andere.
tergründe der Tat weiß, ja wie eingeschränkt seine Für diese Darstellung einer undurchschaubaren,
Perspektive auf das Geschehen ist. Oft kann er über verbrecherischen Welt und ihrer kleinen wie großen
die Abläufe nur spekulieren (vgl. etwa 109). Auch Gangster eignet sich die Gattung der Kriminalliteratur
wenn der eigentlich versierte Erzähler des dritten besonders gut, deren konstitutive Merkmale Dürren-
Teils, der Schriftsteller, den Bericht Späts als »dilettan- matt aufgreift, spielerisch variiert und ironisch dekon-
tische Arbeit« kritisiert (»Der Verfasser, ein Rechts- struiert. In Bezug auf den Krimi ist er ein durchaus
anwalt, war seinem Stoff nicht gewachsen«, ebd., 213), »traditionsverhafteter Autor [...], der die ›Klassiker‹
so ist sein eigenes Erzählen doch genauso unzuverläs- des Genres kennt und ihnen seine Reverenz erweist«
sig: »Meine Zeitangaben sind nie allzu genau. [...] Wie (Nelles 2018, 143). Justiz steht dabei zwischen traditio-
immer verwechsle ich jemand mit jemandem« (ebd., nellen Krimis des Schweizers Friedrich Glauser, des
199). Darin spiegelt sich – neben dem selbstironischen Belgiers Georges Simenon sowie der amerikanischen
Spiel mit dem eigenen literarischen Erzählen – eine Hard-Boiled School eines Raymond Chandler und
Grundaussage von Dürrenmatts Roman, nämlich die Dashiell Hammet (vgl. ebd., 141 f.). Zugleich schlägt
152 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

der Text den Bogen zu absurden Kriminalerzählungen (künstlerisch-literarische) Fiktion umkreisen. Das
des Existentialismus, etwa in der Idee des Mordes ohne zeigt sich schon zentral in Kohlers Ermittlungsauf-
Motiv, die den Kern von Albert Camus’ L ’Étranger bil- trag, seine (fiktive, potentielle) Unschuld zu beweisen:
det. Mit seinen Romanen hat Dürrenmatt selbst eine »Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen
zentrale Stellung in der Gattungsentwicklung, mar- und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, daß
kiert sein Krimi-Werk doch einen Wendepunkt in der wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögli-
deutschsprachigen Kriminalliteratur. Mit Nusser (vgl. che vorzustoßen« (ebd., 59). Ebenso sind die auffällig
2009, 136) argumentiert, findet dort ab ca. 1960 näm- vielen Künstlerfiguren des Romans ein Zeichen seiner
lich ein Paradigmenwechsel statt: Nach einer Phase der Selbstreflexivität. Betrachtet man diese, so haben sie
Etablierung und Entwicklung fester Muster dieser alle das Heroische des Künstlers eingebüßt, der als
Schemaliteratur bewegt sich die deutschsprachige Kri- Außenseiter das Treiben der bürgerlichen Welt durch-
militeratur zur selbstironischen Variation und kriti- schaut und, wenn auch nicht ändern, so doch in sei-
schen Revision solcher Muster. nen Kunstwerken souverän entlarven kann. Justiz
Justiz führt diese Tendenz der Dekonstruktion etab- zeigt uns in kritischer Auseinandersetzung mit dem
lierter Schemata ins Extrem: Der schon in der Hard- eigenen Medium andere Künstler: Sie sind selbst ohn-
Boiled School moralisch problematisierte Ermittler mächtiger Teil in der »Wurstelei unseres Jahrhun-
zeigt sich in Justiz noch stärker als Teil des verbreche- derts« (Theaterprobleme, WA 30, 62), haben die Deu-
risch-korrupten Systems (vgl. auch Späts Selbstein- tungshoheit der Wirklichkeit und auch ihres eigenen
schätzung: »In einer verbrecherischen Welt bin ich Textes verloren, ja spielen das fragwürdige Spiel der
selbst ein Verbrecher geworden«, WA 25, 150). Spät ist, Mächtigen mit und lassen sich kaufen. Trotzdem
anders als die Hard-Boiled Detectives, für den Leser bleibt Dürrenmatt noch immer ein moderner Mora-
bzw. die Leserin keine Identifikationsfigur; er besitzt list (vgl. Losch 2003, 212); die einzige Hoffnung, die
keine »Autorität, Moralität und Souveränität« (Nelles uns der Text lässt, liegt in dem zwar lächerlichen,
2018, 145) und verkörpert auch keine idealisierte übertriebenen, scheiternden, aber doch stoischen und
Männlichkeit. Der aktive Held US-amerikanischer gerechten Ausharren Späts. In ihm zeigen sich, wenn
Thriller oder der brillante Rationalist englischer Detec- auch ironisch gebrochen, Reste des Ideals vom »muti-
tive Stories wird in Justiz zum passiv Wartenden, des- gen Menschen« (und Künstler?) (WA 30, 63), das
sen Verstand als welterklärendes Instrument nicht Dürrenmatts Gesamtwerk durchzieht.
taugt. Dürrenmatt radikalisiert hier die Handlungs- Was Kritiker dem Roman Justiz mitunter vorwarfen
unfähigkeit und das Scheitern seiner Detektive Bär- – die sprunghafte, heterogene Erzählweise, die ver-
lach und Matthäi aus den früheren Krimis Der Richter schlungene, wenig kausal motivierte Handlung, die
und sein Henker, Der Verdacht und Das Versprechen. flachen, marionettenhaften Figuren, das Versagen de-
Analog dazu zitiert Justiz immer wieder Elemente tektorischer Logik (vgl. exemplarisch Knapp 1993,
gängiger Krimis und verkehrt sie ins Gegenteil (vgl. 148–150) –, ist somit nicht nur der jahrzehntelangen
Gasser 2009, 72): Bei Späts Besuch bei Kohler im Ge- Entstehungsgeschichte geschuldet oder Anzeichen ei-
fängnis verhört nicht der Ermittler den Täter, sondern nes »mißlungenen Texts« (ebd., 149), sondern hat et-
umgekehrt (vgl. Immken 2006, 221). Auch überlebt was Programmatisches. Darin spiegelt sich eine Welt-
und ›besiegt‹ am Ende dieser Täter den ihn jagenden sicht, die die Empörung über die Grausamkeit und
Detektiv, was einen »eklatante[n] Genrebruch« (ebd., Sinnlosigkeit von Shoah, Krieg, Atombombe verbindet
237) darstellt und die Problematik käuflicher Recht- mit der These von der prinzipiellen Perspektivität und
sprechung, unethischer Rationalität, nur perspekti- Relativität von Wahrheit. Die »Universalien Wahrheit,
visch geprägter Erkenntnis von ›Wahrheit‹ und gene- Freiheit und Gerechtigkeit« sind keine absoluten Ver-
rell einer chaotischen, undurchschaubaren Welt auf bindlichkeiten mehr, sondern perspektivisch geprägte
die Spitze treibt. Fiktionen (Spedicato 2014, 80; vgl. Famula 2014, 199;
Diese Variation und Dekonstruktion klassischer Grimm 2008, 56), die noch dazu gesellschaftlich-ideo-
Muster des Krimi-Genres werden im Text ironisch logisch und persönlich zum Machterhalt missbraucht
ausgestellt (»Aber mein Bericht bleibt Klischee. Trotz werden. Statt eines allwissenden Erzählers und eines
Dichtung. Tut mir leid. Ich komme mir wie der Ver- souveränen Ermittlers konfrontiert uns (insbesondere
fasser eines Kolportageromans vor«, WA 25, 127) und der dritte Teil von) Justiz daher konsequenterweise mit
verbinden sich mit poetologischen Elementen, die die unterschiedlichen Figurenberichten, die das Gesche-
Begriffe Wirklichkeit und Möglichkeit, Realität und hen jeweils anders interpretieren.
41 Justiz 153

Das Schachspiel, das so oft in Kriminalromanen als Gasser, Peter: »... unsere Kunst setzt sich aus etwas Mathe-
Inbegriff des dem Genre eigenen Prinzips überragen- matik zusammen und aus sehr viel Phantasie.« Zu Fried-
der Rationalität und souveräner psychologischer rich Dürrenmatts Kriminalromanen. In: Ders., Elio Pellin,
Ulrich Weber (Hg.): »Es gibt kein größeres Verbrechen als
Menschenkenntnis auftritt, hat hier ausgedient. Spät, die Unschuld«. Zu den Kriminalromanen von Glauser,
der Schachspieler, verliert und Kohler, der Gewinner, Dürrenmatt, Highsmith und Schneider. Zürich 2009,
spielt lieber Billard à la bande. Billard passt besser zu 53–75.
einer undurchschaubar gewordenen Welt, die von Götting, Ulrike: Der deutsche Kriminalroman zwischen
Kontingenz, undurchsichtigen Machtstrukturen und 1945 und 1970. Formen und Tendenzen. Wetzlar 1998.
Grimm, Gunter E.: Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane
persönlicher Ohnmacht geprägt ist (vgl. Spedicato
und ihre Verfilmungen. In: Volker Wehdeking (Hg.):
2014, 77 f.; Losch 2003, 209). In ihr bleibt das Streben Medienkonstellationen. Literatur und Film im Kontext
nach »Ordnung und Sinnhaftigkeit« trotzdem beste- von Moderne und Postmoderne. Marburg 2008, 39–59.
hen (Spedicato 2014, 80), allerdings ist die Hoffnung Immken, Susanne: »Ein Verbrechen läßt sich immer fin-
auf die ordnende Ratio eines klassischen Detektivs den«. Die Dekonstruktion des Kriminalromans bei Fried-
oder die sinnstiftende Narration eines klassischen Er- rich Dürrenmatt. Unv. Diss. Ann Arbor 2006.
Keller, Otto: Dürrenmatts Gangster. Von den Kriminal-
zählers zur Illusion geworden. Aber vielleicht kann ei- romanen der 1950er zum Justizroman der 1980er Jahre.
ne andere Variante des Kriminalromans mit einem Bern 2014.
passiv-wartenden Ermittler, einem billardspielenden Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. 2. Aufl.
Bösewicht und einer widersprüchlichen, heterogenen Stuttgart, Weimar 1993.
Erzählweise dieser ›Wirklichkeit‹ beikommen? Das Losch, Bernhard: Friedrich Dürrenmatt – »Die Gerechtig-
keit ist etwas Fürchterliches«. In: Hermann Weber (Hg.):
versucht jedenfalls Dürrenmatts Justiz in einer spiele-
Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Berlin
risch-radikalen Dekonstruktion des Kriminalromans. 2003, 195–213.
Nelles, Jürgen: Friedrich Dürrenmatt. In: Susanne Düwell
Literatur u. a. (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien –
Primärtexte Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 141–146.
Justiz. In: Stern, Heft 34 (15.8.1985) bis Heft 46 (7.11.1985). Nusser, Peter: Der Kriminalroman [1980]. 4. Aufl. Stuttgart,
Justiz. Roman. 1. Aufl. Zürich 1985. Weimar 2009.
Justiz. Roman. 2. rev. Aufl. Zürich 1985. Schmidt, Mirko F.: Der Anti-Detektivroman. Zwischen
Justiz. Roman. WA 25. Identität und Erkenntnis. Paderborn 2014.
Spedicato, Eugenio: Der Kontingenz-Gedanke und die Uni-
Sekundärliteratur versalien Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit bei Fried-
Auge, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts Roman Justiz: Ent- rich Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
stehungsgeschichte, Problemanalyse, Einordnung ins gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
Gesamtwerk. Münster u. a. 2004. dial. Göttingen 2014, 77–96.
Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahr- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
hunderts. In: Susanne Düwell u. a. (Hg.): Handbuch Kri- Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
minalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart
2018, 326–349. Andrea Bartl
Famula, Marta: Fiktion und Erkenntnis. Dürrenmatts
Ästhetik des ethischen Trotzdem. Würzburg 2014.
154 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

42 Selbstgespräch Unsinnigste. Ein Unsinn« (WA 36, 115). Das heißt, er


kann sich nur denken wie einen geometrischen oder
Entstehungs- und Publikationsgeschichte stereometrischen Begriff und sich beschreiben in ei-
ner paradoxen Reihe sich widersprechender Quali-
Der Diogenes-Verleger, Daniel Keel, hatte Dürren- täten: »Ich bin nicht ich, und ich bin ich. [...] Ich bin
matt gebeten, sein religiöses Credo zu schreiben. Der ein Punkt, eine Gerade, eine Fläche, ein Kubus, eine
Erstdruck des dreieinhalbseitigen Textes, dem Dür- Kugel, ein n-dimensionaler Körper und nichts von
renmatt den Titel Selbstgespräch gab, erfolgte in der allem, Nichts. Ich bin sowohl allmächtig und macht-
Zeitschrift Tintenfass (Nr. 16, 1987, 53–56). Er er- los als auch allwissend und nichtwissend, ich bin al-
schien ebenfalls in der Neuen Zürcher Zeitung les, was man von mir behauptet, weil es gleichgültig
(11.2.1987), im Essayband Versuche (1988, 113–116) ist, was man von mir behauptet, so komme ich immer
und schließlich in WA 36, 115–118. wieder auf das ›Man‹« (ebd.). Diese Gottesfigur sagt
von ihrem ›Ich‹, es sei vielleicht nur ein Einfall. Aber
einmal eingefallen, »würde der Einfall ins Unermeß-
Inhalt und Analyse liche wachsen, wieder in sich zusammenstürzen und
zu nichts werden: Das Endlose und das Nichts sind
Ein Credo zu schreiben ist für Dürrenmatt eine dasselbe« (ebd., 116). Dieses Ich ist aber nur ein
höchst problematische Aufgabe. Ohne Glauben kom- »Denk-Ich« (ebd.), nur eine Möglichkeit seines real
me niemand aus, doch »legt man sein Credo ab, be- oder imaginär Geschaffenen. Nun hat es aber ein
kennt man seinen Glauben angesichts der Weltöffent- Verhältnis zu sich selbst und findet es komisch, sich
lichkeit, durchaus großartig, durchaus mutig, [...] etwas vorzustellen, was sich nicht vorstellen lässt,
aber der Glaube ist zum Plakat geworden, das man und lacht fortlaufend über sich selbst. Vielleicht sei es
vor sich herträgt« (WA 29, 226). Über seinen eigenen nur denkbar als etwas Komisches, Groteskes. Dieses
Glauben, seinen eigenen Zweifel könne er nur noch mögliche Denk-Ich aber »wird mich, welches es sel-
subjektiv reden, »indirekt [...], in sich immer wider- ber ist, lieben oder hassen müssen«. Beides aber wäre
sprechenden Gleichnissen. Die Schriftstellerei und gleich unanständig. »Nur die, welche von mir schwät-
der Glaube sprechen die gleiche Sprache« (ebd., 227). zen, sind nicht unanständig« (ebd., 117). Es sei nur,
Deshalb schreibt Dürrenmatt sein Credo als Rollen- indem es schwätze. Der Akzent auf das Schwätzen
prosa. Er lässt seine Rollenfigur ein Selbstgespräch markiert einen Abstand vom Intentionalen, löst Lie-
führen, wobei dieses Ich aufgrund der Fremdbe- be und Hass ins Unverbindliche auf. Denn würde es
zeichnungen als Gott identifiziert werden kann, ohne nicht schwätzen, nähme es sich ernst, müsste einen
dass das Wort selbst gebraucht wird. – Inwiefern ist Sinn und einen Grund haben. Das Grundlose aber
diese Figur auch eine Maske des Autor-Ichs, im Sinne habe keinen Sinn. Immer wieder kommt es auf die-
eines autofiktionalen Textes? Eine Antwort verlangt, sen Satz zurück. Da Gott gar nicht ist, würde dieses
dass man sich auf die eigentümliche Machart des Denk-Ich ihn erfinden müssen und dieses Erfinden
Textes einlässt. Glauben nennen. Da dieser Glaube aber keinen fes-
Das Rollen-Ich ist sich selbst ein Problem. Es habe ten Gegenstand habe, würde es ihn endlos erfinden,
viele Namen, könne sich aber an keinen erinnern mit endlosen Namen bezeichnen, ihn millionenfach
(vgl. WA 36, 115). Später habe man diese Vielheit »in vorhanden glauben oder in drei, zwei, eins zusam-
eine Eins zusammengezogen« und sich eine kompli- menziehen, in eine Idee, ein Prinzip, »in den einzig
zierte Theorie ausgedacht, »diese Eins sei eigentlich wahren Glauben, daß ich nicht bin. Aber diesen
eine Drei« (ebd.), aber es habe sie nie verstanden. Das Glauben, der den Glauben aufhebt, wird man nicht
sagt der Rollen-Gott offensichtlich nicht als auto- glauben, man wird wieder glauben, daß ich dennoch
nomes Ich. Er sagt nur: »Ich sage ›man‹« (ebd.). Das ein Prinzip bin, eine Idee, eine Eins, eine Drei [...]:
heißt etwas, das er vom Hörensagen kennt. Er könne Bin ich einmal gedacht, bin ich gedacht, nur wenn ich
sich weder sich selbst noch etwas außer sich vorstel- nicht mehr gedacht werde, bin ich, was ich bin:
len. Im handschriftlichen Entwurf des Textes stand nichts« (ebd., 118, Schlusssatz). Ob diese Gottesfigur
noch: »Ich bin weder vorstellbar noch denkbar« gedacht oder nicht gedacht wird, entscheidet über
(SLA-FD-A-r178_II-A, 1). In der Druckfassung steht deren Existenz. Solange sie aber gedacht wird, drehen
dann: »Ich bin nicht vorstellbar, ich bin nur denkbar, sich die Fragen um ihre Existenz im Kreis: da capo al
und denkbar ist auch das Unsinnigste. Ich bin das fine, sich unendlich wiederholend.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_42
42 Selbstgespräch 155

Deutungsaspekte der ›Ich‹ sagt, der Autor ist, aber fiktional über sich
spricht, sondern zu einem autofiktionalen Text, in
Dürrenmatt gelingt es, ein Credo zu formulieren, das, dem eine Figur des Autors spricht, deren Sprechen in-
Modelle christlicher und existentialistischer Tradition direkt auf eine Maske des Autor-Ichs verweist. Das löst
parodierend, den Lesenden das Problem der Deutung auf ideale Weise das Problem eines Autors, der gleich-
überlässt. Martin Heideggers Begriff des ›Man‹ be- zeitig der Aufforderung genügen will, ein Credo zu
zieht sich auf das faktische Dasein. Das Selbst müsste schreiben, und die direkte Aussage verweigert.
sich als wesenhafte Modifikation gegen das ›Man‹ be- Der Diogenes Verlag hat im Tintenfass (Nr. 16,
haupten, um zum eigentlichen Dasein zu kommen 1987, 76 f.) drei autobiografische Textfragmente Dür-
(vgl. Probst 1980, 706 f.). Dürrenmatts Gottesfigur renmatts unter dem Titel Friedrich Dürrenmatt. An
kreist ewig um sich selbst, als Figur des Man. Gott glauben beigefügt (auch in: Dürrenmatt 2005, 31
Ein zweiter Bezugspunkt ist die negative Theologie. u. 35–37), um Dürrenmatts ambivalente Haltung zur
Sie betont, dass Gott ein an sich unmöglicher Er- Rede von Gott zu dokumentieren. Das erste Fragment
kenntnisgegenstand ist. Seine Wirklichkeit ist nur ap- formuliert eine Alternative: Wenn es einen Gott gibt,
proximativ in Paradoxien formulierbar. Das berühm- wäre der Zweifel daran der von Gott gewählte Schleier,
teste Bild aus dieser Tradition ist die unendliche Ku- den er vor sein Antlitz senkt; und gibt es ihn nicht,
gel, »deren Mittelpunkt überall und deren Umfang dann seien unsere Worte über ihn »in den Wind
nirgends ist« (Mahnke 1966, 77; vgl. Flasch 2011, 29– gesprochen« (vgl. WA 35, 15). Der nächste Ausschnitt
31). Gott ist der Ursprung der Schöpfung und zu- beginnt mit: »Gott liegt gänzlich außerhalb jeder
gleich das allumfassende Sein, während Dürrenmatts Rede«; deshalb dringen seine offenbarten Worte, un-
Gottesfigur nur in unendlicher Folge nach einem mit abhängig vom Glauben, »in unsere Wortsphäre von
ihr identischen Gedanken ihrer Schöpfung sucht. außen, wie Meteore in die Erdatmosphäre« (105).
Ein Blick auf die Textgenese gibt weitere Aufschlüs- Zum Schluss ein Fazit mit Bezug auf die konkrete Si-
se. Der in einem Manuskript handschriftlich eingetra- tuation des Autors: »Es gibt Augenblicke, da ich zu
gene Entwurf wird von zwei passenden Texten ge- glauben vermag, und es gibt Augenblicke, da ich zwei-
rahmt: »Einst war ich vom Glauben begeistert / Nun feln muß.« Das Schlimmste sei, glauben zu wollen und
sehe ich ein / Dass Nicht-Glauben das grössere ist« den Zweifel zu unterdrücken. »Aber wer sich bezwei-
(SLA-FD-E-48-A-04-d-03, 156); und anschließend: felt, ohne zu verzweifeln, ist vielleicht auf dem Wege
»Soll ich darüber schreiben? Geht es jemanden etwas zum Glauben.« Jedes Glaubensbekenntnis sei unbe-
an? [...] Aber es hat mich zu sehr bestimmt und je län- weisbar und deshalb für sich zu behalten (vgl. WA 14,
ger es mich bestimmt, je mehr ich sehe, dass es mich 326 f.). Auch diese Hinweise ergeben kein Credo.
immer mehr bestimmt [...]; je mehr mich das Gefühl In der letzten Bearbeitung des autobiografischen
beherrscht über eine Eisfläche zu gehen, die jederzeit Essays Abschied vom Theater (1988/1990) nennt Dür-
einzubrechen vermag« (ebd., 160). renmatt Gott ein »entleertes Wort: eine Groteske«
Diese Fragmente sind autobiografische Skizzen. (WA 18, 586; zur Datierung ebd., 591). Das zeige sich
Der handschriftliche Entwurf jedoch ist ein fast ferti- an der geistigen Krise unserer Zeit, »die anfängt, das
ger literarischer Text. In der gedruckten Fassung Wunder Mensch zu entdecken und seinen Sinn in ihm
spricht nicht der Autor, sondern die in sich selbst krei- selber. [...] Er war sein eigener Feind. Er muß sein ei-
sende Gottesfigur: ein Einfall des konzipierenden Au- gener Freund werden. Dann erst kann er seinen
tors, aber keine Konfession. Er stellt den Prozess eines Nächsten wie sich selber lieben. Jesus war vielleicht
Denk-Bildes dar, das sich im Modus des als ob (vgl. der erste wirkliche Atheist. Aber was wissen wir von
Burkhard 2004, 69–85) in verschiedenen Phasen re- ihm?« (ebd.). Dürrenmatt kann sich einen persönli-
flektiert, im Wissen, das sich nur in paradoxen For- chen Gott nicht mehr vorstellen, aber sein letztes Fazit
men ausdrücken kann. Ähnliche Bilder und Formu- ist der Wunsch nach der Veränderung des Menschen
lierungen erinnern an frühere Texte des Autors über im Sinne des christlichen Liebesgebots.
sich selbst, so dass dieser sich über solche amüsierte,
die dachten, »das sei ein Monolog, den ich mit mir Literatur
Primärtexte, Quellen
führe« (G 4, 75).
Selbstgespräch. In: Tintenfass 16 (1987), 53–56.
Doch die gleichzeitig offene und geschlossene Selbstgespräch. In: Versuche. Kants Hoffnung. Essays und
Form macht ihn zum exemplarischen literarischen Reden. WA 36, 115–118.
Text: nicht zu einem autofiktionalen Text, in dem der, Selbstgespräch. Handschriftlicher Entwurf. In: Textbuch im
156 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

Schweizerischen Literaturarchiv, Sig. TB Ch K III, 157– hältnis des späten Dürrenmatt zur Religion, untersucht
159. am Text Selbstgespräch. In: Henriette Herwig, Irmgard
Selbstgespräch. Entwurf. Typoskript mit handschriftlichen Wirtz, Bodo Würffel (Hg.): Lesezeichen. Semiotik in
Korrekturen. 20 Seiten. 11.12.1985. Schweizerisches Lite- Raum und Zeit. Festschrift für Peter Rusterholz. Tübin-
raturarchiv, Sig. SLA-FD-A-r178_II-A. gen, Basel 1999, 448–458.
Denken mit Friedrich Dürrenmatt. Hg. von Daniel Keel, Flasch, Kurt: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen.
Anna von Planta. Zürich 2005, 31 u. 35–37. München 2011.
[Gespräch mit] Hardy Ruoss [1989]. In: G 4, 71–81. Mahnke, Dietrich: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt.
Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik
Sekundärliteratur [1937]. Stuttgart, Bad Cannstadt 1966.
Abs, Carina: Denkfaule Hoffnung? Anfragen an Erlösungs- Probst, Peter: Art. Man, (das). In: Joachim Ritter, Karlfried
narrationen bei Alfred Döblin, Christine Lavant und Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Friedrich Dürrenmatt. Ostfildern 2017, 260–264. Bd. 5. Basel 1980, 706 f.
Burkard, Philipp: Als Gott über Gott schwätzen? Das Ver-
Peter Rusterholz / Pierre Bühler
43  Der Auftrag 157

43 Der Auftrag vergewaltigt und tot aufgefunden worden sein. Ihr


Ehemann, der sich beschuldigt, seine depressive Gat-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte tin zur Flucht in die Wüste getrieben zu haben, beauf-
tragt F., Autorin von Filmporträts, das Verbrechen vor
Die Textgenese von Der Auftrag oder Vom Beobachten Ort in einem Dokumentarfilm zu rekonstruieren.
des Beobachters der Beobachter. Novelle in vierund- Als wichtigster Anhaltspunkt erweist sich der rote
zwanzig Sätzen, erschienen 1986, steht in engem stoff- Pelzmantel, den Tina von Lambert zuletzt bei ihrer
lichen Zusammenhang mit Dürrenmatts letztem zu Flucht in die Wüste trug. F.s Dokumentarfilm selbst
Lebzeiten noch autorisierten Text, Midas oder Die gerät zur Farce, werden sie und ihr Filmteam bei der
schwarze Leinwand, erschienen im März 1991. Zen- Ankunft in Afrika doch nicht nur auf Schritt und Tritt
trale Ideen beider Werke finden sich in einer vierseiti- von einem Filmteam des nationalen Fernsehens ver-
gen Szene, die der Autor in der Nacht vom 24. auf den folgt und beim Filmen gefilmt; die Polizei und der Ge-
25.4.1984 entwarf (vgl. Stingelin 2006; Rusterholz heimdienst, die F. einen falschen Mörder präsentieren,
2009): Es handelt sich um eine Selbstbegegnung zwi- tauschen schließlich die Filme aus, um sich in einem
schen ›FD1‹ und ›FD2‹ am Fernsehbildschirm (ein besseren Licht erscheinen zu lassen. In der Zwischen-
Spiel, das im Stoffe-Kapitel Die Brücke bis zu ›FD 13‹ zeit begibt sich F., die auf dem Markt ›zufällig‹ den ro-
weitergetrieben wird; vgl. WA 29, 85–111). ›FD1‹ sieht ten Pelzmantel Tina von Lamberts gefunden hat, auf
fern und begegnet am Bildschirm mit ›FD2‹ sich ihren Spuren in die Wüste, nur um festzustellen, dass
selbst, der ihn in ein Gespräch verwickelt, woraus sich vor ihr schon eine andere Frau im roten Pelzmantel
insbesondere zwei Motivstränge entwickeln: Einer- auf den Spuren der Psychiatergattin in die Wüste ge-
seits wird die medienkritisch reflektierte Frage nach gangen ist: die dänische Journalistin Jytte Sörensen,
der Beobachtung des Beobachters der Beobachter auf- Tinas Freundin. Nur unter dem Deckmantel von Ti-
geworfen (im Dialog mit ›FD1‹ wird ›FD2‹ von einem nas Identität konnte diese einreisen, um das Geheim-
Filmteam aufgezeichnet), die Der Auftrag aufgreift; nis aufzuklären, das sich jetzt F., der das gleiche
andererseits geraten ›FD1‹ und ›FD2‹ in einen drama- Schicksal wie der Reporterin droht, offenbart: In der
turgischen Widerstreit über die Besetzung ihrer jewei- Wüste betreibt der Agent und Kameramann Poly-
ligen Rollen, der in Midas weiterentwickelt wird. phem nicht nur eine von verschiedenen sich gegensei-
Der eigentliche Anlass für Der Auftrag ist aller- tig beobachtenden Satelliten beobachtete Beobach-
dings der ebenso verzweifelte wie letztlich vergebliche tungsstation, auf der geheime interkontinentale Ver-
Versuch von Dürrenmatts zweiter Ehefrau, der Fil- suchsraketen niedergehen, sondern auch das Projekt,
memacherin Charlotte Kerr, Ingeborg Bachmanns den authentischen Dokumentarfilm einer Vergewalti-
›Todesarten‹-Projekt Der Fall Franza in ein Drehbuch gung und eines Mordes zu drehen, deren Opfer Jytte
umzusetzen. Sie erinnert sich: »Dann, eines Abends, Sörensen geworden ist. Vor diesem Schicksal wird F.
wir hören Musik: Das wohltemperierte Klavier I, im letzten Augenblick von verschiedenen sich dabei
Glenn Gould spielt, summt dazu, wir trinken eine gegenseitig filmenden Filmteams gerettet, während
Flasche Lynch Page, mein Lieblingswein, wir sind die zuvor glücklich wiederaufgetauchte Tina von
wohl, wir lassen uns fallen, wir hören alle vierund- Lambert ihrem Mann ein Kind schenkt.
zwanzig mouvements, das letzte ist verklungen, Stille, Der eigentliche Gegenstand der Novelle kommt im
Dürrenmatt steht auf, tief in Gedanken, geht zum Untertitel zum Ausdruck: Vom Beobachten des Be-
Plattenspieler, stellt ihn ab, schließt den Deckel, legt obachters der Beobachter, eine Beobachtung dritter
die LP zurück in ihre Hülle und sagt: ›So, jetzt schrei- Ordnung also, mit der alle aus der Systemtheorie von
be ich die Geschichte, in vierundzwanzig Sätzen.‹ [...] Niklas Luhmann bekannten Paradoxa Einzug in den
Die Filmrechte schenkt er mir« (Kerr 1992, 172 f.; vgl. Text halten. Wie für Luhmann (1991) ist Gott
auch Kerr 2009, 7–12). (s. Kap. 68) vornehmlich ein Problem der Beobach-
tung, der alles beobachtende Beobachter, der selbst
den daraus entspringenden Paradoxa nur deshalb ent-
Inhalt und Analyse gehen kann, weil er selbst als absoluter Beobachter
nicht beobachtet werden kann: »[E]in Gott, der be-
In der Wüste eines ›neutralen‹ nordafrikanischen obachtet werde, sei kein Gott mehr« (WA 26, 115),
Staates soll Tina von Lambert, die Gattin des Psychia- sagt Polyphem, der den Ehrgeiz seines Projekts, den
ters Otto von Lambert, am Fuße der Al-Hakim-Ruine authentischen Dokumentarfilm einer Vergewaltigung

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_43
158 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

und eines Mordes zu filmen, in der Wendung zusam- Desiderate bleiben insbesondere das Spannungs-
menfasst: »[N]ur wenn Gott reines Beobachten wäre, verhältnis zwischen ›Intertextualität‹ und ›Interme-
bliebe er von seiner Schöpfung unbesudelt, was auch dialität‹: ›Intertextualität‹: allen voran zu Bachmanns
für ihn den Kameramann gelte, auch er habe nur zu Romanfragment Der Fall Franza aus dem ›Todes-
beobachten« (113). Doch da Gott nach der von der arten‹-Zyklus (damit aber auch die Frage nach Dür-
Novelle mit Nietzsche geteilten Diagnose tot ist (vgl. renmatts dioskurischem Zwillingsbruder Max Frisch
48), sehen sich alle Beobachter von Beobachtungen als durch Bachmanns Romanfragment vermittelte
nach dem Befund des mit F. befreundeten Logikers D. Schlüsselfigur in Der Auftrag); ›Intermedialität‹: allen
(»F.« »D.«) in einem Dilemma: Entweder die Unent- voran das Dürrenmatt bis zu Midas oder Die schwarze
rinnbarkeit, als Beobachter selbst beobachtet zu wer- Leinwand zusehends mehr umtreibende Konkurrenz-
den, treibt sie in die tödliche Aggression, oder die verhältnis zwischen Literatur und Film.
Drohung, als Beobachter nicht beobachtet zu werden,
beraubt sie jeden lebensnotwendigen Sinns – zwei Literatur
Primärtexte
weitere Fiktionen. Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Be­
obachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen. Zürich 1986.
Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung Beobachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen. In: WA 26,
33–130.
Der Auftrag. Gelesen von Charlotte Kerr und Gert Heiden-
Die innerhalb des Spätwerks vergleichsweise umfang-
reich. Mit einer Werkstattlesung von Friedrich Dürren-
reiche Forschung zur Novelle hat an Dürrenmatts matt und Charlotte Kerr von 1986. Zürich 2009 (3 CDs).
wohl komplexestem Text bislang vor allem drei As- Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. München 1992.
pekte hervorgehoben: die medienkritische Frage nach Kerr, Charlotte: Skizzen zur Entstehung von Der Auftrag. In:
der Vermitteltheit von ›Wirklichkeit‹, die identitäts- Der Auftrag. Gelesen von Charlotte Kerr und Gert Hei-
kritische Frage nach der Perspektivität von ›Welt‹- denreich. Mit einer Werkstattlesung von Friedrich Dür-
renmatt und Charlotte Kerr von 1986. Zürich 2009, Boo-
Wahrnehmung und die stilkritische Frage nach dem
klet, 7–12.
›langen Satz‹.
Das Moment der medialen Vermitteltheit von Sekundärliteratur
›Wirklichkeit‹ wird in der Novelle durch die Frage Hebel, Franz: Technikentwicklung und Technikfolgen in der
problematisiert, wie sich die ›Welt‹ durch die mono- Literatur. Timm, Der Schlangenbaum/Eisfeld, Das Genie/
perspektivisch eingeschränkte Sicht eines einzigen Dürrenmatt, Der Auftrag/Wolf, Störfall. In: Der Deutsch-
unterricht 41 (1989), 5, 35–45.
Kameraauges wahrnimmt, im Grunde unserer Fern- Helbling, Robert E.: »I am a Camera«. Friedrich Dürren-
sehwelt: ›Polyphem‹, ursprünglich als ›Galileo‹ kon- matts’s Der Auftrag. In: Seminar. A Journal of Germanic
zipiert, beobachtet durch das Objektiv mit nur einem Studies 24 (1988), 2, 178–181.
Auge (vgl. Helbling 1988; Michaels 1988; Käser 2003). Hoffmann, Ludger: Einen langen Satz schreiben: Sprache.
Daraus ergibt sich eine Reihe von Rückfragen zur – in- In: Ders., Martin Stingelin (Hg.): Schreiben. Paderborn
2018, 177–199.
nerhalb der Novelle tatsächlich mehr als fatalen –
Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik.
Technikfolgenabschätzung einer medial revolutio- Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt a. M. 1979,
nierten Moderne (vgl. Hebel 1989). 83–121 (engl. 1960).
Wo sich aber alle außer Gott letztlich auf ihre eige- Käser, Rudolf: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche
ne Perspektive zurückgeworfen sehen, stellt die No- Auge«. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungs-
velle zwei Fragen: Wie ›konstruiert‹ durch uns selbst feld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In:
Text + Kritik 50/51 (2003), 167–182.
ist unsere eigene Wirklichkeit (vgl. Kost 2005)? Und Kost, Jürgen: Mediale Inszenierung als Paradigma der ent-
an welches Selbstverständnis von ›Identität‹ können fremdeten Moderne. Friedrich Dürrenmatts Der Auftrag
wir uns unter diesen Voraussetzungen halten (vgl. oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. In:
Rusterholz 1987; Rusterholz 2001)? Hein-Peter Preußler (Hg.): Krieg in den Medien. Amster-
Im Sinne von Roman Jakobsons Postulat, dass Lin- dam, New York 2005, 329–350.
Luhmann, Niklas: Stenographie und Euryalistik. In: Hans
guistik und Poetik (1960) nicht unabhängig voneinan-
Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien,
der gedacht werden sollten, haben die 24 langen Sätze Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener
gleichzeitig auch ein besonderes von Sprach- und Li- Epistemologie. Frankfurt a. M. 1991, 58–82.
teraturwissenschaft geteiltes Interesse auf sich gezogen Meyer-Kalkus, Reinhart: Geschichte der literarischen Vor-
(vgl. Schnitzer 2006; Hoffmann 2018; Stingelin 2018). tragskunst. 2 Bde. Berlin 2020.
43  Der Auftrag 159

Michaels, Jennifer E.: Through the Camera’s Eye. An Ana- Dürrenmatt: Der Auftrag. In: Hubert Thüring, Corinna
lysis of Dürrenmatt’s Der Auftrag. In: The International Jäger-Trees, Michael Schläfli (Hg.): Anfangen zu schrei-
Fiction Review 15 (1988), 2, 141–147. ben. Ein kardinales Moment von Textgenese und Schreib-
Rusterholz, Peter: Durchgänge durchs Labyrinth. Minotau- prozeß im literarischen Archiv des 20. Jahrhunderts.
rus – Der Auftrag – Durcheinandertal. In: Quarto. Zeit- München 2009, 181–196.
schrift des Schweizerischen Literaturarchiv 7 (1996), Schnitzer, Nathalie: »Donnerwetter, hast du aber Glück
92–103. gehabt«. Satz- und Redegestaltung in Dürrenmatts apo-
Rusterholz, Peter: Aktualität und Geschichtlichkeit des kalpytischer Vision Der Auftrag. In: Cahiers d’études ger-
Phantastischen am Beispiel von Friedrich Dürrenmatts maniques 51 (2007), 187–201.
Novelle Der Auftrag. In: Wolfram Buddecke, Jörg Hienger Stingelin, Martin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas.
(Hg.): Phantastik in Literatur und Film. Frankfurt a. M. Das Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild in
u. a. 1987, 163–186. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. In: Davide Giuriato,
Rusterholz, Peter: Darstellung der Krise – Krise der Darstel- Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die gra-
lung. Friedrich Dürrenmatts Darstellung der Maschinen- phische Dimension der Literatur. Frankfurt a. M., Basel
welt in seiner Novelle Der Auftrag. In: Ernest W. B. Hess- 2006, 269–292.
Lüttich (Hg.): Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Stingelin, Martin: Einen langen Satz schreiben: Literatur. In:
Ansätze der Medienästhetik und Tele-Semiotik. Wiesba- Ludger Hoffmann, Ders. (Hg.): Schreiben. Paderborn
den 2001, 75–84. 2018, 163–175.
Rusterholz, Peter: Der Autor als Subjekt und Objekt des
Schreibprozesses oder der permanente Anfang. Friedrich Martin Stingelin
160 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

44 Durcheinandertal te, wie Gott aussähe, würde man ihn heute personifi-
zieren. Aus dem Gangsterboss wurde der Große Alte.
Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Ich schrieb Durcheinandertal« (WA 29, 44). Peter Rus-
Rezeption terholz hat diesen textgenetischen Zusammenhang
prägnant bilanziert: »Aus dem Stoff für einen helveti-
Das Durcheinandertal (1989) nimmt in Dürrenmatts schen Kriminalroman [...] wurde ein Welttheater, das
erzählerischem Werk insofern eine Sonderstellung sich in szenischer Prosa präsentiert, die sich in allego-
ein, als es dieses beschließt. Er ist der letzte zu Lebzei- rischen Zwischenspielen selbst reflektiert« (2017, 132).
ten des Autors erschienene Roman. Befördert diese Der Bezug auf den Denk- und Darstellungshorizont
Stellung bei Kunstwerken generell die Intuition eines des (Welt-)Theaters ist material gut begründet: Wie
›Vermächtnisses‹ oder einer ›Summe‹, so ist diese hier dem Nachlass zu entnehmen ist, war der Text zunächst
in einem gewissen Sinn sicher angebracht. Heinz Lud- Teil des Stoffe-Projekts (V Querfahrt), zeitweise in der
wig Arnold betont, der Roman »schreib[e] sich von Struktur eines Fünfakters mit Vor- und Nachspiel und
seiner [Dürrenmatts] gesamten Prosa her« (1989, zwei Zwischenspielen (vgl. Das Stoffe-Projekt, Bd. 3,
935). Dürrenmatt selbst hat vor allem den Bezug zu Zürich 2020).
seinen schriftstellerischen Anfängen markiert. Durch Die vielfältigen Bezüge zu anderen (v. a. eigenen)
den Arbeitstitel Weihnacht II wird das Projekt para- Texten bilden einerseits die Grundlage einer Wert-
textuell als Wiederaufnahme seiner allerersten Prosa- schätzung des Romans, andererseits gaben sie Anlass
miniatur Weihnacht (WA 19, 9–11) ausgewiesen. Pri- zu massiver Kritik: Klara Obermüller sprach in der
ma vista verbindet beide Texte die Dominanz der Re- TV-Sendung Das Literarische Quartett (12.10.1989)
ligionsthematik. Auch und gerade in dieser Hinsicht von »ein[em] Plagiat seiner selbst«. Kritisch auch
lässt sich Durcheinandertal durchaus als eine Summe Marcel Reich-Ranicki (10.11.1989), der den Roman
begreifen; der Autor lässt viele Motive Revue passie- als »metaphysischen Mumpitz« verriss, das Buch trage
ren, die für sein Nachdenken über Gott und die Welt »alle Merkmale einer schriftstellerischen Katastro-
charakteristisch sind (s. Kap. 68, 73, 78). Das ändert phe« (Reich-Ranicki 1989, 26). Die Forschung hat sich
nichts daran, dass der Roman, der ein kontrolliertes im Gegenzug zumindest auch bemüht, die Program-
Durcheinander kultiviert, weder im Fokus der breiten matik des Textes positiv herauszustellen (vgl. u. a.
Leser- und Leserinnenschaft noch der wissenschaftli- Rusterholz 2017). In jüngerer Zeit wurde der Roman
chen Aufmerksamkeit steht. dramatisiert (Theater St. Gallen, 2017; Theater Basel,
Dürrenmatt hat sich in verschiedenen Gesprächen 2019). Die satirischen Schweiz-Bezüge nicht nur die-
zum Roman allgemein (vgl. u. a. G 4, 64–91), zur Ent- ses Dürrenmatt-Textes haben zudem im Film Beresina
stehung speziell in Stoffe V (Querfahrt) geäußert (vgl. oder Die letzten Tage der Schweiz (1999, R.: Daniel
WA 29, 37 u. 40–45). Nach letzterer Darstellung inspi- Schmied) Spuren hinterlassen.
rierte ihn 1957 ein Aufenthalt im Engadiner Kurhaus
›Waldhaus Vulpera‹ zur Überlegung, was geschähe,
wenn »ein alter Boss eines Gangstersyndikats« (43) das Inhalt und Analyse
Hotel kaufte, wie die ihm verpflichteten Angestellten
den Gästen nachstellen, um sie berauben und erpres- Der Roman umfasst in der Erstausgabe 176, in der WA
sen zu können. Schriftliche Belege für die Idee finden 136 Seiten, gegliedert in 49 Abschnitte. Der Hand-
sich auch in Nachlassnotizen; sie datieren allerdings lungsverlauf in Grundzügen: Im schweizerischen
vom August 1959, als Dürrenmatt sich erneut in Vul- ›Durcheinandertal‹ steht ein Kurhaus, das für das na-
pera aufhält (vgl. Das Stoffe-Projekt, Bd. 4, Zürich menlos bleibende Dorf auf der anderen Talseite in
2020). Für den späteren Roman wird vor allem eine wirtschaftlicher Hinsicht wichtig ist. So wird das Kur-
saisonale Idee wichtig: Im Winter beherbergt das leere haus etwa durch das vierzehnjährige Mädchen Elsi,
Kurhaus Gangster aus den USA, die sich der Justiz ent- von ihrem Hund Mani begleitet, mit frischer Milch
ziehen wollen. Da diese gelangweilt die Dörfler tyran- versorgt. Das Kurhaus befindet sich im Besitz des
nisieren, brennen Letztere das Kurhaus nieder. »Die mächtigen mit einem Syndikat verbandelten ›Großen
Geschichte«, so die retrospektive Darstellung in Quer- Alten‹. Erfolgreich schlägt diesem der lokale Laien-
fahrt, »sickerte ins Unterbewußtsein. Nach mehr als theologe Moses Melker vor, seine »Theologie des
dreißig Jahren brach sie wieder aus. Was sich heute al- Reichtums« (WA 27, 19) im Kurhaus praktisch um-
les christlich nennt, brachte mich in Rage. Ich überleg- zusetzen: So wird dort im Sommer das »Haus der Ar-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_44
44  Durcheinandertal 161

mut« (43) eingerichtet, eine »Erholungsstätte« (12) für schichten ohne Zusammenhang, wird der Grund des
Millionäre, welche sich für »immense Preise« (49) er- Gelächters in einen Hintergedanken zu suchen sein,
holen, indem sie selbst den personallosen Betrieb auf den der Große Alte gekommen war« (23).
aufrechterhalten. Im Winter dient das Kurhaus da- Der textgenetischen Struktur entsprechend lassen
gegen als geheimer Aufenthaltsort für untergetauchte sich die 49 Abschnitte des Romans plausibel dem
Gangster. Die scheinbar klare Opposition dieser sai- fünfaktigen Aufbau des klassischen Dramas zuordnen
sonalen Nutzungen wird allerdings dadurch untergra- (vgl. Meyer 2001, 114–120). Die Peripetie bildet dabei
ben, dass Melker zugleich ein von der Justiz unbehel- der Komplex von Elsis Vergewaltigung und der aus ihr
ligt bleibender Vergewaltiger und Mörder ist. Diese resultierende Prozess gegen Mani. »Seine vermeintli-
relative Ordnung gerät durcheinander, als Elsi eines che Tötung ist der eigentliche Umschlag des Gesche-
Tages durch einen der Kriminellen – Big-Jimmy – ver- hens« (ebd., 115). Ihr geht eine triadische Steigerung
gewaltigt wird, obwohl ihn sein Kollege – Marihuana- voran, die stellvertretend für weitere satirische Epi-
Joe – daran zu hindern versucht. Marihuana-Joe wird soden stehen mag (vgl. WA 27, 75–87): Während im
im Zuge der Auseinandersetzung vom Hund Mani in ersten Anlauf der Dorfpolizist des Hundes allein hab-
den Hintern gebissen, weshalb das Tier, von den Be- haft zu werden versucht, scheitert auch die Ergreifung
hörden als gefährlich eingestuft, erschossen werden durch vier bewaffnete Wachtmeister. Manis vermeint-
soll. Elsis Vater, der Gemeindepräsident Prétander, liche Exekution erfolgt schließlich im Rahmen eines
entzieht Mani den wiederholten Zugriffsversuchen eigens ins Durcheinandertal verlegten Militärmanö-
der Behörden. Erst nachdem eine Attrappe des Hun- vers. Die verschiedenen durch Personalunionen ver-
des ›erlegt‹ wurde, gilt der Fall offiziell als erledigt. bundenen Behörden planen gemeinsam eine echte Er-
Prétander erhebt seinerseits Anklage gegen Elsis Ver- schießung im Rahmen der Fiktion eines sowjetischen
gewaltiger. Diese Anklage versandet aber in den Müh- Spions, der in einem Hundekostüm agiert.
len der Verwaltung. Auch die Machenschaften im Der Große Alte ist eine Schlüsselinstanz. Er verbin-
Kurhaus werden offiziellerseits, obwohl bekannt, det die Sphäre des (im Kurhaus zentrierten) helveti-
nicht weiter untersucht. Marihuana-Joe läuft schließ- schen Durcheinandertals als Mikrokosmos mit zwei
lich zum Dorf über. Er gibt sich als der Sohn des alten weiteren Sphären: dem Mesokosmos der schweizeri-
Dorfpfarrers Prétander zu erkennen und hetzt die Be- schen wie globalen Wirtschafts- und Unterwelt (u. a.
völkerung durch eine patriotisch angereicherte Weih- Zürich, Lichtenstein, New York, Jamaica) und dem
nachtspredigt gegen die Gangster im Kurhaus auf. Makrokosmos universal-kosmischer Sphären, in de-
Dort verkündet Moses Melker, versehentlich in der nen Götter agieren (vgl. Meyer 2001, 117–119). Diese
falschen Jahreszeit dort verkehrend, den Gangstern drei Sphären sind durch komplexe Figurensymmetrien
seinerseits das oder vielmehr sein Evangelium. Das oder -spiegelungen verknüpft. So eröffnet den Roman
Kurhaus wird gestürmt und in Brand gesetzt. Der etwa eine programmatische Missverständnis-Szene:
Brand erfasst das ganze Tal und vernichtet auch Dorf die des »verständlich[en]« Missverständnisses, dass
und Dorfbewohner. Allein Mani und Elsi überleben. Moses Melker, wenn er vom Großen Alten spricht,
Das Schlusstableau: »Vor dem Haus des Gemeinde- Gott meint – den ›Großen Alten mit Bart‹ –, während
präsidenten lag der Hund, neben ihm stand Elsi. Sie der Große Alte selbst meint, Melker spreche von ihm,
schaute auf den brennenden Wald, auf die lodernde dem ›Großen Alten ohne Bart‹ (WA 27, 12). Ferner ist
Feuerwand jenseits der Schlucht, welche die Bewoh- dem verbrecherischen ›Großen Alten‹ Jeremiah Belial
ner des Dorfes verschlungen hatte und noch ver- beigesellt, der – bereits dem Namen nach eine im jü-
schlang. Sie lächelte. Weihnachten, flüsterte sie. Das dischen wie christlichen Schrifttum erwähnte dämo-
Kind hüpfte vor Freude in ihrem Bauch« (136). Diese nische Gestalt – einerseits als Gegenbild zum ›Großen
Synopse darf allerdings nicht darüber hinwegtäu- Alten mit Bart‹ wie zugleich als Emanation des ›Gro-
schen, dass der Erzählstoff wie dessen diskursive Ver- ßen Alten ohne Bart‹ (vgl. auch 14) erscheint.
mittlung ausgesprochen komplex ist. Charakteristisch Die dualen Konstellationen, die bereits deutlich
dafür ist die metanarrative Bemerkung des Erzählers, wurden in den Verdoppelungen Manis und Marihua-
die diesen Umstand ausdrücklich benennt: »Doch ge- na-Joes/Sepp Prétander, sind teils mit triadischen ge-
setzt, die Geschichte, die hier erzählt ist, stellt eine so- koppelt: etwa der Große Alte mit Bart mit den drei an-
wohl durcheinander- als auch durchgehende Ge- gelischen Advokaten Raphael, Raphael und Raphael
schichte dar, wo sich eines aus dem anderen und durch oder Melker mit seinen drei, von ihm sukzessiv er-
das andere entwickelt, und nicht ein Bündel von Ge- mordeten Gattinnen Emilie, Ottilie und Cäcilie. Der
162 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

Durchdringungsgrad der drei Sphären zeigt sich deut- durch Vernachlässigung maroden Kirche verwandelt
lich in einer Begegnung eines Raphaels mit dem Gro- die Gemeinde in einen patriotischen Mob, der loszieht,
ßen Alten: Dieser Verbrecher/Gott liegt halbnackt am um »das Kurhaus als einen Tannenbaum [zu] benüt-
Strand; nebst Pornoheften hat er u. a. eine Biblia He- zen« (WA 27, 122). Die – spontane – Predigt des eigen-
braica und Karl Barths Ausführungen zur Schöp- willigen Geistlichen erfolgt dagegen in der Kurhaus-
fungslehre bei sich. Dauersediert durch einen Assis- Lobby, die als Ad-hoc-Sakralraum nicht nur baulich
tenten ist er allerdings unfähig, diese oder die unzäh- intakt, sondern eigens dem Geschmack der Gäste ent-
ligen Briefe zu lesen, die ihm überbracht werden (vgl. sprechend – der Weihnachtsbaum ist »mit Revolvern
24 f.). Letztere sind aufgrund einer Parallelszene als und Maschinenpistolen behängt, in deren Läufen die
ungehörte Gebete zu interpretieren (vgl. 90–94). brennenden Kerzen« stecken (125) – festlich herge-
Die Klimax der makrokosmischen Sphäre bildet richtet ist. Melkers Predigt nimmt ihren Ausgang vom
die ›Kaffeemühlen-Szene‹ »südlich des König-Haa- klassischen neutestamentlichen Referenztext Lk 2, in
kon-Plateaus in der Antarktis« (108): Der Große Alte dem der Engel mit den Hirten zugleich »allem Volk«
und Belial drehen ihre jeweiligen Mühlen, die den die Weihnachtsbotschaft verkündet (Vers 10), »also«,
Kosmos bewegen, zeitgleich in die jeweils andere so Melker »auch euch, den Halunken, Vaganten und
Richtung, wodurch beide Bewegungen sich aufheben. Schurken« (WA 27, 127). Der Vollzug der Zwangspre-
Diese Aufhebung wird einerseits mit dem Antagonis- digt wird mehr und mehr zu einem Transformations-
mus von »Universum« und »Antiuniversum« assozi- ereignis nicht für die Gemeinde (wie in der Dorfkir-
iert, andererseits mit dem Denkbild der Nichtori- che), sondern für den Prediger. Melker bricht zu Er-
entierbarkeit: der »Möbiusschlinge« (110). Kosmolo- kenntnissen durch, die die bloße qua Machtaspekt
gisch-naturwissenschaftliche Modelle, die den Autor etablierte Analogie von Theologie und organisiertem
vor allem in den späteren Jahren generell beschäfti- Verbrechen in eine Symbiose überführen: »Ich bin ei-
gen, bilden einen wichtigen Hintergrund für die Ver- ner von euch, nicht der Theologe des Reichtums, son-
flechtungen der Sphären und ihrer Verkörperung in dern der Theologe des Verbrechens, ist doch der Große
den beiden Großen Alten (vgl. Meyer 2001, 130–135; Alte nur als Verbrecher denkbar« (128). Die Symbiose
Fritsch 1990). Die politische Dimension des Mikro- ist dabei aber (das zeigt auch das Zitat) klar asym-
kosmos, die im Bezug auf den Tell-Stoff und die hero- metrisch zugunsten der Verbrechenssphäre. Dass Mel-
ische Befreiungsgeschichte der Ur-Schweiz zu Beginn ker ein Mörder und Vergewaltiger ist, ist damit nicht
des Projekts eine Rolle spielte, ist im publizierten Text länger ein Makel, sondern eine ›normale‹ Begleiter­
nur punktuell präsent. Mit Blick auf die handlungs- scheinung seines Standes.
bestimmenden Antagonisten lässt sich der Roman Melkers Abrechnung mit zentralen theologischen
aber durchaus auch als »ironisch-parodistische Varia- Topoi gilt vor allem der Christologie, wobei der kriti-
tion auf die Schweizer Nationalmythen« bezeichnen; sche Verweis auf den kitschigen »Marzipanheiland«
das Verhältnis von habsburgischer Besatzungsmacht (133) zugleich einen intertextuellen Bezug zum frühen
und Urschweizern wird durch das von Kurhausgästen Prosastück Weihnacht etabliert. Die äußersten und im
und Dorfbewohnern beerbt (Weber 2007, 163 f.). engeren Sinn theologischen Einsichten werden Melker
aber zugeschrieben unmittelbar bevor er mit dem Kur-
haus in Flammen aufgeht: Wissend, »wahnsinnig« zu
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung werden, stellt er sich vor, dass Gott und Welt seine Er-
findungen sind, die zusammen mit allen anderen er-
Die vielfachen Spiegelungen zeigen sich auch in der er- dachten Göttern und Welten ein »Welthirn« bilden,
zählerischen Ausgestaltung des Romanendes, in dem das wiederum das Ich hervorbringt, welches »in einem
theologisches und kriminelles Milieu restlos zusam- phantastischen Zirkelschluß« den Großen Alten her-
menschießen. Die Katastrophe wird durch die zeit- vorbringt (135). Diese Ursprungssubversion bildet ei-
gleich erfolgenden und durch verschiedene Inver- nen zweiten intertextuellen Selbstbezug auf die den
sionsfiguren charakterisierten Predigten eingeleitet Stoffen zugehörige Erzählung Das Hirn (WA 29, 233–
(vgl. Mauz 2020). In institutioneller Hinsicht werden 263; vgl. auch WA 36, 115–118).
die Ordnungen von Raum und Redner überkreuzt: Die Wie der zitierte Schlusssatz auszulegen ist, wie viel
Predigt des Laien Marihuana-Joe erfolgt im sakralen Anfang qua Schwangerschaft Elsis im apokalyptischen
Raum, die (spontane) des Kirchenmannes Melker im Romanende steckt, wird sehr verschieden beurteilt,
profanen. Die – geplante – Predigt des Gangsters in der auch in Abhängigkeit von der Gewichtung der inter-
44  Durcheinandertal 163

textuellen Referenz an die Perikope von ›Mariä Heim- erfahren (vgl. aber Justiz). Ein drittes Desiderat be-
suchung‹ (Lk 1, 39–45). Dürrenmatt selbst scheint mit steht schließlich in der detaillierten textgenetischen
dem Roman generell zufrieden gewesen zu sein. Wenn Untersuchung des Romans. Sie hätte – wie wiederum
er wiederholt dessen ›Realismus‹ betont hat, dann Meyer exemplarisch zeigt (vgl. 2001, 147) – signifi-
auch aufgrund der prophetischen Note des Textes: kantes Material zu rekonstruieren.
Kurz nach dem Abschluss des Manuskripts brannte
das ›Waldhaus Vulpera‹ unter unklaren Umständen Literatur
Primärtexte
vollständig nieder (vgl. Kerr 1992, 217–219; G 4, 198). Durcheinandertal. Roman. Zürich 1989.
Die Forschung zum Roman ist überschaubar. Die Durcheinandertal. Roman. WA 27.
instruktivsten Beiträge stammen von Meyer (2001) Das Stoffe-Projekt. Hg. von Ulrich Weber, Rudolf Probst,
und Rusterholz (2017). Meyer ist zentral, da seine Un- Bd. 3. Zürich 2020.
tersuchung von »Allegorien des Wissens« multiper-
spektivisch angelegt und umfangreich ist. Er be- Sekundärliteratur
Arnold, Heinz-Ludwig: Weihnacht II. Zu Friedrich Dürren-
schreibt ebenso die erzähltechnischen Charakteristika matt: Durcheinandertal. In: Schweizer Monatshefte 69
des Textes wie dessen physikalische, chaostheoreti- (1989), 11, 935–937.
sche, quantenphysische, mythologische und theologi- Arnold, Heinz-Ludwig: Dürrenmatts negative Theologie.
sche Aspekte (u. a. auch die hier nicht erwähnten Über Durcheinandertal. In: Ders.: Querfahrt mit Dürren-
gnostischen und kabbalistischen Motive, vgl. 149– matt. Aufsätze und Vorträge. Zürich 1998, 129–135.
Fritsch, Gerolf: Labyrinth und großes Gelächter. Die Welt als
154). Die theologische Dimension des Romans steht
Durcheinandertal. Ein Beitrag zu Dürrenmatts grotesker
auch im Zentrum der Arbeit Heinz Ludwig Arnolds. Ästhetik. In: Diskussion Deutsch 21 (1990), 652–670.
Sein Fokus auf die werkgeschichtlichen Bezüge des Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. München 1992.
Romans mündet in die These, es handle sich bei die- Kunz, Ralph: Durcheinander. In: David Plüss u. a. (Hg.):
sem um »die letzte große Abrechnung Friedrich Dür- Imagination in der Praktischen Theologie. Festschrift für
renmatts mit Gott« (1998, 129). Die flankierende Be- Maurice Baumann. Zürich 2011, 41–47.
Mauz, Andreas: Haus Gottes. Zur literarischen Ekklesiolo-
hauptung, das Durcheinandertal biete »die radikalste gie. In: Daniel Rothenbühler, Hubert Thüring (Hg.): Die
erzählerische Ausformung [seiner] negativen Theo- Literatur und (ihre) Institutionen. Zürich 2020 [im
logie« (ebd., 130) hängt allerdings an der Explikation Druck].
dieses vielfältig besetzbaren Labels, die der Autor Meyer, Jürgen: Allegorien des Wissens. Flann O’Briens The
schuldig bleibt. third policeman und Friedrich Dürrenmatts Durcheinan-
dertal als ironische Kosmographien. Tübingen 2001.
Für die künftige Forschung könnte der Roman
Reich-Ranicki, Marcel: Tohuwabohu. Dürrenmatts Durch-
zentral werden im Kontext der fälligen Untersuchung einandertal. In: Die Zeit, 10.11.1989.
von Dürrenmatts Religionskritik. So wurde mit Be- Rusterholz, Peter: Tohuwabohu oder paradoxes ›Sinnen-
zug auf triviale Blasphemie-Vorwürfe bereits von bild‹. In: Ders.: Chaos und Renaissance im Durcheinan-
theologischer Seite das legitime Programm einer dertal Dürrenmatts. Hg. von Henriette Herwig und
»Korrektur durch Karikatur« (Kunz 2011, 43) ein- Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017, 131–136.
Weber, Ulrich: Das Kurhaus im Durcheinandertal. Friedrich
geschärft. Ein genderbezogener Aspekt, der inner- Dürrenmatt und das Waldhaus Vulpera. In: Cordula
halb des Gesamtwerks zu rekonstruieren wäre, liegt Seger, Reinhard C. Wittmann (Hg.): Grand Hotel. Bühne
in der (sexualisierten) Gewalt an Frauen. Die Ver- der Literatur. München 2007, 159–171.
gewaltigung wird von Elsi selbst nicht als traumatisch
Andreas Mauz
164 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

45 Midas oder Die schwarze Lein- fälliger‹ Verkehrsunfall nahegelegt. Da er diese Selbst-
wand aufopferung verweigert, lässt der Aufsichtsrat ihn
schließlich erschießen, um den Konzern zu retten. Va-
riieren die elf Vorstufen noch diesen Grundeinfall, oh-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte ne das im Akt der Rezeption gegenwärtige Publikum
unmittelbar zu adressieren, hebt die definitive Fassung
Dürrenmatts letztes von ihm zu Lebzeiten noch auto- von Midas als »Film zum Lesen« mit einer direkten
risierte Werk, datiert mit 31.7.1990, erscheint pos- Anrede ans lesende Kopfkinopublikum an: »Schwarze
tum im März 1991. Die Verwirklichung der finalen Leinwand / STIMME GREEN Verzeihen Sie mir, daß
Fassung steht in engem stofflichen Zusammenhang Sie in einem Kino, wohin Sie gekommen sind, etwas zu
mit der Entstehung seiner Novelle Der Auftrag sehen, vorerst nichts sehen. Sie hören dafür die Stim-
(s. Kap. 43). Zentrale Ideen beider Werke finden sich me eines Toten. / Ein Aufschrei / STIMME GREEN
in einer vierseitigen Szene, die der Autor in der Nacht Wozu Erschrecken! Sie sind es schließlich gewohnt,
vom 24. auf den 25.4.1984 entwarf (vgl. Stingelin auf der Leinwand Tote nicht nur reden zu hören, son-
2006; Wirtz 2010): einer Selbstbegegnung zwischen dern auch zu sehen. / In rascher Folge Szenenausschnit-
›FD1‹ und ›FD2‹ am Fernsehbildschirm. te verstorbener Schauspieler wie Ponto, Steckel, Schwei-
Die ›schwarze Leinwand‹, mit der die Szene endet, kart, Jürgens / STIMME GREEN Nun? Auf der Lein-
nachdem ›FD1‹ ›FD2‹ genervt ›ausgeschaltet‹ hat, wand finden wahre Auferstehungen statt. Wird Ihnen
taucht im Untertitel wieder auf: Midas oder Die schwar- dabei unheimlich zumute?« (WA 26, 133). Das Publi-
ze Leinwand. Mit jener Verdopplung der Autorinstanz kum wird einbezogen in das Doppelspiel zwischen der
›FD‹ einher geht eine Wende: Der Schreibprozess an Autoreflexion ästhetischer Mortifizierung im Kunst-
verschiedenen Treatments und Drehbüchern zum seit werk – was der Künstler-Midas berührt, wird zu Gold
vielen Jahren geplanten Film Midas oder Das zweite Le- (vgl. Thiel 2000, zu Dürrenmatt v. a. 70–73) – und der
ben mündet zuletzt in einen »Film zum Lesen«, so der Verlebendigung von Toten im Film.
Klappentext zur Erstausgabe (Dürrenmatt 1991, Um- Zugleich zeichnet sich die zwölfte Fassung da-
schlagrückseite). Mitte der 1980er Jahre hatte sich durch aus, dass sie über dieses Doppelspiel hinaus-
Dürrenmatts Freund Maximilian Schell wegen der führt, indem sie die Autorinstanz im Text verdop-
fehlenden Finanzierung vergeblich darum bemüht, pelnd vergegenständlicht. Das produktivste Prinzip
den gemeinsam immer wieder überarbeiteten Stoff im aber, das Dürrenmatts Spätwerke charakterisiert, ist
Kino für die Münchner MFG Film GmbH zu verwirk- die explizite Thematisierung und Literarisierung ih-
lichen, nachdem zuvor bereits Hollywood kein Inte- rer zusehends komplizierter werdenden Textgenese.
resse gezeigt hatte (vgl. Dürrenmatt/Kerr 2010, 321 u. Hier, in Midas oder Die schwarze Leinwand, kommt
330; Schell 2012, 279 f.). Tatsächlich finden sich in dieser Zug zum Ausdruck. Denn nicht zuletzt indem
Dürrenmatts literarischem Nachlass mindestens zwölf Dürrenmatt die Autorinstanz verdoppelt, gelingt es
Fassungen von Midas. Vorangegangen sind der defini- ihm, die Schwierigkeiten des Schreibprozesses selbst
tiven Druckfassung elf Vorstufen, die den Grundein- mehrfach zum Gegenstand und damit zu einem in-
fall variieren, angefangen bei der Stoff-Skizze Coq au tegralen Bestandteil der definitiven Druckfassung
vin 1970 (vgl. S1), die ihrerseits Rekonstruktion eines von 1991 zu machen. So wird »der Schriftsteller F. D.«
Projekts zu einem Fernsehfilm aus den 1950er Jahren (WA 26, 140) von seinem Protagonisten Richard
ist. Abgezweigt worden ist aus diesem Stoff-Komplex Green in einen Dialog über die Besetzung seiner Rol-
die postum publizierte, viele Kernelemente bemer- le verwickelt: »STIMME GREEN Ich weiß ja nicht,
kenswert verdichtende Ballade Midas (Dürrenmatt wie ich aussehe. / F. D. Ich auch nicht. / STMME
1993). GREEN Aber du mußt dir doch einen Menschen vor-
gestellt haben, als du mich geschrieben hast. / F. D. Ich
habe dich noch nicht geschrieben, ich schreibe noch
Inhalt und Analyse an dir. Mein Gott, jetzt bin ich an der zwölften Fas-
sung. Du bist verdammt schwierig zu schreiben. / [...]
Der Grundeinfall: Dem midasgleich zu unermess- / STIMME GREEN Aber wenn du schon an der
lichem Reichtum gekommenen Großindustriellen Ri- zwölften Fassung bist – / F. D. Kein Grund für mich,
chard Green, dessen Konzern in finanzielle Schwierig- dich mir vorzustellen. Ich stelle mir nie jemanden vor,
keiten geraten ist, wird von dessen Aufsichtsrat ein ›zu- wenn ich eine Rolle schreibe« (141).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_45
45  Midas oder Die schwarze Leinwand 165

In der Folge greifen die in dieser poetologischen Desiderat bleibt, gerade im Spiegel von Dürren-
Reflexion des Schreibens aufgeworfenen Besetzungs- matts letztem Werk, die Frage nach seiner Rezeption
probleme auf alle Rollen über, angefangen bei ›F. D.‹ von Luigi Pirandello im Allgemeinen, von Sechs Per-
und ›F. D. 2‹, gespielt von wechselnden Schauspielern, sonen suchen einen Autor im Besonderen.
die untereinander die Entstehungschronologie des
Textes im Zusammenhang von Dürrenmatts Spätwerk Literatur
Primärtexte
erörtern und beginnen, die Vorfassungen, die »alten Midas oder Die schwarze Leinwand. Zürich 1991.
Drehbücher« (176) zu plündern, um sich selbständig Midas oder Die schwarze Leinwand. In: WA 26, 131–192.
zu machen. Dieses Autonomiestrebens weiß ›F. D.‹ Midas. In: Friedrich Dürrenmatt. Das Mögliche ist unge-
sich schließlich nur durch einen textgenetischen Kniff heuer. Ausgewählte Gedichte. Zürich 1993, 38–61.
zu erwehren; er verbannt Schauspieler Z aus der de- Dürrenmatt, Friedrich: Midas. In: Dürrenmatt und die
Mythen. Zeichnungen und Originalmanuskripte Collec-
finitiven Druckfassung in eine Vorstufe: »F. D. [...] Ab
tion Charlotte Kerr Dürrenmatt. Mailand 2005, 110–133.
mit dir in die elfte Fassung. Es bleibt dir nichts anderes Dürrenmatt, Friedrich/Kerr, Charlotte: Die Geschichte von
übrig. Zurück zu deiner Mutter« (177). Midas-Green. Ein Entwurf von Charlotte Kerr, Textfrag-
Zuletzt führt Dürrenmatt in der definitiven Druck- mente und Zeichnungen von Friedrich Dürrenmatt. In:
fassung von Midas oder Die schwarze Leinwand Tintenfass. Das Magazin für den überforderten Intellek-
schließlich die eineinhalb Seiten umfassende ›Ur- tuellen 34. Zürich 2010, 318–385.
Schell, Maximilian: Ich fliege über dunkle Täler oder Etwas
form‹ an: »geschrieben 1968«, »[v]or zweiundzwanzig
fehlt immer. Erinnerungen. Hamburg 2012.
Jahren« (186).
Der literarische Gewinn, die Entstehung eines Tex- Sekundärliteratur
tes in diesem selbst zu thematisieren: Der Stoff treibt Rusterholz, Peter: Die Krise der Darstellung als Darstellung
sich dabei immer weiter aus sich selbst hervor und re- der Krise: Midas – der Film zum Lesen. In: Jürgen Söring,
flektiert sich zugleich poetologisch selbst. Nirgends Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. Frank-
furt a. M. u. a. 2004, 177–190.
hat Dürrenmatt dieses schöpferische Prinzip seines Stingelin, Martin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas.
Spätwerks entschiedener verwirklicht als in seinem Das Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild in
letzten von ihm zu Lebzeiten noch autorisierten Werk. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. In: Davide Giuriato,
Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die gra-
phische Dimension der Literatur. Frankfurt a. M., Basel
2006, 269–292.
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung Stingelin, Martin: Minotaurus, Midas ... Mythische
›Anfänge‹ im Spätwerk von Friedrich Dürrenmatt. In:
Die noch vergleichsweise spärliche Forschung hat sich Hubert Thüring, Corinna Jäger-Trees und Michael Schläfli
vorab der Textgenese gewidmet (vgl. Wirtz 2010). Da- (Hg.): Anfangen zu schreiben. Ein kardinales Moment
bei ist insbesondere der bemerkenswerte Aspekt her- von Textgenese und Schreibprozeß im literarischen
vorgehoben worden (vgl. Rusterholz 2004, 180–184), Archiv des 20. Jahrhunderts. München 2009, 197–212.
Thiel, Anneke: Midas. Mythos und Verwandlung. Heidel-
wie fragwürdig sich in Dürrenmatts Werk die ›Dar- berg 2000.
stellbarkeit‹ der Hauptfigur Richard Green gestaltet Wirtz, Irmgard M.: Friedrich Dürrenmatts Midas-Stoff: Der
(vgl. ebd., 181). Dieser Aspekt ist umso bemerkenswer- Fluch der Erfolgs. In: Anne Bohnenkamp u. a. (Hg.): Kon-
ter, als Dürrenmatt sich in seinem bildnerischen Werk jektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie.
durch eine Reihe von Porträts bemüht hat, die Protago- Göttingen 2010, 353–368.
Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
nisten und ausgewählte Szenen zu vergegenwärtigen
Zürich 2020, 498–502
(vgl. Dürrenmatt 2005; Dürrenmatt/Kerr 2010).
Martin Stingelin
J Stoffe

46 Das Stoffe-Projekt aber in diesem vorläufigen, fragmentarischen oder


bloß gedanklich entworfenen Stadium bleiben, in
Entstehungs- und Publikationsgeschichte dem sie der Autor gerne in mündlich variierender Er-
zählung ausprobierte.
Unter dem lapidaren Titel Stoffe verfolgte Friedrich Dürrenmatt verspürte nie einen Mangel an Ideen zu
Dürrenmatt während der letzten zwei Jahrzehnte sei- literarischen Werken. Ihm fehlte aber – als Erfolgsdra-
nes Lebens ein Projekt, das die Essenz und die Summe matiker – oft die Zeit und die Geduld zu ihrer Aus-
seines literarischen und künstlerischen Schaffens in arbeitung. So belagerten die Stoff-Einfälle in ihrer
sich birgt. Als Beginn bestimmt er retrospektiv die Häufung zunehmend das kreative Zentrum des Au-
Zeit der Rekonvaleszenz nach dem Herzinfarkt von tors. Wenn Dürrenmatt die ›Geschichte seiner Stoffe‹
1969. Das Konzept der Stoffe hat Dürrenmatt jedoch niederschrieb, so auch, um sich von all den ungeschrie-
bereits im kurzen Text Dokument von 1964 formu- benen, nie formulierten oder Fragment gebliebenen
liert. Im Wortlaut des Manuskripts: »Die Geschichte Ansätzen zu befreien, indem er sie als Skizzen oder
meiner Schriftstellerei ist die Geschichte meiner Stof- ausgeführte Erzählungen in die Autobiografie einfügte
fe, Stoffe jedoch sind verwandelte Eindrücke. Somit – wobei dieser Skizzencharakter der in die Autobiogra-
hat die Geschichte meiner Schriftstellerei mit den Ein- fie eingebundenen Stoffe das Resultat sorgfältiger Text-
drücken zu beginnen, die mir haften geblieben sind, arbeit ist. Durch ihre Rückbindung an sein Leben, an
die mich als Schriftsteller gemacht haben« (S1). Und die Umstände ihrer Entstehung, konnte er eine raum-
so beginnt er mit der Beschreibung seiner Kindheit im zeitliche Struktur, eine Art Topografie und Chronik
Emmentaler Dorf, auf der Suche nach jenen Eindrü- seiner Imagination konstruieren, die Ordnung und zu-
cken, die seine Fantasie auf bestimmte Bilder und Ein- gleich neue Freiheit schaffen sollte.
fälle lenkten. Eine wesentliche Eigenart des Großpro- Die Verbindung von Autobiografie und Fiktion in
jekts, das sich aus diesem Ansatz entwickelte, liegt in den Stoffen – nun wieder verstanden als Werktitel – ist
der Verflechtung des Autobiografischen mit Erzäh- denn auch alles andere als eine literarische Restever-
lungen und Erzählskizzen, der Rekonstruktion »un- wertung. Die Stoffe sind Autobiografie und Poetik in
geschriebene[r] Stoffe« (WA 29, 11), also einst geplan- einem, Selbstporträt und Weltporträt. Obwohl sie
ter Erzählungen und Stücke. Zugleich kommt hier der Dürrenmatt in zwei Bänden publiziert hat, waren die
vieldeutige Begriff des ›Stoffs‹ ins Spiel, mit dem sich Stoffe grundsätzlich ein unabschließbares Projekt.
Dürrenmatt – die alte philosophische Unterscheidung Schon diese Bände waren Resultat eines zwanzigjähri-
von Stoff und Form implizit voraussetzend – auch von gen Schreib- und Umschreibprozesses, der sich in
avantgardistischen und modernistischen Tendenzen Dürrenmatts Nachlass niedergeschlagen hat, und
abgrenzt. Diese neigen aus seiner Sicht zu sehr zur Be- Dürrenmatt hatte Pläne und Texte zur Fortsetzung des
tonung der formalen Aspekte von Kunst und Litera- Projekts. Die Unabschließbarkeit hängt mit diesem
tur. ›Stoff‹ ist für ihn Materie im Sinne des zu Erzäh- Charakter des Selbstporträts, der Selbstanalyse und
lenden, aber auch ein spezifischer Aggregatzustand Selbstbeobachtung zusammen. Die Lebensbeschrei-
des Erdachten, der literarischen Fiktion, »die unmit- bung interessiert Dürrenmatt in den Stoffen insofern,
telbaren Objekte der Vorstellungskraft« (WA 37, 99) als sie Aufschluss über den Zusammenhang des Erleb-
vor ihrer Vollendung und Erstarrung im Werk. ›Stoffe‹ ten mit dem Werk gibt. Er beschreibt die biografischen
sind »Visionen« (ebd.), die zu Konstellationen und Voraussetzungen und den Entstehungszusammen-
Handlungsideen kristallisieren, oder Ansätze zu Tex- hang seiner ›geschriebenen Stoffe‹ und rekonstruiert
turen, die manchmal zum Werk verfestigt werden, oft ›ungeschriebene Stoffe‹, Einfälle zu Geschichten, die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_46
46 Das Stoffe-Projekt 167

im Verlauf seines literarischen Werdegangs gar nicht Reinschrift vorliegenden Texte bilden die Grundlage
oder nur in Ansätzen ausformuliert wurden. 1981 er- des 1992 publizierten Nachlass-Bandes Gedankenfuge
schien der erste Band als Stoffe I–III mit den Teilen (WA 37, 9–144).
Der Winterkrieg in Tibet, Mondfinsternis und Der Re- Eine neue textgenetische Auswahledition in fünf
bell. Er wurde 1990 mit minimen Veränderungen wie- Bänden, die im Winter 2020 erscheint, präsentiert den
der aufgelegt mit dem Titel Labyrinth. Stoffe I–III, zu- Schreibprozess von den Anfängen in den 1960er Jah-
sammen mit dem neu erscheinenden zweiten Band ren bis zu Dürrenmatts Tod 1990. Sie ist verbunden
Turmbau. Stoffe IV–IX mit den Teilen IV Begegnun- mit einer Online-Präsentation, in der die Gesamtheit
gen, V Querfahrt, VI Die Brücke, VII Das Haus, VIII der ca. 30.000 Manuskriptseiten zum Projekt text-
Vinter und IX Das Hirn. genetisch aufgearbeitet ist.
Die beiden Bände müssen als Gesamtzusammen-
hang gesehen werden. Ein vielfach durchbrochener
biografischer Bogen zieht sich über sie hin. Er umfasst Labyrinth: Stoffe I–III
die Zeit von der Kindheit in Stalden/Konolfingen (in
den Stoffen »das Dorf« genannt) und der Jugend in Der erste Band umfasst autobiografische Abschnitte
Bern (»die Stadt«) bis zum 25. Lebensjahr (1946). Spä- zur Herkunft aus dem Dorf, zu den Eltern und ihrem
tere Episoden und Lebensphasen werden nur punk- Glauben, zum Umzug in die Stadt Bern und der damit
tuell eingestreut, etwa Krisensituationen wie das Schei- verbundenen Labyrinth-Erfahrung, dem Literatur-
tern am Turmbau-Drama im Jahr 1948 oder Umstän- studium in Bern und Zürich und zur Situation der
de, die zu Einfällen führten, etwa ein Kuraufenthalt im Schweiz im Zweiten Weltkrieg. In die autobiografische
Unterengadin 1959, der in den Stücken Die Physiker Erzählung eingebunden sind drei Erzählungen in un-
und Der Meteor mündete. Die autobiografische Dar- terschiedlichem Grad der Ausarbeitung, die jeweils
stellung führt in Einschüben bis in die Gegenwart des auch einem Stoffe-Teil den Titel geben: skizzenhaft
Schreibens an den Stoffen hinein, etwa wenn die Ein- Der Rebell, novellistisch ausgeführt Mondfinsternis
drücke vom Tod der Mutter (1975), des Malerfreundes und als geradezu uferlose fiktive Ich-Erzählung Der
Varlin (1977) oder der eigenen Frau Lotti (1983) be- Winterkrieg in Tibet.
schrieben werden. Daneben erzählt Dürrenmatt auch
von seinen Begegnungen mit Schriftstellern wie Rudolf I. Der Winterkrieg in Tibet: Wenn Dürrenmatt seine
Kassner, Max Frisch, Bertolt Brecht oder Paul Celan. Kindheit im Emmentaler Dorf und seine pubertären
Als dritte Textform neben Autobiografischem und Nöte in Bern plastisch und mit zeitgeschichtlich auf-
Binnenfiktionen finden sich in den Stoffen wiederholt schlussreicher Intensität schildert, geht es ihm um die
essayistische Passagen, die dem Werk einen reflektie- Bedeutung der biografischen Entwicklung für die Ge-
renden Charakter verleihen. Sie gelten etwa dem Mar- nese seiner Fantasie, um die existentiellen Gründe des
xismus und Nationalsozialismus, der Dramaturgie des Literarischen: Wie kommen Fiktionen zustande, was
Labyrinths, der Unmöglichkeit der Rekonstruktion ist die fantasierende Maschinerie, die auf der Grund-
des Gewesenen oder den eigenen geistigen Wurzeln in lage einer Jugend, wie sie Tausende in der Schweiz
der Auseinandersetzung mit Philosophen wie Platon, ähnlich erlebten, ein vielgestaltiges dramatisches und
Kant und Søren Kierkegaard oder dem Theologen erzählerisches Werk erzeugt? Die Schilderung von
Karl Barth. prägenden Erlebnissen, Charakterisierung der Eltern
Während der langjährigen Arbeit an den Stoffen und Erinnerung an deren Erzählungen, eigener Lektü-
verselbständigten sich wiederholt Teile davon wie der re, ersten Theater- und Filmerlebnissen, kindlichem
Text Vallon de l’Ermitage, der 1988 im Essay-Band Gestaltungsdrang in Zeichnungen, dem frühen Inte-
Versuche erschien (WA 36, 11–58), und der Roman resse an Astronomie, den Irrungen und Wirrungen
Durcheinandertal (1989; WA 27), der zunächst als Er- der Adoleszenz, zeigt in ihrer Komposition durchaus
zählung im Rahmen der Stoffe entwickelt wurde. 1990 Analogien zu Goethes Dichtung und Wahrheit (eine
brachte Dürrenmatt das Projekt nach zwanzigjähri- Lektüre, die im Turmbau-Band zur Sprache kommt),
ger, mehrfach unterbrochener Arbeit zumindest zu ei- wenn die Darstellung in ihrem Charakter auch ganz
nem vorläufigen Abschluss, gleichzeitig hielt er in sei- andere Wege geht. Die Schilderungen Dürrenmatts
ner Schublade noch weitere – mehrheitlich essayisti- aus seinem Leben sind voller Humor, Zeichen der
sche – Stoffe-Teile zurück, an welchen er nach der Pu- Selbstdistanz in dieser Schweizer Schein-Idylle wäh-
blikation des zweiten Bandes weiterschrieb. Diese in rend der Zeit des Nationalsozialismus und des Welt-
168 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

kriegs. Die eingängigen Pointen sollten jedoch nicht zu nen verstrickt. Das Labyrinth wird zur zentralen Me-
einem oberflächlichen Lesen verleiten. Wenn Dürren- tapher nicht nur der Welterfahrung, sondern auch des
matt Anekdoten aus seiner Jugend erzählt, gestaltet er Erinnerungs- und Schreibprozesses; es führt den Au-
sie zu Schlüsselszenen für das Verständnis seiner lite- tor durch ein unterirdisches Stollensystem seiner Ma-
rarischen Energie und für die Entstehungsbedingun- nuskripte und endet in den Geröllhalden von Mate-
gen seines Werks: Am 5.1.1945 feierte er beispielsweise rial, das sich im Schreiben angesammelt hat. Schließ-
kurz vor Kriegsende im militärischen Hilfsdienst-Ein- lich bildet das Tunnellabyrinth eine Variation von Pla-
satz bei Genf seinen 24. Geburtstag. Das improvisierte tons Höhlengleichnis, eine Parabel der Verblendung.
Fest artete in eine gewaltige Fresserei und Sauferei aus, Dies alles hat von der Textur her nur noch wenig
und als sich der Student schließlich spät in der Nacht mit den Ideen zu diesem Stoff zu tun, die Dürrenmatt
in seiner Unterkunft zur Ruhe legte, erbrach er sich: am Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte. Die re-
»[E]s schleuderte sich hinaus mit Riesengewalt, be- konstruierten Erzählungen – und man kann dies aus-
kleisterte die Decke, das ganze Zimmer gleichsam ta- gehend von diesem Fall für alle aus der Frühzeit des
pezierend [...]. Gleichzeitig aber brach noch etwas an- Schreibens stammenden, im Rahmen des Stoffe-Pro-
deres aus mir heraus: eine ungewöhnliche Heiterkeit; jekts rekonstruierten Fiktionen sagen – sind also kei-
zwar war mir übel wie noch nie, doch die Lächerlich- neswegs identisch mit den damals konzipierten: Der
keit meiner Kotzerei angesichts des ungeheuren Sich- Akt der Rekonstruktion und des Erinnerns ist ihnen
Übergebens, das die Menschheit außerhalb dieses Lan- eingeschrieben.
des befallen hatte, diese Groteske des Verschontseins –
das unserem Lande in der Folge mehr Schaden zufü- II. Mondfinsternis: Dies gilt in besonderem Maße auch
gen sollte, als damals noch zu ahnen war – stellte mich für den zweiten Stoff. Dürrenmatt präsentiert Mond-
endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die ich nicht zu er- finsternis als eine einst intendierte, aber nur ansatz-
leben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt weise niedergeschriebene Erzählung, die dann – aus
Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die mich nicht Geldnot infolge von Krankenhausaufenthalten der
fanden, zu erfinden« (WA 28, 66 f.). Das Kotzen als Ehefrau Lotti – durch das Stück Der Besuch der alten
Gleichnis des Schreibens: Dürrenmatts expressionis- Dame als dramatische Version des gleichen Stoffs (mit
tische Wurzeln finden hier ein einprägsames Bild, wie einigen Veränderungen, primär der Umkehrung der
auch seine Dramaturgie der grotesken Gegenwelten. Geschlechterbeziehungen) ersetzt wurde. Eine typi-
Die umfangreiche eingelagerte Erzählung Der Win- sche Schweizer Rückkehrergeschichte, wie man sie
terkrieg in Tibet schildert einen absurden Kampf aller spätestens seit Gottfried Kellers Martin Salander
gegen alle in einem labyrinthischen Stollensystem im kennt: Ein reicher Amerikaner, Walt Lotcher, fährt
Himalayagebiet. Dürrenmatt beschreibt, wie er diesen mit seinem Cadillac ins Bergdorf Flötenbach und gibt
Stoff während des erwähnten Hilfsdiensteinsatzes in sich dort als Wauti Locher zu erkennen, der das Dorf
der klirrenden Kälte konzipierte. Doch bietet die Er- in seiner Jugend verlassen hatte. Doch ist seine Rück-
zählung keineswegs eine einfache Rekonstruktion des kehr nicht für alle erfreulich: Er bietet viel Geld für die
damals Ausgedachten. Dem unterirdischen Kampf Ermordung seines einstigen Nebenbuhlers Adolf Ma-
gehen die Erlebnisse des Ich-Erzählers, eines Schwei- ni, dessen Bevorzugung durch die Geliebte Kläri Zur-
zer Offiziers, in seiner im Dritten Weltkrieg zerstörten brüggen Anlass seiner wütenden Abreise aus dem
und atomar verseuchten Heimat voran, bevor er als Heimatdorf war. Anders als die Kleinstädter Bevölke-
Söldner in den unterirdischen Krieg im Tibet eintritt. rung im berühmten Theaterstück haben die tonange-
Dieses apokalyptische Szenario entwickelt Dürren- benden Männer im Bergdorf keinerlei Skrupel: Der
matt zu einem grotesken Gegenentwurf zu seiner un- Deal ist einzig eine Frage des Preises (sie möchten
heroischen Schilderung der Schweiz während des mehr als die paar Millionen, die Lotcher bietet) und
Zweiten Weltkriegs. der Mord nur eine Frage des Wie: Mani wird schließ-
Das Bild des Söldners, der im Stollenlabyrinth als lich zum ursprünglich gebotenen Preis durch einen
der vermutlich letzte Überlebende mit seiner Arm- inszenierten Unfall beim Holzfällen umgebracht.
Prothese seine Geschichte in die endlosen Tunnel- Was auf den ersten Blick als etwas flache Burleske
wände ritzt, reflektiert jedoch zugleich auch Dürren- über morallose Bergler mit starkem helvetischem
matts Schreibprozess an den Stoffen, der ihn zuneh- Timbre in den Dialogen erscheinen mag, ist bei ge-
mend zurück ins Labyrinth seiner erinnerten Jugend nauerem Hinsehen nicht nur die Vorstufe, sondern
führt und ihn in die damaligen Emotionen und Visio- zugleich die raffinierte Parodie und ein Gegenentwurf
46 Das Stoffe-Projekt 169

zum Besuch der alten Dame: Wo sich Claire Zachanas- Erinnerung Lotchers an seine Jugend im Bergdorf
sian wie eine böse Schicksalsgöttin eine eigene Welt- durch einen Herzinfarkt, dann das Durchdringen des
ordnung leistet und die sozialen Gesetze durch ihre fi- tief verschneiten Waldes mit dem Wagen und schließ-
nanzielle Allmacht definiert, herrscht in Mondfinster- lich zu Fuß, das Stolpern über eine gefrorene Leiche
nis Improvisation und Zufall. Das unmoralische An- im Wald, das Gespräch mit dem Wirt, das die ganze
gebot entspringt einer augenblicklichen Laune des verdrängte Emotionalität der einstigen Flucht aus
Rückkehrers und ist keineswegs der Anlass der Rück- dem Bergdorf wieder wachruft und den Racheplan
kehr. Noch das ließe sich als erzählerische Etüde ab- spontan entstehen lässt: All diese Elemente charakte-
tun. Doch die Geschichte wird zugleich zum indirek- risieren dieses Heimkehrer-Trauma deutlich als Dra-
ten Gegenbild der Autobiografie – zu einem Zerrspie- ma von Verdrängung und Erinnerung. Es wird durch
gel der emotionalen Spannungen, die Dürrenmatt mit zahlreiche Analogien zum Sinnbild für den Erinne-
seiner Herkunft, dem Voralpendorf Konolfingen und rungsprozess des autobiografischen Erzählers der
mit pubertären Jugenderfahrungen im Kiental im Stoffe. Erst der Blick auf den Gesamtzusammenhang
Berner Oberland verbindet, wo er sich vor seinem von Kindheitsdarstellung, rekonstruierter Fiktion
Studium aufhielt: Der Knirps der Kindheit und der ge- Mondfinsternis und vom Autor einleitend eingescho-
hemmte angehende Student der Autobiografie kehren bener Schilderung der Entstehungsumstände des
in der Fiktion als rächender Koloss zurück, der der Er- Stücks Der Besuch der alten Dame erlaubt es, der Kom-
wachsenenwelt die erlittenen Kränkungen heimzahlt. plexität und Dichte dieses vielschichtigen Erzählgefü-
Nach Dürrenmatts Auffassung lässt sich das Selbst ges gerecht zu werden.
nicht als Stoff objektivieren, ohne dass es dabei ver-
lorenginge: »[M]an tritt sich als ein anderer gegen- III. Der Rebell: Die autobiografischen Abschnitte zu
über, als Stoff eben, mit dem man sich allzuleicht ver- Dürrenmatts bohèmeartigem Leben in Zürich
wechselt« (WA 29, 225). Je mehr man die Wahrhaftig- 1942/43, die Kontakte mit dem Maler Walter Jonas
keit der Mitteilung beteuere, desto fragwürdiger wer- und seinem Umfeld, die Lektüre von Kafka und Kass-
de sie. In der Konfrontation von Autobiografie und ner, die Begegnungen mit Kassner und Brecht, das Ge-
Binnenfiktion findet Dürrenmatt ein Darstellungs- lingen des ersten ›gültigen‹ Textes Weihnacht am Hei-
mittel, das diese Schwierigkeit löst. In den autobiogra- ligabend 1942 unter der geistigen Patenschaft von
fischen Abschnitten kann der Autor die biografischen Georg Büchner – eine Art parodistisch unterfütterte li-
Voraussetzungen für sein Weltbild und für seine Ge- terarische Geburt –, schließlich die ambivalente Bezie-
fühlslage schildern. Dieser Schilderung stellt er in der hung zu den Eltern umreißen den Kontext, in welchen
fiktionalen Erzählung unmittelbar ein Gleichnis ge- die Erzählung Der Rebell eingebettet ist. Der formale
genüber. Autobiografie und Fiktion erhellen einander Charakter der Skizzenhaftigkeit, Widersprüchlichkeit
wechselseitig, indem beide Darstellungsformen in ein und Vieldeutigkeit spiegelt die Orientierungslosigkeit
Spannungsverhältnis treten. Unmittelbar ist die Kon- der Hauptfigur ›A‹, die sich in einer labyrinthischen
frontation der beiden Formen in dem Sinne, dass es Welt nicht zurechtfindet und zugrunde geht. A, ein
den Lesenden überlassen bleibt, die wechselseitigen Student der Mathematik, wächst bei seiner distanzier-
Bezüge herzustellen und zu deuten. ten Mutter auf und beginnt an der Schwelle zum Er-
Und noch eine weitere Dimension ist der Erzäh- wachsenwerden seinem verschollenen Vater nachzu­
lung inhärent: Sie ist – im Ko-Text der Stoffe gelesen – forschen, den er nie gekannt hat. A findet in der Biblio-
ein Gleichnis des Erinnerns. Ganz im Gegensatz zur thek seines Vaters die Grammatik einer unbekannten
1956 publizierten Heimkehrer-Geschichte Der Besuch Sprache. Er verlässt sein Elternhaus und bricht auf,
der alten Dame, wo die unverminderte Erinnerung »ohne ein bestimmtes Ziel, aber aus dem dumpfen Ge-
der Protagonistin an das Unrecht, das ihr einst ge- fühl heraus, die Reise antreten zu müssen« (WA 28,
schah, die Dynamik des Stücks prägt, bildet Mondfins- 308). Er gelangt in ein fremdes Land, wo die unbe-
ternis insbesondere in den Anfangsteilen, bei der kannte Sprache gesprochen wird. Das Land wird von
Schilderung der Rückkehr Lotchers nach Flötenbach, einem geheimnisumwobenen Herrscher tyrannisiert.
eine eigentliche szenische Dramaturgie der unwillkür- Das Volk hegt messianische Heilserwartungen an ei-
lichen Erinnerung, der mémoire involontaire Marcel nen Rebellen, der kommen werde, sie zu befreien.
Prousts, um mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Während A ohne sein Zutun mit diesem Rebellen
einen weiteren Referenz-Text anzudeuten, von dem identifiziert wird, weisen verschiedene Indizien darauf
sich Dürrenmatt deutlich abgrenzt. Die Auslösung der hin, dass der Tyrann mit As Vater identisch sein könn-
170 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

te. Als die Revolution gegen den Tyrannen, der für A ternverlust und Elternsuche, sondern zugleich auch
nie greif- und sichtbar wird, unmittelbar bevorzuste- ein Gleichnis für das Drama des Erfolgsautors im Kul-
hen scheint, wird A von der Palastwache verhaftet, an- turbetrieb, wie es Dürrenmatt in der Zeit der Nieder-
geblich um den Tyrannen in Sicherheit zu wiegen. schrift der Stoffe erlebte: suchende Anfänge, kometen-
Doch bleibt die Revolution aus und A wird in einem hafter Aufstieg, Jubel der Menge, dann Verpuffen des
Spiegelgefängnis eingesperrt, wo er allmählich den Erfolgs und Fall in die Vergessenheit. Damit ergibt
Verstand verliert, seinen Spiegelbildern aufwiegleri- sich eine andere indirekte Referenz der Vaterfigur im
sche Reden hält und vergessen zu Grunde geht. Text: Im autobiografischen Teil vor der Binnenerzäh-
Zentrales Motiv ist die unbeantwortbare Frage lung schildert Dürrenmatt seine beiden persönlichen
nach der Identität von Vater und Despot, alles bleibt Begegnungen mit Brecht – vor allem ein Essen, in dem
im Ungewissen. Vatersuche und Reise sind Meta- es primär um die Stärke der gerauchten Zigarren ging.
phern für den Identitätsfindungsprozess des Protago- Brecht war der große Theaterautor, an dem es sich zu
nisten, die statt zur Herrschaftsabfolge in ein Spiegel- messen galt und an dem Dürrenmatt von der Kritik
labyrinth des eigenen Inneren führen. Die Erzählung immer wieder gemessen wurde. Und während Dür-
schildert einen ungreifbaren Vater-Sohn-Konflikt, sie renmatt in den 1950er und 1960er Jahren als große
bildet eine Art Anti-Ödipus-Geschichte. Die Absenz neue Figur auf dem deutschsprachigen Theater gefei-
des Vaters bildet eine Lücke in der Persönlichkeits- ert wurde, oft als der Nachfolger Brechts bezeichnet,
struktur des Protagonisten. Der Spiegel als Werkzeug wurde er von den Theatern zur Zeit der Stoffe-Arbeit
der Selbsterkenntnis ist durch die Vervielfältigung mit seinen neuen Dramen links liegen gelassen, wäh-
und Anordnung zu einem Labyrinth pervertiert. rend sich Brecht fünfzehn Jahre nach seinem Tod erst
Dürrenmatt erklärt, er habe im Rebell versucht, richtig als Klassiker auf der Bühne etablierte.
»ohne daß ich es ahnte, meine eigene konfuse Lage
darzustellen« (282). In den autobiografischen Ab-
schnitten berichtet er sehr zurückhaltend, verständ- Turmbau (Stoffe IV–IX)
nisvoll und versöhnlich über seine Eltern und mit iro-
nischer Distanz über seine pubertäre künstlerische Im 1990 publizierten zweiten Band Turmbau. Stoffe
Orientierungslosigkeit, seine temporäre Nazisym- IV–IX erzählt Dürrenmatt sein Leben von der Rück-
pathie, seine Einsamkeit und die in mangelndem Wi- kehr aus Zürich im Frühjahr 1943 bis zum Abbruch
derstand verpuffende Rebellion gegen den Vater. Die des Studiums und der Entscheidung für die Schriftstel-
Erzählungen Der Winterkrieg, Mondfinsternis und Der lerei im Jahr 1946. Wie bereits im ersten Band streut er
Rebell hingegen stellen die emotionalen Tiefenschich- in diese Chronologie viele Erinnerungen aus späterer
ten von jugendlicher Verblendung und Kampfeslust, Zeit ein. Auch hier rekonstruiert er frühe erzählerische
gekränkten Rachegelüsten und Größenfantasien, se- Stoffe – Das Haus und Vinter – dazu auch ungeschrie-
xuellen Obsessionen und orientierungsloser Verzweif- bene oder Fragment gebliebene Theaterszenen und
lung dar, die im autobiografischen Teil höchstens an- -stücke: Der Turmbau zu Babel, Der Brudermord im
gedeutet werden. Hause Kyburg, Der Brandstifter zweiter Teil, Der Tod
Doch auch Der Rebell bleibt nicht auf die Dimensi- des Sokrates. Schließlich kommen zwei politische Pa-
on einer indirekten Spiegelung der eigenen Jugend be- rabeln hinzu: Das gemästete Kreuz sowie Auto- und Ei-
schränkt, sondern reflektiert zugleich die Situation senbahnstaaten. Den Abschluss bildet die kosmogo-
des erinnernden Autors: Die rekonstruierte Erzäh- nische Fiktion Das Hirn. Erneut finden sich auch wie-
lung Der Rebell – eine Idee von 1943 – erscheint zu- der essayistische Passagen, insbesondere Auseinander-
nächst als Reflex und indirekter Kommentar zur setzungen mit philosophischen und theologischen
durch die ganzen Stoffe geführten Auseinanderset- Konzepten und Figuren.
zung mit dem leiblichen Vater und dessen Glauben. In der kurzen einleitenden Reflexion präsentiert
Doch gibt es durch den Kontext und die Signale im Dürrenmatt den Band – mit implizitem Bezug auf die
Text durchaus eine Lesart, die die Geschichte als Spie- Titelmetapher – als Ansammlung von »Trümmer[n]«
gel der literarischen Initiation, der Suche nach einer (WA 29, 11), die vom ursprünglichen Rekonstrukti-
literarischen Sprache und der Einordnung in eine li- onsversuch nur noch übriggeblieben seien. In der Tat
terarische Generationenabfolge verstehen lässt. Und hat der Band Turmbau – trotz oder wegen der zehn-
obwohl es Dürrenmatt als Stoff aus seinen Anfängen jährigen Arbeit, die zu ihm führte – wesentlich stärke-
präsentiert, ist es nicht nur eine Geschichte von El- ren Bruchstück-Charakter als der erste; es fehlt eine
46 Das Stoffe-Projekt 171

explizite und durchgehende Verbindung zwischen Art die Frage nach der Schuld aufwerfen (vgl. Probst
Autobiografie und eingeschobenen Erzählungen. 2008, 137–170). So entsteht ein dichtes Gefüge anhand
Doch hat auch dieses Scheitern Methode, es ist die von Motivvariationen und -filiationen, etwa des Auf-
poetische Konsequenz einer – bereits im ersten Stoffe- erstehungsmotivs, das sich von Kindheitserzählungen
Band anklingenden – existentiellen Erkenntnis: Das der Eltern über die Lektüre von Jean Pauls Siebenkäs
gelebte Leben lässt sich nicht einholen und ohne Ver- (1943) zu Frank der Fünfte (1959) und Der Meteor
fälschung zu einer Einheit stilisieren. Auch innerhalb (1966) entwickelt. Dieses Geflecht deutet exemplarisch
der einzelnen Stoffe-Teile finden sich heterogene Ele- an, wie sehr nicht nur die Stoffe in sich, sondern Dür-
mente des langen Entstehungsprozesses. renmatts Gesamtwerk als ein großer Schreib-, Motiv-
und Gedankenzusammenhang zu verstehen ist. Der
IV. Begegnungen: Der Text liest sich mit den Über- Text gibt jedoch auf die Frage nach den Ursprüngen
legungen zur Verbindung von Erinnerung und Vor- einzelner Stoffe nicht eine monokausale Antwort bzw.
stellungskraft sowie der Darstellung persönlicher To- Rückführung auf Kindheits- und Jugendeindrücke;
deseindrücke (die Ehefrau Lotti, der Maler Varlin, ein unzählige Kombinationsmöglichkeiten, beim Schrei-
eigener Schäferhund) als programmatische Einleitung ben unbewusste Assoziationen zwischen Erlebnissen,
zum zweiten Band der Stoffe und zum Spätwerk über- Gelesenem und eigenen Stoffen werden angedeutet
haupt, in dem Todeseindrücke und Todesszenarien oder ausgeführt.
geradezu leitmotivisch begegnen. An diese Darstellung schließt sich eine Reihe von
Das ursprüngliche Erlebnis entzieht sich Dürren- nicht geschriebenen Stücken an, die Dürrenmatt skiz-
matts Überzeugung zufolge als das schlechthin Sub- zenhaft darstellt und autobiografisch einbettet: Die
jektive der Darstellung. Seine Intensität provoziert Rekonstruktion des 1948 geplanten Turmbau-Dramas
aber die Vision eines Stoffs, wie er am Beispiel des und des dramatischen Scheiterns an diesem Stoff – es
toten Schäferhunds illustriert, den er auf der Rampe endete mit der Verbrennung des Manuskripts nach
der Abdeckerei wie im Schlaf daliegend betrachtet: monatelanger Arbeit – hat zentrale Bedeutung für den
»[E]twas fehlte und machte den Anblick schrecklich. ganzen Band und die Poetik des Spätwerks. Sie verbin-
Ein maßloses Staunen drang in mich herein, einen det die Darstellung des Scheiterns mit dem Gelingen
Augenblick lang, der ewig zu währen schien, einen To- der Darstellung und kann so – pars pro toto – auch als
desaugenblick lang eben – auch bei weit erhabeneren Gleichnis für die Ästhetik der Stoffe, als wiederholter
Augenblicken, beim Anblick meiner toten Eltern et- Durchgang durch das Werk, gelesen werden. Ent-
wa, hatte ich dieses Gefühl nicht, dieses plötzliche gegen dem biblischen Mythos (1. Mose 11, 1–9) sollte
Aufheben der Zeit« (19). Darin liegt eine poetologi- im Stück der Turmbau gelingen, Nebukadnezar aller-
sche Grundthese, die Dürrenmatt auch bei der Dar- dings, als er mit seinem Turm den Dachboden der
stellung des Todes der eigenen Frau und beim Besuch Welt erreicht, vergeblich nach dem Gott suchen, den
der Auschwitz-Gedenkstätte am Ende des Bandes bei- er herausgefordert hatte.
behält: »[D]er Tod ist nur von außen darstellbar« (21). Die Posse Der Brudermord im Hause Kyburg stellt
den Beginn der Neuzeit am Ende mittelalterlichen
V. Querfahrt: Wie entsteht ein Stoff? Erinnerung, As- Raubrittertums als Mischung von scheiterndem auf-
soziation und Logik sind die Faktoren, mit denen die klärerischem Geist und gewaltauslösender techni­
Vorstellungskraft gemäß Dürrenmatts Reflexion arbei- scher Innovation dar. Die Rekonstruktion des mit
tet (vgl. 15). Der erste Teil von Querfahrt stellt sich als Max Frisch geplanten Projekts zu einer Fortsetzung
erzählerische Umsetzung dieser Erkenntnis dar. Aus- (und Umkehrung) von Biedermann und die Brandstif-
gehend von der Rückkehr als Student aus Zürich nach ter ist sowohl eine Demonstration des im ursprüng-
Bern im Jahr 1943, die den Anschluss an den ersten lichen Sinne parodistischen Geistes als auch eine kri-
Band der Stoffe herstellt, springt der Text scheinbar zu- tisch-melancholische Darstellung und gleichzeitige
sammenhanglos zwischen den Stoffen und Zeitebe- Dekonstruktion der Dürrenmatts Schriftstellerleben
nen. Doch damit wird er strukturell zum Abbild des maßgeblich prägenden, scheinbaren ›Dioskuren‹-Be-
assoziativen Charakters von Erinnerungsprozessen. ziehung zu Frisch.
Der Text Querfahrt enthält eine Vielzahl von angedeu- Den Abschluss von Querfahrt bildet die politische
teten, erwähnten oder erzählerisch ausgeführten Fahr- Parabel Das gemästete Kreuz. Diese bissige Auseinan-
ten, teilweise verbunden mit der Darstellung von – fik- dersetzung mit dem Schweizer Patriotismus und der
tiven und realen – Unfällen, die in je unterschiedlicher Schweizer Armee war kein alter Stoff, sie hatte als neu-
172 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

es Gleichnis in der Endphase des Kalten Krieges viele ihm zum Verhängnis wird. Unfreiwillig und durch
politische Anknüpfungspunkte, etwa die von Dürren- Missverständnisse gerät er von einer Wohnung in die
matt unterstützte Volksinitiative zur Abschaffung der andere und macht extreme Erfahrungen. So wird er
Schweizer Armee (1989). etwa von einem alten SS-Offizier zusammengeschla-
gen und von einer geheimnisvollen Frau geliebt, bis er
VI. Die Brücke: In einem Gedankenexperiment wan- schließlich beim Hinaustaumeln vom blinden, eifer-
delt der Autor eine Ausgangssituation – den Gang des süchtigen Hauswart von hinten mit einem Feuer-
Studenten ›F. D.‹ über die Kirchenfeldbrücke in Bern haken erschlagen wird – eine Karikatur der blinden
am 15.10.1943 – in dreizehn Variationen immer wie- Justitia in der Gerechtigkeitsgasse.
der ab und kombiniert sie mit erkenntniskritischen Eingeschoben in diesen Textzusammenhang von
Reflexionen, die die Unmöglichkeit des Anspruchs Autobiografie und rekonstruierter Erzählung sind
demonstrieren, eine biografische Tatsache als solche zwei Prosastücke aus späterer Zeit: Auto- und Eisen-
logisch rekonstruieren zu können. Zugleich zeigt der bahnstaaten, eine politische Parabel auf die Prinzi-
Text aber auch die Unmöglichkeit, ein Leben auf un- pien der Freiheit und Gerechtigkeit (und die Antago-
zweifelhaften Gewissheiten aufzubauen, wie es der nisten des Kalten Krieges), und Der Tod des Sokrates.
Philosophiestudent F. D. versucht. Diese autofiktio- Letztere Erzählung bildet einen tragikomischen, kri-
nale Variation unterläuft die Scheidung von Autobio- tischen Gegenentwurf zur Platon-Lektüre während
grafie und Fiktion und kann auch als kritische Aus- des Studiums: Platon erscheint als verbissener Ideo-
einandersetzung mit der aristotelischen Scheidung loge, der dem beliebten Sokrates seine Dialoge in den
von Geschichtsschreibung und Literatur gelesen wer- Mund legt. In den Figuren des lebenslustigen Phi-
den. Der Gang über die Brücke kann als Bild für eine losophen und des aus der Mode gekommenen Ko-
Entscheidungssituation im eigenen Leben verstanden mödienautors Aristophanes hat Dürrenmatt auch ein
werden. Kernthema und Ausgangspunkt des Texts ist in zwei Figuren aufgespaltetes indirektes Selbstpor-
jedoch die erkenntnistheoretische Problematik der trät gezeichnet.
Auffassung von Wahrheit, der Unterscheidung von
Glauben und Wissen, der Beschaffenheit der Wirk- VIII. Vinter: Ist der Stoffe-Teil VII dem Philosophie-
lichkeit und der Möglichkeit von Erkenntnis und li- studium und den eigenen philosophischen Wurzeln
terarischer Darstellung überhaupt – Fragen, mit de- gewidmet, so gilt Teil VIII der Auseinandersetzung
nen sich der alternde Autor ebenso beschäftigte wie mit der Religion und insbesondere der Theologie Karl
der damalige Student F. D., wechselte er doch in je- Barths. Und er endet biografisch mit dem in einer in-
nem Herbst 1943 seine Studienfächer von der Litera- tuitiven Eingebung gefällten Entschluss des 25-Jähri-
tur und Kunst zur Philosophie und Psychologie (vgl. gen, sein Studium abzubrechen und Schriftsteller zu
Probst 2008, 171–224). werden. Dürrenmatt schließt damit den Bogen, der
von der Kindheit im Emmentaler Dorf bis zum Be-
VII. Das Haus: Das Haus ist einer der ältesten Stoffe im ginn seiner schriftstellerischen Karriere führte. Argu-
Turmbau. In der Studienzeit konzipiert, liegt die re- mentiert der späte Dürrenmatt als Atheist (»Ich halte
konstruierte Erzählung bereits um 1973 weitgehend die Frage, ob Gott existiere, für sinnlos«, WA 29, 201;
abgeschlossen vor. Das gilt auch für ihren autobiogra- »Barth erzog mich zum Atheisten«, 208), so stellt er
fischen Begleittext: die Schilderung des Philosophie- die damalige intuitive Entscheidung als unbegründ-
studiums und die Charakterisierung der damaligen baren existentiellen Sprung im Sinne Kierkegaards
Lehrer Richard Herbertz und Wilhelm Stein, die zur dar: als Sprung in eine Art von Glauben und Befreiung
erneuten Auseinandersetzung mit den für Dürren- aus einer »sinnlose[n] Rebellion« (225).
matts Welt- und Existenzverständnis grundlegenden In die Darstellung dieser Wende, des »schwierigsten
Philosophen Platon, Kant und Kierkegaard führte, Moment[s] meines Lebens« (ebd.), bettet der Autor die
aber auch zur Darstellung der Suche nach einer eige- Binnenfiktion Vinter als weiteren Stoff ein, den er wäh-
nen literarischen Sprache in Auseinandersetzung mit rend des Studiums konzipiert habe. Die Erzählung
Goethe, Jeremias Gotthelf, Stefan George, Ernst Jün- über einen Auftragsmörder, der mit seinem letzten Job
ger und anderen. in die eigene Heimat zurückkehrt, liest sich wie eine
Die Erzählung Das Haus stellt dar, wie ein Mathe- Umkehrung zur Erzählung Das Haus: Wurde dort ein
matikstudent als Begleiter eines Kollegen in der Ber- unschuldiger Student durch einen blinden Zufall, eine
ner Gerechtigkeitsgasse in ein Haus hineingerät, das Schein-Gerechtigkeit, hingerichtet, so verzweifelt hier
46 Das Stoffe-Projekt 173

ein Schuldiger daran, dass das Gericht ausbleibt und er kraft einerseits, der Fassungslosigkeit und Ohnmacht
nicht für sein Verbrechen zur Rechenschaft gezogen des Einzelnen und einer ganzen Generation gegen-
wird, ihm vielmehr ohne sein Zutun eine neue Exis- über den Perversionen, deren Menschen fähig waren
tenz und Wohlstand geschenkt wird. und sind, die sich im Schlusskapitel zeigt. »Es ist, als
ob der Ort sich selber erdacht hätte. Er ist nur. Sinnlos
IX: Das Hirn: Dürrenmatt schließt sein autobiogra- wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und oh-
fisches Werk mit der großen Fiktion Das Hirn ab: Ein ne Grund« (263).
einsames Welthirn erdenkt sich nach einem geistigen
Urknall den Kosmos aus dem Nichts. Der Blick, der zu Textprozess, nachgelassene Texte und text-
Beginn der Stoffe von den Kindheitserfahrungen im genetische Edition
Emmental ausging, weitet sich nun zur Darstellung ei-
nes Weltentstehungsprozesses aus einem fiktiven rei- Mit dieser Schilderung seines Auschwitz-Besuchs
nen Hirn in der ursprünglichen Leere: eine ebenso zieht Dürrenmatt am 21.5.1990 einen Schlussstrich
großartige wie traurige Vision der Allmacht und Ohn- unter den zweiten Band der Stoffe. Im August 1990,
macht einer solitären Fantasie. Sie verbindet nicht nur noch bevor dieser im Oktober bei Diogenes erscheint,
in einem narrativen Sturmlauf spielerisch Denkmo- schreibt er jedoch schon wieder an den Stoffen weiter:
delle von Schöpfungsgeschichte und idealistischer Er überarbeitet während zweier Monate die essayisti-
Philosophie, Evolutionstheorie und moderner Kos- schen Komplexe Dramaturgie der Vorstellungskraft,
mologie, sondern bildet zugleich einen Reflex auf den Prometheus und Gedankenfuge, deren Entstehung teil-
Gesamtcharakter der Stoffe. Dürrenmatts Interesse weise bis in die 1970er Jahre zurückreicht, die jedoch
gilt in den Stoffen – im Gegensatz zu seiner früheren den Rahmen des zweiten Bandes gesprengt hätten. Of-
Dramatik – weniger den fiktiven ›Eigenwelten‹ selbst, fensichtlich waren für ihn die Stoffe kein abgeschlos-
als vielmehr der Darstellung des Akts der Schöpfung senes Buchprojekt in zwei Bänden.
und Vernichtung derselben. So ist es folgerichtig, dass Was 1990 niemand wusste: In den langen Jahren der
er ans Ende der zu Lebzeiten publizierten Stoffe eine Stoffe-Arbeit entstanden unzählige Fassungen und Va-
Fiktion stellt, welche die Weltentstehung als Gedan- rianten, Konvolute im Umfang von über 30.000 Manu-
kengang eines kosmischen Hirns durchspielt. Ganz skriptseiten, die in Dürrenmatts Nachlass zum Vor-
zufällig, ein nebensächliches Detail in der über- schein kamen: Dokumente eines mächtigen Schreib-
schwänglichen Gedankenflut, erscheint am Ende der stroms, der sich einem Abschluss entzog und entzie-
Schriftsteller selbst, der sich Das Hirn erdenkt und mit hen musste. Wie Prousts Auf der Suche nach der
dem das fingierte Hirn in ein paradoxes Verhältnis ge- verlorenen Zeit und Robert Musils Mann ohne Eigen-
genseitiger Erschaffung bzw. ›Erdenkung‹ gerät. schaften als reflektierte Gesamtprojekte einer Schreib-
Doch Dürrenmatt beschließt die Stoffe nicht mit existenz nur durch den Tod des Autors zum Stillstand
dieser ironischen Selbstdarstellung des Schriftstellers kamen, wurde das Variieren, Neuformulieren, Neu-
als Fiktion des von ihm fingierten Hirns. Er bricht das kombinieren und Ergänzen zum poetischen Prinzip
Gedankenspiel ab und wechselt abrupt zur Schil- des Stoffe-Projekts – einer Schreibform, die sich in letz-
derung eines Besuchs der Gedenkstätten in den ehe- ter Konsequenz der Statik des Buches entzog. Nicht zu-
maligen Vernichtungslagern von Auschwitz und Bir- fällig regelte Dürrenmatt gemeinsam mit seinem Ver-
kenau, der in der direkten Gegenwart des Schreibens, lag in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, als der Ab-
im Mai 1990, stattfand. Dürrenmatt hatte seine Poetik schluss des zweiten Bandes noch nicht absehbar war,
der grotesken Gegenwelten im Anfangsteil der Stoffe seinen literarischen Nachlass und initiierte die Grün-
aus seiner Erfahrung des Verschontseins und des Au- dung des Schweizerischen Literaturarchivs. Damit war
ßenstehens im Zweiten Weltkrieg begründet. Nun die Aufbewahrung, Erschließung und Zugänglichkeit
kehrt er von der spielerischen ›Hirn‹-Fiktion zu die- des Manuskriptgebirges gesichert, das noch über jene
sem düsteren Ausgangspunkt zurück. Allmacht und 30.000 Manuskriptseiten hinausführt: Das gesamte
Ohnmacht der Fantasie stehen hart nebeneinander. Prosaschaffen Dürrenmatts seit Beginn der 1970er
Den Schluss bilden wiederum die Eindrücke eines Jahre ist letztlich dem Stoffe-Projekt als einem großen
Verschonten, der vergeblich diese »Landschaft des To- Akt der Wiederbegegnung mit dem eigenen Leben
des« (262) zu begreifen versucht. Es ist die ganze und Werk zuzuordnen: Der angefangene Kriminal-
Spannweite zwischen der Begeisterung für das Wun- roman Der Pensionierte (ab 1970) ist als Reihe von Be-
der des menschlichen Hirns und seiner Schöpfungs- suchen bei den ›unerledigten Fällen‹ u. a. ein Sinnbild
174 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

Abb. 46.1:  Dürrenmatt schreibt seit seinem Herzinfarkt 1969 nur noch in seiner eigenartigen Blockhandschrift, seine Sekre­
tärin tippt seine Fassungen ab, und er überarbeitet das Typoskript wiederum handschriftlich – unter Einbezug von Leim und
Schere: Arbeitsfassung der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet, Mai 1978.
46 Das Stoffe-Projekt 175

der begonnenen Stoffe-Arbeit. Der Israel-Essay Zu- und Gestus der Neubegegnung mit dem eigenen
sammenhänge (1975) als wiederholte Auseinanderset- Schreiben, der das Stoffe-Projekt kennzeichnet.
zung mit den Wurzeln des eigenen Denkens und Unter textgenetischer Perspektive zeigt sich zudem,
Schreibens im Glauben der Eltern, aber auch der Mit- dass verschiedene zu Lebzeiten in anderem Kontext
macher-Komplex (1976) als schriftstellerische Neu- publizierte Texte ihren Ursprung im Stoffe-Projekt ha-
geburt aus dem Scheitern des Dramas auf der Bühne ben: Wie weiter oben schon ausgeführt, war der auto-
gehören von ihrer Anlage her zu den Stoffen. Neben biografische Text Vallon de l’Ermitage als Teil der Stoffe
dem zirkulären Gestus der Wiederbegegnung mit dem konzipiert. Als Anbindung an die Gegenwart schildert
eigenen – geschriebenen und ungeschriebenen – Stoff, er das Verhältnis des Autors zu seinem langjährigen –
der den Mitmacher-Komplex prägt, kann auch die Ödi- französischsprachigen – Wohnort Neuchâtel (vgl.
pus-Variation Das Sterben der Pythia (entstanden S 1). Zugleich bietet er eine eindrückliche Schilderung
1976) im Hinblick auf die Stoffe-Arbeit gelesen wer- des ersten Herzinfarkts, der 1969 zum Auslöser der
den: Es ist, wie Mondfinsternis, eine Geschichte über Arbeit an den Stoffen als ›Geschichte meiner Schrift-
Vergessen und Verdrängen, Selbsttäuschung, unwill- stellerei‹ wurde. Diese Passage war zeitweise auch in
kürliche Erinnerung und aufgezwungene Auseinan- die Querfahrt-Manuskripte einbezogen.
dersetzung mit einer unbewältigten Vergangenheit. Der im gleichen Sammelband publizierte, aus ei-
Die Frage des Ödipus nach seiner Identität kann als ei- nem Stoffe-Abschnitt in den Querfahrt-Manuskripten
ne indirekte Spiegelung der wiederholten Auseinan- (vgl. S 3) entwickelte Vortrag Kunst und Wissenschaft
dersetzung mit den Eltern in den Stoffe-Manuskripten (WA 36, 72–97) weist auf eine weitere Dimension des
verstanden werden, aber auch als ein Sinnbild für die Projekts hin: Es geht Dürrenmatt nicht mehr nur um
sich in der Genese wandelnde Textstruktur der Stoffe die Frage nach dem Zusammenhang von Fiktion, Le-
als Versuch der Selber-Lebens-Beschreibung. Als au- ben und Erinnerung, sondern zugleich um die Frage
tobiografische Untersuchung mit direktem Zugriff nach der Rolle der Fantasie für Kunst, Philosophie
können die Stoffe nicht aufgehen; die Wahrheit über und Wissenschaft. So gehen die poetologischen Fra-
das ›Ich‹ hinter der Sprache, nach der der Autor im gen in erkenntniskritische über, was sich insbesonde-
Mitmacher-Komplex fragt, entzieht sich dem identifi- re auch in den nachgelassenen Stoffe-Essays Gedan-
zierenden Zugriff. Die veränderte Entwicklung der kenfuge (WA 37, 47–59; vgl. S 3) und Kabbala der Phy-
Stoffe ab Herbst 1977 kann auch als die poetische Kon- sik (WA 37, 136–144; vgl. S 3) manifestiert.
sequenz aus dem ›Scheitern der Pythia‹ verstanden Und auch der Roman Durcheinandertal wuchs, wie
werden. Die Selbsterkenntnis der Pythia, die ihrerseits bereits kurz bemerkt, zunächst als 1959 konzipierter,
zur ödipalen Figur wird, besteht in Dürrenmatts Ver- 1986 rekonstruierter Gangsterhotel-Stoff über viele
sion in der Erkenntnis einer unausweichlichen Verstri- Fassungen im Rahmen der Stoffe (vgl. S 3), bevor der
ckung in den Irrtum und Selbstbetrug in jeder Fixie- Autor 1988 angesichts seiner immer größeren Dimen-
rung eines Ergebnisses; die Antwort auf die Frage nach sionen beschloss, ihn als selbständigen Roman zu En-
der eigenen Identität kann nur im Offenhalten der Fra- de zu führen und zu publizieren.
ge und in der vielgestaltigen Betrachtung liegen (vgl. Mit dieser erweiterten Perspektive und den nach-
Weber 2007, 295–299). In der Weiterarbeit an den Stof- gelassenen Texten zeigt sich, dass das Projekt für Dür-
fen nach der Niederschrift des Mitmacher-Komplexes renmatt nicht abgeschlossen, ja grundsätzlich nicht
zieht der Autor die Konsequenz aus dieser Problema- abschließbar, sondern eine neue Form des permanen-
tik, indem er dem autobiografischen Zugriff vermehrt ten Fortschreibens und -denkens war. Aus dem Nach-
Fragecharakter verleiht und mögliche Varianten und lass wurden die in Reinschriften vorliegenden meist
fiktionale Gegendarstellungen präsentiert. Es ist die essayistischen Texte in Überarbeitungen aus Dürren-
Wahl einer polyfonen Struktur von autobiografischen matts letztem Lebensjahr im Band Gedankenfuge pu-
und fiktionalen Geschichten über ein vermeintlich bliziert. Dazu gehört etwa der Essay Prometheus, der
Identisches, das in jeder Erzählung zu einem Anderen das Motiv des Rebellen aus dem ersten Band der Stoffe
wird, eine Struktur, die in der Vervielfältigung der Per- weiterführt und vor dem Hintergrund des olym-
spektiven jenes Ich umkreist. pischen Götterhimmels zur Frage nach der Bedeutung
Doch auch die Neulektüre des Gesamtwerks im des Wissens um den Tod führt: Es erlaube dem Men-
Jahr 1980 für die Werkausgabe in 30 Bänden, die Text- schen Sinnstiftung und gäbe seinem Handeln Ver-
überarbeitungen der Dramen und die in die Bände bindlichkeit (vgl. u. a. WA 37, 15).
eingefügten Nachworte sind Teil dieses großen Aktes Über die zwanzig Jahre der Arbeit am Stoffe-Projekt
176 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

hatte sich dieses fortwährend gewandelt, und die An- onsbemühen wird die Realität der Stadt völlig auf den
fangsvoraussetzungen wurden in Frage gestellt. Das Kopf gestellt. Die Versuchsanordnung der Beobach-
Erinnern des eigenen Lebens wurde unter der Hand tung beeinflusst das Resultat der Beobachtung und die
zum Erfinden, aus der Autobiografie wurde Autofikti- Realität des Beobachteten. Die Groteske der Rekon-
on. Die bewusst gesteuerte Lebenserinnerung stieß an struktion der Vergangenheit und der Konstruktion der
Grenzen: Aus einem Erinnerungsbuch wurde damit Realität in ihrer Dokumentation, wie sie Dürrenmatt
zunehmend ein Buch über das Erinnern und eine Dra- bei der Stoffe-Arbeit erfuhr, wird hier dadurch gestei-
maturgie der Vorstellungskraft, wie ein weiterer Essay- gert, dass die Erzählinstanz eine KI-Maschine ist, die
Komplex im Band Gedankenfuge heißt (vgl. 91–109). die Idee, dass der Mensch den Computer erdacht hätte,
Dürrenmatt setzte, in Konsequenz dieser Denkhal- als absurden Ketzerglauben abtut.
tung, seine ganze Energie in den Prozess. 1981 meinte Die fünfbändige textgenetische Auswahl-Edition
er in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold: »Das des Stoffe-Projekts basiert auf den Voraussetzungen,
ist natürlich ein ziemliches Abenteuer. Ich beginne dass sich Dürrenmatts Textverständnis im Spätwerk
immer wieder von vorn, und die Prosa setzt immer gegenüber der Phase des Erfolgsdramatikers grund-
mehr an und wuchert immer weiter, und ich habe mir legend veränderte. Arbeitete Dürrenmatt als Dramati-
eigentlich gar nicht vorgenommen, sie irgendwie zu ker auf die schlimmstmögliche Wendung und die
beenden. Das ist eine ganz neue Form des Arbeitens; bestmögliche Form hin, auf das »Schachmatt, wäh-
ich kann die Stoffe nicht im einzelnen herausgeben, rend andere nur das Patt suchen« (WA 14, 189), wie er
weil ich da immer wieder ergänzen muß und weil im- es auch ausdrückte, so entwickelte nun in der späten
mer wieder etwas ins Leben hineinspielt und das Le- autobiografischen Reflexionsprosa der Schreibprozess
ben sich immer wieder verändert und deshalb neue gegenüber dem Endresultat einen Eigenwert; das
Erzählungen möglich macht und wieder neue Stoffe Schreiben selbst wurde zur literarischen Manifestati-
einbringt« (G 3, 13). on (s. Kap. 97). Dieses Verständnis entwickelte Dür-
Zu diesem Zeitpunkt war Dürrenmatt nicht mehr renmatt in der Auseinandersetzung mit Kierkegaards
darauf angewiesen, Texte möglichst rasch zur Druck- Konzept des sokratischen, subjektiv existierenden
reife zu bringen. Er konnte und wollte seine erinnern- Denkers in der Unwissenschaftlichen Nachschrift zu
de Fantasie und seine Lust am Entwickeln von Fiktio- den Philosophischen Brosamen, die er für »Kierke-
nen und seinen stetig durch die Lektüre wissenschaft- gaards wichtigstes Werk« (WA 33, 125 f.) hielt. Bei sei-
licher und philosophischer Texte angereicherten Re- ner Lektüre 1973 strich er u. a. folgende Stelle an: »Wer
flexionsprozess nicht zügeln. existiert, ist beständig im Werden; der wirklich exis-
Der durch das Sekretariat des Autors gut struktu- tierende subjektive Denker bildet beständig diese sei-
rierte Bestand der 30.000 Manuskriptseiten wurde im ne Existenz denkend nach und versetzt all sein Den-
Rahmen von Forschungsprojekten im Schweizeri- ken ins Werden. [...] [N]ur der hat eigentlich Stil, der
schen Literaturarchiv textgenetisch erschlossen und niemals etwas fertig hat, sondern sooft er beginnt, ›die
wird derzeit im Rahmen einer fünfbändigen Auswahl- Wasser der Sprache bewegt‹« (Kierkegaard 1959, 215).
edition und einer Online-Plattform veröffentlicht (Ko- Die Unabschließbarkeit ergab sich andererseits aus
operation Schweizerisches Literaturarchiv/Diogenes der Dürrenmatt umtreibenden Reflexion der autobio-
Verlag, Publikation im November 2020). Zum einen grafischen Frage, wie man über sich selbst schreiben
enthält dieser Bestand unzählige Überarbeitungsvari- und erinnernd sich selbst zum Stoffe werden könne
anten, die das allmähliche Reifen, aber auch Umdeuten (vgl. WA 29, 225). Allzusehr mit seinen »Stoffen ver-
und Umschreiben des zuletzt Publizierten dokumen- woben und in sie eingesponnen«, sich selbst nur als
tieren. Zum andern finden sich darin weitere Stoffe in Stoff, nicht als wahres Selbst begegnend, verirrte sich
unterschiedlichem Ausarbeitungsgrad, sei es beispiels- Dürrenmatt im Labyrinth der Textur des Selbst: »Un-
weise die Skizze Die Schachspieler um mordende Rich- gestraft gerät keiner ins Labyrinth seiner selbst: ich
ter und Staatsanwälte, oder auch die Parabeln Die Di- stand und stehe immer wieder mir und doch nicht mir
nosaurier und das Gesetz und Die Virusepidemie in gegenüber, mich von einem Gespinst in ein anderes
Südafrika. Die Sciencefiction-Erzählung Der Versuch verirrend« (SLA-FD-A-a43 VII, fol. 2 f.; vgl. S 5).
stellt in der Retrospektive aus dem Jahr 10.000 auf das Von diesen Voraussetzungen eines gewandelten li-
Jahr 2000 die Bemühungen um die Dokumentation ei- terarischen Selbstverständnisses Dürrenmatts aus-
nes beliebigen Tages in einer an Bern erinnernden gehend, akzentuiert die Edition die Schreib- und
Stadt (»Berzanz«, S 3) dar. Bei diesem Dokumentati- Transformationsdynamik der Texte. Sie verbindet die
46 Das Stoffe-Projekt 177

Edition der zu Lebzeiten erschienenen Stoffe mit zwei zur eigenen Identität zeigen – ein Prozess, der aller-
Bänden (1 und 3), die eine Auswahl von Manuskript- dings nicht als gelingende Sozialisation erscheint, son-
fassungen aus dem Schreibprozess zwischen ca. 1965 dern als Geschichte von Irrwegen, Gefährdung und
und 1990 präsentieren. Die Bände 2 und 4 mit den von Vereinzelung, die durch keine Selbstfindung zum Ab-
Dürrenmatt publizierten Stoffen I bis III bzw. IV bis IX schluss kommt. Der Wendepunkt, auf den die Stoffe
sind angereichert durch eine Dokumentation mit bio- zusteuern, ist der Augenblick im Jahr 1946, in dem der
grafischen Materialien, auf die sich der Autor in sei- junge Mann sein Philosophie-Studium abbricht und
nen Erinnerungen bezieht, sowie den frühen Manu- sich für die Schriftstellerei entscheidet: Dieser Augen-
skriptfragmenten, auf die er bei seinem rekonstrukti- blick, dessen Gestaltung Kierkegaards Beschreibung
ven Schreibprozess zurückgriff. Das größte ist das vier des Sprungs in den Glauben anklingen lässt (vgl. We-
Akte umfassende Fragment des Stücks Der Turmbau, ber 2009), bildet den Abschluss einer Reihe biogra-
an dessen Vollendung Dürrenmatt 1948 scheiterte, fischer Schlüsselszenen, welche – zusammen mit es-
und das trotz einer Verbrennungsaktion in erstaunli- sayistischen Reflexionen zur Zeitgeschichte – die Vo-
chem Umfang erhalten ist (vgl. S 4). raussetzungen des eigenen literarischen Weltentwurfs
Diese Druckausgabe wird begleitet von einer frei darstellen. Stehen die Stoffe in der Tradition von Auto-
zugänglichen Online-Edition. Diese enthält nicht nur biografie und Bildungsroman, so führen sie nicht zu
den Text der Druckausgabe als durch Hyperlinks ver- gefestigter Identität, sondern viel mehr in ein Lebens-
netzte digitale Version, sondern zugleich das komplet- und Weltlabyrinth hinein, jenes der Schriftstellerexis-
te Manuskriptmaterial des Stoffe-Projekts. Damit wird tenz. Damit rückt das Motiv des Labyrinths in den
dem Publikum ermöglicht, nicht nur die Auswahl der Fokus, dem als einem mythischen Modell der Selbst-
Herausgeber kritisch zu überprüfen, sondern darüber und Weltdarstellung in Dürrenmatts Spätwerk zen-
hinaus andere Wege durch die Textgenese zu beschrei- trale Bedeutung zukommt, am ausführlichsten und
ten. Dies wird erleichtert durch vielseitige zusätzliche radikalsten im apokalyptischen Höhlenlabyrinth des
Hilfsmittel der textgenetischen Analyse. Ein weiterer Winterkriegs, das »zugleich Grabkammer und Be-
Baustein sind audiovisuelle Dokumente, die die Be- wusstseinsraum« (Hennig 2013, 76) wird (s. Kap. 71).
deutung des mündlichen Vortrags und Gesprächs für
Dürrenmatts Entwicklung seiner Stoffe belegen. Dialektischer Prozess: Die Stoffe-Arbeit kann werk-
genetisch als Reaktion auf eine Krise der dramatischen
Darstellung und Kommunikation und durch die Kier-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung kegaard-Lektüre inspirierten Akt der Wiederholung
verstanden werden (vgl. Weber 2007, 232–238). Die
Nachdem die Präsentation der Stoffe in den bis heu- Suche nach der Basis und den Knotenpunkten der ei-
te rezipierten Monografien von Gerhard P. Knapp genen literarischen Produktivität musste zur Erinne-
(1993) und Jan Knopf (1988) von einem bestürzen- rung und Rekonstruktion der ungeschriebenen Stoffe
den und in seiner Konsequenz für die Forschung fata- führen: Ausgehend vom vollendeten Werk geht der
len Unverständnis geprägt war, wurde eine breitere Autor erinnernd noch einmal den Weg seiner Entste-
Auseinandersetzung mit diesem kapitalen Werkkom- hung durch. Das prägnanteste Bild dafür findet sich in-
plex erst durch die Publikation von Peter Rusterholz nerhalb des Mitmacher-Komplexes im Motiv der Reise
und Irmgard Wirtz (1997) initiiert. Sie lässt sich in vom eigenen Haus aus um die Welt, die zur Hintertür
vier Untersuchungsperspektiven zusammenfassen. 1. zurückführt. Der Reisende trifft »die alten Fragmente,
Autobiografie; 2. dialektischer Prozess; 3. Erinne- all das Halbbegonnene, Liegengelassene, ja nur Ge-
rungs- und Gedächtnispoetik; 4. Geschichtsdarstel- dachte wieder an, das er einmal zur Hintertür hinaus-
lung und Erkenntniskritik. warf [...]: Nun muß sich der Reisende, will er seine Rei-
se vollenden, durch all dieses Gerümpel den Weg ins
Autobiografie: Trotz aller Eigenständigkeit der literari- Haus bahnen« (WA 14, 324). In dieser wiederholten
schen Gestaltung stehen die Stoffe in einer reichen li- Begegnung führt Dürrenmatt in den Stoffen das fertige
terarischen Tradition (vgl. dazu Burkard 2003; Probst Werk in den Zustand seiner Entstehung zurück, um so
2008, 38–70). Ihrer Anlage nach sind sie insofern eine auf eine grundsätzliche künstlerische Problematik zu
klassische Autobiografie in der Traditionslinie von reagieren: die Erstarrung der Kreativität zum abge-
Augustin über Rousseau zu Goethe, als sie den Ent- schlossenen Werk, eine Entäußerung und Objektivati-
wicklungsgang eines jungen Menschen auf dem Weg on, die er als Dramatiker mit der Verselbständigung
178 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

der Bühnenwerke schmerzhaft als Entfremdung er- wiedergefundenen Stoffe verbindet sich zusammen
fuhr. Er erkannte seine Werke auf der Bühne oft nicht mit den autobiografischen Teilen und den essayisti-
mehr als das, was sie ihrer subjektiven Anlage nach wa- schen Reflexionen zu einem Kaleidoskop von Gleich-
ren, und bilanziert in den Stoffen: »Als Dramatiker bin nissen und Metaphern, die Gedächtnis, Erinnern und
ich ein unvermeidliches Mißverständnis« (WA 28, Vergessen in wechselnden Aspekten und immer wie-
217). Die Stoffe sind in ihrer Gesamtanlage Ausdruck der neuen Anläufen inszenieren (vgl. Weber 2014).
einer alten Künstler-Problematik, sie bilden eine Art Die Vielfalt der Bilder reicht vom Blick in den Welt-
Künstlerdrama, das E. T. A. Hoffmann in seinem Fräu- raum als räumlich entfaltete Vision der Gleichzeitig-
lein von Scudery in kriminalistischer Zuspitzung dar- keit des Ungleichzeitigen über die – kosmische Di-
gestellt hat: Der Künstler kann sich nicht von seinem mensionen annehmende – Bibliothek der »wirklichen
Werk lösen, er muss es nach der Preisgabe an andere konkreten Weltgeschichte« als totaler Dokumentati-
wieder in seinen Besitz bringen. So ist Dürrenmatts on, wogegen unsere Geschichtsschreibung als »Kata-
Stoffe-Unternehmen von einer doppelten Bewegung log eines schäbigen Antiquariats abgegriffener blut-
geprägt: Auf der einen Seite Objektivierung des sub- verklebter Kolportagehefte« (59) erscheint. Im Zen-
jektiv Gebliebenen, des auf der Strecke gebliebenen trum dieser Bildervielfalt stehen topografische und
Werks, Niederschrift der nicht geschriebenen Stoffe: architektonische Metaphern über die ganzen Stoffe
mithin Befreiung und Vergessen-Können des alten verteilt: Turm, Labyrinth, Brücke, Haus, Dorf, Stadt,
›Gerümpels‹. Auf der anderen Seite subjektive Wieder- dazu Trümmer, Ruine, Baustelle (Winterkrieg, Turm-
aneignung des Objektivierten, des geschriebenen bau, Das Sterben der Pythia). An die Unübersichtlich-
Werks. Aus dieser dialektischen Doppelbewegung von keit des Labyrinths schließt das Wuchern der Natur an
Entäußerung, Entfremdung und Wiederaneignung er- (die überwucherten Ruinen im Urwald von Yukatan
gibt sich auch der vom Autor im langen Schreibprozess in Querfahrt). Gedächtnismedien wie das Buch (Win-
hergestellte Charakter des Vorläufigen, der den Stof- terkrieg) und der Film (Begegnungen) finden sich
fen auch in der publizierten Form anhaftet. In dieser ebenso wie Gedächtnisspeicher von der erwähnten
Gestalt entwickelt Dürrenmatt neue erzählerische Bibliothek (Winterkrieg) bis zum Archiv (Das Sterben
Möglichkeiten – Möglichkeiten eines un-naiven, iro- der Pythia) und Museum (Winterkrieg, Das Hirn).
nischen Erzählens, das seinen fiktionalen und kon- Auch den Binnenerzählungen selbst ist im Kontext
struktiven Charakter stets mitbedenkt. Parallel zu des Stoffe-Projekts als durchgehende metaphorische
zeitgenössischen Tendenzen der Auflösung des Werk- Sinnebene die Erinnerungsdimension eingeschrie-
begriffs in Nouveau roman, Living Theatre, Nouveau ben: sei’s als Heimkehr des Protagonisten an frühere
Réalisme, Fluxus oder Happening ging Dürrenmatt auf Lebensorte (Winterkrieg, Mondfinsternis, Vinter), sei’s
seinem solitären Weg daran, sein Werk durch die Re- als Suche nach der eigenen Herkunft, insbesondere
flexion seiner Entstehung aus der Erstarrung zu befrei- nach den Eltern (Der Rebell, Das Sterben der Pythia
en. Die Stoffe sind wohl Dürrenmatts wichtigster und und Vinter). Das variierte Motiv der Auferstehung des
originellster Beitrag zur modernen Erzählprosa: eine Lazarus (Querfahrt) verknüpft Dürrenmatt als Er-
Art Metapoesie, die mit den Erzählungen zugleich innerungsmetapher mit der Totenschau, die er als
nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit forscht, ei- antiken Topos aufgreift (Pythia, Begegnungen – paral-
ne Fiktion, die zugleich ihren eigenen Rohstoff und lel dazu künstlerisch dargestellt in der Gouache Im
ihre Konstruktionsprinzipien offenlegt und den Ent- Hades). Die Bilder für die unwillkürliche Erinnerung,
stehungsprozess zum Gegenstand der Darstellung das Auftauchen des Unerwarteten, Verdrängten
macht. Die spezifische Qualität entsteht dabei nicht (Mondfinsternis, Das Sterben der Pythia) wurden be-
einfach aus dem Unabgeschlossenen, dem ›offenen reits erwähnt. Auch das literarisch prominente Ge-
Kunstwerk‹, sondern durch die Überlagerung von Ab- dächtnis der Sinne wird inszeniert, allerdings ist es
geschlossenem, Rekonstruktion und wiederholtem nicht der Geschmack eines feinen Gebäcks, der wie
Schreibprozess in der Erinnerung, der das vorder- bei Proust die Erinnerungen an die Kindheit spontan
gründig bruchstück- und trümmerhafte Textkorpus – auslöst, sondern der Geruch von Wasser und Blut an-
mit dem Resonanzkörper des Gesamtwerks – in ei- lässlich der Besichtigung der Pathologie-Abteilung in
nem Geflecht von Filiationen verdichtet. einem großen Krankenhaus, der angesichts der sezier-
ten Leichen die Erinnerung an das kindliche Zuschau-
Erst ansatzweise erforscht ist die Erinnerungs- und Ge- en beim Schlachten der Tiere im heimischen Dorf
dächtnispoetik: Die Darstellung der gefundenen und auslöst (vgl. 30 f.). Das Bild des Flusses, auf dem man
46 Das Stoffe-Projekt 179

treibt oder der an einem vorbeitreibt, während man Charakter als literarische Experimente im Rahmen ei-
als »Treibholz« (167) am Ufer hängenbleibt, drückt nes induktiven, offenen Untersuchungsprozesses über
die unterschiedliche Zeitlichkeit in der Begegnung des Subjekt und Welt eröffnet »paradoxe Räume der Er-
Ichs mit der Außenwelt aus. Daran knüpft die Fahrt kenntnis« (Kriens 2014, 219) in Analogie und Ab-
und (zirkuläre) Reise ebenso an, wie sie als ›Quer- grenzung derselben Instrumente im wissenschaftli-
fahrt‹ Sinnbild der assoziativen Bewegung in den Er- chen Kontext, in einer »Sphäre, in der Beweise kaum
innerungsräumen wird. zu erbringen sind und Kategorien die Vorherrschaft
über die vermeintlich sichere Wahrheit gewonnen ha-
Geschichtsdarstellung und Erkenntniskritik: Dürren- ben« (ebd.). Dabei erscheint wiederum das Labyrinth
matt geht es in den Stoffen nicht nur um das indivi- als »genuines Bild für erkenntnistheoretisches Schei-
duelle Gedächtnis. Das Ganze ist verschränkte Selbst- tern per se« (Famula 2013, 202).
und Weltdarstellung, die nicht zufällig in das kosmo-
gonische Gleichnis Das Hirn mündet, wo subjektive Literatur
Primärtexte
Kreativität und kosmische Geschichte sich vereinen. Stoffe I–III. Der Winterkrieg in Tibet, Mondfinsternis, Der
Immer wieder tauchen Passagen der mise-en-abyme Rebell. Zürich 1981.
von individueller Lebensgeschichte und Weltge­ Labyrinth. Stoffe I–III. Zürich 1990.
schichte auf. Der Manifestation eigenständiger Krea- Turmbau. Stoffe IV–IX. Zürich 1990.
tivität gegenüber steht die Ohnmacht angesichts der Labyrinth: Stoffe I–III. WA 28.
Turmbau: Stoffe IV–IX. WA 29.
gewaltgeprägten historischen Realitäten des 20. Jahr-
Weber, Ulrich/Probst, Rudolf (Hg.): Friedrich Dürrenmatt:
hunderts, die in Auschwitz münden: Möglichkeits- Das Stoffe-Projekt. Textgenetische Auswahl-Edition in 5
denken wird zurückgebunden an die Geschichte (vgl. Bänden. Zürich 2020. Online-Präsentation:
Sorg 2003, 44). Dabei verbindet Dürrenmatt die Ohn- http://www.fd-stoffe.ch.
macht des Betrachters mit dem Selbsteinbezug in die
Obsession in der figuralen Perspektive des Ich-Erzäh- Sekundärliteratur
Boothe, Brigitte: Non-Individuation and Wedding with
lers des Winterkriegs. Diese Mehrspurigkeit der Dar-
Death in the Works of Friedrich Dürrenmatt. In: https://
stellungsebenen ist Ausdruck einer Erzählstrategie psyartjournal.com/article/show/boothe-non_
der Polyfonie (vgl. Müller 2009). Sie betrifft jedoch individuation_and_wedding_with_death (19.6.2020).
nicht nur den Wechsel von fiktiver und autobiogra- Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
fischer Perspektive, sondern zugleich die literarischen Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
Register: Deutlich erkennbar ist im Spätwerk und den hingers im Spätwerk. Tübingen, Basel 2004.
Burkard, Philipp: Eine Lebensgeschichte als Geschichte von
Stoffen eine Tendenz zu gleichzeitiger »Universalisie- ungeschriebenen Stoffen? Friedrich Dürrenmatts parado-
rung und Re-Lokalisierung« (Utz 2013, 53) unter xes Projekt der Stoffe im literaturgeschichtlichen Kontext
Einbezug dialektaler Sprachelemente (etwa in Mond- der Autobiografie. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 47–60.
finsternis), die sich deutlich abhebt von der sprach- Emter, Elisabeth: Geschichte der Stoffe als Geschichte des
lichen Stilisierung in dramatischen Parabeln wie Der Denkens. Dürrenmatts Gedankenexperiment Die Brücke
im Kontext der modernen Physik. In: Peter Rusterholz,
Besuch der alten Dame. Ebenso sehr vom Stil der
Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff
1950er Jahre hebt sich Dürrenmatts Grobianismus in der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Biele-
der Darstellung sexueller und gewalttätiger Exzesse feld 2000, 77–90.
(in Winterkrieg und Mondfinsternis) ab. Famula, Marta: Erlebtes, Erkanntes und Fingiertes. Dürren-
Ausgehend von der Thematisierung der Philoso- matts ästhetisches Konzept einer Erkenntnistheorie in
phie Kants als »Philosophie des Scheiterns« (WA 29, seinem autobiographischen Projekt Stoffe I–IX. In: Mar-
tina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Bielefeld
123) metaphysischer Erkenntnisansprüche des Men- 2013, 183–206.
schen und der Reflexionen im Kontext der Autofikti- Gabor-Peirce, Olivia G.: Becoming fiction. Reassessing athe-
on Die Brücke stößt Dürrenmatts Verbindung poeto- ism in Dürrenmatt’s Stoffe. New York u. a. 2017.
logischer Reflexion mit erkenntnistheoretischen und Hennig, Matthias: »Denn indem ich sie in den Fels grabe,
naturwissenschaftlichen Konzepten auf zunehmendes grabe ich sie in mein Hirn.« Invalides Schreiben in Dür-
renmatts Winterkrieg in Tibet. In: Sarah Mohi-von Känel,
Interesse der Forschung. Dürrenmatts Auseinander-
Christoph Steier (Hg.): Nachkriegskörper. Prekäre Korpo-
setzung mit Kant und – im Umfeld der Stoffe – mit realitäten in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahr-
Hans Vaihingers Fiktionalismus erscheint als zentral hunderts. Würzburg 2013, 71–84.
für das Verständnis der Gleichnisse als Instrumente Kapcsándi, Katalin: Verwirklichung der Stoffe. Möglichkei-
der Erkenntnis in den Stoffen (vgl. Burkard 2004). Ihr ten der Intermedialität bei Friedrich Dürrenmatt. In:
180 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

Erika Hammer, Edina M. Sándorfi (Hg.): »Der Rest ist – Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff der Ver-
Staunen«. Literatur und Performativität. Wien 2006, wandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Bielefeld
69–100. 2000, 41–53.
Keller, Otto: Dürrenmatts Kritik des abendländischen Den- Rusterholz, Peter: Metamorphosen des Minotaurus. Entmy-
kens in Stoffe I: Der Winterkrieg in Tibet. Das Labyrinth; thologisierung und Remythisierung in den späten Stoffen
Weltgleichnis oder Epos einer neuen Aufklärung. Bern Dürrenmatts. In: Ders.: Chaos und Renaissance im
u. a. 2000. Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg. von Henriette Her-
Kierkegaard, Søren: Philosophische Brosamen und unwis- wig und Robin-M. Aust. Würzburg 2017, 35–46.
senschaftliche Nachschrift. Hg. von Hermann Diem, Wal- Rusterholz, Peter: Vom »Werk« zur Intertextualität der
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Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt [1976]. 4., neubearb. Aufl. und Poetologie in den Stoffen Friedrich Dürrenmatts. In:
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Kriens, Jochen: Die Poetik des Experiments. Provozierte Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
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Kunz, Edith Anna: Heimat als Arsenal des Schriftstellers. Zu durch Intertextualität. In: ...und Literatur: Pierre Bühler
Friedrich Dürrenmatts Stoffen. In: Eduard Beutner, Karl- zum 60. Geburtstag. Hermeneutische Blätter 1/2 (2009),
heinz Rossbacher (Hg.): Ferne Heimat – Nahe Fremde. 364–373.
Bei Dichtern und Nachdenkern. Würzburg 2008, 170– Weber, Ulrich: Erinnerung und Metapher im Schreibprozess
185. von Dürrenmatts Stoffen. In: Ders. u. a. (Hg.): Dramatur-
Müller, Claudia: »Ich habe viele Namen«. Polyphonie und gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
Dialogizität im autobiographischen Spätwerk Max Frischs dial. Göttingen 2014, 117–141.
und Friedrich Dürrenmatts. Paderborn, München 2009, Weber, Ulrich: Erinnerung und Wiederholung in den Stoffen
107–139. – Das Beispiel Mondfinsternis. In: Ders.: Dürrenmatts
Probst, Rudolf: Autobiographische Konzepte in der Ent- Spätwerk. Die Entstehung aus der Mitmacher-Krise.
wicklung von Friedrich Dürrenmatts Stoffen. In: Peter Frankfurt a. M., Basel 2007, 241–299.
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Spätwerk. Bielefeld 2000, 55–75. Turmbau, Stoffe IV–IX. In: Peter Rusterholz, Irmgard
Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff der Ver-
Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels. Paderborn wandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Bielefeld
2008. 2000, 145–159.
Rüedi, Peter: Friedrich Dürrenmatt und die Stoffe als Auto-
biographie des Als-Ob. In: Peter Rusterholz, Irmgard Rudolf Probst / Ulrich Weber
K Essays und Reden

47 Dürrenmatt als Redner terarische und politische Vorurteile. Mit Selbstironie


wies er 1960 anlässlich der Übergabe des Großen Prei-
Aufgrund seiner aufsehenerregenden Vielseitigkeit, ses der Schweizerischen Schillerstiftung im Schau-
Originalität und Unabhängigkeit war Dürrenmatt als spielhaus Zürich in seiner Rede Der Rest ist Dank auf
kritischer Analytiker oft eingeladen, zu seinem Werk sein Unbehagen hin, dass man seine Komödien in ih-
oder zu den geistigen Strömungen seiner Zeit auch als rer provokant-ironischen Witzigkeit für unverbind-
Redner Stellung zu beziehen. Er liebte das Redner- lich halte, während doch nur die unwillkürliche »Mo-
pult, das freie Wort. Viele seiner insgesamt rund 50 ralität« (WA 32, 112) des komödiantischen Mediums
Reden sind klassisch geworden, sie werden in den fol- der schwierigen Weltsituation von heute gewachsen
genden Artikeln einzeln präsentiert (s. Kap. 48–57). sei. »Die Sprache der Freiheit in unserer Zeit« sei »der
Der vorliegende Beitrag gilt ausgewählten anderen Humor, und sei es auch nur der Galgenhumor« (110);
Auftritten, deren Wortlaut mehrheitlich in WA 34 als Dramatiker vermeide er jede unverbindliche »fal-
und 36 zu finden ist. sche Weihe« (111) und verwende »das falsche Pathos«
Es gehört zu Dürrenmatts Profil, dezidiert in sei- (110) nur noch im parodistischen Sinne. Denn das
nem eigenen Namen sprechen zu wollen. Pauschal- Theater von heute brauche die spielerische Distanz des
urteile waren ihm zuwider, auch kollektive Stellung- Komödiantischen, um »aus seiner Freiheit heraus« –
nahmen. »Ich bin Schriftsteller, kein Unterschriftstel- »das heißt unwillkürlich« und nicht mit dem feierli-
ler«, so Dürrenmatt, als man ihm 1971 die Mitglied- chem Pathos politischer Überlegenheit – an das »Ge-
schaft bei der linken Autorenvereinigung ›Gruppe wissen der Menschen zu appellieren« (112).
Olten‹ anbot. Als kritischer Individualist eigne er sich Mit gleicher Intensität legte er sich in seiner
nicht für gemeinsame Verlautbarungen, »weil ich mir Münchner Rede (1963) mit den Kritikern Franks des
über mich selber Klarheit erlangen will, und zwar über Fünften an, welche die Münchner Aufführung in ganz
alles, was mir widerfährt, und über alles, was ich erle- oberflächlich-konventioneller Weise besprochen hat-
be oder dessen Zeuge ich bin« (Dürrenmatt 2017a, ten. Es zeuge von »berufliche[r] Ahnungslosigkeit«
66). Es gehe ihm bei einer Rede um das direkte An- (WA 6, 163), die Banalität des Handlungsverlaufs zu
sprechen eines Publikums, im Sinne einer öffentlichen kritisieren, ohne dessen dramaturgische Hintergrün-
Selbstreflexion: »Wenn ich etwas bewirken will, wenn digkeit zu begreifen, weshalb er nun selber die Argu-
ich Stellung nehme, schreibe ich kein Theaterstück, mente der Kritiker in ihr Gegenteil verkehre. Wer
sondern einen Artikel« (ebd., 94). Er selbst habe zwar merke denn nicht, dass »[i]n der Katastrophe« – in
»noch nicht so viel Reden gehalten [...] wie Günter komödiantisch-satirischer Verkehrung – »die Wahr-
Grass, aber beinahe so viele wie Demosthenes« (WA heit sichtbar« und der »verlogene Geist« »als Blasphe-
30, 164). An sich sei »eine Rede ein fixierter Moment, mie erkennbar« (164) werde? »In einer Münchner
nur vom Augenblick aus zu beurteilen, in dem sie ge- Zeitung schreiben zu dürfen oder gar Berliner zu
halten wurde, bloß von dessen Perspektiven, Umstän- sein«, sei »allein noch kein Beweis, vom Theater auch
den, Hintergründen, Stimmungen, besonders wenn es etwas zu verstehen, und auch nicht ein Freipaß, vom
sich um eine politische Rede handelt, denn nichts än- Nachdenken dispensiert zu sein« (161).
dert sich so wie ein politischer Standpunkt: Nicht der Eindrücklich ist auch seine Verhinderte Rede von
Opportunismus, die Zeit selbst ändert ihn, führt ihn Kiew, in welcher er sich 1964 gegen eine einseitige
ad absurdum, läßt ihn paradox erscheinen, nicht wir, Verehrung des ukrainischen Nationaldichters Taras
die Geschichte begutachtet uns« (WA 32, 142). Schewtschenko wandte, indem er dessen menschliche
Gerne hinterfragte er in seinen Reden etablierte li- und dichterische Qualitäten hervorhob und in ihrer

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_47
182 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

Bedeutung für die Ukraine unterstrich, indessen den zu verwirklichen vermochte, eine Schweiz, die durch
patriotischen Personenkult ablehnte. Literatur sei »in ihre Demokratie der Demokratie im Wege steht, weil
ihrer Gesamtheit das Gewissen der Menschheit, eine auch die Demokratie, wie die Kultur, kein Besitz ist,
ihrer Dokumentationen«; man solle Schewtschenko sondern eine Aufgabe darstellt, die täglich in mühse-
»nicht nur [...] lieben, sondern auch seine Härte und liger Kleinarbeit erfüllt werden muß« (WA 34, 56).
seine Wildheit [...] spüren, denn nur so, als ein Unbe- Im Anschluss an seine Überlegungen über das Ver-
quemer, ist er ein Hüter seines Volkers, seines Staates hältnis von Israel und Palästina (s. Kap. 52, 53) ent-
und kein totes Denkmal« (WA 34, 28). Dürrenmatt wickelte er, anlässlich der Verleihung der Buber-Ro-
hat sich später auch kategorisch gegen eine Betei- senzweig-Medaille am 6.3.1977, mahnende Gedanken
ligung an den 700 Jahr-Feiern der Schweizerischen Über Toleranz als Grundlage für ein staatliches Zu-
Eidgenossenschaft gewehrt (1991). sammenleben in Frieden. Seit dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Trup- habe sich kaum etwas verändert: »Nur die Zahl der
pen in der Tschechoslowakei lud das Stadttheater Ba- Opfer nimmt ständig zu« (WA 33, 130). Es sei höchste
sel am 8.9.1968 zu einer international beachteten öf- Zeit, im Sinne von Lessing neben der religiösen Tole-
fentlichen Protest-Matinée von Schriftstellern ein, mit ranz auch über das Wesen der politischen Toleranz
der brieflichen Teilnahme von Heinrich Böll und den nachzudenken (vgl. 133–135). Es tue ein »neues Zeit-
Rednern Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Max alter der Aufklärung not[...]«, das an die Stelle des ei-
Frisch, Günter Grass und Kurt Marti. Dürrenmatt genen »Anspruch[s] auf Wahrheit« vielmehr »das Su-
spricht in seiner Rede Tschechoslowakei 1968 – in chen nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit und nach
über-ideologischer Gefasstheit – von der unfassbaren, Freiheit« stelle (144 f.). Die Nationalstaaten seien zu
ja unbegreiflichen Wirklichkeit: »[I]ch denke an die gewaltigen Institutionen geworden, als solche erstarrt,
Tschechoslowakei. Ich denke an Prag. Ich denke an ei- so dass nach dem Gesetz der großen Zahl »eine
ne Bevölkerung, die hoffnungsvoll war und jetzt hoff- Menschheit [...] denkbar« werde, »für die es nur noch
nungslos ist« (WA 34, 35). Er denke mit Trauer an sei- eine Freiheit gibt: die geistige« (148). Aufgrund der
ne persönlichen Freunde und Mitarbeiter im Theater, gemeinsamen Ängste jedoch, die von den »Praktikan-
an die Schriftsteller, an die ganze Bevölkerung, auch ten der Macht« geschürt würden, »um sich und ihre
an die Kommunisten und deren enttäuschte Hoffnun- Kämpfe abzusichern«, werde überall aufgerüstet:
gen auf einen politischen Frühling. Es handle sich um »Dieser Welt sind wir ausgeliefert, Gläubige und Un-
einen »Sieg der sowjetrussischen Reaktionäre«, »weil gläubige, alle Völker, der Staat Israel und alle Staaten«
die erstarrte Partei jede Veränderung fürchtet« (41). (149). Es sei dringlich, die eigenen Ängste zu verlie-
Auch in der Schweiz habe sein Freund Konrad Farner ren, die Vorstellungen vom bösen Feind zu vergessen
als Kommunist und Dienstverweigerer das Pech, »in und aufeinander in Toleranz und Vertrauen zuzuge-
einem Land zu leben, das die Zufriedenheit mit sich hen, im Glauben an eine gemeinsame Zukunft.
selbst zum politischen Kult macht« (35). »In der Die letzte Rede Dürrenmatts – Die Hoffnung, uns
Tschechoslowakei« habe »die menschliche Freiheit in am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen – ist
ihrem Kampf um eine gerechtere Welt eine Schlacht, eine Laudatio auf Michail Gorbatschow, gehalten am
doch nicht den Krieg« verloren. »Der Krieg gegen die 25.11.1990 in Berlin, anlässlich der Verleihung der
Dogmatiker der Gewalt« gehe weiter, »mögen sie nun Otto-Hahn-Friedensmedaille. Es ist Gorbatschows
die Maske des Kommunismus, des Ultrakommunis- »furchtlose Vernunft« (WA 36, 209), die Dürrenmatt
mus oder jene der Demokratie tragen« (42). Und viel- ins Zentrum seiner Rede rückt, seinen Sinn für das
leicht erschüttere gerade der gewaltlose Widerstand Machbare und menschlich Nachvollziehbare über al-
ein Machtsystem tödlicher, »als wir zu ahnen ver- le ideologischen Grenzen hinweg, seinen Mut für ei-
mögen« (ebd). nen Neubeginn in der Beziehung zwischen den Völ-
Auch in seiner Rede Über Kulturpolitik anlässlich kern und Machtblöcken. Mit dem Fall der Atombom-
der Verleihung des Großen Literaturpreises des Kan- be auf Hiroshima 1945 endete nicht nur der Zweite
tons Bern (25.10.1969) warnte er vor falschen Sicher- Weltkrieg, mit dem Friedensschluss habe auch ein
heiten und Schönmalereien auch in der Schweiz: Man bisher nie da gewesenes Wettrüsten zwischen den
habe endlich zu begreifen, dass diese »nicht mehr die Großmächten begonnen – der Kalte Krieg. Und »mit
Schweiz Wilhelm Tells ist, sondern eine Schweiz der der Atombombe lernte der Mensch sich selber fürch-
Mirage-, der Bührle- und der Florida-Affären, eine ten, er wurde seine eigene Apokalypse« (190). Zwar
Schweiz, die noch nicht einmal das Frauenstimmrecht wagte keiner die Atomwaffen einzusetzen, jeder aber
47  Dürrenmatt als Redner 183

produzierte sie, »um zu beweisen, daß er sie anwen- die Menschheit geht unter, es gibt eine Katastrophe.
den würde, wenn der andere sie anwenden würde« Und mein Schicksal ist es, Analytiker dieser Katastro-
(ebd.). In diesem rüstungsbezogenen Machtgehabe phe zu sein« (Dürrenmatt 2017b, 196).
sei es der Marxist Michail Gorbatschow gewesen, der
»in seiner Eigenschaft als Generalsekretär der Kom- Literatur
Primärtexte
munistischen Partei der Sowjetunion den Kalten An die Kritiker ›Franks des Fünften‹. In: WA 6, 160–165.
Krieg beendet« habe (191). Er habe versucht, »den »Der Rest ist Dank«. In: WA 32, 109–112.
Marxismus umzugestalten«, ihn zu erneuern, mit »Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang
dem Gedanken der Perestroika und der Vision einer zu ziehen.« In: WA 36, 189–209.
friedlichen Koexistenz (ebd.). Damit habe er »wie Die verhinderte Rede von Kiew. In: WA 34, 26–28.
Dramaturgie des Publikums. In: WA 30, 164–175.
kein anderer Staatsmann die heutige Welt verändert«,
Nachträgliches. In: WA 32, 141–144.
durch seinen Mut und seine praktische Vernunft, in- Tschechoslowakei 1968. In: WA 34, 35–42.
dem er mit der Beendigung des atomaren Wettrüs- Über Kulturpolitik. In: WA 34, 46–59.
tens begann (206 f.). Gleichwohl aber baue sich der Über Toleranz. In: WA 33, 125–149.
Mensch nach wie vor eine »technische und ökologi- Dürrenmatt, Friedrich: Gespräch 1974 mit Peter André
sche Katastrophenwelt« (208) auf. Angesichts von Bloch und Herbert Tiefenbacher. In: Peter André Bloch:
Friedrich Dürrenmatt – Visionen und Experimente.
Hunger, Elend, Unterdrückung, der bestehenden ato-
Werkstattgespräche – Bilder – Analysen – Interpretatio-
maren Bedrohung und dem Bevölkerungswachstum nen. Göttingen 2017a, 86–104.
bräuchten wir furchtlose Vernunft, »die furchtlose Dürrenmatt, Friedrich: Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt
Vernunft Michail Gorbatschows« – »das einzige, was zum Thema »Bild und Gedanke« in Neuenburg,
uns in der Zukunft zur Verfügung steht, diese mögli- 18. Februar 1980. In: Peter André Bloch: Friedrich Dür-
cherweise zu bestehen, uns, nach der Hoffnung Kants, renmatt – Visionen und Experimente. Werkstattgespräche
– Bilder – Analysen – Interpretationen. Göttingen 2017b,
am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen« 181–196.
(209).
Dürrenmatt schrieb die Rede auf Václav Havel Sekundärliteratur
(s. Kap. 57) und die Laudatio auf Michail Gorbat- Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und
schow einige Wochen vor seinem Tod (14.12.1990). Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen –
Interpretationen. Göttingen 2017.
Sie wirken heute wie sein geistiges Vermächtnis als
prophetischer Moralist, der über sich sagte: »Ich bin Peter André Bloch
ein Mensch, der in der Einsamkeit lebt. Und ich arbei-
te drauflos, an einer verrückten Logik. Ich erkenne,
184 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

48 Theaterprobleme Dürrenmatt orientiert sich dabei kritisch an Thea-


tertraditionen, ist über deren Bezüge jedoch oft his-
Entstehung, Kontext, Drucklegung torisch oder theoretisch unpräzis. So kommt er als
vermeintliches ›Gesetz‹ einer idealen Theaterhand-
Die Theaterprobleme schrieb Dürrenmatt 1954 als lung mehrfach auf die Lehre von den drei Einheiten
Vortrag, den er im Herbst 1954 und Frühjahr 1955 (des Ortes, der Zeit und der Handlung) zu sprechen,
mehrfach in der Schweiz und in Deutschland hielt die man aus der aristotelischen Poetik herausgelesen
(zuerst unter dem Titel Probleme einer praktischen habe, die aber längst nicht mehr beachtet würden, da
Dramaturgie). Die Publikation erfolgte 1955 im Arche deren Voraussetzungen nicht mehr gegeben seien.
Verlag in Zürich. Sein Stück Ein Engel kommt nach Diese Lehre hat Boileau für das höfische Theater ent-
Babylon musste Dürrenmatt bei der Uraufführung im wickelt und für sie die Autorität des Aristoteles nur re-
Dezember 1953 an den Münchner Kammerspielen klamiert. Entsprechend haben schon Vordenker und
grundlegend – als Satire – missverstanden erkennen, Praktiker eines bürgerlichen Theaters (z. B. Lessing)
was ihn in eine tiefe Verunsicherung führte, ob er sich gegen sie polemisiert.
dem Theaterpublikum überhaupt verständlich ma- Die Schrift betont den Ereignischarakter des thea-
chen könne oder die Wirkung seiner Stücke auf Zufall tralischen Geschehens (vgl. WA 30, 37), führt das
beruhe (vgl. WA 28, 217). Gegenüber Hans Schwei- Theater in seiner heutigen Gestalt (Guckkastenbühne,
kart, dem Regisseur der Uraufführung, beschreibt er Trennung von Bühne und Publikum) dann aber auf
sich im März 1954 als ›abgedankten Dramatiker‹ (vgl. das Hoftheater zurück, dem fälschlicherweise die –
Rüedi 2011, 477); in den Stoffen hält er fest, dass er mit genuin bürgerlichen – Forderungen nach Natürlich-
dieser Erfahrung seine »Naivität dem Theater gegen- keit und Illusionierung zugeordnet werden. Das hö-
über verlor[en]« habe (WA 28, 217). Eine Antwort auf fische Theater ist tatsächlich jedoch eines der reflek-
diese Verunsicherung sind die Theaterprobleme, in de- tierten Repräsentation. Vom Hoftheater ausgehend,
nen der Autor eine umfassende Selbstvergewisserung so Dürrenmatt, sei das Theater heute ein Museum, das
als Dramatiker unternimmt, wobei er sich sowohl mit den Theaterstücken verschiedenster Zeiten deren
deutlich von der Dramaturgie Brechts distanziert als zeitbezogene Dramaturgien und dramatischen Stile
auch – mit Absagen an den Zug zur ›Reinheit‹ und präsentiere. Mit der Rückbindung der Grundorientie-
›Perfektion‹ in der Kunst – von Benns Ideal einer »ab- rungen des bürgerlichen Theaters an das höfische ver-
soluten [rein selbstbezüglichen] Bühnenkunst« (Benn dunkelt Dürrenmatt seinen eigenen Standort eines
1968, 1755). Dürrenmatt entwickelt hier grundlegen- nicht mehr bürgerlichen Theaters, das weder den Weg
de Kategorien seiner Dramaturgie, die er im Laufe sei- Brechts noch den des absurden Theaters geht: Dem zu
nes dramatischen Schaffens umdenkt, anders gewich- einem Museum gewordenen Theater festgelegter Dra-
tet und in neuen dramatischen Konkretionen umbil- maturgien stellt er seine »Dramaturgie des Experi-
det (so z. B. die ›Dramaturgie des Einfalls‹; s. Kap. 88). ments« gegenüber (ebd., 42).
Die Relation von Bühne und Publikum macht Dür-
renmatt – in fundamentalem Gegensatz zu Brecht –
Inhalt und Analyse nicht zu einem eigenen Thema; er hält nur fest, dass
der moderne Autor das anonym gewordene Publikum
Die Theaterprobleme entfalten keine systematische, fingiere, ja selbst dessen Stelle einnehme (vgl. ebd.).
aus Grundsätzen einer Ästhetik des Theaters oder Mit der Aufhebung des Publikums im Autor vergibt er
Poetik des Dramas abgeleitete Argumentation, reihen viele Chancen seiner nachfolgenden Festlegung des
aber auch nicht einfach Orientierungen und Erfah- heutigen Theaters auf die Komödie. Die Behandlung
rungen beim Stückeschreiben aneinander. Die Argu- von Ort, Zeit und Handlung entwickelt er nicht vom
mentation ist induktiv: Aus Überlegungen zum eige- Drama, sondern gemäß seinem Ausgang vom Theater
nen Umgang mit den Konstituenten des Theaters von der Wirklichkeit des Spielens her. Ort der Hand-
(Bühne, Publikum) wie des Dramas (Handlung, Figur, lung sei primär die Bühne, die einen anderen Ort vor-
Rede), die als Antworten auf die zeitgenössische poli- stellt, die Zeit analog primär die des Spielens: Deren
tisch-soziale Wirklichkeit vorgestellt werden, entwirft Strukturierung durch Unterbrechungen leistete einst
Dürrenmatt die Bausteine seiner Dramaturgie. Die der Chor, neuzeitlich der Vorhang, gegenwärtig die di-
Ausführungen sind praxisbezogen, stellen aber kein rekte Anrede des Publikums; Letztere wird nur in der
Regelwerk für das Verfertigen von Theaterstücken dar. Spielart des epischen Theaters Brechts benannt und

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48  Theaterprobleme 185

als Erklären des Stücks kritisiert. Auf die für die Ko- radoxen ist am Grotesken, konform mit dessen Ge-
mödie seit der Antike konstitutiven Unterbrechungen schichte und Theorie (vgl. Pietzcker 1972; Oesterle
der Handlung in Wendungen an das Publikum – die 2017), das Vermischen von Heterogenem betont. Ant-
Parabase – wird nicht eingegangen. Die dramatische wort auf die Erfahrung einer sinnlosen, chaotischen
Figur charakterisiere primär, dass sie rede, Funktion Welt könne Verzweiflung sein, aber auch der Wille,
der Handlung sei, den Menschen zu einer besonderen diese Welt zu bestehen. Den könne man, als eine ande-
Rede zu zwingen (vgl. ebd., 51). re Antwort auf die sinnlose Welt, aus der Komödie he-
Mit dem Hinweis, dass der Held eines Stücks nicht raus mit dem Entwurf des »mutigen Menschen« erzie-
nur die Handlung vorantreibe, sondern auch eine len, der Schuld »als persönliche Leistung, als religiöse
Welt darstelle, gelangt die Schrift zu ihrer zentralen Tat« auf sich nehme und so die ›verlorene Weltord-
Frage, wie die heutige Welt darzustellen sei. Die Diag- nung in seiner Brust wiederherstelle‹ (WA 30, 62 f.).
nose, dass der heutige Staat »unüberschaubar, ano- Dürrenmatt umschreibt hier sehr genau die erhabene
nym, bürokratisch« geworden, Zuweisen von Verant- Wende als das Wirkungsziel der Tragödie im Sinne
wortung für dessen Aktionen nicht mehr möglich sei Schillers, allerdings nicht beim Publikum, sondern
(ebd., 59 f.), nimmt Argumentationsmuster verwei- in der vorgestellten Welt, und er erwartet den Entwurf
gerter Vergangenheitsbewältigung im Nachkriegs- einer solchen Wende gerade von der Komödie, die
deutschland auf. So begründet Dürrenmatt das mime- sich hierin zum Tragischen öffne (vgl. ebd.). Die Be-
tische Vermögen des heutigen Theaters, das zur Ko- dingung der Möglichkeit solchen Heraustretens aus
mödie führt, ausdrücklich politisch. der Komödienwelt bleibt offen, eine appellative Set-
Es folgen einige griffig formulierte, jedoch ver- zung, die auf den Besuch der alten Dame vorausweist.
engend pauschale Bestimmungen zu Tragödie und Die Komödie kommt solcher Grenzübertretung
Komödie. Die Erstere setze eine gestaltete Welt voraus durch das ihr eigene Verfahren entgegen, Figuren im-
(vgl. ebd., 60), die in der antiken Tragödie die dem Pu- mer wieder aus der vorgestellten Welt heraustreten zu
blikum bekannten Mythen vorgeben, von Shake- lassen. Dürrenmatt verbindet dieses Verfahren in sei-
speare bis Schiller die geschichtsmächtigen Helden. nen Stücken wiederholt mit solchen des epischen
Schillers Gedanke, eine chaotische, Sinn verweigern- Theaters Brechts (z. B. in Die Ehe des Herrn Mississip-
de Welt vorzustellen, die den Zuschauer zu einer erha- pi). Bezogen auf das Wirkungsziel der erhabenen
benen Vergewisserung seiner Selbst in seinem ide- Wende wird die Übertretung jedoch nicht auf die
ellen Vermögen führe (vgl. Schiller 1992), wird über- Wirklichkeit des Publikums hin gerichtet, sondern als
gangen. Die Komödie wird umgekehrt auf eine un- ein immanentes Transzendieren auf eine andere fikti-
gestaltete, im Werden begriffene Welt bezogen, da ve Welt ›tragisch-erhabener‹ Helden hin. Die Physiker
dem Komischen, das sie begründe, eigne, »das Ge- werden diese Übertretung durch deren längst schon
staltlose zu gestalten, das Chaotische zu formen« (WA vollzogene Aneignung in einer übergeordneten, sinn-
30, 61). Das trifft für Komödien zu, die das Moment verweigernden Komödie als Illusion zeigen.
dionysisch entgrenzender Komik stark machen, nicht Das letzte große Thema des Essays betrifft den Um-
jedoch auf Komödien des Verlachens, die anerkannte gang des Dramatikers mit Stoffen, diese verstanden als
Normen voraussetzen. Die Tragödie überwinde Dis- Objekte freien künstlerischen Gestaltens. Sie seien
tanz (vgl. ebd.,), wie dies die aristotelische Wirkungs- heute beschränkt, da sie durch die jeweils einschlägi-
kategorie des Mitleids anzeige (vgl. ebd., 57); Tragö- gen Wissenschaften schon bestimmt seien, womit die
dien im Zeichen des distanzierenden Erhabenen sind frühere Diagnose, dass dem Dramatiker der Gegen-
nicht im Blick. Die Komödie schaffe Distanz, was auf wart keine gestaltete Welt mehr vorgegeben sei, kom-
Verlachkomik verweist, während entgrenzende Ko- promittiert wird. Der Künstler müsse das wissen-
mik auf Aufheben auch der Grenze zwischen Bühne schaftlich Bestimmte wieder zu einem für Gestaltung
und Publikum zielt. Distanzleistung erkennt Dürren- offenen Stoff machen (vgl. ebd., 68). Erreicht werde
matt der Komödie zu, da sie mittels des ihr affinen das durch Reduktionen, die z. B. die Parodie bereithält
Grotesken einer opaken Welt Gestalt zu geben ver- – die große historische Figur als Verkehrung ihrer
möge, sei diese auch paradox, »Gestalt einer Un- selbst – oder die Groteske, die das wissenschaftlich
gestalt, Gesicht einer gesichtslosen Welt« (ebd., 62). Geformte unterminiert. Mit der Opposition von Wis-
Die Komödie erreiche das durch ihre Gründung im senschaft und Theater und ihrer solcherart ›de-kon-
(fantastischen) Einfall, der groteske Figuren und Ver- struktiven‹ Aneignung setzt sich Dürrenmatt noch
hältnisse generiere. In seiner Verbindung mit dem Pa- einmal von Brechts Theaterverständnis ab.
186 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

Positionen der Forschung aber gerade so handelnde Figuren als Helden seiner
Dramen wähle, die er folgerichtig nur noch als Paro-
Der Essay wird allgemein als Schlüsselschrift zum dien ihrer selbst gestalten könne (vgl. Weber 2006, 37–
Verständnis des Theaters Dürrenmatts gewürdigt, sei- 39). Dieses Als ob affirmiert die Komödie wie die kon-
ne pointierten Formulierungen zu Komödie und Gro- stitutive Theatralität Dürrenmatts.
teske fehlen in kaum einer Arbeit über den Autor. Die
Theaterprobleme geben einen hellsichtigen Entwurf Literatur
Primärtexte
seines Weges, aber auch der Widersprüche seiner Theaterprobleme. Zürich 1955.
Theaterkonzeption, die in den Stücken immer neu Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72.
produktiv werden. Jan Knopf hebt die politische Be-
gründung der im Essay entworfenen Komödientheo- Sekundärliteratur
rie hervor, weiter die konsequente Argumentation Benn, Gottfried: Die Ehe des Herrn Mississippi. Gesam-
melte Werke, Bd. 7. Hg. von Dieter Wellershoff. Wiesba-
vom Spielort Theater her und die Trennung von Wis-
den 1968.
senschaft und Kunst. Mit Letzterer vollziehe der Essay Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt [1976]. 3., erw. Aufl.
allerdings eben die Arbeitsteilung, deren Effekt die be- München 1980.
klagte Unübersichtlichkeit und Verantwortungslosig- Oesterle, Günter: Das Groteskkomische. In: Uwe Wirth
keit in der modernen Gesellschaft ist (vgl. Knopf 1980, (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart
86 f.). Peter Rüedi betont die Funktion des Essays als 2017, 35–42.
Pietzcker, Carl: Das Groteske. In: Deutsche Vierteljahres-
Standortbestimmung des Autors in einer tiefgreifen-
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45
den Verunsicherung. Die Begründung der Komödie (1971), 197–211.
sei politisch und metaphysisch; Dürrenmatt setze stets Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
beim Besonderen an, in protestantischer Tradition Biographie. Zürich 2011.
wie als Leser Kierkegaards misstraue er dem All- Schiller, Friedrich: Über das Erhabene. In: Werke und Briefe
gemeinen, den ›Kirchen‹ aller Art (vgl. Rüedi 2011, in zwölf Bänden, Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von
Rolf-Peter Janz u. a. Frankfurt a. M. 1992, 822–840.
499–504). Ulrich Weber verweist auf den Wider- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
spruch, dass Dürrenmatt zwar betone, gesellschaftlich Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
relevantes Handeln lasse sich nicht mehr in repräsen-
tativen Taten herausgehobener Einzelner darstellen, Bernhard Greiner
49  Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit 187

49 Vom Sinn der Dichtung in unserer mit den Erwartungen der Evangelischen Akademie
Zeit umgehen? Er entschloss sich, Differenz zu markieren,
indem er die Funktion der Dichtung entschieden in
den Zusammenhang mit den modernen Naturwissen-
Entstehungskontext schaften stellte.

Der Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit geht


zurück auf den Vortrag unter dem Titel Vom Sinn der Poetologie der sprachlich-bildhaften Eigen-
Dichtung im Zeitalter der Bilder, den Dürrenmatt an welten
der Tagung der Evangelischen Akademie für Rund-
funk und Fernsehen am 20.9.1956 in Bad Boll hielt. Dürrenmatt meldet »den Verdacht [an], ob nicht die
Der Text wurde 1958 im Jahrbuch für christliche Rund- Form der heutigen Philosophie die Naturwissenschaft
funkarbeit erstmals publiziert und 1966 in leicht über- sei« (WA 32, 62). Er tut dies ohne Euphorie, denn
arbeiteter Form in die Theater-Schriften und Reden »[v]ielleicht ist das Weltbild der Physik nur ein sehr ge-
aufgenommen (vgl. WA 32, 60–69). Dürrenmatt äu- nauer Ausdruck dessen, wie wenig wir wissen« (62 f.).
ßert sich in dieser Rede namentlich zum Verhältnis Er schreibe dies nicht als Physiker, sondern als »Ko-
von Naturwissenschaften und Literatur, von Mathe- mödienschreiber«, als »Dilettant« (60). Gerade dem
matik und literarischer Sprache sowie zur Unverzicht- Schriftsteller fällt auf, dass »[u]nser Denken [...] aus
barkeit anschaulicher Bilder. Damit entwirft er Grund- der Domäne des Wortes herausgetreten und mathema­
linien seines Literaturverständnisses, das er später in tisch abstrakt geworden« ist (61). Der Inhalt der Ma-
vielen Punkten vertiefen, aber nicht mehr grund- thematik sei »nur sie selber, die Beziehung ihrer Be-
legend verändern wird. griffe zueinander«, eine »Sprache für Eingeweihte«, die
Dürrenmatt hat nach Auskunft seines Biografen »das Bild nicht benötigt« (ebd.). Da nun die moderne
»eher widerwillig« an der genannten Tagung teil- Physik sich ebenfalls der mathematischen Sprache be-
genommen (Rüedi 2011, 622). Die Einladung richtete diene, sei sie »dazu übergegangen, ebenfalls die An-
sich wohl an den Autor der frühen Dramen, der ganz schauung, das Bild, das Modell endlich, fallen zu las-
im Gravitationsfeld des religiösen Existentialismus zu sen. [...] Ein mehrdimensionaler Raum [...] ist ein
stehen schien. Doch Dürrenmatt war inzwischen ein sinnlicher, doch nicht ein mathematischer Unsinn«
anderer geworden. 1951 nahm er am ›Europäischen (62). Damit bezieht Dürrenmatt sich auf Einsteins Re-
Forum Alpbach‹ teil und erhielt dort Impulse des kri- lativitätstheorie und deren vierdimensionales Raum-
tischen Rationalismus (vgl. Käppeli 2013, 127). Durch Zeit-Kontinuum, das sich mit der lebensweltlichen
die Komödie Romulus der Große (1949), die Komödi- Alltagserfahrung von Raum und Zeit nicht verein-
entheorie im Essay Theaterprobleme (1954) sowie baren lässt und zudem den erkenntnistheoretischen
durch die Erzählung Die Panne (1956) gewann er Dis- Rahmen außer Geltung setzt, den Kant als Bedingung
tanz zu seinen Anfängen. Er untersagte weitere Auf- der Möglichkeit aller Erfahrung dargestellt hat. Schon
führungen der beiden frühen religiösen Dramen Es Goethe habe die Tendenz, gegen die Sinne zu versto-
steht geschrieben und Der Blinde. Ein wichtiger Ge- ßen, getadelt, und auch heute seien viele der Auffas-
sprächspartner in dieser Phase der Neuorientierung sung, der Weg aus der Sprache heraus tangiere zwar die
war der Naturwissenschaftler Marc Eichelberg, der Naturwissenschaften, gehe die Geisteswissenschaften
von 1954 bis 1957 in Neuchâtel als Angestellter einer aber nichts an (vgl. ebd.). Dürrenmatt bezieht diesbe-
Firma für Regelungstechnik arbeitete. Mit ihm zu- züglich entschieden eine andere Position. Obschon
sammen studierte Dürrenmatt u. a. Alexander Wit- Physik und Mathematik durch Bildlosigkeit dem »Ver-
tenbergs Dissertation Vom Denken in Begriffen. Ma- ständnis der überwiegenden Anzahl der Menschen«
thematik als Experiment des reinen Denkens (1957). entrückt seien, seien sie nicht »ohne Wirkung nach au-
Eichelberg kannte Wittenberg persönlich und besaß ßen«: Sie »schleudern immer neue Möglichkeiten in
das Manuskript des Buches, das er Dürrenmatt die Welt, Radar, Fernsehen, Heilmittel, Transportmit-
schenkte (vgl. Eichelberg 1994). In abgrenzender Aus- tel, elektronische Gehirne usw.« »Die Technik [...] ist
einandersetzung mit Wittenbergs Gedanken zur das sichtbar, bildhaft gewordene Denken unserer Zeit«
Grundlagenkrise und zu Verfahrensregeln der Mathe- (63). Dieser Widerspruch zwischen der Bildlosigkeit
matik schärfte Dürrenmatt sein Verständnis der All- des naturwissenschaftlichen Denkens und der unüber-
tagssprache und damit der Literatur. Wie also sollte er sehbaren Macht der modernen Technik führt Dürren-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_49
188 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

matt zur Diagnose: »Der Mensch lebt heute in einer (1950) bekanntlich forderte, man solle sich kein Bild-
Welt, die er weniger kennt, als wir das annehmen. Er nis machen.
hat das Bild verloren und ist den Bildern verfallen«
(64). Der Rückzug in den ›Geist‹ ist für Dürrenmatt je-
doch kein gangbarer Weg. Der Schriftsteller müsse be- Zur Forschung
greifen, »daß er in dieser Welt zu leben hat. Er dichte
sich keine andere« (67). Elisabeth Emter (1995) hat die Rede als Leittext ge-
Die neuen Medien ändern an dieser Situation wählt und minutiös die impliziten Bezüge zur Phi-
nichts Grundlegendes. Theater, Hörspiel, Film hätten losophie der Naturwissenschaft (dt. 1939) von Arthur
je eigene Gesetze, mit denen der Schriftsteller gut um- Eddington herausgearbeitet, auf die sich Dürrenmatt
gehen könne. Die Gefahr für die Kunst komme nicht auch an anderer Stelle wiederholt explizit bezieht. Es
von den Medien her, sondern von überhöhten, kunst- sei die immanente Logik, die sowohl der Mathematik
religiös grundierten Erwartungen (vgl. 66). Eine wei- wie der fiktionalen Literatur den Bezug zur Welt si-
tere Gefahr sieht Dürrenmatt in einem »logischen chere. Dürrenmatt stimme mit dem selektiven Sub-
Fehler«, den der Schriftsteller aus der Diagnose ziehen jektivismus Eddingtons und mit den epistemologi-
könnte: »Er sieht die Sprache begrenzt [...]. Er sieht schen Konsequenzen der Quantentheorie in ihrer
nicht, daß die Begrenzung etwas Natürliches ist – weil Kopenhagener Deutung überein: Der Mensch könne
die Sprache nun einmal mit dem Bilde verhaftet sein in der Welt nichts entdecken, was er nicht zuvor in
muß, will sie Sprache bleiben« (ebd.). Diese inhalts- seinem Bewusstsein entdeckt habe. Emters Verdienst
bezogene Poetologie wendet Dürrenmatt gegen Ten- ist in erster Linie die profunde Widerlegung der The-
denzen des literarischen Formalismus. Der Weg der se Habermas’, wonach Literatur sich nicht mit den
formalen Differenzierung, den Wittenberg als mögli- Naturwissenschaften an sich, sondern nur mit deren
chen Umgang mit der Grundlagenkrise der Mathe- technischen Folgen auseinandersetze (vgl. Habermas
matik empfiehlt, führe literarisch in die Irre. 1968, 82 f.). Heute wäre es wohl angebracht, zu ver-
Gegen Brecht und sein politisches Theater stellt suchen, Dürrenmatts Ausführungen zur immanen-
Dürrenmatt die Maxime auf: »Der Schriftsteller gebe ten Logik der Sprache und der Literatur in Termini
es auf, die Welt retten zu wollen. Er wage es wieder, die einer kulturwissenschaftlich orientierten Narratolo-
Welt zu formen, aus ihrer Bildlosigkeit ein Bild zu ma- gie (Nünning, Koschorke) zu reformulieren und in
chen« (67). Diese Forderung hat allerdings ausdrück- diesem Zusammenhang seine wiederholte Unter-
lich nichts zu tun mit der Naivität einer Abbild-Poetik, scheidung von »noch möglichen« resp. »nicht mehr
sondern vielmehr mit dem »Aufstellen von Eigenwel- möglichen« Geschichten und Bildern einzubeziehen
ten« (68). Als Beispiel nennt Dürrenmatt Gullivers (vgl. u. a. Die Panne).
Reisen, einen Text, den er bereits in den Anmerkungen Dale Adams (2011) erkennt ebenfalls die zentrale
zur Komödie (1952) in eine Reihe gestellt hat mit an- Bedeutung der Rede für Dürrenmatts Poetologie, folgt
deren ›grotesken‹ Gegenwelt-Entwürfen, beginnend aber nicht Emters Fokussierung auf den Kontext Ed-
mit den Komödien des Aristophanes. Die Komödie dingtons. Er bezieht Dürrenmatts Ausführungen viel-
habe durch die explosive Kraft ihrer Einfälle die Mög- mehr auf die Grundlagenkrise der Mathematik, aller-
lichkeit, die Gegenwart ins Komische umzugestalten dings ohne dessen Quellen (Wittenberg, Eichelberg)
und damit Distanz zu schaffen. »Das Groteske ist eine genauer nachzugehen. Zu Emters Interpretation be-
äußerste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen merkt er zu Recht kritisch, Dürrenmatt habe die ir-
und gerade darum fähig, Zeitfragen, mehr noch, die reduzible Bildhaftigkeit der Sprache betont und dem
Gegenwart aufzunehmen, ohne Tendenz oder Repor- Bewusstsein an keiner Stelle die konstitutive Bedeu-
tage zu sein« (WA 30, 24 f.). tung für die Mathematik zugemessen, die Emter be-
Im letzten Abschnitt seiner Rede behauptet Dür- hauptet. Auf welchen Kontext Dürrenmatts Beharren
renmatt: »Wir sind nie ›im Bilde‹ über diese Welt, auf der Bildhaftigkeit der Sprache sich beziehen lässt,
wenn wir uns von ihr kein Bild machen« (WA 32, 68). untersucht er allerdings nicht; er behauptet hier eine
Damit bezieht er sich zustimmend auf die Philoso- »epistemologische Lücke« (Adams 2011, 287) in sei-
phie des Als Ob (1911) von Hans Vaihinger und auf nem Denken. In diese Lücke passt jedoch genau Dür-
dessen Konzept der bewusst falschen, aber nützlichen renmatts Bezug auf die Philosophie des Als Ob von
»Hilfsbilder«, und er wendet sich implizit kritisch ge- Hans Vaihinger. Er hat sich zeitlebens und an promi-
gen Max Frisch, der in seinem Tagebuch 1946–1949 nenter Stelle auf Vaihinger berufen, zuletzt in seiner
49  Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit 189

Laudatio auf Michail Gorbatschow (vgl. WA 36, 189– Sekundärliteratur


209). Philipp Burkard (2004) ist in seiner Dissertation Adams, Dale: Die Konfrontation von Denken und Wirklich-
den Bezügen zu Vaihinger nachgegangen und hat ge- keit. Die Rolle und Bedeutung der Mathematik bei Robert
Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt.
zeigt, dass die gemeinsame Wurzel von Wissenschaft St. Ingbert 2011, 247–326.
und Kunst für Vaihinger wie für Dürrenmatt nicht im Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
Bewusstsein liegt, sondern in der ›Einbildungskraft‹ Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
im Sinne Kants, in der ›Fantasie‹. Aus dieser Wurzel hingers im Spätwerk. Tübingen 2004.
entwickeln sich die beiden Zweige der Wissenschaft Eichelberg, Marc: F. D. und die Naturwissenschaften. In:
Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Zürich
und der Kunst. Beide vermögen sich nicht direkt auf
1994, 225–227.
die Wirklichkeit zu beziehen, sondern arbeiten mit Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezep-
›Hilfsbildern‹, die korrekturbedürftig bleiben, aber tion der modernen Physik in Schriften zur Literatur und
leistungsfähig genug sind, dass der Mensch mit ihnen Philosophie deutschsprachiger Autoren 1925–1970. Ber-
das Leben bestehen kann. lin 1995.
Habermas, Jurgen: Technik und Wissenschaft als Ideologie.
Literatur Frankfurt a. M. 1968.
Primärtexte Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: Jahrbuch der matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
christlichen Rundfunkarbeit 1 (1958), 109–116. Werks. Köln 2013.
Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: Theater-Schrif- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
ten und Reden. Zürich 1966, 56–64. Biographie. Zürich 2011.
Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: WA 32, 60–69.
Rudolf Käser
190 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

50 Monstervortrag über Gerechtig- hammed beobachtet an einer Quelle die vermeintliche


keit und Recht Ungerechtigkeit, wie ein Reiter seinen Geldbeutel ver-
liert, ein zweiter diesen stiehlt und der erste Reiter
schließlich im Glauben, den Dieb zu bestrafen, einen
dritten tötet (vgl. 38 f.) – wird dabei zum Ausgangs-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte punkt der Frage nach dem politisch gerechten System.
Sowohl dem klassischen Bürger wie dem Bürger eines
Den in der Druckfassung Monstervortrag über Gerech- sozialistischen Landes erschiene das skizzierte Sze-
tigkeit und Recht, nebst einem helvetischen Zwischen- nario ungerecht: dem ersten, weil der Mensch, auch
spiel. Eine kleine Dramaturgie der Politik betitelten wenn er ein Wolf sei, sich an Spielregeln halten müsse,
Vortrag hielt Friedrich Dürrenmatt am 24.3.1968 auf die den Besitz des Einzelnen sichern; dem zweiten,
Einladung der beiden Schweizer Jura-Professoren Pe- weil er im Besitz die Ursache für Ungerechtigkeit se-
ter Noll und Peter Schneider, ein Jahr später und bis hen würde.
1974 Rektor an der Johannes Gutenberg-Universität Damit ist das Tableau für eine Reflexion des Kapita-
Mainz, im Rahmen einer Vortragsreihe zum Thema lismus, das »große ›Wolfsspiel‹« (48), und des Sozia-
›Recht und Gerechtigkeit in der zeitgenössischen Li- lismus, das »›Gute-Hirte-Spiel‹« (50), eröffnet. Ge-
teratur‹. Er ist 1969 als wesentlich erweiterte Buchaus- meinsam sei beiden Systemen, dass sie in absoluter
gabe im Zürcher Arche Verlag erschienen. Dürren- Ausprägung in die gleiche Aporie führen. Denn der
matt bezeichnet sich zu Beginn des Vortrags (halb-) Begriff des Menschen sei ein »Doppelbegriff« (56):
ironisch als: »[i]rregeleitet von zwei schweizerischen Existentiell und im Besonderen halte der Mensch an
Professoren [...]. Patriotismus macht blind« (WA 33, seiner Identität fest; logisch und allgemein ordne er
36). Noll erinnert sich: »Der Vortrag fand im damals sich der Menschheit zu. Insofern erweist sich der
grössten Saal von Mainz statt, in der Liedertafel, und Mensch als Paradoxon und mit ihm die Gerechtigkeit
der Saal war völlig überfüllt, vor allem weil wir aus und die Gesellschaftsordnung: Die individuelle (kapi-
Angst, es finde sich zuwenig Publikum ein, die Schu- talistische) Freiheit kann nur durch die (sozialisti-
len benachrichtigt hatten und nun Dreiviertel der Zu- sche) Beschränkung der Freiheit des Einzelnen ge-
hörer aus Schülern bestanden, die endlich den grossen währleistet werden (vgl. 56–58).
Dürrenmatt sehen wollten, den sie in der Schule gele- Die Inkommensurabilität der »existentielle[n] Idee
sen hatten« (Noll 1984, 84). Im Nachlass erhalten hat der Freiheit« und der »logische[n] Idee der Gerechtig-
sich das 32-seitige Vortragsmanuskript. keit« (58) bedinge politisch sodann auch die Ideo-
logien als »Kosmetika der Macht« (63), erlaube die
Ideologie doch vom ›Ich‹ zum ›Wir‹ überzugehen, das
Inhalt und Analyse Emotionale und Existentielle mit dem Logisch-Politi-
schen zu verbinden (vgl. 67). Exemplarisches Beispiel
Der Titel des Monstervortrags ist vor allem ein thema- dafür: die Schweiz mit ihrer Ideologie der Passivität
tischer: Mit ›Gerechtigkeit‹, ›Recht‹, ›Dramaturgie‹, (vgl. 70) und der daraus folgenden ›Geistigen Landes-
›Politik‹ und dem im Adjektiv ›helvetisch‹ anklingen- verteidigung‹.
den Schweiz-Bezug benennt er die zentralen Inhalte Bleibt zuletzt die Thematik des Rechts, die in der
der Rede. zweiten Schachtelerzählung behandelt wird: Während
Der offenkundig philosophisch abstrakten Thema- eines Trinkgelages schwört der Kalif Harun al-Ra-
tik widmet sich Dürrenmatt allerdings nicht in einem schid unbedacht, noch in der Nacht mit einer schönen
bloß theoretischen Diskurs. Warum? Weil er ein ›dra- Sklavin des Wesirs zu schlafen. Die Sklavin allerdings
maturgischer Denker‹ (s. Kap. 87) sei: Sein Interesse ist noch Jungfrau und die Gesetze des Korans schrei-
gilt dem Simulacrum, dem Literatur gewordenen Mo- ben mehrtägige Riten vor, bevor der Beischlaf voll-
dell politischer Wirklichkeit, das ihren »inneren Span- zogen werden kann. Rat weiß ein hinzugezogener
nungsgehalt« und ihre »Regeln« offenlegt (vgl. WA 33, Rechtsgelehrter: Ein Sklave soll die Sklavin ehelichen
91 u. 92). Entsprechend zeichnet sich der Vortrag und sogleich wieder geschieden werden; mit einer ge-
strukturell durch Anklänge ans Erzählprinzip von schiedenen Frau dürfe der Kalif jederzeit schlafen.
Tausendundeiner Nacht aus: Der theoretische Rahmen Der Sklave aber verweigert die Scheidung. Es bleiben
wird über zwei Schachtelerzählungen entfaltet. zwei Möglichkeiten: den Sklaven hinzurichten (mit
Die erste Schachtelerzählung – der Prophet Mo- der Witwe dürfe man gleich ins Bett) oder der Sklavin

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50  Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht 191

die Freiheit zu schenken (eine Ehe zwischen Sklave med-Anekdote‹ alle nur erdenklichen Instanzen auf,
und Freier könne jederzeit geschieden werden). »Der die über ›Gerechtigkeit‹ und ›Recht‹ entscheiden
große Rechtsgelehrte wurde mit tausend Goldstücken könn(t)en: die unmittelbar Beteiligten, Zeugen, unbe-
belohnt, [...] der Sklave trotzdem gehängt, und der Ka- teiligte Beobachter, Gott, schließlich aber insbesonde-
lif Harun al-Raschid war mit der schönen freigelasse- re die Hörerinnen und Hörer des Vortrags, allen voran
nen Sklavin [...] allein« (106). Die Art und Weise, in nicht zuletzt die Leserinnen und Leser seiner ver-
der das Recht »von einer gehobenen Gesellschafts- öffentlichten Fassung, die sich vor die Frage gestellt se-
klasse gehandhabt« und für die eigenen Zwecke ge- hen: Was ist ›Recht‹, was ist ›Gerechtigkeit‹ und wie
nutzt wird, bedarf wohl, wie Dürrenmatt anmerkte, verhalten die Antworten auf die beiden Fragen sich zu-
tatsächlich »keines weiteren Kommentares« (103). einander? Zur Diskussion steht damit aber insbeson-
dere die Frage, wer etwas ›beobachtet‹, welche die No-
velle Der Auftrag wieder aufgreifen wird (s. Kap. 43),
Deutungsaspekte d. h. die Frage nach dem Perspektivismus von Welt-
wahrnehmung als solche. Was zurückbleibt, zeichnet
Nicht nur wegen der thematischen Funktion ist der Dürrenmatts Verhältnis zur Frage, wie das Recht Ge-
Titel Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht in- rechtigkeit gewährleisten könnte, aus: Skepsis.
teressant; er stellt auch drei Rätsel, die sich nur bedingt Die Forschung hat denn auch den Aspekt der
durch die Entstehungsgeschichte beantworten lassen. Gleichnishaftigkeit und die damit einhergehende
Tatsächlich war der Vortrag selbst in der ursprünglich Mehrdeutigkeit hervorgehoben. Zur Gleichnishaftig-
vorgetragenen Form schon vergleichsweise ›mons- keit sagt insbesondere der Jurist Bernhard Losch: Dür-
trös‹ überlang. Das Thema ›Recht und Gerechtigkeit‹ renmatts »Äußerungen können rechtlichen Grund-
(s. Kap. 77) beansprucht Zeit. Für keinen anderen satzüberlegungen literarisch zu Hilfe kommen und am
Vortrag hat Dürrenmatt sich zeitlebens erlaubt, mehr Gleichnis verdeutlichen, was anders nur mühsam le-
Zeit in Anspruch zu nehmen, war sich dabei aber sei- bendige Vorstellung wird« (Losch 1989, 343).
ner Gabe als Redner (s. Kap. 47) durchaus bewusst: Dürrenmatt selbst hat sich über das ausgebliebene
Diese Rede »ist in einer komödiantischen Form ge- Echo zur Buchpublikation des Monstervortrags aus-
schrieben; sie ist virtuos und verblüfft dadurch, daß drücklich beklagt (vgl. G 2, 105).
ich die Sache ständig verfremde« (G 2, 54). Die aus
dem tatsächlichen Vortrag hervorgegangene Druck- Literatur
Primärtexte
fassung hätte wohl sogar ein Dreifaches an Vortrags- Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht nebst einem
zeit in Anspruch genommen. helvetischen Zwischenspiel. Zürich 1969.
›Monströs‹, d. h. den üblichen Rahmen sprengend, Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem
ist aber auch Dürrenmatts Versuch, die Frage nach helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der
dem Spannungsverhältnis zwischen ›Gerechtigkeit‹ Politik. In: WA 33, 36–107.
[Gespräch mit] Peter André Bloch/Herbert Tiefenbacher
und ›Recht‹ nicht durch ein tatsächlich vor Gericht
[1973]. In: G 2, 92–108.
ausgehandeltes Fallbeispiel, also eine Causa, oder aber [Gespräch mit] Peter André Bloch/Rudolf Bussmann
abstrakt über eine übergeordnete Frage zu beantwor- [1971]. In: G 2, 40–57.
ten (etwa der nach ›Sühne‹ und dem daran gekoppel- Noll, Peter: Diktate über Sterben und Tod. Mit der Toten-
ten Verhältnis von Rache und Gerechtigkeitsempfin- rede von Max Frisch. München, Zürich 1984.
den): An die Stelle des ganz Konkreten oder ganz Ab-
Sekundärliteratur
strakten tritt bei ihm die ›Zufalls-Anekdote‹, die alles
Losch, Bernhard: Friedrich Dürrenmatt – »Die Gerechtig-
in der Schwebe hält. Eben diese zeichnet Dürrenmatt, keit ist etwas Fürchterliches«. In: Neue juristische
einmal mehr, als Dramatiker von Rang aus. Er denkt in Wochenschrift 42 (1989), 343–349.
Szenen: »Ich denke die Welt durch, indem ich sie
durchspiele« (WA 33, 91). Als Szene ruft die ›Moham- Martin Stingelin / Benjamin Thimm
192 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

51 Sätze über das Theater teure abschließend in Sieger und Besiegte eingeteilt
würden; die Scherze des Zirkusclowns hingegen die
Entstehungs- und Publikationsgeschichte »Urform der Komödie« (179), welche den Kampf des
Menschen mit den ihn umgebenden Gegenständen
Die Entstehung von Sätze über das Theater steht in en- zeige. Vergleichbar sind die zwei Formate, insofern
gem Schaffenszusammenhang mit dem ungleich sper- beide »als eine bewußte Nachahmung einer mensch-
rigeren Fragment Aspekte des dramaturgischen Den- lichen Wirklichkeit« (178) begriffen werden.
kens (WA 30, 104–120), dessen erste Entwürfe auf die Als nachgeahmte Wirklichkeit kann das Theater
Jahre 1964/65 datieren und die 1972 zur Publikation prinzipiell beliebig an Komplexität hinzugewinnen,
in einem Essay-Band befördert werden. Anders als je- was die abgebildete Handlung sowie ihre (körper-)
nes Fragment sind die Sätze über das Theater für einen sprachliche, personelle und performative Ausgestal-
öffentlichen Publikationskontext aufbereitet, erschie- tung angeht. Die Techniken, mit denen Dramen in
nen sie doch erstmals in kontinuierlicher Folge vom diesen Hinsichten künstlerisch organisiert sind, nennt
19.4. bis zum 30.8.1970 in zwanzig Nummern in der Dürrenmatt ›Dramaturgie‹. Der Begriff der Drama-
Zürcher Wochenzeitung Sonntags-Journal. Für die in turgie ist durch diese Definition einerseits an ganz
den Werkausgaben wiedergegebene Fassung, die 1976 konkrete und praktische Fragen des Stückeschreibens
im Dürrenmatt-Heft von Text + Kritik (50/51) er- und des Theaterbetriebs zurückgebunden, anderer-
schien, hat der Autor den Text überarbeitet. seits wird er auch zum analytischen Werkzeug politi-
Die Sätze über das Theater stehen in einem dreifa- scher Zeitdiagnostik.
chen Kontext: Zu lesen sind sie hauptsächlich als poe- Namentlich wird der Dramaturgiebegriff zunächst
tologische Selbstbehauptung eines politischen Thea- dazu verwendet, die Historizität theatraler Formen
terautors. Das Bedürfnis nach dieser Selbstversiche- zu bestimmen. Peter Handkes und Samuel Becketts
rung im Schreiben lässt sich auf die Krise in Dürren- dramatische Werke – später auch Szenen von Shake-
matts Werkbiografie zurückführen, die in der Mitte speare, Goethe, Kleist, Christian Dietrich Grabbe
der 1960er Jahre das ausgesprochen erfolgreiche und und Max Frisch – dienen dabei als Anschauungsbei-
früh schon kanonisierte Früh- vom kritischer rezipier- spiele. In einer Reflexion über Aristoteles’ Poetik und
ten Spätwerk trennt. In den Sätzen reagiert der Autor die dort getroffene Bestimmung der Tragödie als
deshalb mehr oder weniger explizit auch auf das Schei- »Nachahmung einer menschlichen Handlung« (ebd.)
tern seines Engagements für das Theater und die kul- arbeitet Dürrenmatt den historisch variablen Zu-
turjournalistische Kritik einzelner Uraufführungen sammenhang von Bühneninstitution und davon ab-
aus dieser Zeit. Nicht zuletzt entwickelt der Text das hängiger Darstellung politischer Wirklichkeit heraus.
›dramaturgische Denken‹ Dürrenmatts (s. Kap. 87) Die dramaturgische »Einheit von Bühne, Stoff und
entscheidend fort und weiter. Form« markieren für ihn die Quintessenz aus diesen
Überlegungen: Sie muss »schon beim Schreiben ei-
nes Stückes wirksam sein als der bewegliche Rah-
Inhalt und Analyse men, innerhalb dessen sich das dramaturgische Den-
ken und der dramaturgische Instinkt betätigen«
In 46 durchnummerierten ›Ab-Sätzen‹ von unter- (190).
schiedlicher Länge exponieren Dürrenmatts Sätze über Das Verhältnis der Wirklichkeit zu dem, was auf
das Theater auf ihrer allgemeinsten Ebene eine Ant- der Theaterbühne präsentiert wird, interessiert Dür-
wort auf die kunstphilosophische Frage, »wie es kom- renmatt in der Folge systematisch: Eingangs war die-
me, daß wir mit bewußt erfundenen Vorstellungen die ses Verhältnis anhand der ›Urformen‹ als Abbildung
Wirklichkeit zu beschreiben vermögen« (WA 30, 210). bzw. Nachahmung definiert worden, bevor mit Aris-
Teilweise in apodiktischem Gestus, teilweise mit anek- toteles’ Differenzierung von historiografischen und li-
dotischer Evidenz entwickelt der Essay die Funktion terarischen (d. h. faktualen und fiktionalen) Schreib-
von Theater, mit den Mitteln der Fiktion welthaltige weisen das Mögliche als der dramatisch relevante Vor-
Relevanz für ein Gemeinwesen zu generieren. stellungsraum eingeführt wurde. In Auseinanderset-
Der Begriff des Theatralen wird dabei zunächst zung mit den Kritiken zu Der Meteor (1966) einerseits
weit gefasst und auf seine kultursoziologischen Funk- und dramaturgischen Überlegungen von Max Frisch
tionen hin geöffnet. Das Freistilringen stelle, so Dür- andererseits (zu Biografie. Ein Spiel, 1968) stellt Dür-
renmatt, eine »Urform der Tragöde« dar, weil die Ak- renmatt die Wahrscheinlichkeit als die für seine Zeit

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_51
51  Sätze über das Theater 193

und sein Theaterschaffen entscheidende poetologi- Sätzen über das Theater den Wirklichkeitsbezug der
sche Größe heraus. dramatischen Handlung als zeitgemäß bestimmt. Un-
Anhand der minutiösen Rekonstruktion eines Au- bestritten ist in der Forschung, dass Dürrenmatt hier-
tounfalls demonstriert Dürrenmatt, dass die Wirklich- bei auf positivistisch-naturwissenschaftliche Kon-
keit dem Beobachter unter den Bedingungen kausallo- zepte rekurriert und sie, explizit von Hans Vaihingers
gischer Determination in der Form sich steigernder Philosophie des Als Ob (1911) inspiriert, erkenntnis-
Wahrscheinlichkeit entgegentritt. Dürrenmatt de- theoretisch auf Literatur überträgt (vgl. WA 30,
finiert: »[D]ie Wirklichkeit ist die Unwahrscheinlich- 210 f.). Die Fiktion als eine »Denktechnik« geht von
keit, die eingetreten ist« (205). Folglich besteht die »falschen Vorstellungen« aus, die dennoch »Richtiges
Aufgabe des Dramatikers darin, »daß er beschreibt, erreich[t]«: »Wird durch eine physikalische Fiktion
was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich un- die Wirklichkeit befragt, wird die Wirklichkeit durch
wahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen die künstlerische Fiktion künstlich hergestellt. Zur
würde« (207). Gesellschaftlich relevant wird die thea- Wirklichkeit, wie sie ist, wird eine künstliche Gegen-
trale Fiktion dadurch, dass die gesetzte Unwahrschein- wirklichkeit geschaffen, in der sich die Wirklichkeit,
lichkeit in einer deterministischen Kausalkette »die wie sie ist, widerspiegelt« (210).
schlimmstmögliche Wendung« nimmt: Durch diese Der Begriff der Dramaturgie wird Dürrenmatt da-
Konfrontation des künstlerischen Gedankenspiels durch zu einem epistemologischen und politischen
»mit dem Existentiellen« (209) erreicht Dürrenmatts Analyseinstrumentarium; in ihm kondensieren seine
Theater politische Aktualität. »Vorstellungen von den Möglichkeiten, Bedingungen
und vor allem Grenzen der Erkenntniskapazität der
Kunst« (Adams 2010, 212). Fraglich bleibt allerdings,
Deutungsaspekte ob Dürrenmatts Wahrscheinlichkeitsbegriff quanten-
theoretisch Indeterminiertheit meint (vgl. Emter
Verschiedene Argumente, die in Sätze über das Thea- 1995, 266) und damit an das auch werkbiografisch äl-
ter auftauchen, sind aus früheren poetologischen tere Konzept des ›Zufalls‹ anschließt (vgl. z. B. WA 7,
Einlassungen Dürrenmatts bekannt und markieren 91; WA 20, 68; s. Kap. 84) oder neu und chaostheo-
Grundpfeiler seines dramaturgischen Denkens: Die retisch »als die Unmöglichkeit in Erscheinung [tritt],
»schlimmstmögliche Wendung« (WA 7, 91; s. Kap. 98), komplexe Zusammenhänge zu überschauen oder Zu-
die seine Stücke berühmterweise nehmen, ist als Selbst- standsparameter hinreichend genau berechnen zu
beschreibung seit Die Physiker (1962) virulent. Nach können« (Adams 2010, 225 f.), wie es Dürrenmatts
einer ganzen Reihe von poetologischen Texten und Re- Beispiel des Autounfalls nahelegt.
den seit 1955 machen die Sätze über das Theater zudem
erneut deutlich, dass Dürrenmatt jede dogmatische Literatur
Primärtexte
Ästhetik, die in einen politischen Klartext münden Sätze über das Theater. In: Sonntags-Journal, 19.4–
würde, dezidiert ablehnt. Die »marxistische, gesell- 30.8.1970.
schaftskritische, engagierte Dramatik« erscheint ihm Sätze über das Theater. In: Text + Kritik 50, 51 (1976), 1–18.
als weltanschauliches »Wunschdenken« (WA 30, 198), Sätze über das Theater. WA 30, 176–211.
weil der Wirklichkeitsbezug dieser Stücke (z. B. von
Bertolt Brecht) ein idealistischer bleibt. In gleicher Sekundärliteratur
Adams, Dale: Chaos, Zufall und Mathematik. Friedrich
Weise verwahrt er sich gegen die (journalistische) Kri- Dürrenmatts Weltbild und Dramaturgie. In: Limbus. Aus-
tik, dass in seinen ›tragischen Komödien‹ allein grotes- tralisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kul-
ke Welten zur Darstellung kämen und eine Kritik ge- turwissenschaft 3 (2010), 211–231.
sellschaftlicher Verhältnisse dadurch verunmöglicht Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezep-
würde: Wichtig ist Dürrenmatt demnach einzig, dass tion der modernen Physik in Schriften zur Literatur und
Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970).
seine Stücke »in sich stimmen, eine konsistente Eigen-
Berlin 1995.
welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten bilden« (Weber Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
2006, 43). Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
Neu gegenüber früheren Überlegungen ist das Be-
griffspaar des ›Un-/Wahrscheinlichen‹, das in den Simon Aeberhard
194 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

52 Zusammenhänge mäldes« montierter Bausteine, »all dieser geistigen


Massive, Eisklötze, Gletscherzungen, Kulme und Fels-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte zinken, die ich da hingespachtelt habe« (42). Der in
vier Teile und 19 Abschnitte gegliederte Essay ist in-
Dürrenmatts Essay über Israel hatte als unmittelbaren sofern ein ›Versuch‹, »Zusammenhänge« unsystema-
Anlass eine Rede, die er auf Einladung der israelischen tisch und offen aufzuzeigen, ohne finale Antworten
Botschaft in der Schweiz bzw. des israelischen Außen- finden zu können. Die Form des Essays ist gleichzeitig
ministeriums im Herbst 1974 an drei Universitäten in die Antwort auf die Grundsatz-Problematik der Dis-
Israel gehalten hatte. Im Vorfeld trat Dürrenmatt in krepanz zwischen Konzeption und Erlebnis Israel:
kritischen Situationen öffentlich für den Staat Israel Die ›geschlossene Form‹ wäre gerade nicht angemes-
ein. So hielt er unmittelbar nach dem Sechstagekrieg sen gewesen. Angemessen erschien ihm vielmehr ein
(5.–10.6.1967) am 17.6.1967 in Zürich die Rede Israels multiperspektivisches Verfahren von politischer Kon-
Lebensrecht. Während des Jom-Kippur-Krieges (6.– zeption, religionsge­schichtlichem Abriss, autobiogra-
25.10.1973) äußerte er sich im Artikel Ich stelle mich fischem Diskurs und literarischer Erzählung, das von
hinter Israel (22.10.1973, u. a. in der NZZ). Im Kontext einer sehr präsenten subjektiven Stimme orchestriert
jener beiden Kriege stellte sich Dürrenmatt dezidiert wird, die prozesshaft zwischen Erleben, Nachdenken,
»hinter« das Land, dessen Existenzrecht von den be- Konzipieren und Forschen eine nicht-erreichbare
nachbarten Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien Wahrheit sucht.
nicht nur verbal, sondern auch durch militärische Of-
fensiven in Abrede gestellt wurde.
Dürrenmatt wurde im Oktober und November Inhalt und Analyse
1974 vom israelischen Außenministerium zu Gast-
vorlesungen nach Israel eingeladen. Zunächst hielt er Dürrenmatts zentrales Anliegen ist als solches ebenso
an der Hebräischen Universität Jerusalem eine in der klar wie überschaubar, allerdings dennoch kaum zu
Schweiz vorbereitete Rede. Doch unter dem Eindruck bewältigen: Im Ansatz analog zu seinen Reden von
der politischen Realität, den er auch dank seines israe- 1967 und 1973 geht es um die Legitimität des Staates
lischen Schriftstellerkollegen Tuvia Rübner gewann, Israel, dessen Verteidigung angesichts seiner Bedro-
wurden vorgefasste Vorstellungen verschoben und in hung. Dabei war Dürrenmatts »große Sorge um das
Frage gestellt. Für die Auftritte in Haifa und an der Land« (117) nicht nur durch die kriegerischen Ag-
Universität in Be’er Sheva, wo er auch zum Ehrenmit- gressionen der arabischen Nachbarn Israels begrün-
glied ernannt wurde, arbeitete er den Text laufend um det. Seine Kritik richtete sich auch gegen den ›Antizio-
(vgl. die verschiedenen Versionen: SLA-FD-A-m209). nismus‹ und die offenen »Nichtexistenz«-Wünsche
Im Essay wird die damit verbundene Not thematisiert: (19) gegenüber Israel, die vor allem nach dem Jom-
»Ich [...] beginne die Rede wieder von vorn, sinnlos ei- Kippur-Krieg sowohl von sozialistischen Staaten wie
gentlich, zerschneide die Rede, montiere sie um, [...] der Sowjetunion als auch von der westeuropäischen
schreibe Ergänzungen, klebe sie neu zusammen, ver- Linken laut wurden.
pfusche sie hoffnungslos« (WA 35, 126). Aber auch Gegen eine solche reale wie symbolische Negation
nach der Rückkehr aus Israel arbeitete er über Monate behauptete Dürrenmatt das Existenzrecht Israels gera-
an der Rede weiter, die nun zu einem »Monstervortrag dezu als ein »Naturrecht« (WA 35, 211), wobei er dies
[...]  über Israel« (G 2, 162) anwuchs: »[L]ängst zu- – weil sich seine Solidarität nicht mit seiner grundsätz-
rückgekehrt [...] schreibe ich immer noch an meiner lichen Kritik des Nationalismus verträgt – mit größt-
doch schon längst gehaltenen Rede [...]. Besessen vom möglichem Aufwand zu begründen versuchte: Denke
Wunsch, sie zu beenden, zwingt sie mich, bei ihr zu er zwar »über den Nationalismus ausgesprochen bös-
verweilen, bin ich doch neugierig, wohin mich der artig«, so stehe er dennoch für Israel ein, weil er »die-
Sturmwind des Landes Israel noch treiben wird« (WA sen Staat für notwendig halte« (WA 35, 20). »[N]ot-
35, 12 f.). So wurde aus der Rede ein Essay. 1976 er- wendig« nicht nur aus politisch-historischen Grün-
schien dieser in Buchform unter dem Titel Zusam- den, sondern weil er überhaupt Zeuge »der schreck-
menhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption. Fertig lichen Unzulänglichkeit dieser Welt« sei (45). Auch
mit dem Stoff wurde Dürrenmatt aber nicht. Die wie- diese allgemeine Wendung forderte die digressive
derholt thematisierten Suchbewegungen münden im Form des Essays: Er umgreift die Stellung der Juden in
Bild eines geradezu »gewalttätig hingeworfenen Ge- der antiken orientalischen Geschichte, im abendlän-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_52
52  Zusammenhänge 195

dischen Christentum und der Kirche, in der Geschich- lästinenser erst Mitte der 1990er Jahre – durch Yizhak
te und Gegenwart des Islams, aber auch in der Moder- Rabin – erste Akzeptanz fand. Die Aussicht auf eine
ne der Aufklärung und den politischen ›Ideologien‹ brüderliche Nachbarschaft brachte Dürrenmatt nicht
des 19. und 20. Jahrhunderts sowie nicht zuletzt auch zuletzt in der dem Essay eingelagerten Erzählung Abu
im aktuellen palästinensisch-israelischen Konflikt. Die Chanifa und Anan ben David (82–87 u. 148–162) zum
›Zusammenhänge‹, die Dürrenmatt auf diese Weise Ausdruck.
aufzeigte, bestehen auch in einer jahrhundertealten
Geschichte der Vorurteile, Ausgrenzung und Verfol-
gung der Juden. So hätten sich lediglich »die Begrün- Deutungsaspekte
dungen, die man gegen [die Juden] ins Feld führt« ge-
ändert: »Lagen sie einst im Glauben, später in der Ras- Die Form des Essays erlaubte es Dürrenmatt, den Zu-
se, liegen sie nun im Imperialismus [...]. Selbst in der griff auf den Gegenstand inhaltlich umfassend, zu-
Schweiz werden an den Ersten-Mai-Feiern Anti-Is- gleich aber formal unsystematisch zu behandeln. Vor
rael-Parolen herumgetragen, zusammen mit Spruch- allem ist die Darstellungstendenz des aus unter-
bändern gegen den Faschismus; nur verwunderlich für schiedlichen Bausteinen bestehenden Textes, zu dem
den, der noch nicht begriffen hat, dass jeder Ideologe auch scheinbar nebensächliche Reiseerlebnisse und
jede Ideologie annehmen kann« (95). Anekdoten gehören, eine dezidiert subjektive, enga-
Mit dieser ideologiekritischen Absicht beleuchtet giert teilnehmende. Der Ausgangspunkt ist eine »Sor-
Dürrenmatt die Perspektive der Palästinenser, die auch ge« (117), das Ziel sind zugespitzte Thesen. Besonders
in der arabischen Welt keineswegs als Machtfaktor gal- markant ist diejenige, dass der Legitimationsgrund
ten. Vielmehr erscheinen sie nach Dürrenmatt, in dem des Staates weniger ein intrinsischer sei, sondern pri-
Punkt vergleichbar mit Israel, als Spielbälle eines glo- mär von außen komme: Der Staat Israel lebe nicht nur
balen Machtgefüges im Zeitalter des Kalten Krieges, »aufgrund seiner Ideologie«, dank »des Zionismus«
innerhalb dessen die Palästinenser von der UdSSR in- oder »einer Gedankenkonstruktion [...], sondern
strumentalisiert werden, wie Israel von den USA. Dass auch auf Grund einer grausamen Notlage« (45). In ei-
die »arabische Welt« mit dem Staat Israel »ein echtes nem Interview mit Rübner spitzte Dürrenmatt 1979
politisches Problem« habe, sei zwar nachvollziehbar. jene These noch zu: »Ich glaube nicht, dass der Zionis-
Doch dahinter stehe nach Dürrenmatt »nicht nur ein mus zur Gründung Israels führte, sondern der Welt-
neurotisches« Problem – Israel als »Haßobjekt«, »son- schock darüber, was da geschah«, also Hitler und
dern darüber hinaus ein religiöser Konflikt« (49): die »Auschwitz« (G 2, 299).
Auseinandersetzung des Islam mit einer bedrohlichen Die These eines Judentums ex negativo schließt teils
westlichen Moderne, mit der Israel identifiziert wurde. an die Theorie des Antisemitismus an, die Jean-Paul
In der Beziehung zu Israel sah Dürrenmatt dennoch Sartre in seinen Réflexions sur la question juive (1946)
den besten Partner der Palästinenser, dies auch des- formuliert hatte. Sartre sieht die Juden nicht durch
halb, weil erst Israel ihnen die Möglichkeit der Selbst- sich selber, sondern durch den Blick von außen de-
konstituierung gab: »Die Existenz des jüdischen Staa- finiert. Dürrenmatt wiederum variierte diese Theorie,
tes bekommt damit den politischen Sinn, den Palästi- indem er den Staat Israel – radikal zugespitzt – als ein
nensern zu ihrem Recht zu verhelfen: zu ihrem Staat. ironisches Ergebnis des Nationalsozialismus verstand:
So klein dieser Landstrich ist, den wir Palästina nen- »So paradox es ist, Hitler ist die Berechtigung, daß es
nen, [...] er hat Platz für zwei Staaten, wie er Platz für den Staat Israel gibt«; so »schweißt dieser größte aller
viele Kulturen hat. Das setzt voraus, daß die Palästi- Pfuscher unabsichtlich die Juden zu einer Nation zu-
nenser den jüdischen Staat anerkennen und die Juden sammen« (WA 35, 44).
den palästinensischen. Mit Jerusalem als beider In einer vorsichtigen Replik monierte Rübner ge-
Hauptstadt, aber dennoch ungetrennt. Das scheint genüber dieser Zuspitzung, dass der israelische Staat
utopisch. Das Zukünftige ist immer utopisch« (112). nicht auf eine passive und negative Zuschreibung re-
Utopisch war dieser Vorschlag damals sowohl für die duzierbar sei und betonte die Rolle des Zionismus als
palästinensische Seite, die Israel erst 1993 als Staat an- intrinsischen Faktor (vgl. G 2, 301).
erkennen sollte, als auch für die israelische Seite, auf Des ungeachtet wurde Dürrenmatts Essay als wich-
der – auch wenn es schon seit den 1920er Jahren For- tige Geste der Solidarisierung verstanden. Auch wenn
derungen nach einem ›binationalen‹ Staat gab – die er 1979 beklagte, dass keine hebräische Übersetzung
Vorstellung einer politischen Selbstständigkeit der Pa- zustande gekommen war (vgl. ebd. 297), erhielt er
196 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

große Anerkennung. 1977 wurde er Ehrendoktor der Kreutner, Jonathan: Schweiz und Israel. Auf dem Weg zu
Hebräischen Universität Jerusalem, im gleichen Jahr einem differenzierten historischen Bewusstsein. Zürich
erfolgte in Frankfurt a. M. die Verleihung der Buber- 2013.
Lewitscharoff, Sibylle: Dürrenmatt in Israel. In: Du 862
Rosenzweig-Medaille, anlässlich der er die gewichtige (2015), 66–71.
Rede Über Toleranz (WA 33, 125–149) hielt. Mayer, Hans: Dürrenmatt in Jerusalem. In: Ders.: Frisch und
Dürrenmatt. Frankfurt a. M. 1992, 56–67.
Literatur Shoham, Chain: Der Besuch der alten Dame – der doppelte
Primärtexte Besuch in Israel. Aspekte der Rezeption des Stückes. In:
Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption. Gerhard P. Knapp/Gerd Labroisse (Hg.): Facetten. Studien
Zürich 1976. zum 60. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts. Bern 1981,
Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption. WA 259–273.
37, 9–162. Spycher, Peter: Friedrich Dürrenmatts Israel-Essay. Reli-
Israels Lebensrecht (1967). WA 34, 29–34. giöse Konzeption und Glaubensbekenntnis. In: Gerhard P.
Ich stelle mich hinter Israel (1973). WA 34, 123–125. Knapp, Gerd Labroisse (Hg.): Facetten. Studien zum
[Gespräch mit] Heinz Ludwig Arnold/Horst Tim Lehner 60. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts. Bern 1981, 243–
[1976]. In: G 2, 183–191. 257.
[Gespräch mit] Tuviah Rübner [1979]. In: G 2, 285–303. Wieckenberg, Ernst-Peter: Friedrich Dürrenmatts Israel-
Buch. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Juden-
Sekundärliteratur tums 15 (1976), 60, 7266–7270.
Améry, Jean: Friedrich Dürrenmatts politisches Engage-
ment. Anmerkungen zum Israel-Essay Zusammenhänge. Andreas Kilcher
In: Text + Kritik 56 (1977), 41–48. 
53 Nachgedanken 197

53 Nachgedanken renmatt Prokrustes als Archetypus des ideologischen


Politikers literarisiert: Aus der ›in sich‹ logisch-ratio-
Entstehungskontext nalen, aber ›an sich‹ gesetzten Ideologie der Gleichheit
und Gerechtigkeit hackt dieser den Riesen die Beine
Die Nachgedanken unter anderem über Freiheit, ab, die Nicht-Riesen werden gestreckt; am Ende sind
Gleichheit und Brüderlichkeit in Judentum, Christen- beide verkrüppelt, ergo gleich (vgl. WA 35, 181). The-
tum, Islam und Marxismus und über zwei alte Mythen seus klärt Prokrustes – ihn erschlagend – schließlich
sind vom September bis Oktober 1980 im Rahmen der darüber auf, dass es nicht darum gehe, alle gleich zu
Re-Lektüre des Essays Zusammenhänge (1976) ent- machen, sondern ein Gesetz zu schaffen, vor dem alle
standen und diesem als Erstpublikation in der Werk- gleich seien (vgl. 184). Wenn nun das »rationale
ausgabe 1980 beigefügt. Dürrenmatt wollte Zusam- Recht« – wie Dürrenmatt ableitet – in der Instanz der
menhänge auch im Bewusstsein dafür kaum ver- Justiz, um gerecht zu bleiben, »immer von der Wirk-
ändern, dass die inhaltlichen (und textökonomischen) lichkeit neu überprüft werden können« muss, so lässt
Folgen eines erneuten Eingriffs in diese extensiv um- dies das ›an sich‹ gesetzte »dogmatische Recht« (187)
geschriebene Rede »unabsehbar gewesen« wären (WA etwa der katholischen Kirche oder des – im Text prio-
35, 167). Gleichzeitig nennt er mit seinem Einstein- ritär kritisierten – Marxismus gerade nicht zu. In phi-
Vortrag von 1978 einen wichtigen Impuls für die ge- losophisch-politischen, historischen, aber auch ak-
sonderte Weiterentwicklung des Motivkomplexes tuellen, den Nahostkonflikt betreffenden Exkursen
(ebd.), wobei er auch die antiideologischen und -dog- kommt Dürrenmatt schließlich auf Israel zu sprechen,
matischen Gedanken aufnimmt, die er – z. B. in Über wobei er auch hier an die Zusammenhänge anschließt:
Toleranz – ausgehend von seiner Auseinandersetzung Das aus »Naturrecht« entstandene Israel schaffe im
mit Karl Popper oder Hans Vaihinger entfaltet hat gleichen Zug das »Naturrecht« der Palästinenser
(vgl. WA 33, 127). (211), beide seien damit »aufeinander angewiesen«
(214); werde aus der »politischen Auseinandersetzung
eine religiöse«, werde »das Problem unlösbar« (213).
Inhalt und Analyse Ausgehend von solchen, hier exemplarisch he-
rausgearbeiteten Gedankengängen fächert Dürren-
Dürrenmatt nimmt die im Einstein-Vortrag anklin- matt seine Ideologiekritik multiperspektivisch auf.
gende Unterscheidung von »Kausalität« und »Deter- Das schon im umständlichen Titel programmatisch
minismus« (vgl. z. B. WA 33, 150 f.) zum Anlass, seine gesetzte »unter anderem« weist auf die textkonstituti-
Ideologiekritik epistemologisch zu extrapolieren (vgl. ve Verschachtelung verschiedenster inhaltlich aber
WA 35, 167). Methodisch impliziere »Kausalität« als auch formal interferierender Blickwinkel: Essayisti-
empirischer Begriff die Induktion, »Determinismus« sches wechselt mit Passagen in wissenschaftlich-ana-
als logischer die Deduktion (ebd.). In dieser Dialektik lytischem Stil, in die wiederum biografische Anekdo-
entwickelt Dürrenmatt das für den Text zentrale ten (vgl. z. B. 214 f.) oder selbstreferentielle Schreib-
Denkmodell: Ein Diktum Einsteins (vgl. auch WA 33, und Lektüreszenarien (vgl. z. B. 215 f.) eingewoben
180 f.) besage nämlich, dass die Sätze der Mathematik sind. Dürrematt literarisiert parabelartig Stoffe aus der
nicht sicher seien, insofern sie sich »auf die Wirklich- Mythologie – neben der rahmenden Geschichte des
keit bezögen, [...] und insofern sie sicher seien, bezö- Prokrustes (vgl. 180–185 u. 218 f.) wird auch der Sisy-
gen sie sich nicht auf die Wirklichkeit« (WA 35, 171). phos-Mythos als Denk- und Darstellungsmöglichkeit
Daraus leitet Dürrenmatt den Gedanken ab, dass ma- genutzt (vgl. 216 f.) – oder erläutert etwa die Abhän-
thematische Modelle »nicht ›an sich‹, gemessen an ei- gigkeitsverhältnisse der Trias Freiheit, Gleichheit und
ner Wirklichkeit, sondern ›in sich‹, gemessen an sich Brüderlichkeit anhand eines Gleichnisses aus der As-
selber, ›sicher‹« seien (ebd.). Dieses Denkmodell trophysik (vgl. 198–202). Diese offene, subjektiv ge-
überträgt er auf den (auch politisch gedachten) Be- brochene und multiperspektivische Form wird per-
reich der Religionen: »Als Wahrheiten ›in sich‹ begrif- formativ gewissermaßen zum ›Dogma‹ seiner anti-
fen« seien diese »rational, notwendige Fiktionen; be- dogmatischen Kritik: Die groß angelegten ›Deduktio-
trachten sie sich als Wahrheiten ›an sich‹, werden sie nen‹ seines eigenen ›récit‹ lässt Dürrenmatt in der
irrational« (179), und das heißt auch dogmatisch und grotesken Anekdote enden, dass die nektarschlürfen-
ideologisch. Das »Prokrustesbett der Ideologien« den, von der (in Theseus anklingenden) Rationalität
(WA 34, 123) findet hier seine Figuration, indem Dür- der Menschen etwas desillusionierten olympischen

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_53
198 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

Götter den Beweis ihrer Unsterblichkeit erleichtert in menhangs mit dem Stoffe-Projekt oder etwa mit der
einem Vortrag des Schweizer Bestseller-Autors und kritischen Verdichtung theologisch-religionsphiloso-
Außerirdischen-Spezialisten Erich von Dänikens er- phischer und naturwissenschaftlicher Gedanken und
halten, der per Sender ›Erde 1‹ in den Olymp übertra- Denkmodi im Spätwerk bleibt ein Desiderat.
gen wird (vgl. 218 f.).
Literatur
Primärtexte
Albert Einstein. In: WA 33, 150–172.
Positionen der Forschung Nachgedanken unter anderem über Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit in Judentum, Christentum, Islam und
Annette Mingels, die selber eine umfassende Studie Marxismus und über zwei Mythen. In: Werkausgabe in
zum Israel-Essay und den Nachgedanken im Bezugs- dreißig Bänden, Bd. 29. Zürich 1980, 163–219.
Nachgedanken. In: WA 35, 163–219.
feld von Dürrenmatts Kierkegaard-Rezeption liefert,
Über Toleranz. In: WA 33, 125–149.
erachtet diese als ein wenig beachtetes »Schlüssel- Zusammenhänge. In: WA 35, 9–162.
werk[...]« (2003, 3). Die Texte wurden bisher vorwie-
gend in ihrer (israel-)politischen Dimension rezipiert. Sekundärliteratur
Eine Untersuchung ihres (gerade formalen) Zusam- Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln,
Weimar, Wien 2003, bes. 109–240 u. 339–348.

Simon Morgenthaler
54  Der Mitmacher. Ein Komplex 199

54 Der Mitmacher. Ein Komplex lose mit dem Stück in Beziehung stehen, aber dazu
dienen, den geistigen Grund zu umreißen, auf dem
Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Autor seine Komödie geschrieben hat. Wichtige
Digressionen, die sich nicht unmittelbar auf das Stück
Der Schriftsteller Hugo Loetscher bezeichnete den beziehen, sind erstens die Schilderung eines Besuchs
Mitmacher-Komplex in seiner Rede zu Dürrenmatts Dürrenmatts im Forschungszentrum CERN bei Genf
60. Geburtstag als »eines der berühmten Bücher der während der Arbeit am Nachwort (im ›Doc‹-Ab-
neueren deutschsprachigen Literatur« (1990, 107). schnitt), zweitens die kultur- und literaturgeschicht-
Nur habe es sich noch nicht herumgesprochen. In der liche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der
Tat gehört der Komplex zu den am wenigsten rezipier- Liebe (im ›Ann‹-Abschnitt), drittens die Skizze der
ten und am meisten unterschätzten Texten des Autors. Kosmogonie und menschlichen Evolution einerseits,
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit publizierte Reflexionen zu Utopie, Marxismus und Ideologie,
Dürrenmatt drei Jahre nach dem katastrophalen Miss- Anarchismus und Terrorismus andererseits (im ›Bill‹-
erfolg seiner Komödie Der Mitmacher (UA 1973) das Abschnitt) und viertens schließlich die Dramaturgie
Stück als Teil eines größeren Textzusammenhangs, der des ›ironischen Helden‹ (im ›Cop‹-Abschnitt). So ent-
den vollständigen Titel Der Mitmacher. Ein Komplex. steht ein mäandrischer Erzähl- bzw. Argumentations-
Text der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen, Berichte, duktus, der die Lesenden vom Stück zu existentiellen,
Erzählungen trägt. Gegliedert ist er in den Dramentext, politischen und wissenschaftlichen Fragen und zur
das Nachwort (mit einem eigenen Vorwort zum Nach- zeitgeschichtlichen Realität und dann unvermittelt
wort) und das Nachwort zum Nachwort, wobei jeder wieder direkt zum Stück zurückführt.
dieser drei Hauptteile etwa ein Drittel des Gesamt- Das Nachwort zum Nachwort – in der Erstausgabe
umfangs des Buches ausmacht. In das Nachwort ist die ein absatz- und abschnittloser Textblock – wechselt
Erzählung vom CERN integriert, während das Nach- dagegen mehrfach von reflektierenden zu autobiogra-
wort zum Nachwort u. a. die zwei Erzählungen Smithy fischen und erzählerischen Teilen. Es setzt auf einer
und Das Sterben der Pythia enthält. weiteren Reflexionsstufe ein, indem es das Nachwort
Für die Werkausgabe von 1980 nahm Dürrenmatt und die Auseinandersetzung des Autors mit seinem
– neben geringfügigen stilistischen Eingriffen – nur Stoff bzw. Stück vor und nach der Uraufführung zum
Änderungen im Zusammenhang mit der Dramen-Fi- Thema macht. Nach Überlegungen zu Charakter und
gur Jack vor. Er integrierte den Monolog, der in der Sinn des Nachworts kommt das Erzähler-Ich auf die
Erstausgabe des Mitmacher-Komplexes noch im Nach- Prozesshaftigkeit der Beziehung von Autor und Stoff
wort stand, ins Stück selbst und schrieb für das Nach- zu sprechen; ausgehend von den biografischen Ein-
wort den Text über die verschiedenen möglichen rea- drücken (eine Reise nach New York 1959), die zur In-
len Vorbilder Jacks neu (vgl. WA 14, 171–178). vention des Stoffes führten, »rekonstruiert« (261) er
als Binnenerzählung die ursprüngliche Novellenfas-
sung (Smithy). Noch einmal kehrt der Erzähler an-
Inhalt und Analyse schließend zum Stück und zum Phänomen des ›iro-
nischen Helden‹ und damit zum Theater zurück: Der
Die schwarze Komödie um den Leichenvernichter weitere Text dreht sich um die Frage nach dem moder-
Doc wird hier als bekannt vorausgesetzt (s. Kap. 33). nen, subjektivierten Bewusstsein (für das der ›iro-
Das Nachwort entwickelt sich aus einem Bedürfnis nische Held‹ steht) und nach der einer entmythologi-
nach Erläuterung und Rechtfertigung des auf der sierten Welt adäquaten Dramaturgie. In diesen Zu-
Bühne gescheiterten Stücks; es ist das Produkt einer sammenhang fügt sich auch die Binnenerzählung Das
Krise und zugleich die Antwort darauf. Sterben der Pythia – eine Travestie des Ödipus-Stoffes
Das Nachwort folgt in seiner Gliederung – nach – und die darauffolgende Kritik an Brechts Dramatur-
einleitenden allgemeinen Bemerkungen zur Bühne, gie (bzw. dem ihr zugrundeliegenden Weltbild) ein.
zur Beleuchtung, zur Thematik des ›Mitmachens‹ so- Der Schluss des Textes thematisiert das Nachwort
wie zu den Monologen – dem Verlauf des Stücks; es und die Auseinandersetzung mit dem Mitmacher-
hat den Charakter eines Kommentars zu den Haupt- Stoff als Denkprozess und als geistige Reise des Au-
figuren und Szenen. Doch dieser tritt in ein eigenarti- tors, die an den Ausgangspunkt zurückführt. In einem
ges Wechselspiel mit essayistisch-reflektierenden und fiktiven Dialog des Autors mit einem Leser wird hier
autobiografischen Exkursen, die teilweise nur noch (implizit) die prozesshafte Schreibweise durch den Be-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_54
200 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

zug auf ein dialektisches Denken gerechtfertigt, das des Helden ist das Abenteuer des Autors mit seinem
keine endgültigen Wahrheiten kennt, sondern durch Stück bzw. seinem Stoff: »Denn die Stücke, in die man
den Zweifel permanent in Bewegung gehalten wird. sich einläßt, sind nun einmal Affären, mehr oder we-
Der Mitmacher-Komplex ist ein Werk des Über- niger glückliche Liebesgeschichten mit Stoffen« mit all
gangs: Zum einen bildet er eine rückblickende Publi- ihren Stadien vom Verlieben bis zur Scheidung; »so ist
kation und Erläuterung des Stücks Der Mitmacher, auch ein Stoff etwas anderes als Idee oder als eben ge-
zum andern – und das ist die literarisch entscheidende schriebenes Stück oder als Theateraufführung oder als
Dimension – nimmt er die Form der Stoffe vorweg ein Stück, das dem Autor, nachdem es auf der Bühne
und begründet sie poetologisch. Er ist nicht ein loses durchgefallen war, zum Komplex wurde, oder als ein
Konglomerat, wie es der Untertitel des Buches sugge- Stück endlich, aus dessen Bannkreis der Autor getre-
rieren könnte, sondern ein dichtes Gefüge unter- ten ist, von dem er sich gehäutet hat, indem er es noch
schiedlicher Textarten. Die Binnentexte entwickeln einmal durchdachte, nicht um es vor der Welt, son-
im Gesamtkomplex einen anderen Sinnzusammen- dern um es vor sich selbst zu bewältigen« (229 f.).
hang und evozieren andere Deutungsperspektiven als Und am Ende des 100 Druckseiten langen Nach-
bei isolierter Aufführung, Publikation und Lektüre. worts zum Nachwort schließt Dürrenmatt den Bogen,
Der Text des Dramas, der als solcher bloß »Theater- indem er die Metapher des Abenteuers wieder auf-
partitur« bzw. »der erbärmliche Klavierauszug einer greift und sie mit jener »Reise [...], die mir dieser Stoff
Partitur« (WA 14, 97) zur szenischen Aufführung ist, auferlegte« (324), verbindet: »Doch fragt mich nun ei-
wird im Mitmacher-Komplex zum Lesedrama, das als ner, bevor ich schließe, gesetzt, er sei mir bis zu diesem
gelesener Text (bzw. imaginativ vorgestelltes Stück) Punkt gefolgt [...], wozu denn diese Reise, so antworte
seine Konkretisierung und Kontextualisierung findet. ich, des Reisens wegen; und fragt er, was ist dein
Die Novelle Smithy ist im Mitmacher-Komplex nicht Standpunkt, so antworte ich, der eines Reisenden«
einfach eine stofflich mit dem Stück verwandte Erzäh- (325). Die Reise besteht im Schreibprozess selbst. Da-
lung. Sie ist als 1959 entworfener Stoff dessen kreativer mit bildet der Mitmacher eine literarische Gestalt, die
Ausgangspunkt und zugleich und vielmehr noch eine in nuce das Modell für das ganze Stoffe-Projekt wird,
Variation des Dramas. Und die Ödipus-Travestie Das an dem Dürrenmatt zur gleichen Zeit arbeitet und
Sterben der Pythia erhält durch den Ko-Text des Mit- das im Zentrum seines Spätwerks steht: Der Prozess
macher-Dramas, das mit klassischen Formen spielt, des subjektiven Denkens wird zum Zirkel stilisiert,
und der Auseinandersetzung mit Brecht und dessen zur Rückkehr an den Ausgangspunkt, vergleichbar
Dramaturgie einen dramentheoretischen Deutungs- auch dem ›doppelten Cursus‹ einer mittelalterlichen
horizont: Die Figuren der Pythia und des Tiresias ste- âventiure (vgl. Weber 2007, 171). Der erste Durch-
hen in Analogie zu Dürrenmatt (bzw. dem Argumen- gang, die dramatische Bewältigung des Stoffes im Mit-
tationssubjekt) und Brecht und zugleich zu deren Po- macher-Stück, erweist sich als Scheitern und Selbst-
sitionen einer durch Zufälle oder durch Interessen ge- verlust, der eine erneute Aneignung in der Rückkehr
lenkten gesellschaftlichen Dynamik. zum Anfang und im wiederholten Durchgang erfor-
Dürrenmatt entwickelt im Mitmacher-Komplex ei- dert. »[I]ndem ich unvermutet, das Stück weiterden-
ne neue, prozesshafte Darstellungsform, die den Re- kend [...], ohne es eigentlich zu wollen, zu seinem Ur-
flexions- und Schreibprozess selbst zum Inhalt und sprung gelangte, komme ich mir vor, als sei ich durch
zur Form des literarischen Textes macht und – im Ge- ein Labyrinth gegangen und durch dieselbe Pforte, in
gensatz zur bislang praktizierten Dramenform – nicht die ich eingedrungen war, unvermutet wieder ins
einen von den Schlacken der Entstehung möglichst Freie geraten, wie Theseus einen Ariadnefaden benut-
gereinigten Endtext. Das eigene Unternehmen wird zend: die Erinnerung« (WA 14, 261).
bereits im Vorwort zum Nachwort als »Abenteuer im
Subjektiven« (100) charakterisiert. Dieses Schreib-
und Denkabenteuer entwickelt sich zugleich zum Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Abenteuer der Erinnerung mit der Rekonstruktion je-
nes Stoffes, den er 1959 in New York »vor [s]ich hin- Weber (2007) bemisst in seiner textgenetischen Dar-
gepfiffen« (263) hatte, von dem es nur einen kurzen stellung und Interpretation des Werkkomplexes der
Manuskriptansatz gab, und der die Keimzelle zum wiederholten Kierkegaard-Lektüre Dürrenmatts im
Drama Der Mitmacher bildete. Das eigene kreative Sommer 1973 entscheidende Bedeutung für die Werk-
Drama rückt damit ins Zentrum, die Liebesgeschichte entwicklung: Zwar war Søren Kierkegaards Denken in
54  Der Mitmacher. Ein Komplex 201

Existenzpositionen schon immer von großer Bedeu- geschichtliches Klima versteht, das vom Intellektuel-
tung für Dürrenmatts Schreiben, und in dieser Logik len (linke) politische Konfessionen fordert.
deutet der Autor retrospektiv die Figur Cop aus der Doch ist der Rückzug nicht ein Rückzug auf ei-
Komödie als ›ironischen Helden‹. Doch zugleich tritt nen weltfernen Subjektivismus: Die Schilderung des
eine neue Dimension hinzu, die er als »seltsame[n] CERN-Besuchs mit Albert Vigoleis Thelen ist zum ei-
Sprung vom Komödienschreiben ins komödiantische nen wie bereits die Komödien Die Physiker und Der
Denken« (WA 14, 228) bezeichnet. Insbesondere die Mitmacher ein »Aufweis des aller Erkenntnis inne-
von Kierkegaard in der Unwissenschaftlichen Nach- wohnenden Gefahrenpotentials« (Schrader 2016,
schrift zu den Philosophischen Brosamen dargestellte 59 f.), zum andern bildet sie eine Art Inszenierung ei-
und realisierte Existenz- und Erkenntnishaltung des ner wissenschaftlich informierten Skepsis gegenüber
sokratischen, subjektiv existierenden Denkers wird dem Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften:
prägend für die Entwicklung einer neuen literarischen Indem Dürrenmatt die Frage aufwirft, ob es sich viel-
Form. Sie inspiriert nicht nur die unkonventionelle, leicht bei dem kleinsten, masselosen Teilchen, das
›unförmige‹ Proportion des Textes mit dem giganti- man durch gigantische Experimente nachweisen wol-
schen Nachwort, sondern vor allem die Prosaform, die le, um »ein bloßes Gedankending« (WA 14, 118)
Dürrenmatt im Mitmacher-Komplex, im Israel-Essay handle, etabliert er eine Position, die dem Zusammen-
Zusammenhänge und insbesondere in den Stoffen rea- denken von individueller Erfahrung, wissenschaftli-
lisierte. Das subjektiv-existentielle und humoristisch- chen Modellen, Mythen und Fiktionen, wie es den
ironische Denken im Mitmacher-Komplex bestimmt Mitmacher-Komplex und das Spätwerk prägt, seine er-
die Kritik an einem Systemdenken, das bei Kierke- kenntniskritische Grundlage gibt (vgl. Weber 2007,
gaard auf den Hegelianismus des 19. Jahrhunderts be- 153–159).
zogen war, bei Dürrenmatt auf den zeitgeistigen Neo-
Marxismus, der die Diskurse der 1970er Jahre ins- Literatur
Primärtexte
besondere unter deutschsprachigen Intellektuellen Der Mitmacher. Ein Komplex. Zürich 1976.
prägte. Die Chance zur Freiheit liege im »Sich-zu- Der Mitmacher. Ein Komplex. WA 14.
rückziehen auf die eigene Angelegenheit« (210). Die-
ser Rückzug war genau das, was Dürrenmatt in dieser Sekundärliteratur
Zeit tat. Das Nicht-Mitmachen wird hier als Beharren Loetscher, Hugo: Ein Gedankendramaturg [1981]. In:
auf der eigenen geistigen Freiheit gegenüber Ideo- Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich
1990, 106–120.
logien verstanden, als Wagnis, »auf eigene Faust zu Schrader, Hans-Jürgen: Dürrenmatts Erzählung vom CERN.
denken [...], sei es noch so unvollkommen, metho- In: Dragoş Carasevici, Alexandra Chiriac (Hg.): Rezeption
disch stümperhaft, von Irrtümern verblendet, mit lo- im Lichte der Interdisziplinarität. Akten des Kolloquiums
gischen Schnitzern behaftet wie ein Straßenköter mit »Friedrich Dürrenmatts Rezeption im 21. Jahrhundert.
Flöhen« (212 f.). Störrisch beharrt der Autor auf sei- Eine Internationale Tagung anlässlich des 25. Todesjahres
des Dramatikers« (Jassy, 23.–25. November 2015). Kon-
nem bewusst dilettantisch-beschränkten, jedoch im
stanz 2016, 35–60.
Schreiben erarbeiteten Standpunkt und zieht sich auf Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
sich selbst zurück, im Zeichen einer subjektiven Ver- der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung.
antwortlichkeit für sich selbst, die sich auch als poli- Frankfurt a. M., Basel 2007.
tisch-antipolitische Manifestation, als Konzept der
Ulrich Weber
»wirkliche[n] Opposition« (213) gegen ein zeit-
202 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

55 Albert Einstein bellion« (ebd.). In den Anmerkungen ordnet Dürren-


matt Einstein und Spinoza zusammen mit Marx und
Albert Einstein. Ein Vortrag wurde am 24.2.1979 an- Freud ein in »eine der fruchtbarsten Denklandschaf-
lässlich einer Gedenkfeier zu Einsteins 100. Geburts- ten, die wir kennen«, nämlich in die »dreitausendjäh-
tag an der ETH Zürich gehalten. Ergänzt um die Skiz- rige Auseinandersetzung des jüdischen Denkens mit
ze zu einem Nachwort erschien er 1979 in Buchform. der ›Fiktion Gott‹« (WA 33, 178).
Dürrenmatt ist sich der Problematik seiner Sprecher-
position bewusst: »[U]nerbittlich als Laie [zu] reden«,
sei legitim angesichts der Tatsache, dass die Verkno- Determinismus vs. Kausalität
tung von Mathematik, Physik und Philosophie die
Spezialisten in die »Ghettos ihrer Fachgebiete« zu- In diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang
rücktreibe, wo sie »den Raubzügen der Techniker und fragt sich Dürrenmatt, warum Spinoza sein philoso-
der Ideologen ausgeliefert« (WA 33, 150) seien. Als phisches Weltbild more geometrico darstellte und wa-
Laie zu sprechen, sei auch angemessen, weil die Ver- rum Einstein angesichts der Schwierigkeiten seiner
anstalter wohl, wie bei einem Schau-Turnier mit ei- einheitlichen Feldtheorie »verzweifelt ausrief: ›Ich
nem Schachweltmeister, einen Laien als Gegner ge- brauche mehr Mathematik‹« (WA 33, 167). Seine The-
wählt hätten, nicht um zu sehen, wie schlecht er spiele, se: Es geschah aus Rebellion gegen einen unberechen-
sondern um die Meisterschaft des Meisters ins Licht baren Gott. Diese Rebellion habe Spinoza und Einstein
zu rücken: »[W]er sich mit Einstein beschäftigt, muß gezwungen, die Welt als determinierte zu konstruie-
sich ihm stellen, den Irrtum nicht fürchtend. Ihn zu ren. Um diesen Sachverhalt plausibel zu machen, un-
belächeln, ist Ihr Recht, ihn zu begehen, das meine« terscheidet Dürrenmatt zwischen »Determination«
(172). Im Laufe der Rede behält Dürrenmatt das und »Kausalität«. Mathematisch-geometrisch deter-
Schachspiel als Leitmetapher bei (s. Kap. 79) und baut minierte Zusammenhänge sind nicht kausal, d. h. sie
sie zu einer komplexen Allegorie des Verhältnisses sind nicht erst nachträglich durch eine Kette von Ur-
von Denken und Wirklichkeit aus (vgl. Mingels 2003, sachen und Wirkungen erklärbar, sondern sie be-
326–332). Dürrenmatt weiß: »Das Gedankenexperi- anspruchen zeitlose Evidenz: »Nur in einer kausalen
ment ist nicht ganz einfach« (WA 33, 163); es geht ihm Welt ist es sinnvoll, von einer Wirkung auf eine Ursa-
darum, »mit Hilfe einer Parabel das Schicksal seines che zu schließen; in einer deterministischen, in einer
[Einsteins] Denkens nachzuzeichnen« (ebd.). rein geometrischen Welt etwa, wäre die Behauptung,
das rechtwinklige Dreieck sei die Ursache des pythago-
reischen Lehrsatzes, Unsinn« (156). Dieses Argument
Einsteins Rebellion steht in engem Zusammenhang mit Dürrenmatts Dra-
maturgie der (Un-)Wahrscheinlichkeit, die er in Sätze
Um als Laie nicht »kurz nach Eröffnung des Spiels ein über das Theater (1970) entwickelt hat: »Betrachtet
Torenmatt zu begehen« (151), verzichtet Dürrenmatt man den Unfall dramaturgisch, so setzt er sich auf den
darauf, Einstein als Physiker in den Diskurs der Phy- ersten Blick aus lauter Zufälligkeiten zusammen [...].
sik einzuordnen. Vielmehr versucht er zu ergründen, Vom Unfall her nach rückwärts gesehen führt zum
warum dieser wiederholt bekennt, »er glaube an Spi- Unfall eine einzige Kausalitätskette« (WA 30, 204 f.).
nozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Die Kausalitätskette, die nur retrospektiv erkennbar
Seienden offenbare« (157). Dürrenmatt stellt dieses ist, stellt für Dürrenmatts Erkenntnis-Konzept das ge-
Bekenntnis in den Zusammenhang mit Einsteins naue Gegenstück zur Weltvision der mathematisch-
»schwankende[m] Verhältnis zur Mathematik« (158) geometrischen Determination dar.
und mit seinem Vorbehalt gegenüber der Kopenhage- Dürrenmatt ist sich bewusst, dass er damit eine ei-
ner Interpretation der Quantenphysik: »[E]in Gott, genwillige Differenzierung vornimmt, aber er beharrt
der würfelt, hat für ihn in einer kontinuierlichen und auf dem Recht, diese Begriffe »so [zu] gebrauchen, wie
deterministischen Welt nichts zu suchen« (169). Da- ich sie benötige, um einen Gegensatz herauszuarbei-
mit schafft Dürrenmatt sich die argumentative Basis, ten« (WA 33, 151). Ein naturwissenschaftlich geschul-
um über das Gottesbild Spinozas und Einsteins nach- ter Kommentator (Bellwinkel 1995, 233) will diese Un-
zudenken. Beide seien Juden, die den anthropomor- terscheidung nicht akzeptieren und reduziert Deter-
phen, persönlichen und emotionalen Gott des tradier- miniertheit auf Kausalität. Dale Adams wiederum
ten Judentums ablehnten: »eine eminent jüdische Re- (Adams 2010, 224 f.; Adams 2011, 269–274 u. 299) dis-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_55
55  Albert Einstein 203

kutiert zwar ausführlich Dürrenmatts Konzept des Zu- kenne sich auch Einstein ausdrücklich zu einem Gott,
falls und der Kausalität, ohne aber den komplementä- der sich »in der gesetzlichen Harmonie des Seienden
ren Gegenbegriff der geometrischen Determiniertheit offenbare« und sich nicht »mit den Schicksalen und
damit in Zusammenhang zu bringen. Vielmehr attes- Handlungen der Menschen abgebe« (157). Doch der
tiert er ihm eine »epistemische Lücke« (Adams 2011, an seinem spinozistisch inspirierten Weltbild schei-
287) und übersieht damit, dass Dürrenmatt in Bezug ternde Einstein vollziehe am Ende seines Denkweges
auf Einstein genau an dieser Stelle das »logische Aben- eine Wende, die ihn für Dürrenmatt menschlich groß
teuer« (WA 33, 167) und damit das Risiko des Schei- erscheinen lässt: »Umso ernsthafter haben wir darum
terns des Denkers an der Welt zu würdigen weiß. Einstein zu nehmen, wenn er 1947 schreibt, er glaube,
Einsteins Tragik kündet sich für Dürrenmatt be- daß wir uns mit unserer unvollständigen Erkenntnis
reits in dessen berühmter Aussage an: »[I]nsofern sich und Einsicht begnügen und moralische Werte und
die Lehrsätze der Mathematik auf die Wirklichkeit be- Pflichten als rein menschliche Probleme – die wich-
ziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher tigsten aller menschlichen Probleme – sehen müßten«
sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit« (171). Mit dieser Wende zu einer humanistischen
(Einstein, zit. nach WA 33, 180). Aus diesem Verhält- Ethik überwinde Einstein scheiternd die Position Spi-
nis ergibt sich der Schluss: »Die Verbindung [der] Sin- nozas und mache sich die Humanität des Sokrates zu
nen-Erlebnisse zu den durch die Regeln der Logik ver- eigen. Dieser Wende entspricht in Dürrenmatts eige-
bundenen Begriffen und Sätzen sei rein intuitiv, nicht nem Schaffen die Reaktion auf die Technik-Euphorie
selbst logischer Natur« (161). Deshalb diagnostiziert in den Massenmedien angesichts der Mondlandung:
Dürrenmatt: »Die Intuition, nicht die Logik, ist sein »Es ist leichter, auf den Mond zu fliegen, als mit ande-
Schicksal, genauer das logische Abenteuer, nicht die ren Rassen friedlich zusammenzuleben, [...] leichter,
logische Absicherung« (167). Einstein beschreibt als als Hunger und Unwissenheit zu besiegen. [...] Am
den Antrieb des Naturwissenschaftlers, »die Welt des 20. Juli 1969 bin ich wieder ein Ptolemäer geworden«
Erlebens zu überwinden, indem er sie bis zu einem ge- (WA 33, 31 f.). Einsteins Klageruf »O weh«, als die
wissen Grad durch [ein] Bild zu ersetzten strebt. [...] Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abge-
Die Sehnsucht nach dem Schauen jener prästabilier- worfen wurden, zeugt nach Dürrenmatt »von einer
ten Harmonie« (Einstein über Max Planck, zit. nach unendlichen Hilflosigkeit« (WA 33, 178). Gerade diese
WA 33, 170). Daran habe Einstein zeitlebens gearbei- Hilflosigkeit legitimiert die Rede des Laien, denn, wie
tet, auf der Suche nach seiner einheitlichen Feldtheo- Dürrenmatt in den 21 Punkten zu den Physikern sagt:
rie. Doch die Ironie des Schicksals erweist sich gemäß »Was alle angeht, können nur alle lösen« (WA 7, 92).
Dürrenmatt in seinem Fall darin, dass das Weltbild
der Physik sich zum genauen Gegenteil entwickelte: Literatur
Primärtexte
»kosmologisch, indem es nicht, wie Einstein hoffte, Albert Einstein. Ein Vortrag. Zürich 1979.
zum Schauen der prästabilierten Harmonie führte, Albert Einstein. Ein Vortrag (1979). In: WA 33, 150–203.
sondern zur Vision einer prästabilierten Explosion, zu
einem monströsen auseinanderfegenden Weltall vol- Sekundärliteratur
ler Supernovae, Gravitationskollapse, Schwarzer Lö- Adams, Dale: Chaos, Zufall und Mathematik. Friedrich
cher« (170 f.). Dürrenmatts Weltbild und Dramaturgie. In: Limbus 3
(2010), 211–232.
Adams, Dale: Die Konfrontation von Denken und Wirklich-
keit. Die Rolle und Bedeutung der Mathematik bei Robert
Die ethische Wende Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt.
St. Ingbert 2011, 269–274.
Spinoza habe mit seiner geometrischen Methode den Bellwinkel, Hans Wolfgang: Dürrenmatt und die Naturwis-
senschaften. In: Gesnerus 52 (1995), 209–246.
»Gegensatz Gut – Böse« überwunden: »Für diesen
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Köln u. a.
Gott gibt es weder das Gute noch das Böse. Gäbe es für 2003.
ihn diesen Gegensatz, wäre er wieder persönlich«
(156). Mit seinem Bekenntnis zum Gott Spinozas be- Rudolf Käser
204 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

56 Abschied vom Theater / gen aus früheren theatertheoretischen Essays auf-


Nachwort zu ›Achterloo IV‹ genommen und variiert werden. Identifikationsfigur
ist der griechische Autor Aristophanes, der mittels der
Komödie den »Irrsinn« (541) der Welt bloß gestaltet
Entstehungskontext, Publikations- und nicht gedeutet oder gar zum Besseren geordnet
geschichte, Charakteristik habe. Als Antipode tritt Bertold Brecht auf. Dieser
nahm Dürrenmatts Frage anlässlich einer Diskussion
Im Anschluss an Dürrenmatts Inszenierung von Ach- in Baden-Baden 1955, »ob die heutige Welt durch
terloo IV bei den Schwetzinger Festspielen 1988 ent- Theater überhaupt noch dargestellt werden könne«
steht im Juni gleichen Jahres das Nachwort zu ›Achter- (ebd.), als Aufhänger für seinen kurzen Aufsatz Über
loo IV‹. 1990 teilt der Autor diesen Text in zwei Essays die Darstellbarkeit der Welt auf dem Theater. Brechts
auf: Abschied vom Theater und Nachwort zu ›Achterloo optimistische Antwort lautet dort, »daß die heutige
IV‹. Unter dem Titel Abschied vom Theater erscheint Welt auch auf dem Theater wiedergegeben werden
die letzte Bearbeitung des Doppelessays 1991 nur eini- kann, aber nur, wenn sie als veränderbar aufgefaßt
ge Tage nach Dürrenmatts Tod in der Reihe Göttinger wird« (Brecht 1993, 8). Diese Antwort jedoch, so Dür-
Sudelblätter. Der Text stellt nicht nur ein theatertheo- renmatt im Nachwort zu ›Achterloo IV‹, sei angesichts
retisches Werk dar, sondern enthält neben dramatur- der chaotischen Welt und einer existentiellen Bedro-
gischen Überlegungen auch poetologische, philoso- hungslage »absurd geworden« (WA 18, 547).
phische und politische Reflexionen, die inhaltlich und In der realpolitischen Situation eines gescheiterten
motivisch mit Dürrenmatts Spätwerk verbunden sind. Kommunismus und des kapitalistischen ›Pyrrhussie-
Diese Intertextualität ist zum einen implizit im ges‹ (vgl. 547) sieht Dürrenmatt die zu seinen Lebzei-
Funktionsprinzip der Essays angelegt. Beide verfolgen ten auch in Westeuropa verbreitete marxistische Deu-
keine kohärente Argumentationskette. Wie in den tungspraxis des klassischen Bühnenrepertoires als wir-
Stoffen bewegt sich der Text grundsätzlich digressiv in kungsloses »Schattenboxen« (545). Die Verschiebung
Assoziationsschlaufen, die Reflexionen, Polemiken, zwischen dem Idealismus brechtscher Prägung und
kleine narrative Formen, autobiografische Skizzen Dürrenmatts pessimistischer Weltsicht geht mit einer
oder Nacherzählungen dicht miteinander verweben. Differenz in der Einschätzung der Technik und der
Zum anderen ordnet sich Dürrenmatt explizit in die Naturwissenschaften einher: »Die Wissenschaft hat
literarische und theatergeschichtliche Tradition ein. die Natur derart zu verändern gewußt, daß die Welt
Grundsätzlich belegen die Essays aber auch, dass ers- nahezu unbewohnbar zu werden droht« (547). Dieses
tens für Dürrenmatt mit dem Begriff des ›Dramatur- dystopische Diktum, das unter dem Eindruck der nu-
gischen‹ immer auch das Denken (und Schreiben) klearen Bedrohung geäußert wird, zeigt Dürrenmatt
überhaupt gemeint ist (vgl. Rüedi 2011, 519), und dass als einen bis heute nicht gewürdigten Vertreter eines
zweitens die Begriffe Rollenspiel und Spiel in ihrer gan- ökologischen Bewusstseins. Er prangert dabei die
zen Bedeutungsfülle gemeint sind. »Wurstigkeit der Zukunft gegenüber« (ebd.) an, dis-
kutiert aber (versetzt mit satirischen Seitenhieben auf
den Kulturbetrieb) auch die philosophischen Kon-
Inhalt und Analyse sequenzen der technischen Innovationen des 20. Jahr-
hunderts. So wie die atomare Welt »unscharf, nicht
Obwohl Dürrenmatt das Theaterspiel als anthropolo- mehr beschreibbar« sei, so sei es auch »das Ganze«:
gische Konstante begreift, habe die Bühne als sein »Unsere Welt ist mit Worten nur noch im Gleichnis
»Medium« ausgedient (WA 18, 541). In Nachwort zu darzustellen. Es ist ebenso notwendigerweise mehr-
›Achterloo IV‹ bezeichnet er deshalb die Struktur sei- deutig, wie die Aussagen der Physik notgedrungen un-
nes letzten Stückes als »eine Dramaturgie des Schei- scharf sind. Aber auch die Welt unseres Handelns. Wir
terns« – eine Diagnose, der Dürrenmatt eine normati- sind in einen Teppich gewoben, den wir nicht mehr
ve Anweisung hinzufügt: »Das Stück ist als eine miß- überblicken« (549 f.). Paradigmatisch für Dürrenmatts
glückte Theateraufführung zu inszenieren« (561). Spätwerk ist das selbstreflexive Verfahren, in dem das
Dieses performative Scheitern als paradoxe Praxis Gleichnis des Teppichs, dem »wir« selbst angehören,
versieht der Autor mit einem dramentheoretischen als Bestätigung für die Aussage der Notwendigkeit des
Abriss von der Antike über die Klassik (Lessing, Gleichnisses genommen wird. Die behauptete parado-
Kleist, Schiller) bis in die Moderne, wobei Überlegun- xe Situation des modernen Dramatikers wird also per-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_56
56  Abschied vom Theater / Nachwort zu ›Achterloo IV‹ 205

formativ ausgestellt, ein Verfahren, das Dürrenmatt kochenden Abgrund des Glaubens« (WA 18, 570), das
variantenreich und auf verschiedenen textuellen Ebe- den Glauben zwar zudecke, ohne aber dessen Macht
nen in seiner Achterloo-Textur vorführt. Neben der zu erreichen. Wenn das Eis ein Aggregatzustand des
Genese des Stücks beschreibt Dürrenmatt im Nach- Wassers sei, dann stelle das Wissen vielleicht einen
wort die poetologischen Prinzipien von Achterloo, das Aggregatzustand des Glaubens dar. In einer erkennt-
eben »keine Illustration der Geschichte« sei, sondern nistheoretischen Reflexion problematisiert Dürren-
als »Metabasis eis allo genos« fungiere, als ein in der Lo- matt einerseits den prekären Status des Bewusstseins
gik unzulässiger Denkschritt, der als Verfahren einer und stellt mit einer radikalkonstruktivistischen Wen-
Verschiebung das »Welttheater« bedinge: Die Assozia- dung fest, dass die Frage, »ob ich weiß, daß ich wach
tionen seien teilweise »willkürlich«, die Figuren »Ver- bin, oder ob ich glaube, wach zu sein« (ebd.), nicht zu
fremdungen, Figuren auf einem anderen Schachbrett«, beantworten sei. Andererseits stellt er auch das Wis-
die die Geschichte in einer Sphäre des Imaginären sen des Bewusstseins in Frage, das möglicherweise
nachspielen (555). nur ein geglaubtes Wissen sei. Zur Untermauerung
Die Unmöglichkeit einer kongruenten Darstellung wird eine autobiografische Anekdote von einer Ma-
historischer Wirklichkeit verdeutlicht Dürrenmatt rokko-Reise erzählt, auf der Dürrenmatt mit einem
mit einem Bezug auf Jorge Luis Borges’ Kurzgeschich- vom Heliozentrismus überzeugten Taxifahrer debat-
te Averroes auf der Suche: Das Bild Averroes’ sei nicht tiert. Anhand dieser Figur zeigt der Autor narrativ das
überliefert, deshalb könne der Autor auch nicht wis- »Paradox des Wissens« (573) auf, das immer Gefahr
sen, welches Bild seine Figur im Spiegel erblickt. In läuft, durch seine Abstraktion unbegriffen zu sein und
diesem Zusammenhang erläutert Dürrenmatt die in einen neuen Glauben überzugehen. Nach einer his-
»Dialektik des Theaters«, die darin bestehe, dass ein torischen Analyse von Marxismus, Nationalsozialis-
Mensch eine Rolle verkörpert, das Publikum aber nur mus und Kapitalismus, die als unterschiedliche Glau-
einen Schauspieler sehen würde (WA 18, 557 f.). Diese benssysteme gedeutet werden, folgt eine Auseinan-
konventionelle Dialektik habe sich seit der Antike ver- dersetzung mit der Leerstelle Gottes im atheistischen
stärkt: Heute stelle nicht mehr ein Schauspieler mit Weltbild der Moderne. Dürrenmatt verabschiedet
Maske eine Figur dar, sondern trete als Darsteller ei- sich schließlich mit einer Note der Hoffnung, die 1990
ner Rolle auf. Diese Rolle sei wichtiger geworden als mit der Wende in Osteuropa eine reale Chance gewe-
das Stück an sich, »ist doch für mich Theater vor allem sen sein mochte, knapp dreißig Jahre später aber als
ein Ereignis, das in der Begegnung eines Schauspielers ungelöste Aufgabe erscheint: »Die alten Fluchtwege
mit einer Rolle besteht« (559). Dieses Bekenntnis ver- des Menschen sind verschüttet [...]. Er war sein eige-
bindet Dürrenmatt mit Erinnerungen an die Schau- ner Feind. Er muß sein eigener Freund werden« (586).
spielerinnen und Schauspieler in seinen Theatererfol-
gen: u. a. Charles Regnier, Dinah Hinz, Renate Schroe-
ter, Kurt Horwitz, Erwin Kalser, Peter Lühr, Ernst Deutungsaspekte
Ginsberg, Theo Lingen, Therese Giehse, Maria Becker,
Gustav Knuth. Die ethische Konsequenz seiner politischen und phi-
In Abschied vom Theater führt Dürrenmatt seine losophischen Überlegungen formuliert Dürrenmatt
Betonung des Spiels auf die Ebene der Produktions- im Nachwort auch folgendermaßen: »Der Mensch ist
genese der Achterloo-Bearbeitungen. Er erklärt, dass zum Spielball seiner selbst geworden« (547). In seiner
sich »durch den Verlauf der Geschichte« (WA 18, Alltäglichkeit klingt der Satz simpel, wird er aber mit
569), nämlich den Zusammenbruch des Ostblocks, der Betonung auf dem Wort »Spielball« gelesen, weist
seine Arbeit am Stoff von der Handlung zu den han- er auf die Vielschichtigkeit des Begriffs ›Spiel‹ hin, ein
delnden Personen verschoben hätte. Damit geht eine Begriff, der zentral in Dürrenmatts Denken ist, aller-
doppelte Verabsolutierung einher: die der Rollen, für dings noch kaum systematisch aufgearbeitet wurde
die der Text nur noch einen »Rohstoff« darstellt, sowie (s. Kap. 79). Im Kontext der literaturwissenschaftli-
die des »Rollenspiels« (Bloch 2017, 296), das hinter chen Spielforschung fällt die »doppelte Relevanz des
den Rollen immer wieder neue Rollen sichtbar wer- Spielbegriffs für die Literatur« (Plaice 2010, 76; vgl.
den lässt. Diese Unschärfe reflektiert Dürrenmatt in auch Anz/Kaulen 2009) auf, zum einen der Gedanke
der Auflösung der Differenz von Glauben und Wissen. des Spiels als literarisches Verfahren, zum anderen das
Mit einem weiteren (mehrdeutigen) Gleichnis spricht Motiv und die Metapher des Spiels in der Literatur. Ein
er vom Wissen als einer dünnen Eisdecke »über dem Ansatzpunkt für eine neu ansetzende Lektüre von
206 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

Dürrenmatts Dramaturgie könnte von diesen im post- Literatur


modernen Denken relevanten Ideen des Spiels oder Primärtexte
des Text-Spiels als ästhetische Grundfigur des Welt- Abschied vom Theater. Göttingen 1991.
Abschied vom Theater. In: Gedankenfuge. Zürich 1992,
und Selbstverständnisses ausgehen. 141–187.
Einen weiteren Ansatzpunkt böte das kulturwis- Abschied vom Theater. In: WA 18, 568–586.
senschaftliche Spieldenken, das ausgehend von Johan Nachwort zu ›Achterloo IV‹. In: WA 18, 541–567.
Huizingas Klassiker Homo Ludens (1938) das Spiel als
anthropologische Konstante begreift. Nach Huizinga Sekundärliteratur
Anz, Thomas/Kaulen, Heinrich (Hg.): Literatur als Spiel.
ist jeder Kultur eine Spielhaftigkeit eigen; er vertritt
Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische
die Thesen, »dass Kultur in Form von Spiel entsteht, Konzepte, Berlin 2009.
dass Kultur anfänglich gespielt wird« und »dass der Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und
Kultur in ihrer ursprünglichen Phase etwas Spiel- Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen –
mäßiges eigen ist, ja dass sie in den Formen und der Interpretationen. Göttingen 2017, 289–323.
Stimmung eines Spiels aufgeführt wird« (Huizinga Brecht, Bertolt: Über die Darstellbarkeit der Welt auf dem
Theater. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner
2015, 57). Auch die Dichtung begreift Huizinga als
und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u. a.
»soziales Spiel« (ebd., 122), das als eigene Sphäre den Bd. 23: Schriften 1942–1956. Frankfurt a. M. 1993, 240 f.
Gegensatz von Ernst und Un-Ernst transzendiert. Ei- Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur
ne solche Sphäre ist auch in Dürrenmatts Denken des im Spiel. Reinbek bei Hamburg 2015 (ndl. 1938).
absoluten Rollenspiels auszumachen: Dieses kann so Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
verstanden werden, dass es ausgehend von dramatur- Biografie. Zürich 2011, 513–553.
Plaice, Renata: Spielformen der Literatur. Der moderne und
gischen Fragen immer wieder neu ansetzend einen der postmoderne Begriff des Spiels in den Werken von
Begriff des Spiels umkreist, der vor dem Horizont der Thomas Bernhard, Heiner Müller und Botho Strauß.
drohenden Katastrophe nichts weniger als eine neue Würzburg 2010.
Form menschlichen Zusammenlebens – und Zusam-
Caspar Battegay
menspielens – bedeutet.
57  Die Schweiz – ein Gefängnis 207

57 Die Schweiz – ein Gefängnis [...] war zum Teil so grotesk, als wär’s ein Stück des frü-
hen Havel«, so die Neue Zürcher Zeitung am 23.11.1990
Man kann Dürrenmatts letzten öffentlichen Auftritt in zur Preisverleihung. Die anwesenden Bundesräte ver-
der Schweiz als kaum verhohlenes Spiel bezeichnen, abschiedeten sich nicht vom Redner (vgl. G 4, 149), der
das er – im Bewusstsein der eigenen Wirkungsmacht anschließend »allein im Saal [stand]; es dauerte lange,
als Redner – mit den rhetorisch gebotenen Vorausset- bis jemand hinging, um mit ihm zu sprechen«, so der
zungen einer Lobrede und den Erwartungshorizonten Augenzeuge Peter von Matt (2015).
von Ehrenden, zu Ehrenden und honorablen Gästen Doch worin besteht der ›eigentliche‹ Skandal? Vor-
trieb. Der Autor war von der 1962 gegründeten Gott- dergründig in der Verkehrung, die unfreien Verhält-
lieb-Duttweiler-Stiftung (einer Einrichtung des gleich- nisse der vermeintlichen ›Republik‹ Tschechoslowa-
namigen, sehr erfolgreichen Schweizer Unternehmers, kei auf die schweizerische ›Demokratie‹ zu übertra-
Gründer des Detailhandels Migros, der gleichzeitig die gen: Als tertium comparationis wird die Lage von zu
unabhängige Oppositionspartei ›Landesring der Un- Freiheitsstrafen verurteilten schweizerischen Wehr-
abhängigen‹ förderte) eingeladen worden, die Lauda- dienstverweigerern mit dem Widerstand tschechoslo-
tio zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an wakischer Freiheitskämpfer verglichen und der so-
den Schriftsteller, Bürgerrechtler und Präsidenten der genannte ›Fichen-Skandal‹ (der schweizerische Ge-
neu gegründeten Tschechischen und Slowakischen heimdienst hatte jahrelang einen Aktenberg aus letzt-
Föderativen Republik Václav Havel zu halten. lich wohl über 100.000 Schweizer Bürger erfassenden
Zunächst bewegt sich die am 22.11.1990 gehaltene Karteikarten, ›Fichen‹, angelegt) gleichgesetzt mit den
Rede auch in den Mustern, die eine Laudatio erwarten diktatorischen Verhältnissen in der Tschechoslowa-
lässt: Verwiesen wird auf den Stiftungsgründer; mit kei. Formal allerdings rührt der Stachel der Rede noch
»Zivilcourage, Ehrlichkeit und Toleranz gegenüber an- tiefer: In ihrer eigentümlichen, für Dürrenmatt durch-
deren Auffassungen« (WA 36, 176) finden jene Tugen- aus überraschenden Dramaturgie – der Lobende
den des zu Ehrenden Erwähnung, die die Verleihung scheint sich zum Auftakt hinter länglichen Bildungs-
des Preises begründen. Rasch aber zeigt sich Dürren- zitaten zu verstecken – zeigt sie den Redner als virtuo-
matts Entschluss, die Voraussetzungen einer Laudatio sen Rhetoriker, der die sprachlichen Bedingungen der
zu verkehren: Das Herrscherlob – Havel soll schließ- Möglichkeit einer Laudatio reflektiert. Indem er das
lich, wie bereits die Anrede zeigt, auch als »Staatsprä- Publikum durch den Bann seiner Suggestionskraft
sident« (175) geehrt werden – wird zum Demokratie- spüren lässt, für die Dauer der Laudatio unentrinnbar
tadel (vgl. Stingelin 1999). Denn den tragischen Gro- sein eigener Gefangener zu sein, greift er diesen Um-
tesken, die Havel als Dramatiker schrieb, stellt Dürren- stand zugleich thematisch auf in der Allegorie der
matt das nicht minder groteske Bild einer Schweiz ›Schweiz als Gefängnis‹. Dabei spielt Dürrenmatt
gegenüber, das den Traum der Schweizer, in einer frei- noch einmal meisterhaft alle ihm eigenen Arten des
en und demokratischen Republik zu leben, als solchen Humors und des Komischen durch: Groteske, Ironie,
entlarvt. »Doch die Wirklichkeit«, so der Laudator, »in Sarkasmus, Zynismus etc. Sein Publikum hat es ihm,
der die Schweizer träumen, ist anders« (WA 36, 180); mit Ausnahme der anwesenden Politiker, mit zuse-
in Wirklichkeit sei die Neutralität der Schweiz ein hends befreiterem Lachen gedankt, wie der filmischen
selbstgewähltes »Gefängnis« (181), in dem der Schwei- Dokumentation zu entnehmen ist.
zer, um seine Freiheit zu beweisen, zugleich »Gefange- Bemerkenswerterweise scheint sich Dürrenmatt
ner und Wärter« (ebd.) sein müsse. (Die gleiche para- ansonsten weder in seinem Werk noch in Gesprächen
doxe Situation hatte Dürrenmatt bereits in seiner Er- auf Havel bezogen zu haben. Aus dieser vermeintli-
zählung Die Stadt entworfen, vgl. WA 19, 141 f.) chen Unvertrautheit mit Havels Werk mag sich auch
Die Rede, von der sich sowohl Video- wie Audio- der Umstand erklären, dass er die Gattung der Lob-
aufzeichnungen im Internet finden, geriet – zur augen- rede zum willkommenen Anlass nahm, quasi ›im Na-
scheinlich zunehmenden und nicht geringen Belusti- men‹ des Geehrten die Schweiz anzuklagen. Havel al-
gung des Redners – zum Skandal (vgl. Matt 2015), der lerdings »war allem Vernehmen nach keineswegs
als narzisstische Kränkung das schweizerische Selbst- peinlich berührt« (Weber 2020, 569 f.).
verständnis bis in die Gegenwart irritiert. »Die Inkom- Die Forschung hat aus unterschiedlichen Perspek-
patibilität der Ausführungen der Migros-Vertreter Ju- tiven insbesondere den Aspekt der ›Allegorie‹ in den
les Kyburz und Pierre Arnold, von alt Bundesrat Kurt Vordergrund gerückt, sei es aus politischer (Münger
Furgler etwa mit der Rede von Friedrich Dürrenmatt 2014), sei es aus symbolischer (Städeli 2015), sei es

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_57
208 II Schriftstellerisches Werk – K Essays und Reden

aus rhetorisch-formal(istisch)er Perspektive (Stinge- Video der Rede (u. a.). In: http://www.youtube.com/
lin 1999). Bleibt als Desideratum die Frage nach der watch?v=ACvbhrEotqI (13.6.2020).
Angemessenheit, des aptum als der höchsten rhetori- gfh: Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav
Havel. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.11.1990, 21.
schen Tugend von Dürrenmatts Rede. Als Reverenz
bzw. Verneigung vor dem Geehrten jedenfalls teilt sie Sekundärliteratur
dessen Geist des bürgerrechtlichen Widerstands- Matt, Peter von: Wer die Schweiz kritisiert, gilt bei uns als
kämpfers mit seinen literarischen Mitteln der tragiko- denkschwach. In: Das Magazin 44, 31.10.2015, 9.
mischen Groteske: »Die Schweiz – ein Gefängnis«. Münger, Felix: »Das Gefängnis Schweiz«. Friedrich Dürren-
matt (1990). In: Ders.: Reden, die Geschichte schrieben.
Literatur Stimmen zur Schweiz. Baden 2014, 235–248.
Primärtexte Städeli, Martin: Im unabhängigen Gefängnis der Neutralität.
Über die Absurdität der Schweizer. In: Süddeutsche Zeitung, Dürrenmatts ironische Allegorie. In: http://www.
15./16.12.1990. symbolforschung.ch/files/pdf/Allegorie_Gefaengnis.pdf
Die Schweiz – ein Gefängnis. Rede auf Václav Havel. In: (13.6.2020).
Friedrich Dürrenmatt: Kants Hoffnung. Zwei politische Stingelin, Martin: Allegorie der Rede. Herrscherlob als
Reden. Zwei Gedichte aus dem Nachlaß. Zürich 1991, Demokratietadel in Friedrich Dürrenmatts Rede auf
7–23. Václav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-
Die Schweiz – ein Gefängnis. Rede auf Václav Havel. In: WA Preises. In: Josef Kopperschmidt, Helmut Schanze (Hg.):
36, 175–188. Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis
Audio der Rede. In: http://www.srf.ch/play/radio/ der Epideiktik. München 1999, 365–374.
popupaudioplayer?id=3282f67d-3de8-4469-9c17- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
2e76b3c72097 (13.6.2020). Zürich 2020.

Martin Stingelin / Benjamin Thimm


L Lyrik

58 Lyrik notaurus sowie parodistische »Tirade[n]« (Rüedi


2011, 394) wie die Schweizerpsalmen.
Werkkontexte, Poetik und Publikations- Die ältesten lyrischen Versuche – zwei Sonette und
geschichte das mit Walter Jonas und Werner Y. Müller verfasste
Buch einer Nacht – reichen bis in die Zeit des Zweiten
Obwohl es, unter Berücksichtigung des unveröffent- Weltkriegs zurück (vgl. ebd., 152; Dürrenmatt 1993,
lichten Nachlasses, vielleicht 50 Gedichte von ihm gibt, 135). Und noch in den 1980er Jahren arbeitete Dür-
trat Dürrenmatt nie als Lyriker in Erscheinung. Weder renmatt am Minotaurus, den er 1985 publizierte (vgl.
führt er das lyrische Dichten als eine seiner Tätigkeiten ebd., 136). Abgesehen davon veröffentlichte er seine
zu Beginn der poetologisch-autobiografischen Stoffe Gedichte mit Ausnahme vereinzelter Zeitungs- und
explizit an (vgl. WA 28, 36), noch widmet er sich in sei- Zeitschriftenpublikationen nicht (vgl. ebd., 131). Ver-
nen essayistischen Reflexionen eigens der Lyrik. Le- streut tauchen sie erst unter den Reden und Essays der
diglich der kurze Text Lieblingsgedichte von 1953 be- beiden Werkausgaben auf. Posthum versammelt der
schäftigt sich mit der Lyrik Goethes und Trakls (WA grundlegende Band Das Mögliche ist ungeheuer (1993)
32, 33–37), neben denen Dürrenmatt auch Claudius eine Auswahl von Gedichten, die teilweise auch aus
und Hölderlin sowie Heym und Brecht als wichtige dem Nachlass stammen.
Einflüsse nennt. Dagegen distanziert er sich nachträg-
lich von George, der in seiner Jugendzeit eine prägende
Rolle gespielt hatte (WA 29, 167; vgl. Böschenstein Inhalt und Analyse
1999, 442). Gedichte erlangten für Dürrenmatt nach
eigener Aussage aber vor allem im Kontakt mit Paul Der Band, zusammengesetzt aus eigenständigen Ge-
Celan Bedeutung, wiewohl ihn dessen Lyrik – als »Ge- dichten und Theaterliedern, steht unter der Spannung
dichte der vollkommenen Einsamkeit« – in »Hilflosig- dieser beiden Pole. Kann den selbständigen Gedichten
keit« zurückließen (WA 29, 170). Celan verkörperte ein Anspruch auf strenge »Übereinstimmung zwi-
den fast schon »zu esoterisch[en]«, aber respektierten schen Form und Inhalt« zugrunde gelegt werden, sol-
Gegensatz zu Dürrenmatts eigenem Schreiben (ebd., len die Theaterlieder »szenische Kraft« und »dramati-
169; vgl. Rüedi in Dürrenmatt 1993, 126). sche Anschaulichkeit« gerade durch ihre »ungehobel-
Gerade diese Gegensätzlichkeit trieb Dürrenmatt te, leidenschaftliche Rhetorik« entfalten (Böschen-
wohl vereinzelt zum Dichten, verstand er seine eigene stein 1999, 441–443), die sich freilich erst im Kontext
schriftstellerische Arbeit doch in Abgrenzung zur »ge- der Dramen vollständig erschließt (vgl. z. B. Conterno
weihten Künstlerschaft« der Dichter (Rüedi ebd., 120; 2014). An Brechts Chansons gelehnt (»Auch lockte
vgl. WA 28, 14). Immer noch dem Paradigma der Sub- mich das Abenteuer, das Chanson als dramaturgi-
jektivität und der Intimität verhaftet (vgl. Rüedi in sches Mittel einzusetzen«, WA 29, 48) verdeutlichen
Dürrenmatt 1993, 122), stehen Gedichte Dürrenmatts gerade die Lieder aus Frank V. diese Problematik.
stofforientierter Distanzpoetik (WA 28, 69) entgegen. Dürrenmatt schreibt: »Ohne die Handlung sind die
Überarbeitete er seine Texte grundsätzlich oft, so die Chansons in Frank der Fünfte unverständlich« (ebd.).
Gedichte kaum (vgl. Rüedi in Dürrenmatt 1993, 122). Dennoch haben diese Chansons Eingang in den Band
Das illustriert der Gedichtband bei einer Mittagszigar- gefunden, da sie ȟber ihre dramatische Funktion hi-
re: »Gedichte, die in ein, zwei Minuten getan sind« naus als selbständige Texte verständlich sein« können
(70). Dürrenmatt versuchte sich daher auch an weni- (Rüedi in Dürrenmatt 1993, 124). Ähnlich zeigt sich
ger subjektiven Formen: die Balladen Midas und Mi- die Gattungsproblematik auch beim Buch einer Nacht.

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_58
210 II Schriftstellerisches Werk – L Lyrik

Abgesehen von den im Band vertretenen Theater- Neben dem poetologischen Gedichtband bei einer
liedern lässt sich Dürrenmatts Lyrik in drei Bereiche Mittagszigarre reichen die persönlichen Gedichte von
gliedern: seine parodistischen Gedichte, die Balladen einer Würdigung der Kronenhalle, wo sich Dürren-
Midas und Minotaurus sowie kurze Einzeltexte, die matt in Zürich heimisch fühlte, über die Abschieds-
vom Liebesgedicht bis ins Kosmische und Weltan­ gedichte für Willy Birgel und An Varlin bis hin zum
schauliche ausgreifen. Mehrere parodistische »Hym- Liebesgedicht Vor uns hintastend, Liebes. Das Gedicht
nen und Verwünschungen« (Rüedi ebd., 125), deren Meere lehnt sich an eine Beschreibung von Dürren-
Formen frei gehalten sind, verhandeln das Verhältnis matts Daseinsgefühl, einem schopenhauerischen
zwischen der Schweiz und Deutschland bzw. Europa, Treiben auf dem Meer (vgl. WA 29, 206; WA 18, 571).
das Dürrenmatt stets beschäftigte. Befassen sich das Mit dem Gedicht Blick durchs Fenster gerät allmäh-
abwehrende Selbstgespräch Gottes in Gott und Péguy lich das Weltall in den Fokus. Bemerkenswert ist, dass
sowie die Klage An Europa noch mit Europa im Gan- die drei kosmischen Gedichte – Antares, Mond, Sirius-
zen, lotet Wenn ich durch die Städte Deutschlands gehe begleiter – mit ihrer durchgehaltenen Form an die Un-
das Verhältnis zwischen der Schweiz und Deutsch- erbittlichkeit der Kausalität erinnern, die z. B. in der
land aus persönlicher Sicht aus. Das Gedicht darf Ballade Midas durch den Zeilenbruch nur beschrie-
»als Gegenstück, als Vorstufe« (Rüedi 2003, 112) zu ben ist: »Die Kausalität ist unerbittlich, die Frei-/heit
den Psalmen gelten, die den Fokus ganz auf die illusorisch« (Dürrenmatt 1993, 58). Im Gegensatz zu
Schweiz richten. In parodistischer Anlehnung nicht den meisten anderen Gedichten (mit Ausnahme eini-
nur an die religiöse Tradition, sondern auch an die ger Lieder aus den Theaterstücken sowie Was soll an
Schweizer Nationalhymne – die damals schon inoffi- diesem Nachmittage und Vater mein, ein Riese steht im
ziell kursierende und nun offizielle Nationalhymne Wald) sind die kosmischen Gedichte formal strenger.
Schweizerpsalm –, besingt Dürrenmatt 1950 mit der
skandalträchtigen Publikation von Schweizerpsalm I
»in einer der wenigen unverblümten Attacken gegen Positionen der Forschung
die Schweiz« (Rüedi 2011, 389) seine »Hassliebe«
(ebd., 394) zu seinem Heimatland. Noch zwanzig Jah- Wissenschaftliche Beachtung findet einerseits Dür-
re später, 1971, beschäftigt er sich in einer dritten Fas- renmatts Minotaurus-Ballade. Als lyrische Ausprä-
sung mit dem Schweizerpsalm. In den Bereich des Pa- gung des grundlegenden Labyrinth-Motivs bietet sie
rodistisch-Satirischen gehört auch Dürrenmatts kur- sich einer Interpretation im Kontext des Gesamtwerks
zes – erfolgloses – lyrisches Engagement im Zürcher besonders an – sowohl unter dem Aspekt der »Iden-
Kabarett Cornichon 1948 (vgl. ebd., 492). titätsproblematik« (Röthinger 2018, 212) im Span-
Den politischen Tiraden steht Dürrenmatts Deu- nungsfeld von vorbewusster Individualität und gesell-
tung der eigenen Situation mithilfe des Motivs des La- schaftlichem Bewusstsein, als auch in strukturell-se-
byrinths gegenüber. In den Stoffen schreibt er: »[J]eder miotischer Hinsicht (vgl. z. B. Schmitz-Emans 2009).
Versuch, die Welt, in der man lebt, in den Griff zu be- Andererseits erfahren aufgrund der Psalmentradition
kommen, sie zu gestalten, stellt einen Versuch dar, ei- auch die Schweizerpsalmen einiges Interesse. Grund-
ne Gegenwelt zu erschaffen, in der sich die Welt, die legend ist Heinz Ludwig Arnolds Diskussion des Ver-
man gestalten will, verfängt wie der Minotaurus im hältnisses Dürrenmatts zur Schweiz (vgl. Arnold
Labyrinth« (WA 28, 81 f.). Das als ›Ballade‹ bezeichne- 1998). Eingehendere Behandlung findet das Verhält-
te Langgedicht Minotaurus – freirhythmisch, unge- nis von Dürrenmatts Psalmdichtung zu den bib-
reimt, monostrophisch – erzählt die Geschichte des lischen Vorläufern (vgl. Conterno 2014) sowie margi-
Minotaurus im Labyrinth (das auch im Midas an- nal die Machtthematik (vgl. Zweifel 2012, 249). Zu Si-
klingt) vom Moment seiner Selbstwahrnehmung bis riusbegleiter gibt es insbesondere bezüglich der ge-
zum Tod durch Theseus. In einer gläsern-labyrinthi- nannten Kausalitätsthematik einen Kurzkommentar
schen Welt von Spiegeln ringt der Minotaurus um ein von Peter von Matt (vgl. von Matt 1995).
Selbstverständnis in der Begegnung mit sich selbst, Neben den mehrfach diskutierten Psalmen sowie
den Menschen sowie den dazugehörigen Spiegelbil- dem Minotaurus verdiente allenfalls die Midas-Balla-
dern. Den Hintergrund bilden dabei der Gegensatz de als umfangreicherer Text größere Aufmerksamkeit.
von bewusst-sprachlichem und unbewusst-bild- Die kürzeren Gedichte interessieren vielleicht weniger
lichem Denken bzw. Fühlen sowie die Unausweich- im Einzelnen als insgesamt, stellen sie doch ein poeto-
lichkeit der eigenen Geschichte. logisches Gegenkonzept zu Dürrenmatts Prosa dar.
58 Lyrik 211

Literatur Röthinger, Julia: Ästhetische Erkenntnis und politisches


Primärtexte Handeln. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt in Kon-
Das Mögliche ist ungeheuer. Ausgewählte Gedichte. Hg. von stellationen ihrer Zeit. Berlin 2018, 211–236.
Daniel Keel, Anna von Planta. Zürich 1993. Rüedi, Peter: Die Grenze, die Reise, die Heimkehr. Grund-
Minotaurus. In: WA 26, 9–32. motive im Werk Friedrich Dürrenmatts. In: Text + Kritik
Turmbau. Stoffe IV–IX. In: WA 29, bes. 167–170. 50/51 (2003), 98–128.
Lieblingsgedichte. In: WA 32, 33–37. Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Biographie. Zürich 2011.
Sekundärliteratur Rüedi, Peter: Hymnen und Verwünschungen. In: Mu, 119–
Arnold, Heinz Ludwig: Friedrich Dürrenmatt und die 130.
Schweiz. Ein Panorama. In: Heinz Ludwig Arnold, Anna Schmitz-Emans, Monika: Labyrinthische Visualtexte in der
von Planta, Ulrich Weber (Hg.): Meine Schweiz. Ein Lese- Moderne. In: Christian A. Bachmann (Hg.): Labyrinthe
buch. Zürich 1998, 7–41. als Texte – Texte als Labyrinthe. Bochum 2009, 21–29.
Conterno, Chiara: Die andere Tradition. Psalm-Gedichte im Zweifel, Annarosa: Die Darstellung der Macht in der
20. Jahrhundert. Göttingen 2014, 288–325. deutschsprachigen Schweizer Lyrik des 20. Jahrhunderts.
Matt, Peter von: Friedrich Dürrenmatt: Siriusbegleiter. In: In: Conçalo Vilas-Boas, Teresa Martins de Oliveira (Hg.):
Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie. Macht in der Deutschschweizer Literatur. Berlin 2012,
Gedichte und Interpretationen. Frankfurt a. M. 1995, 241–252.
181–184.
Fabian Schwitter
M Gespräche

59 Dürrenmatt als Gesprächs- bei ihrer ersten Begegnung mit dem Schriftsteller in
partner der Wohnung von Maximilian Schell bis vier Uhr früh
zusammengesessen habe (vgl. ebd., 8; Weber 2020,
490 f.).
Dürrenmatt war seit seinen ersten Erfolgen als Dra- Seine Äußerungen zum Theater, zur Bühnenarbeit,
matiker ein gefragter Gesprächspartner. So gibt es ei- über sein Schreiben, Zeichnen und Malen sowie zu
ne unüberschaubare Fülle von Presse- und Rundfunk- den eigenen politischen Stellungnahmen sind von be-
gesprächen, von denen die von Heinz Ludwig Arnold zaubernder Frische. Als Gedankendramaturg sprach
herausgegebene vierbändige Ausgabe (G 1–4) eine er gerne von seinen Intentionen und innovativ-expe-
Auswahl von 89 Interviews versammelt. Daneben pu- rimentellen Darstellungsprinzipien, von seiner mehr-
blizierten Vertraute und Bekannte Dürrenmatt-Por- dimensionalen Wortinszenierungskunst in Auseinan-
träts, die Gespräche teilweise wörtlich wiedergeben dersetzung mit den Mitteln der bestehenden Bühnen-
oder zusammenfassend darüber berichten (Kerr 1992; traditionen, die er in Zusammenarbeit mit den Schau-
Rüedi 2011; Bloch 2017). Das mündliche Erzählen spielern und Schauspielerinnen weiterentwickelte, in
war für Dürrenmatt Teil des Formungsprozesses sei- der möglichst konkreten Veranschaulichung der dra-
ner Stoffe. Spontan über sein Wirken Auskunft ge- matischen, aber auch denkerischen wie sprachlichen
bend, sich gewissermaßen beim Arbeiten selber zuse- Prozesse. Er könne es sich nicht leisten, »reines Thea-
hend und über die eigenen Beweggründe, Interessen ter« zu schreiben, »weil wir gar nicht den gesellschaft-
und auch Schwierigkeiten nachdenkend, diente ihm lichen Boden dazu haben. Ich bin gezwungen, zu mei-
das Gespräch – analog zum Schreiben – als Mittel und nen Stücken Vorworte, Nachworte, Kommentare zu
Werkzeug des Denkens: »Denken«, so soll Dürren- schreiben« (G 1, 105).
matt Klara Obermüller bekannt haben, »kann ich nur Wie es Dürrenmatt in diesen Gesprächen zum Aus-
beim Reden und Schreiben« (G 1, 24); im Gespräch druck bringt, ärgerte er sich über die mangelnde Ex-
mit Kerr sprach er im Bezug auf den Dialog von einer perimentierfreude der subventionierten Staatstheater
»Gedankenschmiede« (Kerr 1992, 154). Doch war er und die Dominanz der Theaterkritiker, deren konven-
auch skeptisch gegenüber dem mündlich Formulier- tionelle Urteilsbegründungen entscheidend seien für
ten. Vor der Publikation seiner Aussagen ließ er sich die öffentlichen Unterstützungsgelder. Die Regisseure
meist das Manuskript zusenden, überarbeitete es setzten sich zu oft an die Stelle des Autors, um mit ih-
manchmal sorgfältig und strich, was ihm überflüssig ren eigenen Bearbeitungen das Publikum zu unterhal-
oder redundant erschien, ergänzte Lückenhaftes, ver- ten. Bald sei es so weit, dass man auf den deutschspra-
deutlichte Unklarheiten. chigen Bühnen dauernd die gleichen Werke aufführe,
Dürrenmatt liebte es, sich mit interessierten Ge- wie in den Konzertsälen, wo nur noch »Beethovens
sprächspartnern auseinanderzusetzen. Dafür nahm er Neunte, Vivaldis Vierjahreszeiten und Mozarts Kla-
sich Zeit, bereitete sich sorgfältig vor, bestimmte sou- vierkonzerte« gespielt würden (Bloch 2017, 44 f.). Es
verän den Gesprächsverlauf, lustvoll nach Argumen- sei Mode geworden, ihm »mangelnde Qualität vor-
ten und Beispielen suchend, um seine Aussagen zu zuwerfen«. Man verstehe nicht, dass es ihm »ums Ex-
verdeutlichen. Nicht selten zog sich der von ihm sehr perimentieren geht, ums Weiterdenken einer bereits
geschätzte Dialog – »[e]ine ungeheure Bereicherung bestehenden Dramaturgie«. »Neue Inhalte« bräuch-
in meinem Leben ist die Dialogmöglichkeit« (ebd., ten »neue Formen, neue Darstellungsgefäße für bis-
153) – bis in die frühen Morgenstunden. Charlotte her unbekannte Phänomene und Denkprozesse«
Kerr, Dürrenmatts zweite Frau, erzählt etwa, wie sie (ebd., 85).

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59  Dürrenmatt als Gesprächspartner 213

Die Welt sei ein Labyrinth geworden; »alle Flucht- Form, so bleibt die Frische der Diktion erhalten.
wege erweisen sich als Illusionen; es gibt keine Lö- Abends nach dem Essen sitzen wir in der Bibliothek,
sung, nur Irrwege«. Mit seinen Experimenten ver- die Gespräche gehen inzwischen weit über Achterloo
suche er, das an sich Undarstellbare darzustellen. »Ich hinaus, es sind Gespräche über Dramaturgie, Theater,
muss eine Form zu Ende denken, um sie dann wieder Funktion des Theaters heute, gleichzeitig entsteht
verlassen zu können [...]. Man muss einmal einen Achterloo III, Fritz zeichnet die Charaktere, die Büh-
Schritt in eine Richtung wagen, aus der es kein Zu- ne, so entsteht unser gemeinsames Buch Rollenspiele«
rück mehr gibt. Ich brauche in einem gewissen Sinn (Kerr 1992, 117).
die künstlerischen Katastrophen, um weiterzukom- Er entwarf für sich zudem eine polyvalente Bühne,
men, sonst schreibt man ja immer das Gleiche. Viel- auf der sich durch wenige Kunstgriffe und Beleuch-
leicht werde ich auch einmal zu einem Punkt kom- tungseffekte die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher
men, wo ich nicht mehr weiter schreiben will« (ebd., Realitätsebenen verdeutlichen lässt. Diese erweisen
83). »Doch plötzlich kommt es über mich, und dann sich als Labyrinthe, in welchen alle Beteiligten ihre
entstehen Bilder, die mich überwältigen, die ich los- Rolle spielen, die in sich unterschiedlich verstanden
werden muss, und schon bin ich wieder mittendrin, werden können, je nach der Tiefe der Dimensionen
ob ich will oder nicht, am Zeichnen oder Malen, am oder des Assoziationsvermögens des Zuschauers.
Schreiben oder Überarbeiten, am Diskutieren oder Einerseits wird das Gespielte – vor allem nach der
Entwerfen, kann nicht mehr aufhören, weil Gegenbil- Auffassung von Charlotte Kerr – aus der Warte des
der dazukommen, Erinnerungen und bestimmte Zuschauers betrachtet, während Dürrenmatt selbst
Vorstellungen, die mich packen und in mir die Lust eher vom dramaturgischen Konzept einer polyvalen-
des Arbeitens auslösen und immer weitertreiben« ten Bühne wie auch vom Versuch der Verschlüsselung
(ebd., 100). und Demaskierung der Machtstrukturen ausgeht, auf
Tagtäglich erlebte Dürrenmatt in den 1970er Jah- der Grundlage des barocken Welttheaters, das er in
ren das Sinken seines Sterns. Sein experimentelles unzähligen Variationen umspielt und schließlich ad
Schaffen wurde an den erfolgreichen Frühwerken ge- absurdum führt. Er selber spricht von einem »Drei-
messen, weshalb er sich in seinen Gesprächen ver- fachgeschichtenstück« (Dürrenmatt/Kerr 1986, 103).
ärgert gegen Erwartungen von Kritikern wie Marcel In seinen letzten Lebensmonaten – im Vorfeld sei-
Reich-Ranicki wehrte: »Wir sind nicht die Tröster der nes 70. Geburtstags – führte Dürrenmatt noch einmal
Welt, nicht ihre Rezepttanten«, so 1977 zu Dieter viele lange Gespräche über seine letzten Werke, über
Bachmann und Peter Rüedi (G 2, 223). die ›Fiktion‹ Gott, über Glauben und Wissen, über
In langen Gesprächen mit Peter André Bloch 1969 evolutionäre Erkenntnistheorie, über das Ende des
(vgl. Bloch 2017, 49–64) und Heinz Ludwig Arnold Kalten Krieges und die Perspektiven einer neuen Welt-
1975 (vgl. G 2, 114–176) erzählte Dürrenmatt über ordnung, der er mit Skepsis entgegenblickte. Er bleibt
seine biografischen Ursprünge und Grundeinsichten bei seiner Diagnose der Welt als ›Katastrophenwelt‹,
– parallel zur Arbeit an den Stoffen. Noch einmal die literarisch bearbeitet sein will (s. Kap. 69): »Ein zer-
wandte er sich in den 1980er Jahren dem Theater zu: streuter Laborant führt die Explosion eines Atombom-
»Mit Achterloo«, so Dürrenmatt im Gespräch mit benfabrik herbei, ein schläfriger Programmierer fabri-
Klaus Nüchtern, »habe ich eigentlich das letzte ver- ziert eine Fehlschaltung in den Pentagon-Computern,
sucht, was ich mit dem Theater wollte: aus einem Zeit- einem unachtsamen Gentechniker entwischen seine
stück ein überzeitliches Welttheater zu machen« (G 4, Virenkulturen – in diese Welt der apokalyptischen
56). Mit seiner zweiten Gattin Charlotte Kerr ent- Pannen führt unser Weg. Deshalb muß die Literatur
wickelte er nach der halbwegs erfolgreichen Urauf- fragen, ob die Menschheit nicht in einer evolutionären
führung die Dramaturgie und eine imaginäre Insze- Krise steckt und auf ihr Ende zugeht« (G 4, 191).
nierung seines letzten Stücks, publiziert als gemein-
sames Buch Rollenspiele (1986). Bemerkenswert da- Literatur
Primärtexte
ran ist, dass dieser Band wiederum das Ergebnis eines Gespräche 1961–1990 in vier Bänden. Hg. von Heinz Lud-
Gesprächs, einer allmorgendlichen Plauderei dar- wig Arnold. Zürich 1996:
stellt: »Jeden Morgen nach dem Frühstück«, so er- Der Klassiker auf der Bühne. Gespräche 1961–1970 (G 1).
innert sich Kerr, »›pläudern‹ wir ein, zwei Stunden, Die Entdeckung des Erzählens. Gespräche 1971–1980 (G 2).
dann gehe ich auf mein Zimmer, schreibe das Ge- Im Bann der ›Stoffe‹. Gespräche 1981–1987 (G 3).
Dramaturgie des Denkens. Gespräche 1988–1990 (G 4).
sprochene mit der Maschine ab, bringe es in eine
214 II Schriftstellerisches Werk – M Gespräche

Sekundärliteratur koll einer fiktiven Inszenierung und Achterloo III. Zürich


Arnold, Heinz-Ludwig: Vorwort des Herausgebers. In: G 1, 1986.
11–19. Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. München 1992.
Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Experimente. Werkstattgespräche, Bilder, Analysen, Inter- Biographie. Zürich 2011.
pretationen. Göttingen 2017. Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Dürrenmatt, Friedrich/Kerr, Charlotte: Rollenspiele. Proto- Zürich 2020.

Peter André Bloch


N Film und Literatur

60 Film und Literatur wickeln – und neben der Prosa, dem Hörspiel und
den Theaterstücken eine weitere Einkommensquelle
Schreiben für den Film zu unterhalten. Die Filmprojekte der 1970er und
1980er Jahre waren dann einerseits eng mit dem
Mehr als drei Jahrzehnte lang rieb sich Dürrenmatt Schauspieler und Regisseur Maximilian Schell und
an der Textform Drehbuch, in der er sich »gar nicht mit Dürrenmatts zweiter Ehefrau verbunden, der
zuhause« fühlte (Kerr 1984). Obwohl er als Dreh- Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr.
buchautor die Thematik festlegen, Handlung und Fi- Andererseits war sein Schreiben für das Medium
guren konzipieren und die Dialoge gestalten konnte Film in dieser zweiten Phase geprägt von der Ver-
(vgl. Schwab 2006, 96), bezeichnete er Regisseur und arbeitung der Mitmacher-Krise, nach der er sich als
Kameramann als »das Wichtigste beim Film« (Kerr Autor neu erfand und reflexivere Formen des Schrei-
1984). Sie überführen das Drehbuch, das Teil einer bens entwickelte.
»Verbundkunst« (Schwab 2006, 97) ist, in Bilder, 1953 verfasste Dürrenmatt für den Schauspieler
Bildsequenzen und Szenen. Ein früher Versuch Dür- und Regisseur Max Haufler – der in Der Richter und
renmatts, über ein Drehbuch mit den Möglichkeiten sein Henker (1957) und Es geschah am hellichten Tag
bewegter Bilder zu spielen, misslang (Das Unterneh- (1958) die Regieassistenz und kleinere Nebenrollen
men der Wega, 1958). Seine Drehbücher wurden, übernehmen sollte – ein Treatment nach dem Roman
wenn überhaupt, nur mit größeren Überarbeitungen Gotthard-Express 41 verschüttet von Emilio Geiler.
erfahrener Drehbuchautoren verfilmt. Und seine Ar- Dürrenmatt und Haufler zerstritten sich aber, der
beitsweise, einen Stoff als ganzen immer wieder neu Film wurde nie gedreht (vgl. Utz 2019, 152; Rüedi
zu denken, kollidierte mehrfach mit den Produkti- 2011, 464–468). Dürrenmatt hatte den Plot neu kon-
onsabläufen von Filmprojekten. Dürrenmatts Schrei- zipiert und vor allem Beziehungen der Zuginsassen
ben für den Film ist ein jahrzehntelanges sehr pro- untereinander entworfen, die im Roman kaum eine
duktives Scheitern. In Midas oder Die schwarze Lein- Rolle spielen (vgl. Möbert 2011, 447–449). Dass die
wand stellt die Autorfigur F. D. fest: »Es ist heller erhaltenen Textfassungen dieses Projektes mit An-
Wahnsinn, sich mit diesem Medium zu beschäfti- gaben zu Kameraperspektiven, Schnitten, Ton- und
gen.« Auf die Frage, weshalb er es trotzdem tue, ant- Lichteffekten bereits »außerordentlich filmisch ge-
wortet F. D.: »Weil mich die Zumutung reizt« (WA staltet« sind, ist gemäß Möbert eher auf den erfahre-
26, 162). nen Haufler als auf Dürrenmatt zurückzuführen
Essayistisch setzte sich Dürrenmatt nur selten und (ebd., 450 u. 452).
knapp mit dem Film auseinander, so in Gibt es einen Ebenfalls 1953 hatte der Bayerische Rundfunk zu
spezifisch schweizerischen Stoff, der verfilmt werden einer Tagung über die Möglichkeiten des Fernseh-
müßte? (1957; WA 32, 72 f.), Untersuchung über den spiels eingeladen. Dürrenmatt nahm teil und arbeite-
Film ›Das Wunder des Malachias‹ (1960, erstpubli- te 1954/55 für Walter Ohm, Regisseur beim Bayeri-
ziert 1966; WA 32, 103–108) oder Ist der Film eine schen Rundfunk, und die Columbia an einem Stoff
Schule für Schriftsteller? (1968; WA 32, 125–137). Sein mit dem Titel Ich heiratete eine Kurtisane (vgl. Weber
Schreiben für den Film (zu den Verfilmungen seiner 2020, 180). Der Film kam aber nicht zustande. Dür-
Arbeiten von anderer Hand s. Kap. 114) lässt sich renmatt veröffentlichte den Stoff stattdessen unter
grob in zwei Phasen einteilen: In den 1950er Jahren dem Titel Grieche sucht Griechin 1955 im Arche Ver-
bis 1961 bot ihm die Arbeit für Film und Fernsehen lag. Verfilmt wurde die ›Prosakomödie‹ erst 1966 von
die Möglichkeit, Stoffe zu entwerfen und zu ent- Rolf Thiele und ohne Beteiligung Dürrenmatts.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_60
216 II Schriftstellerisches Werk – N Film und Literatur

Der Richter und sein Henker (1957) Es geschah am hellichten Tag (1958)

Tatsächlich realisiert wurde eine Adaption von Dür- Schon während der Dreharbeiten von Der Richter und
renmatts Kriminalroman Der Richter und sein Henker sein Henker arbeitete Dürrenmatt an seinem nächsten
durch den Süddeutschen Rundfunk. Der Film mit Au- und noch größeren Filmprojekt. Für Es geschah am
ßenaufnahmen in Bern und rund um Twann am Bie- hellichten Tag sollte er nicht ein Hörspiel oder einen
lersee war die erste abendfüllende Spielfilm-Eigenpro- Roman zu einem Drehbuch umarbeiten, sondern ei-
duktion des westdeutschen Fernsehens (vgl. ebd., gens einen Stoff entwickeln. Bereits 1948 hatte Dür-
212 f.) und erhielt eine entsprechend große mediale renmatt Kontakt mit dem Filmproduzenten Lazar
Aufmerksamkeit. Wechsler gehabt (vgl. Rüedi 2011, 852 f.). Eine Zu-
Das Drehbuch schrieb Dürrenmatt zusammen mit sammenarbeit kam aber erst neun Jahre später zustan-
Hans Gottschalk, dem Fernsehspielleiter des SDR, im de. Wechsler gab ihm den Auftrag, für seine Praesens-
Juni 1956; mit Franz Peter Wirth, der die Regie über- Film eine ›Novelle‹ über ein ›Sittlichkeitsverbrechen
nahm, wurde es noch einmal überarbeitet (vgl. ebd., an Kindern‹ zu schreiben (vgl. Möbert 2011, 35). Ende
213). Wirth erinnerte sich aber, dass eigentlich Gott- März 1957 verfasste Dürrenmatt ein Exposé, aber erst
schalk und er das Drehbuch verfasst hätten. Dürren- im Mai konnte er sich intensiver der Filmerzählung
matt hätte keinen richtigen Zugang zur Film-Drama- widmen. Danach entstanden vier Drehbuchfassun-
turgie gehabt; die Verkürzungen, die optische Umset- gen, in die Änderungsvorschläge Wechslers und mög-
zung seien ihm nicht vertraut gewesen (vgl. Buchmül- licherweise anderer Drehbuchautoren der Praesens-
ler 1995, 2). Film einflossen (vgl. ebd., 64–127). Die vierte Fassung
Gottschalk und Wirth hatten zwar viel Erfahrung wurde abschließend von Hans Jacoby, dem persönli-
mit den Live-Abläufen von Fernsehspielen, aber keine chen Drehbuchautor des Hauptdarstellers Heinz Rüh-
mit dem Medium Spielfilm. Daher filmten sie alle Sze- mann, noch einmal überarbeitet. Jacoby machte »aus
nen als ganze, wie sie es gewohnt waren. Der Cutter Dürrenmatts von seiner Idee besessenen Kommissär
Fritz Schwaiger kürzte den Film um eine halbe Stunde einen fürsorglichen und beschützenden ›Vater‹«
(vgl. ebd., 1): »Jetzt waren Spannung, Witz und Tempo (ebd., 231). Der Sympathiebonus Rühmanns lässt die
da« (Bolliger/Buchmüller, 30). Bedenken zur fragwürdigen Ermittlungsmethode der
Der Richter und sein Henker ist ein gradlinig erzähl- Figur in den Hintergrund rücken (vgl. Riedlinger
ter Krimi ohne Rückblenden. Die für den Stoff wichti- 2007, 220 f. u. 225). Der Film wurde »an der Berlinale
ge Vorgeschichte etwa wird nicht in Istanbul gedreht, beklatscht, in der Presse hochgejubelt« (Dumont
sondern in den Dialogen rekapituliert. So erzählen 1987, 493) und in Barcelona mit dem Premis Sant Jor-
sich Bärlach (Karl-Georg Saebisch) und Gassman di de Cinematografia als bester Film ausgezeichnet.
(Robert Meyn), wie Gastmann hier heißt, in einer Während das Drehbuch unter Zeitdruck für die
merkwürdigen Szene gegenseitig ihre gemeinsame Filmproduktion und mit Hilfe erfahrener Drehbuch-
Geschichte, die sie beide nur zu gut kennen. Die chro- autoren abgeschlossen werden musste, hatte die Ent-
nologische Erzählweise auf der Bildebene erweist sich wicklung des Stoffs für Dürrenmatt längst eine andere
auch in der Anfangsszene als problematisch. Anders Wendung genommen. Aus dieser Weiterentwicklung
als der Roman beginnt diese erste filmische Adaption entstand der Roman Das Versprechen, der als Requiem
nicht mit dem Fund der Leiche des Polizeileutnants auf den Kriminalroman (so der Untertitel) zu einem
Schmied, sondern mit dessen Ermordung. Tschanz Klassiker der Kriminalliteratur und seinerseits zur
(Herbert Tiede), den Schmied am Straßenrand erken- Filmvorlage wurde.
nen müsste, damit er arglos seinen Wagen anhält, darf
für das Publikum nicht identifizierbar sein. Deshalb
muss Tschanz in einer eher absurd als glaubwürdig Das Unternehmen der Wega (1958)
wirkenden Bewegung mit dem rechten Arm winken
und ihn dabei vor sein Gesicht halten. Das Anfang 1958 für den Norddeutschen Rundfunk
fertiggestellte Drehbuch (vgl. SLA-FD-A-m-98-V) für
eine Adaption des Hörspiels Das Unternehmen der
Wega kann als früher Versuch Dürrenmatts gesehen
werden, sich mit dem Fernsehfilm als Bild-Ton-Medi-
um auseinanderzusetzen. Er wollte die Anlage des
60  Film und Literatur 217

Hörspiels mit den eingespielten Tonmitschnitten der blikum« (Benn 1968, 1754). An die Stelle des einen
Ereignisse auf dem Planeten Venus als Bild im Bild, Zimmers, in dem sich die Handlung rund um das »Bie-
mit Bildern auf Bildschirmen umsetzen (vgl. Möbert dermeier-Kaffeetischchen« als »eigentliche[r] Haupt-
2011, 443). Doch das Drehbuch wurde vom Abtei- person des Stücks« (WA 3, 12) abspielt, treten rasche
lungsleiter und Regisseur Heinz Schwitzke zurück- Schauplatzwechsel: Die Heirat Mississippis mit Anas-
gewiesen und ausführlich kritisiert. Welchen Anteil tasia etwa findet angeblich »in Wilderswil« statt, das
Dürrenmatt am Film hatte, der noch im selben Jahr hier, tief verschneit, an die Bahnstrecke »nach Borneo«
gesendet wurde, ist unklar. zu liegen kommt. Und vor allem wird nun, wie Dürren-
matt selber bemerkte, aus der »mehr vielleicht religiös
bestimmten Komödie« »eine politische Farce« (Bienek
Die Ehe des Herrn Mississippi (1961) 1962, 109). Diese Tendenz ist bereits an den verschie-
denen Fassungen des Dramentexts abzulesen (vgl. Ha-
Nach dem Erfolg von Es geschah am hellichten Tag bermann 1997), der Film treibt sie aber auf die Spitze:
wollte Wechsler die Zusammenarbeit fortsetzen – und Graf Übelohe-Zabernsee, der mit seinem Glauben an
Dürrenmatt war zugleich »experimentierfreudig und Liebe und Wahrheit zumindest in den frühen Fassun-
Geschäftsmann genug« (Weber 2020, 219), um einem gen des Stücks noch Züge einer Heilsgestalt trägt (vgl.
solchen Vorhaben zuzustimmen. Ab März 1960 arbei- ebd., 364), wird im Film zu einer kaum relevanten Ne-
tete er am Justiz-Roman, zu dem er Wechsler ein benfigur (Hansjörg Felmy). Als solcher fällt ihm auch
Drehbuch versprochen hatte, kam damit aber nicht die Ehre des letzten Wortes nicht mehr zu. Die Verfil-
zuletzt aufgrund anderweitiger Verpflichtungen (u. a. mung schließt mit dem Psychiatriepatienten Mississip-
der Erstaufführung von Frank der Fünfte im Oktober) pi (O. E. Hasse), der nicht den Gifttod der Vorlage
nicht wie geplant voran. Wechsler hatte das Filmper- stirbt, sondern als Vorführobjekt im Auditorium der
sonal indes bereits unter Vertrag genommen und die Anstalt zum Gaudi der versammelten Studentenschaft
Produktionstermine gebucht. Als schließlich eine In- die immer gleiche, irrwitzige Forderung erheben darf:
szenierung der Ehe des Herrn Mississippi in Paris an- »Die Welt muß geändert werden« (WA 3, 205).
stand, für die Dürrenmatt den Dramentext erneut
überarbeiten sollte, schlug er Wechsler Ende Oktober
vor, statt des Justiz-Stoffs diesen Zweiakter in ein Der Richter und sein Henker (1975)
Drehbuch umzuarbeiten (das 1961 für sein Teil im
Sanssouci Verlag erscheinen sollte). Wechsler ließ sich Etwas mehr als zehn Jahre später erhielt Maximilian
auf das Wagnis ein. So entstand von Mitte Januar bis Schell in Hollywood das Angebot, bei der Adaption
Mitte März – unter Dürrenmatts Beteiligung auch an von Der Richter und sein Henker Regie zu führen. Er
den Dreharbeiten – mit dem für Justiz engagierten schrieb selbst ein Drehbuch und nahm Kontakt auf mit
Starensemble und dem Komödienspezialisten Kurt Dürrenmatt, der ihm vorschlug, es zu überarbeiten
Hoffmann als Regisseur eine aufwendige, gemeinsam (vgl. Fischer 2011). Das Drehbuch, das Dürrenmatt
mit der Berliner CCC produzierte Verfilmung (die »drei Wochen vor Drehbeginn« vorlegte (Schell 2014,
Kosten beliefen sich auf über zwei Millionen Franken; 277), erkannte der Regisseur nicht wieder. Dürrenmatt
vgl. Dumont 1987, 533). Sie feierte an der Berlinale habe den Roman gar nicht mehr gelesen, sondern den
Premiere und stieß dort, anders als in der überwie- Stoff auf der Grundlage des von ihm, Schell, geschrie-
gend begeisterten Schweizer Presse (vgl. SLA-FD-D- benen Drehbuchs umgearbeitet. Seit seiner letzten Ar-
10-b-MIS-3), zum Teil auf Kritik; der Vorwurf galt beit für den Film hatte Dürrenmatt – nicht zuletzt rund
u. a. der »Verballhornung der Demokratie« (Schlapp- um den Mitmacher – einen neuen dramatischen Stil
ner 1961, 14). Die Einspielergebnisse fielen dennoch entwickelt, der auch die neue Drehbuchfassung von
ansehnlich, wenn auch nicht kostendeckend aus (vgl. Der Richter und sein Henker prägte: »Eine Verknap-
Dumont 1987, 533). pung, Skelettierung der Dialoge zu stichomythischem
Im Vergleich mit den beiden 1952 und 1957 ver- Wortwechsel, zu einem Schlagabtausch oder Ping-
öffentlichten Dramenfassungen wartet der Film mit pong-Spiel, das sich immer mehr formalisiert: Dialog
gewichtigen Änderungen auf: Eine kommentierende nicht als verständnisorientiertes Gespräch, sondern als
Erzählstimme gibt das Geschehen chronologisch wie- Antagonismus, als strategisches Mittel im Kampf«
der und ersetzt so die erklärenden »Vor- und Rück- (Weber 2020, 335). Zudem hatte Dürrenmatt Szenen,
blenden« der Dramenfiguren, ihr »Sprechen ins Pu- die Schell für wichtig hielt, gestrichen, dafür aber neue
218 II Schriftstellerisches Werk – N Film und Literatur

geschrieben, die nichts mit der Geschichte zu tun hat- Wohltemperierte Klavier (I) schrieb er den Auftrag als
ten. So sah Schell sich gezwungen, das Drehbuch selbst Novelle in vierundzwanzig Sätzen. Zentral ist das Mo-
noch einmal zu überarbeiten (vgl. Schell 2014, 277). tiv des Filmens – übersteigert in der Figur des Poly-
Die Vorgeschichte in Istanbul wird in den Vor- phem, des versehrten Filmers, der alle filmt, beobach-
spann und an den Anfang des Films gesetzt. Die erhal- tet und seinerseits von Satelliten beobachtet wird. Die
tenen Drehbücher sehen als erste Szene die Unter- Medien, insbesondere die Bildmedien, spielen eine
suchung bei Arzt Hungertobel vor (vgl. SLA-FD-A- entscheidende Rolle in Dürrenmatts Denkmodell der
m-107-I und A-r133) bzw. den Fund der Leiche (vgl. Beobachtung: Eine Realität unabhängig von der Be-
SLA-FD-A-m-107-II). Anders als im Roman wird die obachtung gibt es nicht; mit der (medialen) Beobach-
quasi rechtsphilosophische Wette zwischen Bärlach tung verändert sich die Wirklichkeit (vgl. Kost 2005,
und Gastmann mit einer Liebesgeschichte aufgeladen 344 f.). Der Auftrag erscheint 1986; einige Monate spä-
(in beiden Drehbuchversionen) bzw. von ihr über- ter, Anfang 1987, schreibt Dürrenmatt eine Filmfas-
deckt (im Film). Gastmann (Robert Shaw), Bärlach sung, die er seinerseits Charlotte Kerr widmet. Und
(Martin Ritt) und der Schriftsteller Friedrich (Dür- 1989 erstellt er aus dem Auftrag ein Filmtreatment.
renmatt) umschwärmen die durch die orientalistische
Kulisse tänzelnde Nadine (Rita Calderoni), die im Ro-
man nicht vorkommt. Sie, nicht ein bankrotter Kauf- Midas (1990)
mann, wird zum Opfer der Wette. Und die in der Vor-
lage marginale Figur von Schmieds Freundin Anna Schon vor der Ausstrahlung von Der Richter und sein
(Jacqueline Bisset), die Gastmann an Nadine erinnert, Henker am 7.9.1957 hatten der Süddeutsche Rund-
wird zur attraktiven Manövriermasse zwischen den funk und Dürrenmatt eine weitere Zusammenarbeit
männlichen Figuren ausgebaut. für drei Fernsehspiele in den folgenden drei Jahren
Schells Richter und sein Henker ist prominent be- vereinbart (vgl. Weber 2020, 213). Einer dieser – nie
setzt, auch in den Nebenrollen. Dürrenmatt gibt in ei- umgesetzten – Stoffe war mit großer Wahrscheinlich-
nem selbstironischen Auftritt den Schriftsteller, der keit Coq au vin. Dürrenmatt nahm die Geschichte
nur gegen sich selber Schach spielt; Donald Suther- vom Mann, der aus geschäftlichen Gründen bei einem
land hat mit einer slapstickartigen Performance einen Unfall sterben muss, 1970 in sein Stoffe-Projekt auf.
Auftritt als Schmieds Leiche. Maximilian Schell ist der 1972 stellte er sie aber zurück, löste sie später aus dem
Pianist, der den Violinisten Pinchas Zukerman beglei- Stoffe-Komplex heraus und begann, sie ab 1980 für ein
tet. Und Gastmanns Leibwächter spielen Eduard Filmprojekt mit Schell zu bearbeiten (vgl. WA 26,
(Edy) Hubacher, Olympiasieger 1972 im Viererbob, 196). In diesem Projekt zeigte sich erneut, wie proble-
und Rudolf (Ruedi) Hunsperger, 1966, 1969 und 1974 matisch Dürrenmatts Arbeitsweise beim Schreiben
Eidgenössischer Schwingerkönig, der in der Begräb- eines Drehbuchs war. Kerr erinnert sich, dass er die
nisszene also im doppelten Wortsinn als Kranz- zehnte Drehbuchversion schrieb, statt nur eine Szene
schwinger auftritt. anzupassen, mit der Schell nicht zufrieden war (vgl.
Kerr 1992, 10). Dass Dürrenmatt mit Stoffkomplexen
und unabhängig von Projekten arbeiten wollte, die auf
Der Auftrag (1986) ein Medium, eine Textsorte beschränkt sind, zeigte
sich in den Verhandlungen mit der Produktionsfirma,
Sowohl den Auftrag (Für Charlotte) wie später Midas die für Schell die Rechte am Midas regeln sollte: Dür-
(Für J. [Joggeli]) – zwei Stoffe, für die das Medium renmatt bestand darauf, den Stoff als Novelle, Theater-
Film zentral ist – widmete Dürrenmatt Charlotte Kerr. stück etc. weiter bearbeiten zu können (vgl. SLA-FD-
Für Kerrs Filmporträt von Melina Mercouri (Keine zu- B-4-d-6-MID). Über die insgesamt mindestens vier-
fällige Geschichte – Melina Mercouri – Jules Dassin, zehn Fassungen wird aus Midas ein »raffiniertes, me-
1984) arbeitete Dürrenmatt an den Texten mit (vgl. dienreflexives Spiel« (Weber 2020, 485). Dürrenmatt
Weber 2020, 511). Bei Kerrs Versuch, Ingeborg Bach- entschied sich für eine subjektive Kameraführung aus
manns Der Fall Franza zu verfilmen, schrieb er u. a. der Perspektive der Hauptfigur. Die Figur wird zur
den Anfang: die Szene mit dem Helikopter, an dem »Stimme Green« dematerialisiert und direkt an die
der Sarg hängt (vgl. Kerr 1992, 228 f.). Und Dürren- Imagination des Autors gebunden. Bei Midas wie
matt eignete sich Bachmanns Stoff an. Unter dem Ein- beim gesamten Spätwerk zeigt sich »[d]ie Befreiung
druck der 24 Präludien und Fugen von Bachs Das des Werks aus der objektiven, endgültigen Erstarrung,
60  Film und Literatur 219

die Rückholung des Objektivierten ins Subjektiv-Ima- Titel Justiz, das im Nachlass erhalten ist und das, wenn
ginäre, in den Denk- und Schreibprozess« (ebd., nicht von Dürrenmatt selbst, dann von jemandem aus
485 f.). Dürrenmatt hat mit Midas einen »seine Text- seinem Umfeld stammt, zeugt nicht gerade von Be-
und Bildkonstruktion reflektierenden Text« geschaf- geisterung: »Eigentlich ist nichts gegen das Drehbuch
fen, der »den inneren Zusammenhang der Krisen der zu sagen und alles. Es ist konventionell gut gebaut, er-
Identität, der Autonomie des Ichs, des Autors wie die zählt, teils spannend, eine Geschichte, die zu einem lo-
medialen Möglichkeiten und Grenzen der Konstituti- gischen Abschluss kommt. Nur die Menschen dieser
on von Wirklichkeit respektive ihrer Fiktionen zur Geschichte interessieren mich nicht. So wie die Ge-
Darstellung bringt« (Rusterholz 2017, 127). 1981 – al- schichte ihre zweite und dritte Dimension verloren
so noch relativ früh im Entstehungsprozess von Midas hat, so auch die Menschen. Sie sind flach« (SLA-FD-
– unterstrich Dürrenmatt, dass es ihm bei diesem Stoff B-4-d-6-Jus, Justiz, 1).
um bildhaftes Denken gehe: »[D]arum schreibe ich Geißendörfer selber berichtete, Dürrenmatt habe
heute ganz bewußt an meinem ersten Film, an einem das Drehbuch »akzeptiert[...]« und »an den Kürzun-
Stoff, den ich von Anfang an als Film konzipiere« (G 3, gen« noch »mitgearbeitet« (Geißendörfer, zit. nach
12). Das zeigt sich auch in der Form, in der Midas – Bolliger/Buchmüller 1996, 299). Das Grundgerüst des
mit dem oxymorischen Titelzusatz Die schwarze Lein- Romangeschehens bleibt in der Verfilmung bestehen.
wand – schließlich erschienen ist: gedruckt als »›Film Der Protagonist Spät (Thomas Heinze) ist aber nicht
zum Lesen‹« (WA 26, 196). mehr der »getriebene« (ebd., 299), unsympathische
Säufer des Romans, sondern eine Figur mit mehr
Identifikationspotential, primär ein – wie Der Spiegel
Justiz (1993) schrieb – »unwiderstehlich harmlos in die Welt
schau[ender]« Grünschnabel (N. N. 1993). Zum Bei-
Nachdem Dürrenmatt dem Drängen seines Verlegers spiel liefert er seinen Klienten aus dem Rotlichtmilieu
nachgegeben und den 1960 abgebrochenen Justiz-Ro- nicht vorsätzlich ein Alibi. Und er schläft im gesamten
man doch noch fertiggestellt hatte, wollten in der Film lediglich mit zwei Frauen, hat demnach nur mit
zweiten Hälfte der 1980er Jahre mehrere Produktions- einer einzigen Prostituierten ein Verhältnis. Sein ei-
firmen und Regisseure die Filmrechte erwerben. Auch gentliches Objekt der Begierde, die gemäß Drehbuch
Charlotte Kerr bereitete 1986 einen Film oder einen »außergewöhnlich attraktive« Hélène (Anna Thal-
TV-Dreiteiler nach dem Stoff vor und fragte Ernst bach), ist ihrerseits schwer in ihn verliebt und klärt
Schröder für die Rolle des Kohler und Gloria Fürstin das TV-Publikum schon früh über das eigentliche
von Thurn und Taxis für die der Daphne an (vgl. SLA- Mord-Motiv auf. Aus der Romangestalt, die ihre Ver-
FD-B-4-d-6-Jus). Dürrenmatt selber arbeitete den gewaltigung so problematischer- wie »geschmack-
Roman im Februar 1988 in eine Filmerzählung um, lose[rweise]« (Knapp 1993, 149) genossen haben soll
eine »Kurz- oder Sonderfassung des Romans, die die und danach »mit allen« (WA 25, 224) ins Bett steigt,
Handlungsstruktur sowie das ›Dialog-Material‹ für ei- auch mit ihren Vergewaltigern, macht die Sympathie-
nen Film enthält« (Auge 2004, 159). Darin sind Motiv regie des Films eine »ernsthafte Rührfigur« (Der Spie-
und Ende der Handlung entscheidend modifiziert: gel 41, 1993, 287). Eine größere Distanz zu dem, was
Urheberin des Masterplans ist hier Hélène; sie spielt à Dürrenmatt in seinen späten Filmstoffen Midas und
la bande – »auf sowas können nur Weiber kommen«, Der Auftrag interessierte, ist kaum denkbar.
meint Kohler (SLA-FD-A-r140) –, um sich an ihrem
ehemaligen, von Daphne abspenstig gemachten Ver- Literatur
Auge, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts Roman Justiz. Ent-
lobten Benno zu rächen. Ihr Vater nimmt mit seinem stehungsgeschichte, Problemanalyse, Einordnung ins
Mord an Winter in der Dramaturgie dieses Plans nur Gesamtwerk. Münster 2004.
die Rolle eines Werkzeugs ein und wird von Hélène Benn, Gottfried: Die Ehe des Herrn Mississippi. In: Ders.:
zuletzt mitsamt der steiermannschen Villa in die Luft Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 7: Vermischte
gesprengt. Schriften. Wiesbaden 1968, 1754–1756.
Bienek, Horst: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. Mün-
Hans W. Geißendörfer, der den Roman schließlich
chen 1962.
1993 mit Maximilian Schell als Kohler verfilmte, hatte Bolliger, Luis/Buchmüller, Ernst: Play Dürrenmatt. Ein
1989/90 Briefkontakt mit Dürrenmatt. Am 17.7.1990 Lese- und Bilderbuch. Zürich 1996.
schickte er sein Drehbuch an Dürrenmatt und die bei- Buchmüller, Ernst: Schriftliches Exzerpt des Videointer-
den vereinbarten ein Treffen. Ein Dokument mit dem views mit Franz Peter Wirth am 12.11.1995. Schweizeri-
220 II Schriftstellerisches Werk – N Film und Literatur

sches Literaturarchiv, Play Dürrenmatt, 3sat Buch 1. N. N.: Ein Mord à la carte. In: Der Spiegel 41 (1993), 286 f.
Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-E-71. Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung. Dürrenmatt
Buchmüller, Ernst: Der Richter und sein Henker. In: Ders., und der klassische Detektivroman. Marburg 2007.
Luis Bolliger: Play Dürrenmatt. Ein Lese- und Bilderbuch. Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Zürich 1996, 27–34. Biographie. Zürich 2011.
Dumont, Hervé: Geschichte des Schweizer Films. Spielfilme Rusterholz, Peter: Die Krise der Darstellung als Darstellung
1896–1965. Lausanne 1987. der Krise: Midas – Der Film zum Lesen. In: Ders.: Chaos
Fischer, Robert: Schach mit Dürrenmatt. Maximilian Schell und Renaissance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg.
über Der Richter und sein Henker. D 2011. von Henriette Herwig und Robin-M. Aust. Baden Baden
Habermann, Britta: Friedrich Dürrenmatt: Die Ehe des 2017, 115–129.
Herrn Mississippi. Von der Komödie zur Posse – Ein Ver- Schell, Maximilian: Ich fliege über dunkle Täler oder Etwas
gleich der Fassungen und ihrer Konfiguration. In: Karl fehlt immer. Erinnerungen. Hamburg 2014.
Konrad Polheim (Hg.): Die dramatische Konfiguration. Schlappner, Martin: Dürrenmatt auf der Leinwand. Zur Auf-
Paderborn 1997, 349–377. führung der Ehe des Herrn Mississippi im Zürcher Kino
Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. München 1992. Capitol. In: Neue Zürcher Zeitung, 25.8.1961, 14.
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Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart, Utz, Peter: Der steckengebliebene Gotthardexpress. Ein
Weimar 1993. unbekanntes frühes Filmtreatment von Friedrich Dürren-
Kost, Jürgen: Mediale Inszenierung als Paradigma der ent- matt. In: Ewa Wojno-Owczarska (Hg.): Literarische Kata-
fremdeten Moderne: Friedrich Dürrenmatts Der Auftrag strophendiskurse im 20. und 21. Jahrhundert. Frankfurt
oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. In: a. M. 2019, 149–166.
Heinz-Peter Preußler (Hg.): Krieg in den Medien. Ams- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
terdam 2005, 329–350. Zürich 2020.
Möbert, Oliver: Intertextualität und Variation im Werk
Friedrich Dürrenmatts. Frankfurt a. M. 2011. Ulrich Boss / Elio Pellin
III Bildnerisches Werk
61 Bildnerisches Werk wendete Materialien, seine Ausbildung, Arbeitsweise,
seine kunsttheoretischen Reflexionen, die Sammlun-
Einleitung gen seiner Werke und auch die Frage, ob sich Dürren-
matt selbst überhaupt als Maler verstand.
Friedrich Dürrenmatt gehört zu den sogenannten
Doppelbegabungen, auch wenn ihm als bildender
Künstler nicht die gleiche Wertschätzung wie als Ausbildung
Schriftsteller zuteilwird. Dennoch speisen die gleichen
»Stoffe«, wie Dürrenmatt seine »vorsprachliche[n] Vi- Friedrich Dürrenmatt zeichnet und malt seit seiner
sionen« (Rusterholz 2017, 189) bezeichnet, sowohl Kindheit bis zu seinem Tode. Im »Atelier des Dorf-
sein literarisches als auch sein bildnerisches Werk. In- malers« in Konolfingen will er die Deckfarbenmalerei
sofern wäre es ein Fehl- bzw. Kurzschluss, sein Bild- entdeckt und durch einen Gymnasiallehrer in Bern das
werk als Nebenprodukt oder reine Illustration seiner Zeichnen mit der Feder erlernt haben (WA 28, 38 u.
Schriften zu verstehen. Beide Kunstformen können 50). Dem Privatunterricht des Malers Walter Jonas
dem gleichen Stoff entspringen, sich jedoch sehr selb- folgt er 1942/43 in Zürich nur als Zuschauer (vgl. WA
ständig in verschiedene Richtungen entwickeln. 28, 276–278). Im gleichen Zeitraum lernt er seine erste
Für Dürrenmatt sind das bildnerische Schaffen und Liebe Christiane Zufferey kennen, die an der Zürcher
das Schreiben komplementär: »Es gibt gewisse Dinge, Kunstgewerbeschule Malerei studiert. Dürrenmatt
die kann ich nur zeichnen, und es gibt gewisse Dinge, selbst besucht nie eine Kunstschule und schafft sein
die kann ich nur schreiben. Aber man zeichnet und umfangreiches bildnerisches Werk als Autodidakt.
schreibt aus dem gleichen Hintergrund. Und der Hin-
tergrund ist das Denken, ist das Denken über die
Welt« (G 2, 258). Dem bildnerischen und dem literari- Selbstverständnis als bildender Künstler
schen Werk gemeinsam ist der Hang zum Grotesken,
zur humorvollen, manchmal auch makabren Defor- Obwohl Dürrenmatt auf eine langjährige Erfahrung als
mierung, zur Karikatur bzw. Parodie. Maler und Zeichner zurückblicken kann, distanziert er
Der im Kontext des Bildwerks am häufigsten zitier- sich 1978 ausdrücklich vom Status eines bildenden
te Text, den Dürrenmatt 1978 für die Begleitpublikati- Künstlers: »Immer wieder: ich bin kein Maler« und:
on seiner Ausstellung in der Galerie Daniel Keel in »Ich bin ein zeichnerischer Dilettant« (WA 32, 215 f.).
Zürich verfasst hat, ist die Persönliche Anmerkung zu Diese Behauptung begründet er mit einer mangelhaf-
meinen Bildern und Zeichnungen (WA 32, 201–216). ten technischen Beherrschung der Malerei, in der er
Es handelt sich um eine wichtige autobiografische sich auf die Stufe eines Kindes stellt. Malen und Zeich-
Quelle, deren Gebrauch jedoch einen gewissen kriti- nen versteht er als eine Form, Gedanken zu visualisie-
schen Abstand verlangt, um zu vermeiden, Dürren- ren, die er nicht in Sprache auszudrücken vermag (vgl.
matt immer wieder durch Dürrenmatt zu erklären. WA 32, 215 f.; G 2, 121 f. u. 250 u. 257). Doch erscheint
Bisher wurden nur Teilaspekte von Dürrenmatts sein Selbstporträt von 1982 (Abb. 61.1) in offenem Wi-
Bildwerk untersucht. Eine Überblicksdarstellung steht derspruch zu dieser autobiografischen Selbsteinschät-
bis heute aus. Dank des ständig aktualisierten Online- zung. Dürrenmatt stellt sich darin vor einer Staffelei mit
Katalogs seines Bildwerks (s. Bibliografie) ist zumin- Leinwand und Malutensilien dar. Sein dem Betrachter
dest die Forschungsgrundlage für eine Studie über das zugewandter Blick scheint diesen aufzufordern, der
Gesamtwerk geschaffen. Ziel dieses Beitrags ist es, die Geste seiner rechten Hand zu folgen, die mit einem wei-
wesentlichen Aspekte seines Bildwerks aufzuzeigen, ßen Stofftuch über die Bildoberfläche wischt. Abge-
seien es die von ihm bevorzugten Bildthemen, deren sehen vom offenen Hemd, das einen schonungslosen
Quellen, Bezüge zu seinem eigenen Leben und zum Blick auf Dürrenmatts Leibesfülle bietet, folgt er in die-
Zeitkontext, die Beziehungen zwischen Text und Bild, sem Gemälde der Tradition des Künstlerselbstbildnis-
stilistische Eigenarten, praktizierte Techniken und ver- ses. Die ostentative Darstellung als Maler bei der Arbeit

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_61
224 III  Bildnerisches Werk

zeigt, wie zweideutig sein Selbstverständnis als bilden- die er gerne karikiert, spielen in seinem Werk eine
der Künstler ist. In den vier Jahren vor der Entstehung wichtige Rolle. Viele biblische und mythologische Sze-
dieses Selbstbildnisses hat Dürrenmatt immerhin einer nen durchkreisen Himmelskörper, wie er sie »von sei-
öffentlichen Ausstellung seiner Zeichnungen und Ge- nen Beobachtungen mit dem Teleskop oder von Astro-
mälde in Zürich und in Bern zugestimmt. Fotografien kannte« (Fischer 2017, 79). Aber auch an-
dere Bildmotive zeugen von seiner Auseinanderset-
zung mit den Naturwissenschaften wie der Astronomie,
Bildthemen Kosmologie, Astrophysik, Evolutionstheorie, Hirnfor-
schung usw. (vgl. Käser 2017, 17). Einen wichtigen Stel-
Seine Bildthemen entlehnt Dürrenmatt in erster Linie lenwert in seinem Bildwerk nimmt zudem das Porträt
der Bibel, der griechischen Mythologie, der Geschichte ein, wobei er sich neben Bildnissen von Familienmit-
und der Literatur. Auch Schweizer Nationalmythen, gliedern und Freunden bevorzugt selbst darstellt. Zeit-

Abb.  61.1  Friedrich ­


Dürrenmatt, Selbstporträt,
1982.
61  Bildnerisches Werk 225

drängenden Nachbarländer: Die braunen Stiefel ste-


hen für die deutsche Naziherrschaft, die schwarzen für
das faschistische Italien und die eleganteren schwarzen
Halbschuhe für Frankreich. Die Aufschrift könnte auf
das patriotische Schweizer Lied anspielen: »Ich bin ein
Schweizerknabe, ich leide keine Schmach, am Hoch-
gefühl der Schweizer schon manche Lanze brach.«
Auf die 1963 in Zermatt ausgebrochene Typhus-
epidemie, die drei Todesopfer forderte und die Hospi-
talisierung von über 450 Personen zur Folge hatte, rea-
giert der Künstler mit einer Serie von fingierten Pla-
katentwürfen, die er für seine drei Kinder zeichnet. In
den noch im gleichen Jahr im Diogenes Verlag unter
Abb.  61.2  Friedrich Dürrenmatt, Schweizerknabe, ­ dem Titel Die Heimat im Plakat erschienenen satiri-
Schweizerknabe, vor 1940. schen Zeichnungen und deren Kommentaren paro-
diert Dürrenmatt typische Werbesprüche der Touris-
lebens zeichnet er Karikaturen, die er 1952 als »eine der musbranche (Dürrenmatt 1963).
Waffen des menschlichen Geistes« und als »eine der In der Zeit des Kalten Krieges führte ihn sein An-
Möglichkeiten der Kritik am Menschen« bezeichnet spruch, in Bild und Text Gleichnisse zu ersinnen, »die
(WA 32, 151). Als Religionskritiker karikiert er bevor- im Zeitalter der Wissenschaft noch möglich sind« (WA
zugt Päpste, aber auch Engel, von denen einige durch 32, 215), in das Gebiet der »apokalyptische[n] Kunst«
Hauben als Nonnen, andere durch Pastorenhut, Beff- (WA 9, 154). Ihr Ziel ist es, dem Betrachter das Poten-
chen oder Bibel als Pfarrer gekennzeichnet sind. Dür- tial der Selbstzerstörung durch technische Errungen-
renmatt illustriert auch seine eigenen Werke (vor allem schaften warnend vor Augen zu führen. In Karikaturen
die Dramen), wovon die Tuschezeichnungen zu Es wie Zorniger Schweizer Atombombe werfend I (SLA-
steht geschrieben (1947) das früheste Zeugnis ablegen. FD-A-Bi-1-393) kritisiert er in den frühen 1960er Jah-
Ein Leitmotiv, sowohl im literarischen als auch im bild- ren das Schweizer Kernwaffenprogramm. Aber auch
nerischen Werk, bilden zeitlebens Endsituationen, sei biblische Themen, wie der Turmbau zu Babel, können
es der durch die biblische Apokalypse oder eine Super- sich auf aktuelle Probleme beziehen. Die kühnste sei-
nova verursachte Weltuntergang, die von Menschen- ner Konstruktionen ist der Turmbau III von 1968
hand produzierte kollektive Katastrophe oder auf indi- (Abb. 61.3), den Dürrenmatt im Untertitel als Der ame-
vidueller Ebene der Tod eines Menschen. In einigen rikanische Turmbau bezeichnet. Mit abschussbereiter
Fällen kann ein Motiv erstaunliche Metamorphosen Rakete und Parabolantennen ist er mit allen Raffines-
durchmachen, so z. B. wenn der Felsbrocken des Sisy- sen einer hochtechnisierten Supermacht ausgestattet
phos plötzlich zu einer gewaltigen Atombombe mu- (vgl. Bonnefoit 2014, 182 f.). Die alttestamentliche Er-
tiert, die, von einer großen Menge von Menschen auf zählung vom Turmbau zu Babel (vgl. 1. Mose 11,1–9)
den Gipfel geschoben, im nächsten Augenblick schon diente ihm als Allegorie des Weltuntergangs, der für
diese überrollen und die Stadt am Fuße des Berges aus- ihn von einer »immerwährenden Aktualität« ist: »So
löschen wird (vgl. SLA-FD-A-Bi-1-275). zeigen denn alle meine ›Turmbau‹-Bilder die Unsin-
nigkeit des Unternehmens auf, einen Turm zu bauen,
der bis in den Himmel reicht, und damit die Absurdität
Zeitkontext menschlichen Unterfangens schlechthin. Der Turm zu
Babel ist das Sinnbild der menschlichen Hybris. Er
Dürrenmatt reagiert in seinem Bildwerk auf aktuelle bricht zusammen, und mit ihm stürzt die Menschen-
politische und gesellschaftliche Themen. So stellt er welt zusammen« (WA 32, 206 f.). Die scheinbar wahl-
während des Zweiten Weltkriegs in einer Karikatur lose Kombination unterschiedlichster technischer Tei-
mit der Aufschrift »Schweizerknabe, Schweizerknabe« le auf fragilen Gerüsten erinnert an die fantasievollen
(Abb. 61.2) ein durch das Kreuz auf seiner Kappe als Konstruktionen von Jean Tinguely, dessen Werke Dür-
Schweizer gekennzeichnetes winziges Männchen von renmatt 1975 als »sinnlose Maschinen« beschreibt, die
drei Paar riesigen Beinen umzingelt dar. Diese sym- »als Protest gegen eine sinnlose Maschinenwelt« kon-
bolisieren die sich bekriegenden und die Schweiz be- struiert seien (WA 32, 197).
226 III Bildnerisches Werk

Fassungen vorliegende Midas-Geschichte bezeich-


net er als »ein Gleichnis vom Menschen, der an sei-
ner Macht und an seinem Reichtum zugrunde geht«
(Kerr 2010, 357). Als zeitgenössisches Äquivalent zu
König Midas ersinnt er den skrupellosen und habgie-
rigen Großindustriellen namens Green. Allerdings
tritt in der Geschichte ein weiteres Individuum auf,
das Green die Rolle des Midas streitig macht: der Au-
tor F. D. Die Verschmelzung bzw. Verwandlung der
Protagonisten zur Gestalt des Midas-Green-F. D. vi-
sualisiert eine Serie von fünf Filzstiftzeichnungen
(SLA-FD-A-Bi-1-534 bis 538), bei denen es sich um
Selbstporträts handelt. Einem von diesen sind, wie in
der Erzählung des Mythos in den Metamorphosen des
Ovid, Eselsohren gewachsen (vgl. Minder 2018, 44).
Ulrich Weber vergleicht Midas’ Fluch, alles in Gold
zu verwandeln, was er berührt, mit Dürrenmatts
künstlerischer Gabe: »[A]lle Menschen, denen er
begegnet, verwandeln sich unter seiner Hand in
künstlerischen ›Stoff‹, in Literatur und Bilder, und
mitten in dieser zu Kunst erstarrten Welt steht der
einsame Autor, der einem Menschen nicht begeg-
nen kann, ohne ihn in ein Motiv zu verwandeln«
(Weber 2008, 5).
Bevorzugt identifiziert sich Dürrenmatt mit dem
Minotaurus: »Also ich fand das Labyrinth immer als
Abb. 61.3 Friedrich Dürrenmatt, Turmbau III: Der amerika- ein Gleichnis von der Welt, in der ich selber drin war.
nische Turmbau, 1968. [...] [I]ch war dann [...] sozusagen selber der Minotau-
rus, oder einer der ins Labyrinth gerät« (Kerr 2007,
DVD 1, 00:28:23–00:28:50).
Auch ein der griechischen Mythologie entlehntes Mo- Da Dürrenmatt als Schriftsteller immer wieder zur
tiv wie der das Himmelsgewölbe auf den Schultern Zielscheibe von Literatur- und Theaterkritikern wur-
tragende Atlas kann zu einem Sinnbild des Weltunter- de, illustrierte er besonders in den 1960er Jahren sati-
gangs werden. In mehreren Zeichnungen erscheint risch den Kampf zwischen diesen und den Künstlern.
Atlas am Ende seiner Kräfte. Die durch Krieg, Nukle- In einer Tuschezeichnung von 1963 liefern sich die
arwaffen und Umweltzerstörung verunstaltete Welt beiden zu Kopffüßlern reduzierten Figurengruppen
wiegt zu schwer, als dass der Titan sie noch zu tragen eine wilde Schlacht (Abb. 61.4), deren Kampfordnung
vermag. Die Federzeichnung Der versagende Atlas von dem bekannten Fresko in der Schlachtkapelle in Sem-
1958 (SLA-FD-A-Bi-1-745) bezeichnet Dürrenmatt pach entspricht. Auf der linken Seite, wo die Eidge-
als »Weltuntergangsbild« (WA 32, 208). Obwohl die nossen kämpfen, erscheinen in Dürrenmatts Zeich-
Menschen auf der Erde mit Parolen wie »Atlas darf nung nicht zufällig die Künstler, die durch ihre lan-
nicht versagen« (208 f.) protestieren, hat der erschöpf- gen, struppigen Haare als Bohemiens charakterisiert
te Titan die Welt bereits aufgegeben, wodurch der ge- sind und schwere Bücher auf die Feinde schleudern.
samte Kosmos aus den Fugen gerät. Die Kritiker werden durch ihre geschniegelte Frisur
dagegen als gesellschaftlich arriviert gekennzeichnet.
Sie nähern sich natürlich von der Seite des habsburgi-
Autobiografische Bezüge schen Feindes und werfen ihre Tintenfedern gleich
Lanzen auf die Künstler. Einer der Künstler opfert
Dürrenmatt stellt sich gelegentlich in der Gestalt sich wie Arnold Winkelried, indem er gleich ein gan-
mythologischer Figuren dar, mit deren Schicksal er zes Bündel von Tintenfedern packt, sich auf diesen
sich identifizieren kann. Seine in mindestens zwölf aufspießt, um durch seinen Heldentod seinen Genos-
61  Bildnerisches Werk 227

luftballon »Ruthli« zu lesen ist. Die Reise führt die


Kinder ins Universum und sogar auf den Grund des
Meeres in das Schloss des Neptun, bei dem es sich laut
Ruth um ein Selbstporträt Dürrenmatts in mythologi-
scher Gestalt handelt (Dürrenmatt 2013). Die Szene
des Festessens bei Neptun (SLA-FD-A-Bi-1-24-12) mit
dem beleibten Meeresgott als Alter Ego Dürrenmatts,
dessen Frau und den drei Kindern wirkt wie ein har-
monisches Familienporträt.

Motivquellen

Dürrenmatt eignet sich in seinen Bildwerken Motive


und bildnerische Mittel an von Hieronymus Bosch,
Albrecht Dürer, Matthias Grünewald, Michelangelo,
Rembrandt, Giovanni Battista Piranesi, Goya, Dau-
mier, Picasso, Klee, George Grosz, Otto Dix (vgl. Gas-
ser 1978, o. S.; Magnaguagno 1994, 181; Rusterholz
2017, 210; Bloch 2017, 225), aber auch von zeitgenös-
sischen Karikaturisten wie Saul Steinberg und Paul
Flora. Wie eigenständig er jedoch die Anregungen
umsetzen kann, soll ein Vergleich seiner Federzeich-
Abb.  61.4  Friedrich Dürrenmatt, Schlacht zwischen ­ nung Beim Bau eines Riesen mit dem Gemälde Gren-
Künstlern und Kritikern, 1963. zen des Verstandes (1927) von Paul Klee (Abb. 61.5 u.
61.6) exemplarisch zeigen, das ihm als Vorbild vor-
geschwebt haben muss. In Publikationen über Klee
sen zur Linken die Bresche in die feindlichen Reihen finden sich ab 1929 Abbildungen dieses Werks. Klee
zu öffnen. entwirft in der unteren Bildhälfte aus Linienbündeln
Nach dem Verriss seines Romans Durcheinandertal einen riesigen Kopf, dessen Gehirn eine Leiter ent-
durch das Literarische Quartett am 12.10.1989 zeich- springt, die die Basis eines Gerüsts bildet, das sich bis
net sich Dürrenmatt in Form seines Alter Ego, dem zu einem roten Planeten aufschwingt. Die Augen be-
Nashorn, das einen über dem Feuer brodelnden Sup- stehen aus kegelförmigen Lichtbündeln, die von der
pentopf umrührt, aus dem die Köpfe von Marcel Nasenwurzel des Gesichts ausstrahlen. Am unteren
Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Klara Ober- Bildrand findet sich ein weiterer Strahlenkegel. Dür-
müller herausschauen (vgl. Kerr 2001, 173). Die Bild- renmatt verwandelt Klees abstrakte Komposition in
geschichten vom Nashorn und der Tigerin entwarf er ein figuratives und narratives Bild, das Wissenschaft-
ab 1984 für seine zweite Frau, Charlotte Kerr, wobei es ler beim Bau eines monströsen Kopfes zeigt. Von Klee
sich bei den beiden Tieren um zwei autobiografische übernimmt er die Idee eines aus dem Gehirn in den
Gestalten handelt, die für Dürrenmatt und Kerr ste- Himmel aufsteigenden Gerüsts, des über dem Schä-
hen. Ihnen fügt der Künstler noch drei imaginäre Kin- del schwebenden Planeten und der kegelförmigen
der namens Vinzenz, Vinzenza und Pallepittli hinzu Lichtstrahlen, die den Augen entströmen. Dürren-
(vgl. Kerr 2001). Die Zeichnungen kommentieren auf matt liebt an Klee »das Spielerische«, auch wenn er
humorvolle Weise tägliche Lebenssituationen und Bosch und Rembrandt für sein Bildwerk als »wichti-
sind somit auch ein Bild-Tagebuch. ger« betrachtet (Bloch 2017, 186). Es sind vor allem
Bereits drei Jahrzehnte zuvor malt Dürrenmatt in die Hell-Dunkel-Effekte seiner Tuschezeichnungen
Gegenwart seiner drei Kinder Peter, Barbara und Ruth und die Federschraffuren, wie sie in der Kreuzigung
die Bildergeschichte für die Kinder (SLA-FD-A-Bi-1- III von 1976 vorliegen, die an Rembrandts Grafik er-
24, publ. 2013), die eine abenteuerliche Reise um die innern (Abb. 61.7). In der mit Grabstichel überarbei-
Welt darstellt. Auf einem Flugzeug stehen die beiden teten Kaltnadelradierung Die drei Kreuze von Rem-
Namen Peter und Barbara, während auf einem Heiß- brandt fallen die Lichtstrahlen wie bei Dürrenmatt
228 III  Bildnerisches Werk

(Bühler 2003, 64–66, 66). Sowohl Boschs Aufstieg als


auch die Sixtinische Kapelle hat Dürrenmatt im
Herbst 1966 während einer Italienreise sehen können.
Im gedeckten Tisch im Ölgemälde Die letzte General-
versammlung der Eidgenössischen Bankanstalt (SLA-
FD-A-Bi-1-206; s. Abb. 77.1) des gleichen Jahres sieht
Weber eine Anspielung auf die »Darstellung des
Abendmahls, etwa das berühmte Bild von Leonardo
da Vinci, von dem Dürrenmatt bereits als Kind eine
Kopie gezeichnet hat« (Weber 2008, 3). Auch das Ad-
jektiv ›letzte‹ im Titel des Werks, das einen kollektiven
Selbstmord von Aktionären und Verwaltungsräten ei-
ner Bank darstellt, verweist auf Das letzte Abendmahl
(vgl. ebd.).
Dürrenmatt scheint in den genannten Beispielen
daran zu liegen, dass die Quelle erkannt wird und
sein Bild damit als eigenständige Interpretation oder
Gegenentwurf wahrgenommen wird. Einerseits er-
folgen diese impliziten Verweise durch Analogien in
Komposition, Farbgebung und Strichführung (z. B.
zwischen Edvard Munchs Der Schrei und Dürren-
matts Bild Der singende Kopf des Orpheus treibt den
Styx hinunter), andererseits durch Kontexthinweise –
z. B., wenn er in Labyrinth (Stoffe, Bd. 1) die Be-

Abb.  61.5  Friedrich Dürrenmatt, Beim Bau eines Riesen,


1952.

von oben auf Christus herab und breiten sich fächer-


förmig zu beiden Seiten des Kreuzes aus (Abb. 61.8).
Damit der Körper des Gekreuzigten sich vom Hinter-
grund abhebt, ist er in beiden Werken von schwarzen
Schraffuren umgeben.
Ulrich Weber weist auf Analogien hin zwischen
Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen
Kapelle und Dürrenmatts Gemälde Die Katastrophe
(SLA-FD-A-Bi-1-335) von 1966, »nur dass an Stelle
des Weltenrichters der Zusammenprall der beiden
Sonnen steht [...], und keine Erwählten erkennbar
sind, nur ein grosser Absturz der Menschheit« (Weber
2003, 29); Pierre Bühler vergleicht die konzentrischen
Kreise in Dürrenmatts Gouache Die letzten Menschen
(SLA-FD-A-Bi-1-138) von 1988 mit der tunnelförmi-
gen Verbindung zum Himmel im Gemälde Aufstieg
zum himmlischen Paradies von Hieronymus Bosch.
Dabei weist Bühler auf die Umkehrung der Symbolik
durch Dürrenmatt hin: Die ›letzten Menschen‹ schwe-
ben nicht durch den Tunnel ins Paradies, sondern
scheinen aus diesem zurückzukehren, »um in eine
Welt einzutreten, die nicht jene des Paradieses ist« Abb.  61.6  Paul Klee, Grenzen des Verstandes, 1927.
61 Bildnerisches Werk 229

Abb. 61.7 Rembrandt,


Die drei Kreuze, 4. Zustand,
um 1661.

schreibung des Gemäldes Katastrophe unmittelbar


nach dem Bericht über seine kindliche Faszination
durch Michelangelos Jüngstes Gericht folgen lässt
(vgl. WA 28, 33 f.). Das Karikaturistische in der Typi-
sierung der Machthaber und Kriegstreiber, die er als
Student zwischen 1942 und 1946 auf die Wände der
Mansarde in seinem Elternhaus in der Berner Lau-
beggstrasse malt (SLA-FD-A-Bi-2-PS-233), erinnert
an frühe Gemälde von George Grosz (vgl. Bonne-
foit 2014, 168). Rudolf Käser hat die Bedeutung
des Physikers und Astronomen Fritz Zwicky und
dessen »Weltbild eines gewalttätigen Weltraums« für
Dürrenmatts bildnerisches Werk erläutert (Käser
2015, 80).
In Dürrenmatts Bibliothek haben sich viele Bücher
über die erwähnten Künstler erhalten, die ihm in ein-
zelnen Fällen als Inspirationsquelle gedient haben
könnten. In Maurice Raynals Histoire de la peinture
moderne. De Picasso au Surréalisme (1950, 141) findet
sich Picassos bekanntes Bildnis der Weinenden Frau
von 1937. Ihre mit ovalem Strich umrandeten Augen,
die ihr Gesicht fragmentierende schwarze Zickzack-
linie und die auffallend sichtbaren Zähne übernahm
Dürrenmatt in einer Papstkarikatur, die er nicht nur
mit seinem Monogramm, sondern auch ironisch mit
Abb. 61.8 Friedrich Dürrenmatt, Kreuzigung III, 1976. dem Namen »Picasso« signiert (Abb. 61.9 u. 61.10).
230 III  Bildnerisches Werk

Abb.  61.9  Picasso, Weinende Frau, 1937.

Stil

Dürrenmatts Mal- und Zeichenstil lässt sich durch


keinen kunsthistorischen ›Ismus‹ auf den Punkt brin- Abb.  61.10  Friedrich Dürrenmatt, Papst III.
gen. Der Künstler selbst beurteilte sein Werk rückbli-
ckend als dem deutschen Expressionismus ähnlich
(vgl. G 3, 97). Fest steht, dass er zeitlebens ein gegen- Viele Federzeichnungen setzen sich aus unzähligen
ständlicher Maler und Zeichner war. Gegenständlich- feinen Schraffuren zusammen, die nur noch an weni-
keit bedeutet bei Dürrenmatt jedoch kein realistisches gen Stellen das Weiß des Papiers durchscheinen las-
Abzeichnen eines Gegenstandes oder eines Men- sen. Indem Dürrenmatt Striche zu Strömen vereint,
schen. Wie er 1975 in einem Gespräch mit Heinz Lud- die in die gleiche Richtung zu fließen oder spiralför-
wig Arnold erklärte, habe es ihn nie interessiert, »Äp- mig um einen Punkt zu kreisen scheinen, entsteht der
fel zu zeichnen« (G 2, 121 f.). Das Gleiche gilt auch für Eindruck von Bewegung. Planeten wirbeln auf diese
seine Landschaften. Während Reisen durch Griechen- Weise bedrohlich und mit großer Geschwindigkeit
land und Lateinamerika Anfang der 1980er Jahre skiz- durch das Weltall.
zierte er mit schwarzem Filzstift Gebirgs- und Ge- Während diese Federzeichnungen bis ins letzte De-
steinsformationen, in denen sich groteske Fratzen, tail akribisch ausgearbeitet sind, bezeugen Dürren-
Minotauri und allerlei fantastische Gestalten verber- matts Karikaturen, die die größte Themengruppe in-
gen (vgl. Fondation Bodmer 2005, 164–175). Seine nerhalb seines grafischen Werks bilden, ein hohes
Porträts sind eher als psychologische, teils humorvoll Maß an Spontanität und Freiheit. Sein zeichnerisches
überzeichnete Charakterstudien zu bezeichnen, was Talent manifestiert sich hier in seiner Fähigkeit, eine
auch für das Werk seines engsten Malerfreunds Varlin Botschaft in kürzester Zeit und mit wenigen Linien
gilt. In einem Essay, den Dürrenmatt 1969 über ihn knapp aber präzise zu visualisieren. Auch in seinen
schreibt, liest man: »Malen als Porträtieren ist ein Er- Gemälden geht Dürrenmatt wie ein Zeichner vor, in-
leben, nicht ein Fotografieren, mehr einem Erinnern dem er Figuren oder Gegenstände mit dem Pinsel um-
vergleichbar als einem Abbilden« (WA 32, 178). Ein reißt. Die Überzeichnung und Typisierung der Figu-
Jahrzehnt später gestand er: »Eines ist sicher: Meine ren mit ihren oft grotesken Fratzen beschränkt sich
Porträts sind von Varlin beeinflusst, den ich außer- nicht auf das Gebiet der Karikatur, sondern kenn-
ordentlich schätze« (Bloch 2017, 186). zeichnet Dürrenmatts Werk von seinen Anfängen bis
61  Bildnerisches Werk 231

zum Lebensende. »Deutlich ist eine Vorliebe für über- Als Bildträger dienen ihm Karton oder Leinwand. Seit
zeichnete und expressive Körperformen, dramatische seiner Studentenzeit bemalt Dürrenmatt aber auch
Gesten und groteske Physiognomien« (Schmitz- Wände in seinen Wohnräumen, so die Mansarde in
Emans 2014, 276). der Berner Laubeggstrasse (vgl. Vachtova 1995), seine
Zimmer in der Basler St. Alban-Vorstadt und in Scher-
nelz und später die Toilette seines Neuenburger Hau-
Kunsttheoretische Reflexionen ses, die er ironisch »Sixtinische Kapelle« nennt (von
Planta u. a. 2011, 2015). In seinem Bildwerk finden
Angesichts des Siegeszuges der lyrischen, expressio- sich auch Collagen aus mit der Schere zurechtgeschnit-
nistischen und geometrischen Abstraktion ab den tenen Papierformen, wie Ikarus von 1971 (SLA-FD-A-
1950er Jahren verteidigt Dürrenmatt in seinem Var- Bi-1-81). Auch aus Illustrierten schneidet er Bildfrag-
lin-Essay von 1969 dessen konsequentes Festhalten mente, die er auf bemalte oder gezeichnete Bildflächen
an der gegenständlichen Kunst, insbesondere an der klebt. Auf eine Landeskarte der Schweiz malt er einen
Figur des Menschen (vgl. WA 32, 174–182). Eine Ma- Wilhelm Tell mit Armbrust, Atombombe und einem
lerei, die dem gegenwärtigen »wissenschaftlichen Mirage-Kampfflieger und klebt einzelne Teile einer
Zeitalter« (179) entspreche, könne nur gegenständ- zerschnittenen 10-Franken-Banknote darauf (SLA-
lich sein. Als Antonym von »abstrakt« verwendet FD-A-Bi-2-PS-205), um die Schweizer Aufrüstung im
Dürrenmatt in besagtem Essay den Begriff »konkret«, wörtlichen Sinne als Geldvernichtungsquelle anzukla-
der jedoch das Gegenteil der von Theo van Doesburg gen. Auf dem Gebiet der Druckgrafik erprobt er An-
im Manifeste de l’art concret (1930) oder später von fang der 1960er Jahre den Linolschnitt und in den letz-
Max Bill in seinem Aufsatz Die mathematische Denk- ten acht Jahren seines Lebens in der Erker-Galerie in
weise in der Kunst unserer Zeit (1948) definierten St. Gallen auch die Lithografie.
Kunstform meint. Die Welt ist für Dürrenmatt nur
»im Konkreten enthalten, im Abstrakten als Erschei-
nung eliminiert [...]. Das Konkrete des Menschen ist Arbeitsweise
seine Individualität, seine Einmaligkeit« (178). In sei-
ner Dramaturgie der Vorstellungskraft bezweifelt er Dürrenmatt hat nach eigener Aussage seine »Feder-
die von Max Bill im genannten Aufsatz vertretene zeichnungen nie zu einem Ende führen« können und
These, dass die »Kunst zu einem Zweig der Philoso- sie oft über Jahre hinweg überarbeitet (Bloch 2017,
phie geworden« sei, die sich »im Einklang mit der 183). Mit einer Rasierklinge und einem Skalpell
Methode des mathematischen Denkens« befinden schabte er unliebsame Stellen ab. Riss das Papier da-
müsse (WA 37, 104). Nach Dürrenmatt ist es unzeit- bei, so zog er die Zeichnung zur Verstärkung auf ein
gemäß, abstrakte Bilder zu malen, da die Atomphysik weiteres Blatt Papier auf (vgl. ebd., 374). Das Skalpell
einen solchen Grad der Abstraktion erreicht habe, diente ihm nicht nur zur Korrektur, sondern auch zur
wie ihn die Malerei niemals erreichen könne. Daraus Bildgestaltung, indem er aus schwarzen Tuscheflä-
schließt er in letzter Konsequenz: »Die abstrakte Ma- chen durch Schaben das Weiß des Papiers wieder zum
lerei flüchtet aus der Zeit, indem sie ihr nachhinkt. Sie Vorschein brachte. Als Beispiel dieser Schabtechnik
bleibt einfach zurück« (WA 32, 179; vgl. Bonnefoit sei die Tuschezeichnung Die beiden Tiere von 1975 ge-
2018, 18–20). nannt (Abb. 61.11), deren Entstehung der Künstler
wie folgt erklärt: »Ich schabe mit dem Skalpell eine
Nebeldecke über die Stadt, aus der die Tiere steigen
Techniken und Materialien [...], dann kratze ich jähe Lichtstrahlen in die Milch-
straßensysteme« (WA 28, 37).
Dürrenmatt zeichnet sowohl mit traditionellen Uten- Dürrenmatt bezeichnete sich 1978 in einem Ge-
silien wie Bleistift, Buntstift, Kohle, Kreide, Feder oder spräch als »Nachtmaler«: »Ich konnte mich in der
Pinsel, mit dem er Aquarell oder Tuschelavis auf das Nacht immer in die Ruhe des Zeichnens, des Malens
Papier setzt, als auch mit modernen Schreibgeräten flüchten, ich würde fast sagen: als Erholung. Man kann
wie dem Kugelschreiber oder Filzstift. Für seine Ge- dann eben schauen und muß nicht denken« (G 2,
mälde verwendet er Gouache, in seltenen Fällen auch 258 f.). Im gleichen Gespräch erklärte er, warum die
Ölfarbe. Mit Ausnahme eines Stilllebens der 1940er Gouache- und Ölgemälde im Vergleich zu den gra-
(SLA-FD-A-Bi-1-291) entstehen alle Ölgemälde 1966. fischen Werken nicht einmal fünf Prozent seines bild-
232 III Bildnerisches Werk

Abb. 61.11 Friedrich


Dürrenmatt, Die beiden
Tiere, 1975.

nerischen Gesamtwerks ausmachen: »Ich würde am spielenden Wilhelm Tell, der mit seinem Atem alles in
liebsten nur mit Farbe arbeiten, aber dann reißt es sich zurückholt, ganz in sich zurücknimmt« (Bloch
mich vom Schreibtisch. Drum zeichne ich eben, weil es 2017, 357). Dürrenmatt soll beim Zeichnen kräftig ge-
gleichzeitig auf dem Schreibtisch entsteht« (ebd., 259.). lacht haben (vgl. ebd.). Gutes Essen, Wein und die Ge-
Viele Zeichnungen entstehen als Serie, indem der sellschaft von Freunden scheinen der Entstehung von
Künstler in rascher Abfolge ein Bildmotiv in zahlrei- Karikaturen zuträglich gewesen zu sein. Liechti be-
chen Variationen durchdekliniert, z. B. die im Neuen- richtet, Dürrenmatt ab 1974 in seinem Restaurant
burger Restaurant des Kochs und Kunstsammlers zum Zeichnen animiert zu haben, indem er einen
Hans Liechti in der Karwoche 1976 entstandenen Ei- Stoß Menükarten bereithielt, auf deren Rückseite der
erzyklen (vgl. Künzi 1996a, 11; Bloch 2017, 232 f.). Künstler seine Bilderwelten entfaltete (vgl. Bloch
Über deren Entstehung berichtet Liechti: »In ein bis 2017, 229 u. 339).
zwei Stunden entstanden ungefähr 70 Eierzeichnun- Ein weiteres Beispiel für Dürrenmatts sequentiell
gen. Er zeichnete immer zuerst den Eierbecher, dann narrative Zeichenweise bildet die 1975 entstandene
die Karikatur der Eierköpfe« (Liechti 2003, 153). In ei- Federzeichnung Der letzte Papst, in der dieser auf
nigen Fällen bilden zwei oder mehrere Blätter narrati- einem Mammut durch eine apokalyptische Land-
ve Folgen, so wenn sich in einer Zeichnung eine ganze schaft reitet. Dürrenmatt empfindet den Anspruch
Eierparade in Reih und Glied vorwitzig aus ihren Ei- des Papstes, »Stellvertreter Christ auf Erden« und
erbechern nach vorne lehnt (SLA-FD-A-Bi-2-SL-47- obendrein noch »unfehlbar« zu sein, als Sinnbild des
02), um in der anschließenden Szene als Folge dieses »Rechthaberischen«, das er als Quelle niemals end-
Übermuts am Boden zu zerschellen (SLA-FD-A-Bi-2- ender religiöser und politischer Konflikte betrachtet:
SL-51/02). Auch die 1975 in Liechtis Restaurant auf »Immer wieder steht Wahrheit gegen Wahrheit, bis
zehn Menükarten gezeichnete Serie des Alphornblä- der letzte Papst auf dem Mammut seiner Macht in die
sers stellt eine Bildabfolge dar (SLA-FD-A-Bi-2-SL- Eiszeitnacht der Menschheit reitet und in ihr ver-
123-01-10). Durch sein kräftiges Blasen wird das Loch schwindet (›Der letzte Papst‹)« (WA 32, 205). Das
des Alphorns immer größer, bis es im sechsten Blatt Verschwinden des letzten Papstes stellt er in der ein
das ganze Weltall ausfüllt und der Bläser, den Liechti Jahr später entstandenen Zeichnung Turmbau V:
als Wilhelm Tell bezeichnet, hinter diesem fast ver- Nach dem Sturz dar (SLA-FD-A-Bi-1-103). Im Vor-
schwindet. In den Blättern sieben bis zehn »zeichnete dergrund des einstürzenden Gebäudes liegt der tote
er das Ganze in der umgekehrten Richtung wieder zu- Papst mit seiner Tiara zwischen den Rippen und
rück, bis zur ursprünglichen Situation des Alphorn Stoßzähnen des verwesten Mammuts.
61  Bildnerisches Werk 233

Die Analogien zwischen Dürrenmatts sequentiel- ›Urbilder‹


lem Zeichnen und dem Comic werden von Monika
Schmitz-Emans eingehend untersucht: »Stilisierte, Themen wie die Kreuzigung Christi, das Labyrinth,
schematisierend und typisierend dargestellte Gestal- der Turmbau zu Babel, aber auch mythologische Ge-
ten, wie man sie aus Comics kennt, beherrschen das stalten wie der Minotaurus und Atlas beschäftigten
Feld – und viele von ihnen tauchen mehrfach, manch- Dürrenmatt über Jahre, teilweise sogar Jahrzehnte hin-
mal variiert, auf, so wie auch Comicfiguren sich wie- weg, wovon zahlreiche Variationen in seinem Bildwerk
derholen und dabei modifizieren« (Schmitz-Emans zeugen. Der Künstler bezeichnet diese Motive 1980 als
2014, 276). ›Urbilder‹, die er mit den Archetypen von Carl G. Jung
in Verbindung bringt und die er in aktualisierter Form
in seine Zeit zu übertragen sucht: »Es geht darum, die
Arbeitsphasen entscheidenden Symbole zu finden und sie in ihrer
zeitgemäßen, modernen Form, aber mit dem urtümli-
Wie Dürrenmatt 1981 rückblickend erklärt, malte chen Sinn, darzustellen« (Bloch 2017, 184). Dürren-
und zeichnete er während verschiedener Lebenspha- matt vergleicht seine Fantasie mit einem »See, in den
sen mit unterschiedlicher Intensität: »Ich habe ja zu- bestimmte Erlebnisse hinabsinken und aus dem dann
erst gezeichnet, dann Philosophie studiert, dann fing ganz neue Bilder auftauchen, die vielleicht auf den ers-
ich langsam zu schreiben an; dann hatte ich sehr viel ten Blick mit dem ursprünglichen Erlebnis gar nichts
geschrieben und fing wieder mehr an, zu malen und mehr zu tun haben, aber doch aufgrund der Bildhaftig-
zu zeichnen, gerade in den letzten Jahren« (G 3, 53). keit irgendwie zusammenhängen« (Bloch 2017, 186).
Während sich Dürrenmatt im September 1941 in ei- Der Vergleich des Unbewussten mit einem See ent-
nem Brief an seinen Vater noch unschlüssig war, ob lehnt er ebenfalls Jung.
er malen oder schreiben solle, weil es ihn zu bei-
dem dränge, erfolgte 1946 die Entscheidung für die
Schriftstellerei (vgl. Rüedi 2011, 160–162, 224 f.). Beziehung zwischen Text und Bild
Während seiner ganzen Karriere als Schriftsteller be-
gleitete das Zeichnen und Malen das Schreiben im Dürrenmatt kommentiert die Stellung seines gra-
Hintergrund. Nach seinem größten Theaterdebakel fischen Werks innerhalb seines Schaffens 1978 wie
bei der Uraufführung von Der Mitmacher im März folgt: »Meine Zeichnungen sind nicht Nebenarbeiten
1973 am Zürcher Schauspielhaus wandte er sich mit zu meinen literarischen Werken, sondern die gezeich-
neuer Intensität der bildenden Kunst zu. Eine trei- neten und gemalten Schlachtfelder, auf denen sich
bende Kraft in dieser neuen Schaffensphase war der meine schriftstellerischen Kämpfe, Abenteuer, Experi-
Wirt und Kunstsammler Hans Liechti, der 1971 das mente und Niederlagen abspielen« (WA 32, 201). In-
unterhalb von Dürrenmatts Haus in Neuenburg gele- dem er klarstellt, dass das Zeichnen mehr als nur blo-
gene Restaurant du Rocher übernahm und ab 1975 ßes Nebenprodukt der Schriftstellerei ist, wertet er den
mit Dürrenmatt befreundet war. An diesem Ort fand Rang seines bildnerischen Werks auf, erklärt dieses je-
1976 die erste Ausstellung von Dürrenmatts Bildwerk doch zugleich zum visuellen Niederschlag seines stän-
statt (vgl. von Planta u. a. 2011, 284 u. 292). Der digen Kampfes beim Schreiben, was wiederum die Ab-
Künstler würdigte 1978 Liechtis Bedeutung für sein hängigkeit vom literarischen Werk verdeutlicht. Das
bildnerisches Schaffen: »Ich sitze nach dem Schrei- Zeichnen von Szenen und Charakteren konnte Dür-
ben oft bis tief in die Nacht bei ihm, erzähle ihm, was renmatt beim Ersinnen neuer Texte helfen, um sich
ich schreibe, und zeichne, was man zeichnen könnte. Klarheit über den Handlungsort und die Persönlich-
Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn noch zeichnen und keit der Protagonisten zu verschaffen. Aus diesem
malen würde. Seine Begeisterung für die Malerei Grund griff er etwa bei der Überarbeitung seines Thea-
wirkt produktiv« (WA 32, 211). Ein weiterer wichti- terstücks Achterloo 1986 immer wieder zum Filzstift,
ger Förderer von Dürrenmatts Talent als Zeichner um sich das Agieren der Figuren bildlich zu ver-
war Daniel Keel, der 1952 den Zürcher Diogenes Ver- anschaulichen (Fondation Bodmer 2005, 142–159).
lag gründete. Ihm verdankte Dürrenmatt die Mög- Wenn Dürrenmatt 1978 behauptet, er sei ein »›dra-
lichkeit, seine satirischen Zeichnungen in Die Heimat maturgischer‹ Zeichner« (WA 32, 201), so scheint in
im Plakat zu veröffentlichen. diesem Adjektiv die Sichtweise eines Bühnenautors
durch. Auf der Suche nach dramaturgischen Bildern
234 III  Bildnerisches Werk

konkret unter einem dramaturgischen Moment ver-


steht, erklärt er am Beispiel von Michelangelos David:
»Es ist der Augenblick, in dem David Goliath zum
erstenmal wahrnimmt und überlegt, wie er ihn besie-
gen könnte: Wo muß ich den Stein hinschleudern?«
(WA 32, 201). Peter Rusterholz vergleicht diesen ent-
scheidenden Moment mit dem von Lessing im Lao-
koon definierten »prägnanten Augenblick«, den der
Maler so zu gestalten habe, dass das Vorhergehende
und Folgende der Handlung für den Betrachter nach-
vollziehbar sei (vgl. Rusterholz 2017, 215).
Einige Werke von Dürrenmatt, wie die beiden
Ölgemälde von 1966 Begräbnis des Bankiers (Frank
V) und Die Wiedertäufer sowie die in Mischtechnik
ausgeführten Bilder der 1970er Jahre Porträt eines
Planten II und Die Physiker II: Weltraum-Psalm, be-
ziehen sich unmittelbar auf gleichnamige Theaterstü-
cke. Im Gemälde Die Wiedertäufer (Abb. 61.13) rezi-
piert der Künstler spielerisch die traditionellen Moti-
ve einer Weltgerichtsszene, wie sie in der Offenbarung
des Johannes beschrieben wird (vgl. Offb 20,11–14).
Doch erscheint in der leuchtenden Aureole nicht
Christus, sondern der Schreckensherrscher Johann
Bockelson, den Dürrenmatt in Es steht geschrieben
Abb.  61.12  Friedrich Dürrenmatt, Kreuzigung I, 1942.
selbstherrlich ausrufen lässt: »Ich werde Erde und
Himmel beherrschen!« (WA 1, 82). Seine Ankunft
brach er bewusst mit Sehgewohnheiten, um dem Be- wird bereits zu Anfang des Theaterstücks von einem
trachter die ursprüngliche Botschaft eines Motivs, Wiedertäufer prophezeit (vgl. 16). Im Gemälde
wie beispielsweise der Kreuzigung Christi, wieder be- schweben die auserwählten Wiedertäufer zur Rech-
wusst zu machen. In einer Tuschezeichnung von 1942 ten Bockelsons zum Himmel empor, während ihre
stellt er vier Männer in wallenden Gewändern und Feinde in großen Kesseln in der Hölle schmoren, mit
Stiefeln dar, die sich an den Händen fassend einen dem Kopf nach unten an einem Strick hängen oder
Reigen um den Gekreuzigten tanzen. Der Tänzer auf ein Rad geflochten sind. Sie werden von einäugi-
links tritt mit seinem gespornten Stiefel gegen den gen Teufeln mit Hörnern und langen Schwänzen ge-
Kreuzesstamm, so dass dieser nach rechts kippt peinigt, wie sie Dürrenmatt auch in einer Serie von
(Abb. 61.12). Durch das grausame Ritual, das an ei- Karikaturen in unterschiedlichsten Posen darstellt
nen Freudentanz erinnert, verstößt der ca. 21-jährige (vgl. SLA-FD-A-Bi-1-503 ff.). Die durch ihre Gewän-
Pastorensohn provokativ gegen alle Regeln der iko- der und Kreuze als Priester gekennzeichneten Män-
nografischen Tradition der Kreuzigungsszene. Um ner zur Linken des Machthabers fliehen und stürzen
dem Vorwurf der Blasphemie entgegenzuwirken, vor den ihnen nachjagenden Teufeln. Auf Bockelsons
rechtfertigt Dürrenmatt die Szene ca. vierzig Jahre Pakt mit der Hölle weist das Teufelchen, das auf sei-
später als Versuch, dem Betrachter die Grausamkeit nem Schoß sitzt. Weitere Quälgeister steigen durch
von Christi Märtyrertod zu vergegenwärtigen: »Der einen senkrechten Schacht, der den Diktator unmit-
Gedanke, das Kreuz sei einmal ein Marterinstrument telbar mit der Hölle verbindet, zu ihm empor. Bo-
gewesen, ist verlorengegangen. In meiner ersten ckelson erscheint nicht als Weltenrichter, sondern als
›Kreuzigung‹ versuche ich durch den Tanz um das »Weltmetzger«, wie Dürrenmatt in seiner 1953 er-
Kreuz, das Kreuz wieder zum Kreuz, zum Gegen- schienenen Schrift über Karl Kraus’ Werk ›Die Dritte
stand des Skandals zu machen, den es einmal darstell- Walpurgisnacht‹ Hitler nennt (WA 32, 38). Dieser Fi-
te« (202). Auf diese Weise macht er seine Bilder »zu gur widmete der Künstler 1965 unter dem Titel Por-
Inszenierungen, zu dramatischen Momentaufnah- trät eines Planeten I: Der Weltmetzger eines seiner
men« (Bühler/Minder 2014, 47). Was Dürrenmatt blutrünstigsten Bilder, in dessen Zentrum eine an-
61  Bildnerisches Werk 235

Abb.  61.13  Friedrich Dürrenmatt, Die Wiedertäufer, 1966.

drogyne Gestalt mit Kochmütze steht, die soeben ei- der Doppelbegabung Dürrenmatts« zitiert (Bigler
ne Frau geschlachtet hat (Abb. 61.14). In der Rechten 2014, 217). Regula Bigler analysiert die Intermedialität
hält sie deren abgehackten Kopf am roten Haar- der Ballade, die, wie bereits der Hinweis auf die Gat-
schopf, während ein abgetrenntes Bein aus einem mit tung ›Tanzlied‹ erwarten lässt, mit Rhythmen spielt,
Blut gefüllten Eimer ragt. 1978 erklärte Dürrenmatt die sowohl den Text, als auch die Bilder durchdringen.
den ›Weltmetzger‹ als »eine Gestalt aus der ersten Durch die regelmäßige Wiederholung des Verbs ›tan-
Fassung des Stücks« Porträt eines Planeten (WA 32, zen‹ entsteht ein Sprachrhythmus: »Das Wesen tanzte
207). 1970 folgte das Bild Porträt eines Planeten II durch sein Labyrinth, durch die Welt seiner Spiegelbil-
(Abb. 61.15), das im wörtlichen Sinne des Titels die der, es tanzte wie ein monströses Kind, es tanzte wie ein
durch Krieg und Umweltzerstörung verödete Ober- monströser Vater seiner selbst, es tanzte wie ein mons-
fläche des Planeten Erde porträtiert. Auf die Farbe tröser Gott durch das Weltall seiner Spiegelbilder«
klebte Dürrenmatt eine aus einer Illustrierten he- (Dürrenmatt 1985, 12 f.). In der entsprechenden Illus-
rausgeschnittene Fotografie aus dem Vietnamkrieg, tration übersetzt der Autor den Sprachrhythmus in ein
die einen vietnamesischen Soldaten darstellt, der mit kaleidoskopisches Ornament, das sich aus dem tanzen-
einem breiten Lachen zwei abgeschnittene Köpfe am den Minotaurus, dessen Spiegelbildern und den ver-
Haarschopf hält. schachtelten Spiegelwänden des Labyrinths zusam-
Das bekannteste Text-Bild-Ensemble ist das 1985 mensetzt (Abb. 61.16). Dürrenmatt gelang es, die un-
in Buchform erschienene Prosagedicht Minotaurus. Ei- durchdringliche Architektur des Labyrinths durch la-
ne Ballade, das mit neun Tuschelavis-Zeichnungen il- byrinthische Sätze mimetisch in Sprache zu übersetzen,
lustriert ist (Dürrenmatt 1985). In der Forschung wird mit eingeschobenen Exkursen, die er durch Gedanken-
dieses Werk wiederholt als »ein eindrückliches Beispiel striche vom Hauptsatz absetzt. Nach Ioana Crăciun ah-
236 III  Bildnerisches Werk

zahle mit einem Bild, auch was ich sonst bei ihm
kritzle, überlasse ich ihm« (WA 28, 214). Dies erklärt
das Entstehen dieser umfangreichsten Privatsamm-
lung von Werken Dürrenmatts – vornehmlich aus
den Jahren 1975 bis 1979.

Rezeption

Seit Ende der 1950er Jahre finden sich immer wieder


einzelne Werke von Dürrenmatt in Ausstellungen, die
sogenannten ›Doppelbegabungen‹ gewidmet sind.
Das früheste Beispiel ist Harald Szeemanns Ausstel-
lung Malende Dichter, dichtende Maler (1957) im
Kunstmuseum St. Gallen. Obwohl sich Dürrenmatt
auf dem Gebiet der Malerei stets als Dilettant bezeich-
nete, stimmte er im Alter vier Einzelausstellungen zu:
1976 im Neuenburger Restaurant von Hans Liechti,
1978 in der Zürcher Galerie von Daniel Keel (vgl.
Strich 1978), 1981 in der Galerie Loeb in Bern und
1985 im Musée d’art et d’histoire in Neuenburg (vgl.
von Allmen, 1985).
Monika Schmitz-Emans hat aufgearbeitet, wie
Zeichnungen von Dürrenmatt seit den 1980er Jahren
in Graphic Novels und in Comics, die auf Theaterstü-
Abb.  61.14  Friedrich Dürrenmatt, Porträt eines Planeten I:
cken und Romanen des Schriftstellers basieren, zitiert
Der Weltmetzger, 1965.
bzw. verfremdet werden (vgl. Schmitz-Emans 2014).
In Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur
men die Gedankenstriche dieser Einschübe »typogra- (Berlin 2001) findet sich Der Besuch der alten Dame
phisch die Architektur des Labyrinthes mit seinen vie- und Die Physiker auf acht textlose Comic-Bilder kom-
len Irrgängen nach« (2000, 275). primiert. Die im achten Bild der Physiker dargestellte
Direktorin der Irrenanstalt, Mathilde von Zahnd, er-
scheint als entfesselte Furie, die eine Atombombe
Sammlungen schleudert. Diese Szene beruht auf einer Serie von
Zeichnungen Dürrenmatts (SLA-FD-A-Bi-2-PS-159
Da Dürrenmatt seine Bildwerke nicht verkauft und bis 161), bei denen es sich streng genommen nicht um
nur gelegentlich an Freunde oder seine Ehefrau ver- Illustrationen, sondern um weiterentwickelte Inhalte
schenkt hat, blieben sie zum größten Teil beisammen der Physiker handelt.
in seinem Wohnhaus in Neuenburg. Nach seinem Tod Seit der Eröffnung des Centre Dürrenmatt Neu-
übergab seine Witwe, Charlotte Kerr, das gesamte An- châtel im Jahr 2000 werden regelmäßig zeitgenössi-
wesen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die das sche Künstler und Künstlerinnen eingeladen, Werke
Haus des Schriftstellers durch den Architekten Mario für Ausstellungen zu schaffen, die mit Dürrenmatts
Botta in das Centre Dürrenmatt Neuchâtel integrieren bildnerischen oder literarischen Werken in einen
ließ, das zwischen 1998 und 2000 erbaut wurde. Die- Dialog treten.
ses präsentiert heute seine Bilder im Dialog mit sei-
nem literarischen Werk und dient als Ort kultureller
Aktivitäten mit Bezug zu Dürrenmatt. Forschungsstand
Die größte Privatsammlung von mehreren hun-
dert Werken des Künstlers legte ab 1975 Hans Liechti Im Vergleich zur umfangreichen Forschung über
an. Dürrenmatt selbst erzählt in seinen Stoffen: Dürrenmatts literarisches Werk haben nur wenige
»Wenn ich Gäste habe, essen wir bei Liechti, und ich Kunsthistorikerinnen und -kritiker einzelnen Bild-
61  Bildnerisches Werk 237

Abb.  61.15  Friedrich ­


Dürrenmatt, Porträt eines
Planeten II, 1970.

werken eine Analyse gewidmet, darunter Manuel stellt er eine hermeneutische Methode zur Interpreta-
Gasser (1978), Heidi E. Violand-Hobi (1992), Guido tion von Dürrenmatts Bildwerken und deren »Inter-
Magnaguagno (1994), Ludmila Vachtova (1995), Ka- aktion« mit seinen Texten vor (Bühler 2011, 131).
trin Künzi (1996), Beate Schlichenmaier (2014), Ré­ Elisabeth Brock-Sulzer versuchte 1986 einen Ge-
gine Bonnefoit (2014; 2018) und Myriam Minder samtüberblick über Dürrenmatts künstlerische Ent-
(2014; 2016a; 2016b; 2018). Unter den Literaturwis- wicklung zu erarbeiten (Brock-Sulzer 1986). Hier
senschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern ha- müsste weitere Forschungsarbeit geleistet werden, um
ben sich Ulrich Weber (2003; 2008), Monika Schmitz- mit Hilfe einer Stilanalyse die Vielzahl undatierter
Emans (2004; 2014), Ingeborg Hoesterey (2014), Werke präziser zu verorten. Ein wichtiger Quellen-
Theodore Ziolkowski (2014), Regula Bigler (2014), fundus für zukünftige Forschungen ist Dürrenmatts
Rudolf Käser (2015; 2017), Michael Fischer (2017) umfangreiche Bibliothek, deren Inventar in den Hel-
und ganz besonders Peter Rusterholz (2017) mit dem veticArchives online zugänglich ist. Ein systemati-
Bildwerk auseinandergesetzt. Von theologischer Seite scher Vergleich einiger illustrierter Werke der Welt-
hat Pierre Bühler (2003; 2014) Dürrenmatts religiöse literatur oder der Kunstgeschichte sowie von Bildbän-
Bildmotive analysiert und die Bedeutung von Kierke- den berühmter Karikaturisten wie Saul Steinberg und
gaard für sein Bildwerk untersucht. Darüber hinaus Paul Flora mit Dürrenmatts grafischem Werk würde
238 III  Bildnerisches Werk

Abb.  61.16  Friedrich Dürrenmatt, Illustration zur Ballade Minotaurus I, 1984.

die Herkunft mancher Motive enthüllen. Die Lektüre Sekundärliteratur


von Dürrenmatts umfangreichen Vorarbeiten zu der Allmen, Pierre von (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Œuvre
in 37 Bänden vorliegenden Werkausgabe birgt viele graphique. Das zeichnerische Werk. Neuenburg 1985.
Bigler, Regula: Surreale Begegnungen von Bild und Text.
noch unbekannte Informationen zu seinem Bildwerk. Lektüren im intermedialen Dialog. Paderborn 2014.
Da der Künstler sich auch für das Kino interessierte, Bonnefoit, Régine: Kokoschka – Dürrenmatt. Der Mythos
bleibt zu überprüfen, ob auch Filme ihn zu Bildmoti- als Gleichnis. In: Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.):
ven angeregt haben könnten. Kokoschka – Dürrenmatt. Der Mythos als Gleichnis. Neu-
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Literatur Bonnefoit, Régine: »Weltuntergang ahoi!« Friedrich Dür-
Primärtexte renmatts »apokalyptische Kunst«. In: Ulrich Weber u. a.
Bildergeschichte. Text von Ruth Dürrenmatt. Neuenburg (Hg.): Dramaturgien der Phantasie. Dürrenmatt inter-
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Die Heimat im Plakat. Ein Buch für Schweizer Kinder. Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und
Zürich 1963. Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen –
Minotaurus. Eine Ballade. Mit Zeichnungen des Autors. Interpretationen. Göttingen 2017.
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Persönliche Anmerkungen zu meinen Bildern und Zeich- renmatt. In: Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Dürren-
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61  Bildnerisches Werk 239

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Schweizerisches Literaturarchiv Bern/Kunsthaus Zürich Régine Bonnefoit / Myriam Minder
IV Motive und Diskurse
62 Astronomie te. Dürrenmatts kritische Sicht der Weltraumfahrt in
den Physikern (vgl. Psalm Salomos, den Weltraumfah-
»Die Welt ist größer als das Dorf: über den Wäldern rern zu singen, 41 f.) und im Essay Die vier Verführun-
stehen die Sterne« (WA 28, 21). Schon als Junge zeich- gen des Menschen durch den Himmel (WA 33, 26–32)
nete Dürrenmatt Sternkarten (vgl. SLA-FD-A-Bi-1- dürfte als Antwort auf Zwickys gigantische Raum-
161). Die Einführung in diese Kenntnisse verdanke er fahrtvision zu verstehen sein. Die Supernova-For-
einem Grundschullehrer (vgl. WA 28, 21). Anekdoten schungen Zwickys und seine Vorstellung eines ›ge-
bezeugen, dass er gerne »den Himmel erklärte« und walttätigen Universums‹ (vgl. Dyson 1998, 127) hat
sich und seine Umgebung dabei völlig vergessen konn- Dürrenmatt hingegen zustimmend zur Kenntnis ge-
te (vgl. G 1, 51 f. u. 64; von Matt 2012, 164 f.). In seinem nommen: In seinem Vortrag zum 100. Geburtstag
Arbeitszimmer stand später ein »Zweiundzwanzig- Einsteins (1979) erwähnt er den Gegensatz zwischen
Zentimeter-Spiegelteleskop«, das er zur »Jagd auf Spi- dessen Bild des deterministischen Kosmos und der
ralnebel« einsetzte (WA 36, 17). Dürrenmatt hat die auf Zwicky zurückzuführenden Vision eines »mons-
Entwicklungen der Astronomie und der Kosmologie trösen auseinanderfegenden Weltall[s] voller Super-
zeitlebens mitverfolgt. Neben Sternkarten und Anlei- novae, Gravitationskollapse, Schwarzer Löcher« (WA
tungen zur Bedienung des Fernrohrs findet man in sei- 33, 170 f.).
ner Bibliothek zahlreiche wissenschaftliche und popu-
lärwissenschaftliche Bücher astronomischen Inhalts,
die er in vielfältiger Weise für sein literarisches und Astronomische Bezüge in weiteren Werken
bildnerisches Werk fruchtbar machte.
Der Kosmos spielt in Dürrenmatts literarischen Tex-
ten eine prominente Rolle. Alami (1994) hat mit einer
Fritz Zwicky und Die Physiker computergestützten Analyse gezeigt, dass in seinem
Werk astronomische Motive zu den häufigsten gehö-
Wichtig für Dürrenmatts Aneignung astronomischen ren. Klein, aber gewichtig sind Dürrenmatts Gedichte
Wissens war die Begegnung mit dem Schweizer Astro- zu Himmelskörpern wie z. B. Siriusbegleiter (WA 33,
nomen Fritz Zwicky. Im Nachwort zum Nachwort des 35); es sind Texte, die sich markant von der romanti-
Mitmacher schildert er die erste Begegnung im Mai schen Mond-Lyrik unterscheiden. Der Meteor ist
1959 in New York. Zwicky habe ihm damals seine Vi- nicht nur die titelgebende Metapher für das gleichna-
sion der »einzig mögliche[n] Raumfahrt« geschildert, mige Drama, sondern spielt eine wesentliche Rolle als
die darin bestehe, die Sonne und damit das ganze Pla- Reflexionsanstoß in der Erzählung Die Brücke. Das
netensystem »mit Hilfe einiger tausend Wasserstoff- Mädchen Kurrubi in Ein Engel kommt nach Babylon
bomben [...] gegen das Innere der Milchstraße« zu stammt aus dem Andromedanebel. In Der Winterkrieg
treiben (WA 14, 232 f.; vgl. Zwicky 1966, 237 f.). Im in Tibet wird der Andromedanebel als poetologische
August 1959 besuchte Zwicky Dürrenmatt in der Allegorie zum »Bild eines Bildes« (WA 28, 53). In Por-
Schweiz (vgl. Stöckli/Müller 2008, 168 f.). Dürrenmatt trät eines Planeten leuchtet unverändert die Milchstra-
hat 1988 in einem Gespräch angedeutet, Zwicky sei ße, während das Drama das Verhalten der Menschen
für die Figur des Möbius in Die Physiker »zu Gevatter auf einem Planeten zeigt, der infolge einer explodie-
gestanden« (ebd., 168). Dies gilt in zwiespältigem Sin- renden Sonne den Hitzetod stirbt. Für einschlägige
ne. Wenn Möbius nicht nur die »einheitliche Feld- Passagen zur Entwicklung von Sternen im Winterkrieg
theorie« (WA 7, 69) findet, an der Einstein scheiterte, (vgl. WA 28, 100–107) werden Informationen aus
sondern gleich auch noch das »System aller mögli- Fred Hoyles Das grenzenlose All (1957) übernommen,
chen Erfindungen« (44 u. 69), dann ist dies als Anspie- was sich an den Anstreichungen in Dürrenmatts
lung auf Zwickys Methode des ›morphologischen Exemplar nachweisen lässt. Aus dieser Quelle bezieht
Baukastens‹ zu verstehen, die er zur systematischen er seine Kenntnisse der Sternentwicklungen und der
Entdeckung neuer technologischer Lösungen einsetz- Evolution schwerer Elemente in Supernovae. In den

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_62
244 IV  Motive und Diskurse

Erzählungen und Dramen erscheint astronomisches mit systemtheoretischen und evolutionsgeschicht-


Wissen oft perspektivisch gebrochen: Wissensbruch- lichen Gedankengängen im Spätwerk Dürrenmatts
stücke um kosmologische Zusammenhänge charakte- (s. Kap. 76, 81).
risieren die existentielle Position der dargestellten
Person, nicht den objektiven Sachverhalt oder die
Weltsicht des Autors. Zur Forschung
Zahlreich sind die Umsetzungen astronomischen
Wissens auch in Dürrenmatts Essays und Vorträgen. Der hohen Dichte astronomischen Wissens in Dürren-
Souverän spielt er mit der mythologisch-astrono- matts literarischem und bildnerischem Schaffen ent-
mischen Vieldeutigkeit von Sternbildern und setzt spricht bisher keine ebenso differenzierte Forschung.
seine Kompetenz gleichnishaft ein. So dekonstruiert Insbesondere fehlt eine umfassende Deutung der as-
er den zum Klischee gewordenen Vergleich der Auto- tronomischen Motive im Zusammenhang mit seiner
ren Frisch und Dürrenmatt mit dem Sternbild der Autorenbibliothek. Käser (2017) hat in dieser Hinsicht
Dioskuren Castor und Pollux (vgl. WA 29, 75 f.). Die erste Ergebnisse erarbeitet. Özelt (2018) rekonstruiert
Verwendung astronomischen Wissens kulminiert in die Geschichte des kulturellen Prestiges der Physik und
einer werkgenetisch eng verbundenen Serie von Tex- zeigt im Überblick die Mainstream-Heroisierung des
ten, die Käser (2017, 31) als »kosmo-politologische Astronomen Galilei. Er interpretiert Dürrenmatts Phy-
Allegorie« bezeichnet hat: In Sätze aus Amerika ver- siker Möbius in diesem Kontext, trägt aber den spezifi-
gleicht Dürrenmatt erstmals die USA mit einem insta- scheren Zusammenhängen nicht Rechnung. Neben
bilen Stern (vgl. WA 34, 112). Darauf aufbauend ent- Zwicky gibt es für das Möbius-Bild in Die Physiker
wirft er in den Nachgedanken zum Buch Zusammen- nämlich noch einen zweiten, zu wenig beachteten Pa-
hänge. Essay über Israel eine mehrgliedrige Allegorie, ten, den man in Dürrenmatts Autoren-Bibliothek an-
welche die innere Dynamik von Sternen mit der inne- treffen könnte. Wenn der Autor im Gespräch mit Heinz
ren Dynamik von Staaten in Beziehung setzt: »Staaten Ludwig Arnold (1975) sein Galilei-Bild als »Komödie«
sind mit Sonnen vergleichbar. [...] Die Sowjetunion (G 2, 130) skizziert, bezieht er sich implizit auf Arthur
gleicht immer mehr einer überschweren Sonne, die Koestlers Die Nachtwandler (1959). Dessen Geschichte
mühsam dagegen ankämpft, unstabil zu werden. [...] der Astronomie enthält u. a. eine gut dokumentierte
Die USA bieten das Bild einer jungen überheißen Demontage Galileis zugunsten Keplers und der jesuiti-
Sonne dar, deren Schwerkraft zu schwach und deren schen Astronomen des Vatikans. Dürrenmatt moniert,
Gasdruck zu ungestüm ist« (WA 35, 199–201). In Der dass man Koestler heute »so gerne übergeht« (WA 35,
Winterkrieg in Tibet wird diese Allegorie ausdifferen- 169). Das geschieht auch bei Özelt, wenn er Möbius als
ziert, indem die Konvektionszonen, die durch Ener- »tragischen Helden« auffasst (406), ohne das grimmig
gieflüsse entstehen, als Gleichnisse staatlicher Institu- gezeichnete Galilei-Bild Koestlers und das ambivalente
tionen aufgefasst werden (vgl. WA 28, 111 f.). Diese Zwicky-Bild Dürrenmatts zu erwähnen.
kosmo-politologische Allegorie ist mehr als rhetori-
scher Schmuck; sie erhebt einen epistemischen Gel- Literatur
Primärtexte, Quellen
tungsanspruch (vgl. Zabka 2005, 78 f.) im Sinne eines
Albert Einstein. In: WA 33, 150–172.
modellartigen Hilfsbildes. Nachwort zum Nachwort. In: WA 14, 223–328.
Dürrenmatt hat seine astronomische Bibliothek Nachgedanken. In: WA 35, 163–219.
auch verwendet, um aus dem Bildmaterial Anregun- Die Physiker. Eine Komödie. In: WA 7, 9–87.
gen für die Gestaltung der oft mit Himmelskörpern Querfahrt. In: WA 29, 23–84.
Sätze aus Amerika. In: WA 34, 77–114.
ausgestatteten Hintergründe seiner eigenen Bilder zu
Sternenkarte, ca. 1933, Bleistift und Farbstift auf Karton,
entnehmen. Käser (2017) hat anhand der Bilder 26,9 cm × 34,3 cm. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig.
Turmbau I, II, IV und V einige astronomische Bild- SLA-FD-A-Bi-1-161.
quellen erschlossen und den ikonografischen Zusam- Die vier Verführungen des Menschen durch den Himmel.
menhang des Zusammenbruchs der babylonischen In: WA 33, 26–32.
Türme im Vordergrund mit der Explosion einer Su-
Sekundärliteratur
pernova und ihrem Kollaps zu einem Neutronenstern
Alami, Marita: Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt.
im Bildhintergrund aufgezeigt. Tertium comparatio- Computergestützte Analyse und Interpretation mytholo-
nis dieser allegorischen Bilder ist die Instabilität gro- gischer und psychologischer Bezüge. Köln 1994.
ßer Systeme: Das rückt sie in den Zusammenhang Dyson, Freeman: The Evolution of Science. In: Andrew C.
62 Astronomie 245

Fabian (Hg.): Evolution, Society, Science and the Uni- Stöckli, Alfred/Müller, Roland: Fritz Zwicky. Astrophysiker.
verse. Cambridge 1998, 118–135. Zürich 2008.
Käser, Rudolf: Friedrich Dürrenmatt. Phantasie der Wissen- von Matt, Peter: Vom literarischen Gedächtnis der Schweiz.
schaften. In: Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Phan- Eine Festrede. In: Ders.: Das Kalb vor der Gotthardpost.
tasie der Wissenschaften. L ’ imaginaire des sciences. Neu- Zur Literatur und Politik der Schweiz. München 2012,
châtel 2017 (Cahier 15), 17–39. 157–166.
Özelt, Clemens: Literatur im Jahrhundert der Physik. Wyrsch, Peter: Die Dürrenmatt-Story. In: G 1, 25–97.
Geschichte und Funktion interaktiver Gattungen (1900– Zwicky, Fritz: Entdecken, Erfinden, Erforschen im Morpho-
1975). Göttingen 2018, 402–412. logischen Weltbild. München 1966.

Rudolf Käser
246 IV  Motive und Diskurse

63 Autorschaft Seine Auffassung von Autorschaft hat Dürrenmatt


zunächst verstreut in Reden entwickelt, dann aber auf-
Autorschaftsspiele fallend oft anhand von Autorfiguren ›durchgespielt‹
und schließlich im Rahmen der Wiederaneignung des
Friedrich Dürrenmatts Wirken als Autor fällt in eine eigenen Werks in den Stoffen neu gefasst.
Zeit, in der Autorschaft als theoretisches Konzept wie
selten zuvor infrage gestellt wurde. Gleichzeitig ver-
half ihm die Schriftstellerei als praktische Tätigkeit zu Autor und Gesellschaft
öffentlicher Anerkennung und einem guten Auskom-
men. Ist von Autorschaft die Rede, dann ist zu unter- In den 1950er Jahren artikuliert Dürrenmatt in ver-
scheiden zwischen dem realen Autor/der realen Auto- schiedenen Vorträgen sein Verständnis von Autor-
rin, einer Autorfunktion im literarischen Text und schaft insbesondere in Bezug auf die Gesellschaft. In
historischen Autorschaftsmodellen, anhand derer der Rede Schriftstellerei als Beruf versteht er diese,
sich das »Rollenverständnis des Autors in Bezug auf dem Titel gemäß, als eine freiberufliche Tätigkeit zum
seine Tätigkeit des Schreibens einerseits und sein Ver- Zweck des Gelderwerbs. Diese umfasse keine Ver-
hältnis zur Gesellschaft andererseits« umreißen lässt pflichtung gegenüber der Gesellschaft, aber auch kei-
(Hoffmann/Langer 2013, 139). ne gesellschaftliche Garantie auf »Rentabilität« (WA
Dürrenmatt zeichnet in der Regel im klassischen 32, 57). Als »Schöpfer[...]« hat sich der Schriftsteller
Sinn als ›alleiniger Urheber‹, spielt aber auch immer »seinem Geschöpf gegenüber nicht zu verantworten«,
wieder mit alternativen Formen: Textextern sind dies hält Dürrenmatt in Vom Schreiben fest (WA 32, 78). Er
etwa Ansätze zu einer geteilten Autorschaft wie im verweigert sich auch in den 1960er Jahren, etwa in Li-
Fall der als Rollenspiele veröffentlichten Gespräche mit teratur nicht aus Literatur, den Ansprüchen einer en-
Charlotte Kerr über Achterloo, des mit Max Frisch zu- gagierten Literatur und besteht auf der Autonomie des
sammenfabulierten zweiten Teils von Biedermann künstlerischen Produktionsprozesses: Der Schriftstel-
und die Brandstifter (vgl. WA 29, 67–74) oder der Be- ler könne auf das »Recht des Schöpfers« rekurrieren,
arbeitungen von Dramen Shakespeares. Textintern zu »erschaffen« und nicht deuten zu müssen (WA 30,
wird Autorschaft vor allem durch Herausgeberfiktio- 89); dem ethischen Anspruch und ökonomischen
nen thematisiert, wie in der Erzählung Aus den Papie- Zwang, »geistige Werte zu liefern«, solle er sich da-
ren eines Wärters oder dem Roman Justiz, wo das gegen verweigern (88). Dürrenmatt hält am genie-
Nachwort des Herausgebers am Schluss mit Dürren- ästhetischen Autorschaftsmodell des Schöpfers fest,
matts Namen und dem Datum der Niederschrift be- lehnt jedoch das auch in modernen Varianten ver-
glaubigt wird (WA 25, 199 u. 231). tretene antike Modell des poeta vates ab (vgl. etwa
Radikaler verfährt Dürrenmatt schließlich auf in- Schmitz-Emans 2017, 106–110). Die »versagende Phi-
haltlicher Ebene: In seiner Version vom Tod des Sokra- losophie« und die »fehlende Religion«, schreibt er in
tes beschreibt er Autorschaft als Mittel politischer Pro- Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, verführten den
paganda und Vehikel literaturgeschichtlichen Ruhms. Schriftsteller dazu, eine »Rolle zu spielen, die ihm
Der »Weltverbesserer« (WA 29, 147) Platon legt dem nicht zukommt«: »Er gilt als Prophet und, was noch
bereits berühmten Sokrates seine eigene Lehre in den schlimmer ist, er hält sich für einen« (WA 32, 66).
Mund; als dieser sich weigert, die Reden auswendig zu Dürrenmatts frühe theoretische Reflexionen fin-
lernen, spielt der aus der Mode gekommene Aristo- den in den folgenden Jahrzehnten keine direkte
phanes die Rolle des platonischen Sokrates zu Ende Fortsetzung. Mit seinen Reden, Vorträgen und Es-
(vgl. 144–156). Bis zum Nobelpreis bringt es ein Mann says, in denen er zunächst als Verfasser breit rezipier-
mit dem vielsagenden Namen Bluff in der – unpubli- ter Dramen vor allem ›Theaterprobleme‹ erörtert
zierten – fragmentarischen ›Friedhofskomödie‹ Die und dann zunehmend philosophische, politische,
Sekretärin durch das »Spiel«, Schriftsteller zu sein, theologische und naturwissenschaftliche Fragen be-
d. h. durch das bloße Gerücht zu schreiben (SLA-FD- handelt, nimmt er jedoch die Funktion des Autors als
A-m81; vgl. Mingels 2000). Zugespitzt wie an kaum ei- Instanz des öffentlichen Diskurses wahr. Daneben
ner anderen Stelle beschreibt Dürrenmatt hier einen verlagert sich seine Auseinandersetzung mit Auffas-
Literaturbetrieb, in dem nicht ein Werk, sondern die sungen von Autorschaft immer mehr in das literari-
Fama Autorschaft begründet, und demaskiert deren sche Werk selbst.
mediale Inszenierung.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_63
63 Autorschaft 247

Autorfiguren tisch« imaginiert, wie der »Autor des Autors«, ein


»Autor hoch zwei«, mit dem gesamten Theater unter-
Dürrenmatts Werk bevölkern auffallend viele Autorfi- geht (vgl. 147–154). In beiden Stücken persifliert Dür-
guren, in denen eigene und gesellschaftliche Autorbil- renmatt Autorschaft als gesellschaftliche Konstrukti-
der inszeniert und oft auch parodiert werden. Im frü- on und vermag zugleich sein Verschwinden von den
hen Hörspiel Der Doppelgänger etwa diskutieren Theaterbühnen literarisch produktiv zu verarbeiten.
Schriftsteller und Regisseur über die Plausibilität der
Geschichte, die Ersterer erzählt und Letzterer laufend
umsetzt; in Ein Engel kommt nach Babylon schnellen Autor-Fiktion
aus Sarkophagen immer wieder Dichter hervor, die
das Geschehen kommentieren und auf die anderen Fi- Autobiografische Praktiken sind besonders geeignet,
guren einzuwirken versuchen. Auch in seinen Krimi- um das Selbstverständnis von Autorschaft zu inszenie-
nalromanen bringt Dürrenmatt meist einen Autor un- ren (vgl. Caduff 2008, 54). Die Misserfolge als Drama-
ter: Als Zeuge in Der Richter und sein Henker bleibt tiker führen Anfang der 1970er Jahre zu »Krisen des
dieser im Gegenlicht »unerkennbar« (WA 20, 79), Autorselbstverständnisses und -bewußtseins« (Probst
während er in Maximilian Schells Verfilmung (1975) 2000, 68), die in Dürrenmatts Werk eine »autobiogra-
unverkennbar von Dürrenmatt selbst gespielt wird. phische[...] Wende« einleiten (Weber 2012, 123). Das
Als Bärlachs Ghostwriter wird der Schriftsteller Fort- Stoffe-Projekt trägt den Charakter eines »erneuten
schig, eine »lächerliche Figur« (WA 20, 181), in Der Durchgangs durch das Werk«, mit dem der Autor sich
Verdacht ermordet. In Das Versprechen bearbeitet ein selbst zum Stoff wird (ebd., 126 f.). Die Urszene seiner
Krimiautor die Erzählung eines ehemaligen Polizei- Autorschaft bildet eine gewaltige »Kotzerei«, mit der er
kommandanten über einen wahren Fall »nach be- sich aus der Lähmung durch die Kriegssituation be-
stimmten Gesetzen der Schriftstellerei« (WA 23, 141) freit, um fortan »der Welt Welten entgegenzusetzen«
und reflektiert dieses Verfahren wiederum in der Rah- und das Erdenken und Erfinden ins Zentrum seiner
menerzählung. Dürrenmatt lässt in der »Gestalt eines Produktionsästhetik zu stellen (WA 28, 66 f.).
Schriftstellers« gleichsam einen »Weltenschöpfer« Die ›Geschichte seiner Schriftstellerei‹ vergegen-
auftreten, der die gestörte Ordnung wiederherzustel- wärtigt sich Dürrenmatt anfangs im Dialog, insbeson-
len versucht (vgl. Bärfuss 2015, 90). In Der Pensionier- dere in einem 1975 mit Heinz Ludwig Arnold geführ-
te schließlich hört der Kommissär eine Radiosendung ten Gespräch (G 2, 114–176). Von diesem angeregt,
über einen Autor, der seine »erstarrte[...] Schöpfer- verdoppelt sich der Autor 1980 in einem Selbstinter-
kraft« durch das Schreiben eines Krimis wiederzuer- view gleichsam selbst (WA 31, 139–167) – ein Verfah-
langen versucht (vgl. WA 37, 160–163). Damit wird ren, das vier Jahre später in einer Doppelgänger-Szene
die Entstehung des Fragment gebliebenen Texts re- aus dem Stoffe-Kontext in die Fiktion hinein verlän-
flektiert und zugleich der mediale Diskurs über litera- gert wird (SLA-FD-A-m110 II, 1a–4a, abgedruckt in
rische Produktivität parodiert. Stingelin 2006, 273–279). Den Gedanken, dass Dra-
Der ›Tod des Autors‹, der in den Literaturwissen- menfiguren Gedanken des Autors und als solche wirk-
schaften im Gefolge von Barthes und Foucault seit En- lich sind, bringt Dürrenmatt mit dem Midas auf die
de der 1960er Jahre diskutiert wird, beschäftigt Dür- Bühne (vgl. WA 26, 169 f.). Das Resultat ist eine »ver-
renmatt in seinen ›Nobelpreisträgerstücken‹ in einem doppelnde Vergegenständlichung der Autorinstanz
ganz konkreten Sinn: Der Nobelpreisträger Schwitter im Text«, wobei die herkömmliche Vorstellung von
in Der Meteor möchte »ehrlich sterben ohne Fiktion schöpferischer Autorschaft durch die Eigendynamik
und ohne Literatur« (WA 9, 24). Er wurde bereits für der Werkgenese unterminiert wird (Stingelin 2006,
tot erklärt, aufersteht aber immer wieder, während die 281 f.; vgl. 281–283). Im Stoff Die Brücke führt das Er-
Leute um ihn herum sterben. Für die spätere Theater- zähler-Ich als Methode der (Selbst-)Erkenntnis gar
fassung Dichterdämmerung wird eine weitere Meta- dreizehn fingierte ›F. D.‹s ein (vgl. WA 29, 85–111).
ebene in die Handlung des Hörspiels Abendstunde im Voraussetzung für die Rekapitulation des eigenen
Spätherbst eingezogen: Zuerst wird die Figur ›Autor‹ Werks im Rahmen des Stoffe-Projekts ist somit eine
nach ihrem letzten Mord selbst ermordet, weil der prinzipielle Destabilisierung eines festen Konzepts von
Verfasser des Stücks, ›Dürrenmatt‹, einen neuen Autorschaft. Am deutlichsten zutage tritt dies im
Schluss geschrieben habe (vgl. WA 9, 143–146); dann Nachwort zum Nachwort der Mitmacher-Komödie
wird in einem Schlussmonolog »nur noch hypothe- (vgl. Weber 2012, 128–133). Wenn die Identität des
248 IV  Motive und Diskurse

Autors eine Fiktion sei, stelle sich zwangsläufig die Fra- Nachwort zum Nachwort. In: WA 14, 223–332.
ge, »wer denn zum Teufel da eigentlich schreibe« (WA Der Pensionierte. In: WA 37, 145–208.
14, 231 f.). Autorschaft ist in dieser Perspektive nur als Vom Schreiben. In: WA 32, 74–81.
Die Sekretärin. Eine Friedhofskomödie. Arbeitsexemplar
eine fingierte fassbar. In Das Hirn lässt Dürrenmatt und Reinschrift. März 1979. Schweizerisches Literatur-
sein Gehirn-im-Tank-Gedankenexperiment in der archiv, Sig. SLA-FD-A-m81.
Einsicht kulminieren, dass letztlich unentscheidbar Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: WA 32, 60–69.
bleiben muss, ob das schreibende Ich Urheber oder Der Tod des Sokrates. In: WA 29, 144–176.
Hervorbringung einer Fiktion ist (vgl. WA 29, 257 f.). Das Versprechen. In: WA 23, 9–163.
Der Winterkrieg in Tibet. In: WA 28, 11–170.
Das einfache Kausalitätsverhältnis von Schöpfer und
Geschöpf wird nunmehr durch ein zirkuläres ersetzt: Sekundärliteratur
Autor und Werk bringen sich gegenseitig hervor. Bärfuss, Lukas: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen. In:
Ders.: Stil und Moral. Essays. Göttingen 2015, 88–91.
Caduff, Corina: Selbstporträt, Autobiografie, Autorschaft.
Forschungsperspektiven In: Dies., Tan Wälchli (Hg.): Autorschaft in den Künsten.
Konzepte – Praktiken – Medien. Zürich 2008, 54–67.
Hoffmann, Torsten/Langer, Daniela: Autor. In: Thomas Anz
Die vorwiegend das Frühwerk bestimmenden traditio- (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände und
nellen Autorschaftsmodelle haben in der Forschung – Begriffe. Stuttgart, Weimar 2013, Bd. 1, 131–170.
abgesehen von der Schachspieler-Metapher (vgl. We- Mingels, Annette: Das Spiel mit dem Spiel im Spiel. Gefähr-
ber/von Planta 1998) – deutlich weniger Aufmerksam- liche Schachpartie in Dürrenmatts Dramenfragment Die
Sekretärin. In: Stefan Koslowski, Andreas Kotte, Reto Sorg
keit gefunden als deren originäre Reflexion und Über-
(Hg.): Berner Almanach. Theater. Bern 2000, Bd. 3, 248–
windung im Spätwerk. Im Winterkrieg in Tibet greift 263.
Dürrenmatt in der theoretischen Exposition auf die Narindal, Mathieu: Vom ›poeta faber‹ zur ›fabula‹. Zur
Autorschaftsmodelle des poeta faber und des auto- Inszenierung von Autorschaft in Friedrich Dürrenmatts
nomen Schöpfers zurück; in der fiktionalen Durchfüh- Der Winterkrieg in Tibet. In: Lucas Marco Gisi, Urs Meyer,
rung setzt er mit der Figur des kritzelnden Söldners Reto Sorg (Hg.): Medien der Autorschaft. Formen literari-
scher (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis
dann aber eine »zweifelhafte, ja postmoderne Autor-
Fotografie und Interview. München 2013, 193–201.
schaft« ins Bild (Narindal 2013, 195 u. 197 f.). Mit sei- Probst, Rudolf: Autobiographische Konzepte in der Ent-
nem autofiktionalen Stoffe-Großprojekt reagiert er da- wicklung von Friedrich Dürrenmatts Stoffen. In: Peter
rauf, dass Autorschaft zu einer Funktion des öffent- Rusterholz, Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der
lichen Diskurses zu verkommen droht, und versucht, Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts
Spätwerk. Berlin 2000, 55–75.
sich das eigene Werk »erneut anzueignen« und sich
Schmitz-Emans, Monika: Entwürfe und Revisionen der
damit als Autor neu zu erfinden (Weber 2012, 137). Dichterinstanz – poeta vates, poeta imitator, poeta creator.
Vertieft analysiert zu werden, verdienen insbeson- In: Anne Betten, Ulla Fix, Berbeli Wanning (Hg.): Hand-
dere die zahlreichen Autorfiguren im literarischen buch Sprache in der Literatur. Berlin 2017, 205–235.
Werk, die Stellung des Autors Dürrenmatt als Instanz Stingelin, Martin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas.
im öffentlichen Diskurs sowie die mediale (Selbst-)In- Das Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild in
Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. In: Davide Giuriato,
szenierung als Autor in Gesprächen, Reden oder Foto-
Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die gra-
grafien, aber auch im eigenen Bildwerk. Dadurch dürf- phische Dimension der Literatur. Basel, Frankfurt a. M.
te Dürrenmatts Werk noch deutlicher lesbar werden 2006, 269–292.
als ebenso eigenständige wie wirkungsmächtige Ant- Weber, Ulrich: »... immer noch mit dem unnützen Problem
wort auf den zeitgleich verkündeten ›Tod des Autors‹. beschäftigt, ob der Identitätssatz A = A stimme«. Fried-
rich Dürrenmatts autofiktionales Spätwerk. In: Elio Pellin,
Literatur Ders. (Hg.): »... all diese fingierten, notierten, in meinem
Primärtexte, Quellen Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs«. Auto-
Dichterdämmerung. In: WA 9, 97–156. biographie und Autofiktion. Göttingen 2012, 121–151.
Der Doppelgänger. Ein Spiel. In: WA 1, 295–325. Weber, Ulrich/Planta, Anna von: Der Dichter als schach-
Ein Engel kommt nach Babylon. In: WA 4, 9–123. spielender Gott oder Von der Schwierigkeit, als Figur die
Das Hirn. In: WA 28, 233–263. Partie zu verstehen. Die Schachmetapher im Werk Fried-
Literatur nicht aus Literatur. In: WA 30, 84–92. rich Dürrenmatts. Bern 1998.
Midas oder Die schwarze Leinwand. In: WA 26, 131–192.
Der Meteor. In: WA 9, 9–95.
Lucas Marco Gisi
64  Einzelmensch – Institution – Gesellschaft 249

64 Einzelmensch – Institution – Gerechtigkeit sind ihm zufolge die beiden Ideen, »mit
Gesellschaft denen die Politik operiert« (58).
Die Betrachtung des Menschen anhand dieses
Doppelbegriffs ermöglicht es Dürrenmatt, das mathe-
Einleitung matische Gesetz der großen Zahlen in die soziopoliti-
schen Reflexionen zu übertragen. Verkürzt aus-
Schon früh wurde der Einzelne als wichtige Kate- gedrückt besagt das Gesetz, das z. B. in der Thermo-
gorie in Dürrenmatts Werk wahrgenommen. Dies dynamik angewendet wird, dass etwa eine große Men-
hängt gewiss mit seinen zahlreichen Hinweisen auf ge an Gasmolekülen (d. h. viele Menschen) statistisch
einen Philosophen zusammen, die in der program- berechenbar sind, während das einzelne Molekül
matischen Äußerung kulminierten: »Ohne Kierke- (d. h. das Individuum) sich unberechenbar verhält
gaard bin ich als Schriftsteller nicht zu verstehen« (vgl. Käppeli 2013, 12 f.). Auf der Basis dieser Über-
(WA 29, 125). Auch die Tatsache, dass er nach sei- tragung gelingt es Dürrenmatt nun, Aussagen über die
nem Studium der Philosophie eine Dissertation über Berechenbarkeit der Gesellschaft und des Individu-
Das Tragische bei Kierkegaard geplant hatte, die er ums im 20. Jahrhundert zu treffen.
dann nie schrieb (vgl. WA 32, 138), dürfte dazu bei- Er überträgt das Gesetz der großen Zahlen zuerst
getragen haben, dass die Kategorie des Einzelnen als eins zu eins (vgl. WA 33, 108). Das exponentielle Be-
Inbegriff des subjektiv Existierenden sowohl als völkerungswachstum führt Dürrenmatt aber dazu,
Denkform in Kierkegaards wie auch Dürrenmatts auch kritische Grenzen des Wachstums zu betrachten.
Werk analysiert wurde (vgl. Mingels 2003, 109 f.; Aus diesem Grund präzisiert er seine Aussagen in Be-
Bühler 2013, 333 f.). zug auf die Berechenbarkeit von vielen Menschen in
Diese Fokussierung auf den Einzelnen ist jedoch späteren Jahren (vgl. WA 28, 101 f.; Käppeli 2013,
nicht unproblematisch, denn sie bietet lediglich eine 115 f.). Dennoch bleibt er der Überzeugung, dass stets
partielle Sicht auf ein komplexeres Phänomen, mit »das Suchen nach der Gerechtigkeit vor dem Suchen
dem sich Dürrenmatt im Verlauf seines Lebens so- nach Freiheit kommen muß« (WA 33, 148), dass der
wohl im essayistischen als auch im literarischen Werk allgemeine Begriff der Gerechtigkeit wichtiger ist als
beschäftigt hat (vgl. Käppeli 2013, 17 f.). Aus diesem der individuelle (vgl. 108), verdeutlicht aber im Essay
Grund wird im Folgenden die basale Dualität seines Tschechoslowakei 1968: »Die Freiheit des Geistes, die
Mensch-Konzepts betont. wir von jedem politischen System fordern müssen, ist
allein deshalb die wichtigste politische Forderung, weil
nur durch sie jene kritische Politik möglich ist, die aus
Der »Doppelbegriff« des Menschen dem Staat keinen mythologischen Popanz, sondern ei-
ne menschliche Institution macht« (WA 34, 38 f.).
Dürrenmatt zufolge wird das menschliche Sein durch Auch in Dürrenmatts Theaterstücken ist der Dop-
einen »Doppelbegriff« (WA 33, 56) adäquat erfasst, pelbegriff des Menschen bestimmend. Ein Fokus liegt,
durch die dualen Begrifflichkeiten Besonderes und wie er im Essay Theaterprobleme 1954 ausführt, auf
Allgemeines, Individuum und Gesellschaft sowie der Darstellung des Einzelnen als »mutigen Men-
Freiheit und Gerechtigkeit, wie er im Monstervortrag schen«: »Es ist immer noch möglich, den mutigen
über Gerechtigkeit und Recht (1969) ausführt. Soll nun Menschen zu zeigen. Dies ist denn auch eines meiner
eine gerechte Gesellschaftsordnung entwickelt wer- Hauptanliegen. Der Blinde, Romulus, Übelohe, Akki
den, so gibt es ihm zufolge zwei Möglichkeiten. Ge- sind mutige Menschen. Die verlorene Weltordnung
hen wir vom Individuum aus, dann besteht das Recht wird in ihrer Brust wieder hergestellt« (WA 30, 63).
des Einzelnen darin, »er selbst zu sein« (57). Dieses Dürrenmatt stellt sich zudem die Frage, wann sich der
Recht wird »Freiheit« genannt und ist die »existen- Einzelne aus der Gesellschaft herauszukristallisieren
tielle Idee« der Gerechtigkeit, »der besondere Begriff« beginnt. Ein erster vorsichtiger Versuch findet sich in
(57 f.). Das Recht der Gesellschaft hingegen besteht der zitierten Stelle, eine weitere ähnliche Passage im
darin, die Freiheit des einzelnen Menschen zu garan- Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit (1956).
tieren, was sie aber nur kann, wenn sie die Freiheit des Dürrenmatt schreibt, dass der Mensch aufgrund des
Einzelnen beschränkt. Dieses Recht wird gemäß Dür- Bevölkerungswachstums das Gefühl habe, »einem
renmatt »Gerechtigkeit« genannt und ist der »all- boshaften, unpersönlichen, abstrakten Staatsunge-
gemeine Begriff der Gerechtigkeit« (57). Freiheit und heuer gegenüberzustehen« (WA 32, 64). »Die Chance

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_64
250 IV  Motive und Diskurse

liegt allein noch beim Einzelnen. Der Einzelne hat die schaubar gewordene Kosmos)« (G 3, 217). Dieser Fo-
Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu ge- kus auf den Einzelnen ist denn auch vielfach unter-
winnen« (67). Diesen Gedankengang nimmt er im sucht worden (vgl. z. B. Mingels 2003, 109 f.). Zugleich
Nachwort des Mitmacher-Komplexes auf und verdeut- merkt Dürrenmatt an, dass auch das Labyrinth, die un-
licht: »Wird das Allgemeine ungerecht, negativ, dann durchschaubar gewordene Welt, zu den großen The-
wird der Einzelne geboren, wird sich der Einzelne als men seines Werks gehöre. Seine Reflexionen über die
Einzelner bewußt« (WA 14, 197). Die Einzelnen, Dür- Gesellschaft als Ganzes und die Institutionen, die sie
renmatts mutige Menschen und – später – die iro- ausmachen, sind u. a. stark geprägt vom Problem des
nischen Helden (vgl. 202), sind in den Komödien so- Bevölkerungswachstums, das dazu führt, dass die Welt
mit ein Epiphänomen der negativen korrupten Gesell- immer komplexer wird. Während sich Dürrenmatt in
schaft, die auf der Bühne dargestellt wird. Sie wagen seinem essayistischen Werk weiter mit diesen Zusam-
es, aus den ungerecht gewordenen Systemen aus- menhängen beschäftigt (vgl. Käppeli 2013, 219 u. 265–
zubrechen und sich gegen die herrschenden Regeln 267), führt ihre erschwerte Darstellbarkeit auf der Büh-
und Gesetze aufzulehnen. ne zu einer vermehrten Thematisierung in seiner spä-
Dürrenmatt beschäftigt sich aber auch mit der ten Prosa (vgl. Käser 2003, 179; Weber 2003, 75–78).
Frage, wie er die moderne Gesellschaft auf der Bühne
adäquat darstellen kann. Versucht er etwa mit Romu- Literatur
Primärtexte
lus der Große (1949) noch an die antike Stofftradition Der Mitmacher. Nachwort. In: WA 14, 95–221.
anzuknüpfen, den Staat durch das Sinnbild der Fami- [Gespräch mit] Horst Bienek [1961]. In: G 1, 114–131.
lie darzustellen, verschiebt sich sein Fokus in Frank [Gespräch mit] Fritz J. Raddatz [1985]. In: G 3, 211–230.
der Fünfte (1959) und Der Mitmacher (1973) auf die Labyrinth. Stoffe I–III. In: WA 28, 101 f.
ökonomischen Institutionen der Gesellschaft (vgl. G Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem
helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der
1, 116 f.).
Politik. In: WA 33, 36–107.
In der diachronen Betrachtung der Theaterstücke Rede von einem Bett auf der Bühne aus. In: WA 32, 138.
ist interessant, dass Dürrenmatt z. B. in Der Besuch der Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72.
alten Dame oder Die Ehe des Herrn Mississippi einzel- Tschechoslowakei 1968. In: WA 34, 35–42.
ne Institutionen, wie die politischen, ökonomischen, Turmbau. Stoffe IV–IX. In: WA 29, 125.
rechtlichen oder sinnstiftenden, die ein Gesellschafts- Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl. In: WA 33, 108–
124.
system ausmachen, noch personalisiert darstellen
Über Toleranz. In: WA 33, 125–149.
kann. Es fällt ihm aber zunehmend schwer, die immer Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: WA 32, 60–69.
komplexer und undurchschaubarer werdende Welt
auf der Bühne über diese Personalisierung darzustel- Sekundärliteratur
len. Der Versuch, die zunehmende Entdifferenzierung Bühler, Pierre: Friedrich Dürrenmatt: un écrivain s’inspire
der Gesellschaft in Frank der Fünfte und vor allem Der de Kierkegaard. In: Revue de théologie et de philosophie
63 (2013), 3–4, 325–335.
Mitmacher theatralisch zu zeigen, wird nicht mehr Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
verstanden und führt zu Dürrenmatts »Abschied vom matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
Theater« (Käser 2003, 179). Werks. Köln 2013.
Käser, Rudolf: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche
Auge.« Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungs-
feld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In:
Diskussion Text + Kritik 50/51 (2003), 167–182.
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
Auf die Frage nach den großen Themen in seinem gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln
Werk zählt Dürrenmatt 1985 den Einzelnen auf: »[d]er 2003.
Rebell (die ewige Rebellion), Atlas (das Weltertragen), Weber, Ulrich: Elternsuche und Ideologiekritik. Die Stoffe-
Sisyphos (das Nieaufgeben), Minotaurus (der Verein- Erzählung Der Rebell und Dürrenmatts wiederholte Kass-
ner-Lektüre. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 73–86.
zelte), das Labyrinth (das undurchschaubar gewordene
Ich, die undurchschaubar gewordene Politik, die un- Patricia Käppeli
durchschaubar gewordene Technik, der undurch-
65 Geld/Ökonomie 251

65 Geld/Ökonomie er – ausgehend von einer Geschichte wie aus Tausend-


undeiner Nacht über einen verlorenen bzw. gestohle-
Ein durchgängiges Thema im historischen nen Geldbeutel – das sozialistische Gute-Hirte-Spiel
Kontext dem kapitalistischen Wolfsspiel gegenüber. Aus der
Überzeugung heraus, dass der Kapitalismus »kein
Das Geld findet sich als Motiv beinahe in jedem Text System, sondern ein Ausdruck des Menschen« (G 3,
von Dürrenmatt, von Romulus der Große (1949), wo 241) sei, lässt er die beiden gegensätzlichen Spiele an
er »seine erste Finanzkrise auf die Bühne [bringt]: ei- Konvergenzpunkte gelangen.
ne Staatspleite im Großformat« (Cuonz 2018, 305), Auch wenn Geld geradezu als anthropologische
bis zum Roman Durcheinandertal (1989), in dem Konstante erscheint, erweist sich für Dürrenmatt die
Moses Melker eine Theologie der Gnade für Millio- Dominanz des Geldes – ähnlich wie der Zufall, der in
näre predigt. Dürrenmatts Dramaturgie an die Stelle schicksalhaf-
Dürrenmatt hat wenig theoretische Reflexionen ter Mächte tritt – als Signum der Moderne. Indem er
zum Charakter des Geldes publiziert. Im Gegensatz zu es als dramaturgischen Faktor einbezieht, sucht Dür-
den Naturwissenschaften hat er sich – sieht man von renmatt nach Möglichkeiten, eine anonyme Welt ins
Karl Marx’ Kapital ab – kaum mit ökonomischer Lite- Sichtbare zu rücken. Dies ist insofern ein paradoxes
ratur auseinandergesetzt. Sein Bild von ökonomischen Unternehmen, als das Geld selbst einer jener quantifi-
Funktionsmechanismen war zum einen gewiss litera- zierenden Faktoren ist, die zur Abstraktheit moderner
risch vermittelt, war er doch etwa ein bekennender Bal- Machtstrukturen führen. Dürrenmatt entwickelt vari-
zac-Leser (vgl. WA 32, 113). Zum andern war es durch ierende Modelle eines modernen Welttheaters, in dem
die Schweiz der Nachkriegszeit geprägt. Mit einem moralische und finanzielle Schuld verschränkt sind.
durch die Neutralität und die Kriegsgeschäfte beding- Das Geld ist nicht nur ein Motor moderner Gesell-
ten Startvorsprung profitierte diese vom westeuropäi- schaft, sondern es wird zugleich überhöht zu einem
schen »Wirtschaftswunder« (Tanner 2015, 330); zu- trügerischen Versprechen, das – mit Anklängen an die
gleich war sie von heftigen Klassenkämpfen verschont alttestamentliche Geschichte vom Tanz um das golde-
geblieben durch einen »koordinierten, kooperativen ne Kalb (2. Mose 32,1–4) – die Menschen in Versu­
Kapitalismus, der die lohn- und sozialpolitischen Aspi- chung bringt.
rationen der Linken und die Stabilitätsbedürfnisse mit- In Der Besuch der alten Dame (1956) entfaltet das
telständischer Wirtschaftsgruppen in seinen Funk- Geld sein Korruptionspotential mit einer Übermacht,
tionsmodus integrierte« (Tanner 2015, 297). die es zu einer analogen Funktion wie die des Schick-
Im Roman Justiz skizziert Dürrenmatt eine von sals in der antiken Tragödie oder des Schöpfers im
der Wirtschaft dominierte, der protestantischen Welttheater bringt (»mit meiner Finanzkraft leistet
Ethik verpflichtete moderne Schweiz – zunächst in man sich eine Weltordnung«, WA 5, 91). In den teuren
ihrer Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert: »Eine ra- gelben Schuhen, die sich die Güllener Bürger auf Kre-
dikale Wende zu Geschäft und Gewerbe setzte ein«; dit kaufen, findet die Konstellation ›Reichtum auf der
»emsiger Fleiß überall, steigender Reichtum, doch Grundlage einer nicht gedeckten (moralischen)
ohne Verschwendung, leider auch ohne Glanz. [...] Schuld‹ ihr Dingsymbol.
Banken wurden gegründet [...]. Alles mußte rentieren
und rentierte« (WA 25, 39). Anschließend – explizit
auf die mit 1957 datierte Gegenwart bezogen – die Bi- Letale Dynamik der Ökonomie
lanz: »Unser kleines Land [...] ist in Wirklichkeit von
der Geschichte abgetreten, als es ins große Geschäft Frank der Fünfte (1958), die komische Oper einer Pri-
eintrat« (41). vatbank, handelt von einem in ökonomischem Nie-
dergang begriffenen Institut, dessen Prinzip der Be-
trug an den Kunden ist. Keiner und keine der Mit-
Signum der Moderne und Mythos arbeitenden darf das Geheimnis preisgeben. So dezi-
miert sich das Personal selbst; wer aus dem Geschäft
Die Funktionsweise des Geldes beobachtet Dürren- austreten will, muss liquidiert werden. Emblematisch
matt im Rahmen des Antagonismus des Kalten Krie- für diese letale Dimension steht ein Bild, das Dürren-
ges zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Im Mons- matt im Zusammenhang mit dem Stück gemalt hat.
tervortrag über Gerechtigkeit und Recht (1969) stellt Die letzte Generalversammlung der Eidgenössischen

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252 IV  Motive und Diskurse

Bankanstalt (1966; s. Abb. 77.1) zeigt – in Anklang an (z. B. WA 14, 91) bezeichnet – und dabei einen gegen-
die vierte Szene des Stücks – eine Versammlung der über den Individuen mörderischen Prozess der Sys-
Aktionäre oder Aufsichtsräte einer Bank, die sich in temintegration realisiert. Am Schluss ist auch das ma-
einem kollektiven Akt das Leben nehmen. Das Bild ist fiöse Unternehmen dem korrupten Staat einverleibt.
kompositorisch eine parodistische Kontrafaktur: ein Noch Dürrenmatts letzter Text handelt vom Geld:
Abendmahl ohne Christus oder eine Ansammlung In Midas oder Die schwarze Leinwand (1991) über-
von Judas-Selbstmördern. Das Gemälde konzentriert lagern sich die Geschichte des Unternehmers Green,
in einem Augenblick, was sich im Stück als Prozess der das ökonomische Überleben der Firma und sei-
vollzieht. Der Bezug Religion – Geld prägt dieses ner Familie mit seinem als Unfall inszenierten Suizid
durchgehend. Als Motto steht über der Bühne: »Han- retten könnte, und der antike Mythos von König Mi-
delt, bis dass ich wiederkomme« (Lk 19,13). Während das. Diesem wird der Wunsch erfüllt, dass alles, was
in Jesu Gleichnis vom reichen Kaufmann das Geld des er berührt, zu Gold wird. Die Gabe wird ihm zum
Kaufmanns ein Sinnbild für den Glauben ist, degra- Fluch, da er nichts mehr essen kann und selbst die
diert Dürrenmatt religiöse Motive und Bilder zu eu- Geliebte zu Gold erstarrt. In Ovids Version, die Dür-
phemistischen Gleichnissen für das Geld; der sensus renmatt zitiert (vgl. WA 26, 146 f.), wird Midas geret-
spiritualis wird gewissermaßen auf den Boden des sen- tet, indem er Reue über seinen törichten Wunsch
sus literalis zurückgeholt. zeigt. Während in Midas oder Die schwarze Leinwand
Im Überblick seiner Erscheinungsformen zeigt sich der Ausgang offen bleibt, führt Dürrenmatt diese Idee
das Geld in Dürrenmatts Werk als lebensfeindliches in einer nachgelassenen Balladenversion des Stoffs
Prinzip; immer wieder stehen seine Protagonisten vor von 1984 radikal zu Ende: Der verzweifelte Midas
der Wahl zwischen einem Leben in Liebe und Anstand verwandelt all seine Geschäftspartner zu Gold, am
einerseits, dem Geld bzw. der Hoffnung auf Reichtum Schluss greift er sich selbst an den Hals und erstarrt zu
andererseits – und treffen meist die falsche Wahl. In einer Goldstatue (vgl. Dürrenmatt 1993, 61). Indem
Frank der Fünfte ist es Personalchef Egli, in Der Mit- Dürrenmatt eine ganze Reihe von Selbstporträts als
macher (1973) der Titelheld, der die Chance zum Aus- Midas gezeichnet hat, weist er indirekt auf eine weite-
stieg aus dem Geschäft mit der Geliebten verpasst. re Deutungsperspektive hin: Die Gabe, alles in Gold
zu verwandeln, kann zum einen auf Dürrenmatts er-
schriebenen Reichtum bezogen werden, zum andern
Freiheit vom Geld und Tendenz zum totalen auch auf eine spezifische Tragik des Künstlers. Alle
ökonomischen System Menschen, denen er begegnet, verwandeln sich unter
seiner Hand in künstlerischen Stoff, in Literatur und
Doch gibt es auch Gegenbeispiele wie Akki, den Meis- Bilder. Mitten in dieser zu Kunst erstarrten, ›vergol-
terbettler in Ein Engel kommt nach Babylon, der sich deten‹ Welt macht sich der Autor in seiner unaus-
Schätze erbettelt, um sie wieder zu verschenken und weichlichen Einsamkeit selbst zum Stoff: Der sich
zu verschleudern, und so seine Freiheit gerade im un- selbst an den Hals greifende, sich vergoldende Unter-
ökonomischen Umgang mit dem Geld bestärkt. In nehmer ist auch ein indirektes Bild für die Leitfrage
Der Mitmacher und Smithy ist eine ähnliche Freiheit des großen Spätwerks der Stoffe, »ob man selbst ein
für Cop bzw. Smithy nur um den Preis des Todes zu Stoff zu werden vermag« (WA 29, 225).
erreichen. Trotz der zentralen Bedeutung des Geldes in Dür-
Dürrenmatt setzt bei seinen szenischen Experi- renmatts Werk bleibt eine vertiefte Untersuchung der
menten die Effekte des Geldes auf unterschiedlichen Zusammenhänge von literarischer Gestaltung und
Ebenen an: Ist es zunächst und immer wieder das In- ökonomischer Thematik sowie eine literaturgeschicht-
dividuum, so ist es im Besuch der alten Dame ein liche Verortung unter diesem Gesichtspunkt ein Desi-
künstlich isoliertes Gemeinwesen und in Frank der derat der Forschung.
Fünfte ein verschworenes wirtschaftliches Kollektiv,
eine Institution, die der pekuniären Verlockung er- Literatur
Primärtexte
liegt. In der Komödie Der Mitmacher zeigt Dürren- Der Besuch der alten Dame. WA 7.
matt schließlich die Mechanismen eines Systems, das Frank der Fünfte. WA 8.
alle moralischen Kriterien verabschiedet hat, aus- Midas oder Die schwarze Leinwand. In: WA 26, 131–192.
schließlich nach dem Prinzip der Ökonomie funktio- Midas [Ballade, postum publiziert]. In: Das Mögliche ist
niert – die Leichen werden konsequent als »Ware« ungeheuer. Zürich 1993, 38–61.
65 Geld/Ökonomie 253

Der Mitmacher. WA 14. Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.


Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem München 2015.
helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der Vogl, Joseph/Burkhardt, Wolf: Handbuch Literatur & Öko-
Politik. In: WA 33, 36–107. nomie. Berlin 2020.

Sekundärliteratur Ulrich Weber


Cuonz, Daniel: Weltbankrott und Welttheater: Dürrenmatt.
In: Ders.: Die Sprache des verschuldeten Menschen.
Paderborn 2018, 303–326.
254 IV  Motive und Diskurse

66 Geschichte ner Panne, eines Unfalls, einer Unterbrechung, eines


Schocks operieren (vgl. 204 f.). Dürrenmatt schafft da-
Friedrich Dürrenmatt hat sich nicht nur in seinen Es- für den Topos der ›schlimmstmöglichen Wendung‹
says, sondern auch in den Theaterstücken, Kriminal- (s. Kap. 98). Er insistiert auf der Kontingenz und iro-
romanen, Hörspielen und Gedichten intensiv mit der nisiert das illusionäre Bemühen, das Ungewisse in ein
Geschichtsschreibung auseinandergesetzt. Seine In- berechenbares Risiko zu übersetzen.
terventionen in vergangenheitspolitische Debatten Wenn das Wirkliche und das Wahre das Fiktionale
sollen hier ebenso dargestellt werden wie die bis heute inkludieren, so muss sich die Geschichtswissenschaft
fortdauernden Kontroversen um die Rolle von Fakten über die Wirkung der Einbildungskraft in ihren Er-
in fiktionalen Erzählungen. zählverfahren klar werden. Dürrenmatt liefert pro-
duktive Vorschläge, wie das geschehen könnte. In der
Einleitung zu Der Winterkrieg in Tibet – einer fantasti-
Fakten und Fiktionen schen Projektion eines dritten Weltkrieges –, wirft er
den Blick in den zeitlichen Abgrund der Kosmologie:
Dürrenmatt gehört nach eigener Aussage »zu den Ge- »Was die Zeit zurückläßt, ist Vergangenheit und da-
dankenschlossern und -konstrukteuren, die Mühe ha- mit nur noch mittelbar. Was wir Weltgeschichte nen-
ben, mit ihren Einfällen fertig zu werden« (WA 28, nen, gleicht vorerst einem Blick auf den Andromeda-
14). Er könne nicht anders, als »ins Blaue hinein zu nebel. Auch dieser liegt unerreichbar in der Vergan-
schreiben« (WA 30, 66). Gerade deshalb beharrt er genheit, zweieinhalb Millionen Jahre zurück, sein
auf einem Begriff von Wirklichkeit, der das Schreiben Licht, das wir erblicken, verließ ihn im ersten Auf-
wiederum in Schranken zwingt und dabei eine un- dämmern der Menschheit« (WA 28, 53).
produktive Gegenüberstellung Literatur = Fiktionen Diese Passage enthält in komprimierter Form das
vs. Historie = Fakten unterläuft. Geschichtsverständnis Dürrenmatts. Geschichte und
Gleichzeitig wendet sich Dürrenmatt gegen die Literatur gleichen sich darin, dass sie von bildhaften
simple Gleichsetzung von literarischer und histori- Geschichten ausgehen, die sich in transdisziplinären,
scher Tätigkeit. Um die Differenz zu verdeutlichen, re- intertextuellen sowie intermedialen Kontexten formen
kurriert er mehrmals auf die aristotelische Unterschei- (Weber 2014). Dürrenmatt ist auch Maler, und er be-
dung von Geschichtsschreibung als einer Darstellung wegt sich auf der Höhe zeitgenössischer naturwissen-
dessen, was geschah, und von Dichtung als einer Aus- schaftlicher Weltentwürfe. Er sprengt die im 19. Jahr-
einandersetzung mit dem, was hätte geschehen kön- hundert von Dilthey eingeführte und in den 1950er
nen, was – in anderen Worten – ins Reich des Wahr- Jahren von C. P. Snow popularisierte Vorstellung der
scheinlichen gehört (vgl. WA 30, 34 u. 183 f.; Aristote- ›zwei Kulturen‹ der Wissenschaft. Da der Vorrat an ba-
les’ Poetik, Kap. 9). Der Historiker und der Dramatiker salen Bildern, die in Literatur und Geschichtsschrei-
suchten beide nach »Möglichkeiten der Darstellung bung das Schreiben inspirieren, beschränkt ist, sind
des Ereignisses« (WA 30, 206). Beiden gehe es um die Wiederholungen und Ähnlichkeiten unvermeidlich
Wirklichkeit. Während die Geschichtsschreibung Fak- (vgl. WA 35, 80 f.). Dürrenmatt klopft seine ›Stoffe‹ un-
ten aus Quellen erkunde, nutze der Dichter Fiktionali- entwegt nach solchen Bildern und damit nach den
sierungstechniken für seine »Analyse unserer Wirk- Möglichkeiten ab, sie auf die Bühne zu bringen. Das
lichkeit« (ebd.). Er beschreibe die Wirklichkeit »ver- geht nicht ohne Stilisierung, und das verbindet erneut
mittels einer Fiktion« und tue dabei so, »als ob sich die Dichtung und Geschichtsschreibung. Letztere muss in
Wirklichkeit mit Fiktion beschreiben ließe, und in den Myriaden von Details Handlungs- und Wirkungs-
Wahrheit läßt sie sich nicht anders beschreiben« (207); muster erkennbar machen, ansonsten würde sie auf
denn »die Möglichkeit, an die der Mensch glaubt, »reine Dokumentation« reduziert und zu einer »un-
hängt mit seiner Interpretation der Wirklichkeit zu- ermeßlichen Bibliothek anwachsen«, die dann nicht
sammen« (184). mehr sein könnte als »eine Bibliothek von verschwom-
Mit dieser Einsicht reflektiert Dürrenmatt auch die menen Erinnerungsfetzen« (WA 28, 55 f.). Jedes his-
für die Moderne grundlegende Erfahrung der Kata- torische Narrativ basiert somit auf Verallgemeine-
strophe: Hier wird die im ontologischen Bereich sich rungsstrategien, die von unterschiedlichen Prämissen
abspielende Wirklichkeit vom Unwahrscheinlichen ausgehen und verschiedene Zeiträume betreffen. Dies
eingeholt. Das, womit niemand rechnet, tritt ein. In wiederum setzt die Vergangenheit in den Plural. Dür-
der Literatur lässt sich mit den logischen Fiktionen ei- renmatt antizipiert hier eine Diskussion, die heute in

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66 Geschichte 255

der Geschichtswissenschaft unter dem Stichwort ›An- sessen, hätte er den Caesar nicht geschrieben, weil ihm
thropozän‹ geführt wird: Wie lassen sich Veränderun- in diesem Augenblick notwendigerweise die Souverä-
gen unterschiedlicher Dauer aufeinander beziehen, nität abhanden gekommen wäre« (ebd.). Auch Schiller
und wie hängen insbesondere die Milliarden Jahre alte vermochte noch seine Versdramen »aus der Geschich-
geologische Zeit des Planeten Erde mit der vergleichs- te« herauszusuchen und auf dem fragmentarischen
weise kurzen Zeitdauer technisch bewaffneter Men- Wissen von dem, »was geschehen war«, aufzubauen
schen zusammen? (WA 30, 107). Je mehr Fakten die Wissenschaft schuf,
desto stärker wurden dem Künstler die frei gestalt-
baren Stoffe entzogen. Folge war eine Verschiebung
Geschichte in Texten von einer »Dramaturgie der vorhandenen Stoffe« zu
einer der »erfundenen Stoffe« (WA 30, 68). Letztere
Dürrenmatt kennt sich in Geschichte aus (»ich studie- leben von der Parodie des Wirklichen, wodurch die
re ja überhaupt immer Geschichte«, G 2, 164) und ge- Komödie zur adäquaten Theaterform aufsteigt – und
steht gleichzeitig ein, er sei »durch jeden Historiker zu zwar als »Mausefalle, in die das Publikum immer wie-
widerlegen, umso mehr als ich keiner bin« (WA 35, der gerät« (64; vgl. Bursch 2006; Kost 1996).
147). Er greift immer wieder große Themen und he- Dürrenmatt verfügt über ein untrügliches Sensori-
rausragende Ereignisse auf, so etwa in seinen frühen um für wichtige Themen und blinde Flecken der Er-
Theaterstücken Es steht geschrieben (1947) und Romu- innerungskultur. Als Diagnostiker, der sich als solcher
lus der Große (1949). Letzteres trägt den Untertitel Ei- vom Therapeuten unterscheiden wollte, verfasste er
ne ungeschichtliche historische Komödie. Das Oxy- viele mit stupendem historischem Wissen angerei-
moron verweist auf ein radikal synthetisches Ge- cherte Essays zu Zeitfragen (Kalter Krieg, Israel und
schichtsmodell, das historische Fakten nicht ignoriert, Palästina, Atombombe etc.). Im ›helvetischen Zwi-
sondern sie im Modus der Ironie zu zeitgeschicht- schenspiel‹ des Monstervortrag über Gerechtigkeit und
lichen Parabeln verdichtet. Recht (1969) sowie im Fragment Zur Dramaturgie der
So sehr Dürrenmatt laufend erfindet, so wenig hält Schweiz (1968/70) sucht er im Stoff der Schweizer-
er vom unverbindlichen Fabulieren. Er weiß um die geschichte das Material für international dechiffrier-
historisch verbürgten Vorgänge – in den genannten bare Allegorien. Er fragt nach den »Möglichkeiten,
Dramen das ›Täuferreich‹ von Münster der 1530er aus bestimmten Konflikten und Aspekten der Schweiz
Jahre bzw. der Untergang des römischen Reiches im Theater entstehen zu lassen« (WA 34, 60). Im Monster-
5. Jahrhundert –, verpasst diesen indes eine poetische vortrag (1969) entwickelt er die weltläufige Parabel
Drehung und sichert sich damit jenen dichterischen des ›Wolfs im Schafpelz‹, welche er als Metapher für
Freiheitgrad, der es ihm ermöglicht, »Strukturen der Kapitalismus generalisiert und dem ›Gute-Hirte-
menschlichen Gemeinschaft selbst zum Handlungs- Spiel‹ – dem Sozialismus – gegenüberstellt (vgl. WA
träger zu machen« (zit. nach Mayer 1992, 42), und 33, 48–52).
Anachronismen um ihrer Aufklärung willen zu repro- Längst bevor sich die akademische Geschichts-
duzieren (vgl. Bursch 2006, 209). Paradigmatisch zeigt schreibung ernsthaft mit diesen Fragen auseinander-
sich das auch in Frank der Fünfte (1958). In dieser Ko- zusetzen beginnt, kritisiert er mit spitzer Feder den
mödie einer Privatbank wird der Modus operandi ei- Umgang des neutralen Kleinstaates mit seiner Ver-
ner durch Sklavenhandel und betrügerische Trans- gangenheit (Holenstein 2018). Dazu gehört auch eine
aktionen reich gewordenen korrupten »Gangster- Vergegenwärtigung seiner eigenen geistigen Verstri-
bank« (WA 6, 22) vorgestellt, welche ihre »durch Tra- ckung in den Aufstieg des Nationalsozialismus, auf
dition geheiligten Geschäftsmethoden« (36) mit die er in Mondfinsternis eingeht. In mehreren Schü-
schurkischer Energie in einer krisenhaften Gegenwart ben karikiert er die »Groteske des Verschontseins« im
erfolgreich an neue Bedingungen anpasst: »Sei’s hier, Zweiten Weltkrieg (WA 28, 67) und wählt dafür ein
sei’s dort, sei’s anderswo« (129). ikonisches Bild: »Tell spannte zwar die Armbrust,
Die Geschichtsschreibung kann nicht einfach in ei- doch grüßte er den Hut ein wenig – beinahe fast
nem solchen Möglichkeitsraum unterwegs sein. Sie nicht –, und das Heldentum blieb uns erspart« (WA
schafft »Fakten [...], die nicht mehr zu umgehen sind« 34, 63 f.). Kompensatorisch inszeniere sich dasselbe
(WA 30, 67). Dies schränkt den Spielraum für literari- Land im Kalten Krieg in einer heroischen Rolle: »Un-
sche Werke ein und entzieht dem Autor gut erforschte ser übertriebener Antikommunismus ist zu einem Ri-
Stoffe: »Hätte Shakespeare unser Wissen über Rom be- tual geworden, zu einem Stammestanz der Schweizer.
256 IV  Motive und Diskurse

[...] Da wir keine Kriegshelden waren, wollen wir Dagegen wurde fundiert eingewandt, auch Dürren-
nun wenigsten die Helden des kalten Krieges sein« matt habe auf eine Veränderung der Welt zum Positi-
(65 f.). Damit korrespondiert die »Zaubergleichung« ven gedrängt und seine Stücke als kritische Aufklä-
rot gleich braun, in welcher Dürrenmatt den »drama- rung des Publikums verstanden (Käppeli 2013). Den-
turgischen Kniff« schweizerischer Politik erkennt noch ist er kein Anhänger des ›Prinzips Hoffnung‹.
(64), mit der aber kein gutes Theater zu machen sei; Mit seinem Sarkasmus vaporisiert er jeden teleologi-
seine Aufmerksamkeit richtet sich deshalb auf »bes- schen Fortschrittsglauben; in seinen Denkbewegun-
sere Stoffe als unsere bewältigte Vergangenheit« (69). gen schlägt das Vernünftige nur allzu oft ins Paradoxe
um (vgl. WA 30, 185). Stets hält er am »Wissen um die
sinnlose Wirkungslosigkeit« menschlichen Tuns fest
Forschungskontroversen (WA 36, 108). Das Korrelat dazu ist ein kritischer
Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. In der Re-
Bis zu seiner letzten in der Schweiz gehaltenen Rede de Tschechoslowakei 1968 qualifiziert er »unser Zeit-
Die Schweiz – ein Gefängnis (1990) hat sich Dürren- alter« blockübergreifend als das »der politischen Ver-
matt pointiert zur Geschichte der Schweiz geäußert. brecher« (WA 34, 36).
Er wandte sich gegen die These eines ›Sonderfalls‹. Solche Aussagen und eine unerbittliche Institutio-
Und auch wenn viele seiner Theaterstücke durchaus nenkritik, wie sie in Die Heimat im Plakat (1961) zum
»mit der Schweiz zu tun« haben, so wäre es, so der Ausdruck kommt, tragen Dürrenmatt Attribute wie
Germanist Hans Mayer, »ganz töricht, daraus zu fol- ›zynisch‹ und ›nihilistisch‹ ein. Praktisch beschwört er
gern zu wollen, Dürrenmatt ›meine‹ die Schweiz« die »Illusionskraft der Bühne« (WA 10, 130), theo-
(Mayer 1992, 40). Der Dramatiker sehe vielmehr in retisch ist er illusionslos. Er spricht vom stur sich dre-
der heutigen Schweiz ein Modell, das ihm »das ›Den- henden »Rad der Geschichte« (WA 35, 73). Damit re-
ken von Welten‹« erlaube (ebd.). Mayer spricht von ei- det er nicht einer zyklischen Wiederkehr des Immer-
nem »Metaphysiker, der gleichzeitig ein Aufklärer gleichen das Wort. Dennoch gibt es für ihn keine
bleibt«, und der »den Mikrokosmos Schweiz als Ma- Fluchtperspektiven: »Der Mensch ist unvollkommen.
krokosmos« verstehe: »Das muss ein Ärgernis geben. Die Wirklichkeit, die er sich schafft, ist immer vom
Güllen [der Schauplatz von Der Besuch der alten Da- Menschen bedroht« (WA 34, 41 f.). Für Dürrenmatt
me] liegt in der Schweiz, aber es ist viel größer als die bleibt der Turm zu Babel das »Sinnbild der mensch-
Schweiz« (ebd., 83). Umstritten bleibt, wie weit nur lichen Hybris«, und was »die Menschheit hinterlassen
ein durch helvetische Verhältnisse geeichter Autor es wird, sind ihre Ruinen« (WA 32, 206).
fertigbringen konnte, solche mit unverkennbarem Lo-
kalkolorit angereicherte Parabeln weltweit in Zirkula- Literatur
Primärtexte
tion zu bringen. Zur Dramaturgie der Schweiz. Fragment (1968/1970). In:
Eine weitere Diskussion dreht sich um das Indi- WA 34, 60–76.
zienparadigma in der Geschichtsschreibung. Dürren- Es steht geschrieben. Ein Drama. In: WA 1, 9–148.
matts ›Krimis‹ sind der Methode der »Spurensiche- Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. WA 6.
rung« (Carlo Ginzburg) verpflichtet. Insbesondere Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem
helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der
der anfangs der 1950er Jahre veröffentlichte Roman
Politik. In: WA 33, 36–107.
Der Verdacht, der die nationalsozialistischen Medizin- Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische
verbrechen zum Thema hat, zeichnet detailgestützte Komödie in vier Akten. WA 2.
Rekonstruktionsverfahren nach. Wie diese für die his- Der Winterkrieg in Tibet. In: WA 28, 11–170.
torische Forschung genutzt werden können, wird un-
terschiedlich beurteilt. Dasselbe gilt für den Begriff Sekundärliteratur
Bursch, Roland: »Wir dichten die Geschichte«. Adaption
der »Situation« (WA 30, 36), in der sich Handlungs-
und Konstruktion von Historie bei Friedrich Dürrenmatt.
stränge verknoten und kontingente Wirkungen zu be- Würzburg 2006.
obachten sind. Grimm, Gunther E.: Friedrich Dürrenmatt. Marburg 2013.
Eine dritte Kontroverse kreist um die philoso- Holenstein, André: Dürrenmatt, der Klein- und Kunststaat
phisch-politischen Implikationen des Geschichtsver- Schweiz und Europa. Beobachtungen des Historikers. In:
ständnisses von Dürrenmatt. Peter von Matt kontras- Centre Dürrenmatt (Hg.): Kokoschka – Dürrenmatt. Der
Mythos als Gleichnis. Neuchâtel 2018 (Cahier 20), 77–91.
tierte ihn als konservativen Skeptiker mit dem liberal- Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
progressiven Gläubigen Max Frisch (von Matt 2012).
66 Geschichte 257

matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen Dynamit. Zur geschichtsphilosophischen Differenz von
Werks. Köln 2013. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. In: Ders.: Das Kalb
Keel, Daniel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der
1986. Schweiz. München 2012, 191–207.
Kost, Jürgen: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang Mayer, Hans: Frisch und Dürrenmatt. Frankfurt a. M. 1992.
von Geschichtsbild und Komödienkonzeption bei Hor- Weber, Ulrich u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie. Dür-
váth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Hacks. Würzburg renmatt intertextuell und intermedial. Göttingen 2014.
1996, 127–180.
Matt, Peter von: Der Liberale, der Konservative und das Jakob Tanner
258 IV  Motive und Diskurse

67 Gnade Einmaliges« (WA 4, 42) eine Herausforderung dar;


wer sie erfährt, kann sich nicht nicht zu ihr verhalten.
Das Konzept und der Begriff der ›Gnade‹ entstammen Als potentielle Überforderung kann man an ihr, wie
dem theologischen Denken (Pesch/Peters 1994). Der Nebukadnezar, auch scheitern. Kurrubi ist für den
Bedeutungsumfang der entsprechenden biblischen bettelnden König aber auch als Frau eine Herausfor-
wie kirchlichen Überlieferung (gr. cháris, lat. gratia) derung. Angesichts ihrer strahlenden Schönheit ver-
ist allerdings recht breit. Er reicht vom ›Wohlwollen‹, hüllt Nebukadnezar sein Antlitz, kaum enthüllt der
der ›Gefälligkeit‹ über das ›Geschenk‹ zur ›Gabe‹. Ge- Engel das Mädchen (vgl. 43). Dass ihn Kurrubi, ihrer
mein ist dabei stets das Moment des ›Nicht-Verdankt- göttlichen Bestimmung gemäß, bedingungslos liebt,
seins‹, des nicht Verdienten, das einem ›gratis‹ zufällt. kann er nicht annehmen und erwidert ihre Küsse
Dieser Grundzug ist auch für die juristische Verwen- durch Schläge: Die personifizierte Gnade wird sofort
dung des Terminus maßgeblich: der ›Begnadigung‹ in die ökonomische Ordnung integriert, deren Wider-
als Verzicht auf die Vollstreckung eines gültigen Ur- spiel mit dem Glück das Drama grundiert: Was aus
teils. Theologisch korrespondiert die Gnade (der dem Nichts erschaffen und gratis geschenkt worden
Rechtfertigung) als Gut vor allem in protestantischer ist, wird als »unpraktische Gnade« gegen Exkönig
Tradition mit dem Übel der Sünde, das von ihr über- Nimrod, ein »Goldstück« und »zwei Silberlinge« ge-
wunden wird (vgl. Röm 5). tauscht (48). Das Motiv der Heimsuchung durch eine
In dieser Grundbedeutung des Nicht-Verdienten ist Frauenfigur bzw. durch die Doppelgesichtigkeit von
die Gnade auch in Dürrenmatts Denken und Werk Gnade und Fluch führt, werkgeschichtlich gesehen,
nicht nur anzutreffen, sondern von erster Bedeutung. vom Fragment gebliebenen Hörspiel Der Uhrenma-
Dieser Umstand ist von der Forschung, auch der religi- cher (vgl. die wichtigen Anmerkungen zu einem The-
onsbezogenen, bislang nur gelegentlich gewürdigt menkomplex, WA 4, 128–133) über die Engel-Komö-
worden (vgl. Buri 1962; zuletzt und mit Akzent auf die die und Grieche sucht Griechin (vgl. die Gnadenerörte-
Christologie: Bühler 2000). Dürrenmatt selbst betont, rung WA 22, bes. 149) zu Der Besuch der alten Dame.
er gebrauche »das Wort ›Gnade‹ [...] sehr ungern« Wie Dürrenmatt ausführt, ist auch die Komödie
(was eine regelmäßige Nutzung allerdings nicht aus- Der Meteor (1966) als Verhandlung der Thematik zu
schließt); er verwende es nur, um zu verdeutlichen, sehen. Im Gegensatz zur Personifikation im Engel-
was ihm bei Franz Kafka und Søren Kierkegaard wich- Drama hat die Gnade hier Ereignischarakter im enge-
tig scheine (G 2, 204). Er verweist dafür auf das Mo- ren Sinn: Der moribunde Literat und Nobelpreisträ-
ment des Unverdienten, das er unter Berufung auf Karl ger Schwitter erfährt die »›Gnade‹«, »daß er wieder
Barth in Opposition zum (katholischen) Verständnis auferstehen darf« (G 2, 202), immer wieder. Dieses au-
eines aktiven Gnadenerwerbs bringt (vgl. ebd.). ßerordentliche Ereignis wird von ihm aber nicht als
Aus den verschiedenen Texten, die die Gnadenthe- Gunst erfahren, sondern vor allem als Last. Seine Er-
matik betreffen, ragt die Komödie Ein Engel kommt fahrung macht ihn nicht zu einem anderen Menschen,
nach Babylon (UA 1953) auch dem Begriff nach deut- der die Gnade dankbar annimmt: »Auferstanden! Ich!
lich heraus. Die Gnade erscheint hier personifiziert in [...] So ein Witz« (WA 9, 23). Sein »Seid gnädig, Ihr
Gestalt des Mädchens Kurrubi, das ein Engel als Ge- Christen!«, das die »Handorgelbrüder« der Heils-
schenk für den ärmsten der Menschen nach Babylon armee auffordert, ihn zu »zerstampf[en]« (95), steht in
bringt. Da König Nebukadnezar zufällig gerade inko- maximaler Spannung zum Auferstehungsbeweis, als
gnito als Bettler unterwegs ist, erhält dieser und nicht der er diesen gilt. Schwitter wird für sein Umfeld (das
der eigentliche Empfänger, der Bettler Akki, die Gna- seinerseits sukzessive stirbt) zu einem »doppelten Är-
de. Aus Empörung, dass Nebukadnezar diese nur als gernis«: für die einen als Auferstandener, für die ande-
Bettler, nicht aber in seiner tatsächlichen Rolle als ren als nicht Glaubender (WA 9, 160). Damit steht
mächtigster Mann seines Reiches zukommen soll, be- pointiert die Frage im Raum, weshalb gerade ein noto-
schließt er – der Erzählung von 1. Mose 11 gemäß –, rischer Säufer und Lebemensch mit einer Fortsetzung
einen himmelhohen Turm zu bauen, um Gott heraus- seines irdischen Daseins ausgezeichnet wird – die
zufordern, während Kurrubi als verkannte himmlische theologisch allerdings noch einmal klar von einem
Gnade gemeinsam mit Akki in die Wüste emigriert. ernst zu nehmenden Verständnis von Auferstehung
Nebukadnezars Reaktion zeigt deutlich die Ambi- und ewigem Leben zu unterscheiden wäre. Die Ant-
valenz der Gnade, die ihr nach Dürrenmatts Ver- wort ist zunächst eben die negative, dass die Gnade
ständnis generell zukommt. Sie stellt als »Unerhörtes, die omnipräsente Logik des Lohns, des Verdienten,

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_67
67 Gnade 259

durchkreuzt. »[D]enn wenn etwas unberechenbar dem korrupten Mafia-Zudiener Smithy gratis hingibt
ist«, so Dürrenmatt, »so ist es die Gnade« (G 2, 202). und ihn so befähigt, aus Stolz das »Geschäft [s]eines
Den konstitutiven Aspekt der Unberechenbarkeit Lebens« (114) fahren zu lassen. Der Sache nach klingt
teilt die Gnade mit dem Zufall, dessen ambivalenten die Gnade aber auch in Das Hirn (WA 29, 233–263)
Wirkungen der Mensch analog zur Gnade ebenfalls an, einem der letzten Texte Dürrenmatts. Hier knüpft
ausgeliefert ist. Anders als beim Zufall jedoch wirft er eine positive Zukunftssicht an die Hoffnung, die
Dürrenmatts Verständnis der Gnade stets die Frage Vernunft »könne im menschlichen Hirn, im Men-
nach ihrem Urheber auf. Im Engel-Drama besteht von schen das Wunder erkennen, dem seine Liebe und
vornherein kein Zweifel daran, dass es sich bei Kur- sein Staunen gilt« (260 f.). Nicht zuletzt kommt die
rubi um eine Gnade Gottes handelt. In Der Meteor – Gnade aber auch als Deutungskategorie des eigenen
dem Stück »über das Nicht-glauben-Können« (WA 9, Lebens zum Zuge. Seiner ersten Frau Lotti schreibt
161) – stehen die Zurechnung des Ereignisses auf ei- Dürrenmatt am 2.9.1970: »Die Welt ist traurig und das
nen Urheber und dessen Motiv durch die unterschied- Glück eine Gnade, die sich nicht erzwingen lässt, et-
lichen Reaktionen der Figuren dagegen als offenes was Momentanes, Vorübergehendes, das kommt, man
Problem zur Debatte. Damit überführt Dürrenmatt weiss nicht wie, und geht, man weiss nicht wie« (zit.
den Begriff in einen Bereich der Ungewissheit über ei- nach Weber 2020, 353).
nen möglichen Urheber und der Abhängigkeit von
der Sichtweise des Empfängers. Literatur
Primärtexte
Wenn Dürrenmatt den Bettler Akki als Repräsen- Anmerkungen zu einem Themenkomplex. In: WA 4, 128–
tanten des uneingeschränkt positiven Typus des ›mu- 133.
tigen Menschen‹ begreift (vgl. WA 30, 63; s. Kap. 72), Ein Engel kommt nach Babylon. WA 4.
zeigt sich noch einmal die Zentralstellung des Gna- Der Meteor. In: WA 9, 9–95.
denmotivs. Diese Einzelnen lassen sich nicht mit Smithy. In: WA 24, 87–115.
Geld abspeisen, sie verschenken ihre gesellschaftliche
Sekundärliteratur
Chance, oft ihre Überlebenschance, um sich die Mög- Bühler, Pierre: Gnadenlosigkeit? Christologische Figuren in
lichkeit der Freiheit offenzuhalten. Eine detaillierte den späten Werken Dürrenmatts. In: Peter Rusterholz,
Studie hätte nicht nur zu zeigen, wie sich in den frag- Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff
lichen Texten die Relationen von Begnadendem, Gna- der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Ber-
de und Begnadetem als System von Variablen und In- lin 2000, 161–178.
Buri, Fritz: Der ›Einfall‹ der Gnade in Dürrenmatts dramati-
terdependenzen darstellt, sondern insbesondere auch
schem Werk. In: Willi Jäggi (Hg.): Der unbequeme Dür-
auf die basale Frage des Gnadenbedarfs zu achten – renmatt. Basel 1962, 36–69.
und die mit ihr verknüpften Eigenarten ihrer jewei- Pesch, Otto Hermann/Peters, Albrecht: Einführung in die
ligen (Nicht-)Aneignung. Auf diesem Weg ließe sich Lehre von Gnade und Rechtfertigung [1981]. Darmstadt
zeigen, dass der religiöse Bezugsrahmen im Verlauf 1994.
des Werks wohl in den Hintergrund rückt, die Gnade Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Zürich 2020.
in Begriff wie Sache aber erhalten bleibt. Geradezu al-
legorisch wird dies in der Erzählung Smithy (WA 24, Andreas Mauz / Ulrich Weber
87–115) inszeniert, wenn sich eine unbekannte Frau
260 IV  Motive und Diskurse

68 Gott Selbstvergewisserung lautet: »Ich bin nur, insofern


ich schwätze« (117).
Einleitung Im Roman Durcheinandertal (1989; WA 27) haben
Gottesfigurationen einen nicht weniger ambivalenten
In Dürrenmatts Beschäftigung mit Religion (s. Kap. 78) Auftritt. Wenn dessen erster Satz lautet »Er sah aus wie
nimmt die Instanz ›Gott‹ lebenslang eine zentrale Stel- der Gott des Alten Testaments ohne Bart« (ebd., 11),
lung ein. Seine literarischen und essayistischen Arbei- wird programmatisch ein Erzähllabyrinth eröffnet, in
ten zu dieser meist personal gedachten »transzenden- dem die Existenz und Eigenschaften Gottes unsicher
ten Wirklichkeit, die sich von der empirisch erfaßten und Gegenstand nachhaltiger Missverständnisse sind.
[...] grundlegend unterscheidet, aber zugleich zu ihr in Die Verstehensfrage konzentriert sich in der Figur des
konstitutiver Beziehung steht [...] als deren Schöpfer« eigenwilligen Theologen Moses Melker, der am zen-
(Härle 2004, 140), schließen unmittelbar an einschlä- tralen Schauplatz des Kurhauses mit Repräsentanten
gige theologische und philosophische Problemlagen eines Verbrechersyndikats konfrontiert wird. Wenn
an. Deren Thematisierung wird maßgeblich bestimmt nebst dem Gott »ohne«, auch einer »mit Bart« ins
durch den christlichen Traditionshorizont in Gestalt Spiel kommen, aber auch die Ehrbezeichnung »der
des neuzeitlichen Protestantismus (Wittekind 2005). Große Alte« (11 f.), wird nicht nur innerfiktional un-
Auch in Dürrenmatts Aneignung des mythischen klar, von wem jeweils die Rede und wer mit wem iden-
Polytheismus bleibt das Christentum eine entschei- tisch ist. Die über den Aspekt der Macht vermittelte
dende Referenz: ein Monotheismus, der im Kern die Überblendung von theologischem und kriminellem
Vorstellung einer Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Milieu zeigt den »Große[n] Alten« als Verbrecher-
Christus einschließt. Dieser Bezugspunkt ist ebenso Gott, der halbnackt am Strand liegt und nebst Porno-
ein positiver wie ein negativer. Dürrenmatts Gott- heften u. a. eine Biblia Hebraica und Karl Barths Aus-
Denken ist – großzügig formuliert – zwischen protes- führungen zur Schöpfungslehre bei sich hat (25).
tantischer Theologie und Atheismus zu situieren; seine Dauersediert durch einen Assistenten ist er allerdings
theismuskritische Position artikuliert sich theoretisch unfähig, diese oder die unzähligen Briefe zu lesen, die
zentral anhand der Begriffe der ›Fiktion‹ wie auch der ihm überbracht werden (Letztere sind aufgrund einer
›Konzeption‹ und wird literarisch bevorzugt in paro- Parallelszene als ungehörte Gebete interpretierbar;
distisch-grotesker Gestalt ausbuchstabiert. vgl. 90–94). Die äußersten theologischen Einsichten
werden aber Moses Melker zugeschrieben, im Ange-
sicht des Todes: Die klassischen Topoi der Gottes- wie
Literarische Aneignungen Inkarnationslehre hinter sich lassend und wissend,
dass er »wahnsinnig« wird, gelangt er zur Vorstellung,
Innerhalb der vielfältigen literarischen Bearbeitung dass Gott wie auch die Welt »seine Erfindung« sind,
der Thematik (vgl. Mingels 2003, 250–269; Abs 2017, als solche aber zugleich die Folge eines alles hervor-
229–278) finden sich verschiedene Texte, die sie zen- bringenden »Welthirn[es]« (135). Wird diese Ur-
tral betreffen, insofern hier Gott/Götter als (Haupt-) sprungssubversion hier innerfiktional als letzte Er-
Figur(en) auftritt/auftreten. Die konzentrierteste und kenntnis eines zwiespältigen Theologen vorgetragen,
formal bemerkenswerte späte Ausgestaltung bietet so verweist die Szene intertextuell zugleich auf deren
das Selbstgespräch (1985; WA 36, 115–118). Der drei- weit ausführlichere Entfaltung in Das Hirn (1990). In
einhalbseitige Monolog stellt eine durch paradoxale dieser Erzählung aus dem Stoffe-Kontext (WA 29,
Rhetorik bestimmte Selbstvergewisserung Gottes dar 233–263) ist die Idee über die Ich-Instanz freilich auf
(vgl. Burkard 1999). Die Ich-Instanz bezeichnet sich das extratextuelle Autor-Ich Dürrenmatts bezogen –
zwar nicht ausdrücklich als ›Gott‹, wird durch und der fiktionale Regress ad infinitum kommt vor der
Hinweise auf die Entwicklung vom Poly- zum trini- »undenkbar[en]«, »nicht mögliche[en]« »Wirklich-
tarischen Monotheismus, aber auch zur Schöpfungs- keit« von Auschwitz zum Stillstand (ebd., 263).
potenz, offen identifizierbar. Die monologische An- Die zweite Person der Trinität, der Sohn, kommt in
lage bildet die Voraussetzung des theologischen verschiedenen Texten ausführlich zur Darstellung
Gehalts: Die Rede, die performativ Existenz zu ver- (Bühler 2000). Entscheidend für die Reflexion auf das
bürgen scheint, nimmt qua Aussagegehalt den Exis- Inkarnationsgeschehen ist die frühe Erzählung Pilatus
tenzanspruch zurück. Das Ich thematisiert sich als (1949; WA 19, 97–115). Das Material der Passions-
menschliche Projektion; seine Descartes variierende perikopen fortschreibend, schildert sie die Begegnung

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_68
68 Gott 261

zwischen Jesus und Pilatus, wobei der Gefangene – re- chen Gotteslehre. Als wichtigster fachtheologischer
präsentiert aus Pilatus’ Perspektive – durchgängig als Gesprächspartner fungiert in den Vinter-Bemerkun-
»Gott« bezeichnet wird. Und dieses Prädikat reflek- gen (WA 29, 189–231) wie auch andernorts Karl Barth.
tiert denn auch die Figurenbeziehung: Pilatus ist von Dürrenmatts materialdogmatische Kritik konzentriert
der Begegnung durch alle heilsgeschichtlichen Epi- sich mit Barths Lehre vom »Nichtigen« (KD § 50) wie-
soden hindurch restlos überfordert; er weiß intuitiv, derum auf die Theodizee-Problematik. Er diagnosti-
wen er vor sich hat, ist aber außerstande, sich adäquat ziert in dessen Verständnis des Bösen als Manifestation
zu verhalten. Christus tritt ihm, wie vor allem über des »göttlichen Nichtwollens« (WA 29, 196) ein Aus-
den Sehsinn vermittelt wird, als »absolutes Paradox« weichen vor einer letzten Konsequenz: einem Dualis-
im Sinn Kierkegaards entgegen (Weber 1980, 222– mus, der auch einen »Antigott« denkt (197). Anhand
237): »Der Abgrund zwischen Mensch und Gott war von Barths Schriften artikuliert Dürrenmatt aber auch
unendlich gewesen, und nun, da der Gott diesen Ab- eine generelle Theologiekritik, die – wie seine Theis-
stand überbrückt hatte und Mensch geworden war, muskritik – in einer bestimmten Auffassung des Fikti-
mußte er an Gott zu Grunde gehen und an ihm zer- onsbegriffs gebündelt wird. Im Israel-Essay Zusam-
schmettern, wie einer, den die Welle an eine Klippe menhänge heißt es von der Gottesrede allgemein, nun
schleudert« (WA 19, 104). aber superlativisch, es könne »eine gewagtere Fiktion
Die Fremdheit Gottes wie die Theodizeeproblema- [...] nicht geben« (WA 35, 105; vgl. WA 37, 12). Die
tik stehen in anderer Weise auch in den Erzählungen Pointe von Dürrenmatts Argument liegt aber gerade
Der Folterknecht und Mister X macht Ferien zur De- nicht in der bloßen Zuschreibung eines Fiktionscha-
batte. Während der frühe Text (1943) Gott in einem rakters, sondern in der Verkennung der betreffenden
expressionistischen Stakkato als Folterknecht präsen- Aussagen als »Besitz der Wahrheit« (WA 29, 193). Mit
tiert (WA 19, 13–20), bietet das Erzählfragment um Hans Vaihingers Als-ob-Philosophie betont er nach-
Mister X (1953/7 entstanden, 1978 publiziert) eine drücklich, Fiktionen dienten funktional der Wahr-
Groteske, die den Dualismus von Gut und Böse an- heitsannäherung, müssten dann aber »fallen gelassen«
hand der Ferienbedürftigkeit des Teufels auslotet (WA werden (ebd.). In Aufnahme von Wittgensteins be-
22, 163–184). Dass auch beiläufigere Gott-Szenen von kanntem Diktum (Tractatus, 6.54) kann er nicht ohne
Gewicht sein können, zeigt die Differenz der beiden Pathos sagen: »Ich warf die Leiter weg« (ebd.). Die Dis-
Fassungen der klassischen Tunnel-Erzählung, deren tanzierung von einem metaphysisch-dogmatischen
zweite auf einen Untergang auf Gott hin verzichtet. Wissen geht für den Kierkegaardianer generell einher
Hier wie im »Übungsstück« Porträt eines Planeten mit einer klaren Affirmation des individuell verant-
(1970) und in Achterloo IV (1988) erscheint Gott je- worteten, auch angefochtenen Glaubens (vgl. 205; WA
weils ebenso am Textanfang bzw. -ende wie er inhalt- 35, 15). Diese abwägenden Positionsbezüge sind immer
lich mit der Schöpfungs- und Weltende-Thematik as- mit zu bedenken, wenn sich Dürrenmatt vor allem im
soziiert ist. Dürrenmatts letzte für das Theater ge- Alter tout court als »Atheisten« (vgl. etwa WA 29, 208)
schriebene Worte in Achterloo IV sind ein Monolog bezeichnet und angesichts fundamentalistischer Ten-
Gottes, von Frau von Zimsen gesprochen: »Ich war denzen eine ausdrückliche Pflicht zum Atheismus
der liebe Gott. / Licht aus« (WA 18, 537). (1988) ausgerufen hat. Diese verzweigten Zusammen-
hänge werden in den Israel-Essays u. a. unter dem Be-
griff der »Konzeption« reformuliert (WA 35, 103–109),
Essayistische Positionsbezüge christologisch vertieft und mit dem interreligiösen Ho-
rizont insbesondere ins Politische hinein weiterge-
Auch in Dürrenmatts essayistischen Arbeiten wie in In- dacht. Das Mitmacher-Nachwort bietet eine biogra-
terviews kehrt die Gottesfrage regelmäßig wieder. Die fisch wie schöpfungstheologisch motivierte Kritik der
ausführlichsten argumentativen Auskünfte finden sich »Liebe« als kardinaler Eigenschaft Gottes (WA 14, 131–
im Stoffe-Komplex – den Vorbemerkungen zur Erzäh- 134): eine rabenschwarze Theodizee, die in der Traditi-
lung Vinter (1990) –, in den Israel-Essays (1976/1980), on der philosophischen Gottesbeweise deduziert, dass
im Nachwort zur Mitmacher-Komödie (1976) und im Gott die schlechteste aller möglichen Welten schaffen
Einstein-Vortrag (1979). Dürrenmatt bezieht hier dezi- muss, damit seine Liebe als die größtmögliche erschei-
diert Position zu den großräumigen religionsgeschicht- ne. Überlegungen zu Theologie (v. a. Spinoza) und na-
lichen Entwicklungen, zum Verhältnis der monotheis- turwissenschaftlicher Axiomatik bietet der Einstein-
tischen Religionen und insbesondere auch zur christli- Vortrag (WA 33, 150–203).
262 IV  Motive und Diskurse

Polytheistische Variationen systematische Untersuchungen zur via ›Fiktion‹/›Kon-


zeption‹ gegebenen Verbindung der Gottesfrage mit
Das subtile Wechselspiel zwischen Gott und Mensch der Erkenntnisproblematik im Allgemeinen oder auch
wie insbesondere die Vorstellung einer Abkünftigkeit zu den Medien Gottes, den menschähnlichen/mensch-
bzw. Ebenbildlichkeit beschäftigt Dürrenmatt auch in lichen (der Engel und Kurrubi aus der Engel-Komö-
seiner Reflexion des mythischen Polytheismus. Dabei die), aber auch den technischen (Schrift, göttliche
zielt auch die parodistische Ausgestaltung des olym- ›Fernseher‹; vgl. aber auch das Gedicht Gott und Péguy,
pischen Haushalts – in den Nachgedanken (WA 35, WA 33, 17–21).
163–219) vergnügen sich die Götter, »beim Nach-
mittagsnektar« sitzend, mit dem »Fernsehprogramm Literatur
Primärtexte
›Erde 1‹« – auf das schöpfungstheologische Diffe- Dramaturgie eines Rebellen: Prometheus. In: WA 37, 11–46.
renzmoment von Sterblichkeit/Unsterblichkeit (ebd., Durcheinandertal. WA 27.
218 f.). Eine breite Entfaltung mythischer Theologie Der Folterknecht. In: WA 19, 13–20.
bietet der nachgelassene Stoffe-Essay Dramaturgie ei- Das Hirn. In: WA 29, 233–263.
nes Rebellen: Prometheus (1992; WA 37, 11–46). Der Mister X macht Ferien. In: WA 22, 163–184.
Pflicht zum Atheismus. In: Madeleine Betschart u. a. (Hg.):
Autor unternimmt eine paraphrasierende Auslegung
Les Fous de Dieu/Gottes Narren. Neuchâtel 2017, 71–73.
des Erzählmaterials, die konsequent an dessen drama- Pilatus. In: WA 19, 97–115.
turgischer ›Logik‹ orientiert ist – eine Bearbeitungs- Selbstgespräch. In: WA 36, 115–118.
weise, die fällig scheint, da ihm der Mythos in dieser Vinter. In: WA 29, 189–231.
Hinsicht als defizitär gilt: »Überdenke ich die Götter, so Zusammenhänge / Nachgedanken. WA 35.
stellen sie sich bei weitem absurder dar, als die Mythen
Sekundärliteratur
sie zeigen. Diese habe jene nicht durchdacht« (18). Die-
Abs, Carina: Denkfaule Hoffnung? Anfragen an Erlösungs-
se Diagnose wird hergeleitet über die Vorstellung einer narrationen bei Alfred Döblin, Christine Lavant und
allzu idealen Schöpfung des Prometheus (er produziert Friedrich Dürrenmatt. Ostfildern 2017, 229–278.
die Menschen als »Reißbrettgötter«, »zum Gähnen Bühler, Pierre: Gnadenlosigkeit? Christologische Figuren in
schön«, 16), die zum sykionischen Streit um das Opfer den späten Werken Dürrenmatts. In: Peter Rusterholz,
und Zeus’ Strafmaßnahme menschlicher Sterblichkeit Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff
der Verwandlung: Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Ber-
führen. Durch die Einordnung der Taten Prometheus’ lin 2000, 161–178.
in das typologische Raster von »Rebell[...], Revolutio- Burkard, Philipp: Als Gott über Gott schwätzen?! Das Ver-
när [und] Reformator« (21) ergibt sich erneut die Ver- hältnis des späten Dürrenmatt zur Religion, untersucht
bindung mit dem christlichen Denkhorizont, der Be- am Text Selbstgespräch. In: Henriette Herwig u. a. (Hg.):
ziehungskategorie des Glaubens und den »[n]euen Lese-Zeichen – Semiotik und Hermeneutik in Raum und
Zeit (FS P. Rusterholz). Tübingen 1999, 449–458.
Mythen« (40). Diese Überlegungen lassen sich wiede-
Eisen, Ute E./Müllner, Ilse (Hg.): Gott als Figur. Narratologi-
rum produktiv auf Dürrenmatts literarische Bearbei- sche Analysen biblischer Texte und ihrer Rezeption. Frei-
tungen mythischer Stoffe beziehen (Sisyphos, Midas, burg i. B. 2016.
Herakles, Minotaurus). Härle, Wilfried: Art. Gott. In: Alf Christopherson, Stefan
Jordan (Hg.): Lexikon der Theologie. Hundert Grund-
begriffe. Stuttgart 2004, 140–143.
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Katego-
Zur Forschung rie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln 2003.
Rusterholz, Peter: Chaos und Renaissance im Durcheinan-
Die (christlich-)religiösen Aspekte von Dürrenmatts dertal Dürrenmatts. Hg. von Henriette Herwig und
Werk en gros können als gut aufgearbeitet gelten Robin-M. Aust. Würzburg 2017.
(grundlegend: Rusterholz 2017); detaillierte Erschlie- Weber, Emil: Friedrich Dürrenmatt und die Frage nach
Gott. Zur theologischen Relevanz der frühen Prosa eines
ßungen der Gottesthematik und des Wechselspiels von
merkwürdigen Protestanten. Zürich 1980.
›Athen‹ und ›Jerusalem‹ gibt es jedoch nicht. Diese Wittekind, Folkart: Friedrich Dürrenmatt: Der entwurzelte
hätten – die aktuelle Forschung aufnehmend (mit nar- Protestant. In: Günter Brakelmann u. a. (Hg.): Protestan-
ratologischem Akzent etwa Eisen/Müllner 2016) – ten in öffentlicher Verantwortung – biographische Skiz-
nebst textnahen Rekonstruktionen etwa auch dem zen aus der Anfangszeit der Bundesrepublik. Waltrop
Bildwerk Rechnung zu tragen (vgl. u. a. Der Zornige 2005, 189–225.
Gott; Götter [Serie Selbstgespräch]; Prometheus, Men- Andreas Mauz
schen formend). Von hohem Interesse wären zudem
69 Katastrophe 263

69 Katastrophe ken somit eine eminent wirklichkeitserschließende


Funktion; darin liegt ihre höhere Erzählwürdigkeit.
Exposition Mit dem Anschluss an die christliche Apokalyptik
geht die End-Emphase aber auch potentiell mit einer
Alles Erzählen – das alltägliche wie das literarische – Durchlässigkeit für Neuanfänge einher.
unterliegt implizit oder explizit der Selektion von Er- Die folgende Darstellung kann nur ein lückenhaftes
zählwürdigem und nicht Erzählwürdigem. Im Fall ka- Panorama von Dürrenmatts omnipräsenten Katastro-
tastrophischer Ereignisse scheint dieser Relevanz- phen geben. Diese Umschau ist an sieben systemati-
aspekt nicht in Frage zu stehen: Als außerordentliche schen Relationen orientiert: vor vs. nach der Katastro-
und potentiell lebensbedrohliche Geschehnisse ver- phe, Betroffenheit vs. Beobachtung, Eingreifen vs. Zu-
dienen sie auf jeden Fall erzählt zu werden. Ob es sich schauen, Geschehensende vs. Textende, lokal vs. univer-
um tatsächliche oder imaginierte Ereignisse handelt, sal, Ende vs. Wende. Diese Topologie bietet ebenso
ist dabei sekundär. Ihre Darstellung mag dem kom- Anschlussstellen zu weiteren Texten des Autors wie
munikativen Ernstfall und damit der Verarbeitung ef- zum künstlerischen Katastrophendiskurs (Krah 2004;
fektiver Erfahrungen dienen, aber auch der distan- Utz 2013; Wojno-Owczarska 2019) und zur Katastro-
zierteren unterhaltsamen Beschäftigung mit Unter- phe als generellem operative concept (vgl. Lebovic/Kil-
gangsfiktionen. len 2014).
Friedrich Dürrenmatt ist ein Autor, der sich mit Nur angedeutet werden kann hier die Hinter-
besonderer Intensität der Darstellung mehr oder min- grundspannung der zwei Kausalordnungen Schicksal
der katastrophischer ›Endspiele‹ widmet: »[k]aum ein vs. Zufall, die mitunter noch einmal quer zu den er-
Werk [...], in dem nicht ein Untergang auf individuel- wähnten Relationen verläuft. Dürrenmatt etabliert
ler, kollektiver oder kosmischer Ebene inszeniert hier eine einfache kulturgeschichtliche Chronologie:
wird« (Weber 2003, 13). Die zentrale Bedeutung des An die Stelle des hehren Schicksals, das ›früher‹ die
Katastrophischen für sein Werk zeigt sich aber nicht Weltläufe regierte, tritt ›heute‹ der schlichte Zufall.
nur in einer materialen Fülle und Vielfalt, sondern Die höhere tragische Ordnung wird durch die Zufäl-
auch in theoretischen Betrachtungen, die sich im Dik- ligkeit, die in Pannen ihre ereignishafte Verdichtung
tum der ›schlimmstmöglichen Wendung‹ verdichten. findet, ad absurdum geführt. Im Kontext fortgeschrit-
Geschichten müssten »zu Ende gedacht« werden, und tener Technisierung zeitigt dies schnell Katastrophen
dieses Ende sei eben dann gedacht, wenn die Ge- globalen, wenn nicht kosmischen Formats: »In einer
schichte ihre »schlimmstmögliche Wendung« genom- Welt der schuldigen Schuldlosen und der schuldlo-
men habe (21 Punkte zu den ›Physikern‹, WA 7, 91; sen Schuldigen hat das Schicksal die Bühne verlassen,
s. Kap. 98). Diese poetologische Maxime ist einerseits und an seine Stelle ist der Zufall getreten, die Panne.
im Kontext der aristotelischen Tragödientheorie zu se- [...] Das Zeitalter der Notwendigkeit machte dem
hen. Sie markiert die Wendung der Handlung in die Zeitalter der Katastrophen Platz« (WA 16, 162; vgl.
Paradoxie bzw. in die Komödie und eröffnet das tra- als Pendant das Ölbild Die Katastrophe [1966] und
gisch-komische Ende des Helden (s. Kap. 93). Ande- Dürrenmatts aufschlussreiche Kommentierung in
rerseits ist sie mit einem starken Rekurs auf religiöse WA 28, 34).
Endvorstellungen verbunden. Innerhalb der Denkfi-
guren der christlichen Eschatologie (Gericht, Auf-
erstehung, ewiges Leben) spielt für Dürrenmatt das Vor vs. nach der Katastrophe
apokalyptische Bildreservoir eine besondere Rolle (für
eine Übersicht der auch bildnerischen Bearbeitungen: Die Darstellung von Katastrophen bemisst sich in
Bühler 2003/2017; Bonnefoit 2011). Im Nachwort zu vielfacher Hinsicht an zeitlichen Parametern. Es ist
›Porträt eines Planeten‹ – einem Schlüsseltext für den offensichtlich entscheidend, ob und wie auch prä-
in Frage stehenden Komplex – würdigt er die Eschato- und postkatastrophale Geschehensausschnitte gezeigt
logie ausdrücklich in ihrer epistemologisch-poetologi- werden. Insofern sie die untergegangenen alten Wel-
schen Funktion, nämlich als »Aufnahmetechnik«: ten bzw. die aus diesen Untergängen entstandenen
»[D]er ungeheure Lichtblitz der explodierenden Son- neuen Welten präsentieren, fungieren sie als Grad-
ne wird zum Blitzlicht einer kosmischen Kamera, die messer des Katastrophischen. Nicht weniger entschei-
die Erde zum letzten Male porträtiert« (WA 12, 197). dend ist die Erzählgegenwart, aus der eine bestimmte
Die Gestaltung des worst case hat in Dürrenmatts Den- Instanz diese Phase(n) thematisiert, wobei mit der

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_69
264 IV  Motive und Diskurse

Pro- und der Retrospektive nur die einfachsten syste- einem unterirdischen Labyrinth führen Söldner un-
matischen Differenzen angedeutet sind. Die Zugfahrt endliche Gefechte, in deren Verlauf die Konfliktgrün-
in Der Tunnel – dem bekanntesten Katastrophentext de ebenso diffus werden wie die Unterscheidung von
des Autors – endet im Fall, nicht im Aufprall (vgl. WA Freund und Feind. Im Zentrum der Darstellung steht
21, 34). Die Erzählung gewinnt ihre Dringlichkeit ge- der ›letzte‹ Söldner (und Ich-Erzähler) Hans, der sich
rade aus dem Bewusstsein der wahrscheinlichen, aber – halb Mensch, halb Kriegsmaschine – nicht nur
noch ausstehenden Katastrophe, die zum Positions- schießend, sondern auch schreibend einen Reim auf
bezug nötigt. seine Lage zu machen sucht. Indem er die Tunnelwän-
Dürrenmatts hohes Interesse an den ›Finessen‹ der de durch einen Stahlgriffel mit Schriftzeichen versieht,
Endgestaltung zeigt sich prägnant an den zwei bzw. wird er zum Chronisten für eine postkatastrophische
drei Fassungen von Der Tunnel und des Panne-Stoffs – Zukunft, die außerhalb des Höhlenlabyrinths viel-
sowie an seinem ›Modell Scott‹. Letzteres spielt den leicht schon begonnen hat.
von vornherein feststehenden Tod des Polarforschers
anhand verschiedener Sterbeprozesse durch, die je-
weils kanonische Positionen der Dramatik einschließ- Betroffenheit vs. Beobachtung
lich seiner eigenen repräsentieren (vgl. WA 10, 127 f.).
Wo die genannten Texte abweichende Endverläufe Auch der Winterkrieg-Text zeigt: Die Binsenwahrheit,
als starke Alternativen im Sinn medial eigenständiger dass alles eine Frage der Perspektive sei, verliert in ka-
Varianten reflektieren, operiert Dürrenmatt im Fall tastrophischen Kontexten ihre Trivialität. Je nach Um-
der Groteske Grieche sucht Griechin textimmanent mit ständen geht die schematische Differenz von ›unmit-
einem doppelten Ausgang. Auf das zunächst präsen- telbarer Betroffenheit‹ und ›bloßer Beobachtung‹ ein-
tierte negative »ENDE I« (WA 22, 154), folgt ein alter- her mit der Differenz von Tod und Leben. Die para-
natives »ENDE II« (162) »für Leihbibliotheken« digmatische Szene des ›Schiffbruchs mit Zuschauer‹
(154), das die ernüchternden Erkenntnisse positiv in lässt sich denn auch überzeugend als anthropologi-
eine versöhnte Liebe aufhebt. sche »Daseinsmetapher« rekonstruieren (Blumenberg
Das zeitliche Raster vorher/während/nachher ba- 1979). Trotz der Dramatik, die mit der Position der
siert seinerseits auf der vorgängigen und zutiefst kul- Betroffenen korreliert, ist die der Beobachtenden epis-
turellen Identifikation gewisser Ereigniszusammen- temologisch reicher, weil komplexer. Die Distanz, in
hänge als Katastrophen. Diese erfordert zugleich die der sie sich befinden, bedeutet eine Handlungsentlas-
Identifikation eines nichtkatastrophischen Hinter- tung, die eine aktivere Entscheidung für ein Zuschau-
grundes; das Außerordentliche braucht, um außer- en dieses oder jenes Typs einschließt. Die Distanz ist
ordentlich zu sein, eine Ordnung, wie labil diese auch hier ein entscheidender Faktor, weil räumliche und
sein mag. Damit tritt die Katastrophe immer an die emotionale Distanz eher konvergent oder eher diver-
zweite Stelle: Sie bricht als Ausnahme in eine wenigs- gent laufen können.
tens relativ gesehen stabilere/bessere Regelsituation In Porträt eines Planeten gibt Dürrenmatt ein Bei-
ein. Dürrenmatt betont gegen eine starke dialektische spiel für maximale Konvergenz: Vier Götter beobach-
Differenz dieser Art nun aber auch die latente Per- ten gelangweilt die Milchstraße bzw. die Verwandlung
manenz der Katastrophe bzw. die Unmöglichkeit, sie der Sonne in eine Supernova. Sie erwägen zwar, ob es
von perspektivischer Wahrnehmung und Überliefe- in jenem Sonnensystem vielleicht Planeten gibt, lassen
rung abzulösen. die Frage aber offen. Sie spiele ja »keine Rolle«: »Hops
Im Nachwort zu ›Porträt eines Planeten‹ hält er un- geht sie [die Milchstraße] ohnehin« (WA 12, 100 f.). In
ter Berufung auf kosmologisches Wissen entspre- diesem Fall korrespondiert die Indifferenz der be-
chend fest, dass die Planeten als Lebensräume kata- obachtenden Instanzen mit ihrer Unfähigkeit, in die
strophisch grundiert seien: »[W]ir [leben] eigentlich kosmischen Vorgänge intervenieren zu können. Der
auf den Überresten einer unvorstellbaren Weltkata- generelle Zusammenhang beider Grundpositionen
strophe« (WA 12, 195; vgl. auch 199). zum Aspekt der Handlungsmacht ist hier besonders
In anderer Weise radikalisiert wird die raumzeitli- signifikant, handelt es sich eben um Instanzen, denen
che Identifikation der Katastrophe im ›Stoff‹ Der Win- zumindest qua christlicher Tradition Allmacht nach-
terkrieg in Tibet (WA 28, 86–161). Im Kontext eines gesagt wird (was wiederum das – hier fast parodierte
mit Atomwaffen geführten Dritten Weltkrieges zeigt – Deutungsmuster der Katastrophe als göttliche Sank-
Dürrenmatt ein apokalyptisches Höhlengleichnis: In tion motiviert).
69 Katastrophe 265

Eingreifen vs. Zuschauen nen gestaltet, die ihre Dramatik oder auch Komik ge-
rade aus der Passivität der Betroffenen ziehen. Romu-
Schematisch betrachtet stehen angesichts einer kata- lus der Große, der letzte Kaiser, setzt dem Untergang
strophischen Gegenwart zwei Reaktionsmodi zur des Römischen Reiches keinerlei Widerstand ent-
Verfügung: das (aktive) Eingreifen und das (passive) gegen. Er hat sich allerdings bewusst für eine – damit
Zuschauen. Erst durch diese Grundunterscheidung aktive – Passivität entschieden und kann sagen:
werden die vielfachen Abstufungen, Mischformen »Wenn dann die Germanen da sind, sollen sie herein-
und dialektischen Umschläge beider Reaktionstypen kommen« (WA 2, 94). Eine alternative Betrachtung ei-
kenntlich. nes erwartbaren Weltendes aus kosmischer Perspekti-
Der Student in Der Tunnel, der realisiert, dass sein ve findet sich im Hörspiel Das Unternehmen der Wega.
Zug nicht nach Bern fährt, sondern zunehmend In dieser Science-Fiction-Handlung sind es die Men-
schnell in einen endlosen Tunnel stürzt, gehört zur schen, die im Zuge kosmischer Kolonialprojekte das
Fraktion der eingreifenden Protagonisten. An seinem Schicksal der Erde mit besiegeln. Die Schlussszene
Beispiel kann man sich allerdings auch klarmachen, spielt an Bord des Raumschiffs, das den Außenminis-
dass ein Eingreifen sofort eine weitere Alternative er- ter eines der beiden politischen Blöcke wieder zur
öffnet: dessen Gelingen oder Misslingen. Der Student Erde bringt. Aus Furcht vor einer Koalition mit der
hat die Absicht, die noch ausstehende Katastrophe ab- anderen Partei wird der Planet Venus durch einen
zuwenden. Er muss aber zur Kenntnis nehmen, dass Bombenteppich vernichtet: »ROI Bomben im Ziel? /
der Lokomotivführer nicht mehr in seiner Kabine ist EINE STIMME Im Ziel. / Schweigen / WOOD Die
und die Betätigung der Notbremse folgenlos bleibt. Wirkung?  / MANNERHEIM Unbeobachtbar. Aber
Auf die Frage des Zugführers (die zugleich die Grund- wir können es uns ja denken« (WA 17, 123).
frage aller Eingreifwilligen ist) – »Was sollen wir tun?«
– antwortet der Student in der Erstfassung (1952)
»nicht ohne eine gespensterhafte Heiterkeit«: »Nichts. Geschehensende vs. Textende
Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn
zu« (WA 21, 98). An der Figur des Studenten zeigt sich Die Analyse von Katastrophen kann nicht von der
also zugleich, wie sich der Wille zum Eingreifen in Er- Performanz ihrer Darstellung absehen. Dass das se-
gebung wandelt, die zumindest in diesem Fall wiede- miotische Gefüge eines künstlerischen Artefakts ir-
rum nicht mit Resignation in eins zu setzen ist. gendwo endet, wirft insbesondere die Frage auf, in
Jeder scheiternde Versuch der Abwendung einer welchem Verhältnis das letzte Wort oder letzte Bild
Katastrophe unterstreicht deren Ausmaß. In der Neu- zum finalen Charakter des Erzählmaterials steht.
fassung der Erzählung (1978) streicht Dürrenmatt Schematisch gesprochen können beide eher koinzi-
den letzten Satz und lässt die Erzählung mit einem dieren (als topisches Exempel: der Protagonist stirbt
bloßen »Nichts« enden (34). Damit vollzieht er eine im letzten Satz); die Finalität des Erzählens und des
Radikalisierung, die erst durch das Wissen um die Erzählten können aber auch bewusst distanziert wer-
eschatologische Note der Erstfassung – der theologi- den (der Protagonist stirbt im ersten Satz; was diesem
schen Abfederung des Falls – kenntlich wird. Wie Tod voraus ging, wird im Modus anachronistischen
schwer es sein kann, angesichts einer Katastrophe die Erzählens exponiert).
Position der souveränen Beobachtung aufrecht zu er- Relationen dieser Art werden von Dürrenmatt
halten, zeigt wiederum mit einer theologischen Pointe nicht nur gezielt genutzt, sondern gerne auch aus-
die frühe Pilatus-Erzählung. Obwohl Pilatus in insti- drücklich thematisiert. In Dichterdämmerung (der
tutioneller Hinsicht überlegen ist und über Leben und Neubearbeitung des Hörspiels Abendstunde im Spät-
Tod Jesu entscheiden kann, büßt er seine Souveränität herbst für das Theater) werden die Zuschauer etwa
in der Begegnung mit ihm vollständig ein. Die Erzäh- früh davon in Kenntnis gesetzt: »Dürrenmatt hat ei-
lung schließt mit der Nachricht, »daß der Gott sein nen neuen Schluß geschrieben« (WA 9, 143). Da einer
Grab« verlassen habe (WA 19, 115). Diese Nachricht der Protagonisten nicht nur ein Mörder ist, sondern
aber bestätigt Pilatus in seinem Bewusstsein, vor ihm, diese Morde auch literarisch verwertet, wird die Ge-
der den »unendlich[en]« »Abgrund zwischen Mensch staltung des Endes zu einer potenzierten literarischen
und Gott [...] überbrückt hatte« (104), zu Grunde ge- mise en abyme. Wenn der Mörder-Autor schließlich
hen zu müssen. selbst ermordet wird und in seinen letzten Worten auf
Dürrenmatt hat aber auch verschiedenste Endsze- die Poetologie seines Schöpfers verweist – »Mein letz-
266 IV  Motive und Diskurse

tes Werk bleibt unvollendet: die schlimmst-mögliche oder die Dichterdämmerung helvetisches Lokalkolorit
Wendung« (145) –, ist das noch längst nicht das Ende mit globalen bzw. universalen Sphären. Mit Utz lässt
des Stücks. Es folgt, wie Peter Utz im Detail zeigt, ein sich hier aber eine werkgeschichtliche Verschiebung
»mehrfach nachzündende[s]« Finale (2013, 59): Ein festhalten: Während der Zug in Der Tunnel das
kleines schwarzes Loch in einer Requisite erweist sich schweizerische Schienennetz schnell verlässt, um in
als großes Schwarzes Loch, das nicht nur die Bühnen- parabolisch-universale Koordinaten einzutreten und
welt, sondern »auch Sie, meine Damen und Herren« im Fall des Besuch der alten Dame allenfalls noch die
(WA 9, 148) verschlingt. Die Figur Macfire, die diese Ortsangabe ›Güllen‹ national zurechenbar ist, lässt
Sachverhalte vermittelt, stürzt am Ende ihres Mono- sich im Spätwerk eine deutliche »Re-Lokalisierung«
logs in den Orchestergraben. Das effektive Ende des ausmachen (vgl. Utz 2013, 53–57). Im Justiz-Roman
Stücks bildet das Eintreffen der Sanität, die sich um wird die vielfache Spannung von Universalem und
die zwei Leichen und den Beinbruch Macfires küm- Lokalem zur prophetischen Formel verdichtet: »[D]ie
mern will. Sie trifft verspätet ein, denn, so der Schluss- Welt wird entweder untergehen oder verschweizern«
satz: »Kein Mensch in dieser Stadt weiß mehr, wo das (WA 25, 41).
Theater ist« (156).
Eine Endregie anderer Art begegnet im späten Ro-
man Durcheinandertal. Wenn das gleichnamige Tal Ende vs. Wende
am Weihnachtstag in Flammen aufgeht und beide
Konfliktparteien verschlingt, ist das wiederum nicht Die einprägsame Formel von der ›schlimmstmögli-
ganz das Ende. Die allerletzten Sätze gelten der chen Wendung‹ lädt dazu ein, sie als interpretatori-
schwangeren Elsi, die als Einzige überlebt. Damit wird schen Passepartout zu nutzen. Sie wird dann zum
ein neuer Anfang aus dem Ende insinuiert, der durch »pessimistischen Glaubensbekenntnis« und hört auf,
seine intertextuelle Referenz auf die Perikope von eine – schlichte – »wirkungsorientierte Kategorie dra-
›Mariä Heimsuchung‹ (Lk 1,39–45) umso gewichtiger, matischer Ökonomie« zu sein, analog zur Peripetie der
aber auch umso deutungsbedürftiger wird. Tragödie (Weber 2003, 21; vgl. auch Dürrenmatts re-
gelmäßige Rekurse auf die Schach-Metaphorik, ebd.,
13–20). Dürrenmatt hat denn auch selbst mehrfach
Lokal vs. universal nuanciert auf seine Formel Bezug genommen. In der
Dramaturgie des Rebellen: Prometheus rückt er sie in
»Jede Katastrophe reißt ein Loch in jene Grenzen, in- die Nähe wissenschaftlicher Risikokalkulation: »Die
nerhalb denen sich eine Kultur einrichtet, und öffnet bestmögliche Wendung ist ebenso logisch wie die
sie dadurch zur Welt« (Utz 2013, 25) – und über die schlimmstmögliche, wenn auch die unwahrscheinli-
Welt hinaus ins Universale. Diese prinzipielle Durch- chere. Wir sind nun einmal kosmische Pechvögel. Die
lässigkeit lässt sich auch und gerade anhand von Dür- Wahl zwischen beiden gleich logischen Möglichkeiten
renmatts Katastrophendarstellungen nachvollziehen. ist daher nicht nur ein Stilprinzip. Sie hat weder mit
Er partizipiert, wie Utz zeigt, an einem breiten Diskurs Optimismus noch mit Pessimismus zu tun, sondern
eines Weltuntergangs in der Schweiz (ebd., 25–64), mit Vorsicht. [...] Wer sich aber nicht warnen läßt, soll-
der mit einer Dominanz der ›neutralen‹ Zuschauer- te auch nicht hoffen. Das Prinzip Hoffnung ist allzuoft
position angesichts ausländischer Schiffbrüche einher eine denkfaule Schlamperei« (WA 37, 12).
geht (ebd., 93–114). Wie Dürrenmatt in seinen Hin- Am Ende der werkgeschichtlich entscheidenden
weisen zum Winterkrieg-Stoff festhält, verdankt sich Mitmacher-Komödie (1973), die von einer zwielichti-
dessen Entstehung unmittelbar der zeitgeschicht- gen Leichenvernichtungsindustrie handelt, sind alle
lichen Realität der Weltkriegsjahre, einer »Wirklich- Protagonisten, die nicht ›mitmachen‹ tot; auch der po-
keit, von der ich und mein Land ausgeschlossen wa- sitive »ironische Held« Cop bezahlt seine Option für
ren« (WA 28, 65). Die »Groteske des Verschontseins« die »letztmögliche Freiheit« (WA 14, 209 f.) durch
(67) führt ihn dazu, sich in jene ferne Wirklichkeit Mord und Selbstmord. Nicht zu bestreiten ist aller-
»durch eine erfundene Unwirklichkeit zu integrieren« dings die Heiterkeit, welche die Katastrophen regel-
(ebd.). Der Winterkrieg ›in Tibet‹ tobt deutlich auch mäßig begleitet, auch wenn diese – wie es in der Tun-
in der Schweiz; er zeugt darin aber von der Suche nach nel-Erzählung heißt – »gespensterhaft[...]« anmutet
einem »Weltgleichnis« (65) oder »Weltstoff« (67). In (WA 21, 98). Mag die gebrochene Heiterkeit auf der
analoger Weise verbinden auch die Tunnel-Erzählung Figurenebene »verkappten eschatologischen Hoff-
69 Katastrophe 267

nungen entspringen«, so ist sie auf der Ebene des renmatts ›apokalyptische Kunst‹. In: Ulrich Weber u. a.
Schreibprozesses auf jeden Fall auch »Zeichen der (Hg.): Dramaturgien der Phantasie. Dürrenmatt inter-
dramaturgischen Lust an der eleganten Endspiel-Füh- textuell und intermedial. Göttingen 2014, 161–187.
Bühler, Pierre: Die Apokalypse im Werk von Friedrich Dür-
rung« (Weber 2003, 13). renmatt. In: Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Dürren-
matts Endspiele. Neuchâtel 2003 (Cahier 7), 43–71.
Bühler, Pierre: La pire tournure possible. Motifs apocalyp­
Ausblick tiques dans l’œuvre de Friedrich Dürrenmatt – en textes et
en images. In: Christophe Chalamet u. a. (Hg.): Game
over? Reconsidering Eschatology. Berlin 2017, 87–202.
Nebst dem Desiderat einer monografischen Unter-
Carroll, Noël: Narrative closure. In: Philosophical Studies
suchung des Komplexes lassen sich abschließend drei 135 (2007), 1, 1–15.
Bezugsdiskurse benennen, die für die kommende For- Hennig, Matthias: »Denn indem ich sie in den Fels grabe,
schung von Interesse sein dürften. Ulrich Weber hat grabe ich sie in mein Hirn.« Invalides Schreiben in Dür-
Dürrenmatts Endspiele beiläufig auf das soziologische renmatts Winterkrieg in Tibet. In: Sarah Mohi-von Känel,
Modell der »Risikogesellschaft« (Beck 1986) bezogen. Christoph Steier (Hg.): Nachkriegskörper. Ästhetische
Integrationen des Körpers im 20. Jahrhundert. Würzburg
Die Kategorie des Risikos scheint damit aber weder in 2013, 71–84.
textimmanenter Hinsicht noch als Bindeglied zur in- Krah, Hans: Weltuntergangsszenarien und Zukunftsent-
terdisziplinären Katastrophenforschung ausgeschöpft. würfe. Narrationen vom ›Ende‹ in Literatur und Film
Unter dem Stichwort der narrative closure werden in 1945–1990. Kiel 2004.
der (analytischen) Erzählforschung Probleme dis- Lebovic, Nitzan/Killen, Andreas (Hg.): Catastrophes. A His-
tory and Theory of an Operative Concept. Oldenburg
kutiert, die den Zusammenhang zwischen den causal
2014.
networks von Erzählungen und dem leserseitigen fee- Profitlich, Ulrich: Der Zufall in den Komödien und Detek-
ling of finality betreffen (Carroll 2007). Diese Debatte tivromanen Friedrich Dürrenmatts. In: Zeitschrift für
böte gleichfalls Impulse, die Dürrenmatts Katastro- deutsche Philologie 90 (1971), 2, 258–280.
phen in neuem Licht zeigten, gerade in Hinsicht auf Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
den Zusammenhang von Geschehensende und Text- gangsszenarien aus der Schweiz. München 2013.
Voigts, Eckart/Boller, Alessandra (Hg.): Dystopia, Science
ende. Schließlich scheint es bislang keine Arbeiten
Fiction, Post-Apocalypse. Classics – New Tendencies –
zu geben, die Dürrenmatts Werk in den Kontext der Model Interpretations. Trier 2015.
dystopischen Literatur einzeichnen (vgl. Voigts/Boller Weber, Ulrich: Dürrenmatts Endspiele. In: Centre Dürren-
2015). matt Neuchâtel (Hg.): Dürrenmatts Endspiele. Neuchâtel
2003 (Cahier 7), 11–38.
Literatur Wojno-Owczarska, Ewa (Hg.): Literarische Katastrophen-
Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma diskurse im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin 2019.
einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979.
Bonnefoit, Régine: »Weltuntergang ahoi!« – Friedrich Dür- Andreas Mauz
268 IV  Motive und Diskurse

70 Körper auch exemplarisch für die vielfältigen Entgrenzungen


zwischen unterschiedlichen Gattungen von Körpern
Dürrenmatt bevorzugt die Hässlichen und Hinfälligen, bei Dürrenmatt. Augenfällig ist zunächst die Ver-
die Über- und Unterdimensionierten, die Zusammen- mischung von menschlichen und tierischen Gestal-
geflickten und Zwiegestaltigen. Er kreiert in seinen ten, die hier vor allem per Metaphorik betrieben wird
Texten und Bildern mit Vorliebe Gestalten jenseits und sich markant doppelsinnig sowohl auf die Bestia-
gängiger Vorstellungen von Schönheit und Ganzheit, lität der Nazi-Verbrecher wie auf die Qualen der
Gesundheit und Natürlichkeit. Seine Körper sprengen schlimmer als Vieh behandelten Opfer bezieht. Nicht
gerne gewöhnliche Größenordnungen genauso wie nur metaphorisch, sondern ›wirklich‹ gemischt ist am
Gattungsgrenzen und noch grundsätzlichere Eintei- prominentesten das Wesen des Tier-Menschen Mi-
lungen von Entitäten. notaurus, lebenslängliches Leitmotiv und Identifika-
tionsfigur Dürrenmatts (vgl. z. B. Ziolkowski 2014).
Der Schuldlos-Schuldige, mit dem der Zwerg im Ver-
Entgrenzte Leiber: Mensch – Tier ... dacht von Gulliver assoziiert wird (»Mein armer Mi-
notaurus«; WA 20, 261), hat seinen größten Auftritt
Beispielhaft hierfür sind die beiden heimlichen und Untergang in Text und Bild der Minotaurus-
Hauptfiguren des Kriminalromans Der Verdacht: zum Ballade. Die tragische Ballade mit körperlich-plas-
einen der Jude Gulliver mit seinem »riesenhafte[n], tischen Tuschezeichnungen und einem monströs
massige[n] Leib« (WA 20, 164) voller Narben von langen Anfangssatz erzählt in rhythmischer Prosa
»unmenschlichen Mißhandlungen« (147), einziger und über weite Strecken aus der Eigenperspektive
Überlebender der Menschenversuche des KZ-Arztes des Stiermenschen vom Fleisch gewordenen Tabu
Nehle alias Emmenberger (Operationen am lebendi- der Entgrenzung »zwischen Tier und Mensch«, die
gen, d. h. unbetäubten Leib), der das Leben eines »ge- merkwürdig direkt mit der Entgrenzung zwischen
schändeten und geprügelten Stück Viehs« (150) führt »Mensch und den Göttern« gekoppelt ist (Minotau-
und durchweg als rächender bzw. rettender »Riese« rus, 41; WA 26, 28; für andere menschlich-göttliche
auftritt (z. B. 151); zum anderen der »Zwerg« mit sei- bzw. -engelhafte Körper vgl. durchgängig Durch-
nem »Gesicht von einer bestialischen Häßlichkeit«, einandertal, beginnend mit dem rätselhaften »Gott
Opfer und Mordgehilfe zunächst in Nehles, dann in ohne Bart«, WA 27, 11; sowie vor allem den Engel und
Gullivers Diensten, der sich »nach Affenart« oder das Mädchen Kurrubi in Ein Engel kommt nach Ba­
»katzenhaft[...]« bewegt, aber zugleich pflanzenhaft bylon). Das einsame Wesen im Spiegellabyrinth, bei
bis unbelebt wirkt (»wie ein verwitterter, moosüber- dem der »Übergang« vom »Bullen zum Menschen«
wachsener Stein«, 196 f.; Gullivers »Alraunwurzel«, das »Unerträgliche« in seiner Gestalt bildet, gerät
262) und von Emmenberger zum »Ding«, zum »Werk- in euphorische Körperbewegung, als es anstatt des
zeug« gemacht wird (247). Die beiden Gestalten sind Spiegelglases das schöne Mädchen – »einen anderen
gleichsam aus dem »Märchen« Gullivers Reisen – je- Leib«, »anderes Fleisch« – spürt (Minotaurus, 17 f.;
nem »Buch mit den Zwergen und Riesen«, von dem WA 26, 15 f.). Weil bei der ungestümen »Ungestalt«
sich Kommissär Bärlach inspirieren lässt (139) – in die (Minotaurus, 18; WA 26, 16) Sexualität unauflöslich
(Post-)KZ-Realität entstiegen. mit Gewalt vereint ist, bringt jedoch der Tanz der Lust
Das ungleiche Paar verkörpert zunächst Dürren- zugleich den Tod; zuerst den Tod des Mädchens, zu-
matts generelle Darstellungslust an außerordentlichen letzt durch Ariadne und Theseus den Tod des »Unwe-
Körperdimensionen. In der breiten Variante zeigt sich sen[s]« (Minotaurus, 44; WA 26, 29) selbst, das betont
diese etwa beim Protagonisten von Der Tunnel, einem leiblich als endlos widergespiegelter »Kadaver« (Mi-
»fett[en]« Vierundzwanzigjährigen, und seinem Ge- notaurus, 51; WA 26, 32) endet und den aasfressen-
genüber im Coupé, »noch dicker als er« (WA 21, 21 f.), den Vögeln (vgl. auch die Zeichnung Minotaurus,
oder an den vier Gericht spielenden Alten von Die 48 f.; WA 26, 32) anheim gegeben wird.
Panne, namentlich dem »dicke[n]« Pilet und dem Damit ist die in Dürrenmatts Texten immer wieder
Herrn Kummer, »noch dicker als Pilet, unermeßlich, erzeugte Unsicherheit einer Abgrenzung des Mensch-
wie aus speckigen Wülsten zusammengesetzt«, samt lichen gegenüber dem Tierischen freilich nicht erle-
der Kontrastfigur des Herrn Zorn, der »lang und ha- digt. Die Verunsicherung äußert sich neben den Sphä-
ger« ist (WA 21, 43 u. 45). ren von Gewalt und Sexualität insbesondere im Zu-
Gulliver und der namenlose Zwerg stehen aber sammenhang mit der obsessiv behandelten Thematik

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_70
70 Körper 269

des Essens (vgl. u. a. Es steht geschrieben; Der Richter tragenen Sinn kennzeichnet, dass er ständig gewalt-
und sein Henker). Am Essen kann sich die allgemein sam zu Tode Gekommene per Kameraauge aufnimmt
wiederkehrende Figur des Lebens vom Tod bzw. Töten – oder, gemäß suggerierter Verbindung zum Krieg
anderer (vgl. z. B. Der Verdacht, WA 20, 252; Der Auf- (vgl. WA 26, 117 f.), Bilder von ihnen schießt. Dabei
trag, WA 26, 128; bes. Mondfinsternis, WA 28, 264) knüpft die Novelle um den Auftrag zur Aufklärung ei-
buchstäblich als Einverleibung konkretisieren und der nes Verbrechens (Vergewaltigung und Mord) eine un-
zivilisierte Genuss von Delikatessen in rohe Fresserei tergründige Liaison zwischen zerstückelten Körpern
mit Kannibalismus-Assoziation kippen (oder umge- und anorganischen »Ruinen« (z. B. »Tinas von Scha-
kehrt der kannibalistische Verzehr exquisit-exotischer kalen zerfleischte[...] Leiche bei der Al-Hakim-Rui-
Organe zum Schweinefleisch-Essen ›zivilisiert‹ wer- ne«, 82; die »vom Arm abgetrennte[...] Hand des Dä-
den, wie in Porträt eines Planeten). Beides geschieht in nen« in der »Busruine«, 90) und vermischt per Meta-
Die Panne nicht bloß metaphorisch: Der Gastgeber, phorik mutwillig die Sphären von Tier, Mensch und
»Gnom und Gourmet«, und seine greisenhaften Mit- Maschine (vgl. 126–128).
Esser, die alle vier wie »ungeheure Raben« wirken, ha- Die Doppelung von Kompensation und Perfekti-
ben durch die Einführung des Justiz-Spiels mit Todes- on wird im Winterkrieg in Tibet mit der »minotauri-
urteil ihre früheren Krankheiten überwunden; dank sche[n] Einzelgängerfigur« (Hennig 2013, 72) des
dieses »Gesundbrunnen[s]« sind sie körperlich auf- letzten überlebenden Söldners auf die Spitze getrie-
gelebt (WA 21, 55 u. 44 u. 61). Bei ihrem maßlosen Ge- ben. Dessen schwer kriegsgeschädigter Körper ist mit
richt in juristisch-kulinarischer Doppelbedeutung la- Technik – Prothesen und Rollstuhl – zu einem metal-
ben sie sich am für schuldig erklärten und zum Tode lisch-fleischlichen Hybridwesen zusammengeflickt,
verurteilten Traps, »als wäre er ein spezieller Lecker- das zugleich für seine Tätigkeiten perfektioniert ist:
bissen« (53). Links trägt er, jederzeit schussbereit, eine »Maschi-
nenpistolen-Armprothese«, rechts einen »Stahlgrif-
fel« (WA 28, 155), mit dem er im unterirdischen
... Mensch – Technik Stollenlabyrinth, verstehbar als Metapher des Hirns
und seiner Gedächtnisleistung (vgl. Weber 2014,
Der Zwerg aus Der Verdacht ist als Werkzeug oder In- 126), seine Geschichte und »Erkenntnis« in die
strument überdies ein Extrem- bzw. Sonderfall der Wände ritzt, um sie sich – und uns – einzuprägen
entgrenzten Körper zwischen menschlichem Fleisch (WA 28, 155). Das Bild akzentuiert die betreffenden
und Technik, die bei Dürrenmatt ebenfalls eine wich- Tätigkeiten ganz physisch und suggeriert deren in-
tige Rolle spielen. Infolge eines Autounfalls sowie ei- nige Zugehörigkeit zum Wesen des Menschen, den
nes knapp überlebten Flugzeugabsturzes besteht Clai- Dürrenmatt andernorts als »Prothesentier« defi­
re Zachanassian in Der Besuch der alten Dame körper- niert (G 4, 33).
lich zu einem Gutteil aus Prothesen (vgl. WA 5, v. a. 26, Bei dieser Bestimmung überwiegt nun eindeutig
39 f., 52 u. 54). Wie die vollkommen effiziente Rache der Aspekt der Prothese als einer Ermächtigung
der finanziell Allmächtigen ursprünglich durch fun- über die Möglichkeiten des gegebenen Körpers hi-
damentale seelische Versehrtheit motiviert ist, so er- naus. Die Definition bezieht sich weniger auf einen
scheinen die »vortrefflich[en]« (26) künstlichen Kör- Ausgleich des traditionellen menschlichen ›Mängel-
perteile, die zunächst als Notbehelf leibliche Verlet- wesens‹ denn vielmehr auf »Technik« als Spezifik der
zungen (infolge Nutzung von Verkehrstechnik) kom- »menschlichen Evolution« (ebd.). Beispielhaft für sol-
pensieren, letztlich als technische Mittel menschlicher che ›Prothesen‹ werden die Fotografie-Technik sowie
Ermächtigung, mithin in der Funktion der Perfektion. die Verkehrsmittel (Auto, Flugzeug) genannt (ebd.) –
Entsprechend gehört auch ein »edelsteinbesetzte[s] in genauer Entsprechung zu Der Auftrag bzw. Der Be-
Lorgnon« (27 u. 41 u. 55) zu den Insignien der mäch- such der alten Dame. Zu alledem passt, wie Dürren-
tig-versehrten Zachanassian. Vergleichbar doppelt matt in einem Essay über Tomi Ungerer, dessen Kör-
codiert als Kompensation von körperlichen Beschädi- per-Karikaturen ihm gefallen, sich selbst als Velofah-
gungen bzw. Mängeln und potenter Erweiterung des rer aus der Perspektive eines erstaunten Storches
Organischen sind die Film- und Foto-Apparate in Der im Jahr 1938 imaginiert: »Vielleicht saß ich auf dem
Auftrag, wenn dort eine Zentralfigur des Beobachtens ersten Fahrrad, welches das Tier je gesehen hatte, so
und Aufzeichnens mit technischen Mitteln den Über- daß es mich für ein mythisches Doppelwesen hielt«
namen Polyphem trägt. Diesen Einäugigen im über- (WA 32, 227).
270 IV  Motive und Diskurse

Groteske Leiber – leibliches Groteskes Begatten in Mondfinsternis (WA 28, v. a. 232). Ertrag-
reich in diesem Kontext (und dagegen) lesbar wäre
Das kursorisch beleuchtete Kabinett der Körper zeigt: auch Der Tunnel. Dessen Protagonist sucht alle Kör-
Ein oder womöglich der Schwerpunkt von Dürren- peröffnungen zu verstopfen – für Bachtin eine zentra-
matts Darstellungen liegt bei Leibformen des Grotes- le Strategie zur Unterdrückung des grotesken Leibes –
ken im Sinne der karikierenden Auflösung und Ver- und stürzt samt Zug ins Erdinnere, als gälte es, mit der
mengung gängiger (Größen-)Ordnungen und Kate- impliziten Beziehung zwischen menschlichem Körper
gorien – einschließlich der Vermischung von Organi- und Himmelskörper eine literarische (Um-)Interpre-
schem und Mechanischem (vgl. v. a. Kayser 1957, tation von Bachtins Credo zu liefern, der groteske Leib
133–140) – mit changierenden Effekten zwischen Tra- sei »kosmisch«, er hänge mit Sonne und Gestirnen zu-
gik und Komik. Die Körperthematik ist daher eng mit sammen (Bachtin 1969, 18). Diese Beziehung ist bei
dem Zentralbegriff des ›Groteskschriftstellers‹ (z. B. Dürrenmatt generell häufig (z. B. Das Hirn, Porträt ei-
Helbling 1986, 388) verbunden, der zugleich ein Zeich- nes Planeten; in Minotaurus, 35; WA 27, 18; Der Auf-
ner bzw. Maler des Grotesken ist (vgl. ebd., 389 f.) und trag, WA 26, 122; Midas, WA 26, 191 f.); genauso wie
den die »Bilder des Hieronymus Bosch« als »grotesk« diejenige zwischen körperlichen und wirtschaftlichen
faszinieren (WA 30, 62). Nicht nur präsentieren sich Interessen, vor allem in Der Mitmacher sowie in Mi-
Dürrenmatts Leiber gerne grotesk; es gilt auch umge- das, wo der Konnex auch als Metamorphose realisiert
kehrt: Das Groteske ist bei ihm stark körperbetont – wird, wenn in einer Version Midas-Green seine Ge-
nicht zufällig präsentiert sich sein Bild Gelächter als liebte unfreiwillig, seine Gegner bewusst durch Be-
Orgie der Leiber (SLA-FD-A-Bi-1-148-4-L1). rührung in Gold verwandelt. In der Verbindung von
Umso mehr erstaunt einerseits, dass es bislang Körperlichkeit und Ökonomie zeichnet sich ein Mate-
kaum eigens auf die Körperdarstellung fokussierte rialismus ab, der mit dem Brechts zu vergleichen wäre.
Forschungsbeiträge gibt (vgl. einzig Brambilla 2003, Bei solchen Beziehungen oder Überblendungen
freilich die Körper jeweils als Symbole interpretie- der Sphären ist das Gewicht der Körper selbst ernst zu
rend), und andererseits, dass Dürrenmatts Groteskes nehmen, die nicht vorschnell und einseitig zu lesen
oft ohne konkret-körperliche Dimension behandelt sind als für etwas stehend: für eine Auffassung von Le-
wird (z. B. Helbling 1986). Dürrenmatt selbst mag mit ben, Welt, Geschichte – oder Literatur. Sogar unbe-
Bemerkungen wie derjenigen, der Minotaurus bzw. strittene Metaphern, etwa die (tote) des ›Stoffs‹ oder
»Weltstier« sei »das Sinnbild des amoklaufenden Un- die des Dramen-Texts als »äußerste[r] Haut« des
geheuers, das wir Weltgeschichte nennen« (WA 32, Schauspielers (WA 5, 142), erzeugen zugleich einen
212), symbolische Interpretationen des Körperlichen Umkehreffekt: ein betont materielles oder körper-
nahelegen. Doch ein analytisches Auskosten des Leib- liches Bild von Literatur oder Dramatik.
lichen selbst würde sich lohnen und ergäbe in der Fol-
ge gerade auch Zugewinn an Bedeutungsdimensio- Literatur
Primärtexte
nen. Förderlich hierfür wäre eine vergleichende Lek- Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der
türe namentlich mit Bachtins Konzeption der grotes- Beobachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen. In: WA 26,
ken Gestalt des Leibes (1969, 15–23; für erste Ansätze 33–130.
vgl. Bonifazio 2004, 134 f.; Weber 2007, 268 f.). Die Der Besuch der alten Dame. WA 5.
doppelte Vorliebe für groteske Körper wie für körper- Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. In: WA 21, 35–94.
Minotaurus. Eine Ballade. Mit Zeichnungen des Autors.
liches Groteskes, der Dürrenmatt praktisch-künst-
Zürich 1989.
lerisch frönt, realisiert Bachtin kunsttheoretisch (üb- Minotaurus. Eine Ballade. In: WA 26, 9–32.
rigens ohne dass es Anzeichen für einen direkten Ein- Der Tunnel. Eine Erzählung. In: WA 21, 19–34.
fluss gäbe). Beim Vergleich kämen als »wesentliche[...] Der Verdacht. WA 20, 119–265.
Ereignisse« des »grotesken Leibes« (Bachtin 1969, 17) Der Winterkrieg in Tibet. In: WA 28, 11–170.
in Frage: das erwähnte Leben vom Sterben und das Es-
Sekundärliteratur
sen bzw. Fressen, aber ebenso etwa das Erbrechen bzw.
Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheo-
Kotzen – das Dürrenmatt mit »Heiterkeit«, »Lächer- rie und Lachkultur. München 1969.
lichkeit«, mit dem »Groteske[n]« verbindet und als Bonifazio, Massimo: Frammenti di una giustizia carneva-
autobiografische Urszene seiner dichterischen Auf- lesca nel racconto Die Panne di Friedrich Dürrenmatt. In:
gabenstellung, (nicht erlebte) »Stoffe« zu »erfinden«, Eugenio Spedicato (Hg.): Friedrich Dürrenmatt e l’espe-
poetologisch auflädt (WA 28, 67) – und das serielle rienza della paradossalità. Pisa 2004, 131–136.
70 Körper 271

Brambilla, Marina: La deformazione grottesca dei corpi Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Male-
nell’opera di Friedrich Dürrenmatt. In: Studia theodisca rei und Dichtung. Oldenburg 1957.
10 (2003), 105–118. Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
Helbling, Robert E.: Friedrich Dürrenmatt: groteskes ›Welt- der Mitmacher-Krise. Frankfurt a. M. 2007.
Bild‹ und assoziative Dramaturgie. In: Roland Jost, Hans- Weber, Ulrich: Erinnerung und Metapher im Schreibprozess
georg Schmidt-Bergmann (Hg.): Im Dialog mit der von Dürrenmatts Stoffen. In: Ders. u. a. (Hg.): Dramatur-
Moderne. Zur deutschsprachigen Literatur von der Grün- gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
derzeit bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1986, 380–395. dial. Göttingen 2014, 117–141.
Hennig, Matthias: »Denn indem ich sie in den Fels grabe, Ziolkowski, Theodore: Der Minotaurus als tragische Gestalt
grabe ich sie in mein Hirn.« Invalides Schreiben in Dür- bei Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
renmatts Winterkrieg in Tibet. In: Sarah Mohi-von Känel, gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
Christoph Steier (Hg.): Nachkriegskörper. Prekäre Korpo- dial. Göttingen 2014, 239–260.
realitäten in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahr-
hunderts. Würzburg 2013, 71–84. Christine Weder
272 IV  Motive und Diskurse

71 Labyrinth sche Potenz ihrer monströsen Protagonisten angeht


(vgl. Hennig 2015, 195–197).
Das Labyrinth als Weltbeschreibungsformel Neben dieser motivisch-poetischen Funktion ist das
Labyrinth auch für Dürrenmatts philosophisch-natur-
Das Labyrinth ist eine architektonische Struktur, die wissenschaftliches Weltverständnis grundlegend; es
Chaos und Ordnung gleichzeitig prozessiert. Aus- wird für ihn, anknüpfend an eine barocke Vorstellung,
gehend von geometrischen Serialisierungen typischer zur Metapher bzw. zentralen »Formel« (Arnold 1994,
Muster – ihrem antiken Ursprung nach spiralförmig 217) der Weltbeschreibung. Anstelle religiöser (Er-)
oder rechteckig – konzentriert es auf minimalem Lösungskonzepte greift er jedoch auf zeitgemäßere er-
Raum ein Maximum an Wegstrecken, die einer inne- kenntnistheoretische und naturwissenschaftlich-kos-
ren Logik und Symmetrie folgen. Was aus der Außen- mogonische Modelle zurück, um die entropisch-chao-
bzw. Vogelperspektive klar erkennbar ist, bleibt für tische Überkomplexität des Universums in ihrer Raum
den Labyrinthgänger desorientierend und verwirrend und Zeit verschlingenden Logik zu erfassen.
(Binnen- bzw. Froschperspektive). Als in sich ge-
schlossener, exterritorialer Ort lässt sich das Laby-
rinth zugleich als Raum gewordene Extremform einer Frühe Prosa
Konfrontation von Ich und Welt verstehen, die auf den
Prinzipien der Richtungswahl, des Umwegs und ver- Labyrinthische Architekturen tauchen in Dürrenmatts
wirrender Wiederholung basiert. Diese Konfrontati- früher Prosa (Das Bild des Sisyphos, Die Falle, Die
on ist, der Spur des antiken Mythos folgend, stets ago- Stadt, Aus den Papieren eines Wärters) ausschließlich
nal und letal. Als Gefängnisbau beherbergt das Laby- im urbanen Kontext auf: Sie sind topische Metaphern
rinth ein menschenfressendes Unikum: den Minotau- und räumliche Realisierungen vage skizzierter Städte
ros, der als illegitimer Bastard die königliche und samt ihrer verschachtelt angelegten ober- und unter-
eheliche Autorität des kretischen Herrschers Minos irdischen Architekturen. Als realisiertes Urbild des La-
bedroht. All diese Aspekte (Chaos/Ordnung; Umweg- byrinths – und produktiver poetischer Inkubator – fi-
haftigkeit; Isolation/Einsamkeit; Gefängnissituation; guriert in den Kindheitserinnerungen des Autors denn
agonale/letale Konfrontation von Ich und Raum in ei- auch die Stadt Bern mit ihren verzweigt angelegten Ar-
nem Moment der Krisis) nutzt Dürrenmatt, um sie an kaden und Gängen (vgl. WA 28, 45–47). Dürrenmatts
zentraler Stelle in sein schriftstellerisch-malerisches Prosastücke tasten weniger den sichtbaren als den un-
Werk einzubinden. sichtbaren und schwerer zugänglichen Teil der Städte
Er bezeichnet das Labyrinth darum als ein ›Urmo- ab (entlegene Wege, versteckte und verfallende Häuser,
tiv‹ seines Schaffens (vgl. WA 28, 69 f.; Weber 2014, dunkle Treppen, Gänge, Höhlungen, Dachböden, Kel-
139 u. 141) und entwickelt auf dieser Basis in den Stof- ler, Gewölbe), in denen sie das Subjekt in die Irre und
fen eine »Dramaturgie des Labyrinths« (WA 28, 69– an die Grenzen seiner selbst führen. Ihr Ambiente ist
86, hier 69), deren Poetik er auch in Interviews umris- halb fantastisch, halb romantisch; es bleibt dabei oft
sen hat (vgl. Kreuzer 1982, v. a. 29–49). Ihr Kern ist ein fremd und undurchdringlich. Die Prosastücke variie-
akut krisenhafter bzw. apokalyptischer Zustand der ren in unterschiedlicher Dosierung topische Elemente
Welt. In den Texten, in denen labyrinthische Architek- labyrinthischer Räume und spiegeln sie in den Erfah-
turen handlungskonstitutiv sind, bleiben die Figuren rungen der Figuren: Gefängnishaftigkeit; Umwegig-
gefangen in über-ich-großen, undurchdringlichen keit (Sackgassen, Abgründe); Monotonie bzw. »Ein-
Strukturen und kämpfen allein gegen ihre Umwelt. tönigkeit« (WA 19, 89); Wiederholungen; Im-Kreis-
Der Autor wählt hierbei – erstens – nahezu aus- und-in-der-Irre-Gehen – und daraus resultierend das
schließlich die Binnen- bzw. Ich-Perspektive von Mi- Gefühl einer »Unendlichkeit des Raumes« (ebd., 87 u.
notaurus/Theseus (und nicht die Außenperspektive 176); der Verlust des Raum-, Zeit- und Ichgefühls; die
von Ariadne/Dädalus). Zweitens wendet das Spätwerk Irrealisierung des Erlebens/Traumstruktur; die Spie-
die labyrinthische Erfahrung explizit ins Überzeitlich- gel-, Doppelgänger- und Duell-Motivik; das Moment
Politische (Der Rebell) und ins Universelle/Kosmische der Gefahr, Opferung (vgl. ebd., 92) und Todesdro-
(Minotaurus; Winterkrieg in Tibet). Drittens radikali- hung, z. B. durch minotaurische Figuren (vgl. Hennig
siert er damit erkenntnistheoretische Positionen des 2015, 21–24, 251–256). Durch die Undurchdringlich-
Frühwerks – insbesondere, was den Radikalkonstruk- keit und die ›Zerstörung des Raums‹ (vgl. WA 19, 48)
tivismus, den Nihilismus und die (selbst-)zerstöreri- strahlen diese dunklen apokryphen Architekturen ein

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_71
71 Labyrinth 273

»Gefühl der unmittelbaren Gefahr« (ebd.) aus, das sich wie ein Mensch zum Tier wird: zum brüllenden, stie-
direkt auf das erzählende Subjekt auswirkt und es zu renden Wesen, das Pfützen aufleckt, um seinen Durst
einem oft unzuverlässigen Erzähler werden lässt – eine zu stillen, ehe es buchstäblich verkümmert und ver-
Aura des Unheimlichen und Sinistren, die wir in ähn- reckt (vgl. WA 28, 321).
licher Form in der Prosa von Poe, Lovecraft oder Bor- In beiden Texten benutzt Dürrenmatt ein Spiegella-
ges sowie in den Spukgebäuden und Katakomben der byrinth als entscheidende räumliche Bedingung für
Schauerromantik vorfinden. den Tod des Protagonisten. Für Minotaurus und A
gibt es kein Außerhalb: Lebenswelt und Labyrinth-
gefängnis sind eins. Zugleich vollzieht sich damit eine
Minotaurus. Eine Ballade und Der Rebell bereits im Frühwerk angelegte Wende ins Kosmische
und Überzeitliche: Minotaurus und Der Rebell postu-
In seiner mit Zeichnungen versehenen poetischen lieren, dass jedes Ich(-Bewusstsein) eine Welt für sich
Prosa-›Ballade‹ Minotaurus (1985) variiert Dürren- sei, durch deren Zerstörung auch eine ganze Welt –
matt in rhythmisierten Langsätzen den antiken Stier- auf apokalyptische Weise – unterginge. Daher ließe
menschen-Mythos: die Tötung des gefangenen Mino- sich gemäß Dürrenmatts Philosophie die (nicht um-
taurus mithilfe des Schwertes Theseus’ und des Fadens kehrbare) Formel aufstellen: Ich = Kosmos/Labyrinth.
der Ariadne. Der Autor wählt jedoch – dies ist eine Das Ich ist ein Kosmos für sich und als in sich ge-
stoffgeschichtliche Konjunktur, die sich erst im schlossener Kosmos den Anderen ein undurchdring-
20. Jahrhundert vollzieht – die Perspektive des Mino- liches, nur im Tod zu überwindendes Labyrinth.
taurus und stattet ihn mit menschlichem Bewusstsein
aus. Er benutzt die exemplarische Einsamkeit des
zweigestaltigen Monsters weniger zur Remythisie- Der Winterkrieg in Tibet
rung als um zeitgenössischere Fragen aufzuwerfen:
Wie sind Ich und Welt im Innersten aufgebaut und Exzess, Katastrophe, Groteske: Alle diese Elemente
aufeinander bezogen? Wie konstruieren wir uns die vereint der Winterkrieg in Tibet (1981), um im post-
Welt, in der wir leben? Dürrenmatt entwirft ein ästhe- apokalyptischen Inferno eines Dritten Weltkriegs, der
tisches Isolationsexperiment, das in seiner Konzepti- die Schweiz wie auch die ganze Welt erfasst, eine Söld-
on stark an Condillacs Traité des Sensations erinnert, nergeschichte voller Blut, Schweiß und Sperma zu er-
um das Entstehen subjektiver Erkenntnis anhand des zählen. Erzählerisch-stilistisch hat dieses bewusst als
auf sich allein gestellten Tiermenschen beobacht- Fragment angelegte, gleichwohl monolithisch für sich
und darstellbar zu machen. Dieser wächst in einem stehende Opus nur wenig mit einem handelsüblichen
verglasten Spiegellabyrinth auf, stellt doch der Spiegel Science-Fiction- oder Landser-Roman gemeinsam –
die literarisch-philosophische wie psychoanalytische bis auf die soldatischen Figuren und das ›futuristische‹
Leitmetapher von Subjektivität und Selbsterkenntnis Setting mit einer Cyborg-ähnlichen Figur und kosmo-
dar (vgl. Konersmann 1991, 32 f.). theoretischen Spekulationen. Interessiert Dürrenmatt
Auf ähnliche Weise wird in Der Rebell (1981) das bereits in Minotaurus das Labyrinth als – eher private
Verhältnis von Ich, Raum und Zeit unter den Bedin- – »Tötungsmaschine« (Hennig 2015, 213), spielen
gungen von Einsamkeit und Isolation ausbuchsta- sich Vergewaltigungs- und Vernichtungsorgien im
biert. Ein schon qua Namen (›A‹) entindividualisier- Winterkrieg im ganz großen globalen Maßstab ab:
ter Protagonist gerät als ›Rebell‹ und Messias ins Nir- Hier wird jeder jedem zum Feind und alle schlachten
gendwo eines anonymen Landes. In der Hauptstadt einander ab, ohne an ein Morgen zu denken. Physi-
wird er von Wachleuten in einen Spiegelkerker ge- sche Vernichtung und Vergewaltigung sind der ein-
führt, wo er zwischen tausenden Bildern seiner selbst zige modus und die ratio vivendi. Dürrenmatt verbin-
nach Monaten zugrunde geht. Auch hier wird in ex- det das erzählerische Dispositiv der Apokalypse mit
trem geraffter Form ein philosophisches Bewusst- dem räumlichen Dispositiv des Labyrinths und durch-
seins- und Bildungsmodell vorexerziert: als Konstruk- bricht den Plot mit philosophischen Exkursen zur
tion (Fama/absoluter Ruhm) und abschließende De- Entstehung kosmischer und staatlicher Systeme. Im
struktion eines Ichs (Selbstzerstörung/totales Verges- azentrischen Höhlenlabyrinth verlieren – wie im
sen) im Fremd- und Selbstbild. Während Minotaurus Weltraum – räumliche Grundunterscheidungen wie
die Entwicklung vom tierischen zum menschlichen links/rechts oder oben/unten völlig an Bedeutung; die
Bewusstsein zeigt, führt der Der Rebell umgekehrt vor, Orientierung bleibt zufällig; ein Plan des Ganzen ist
274 IV  Motive und Diskurse

Abb.  71.1  Friedrich ­


Dürrenmatt, Weltstier,
1975.

nicht realisierbar. Für den Ich-Erzähler, den Söldner nieren sind sie einander jedoch ähnlich. Minotaurus,
Hans, ein metallisch-fleischliches Mischwesen, wird Der Rebell und Der Winterkrieg in Tibet führen die
sein Lebensraum zum Weltgefängnis, das nur im Tod conditio humana auf ein absolutes, ja absolutistisches
verlassen werden kann. Alleinsein zurück. Der Minotaurus wird daher als
Das Weltgefängnis Labyrinth lässt sich zum einen Unikat, das es nur einmal gibt, und als ›Weltstier‹ (s.
als realisierter Raum (als Spiegellabyrinth im Minotau- Abb. 71.1) zur Universalmetapher einer Vereinzelung
rus und im Rebell, als Höhlenlabyrinth im Winter- des Menschen (Radikalsubjektivismus und -kon-
krieg), zum anderen als Metapher für den in sich abge- struktivismus): Die Welt war und ist und wird alles,
grenzten Bewusstseinsraum, das ›Hirn‹, ihrer beiden was sich der Geist erdenkt und fabuliert. Labyrinth
Protagonisten verstehen: Auch der Winterkrieg ist eine und Minotaurus sind Universalmetaphern in Dürren-
doppelte ›Schädelstätte‹: als Ort der zahllosen Toten matts literarischem Gepäck, sich absolut setzende
des Dritten Weltkriegs und – im übertragenen Sinn – Formeln und Brenngläser, um die Welt poetisch und
als gigantisches Hirn des Erzählers, das dieser von in- philosophisch zu betrachten.
nen mit in Stein geritzten Schriftzeichen bedeckt und
sich im Schreiben seine Welt radikalperspektivisch
und in selbstreferentieller Manier konstruiert. Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Dürrenmatt benutzt das Labyrinth als ein Beschrei-
bungsmodell, um die Undurchdringlichkeit und Un- Neben subjekttheoretischen, kosmologischen und al-
erforschlichkeit von Raum, Zeit und Ich abzubilden. legorischen Auslegungen der Labyrinth-Figur sind
Sein Schaffen wird von der grundlegenden Frage nach die Konstruktionsbedingungen von Dürrenmatts La-
dem Verhältnis von Chaos und Ordnung bestimmt: byrinthen auch raumtheoretisch untersucht worden
Wie ist die Welt aufgebaut, in der wir leben und die (vgl. Hennig 2015). Für Dürrenmatts Identitätsphi-
wir uns selbst in unserer perspektivischen Betrach- losophie und Kosmologie sind die Figuren von Laby-
tung konstruieren? Diese Frage hat eine anthropologi- rinth und Minotaurus/Theseus grundlegend. Das La-
sche und eine kosmologische Dimension; sie betrifft byrinth ist dabei – erstens – eine realisierte Architektur
das Ich (den wahrnehmenden Körper) und die Struk- (als Stadt, Haus, Spiegelkabinett oder unterirdisches
tur des Universums. Ich und Welt/Kosmos – sie sind Höhlensystem). Zweitens ist es ein Welt- und Denk-
für Dürrenmatt als labyrinthische black box gleicher- beschreibungsmodell: Inbegriff eines chaotisch-entro-
maßen überkomplex wie opak. Labyrinthisches Ich pischen Universums. Diese Aspekte fließen sowohl in
und labyrinthische/r Welt/Kosmos sind einander die paradigmatische als auch in die syntagmatische
zwar konfrontativ entgegengesetzt, in ihrem Funktio- Ebene der Textkonstitution ein und betreffen – ins-
71 Labyrinth 275

besondere im Winterkrieg – auch die Ebene der Lektü- Literatur


resteuerung (vgl. Burkard 2004, 159 f.). Im Sinne Um- Primärtexte
berto Ecos lässt sich Dürrenmatt als ein Apokalyptiker Das Bild des Sisyphos. In: WA 19, 41–56.
Albert Einstein. In: WA 33, 150–172.
beschreiben, der in seinem Spätwerk mit obsessiver Die Falle. In: WA 19, 71–95.
Lust »Theorien über den Zerfall ausbildet« (1984, 16) Labyrinth. Stoffe I–III. WA 28.
und sich stets abweichlerisch außerhalb des common Minotaurus. In: WA 26, 9–32.
sense stellt. Gleichwohl speist sich seine »Ästhetik des Aus den Papieren eines Wärters. In: WA 19, 149–193.
Scheiterns« (Burkard 2004, 160), anders als bei Eco, Die Stadt. In: WA 19, 117–147.
Die Welt als Labyrinth. Die Unsicherheit unserer Wirklich-
nicht aus dem kulturkritischen Standpunkt vermeint-
keit. Franz Kreuzer im Gespräch mit Friedrich Dürren-
licher intellektueller Überlegenheit oder aus der Geste matt und Paul Watzlawick. Wien 1982.
tugendhaften Besserwissens, sondern aus der Ein-
sicht, dass eine ›wahre Identität‹ für das perspektivisch Sekundärliteratur
in seinem Weltbild gefangene Subjekt unerreichbar Arnold, Heinz Ludwig: Friedrich Dürrenmatt. Der gläubige
bleibe (vgl. Gabor-Peirce 2017, 142). Dürrenmatt Zweifler. In: Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und
Maler. Hg. vom Schweizerischen Literaturarchiv Bern und
transformiert dabei, unter Rückgriff auf Immanuel
Kunsthaus Zürich. Bern, Zürich 1994, 212–224.
Kant und Hans Vaihinger, die erkenntnistheoretische Bloch, Peter-André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und
Position, dass Erkenntnisse nur über Setzungen und Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen –
Fiktionen möglich sind (vgl. Burkard 2004, 261–263) Interpretationen. Göttingen 2017.
– und dass, mit Nietzsche, unser Geist nur perspekti- Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
vische Interpretationen der Wirklichkeit erfinden Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
hingers im Spätwerk. Tübingen 2004.
kann, absolute Wahrheiten dagegen unmöglich sind. Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kriti-
Das Labyrinth wird darum als »altes Lieblingsmotiv« schen Kritik der Massenkultur. Frankfurt a. M. 1984.
Dürrenmatts (Planta u. a. 2011, 318), als zentrale Gabor-Peirce, Olivia G.: Becoming Fiction. Reassessing
»Formel« (Arnold 1994, 217) oder »Gleichnis« er- Atheism in Dürrenmatt’s Stoffe. New York 2017.
kannt, das er zur Beschreibung einer durch die mo- Hennig, Matthias: Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume
in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2015.
derne Naturwissenschaft revolutionierten Welt benut-
Kern, Hermann: Labyrinthe [1982]. Erscheinungsformen
ze – ob in der raum-zeitlichen Instabilität der Quan- und Deutungen – 5000 Jahre eines Urbilds. 4. Aufl. Mün-
tenphysik oder in der spekulativen Kosmologie. Auch chen 1999.
Dürrenmatts »Theaterfiguren« werden interpretiert Konersmann, Ralf: Lebendige Spiegel. Die Metapher des
als »Stellvertreter des Menschen« in einem »bild- und Subjekts. Frankfurt a. M. 1991.
zukunftslosen Labyrinth« (ebd.): Das Labyrinth wird Planta, Anna von u. a. (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Sein
Leben in Bildern. Zürich 2011.
so zu einer »Grundmetapher der Postmoderne« Schmeling, Manfred: Der labyrinthische Diskurs. Vom
(Bloch 2017, 267) und der conditio humana, da es Zu- Mythos zum Erzählmodell. Frankfurt a. M. 1987.
fall und Katastrophe zusammenbinde. Weber, Ulrich u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie. Dür-
renmatt intertextuell und intermedial. Göttingen 2014.

Matthias Hennig
276 IV  Motive und Diskurse

72 Mutiger Mensch Dürrenmatts Skepsis gegenüber verbindlichen Er-


klärungsmustern und das Ausweichen auf subjektive
Gedankliches Konzept Positionen birgt ein Problem dramatischer Visuali-
sierbarkeit in sich. Denn es ist weniger das auf der
Dürrenmatt entwickelt die Gedankenfigur des ›muti- Bühne sichtbare Geschehen als vielmehr die dem Ge-
gen Menschen‹ im Rahmen seiner ästhetischen Aus- schehen zugrunde liegende Haltung, die das Wesen
einandersetzung mit dem Theater. Anknüpfend an des ›mutigen Menschen‹ ausmacht. Entsprechend be-
das Diktum gesellschaftlicher Verantwortung, das be- schränkt sich die Haltung des ›mutigen Menschen‹
reits im früheren Essay Anmerkung zur Komödie nicht auf die dramatischen Figuren, sondern tritt auf
(1952) in der Frage nach der dramatischen Darstell- unterschiedenen Ebenen in Dürrenmatts Werk auf: 1.
barkeit der beiden Weltkriege als Groteske einen zen- als Gedankenfigur innerhalb seines Dramenkonzep-
tralen Aspekt ausgemacht hatte, sieht er in Theaterpro- tes, die er im Theaterproblem-Essay entwickelt, 2. in
bleme (1954) die ethische Haltung als grundlegende Form eines Figurentypus, der sich durch sein dramati-
Basis seiner Ästhetik, die er in der Figur des Einzelnen sches wie sein Prosawerk zieht, sowie 3. in seinem
begründet. Angesichts einer immer komplexer wer- schöpferischen Selbstverständnis, in dem der Vorgang
denden modernen Welt sucht er die Antwort nicht in des Erschaffens einer in sich stimmigen Modellwelt
einer Ideologie, deren Anspruch auf Allgemeingültig- und der Verortung des Scheiterns darin als Bewälti-
keit er grundsätzlich in Frage stellt. Er veranschlagt sie gungsstrategie gegenüber einer als kontingent begrif-
vielmehr in einem immer wieder neu und individuell fenen Welt zum Ausdruck kommt. Diese Bedeutung
zu konstituierenden Entschluss des Einzelnen, ange- der individuellen schöpferischen Position greift Dür-
sichts der undurchschaubaren Welt zu handeln: »Ge- renmatt im Vortrag Vom Sinn der Dichtung in unserer
wiß, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt Zeit (1956) auf, wo er die Arbeit des Schriftstellers in
sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung den Kontext des ›mutiger Mensch‹-Gedankens stellt
nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, (vgl. WA 32, 67).
die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort
wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluß etwa, die
Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver un- Der ›mutige Mensch‹ im literarischen Werk
ter den Riesen. Auch der nimmt Distanz, auch der tritt
einen Schritt zurück, der seinen Gegner einschätzen Zahlreiche Varianten des ›mutigen Menschen‹ ziehen
will, der sich bereit macht, mit ihm zu kämpfen oder sich als Motiv durch Dürrenmatts literarisches Werk
ihm zu entgehen. Es ist immer noch möglich, den mu- und weisen eine Entwicklung innerhalb der Werk-
tigen Menschen zu zeigen« (WA 30, 63). Das ethische genealogie auf, die sich von der frühen Figur des letz-
Potential akzentuiert er dabei nicht im Ergebnis einer ten römischen Kaisers in Romulus der Große (1949,
Tat, sondern in der ihr zugrunde liegenden Motivati- zweite Fassung 1957), über Möbius in Die Physiker
on. Das Epitheton ›mutig‹ beinhaltet so das Festhalten (1962) bis hin zur späten Figur Cop in Dürrenmatts
an einer ethisch motivierten Haltung trotz einer als vorletztem Drama Der Mitmacher (1973) beobachten
kontingent erfahrenen Welt. Der ›mutige Mensch‹ lässt: Der letzte Kaiser Roms verfolgt das Ziel, das Un-
stellt den Einzelnen als entscheidende Instanz heraus, recht, das von seinem Reich ausgeht, zu stoppen. Wis-
die in der Lage ist, mutig zu sein, während kollektive send, dass er seine Untertanen nicht dazu bewegen
Antworten, die Anspruch auf überindividuelle Gül- kann, ihre Lebenshaltung zu ändern, lässt er sein
tigkeit erheben, grundsätzlich in Frage gestellt wer- Reich untergehen, um durch dessen Ende die Welt zu
den: »Trost in der Dichtung ist oft nur allzubillig, ehr- retten. Der Hofstaat sowie die Königsfamilie sollen
licher ist es wohl, den menschlichen Blickwinkel bei- dieses Ende auf einer Insel überleben, während Ro-
zubehalten. Die Brechtsche These, die er in seiner mulus selbst durch einen Opfertod mit seinem Reich
Straßenszene entwickelt, die Welt als Unfall hin- unterzugehen gedenkt. In der Umsetzung des Plans
zustellen und nun zu zeigen, wie es zu diesem Unfall kommt ihm allerdings dreifach der Zufall in die Quere
gekommen sei, mag großartiges Theater geben, was und lässt nicht nur seinen Plan scheitern, sondern
ja Brecht bewiesen hat, doch muß das meiste bei der wendet seinen ethisch motivierten Entschluss in eine
Beweisführung unterschlagen werden: Brecht denkt Katastrophe: Während seine Familie auf hoher See
unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt« stirbt, er indessen unerwartet am Leben bleibt, berei-
(64). tet das Ende des römischen Reiches den Weg für das

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_72
72  Mutiger Mensch 277

germanische – worin sich bereits die Schrecken des auf. Das gattungsspezifische Anliegen, eine durch ein
20. Jahrhunderts abzeichnen. Verbrechen aus dem Gleichgewicht gebrachte Ord-
In der Komödie Die Physiker entwirft Dürrenmatt nung durch dessen Aufklärung wieder herzustellen,
in der Figur des genialen Physikers Möbius eine wird hier zum Experimentierfeld für die Erörterung
komplexere Variante des ›mutigen Menschen‹, in der der Problematik, angesichts einer endgültig verlore-
die Diskrepanz zwischen der Zufälligkeit der Welt nen Ordnung dennoch für deren Wiederherstellung
und der Opferbereitschaft der Figur geradezu mo- einzutreten. Im 1957 erschienenen Roman Das Ver-
dellhafte Züge annimmt. Möbius verzichtet auf per- sprechen. Requiem auf den Kriminalroman hat der De-
sönliches Glück, wissenschaftlichen Erfolg, Reichtum tektiv Matthäi den Schuldigen ermittelt, doch kann er
und Ruhm, um die Welt vor den Konsequenzen der nicht wissen, dass dieser kurz vor seiner Überführung
Weltformel, die er gefunden hat, zu beschützen. Er durch einen Autounfall ums Leben kam. Matthäi stellt
lässt sich in ein Irrenhaus einsperren, wo er sein Wis- fortan sein immer weiter verkommendes Leben in den
sen vor den beiden politischen Systemen des Kalten Dienst seiner Überzeugung von Gerechtigkeit und
Krieges versteckt. Was er in seinem Plan nicht bedacht verkörpert so die Diskrepanz zwischen seinem muti-
hatte, ist die Tatsache, dass die wahnsinnige Leiterin gen Handeln und der zufälligen Wirklichkeit. Seine
des Irrenhauses selbst die Weltformel an sich nimmt Subjektivität bringt dabei nicht das Wissen um die
und diese damit in die denkbar unberechenbarsten Richtigkeit seines Tuns zum Ausdruck, sondern gera-
Hände fällt. Der Versuch, die Welt zu retten, hat so de deren Unkenntnis.
durch seine Tat zu ihrem Untergang geführt. Doch Eine weitere Dimension der Undurchschaubarkeit
steht eben nicht die Sinnlosigkeit der Handlung, son- der Welt zeigt der Kriminalroman Justiz (1985). Hier
dern deren Motivation im Zentrum des dramatischen wird der Detektiv Felix Spät zum Spielball der Zusam-
Interesses, während die Wendung, die ihre schlimmst- menhänge und Zufälligkeiten der Wirklichkeit, denen
mögliche Gestalt annimmt, als dramaturgischer Aus- weder er noch eine außenstehende Instanz mehr ge-
druck den Mut der Möbius-Figur veranschaulicht. wachsen ist. Die Diskrepanz zwischen der mutigen
War die Entscheidung des Physikers radikal gewe- Haltung, sich der undurchschaubaren Wirklichkeit zu
sen, ist sie im Fall der Figur Cop in Dürrenmatts vor- stellen, und der Zufälligkeit kommt so durch eine im-
letztem Drama Der Mitmacher für die Umwelt gar mer drastischere Darstellung des Scheiterns des ›mu-
nicht mehr erkennbar: »Cop handelt subjektiv. Was er tigen Menschen‹ zum Ausdruck.
vollzieht, vollzieht er für sich, denn sein Unterfangen,
ein Riesengeschäft auf Kosten seines Lebens hoch-
gehen zu lassen, obwohl er weiß, daß nach dem ver- Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
eitelten Riesengeschäft erst die ganz riesigen Geschäf-
te herangeschwommen kommen, dieser selbstmörde- Dürrenmatts Begriff des ›mutigen Menschen‹ fungiert
rische Unfug beweist nichts als seine Subjektivität« als Schnittstelle zwischen einem ethisch-philosophi-
(WA 14, 200). Scheinbar korrupt versucht Cop, durch schen Anliegen und einem ästhetischen Konzept. Zen-
einen Mord die Machenschaften eines kriminellen tral ist dabei die Frage nach verantwortlichem Handeln
Unternehmens zu unterbinden, ohne sich Illusionen angesichts einer als kontingent erfahrenen Welt. Basie-
über die Zwecklosigkeit seines Tuns zu machen. Die rend auf dem Studium der Kritiken Kants (vgl. Burkard
Qualität des ›mutigen Menschen‹ erhält hier ihre kon- 2004, 24–68; Famula 2014, 73–82) akzentuiert die Fi-
sequenteste und zugleich am weitesten von der äuße- gur des ›mutigen Menschen‹ eine grundsätzliche Er-
ren Sichtbarkeit entfernte Form, die Dürrenmatt nun- kenntnisskepsis, die allerdings über den Status eines
mehr – in Anlehnung an Sokrates – als ›ironischen rein philosophischen Anliegens hinausreicht und viel-
Helden‹ bezeichnet (vgl. ebd., 202). Das Motiv des mehr als dramaturgisch verstandener Begriff von Kon-
›mutigen Menschen‹ erscheint damit als Kippfigur tingenz zur Möglichkeit avanciert, ethische Anliegen
zwischen einem ethischen Anliegen und dessen kol- wie Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit darzustellen
lektiver Wirkungsmöglichkeit, deren negative Inter- (vgl. Spedicato 2014, 80). Entscheidend ist dabei die
pretation sich im Laufe des Werks immer mehr ver- Kategorie des Einzelnen, der aus dem paradoxen Mo-
stärkt. ment des Handelns trotz des Wissens um die Wahr-
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in Dürren- scheinlichkeit des Scheiterns heraus begriffen wird.
matts Kriminalromanen beobachten, denn auch seine Der Einzelne und das Paradoxe sind zentrale Katego-
Detektivfiguren weisen Züge des ›mutigen Menschen‹ rien der Philosophie Søren Kierkegaards, die Dürren-
278 IV  Motive und Diskurse

matt als essentiell für das Verständnis seiner Arbeit Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff
ausgewiesen hat (vgl. WA 29, 125). Auf diese Weise der Verwandlung. Berlin 2000, 161–178.
wird der ›mutige Mensch‹ als eine philosophisch wie Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
theologisch motivierte Figur lesbar (vgl. Mingels 2003, hingers im Spätwerk. Tübingen 2004.
109–112; Bühler 2004), deren entscheidender Akzent Famula, Marta: Fiktion und Erkenntnis. Dürrenmatts
auf einer Haltung des ›Trotzdem‹ liegt. Angesichts des Ästhetik des ethischen Trotzdem. Würzburg 2014.
Scheiterns wurde dem ›mutigen Menschen‹ auch eine Gasser, Peter: Dramaturgie und Mythos. Zur Darstellbarkeit
nihilistische Haltung attestiert, die im ironischen Hel- des Grotesken in Dürrenmatts Spätwerk. In: Jürgen
Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum.
den des Spätwerks zur eigentlichen Blüte komme, je-
7. Internationales Neuenburger Kolloquium 2000. Frank-
doch bereits im vorausgegangenen Konzept gesehen furt a. M. 2004, 191–209.
wird (vgl. Klimant 2014, 70–73). Klimant, Tom: Dürrenmatts Transzendentaldramaturgie.
Derart philosophisch konzeptualisiert, gestaltet Die Achterloo-Varianten (1982–1988) als Beitrag zur Aus-
sich die ästhetische Umsetzung ausnehmend modell- einandersetzung zeitgenössischer Dramaturgie mit radi-
haft. Nicht zuletzt lassen sich die drei zentralen Aspek- kal konstruktivistischen Denkfiguren. Berlin 2014.
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
te des ›mutigen Menschen‹ als mythologische Figuren gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln
lesen: als Minotaurus, in dem das Eingeschlossen-Sein 2003.
im Labyrinth zum Ausdruck kommt, im Theseus, der Rusterholz, Peter: Chaos und Renaissance im Durcheinan-
den Mut symbolisiert, der sich entziehenden Wirklich- dertal Dürrenmatts. Hg. von Henriette Herwig und
keit zu begegnen, sowie in der Figur des Dädalus, mit Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017.
Rusterholz, Peter: Durchgänge durchs Labyrinth. Minotau-
der ein Weg realisiert wird, eine eigene Gegenwelt zu
rus – Der Auftrag – Durcheinandertal. In: Quarto 7 (1996),
gestalten und darin das Ungeheuer zu bannen (vgl. 92–103.
Gasser 2004, 203 f.; Rusterholz 1996, 93–95). Spedicato, Eugenio: Der Kontingenz-Gedanke und die Uni-
versalien Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit bei Fried-
Literatur rich Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
Primärtexte gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72. dial. Göttingen 2014, 77–96.
Weber, Ulrich: »Ob man sich selbst zum Stoff zu werden ver-
Sekundärliteratur mag?« Kierkegaard und die Entwicklung des subjektiven
Bühler, Pierre: Le paradoxe chrétien et ses potentialités créa- Schreibens im Mitmacher-Komplex. In: Quarto 7 (1996),
tives. Dürrenmatt et la théologie. In: Jürgen Söring, 65–79.
Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. 7. Inter- Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
nationales Neuenburger Kolloquium 2000. Frankfurt der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung.
a. M. 2004, 237–257. Frankfurt a. M. 2007.
Bühler, Pierre: Gnadenlosigkeit? Christologische Figuren in
den späten Werken Dürrenmatts. In: Peter Rusterholz, Marta Famula
73 Mythos 279

73 Mythos Namen des von Ödipus erschlagenen Wagenlenkers


des Laios, Polyphontes, liest man bei Ranke-Graves
Dürrenmatts Mythos-Begriff (II 8); und nur dort, nicht aber in antiken Quellen, ist
das von einem Orakel des Teiresias ausgelöste Selbst-
Abgesehen von starken autobiografischen Bezügen opfer von Iokastes Vater Menoikeus zur Besänftigung
(s. u.) hat Dürrenmatt am Mythos vor allem das Zeit- der Theben heimsuchenden Pest berichtet (II 9, vgl.
los-Menschliche interessiert: 1981 definiert er ihn als Schmitz 1985, 201, Anm. 9); der Tod des Teiresias
»ein[en] Archetypus, eine Urerscheinung, eine Urkon- durch erhitztes Trinken aus der Quelle Tilphussa fin-
stellation, in die der Mensch immer wieder gerät« (G 3, det sich bei Hunger s. v. ›Teiresias‹ (Ranke-Graves II
31). Im folgenden Jahr nennt er als Beispiele für solche 19 erwähnt diesen Todesort auch, sagt aber nichts von
»Grundstoffe« die Stichwörter ›Labyrinth‹ und ›Re- Erhitzung). Bei seiner Darstellung der Urgeschichte
bellion‹ (G 3, 134); beide finden sich in von Dürren- (›Theogonie‹) der griechischen Götter (vgl. WA 37,
matt besonders gern verarbeiteten Mythen. Zu solchen 12–14) hat sich Dürrenmatt an Ranke-Graves ori-
zählt er auch biblische Geschichten: die Erzählungen entiert: Die skurrile Bemerkung »Kronos [wurde]
von der Sintflut, vom Turmbau zu Babel, von Moses nach Großbritannien verbannt« (14) verarbeitet des-
(vgl. ebd., 138). Aber es sind vor allem griechische My- sen Hinweis, Kronos sei »auf eine britische Insel« ver-
then, die – in zum Teil stark transformierter Gestalt – bannt worden (I 33), und in der Darstellung des
immer wieder auftauchen und von Bedeutung sind. Prometheus-Mythos selbst (vgl. WA 37, 15–43) finden
sich wörtliche Anklänge an Ranke-Graves (I 128). Im
Fall des Ödipus-Mythos hat Dürrenmatt auch auf den
Quellen Text des König Ödipus des Sophokles zurückgegriffen,
den er wiederholt explizit erwähnt (vgl. etwa Satz 18
Als erste wichtige Quelle für die von ihm behandelten der Sätze über das Theater; WA 30, 184).
Mythen hat Dürrenmatt die Erzählungen bezeichnet,
mit denen ihn sein Vater auf dem Rückweg von seelsor-
gerischen Besuchen unterhielt (vgl. WA 28, 23 f.). Na- Mythische Gestalten in Dürrenmatts Werk
mentlich nennt er die Taten des Herkules, vor allem
aber die Erzählungen »vom königlichen Theseus, wie Folgende griechische mythische Gestalten (in der Rei-
er die Räuber Prokrustes und Pityokamptes besiegte, henfolge ihrer Nennung in WA 28, 23 f.) haben in
und vom Labyrinth des Minos, von Dädalus erbaut, Dürrenmatts Werk Eingang gefunden, in seine Texte,
den ungefügen Minotaurus gefangenzuhalten« (ebd.). aber auch in seine Bilder und Zeichnungen:
Außerdem werden hier Sisyphus, Tantalus und Ödipus Von den zwölf kanonischen Taten des Herkules hat
genannt. Alle diese Gestalten beschäftigen Dürrenmatt Dürrenmatt nur die fünfte ausführlicher behandelt:
in unterschiedlicher Intensität auch in seinem Werk. Herkules und der Stall des Augias (Hörspiel 1954,
Seine wichtigsten schriftlichen Quellen für diese Theaterstück 1963). Dürrenmatt wählt damit die am
Mythen hat Dürrenmatt ebenfalls selbst genannt: Für wenigsten ›heroische‹ Tat des Helden, die Herkules
die Beschreibung des Minotaurus-Labyrinths zitiert zudem bei Dürrenmatt (anders als im griechischen
er wörtlich einige Zeilen aus Gustav Schwabs Sagen Mythos) nicht einmal gelingt, weil er an den Rahmen-
des klassischen Altertums (vgl. WA 28, 75). Wichtiger bedingungen, die ihm vom Parlament und von der
sind jedoch zwei Überblickswerke aus den 1950er Bürokratie von Elis auferlegt werden, scheitert.
Jahren: Herbert Hungers Lexikon der griechischen Der von Zeus zum Tragen des Himmelsgewölbes
und römischen Mythologie (zuerst 1953) und Robert verurteilte Titan Atlas taucht bei Dürrenmatt vor al-
von Ranke-Graves’ Griechische Mythologie (engl./dt. lem in Zeichnungen auf (vgl. Donald 2004, 132), aber
1955). Dürrenmatt nennt beide Werke in seiner »Dra- dann auch in Achterloo I, wo sich Napoleon mit Atlas
maturgie des Labyrinths« (1977/1981; WA 28, 69–84) vergleicht (vgl. ebd., 134).
im Zusammenhang mit dem Minotaurus-Mythos (so Den gefesselten Prometheus hat Donald (ebd., 137)
geht etwa der dortige Hinweis auf das verlorene Stück auf einer von Dürrenmatt bereits 1942 ausgemalten
Kreter des Euripides auf Hunger s. v. ›Minos‹ zurück). schrägen Wand in seiner Berner Mansarde innerhalb
Ihnen hat er auch bei Schwab nicht zu findende my- der sogenannten ›skurrilen Kreuzigung‹ erkennen
thische ›Fakten‹ für seine Darstellung des Ödipus- wollen; knapp vierzig Jahre später (1981) hat Dürren-
Mythos in Das Sterben der Pythia entnommen: Den matt mit der Ausarbeitung des Essays Prometheus be-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_73
280 IV  Motive und Diskurse

gonnen, der – über fast ein Jahrzehnt weiterentwickelt Minotaurus, der auf diese Weise als ›Ungestalt‹ mit
– im August 1990 seine letzte Fassung unter dem Titel Menschenkopf und Stierleib von der übrigen Welt iso-
Dramaturgie eines Rebellen: Prometheus als Vorspann liert werden soll. Das Labyrinth – als Gleichnis für ei-
der Gedankenfuge (WA 37) erhielt. Dürrenmatt ver- ne unergründlich-desorientierende Welt – illustriert
sucht hier, eine »logischere Variante« (11) dieses My- für Dürrenmatt sein Lebensgefühl nach dem Umzug
thos zu geben: Prometheus wird als »Intellektueller« nach Bern 1935 (vgl. WA 28, 45: »Das Labyrinth wur-
(freilich ein gescheiterter; Spedicato 2006, 249) und de Wirklichkeit«) und taucht auch bereits in seinen
»Reformator« dargestellt, der die Menschen erschaf- frühesten veröffentlichten Texten auf (vgl. Das Bild des
fen habe, um »Unsterbliche durch klügere Unsterbli- Sisyphos 1945; Die Falle 1946; Die Stadt 1947; Aus den
che zu ersetzen« (WA 37, 22); er sei aber dann infolge Papieren eines Wärters 1952; alle WA 19), erscheint
seiner Ankettung an den Kaukasus (Zeus’ Strafe für dann immer wieder, etwa als Irrenhaus in den Physi-
Prometheus’ Unterstützung der Menschen) selber kern, und bleibt auch in maßgeblichen Texten seiner
»allmählich ein Mensch« und »zum Rebellen« gewor- letzten zwei Jahrzehnte präsent, so in der schon er-
den (39). Denn nur so habe er seine Identität wahren wähnten »Dramaturgie des Labyrinths« (1977/1981),
können: »Indem Prometheus trotzt, bleibt er Prome- in Der Mitmacher (1976), in der Geschichte vom Win-
theus« (ebd.). Am Schluss identifiziert sich Dürren- terkrieg in Tibet (1981) sowie in Der Rebell vom glei-
matt selber ausdrücklich mit diesem Prometheus. chen Jahr; dann in Der Auftrag (1986) und im Durch-
Vergleichbar mit dieser Umarbeitung hat Dürren- einandertal (1989). Bildlich dargestellt wird das Laby-
matt 1980 in den Nachgedanken zum Israel-Essay Zu- rinth in Zusammenhang mit dem Minotaurus.
sammenhänge eine Neufassung der Prokrustes-Ge- Der mythische Bewohner des Labyrinths, der Mi-
schichte publiziert, in der auch Prokrustes’ Sohn Pi- notaurus, bildet ebenfalls für Dürrenmatt eine frühe
tyokamptes kurz auftaucht (vgl. WA 35, 180–185). Identifikationsfigur: »[I]ch tappte in ihr [der Stadt
Prokrustes wird hier als »der erste ideologische Politi- Bern] herum wie Minotaurus in den ersten Jahren im
ker« (180) dargestellt, der die Menschen nur deshalb Labyrinth« (WA 28, 51). Er erscheint in seinen Schrif-
foltert, um sie einander gleich zu machen, bis ihm von ten, abgesehen von einer kurzen Erwähnung in Das
Theseus das Handwerk gelegt wird. Bild des Sisyphos (s. o.), etwas ausführlicher zuerst in
In dieser Prokrustes-Geschichte wird Theseus zu- der »Dramaturgie des Labyrinths« (1977/81). Mino-
nächst positiv als ein nach Vernunft handelnder Held taurusartige Figuren gibt es jedoch schon früher im
eingeführt, der der unvernünftigen Ideologie des Pro- Werk (vgl. Crăciun 2000, 265, Anm. 19 u. 271 f.): der
krustes ein Ende setzt. Doch schon im letzten Teil der Kommandant im Winterkrieg; Doktor Emmenberger
Geschichte verdunkelt sich das Bild: Leider habe The- in Der Verdacht; der tanzende alte Kohleträger in Die
seus als König »seine kluge Rede an Prokrustes verges- Stadt; ferner die Irrenärztin Mathilde von Zahnd in
sen« (185). Wenigstens sehr ambivalent wird Theseus Die Physiker (so Dürrenmatt selbst in G 3, 157). Es
in der Minotaurus-Ballade von 1985 dargestellt, wo er gibt sie aber auch später: Der ›Achilles‹ genannte ver-
bis kurz vor dem Ende namenlos bleibt und die For- rückt gewordene Griechisch-Professor, der in Der
schung durchaus uneins ist, ob der erste menschliche Auftrag von einem Kameramann namens Polyphem
Angreifer des Minotaurus bereits Theseus sei oder in einer labyrinth-ähnlichen Anlage gefangen gehal-
nicht (vgl. WA 26, 19–21; dafür: Schu 2009, 234 f. u. ten wird, ist eine solche Gestalt. Die beeindruckendste
238; dagegen: Crăciun 2000, 319). Die Darstellung Darstellung des Minotaurus findet sich zweifellos in
von Theseus’ Tötung des Minotaurus in dieser Ballade der Minotaurus-Ballade von 1985, in der Leben und
wird überwiegend als theseuskritisch interpretiert, Tod des Minotaurus weitgehend aus dessen eigener
nämlich als hinterhältig-tödliche Täuschung des arg- Perspektive dargestellt sind. Für Dürrenmatt ist der
losen Minotaurus (vgl. Spedicato 2006, 250 f.; Ja- Minotaurus im Labyrinth ein »Urdrama«, nämlich
chimowicz 2012, 238; Abderhalden 2015, 104). Doch das »der Auseinandersetzung eines Ich mit seiner
gibt es auch zumindest eine Pro-Theseus-Deutung Umwelt« (WA 28, 83). Mehr als jeder anderen mythi-
(Crăciun 2000, 320). Theseus erscheint auch in Bil- schen Gestalt hat Dürrenmatt dem Minotaurus (in
dern Dürrenmatts, dabei stets in Verbindung mit dem Verbindung mit Theseus und dem Labyrinth) auch
Minotaurus (s. u.). Zeichnungen und Bilder gewidmet, angefangen mit
Mit dieser Theseus-Tat eng verbunden sind die my- der skurril-verstörenden Gouache Der entwürdigte
thischen Elemente des von Dädalus erbauten kreti- Minotaurus von 1958, in der ein triumphierender
schen Labyrinths und des darin gefangen gehaltenen Theseus auf den im Labyrinth gebeugt umherirrenden
73 Mythos 281

Minotaurus heraburiniert. Im Lauf der Zeit werden des Laios sowie Mutter des zweiten Ödipus; Minotau-
die bildlichen Darstellungen des Minotaurus immer rus-Ballade: Der Ariadne-Faden führt Theseus nicht
menschlicher; der Höhepunkt dieser Entwicklung aus dem Labyrinth heraus, sondern zum Minotaurus);
wird in den neun der Minotaurus-Ausgabe von 1985 ferner werden die Mythen aus neuer Perspektive ge-
beigegebenen Bildern erreicht (vgl. Rusterholz 1996, boten (aus der Sicht der Pythia und des Teiresias
95; Donald 2004, 140 f.). bzw. der des Minotaurus). Ulrich Weber (2003, 117)
Die Gestalt des Sisyphus taucht zuerst in der frühen hat an Dürrenmatts Mythenbearbeitungen daher die
Erzählung Das Bild des Sisyphos auf, jedoch nur in dem »démon­tage« durch Parodie, aber auch die »révitalisa-
titelgebenden Bild, das die Bestrafung des Sisyphus in tion« durch neue Elemente und Perspektiven hervor-
der Unterwelt zeigt; sehr viel später findet sie sich dann gehoben.
noch einmal in Kap. 9 der Nachgedanken, wo Dürren- Gegen Ende seines Prometheus-Essays bemerkt
matt die Mühsal des Denkens mit Sisyphos’ ewigem Dürrenmatt: »Die Mythen sind zeitlos [...]. Ob sie et-
Wälzen seines Felsblocks illustriert, zugleich aber den was bedeuten, liegt außerhalb ihrer Glaubwürdigkeit
Mythos verändert, indem er ›viele Sisyphosse‹ postu- oder gar ihrer Existenz, es liegt daran, ob wir uns noch
liert (vgl. WA 35, 216 f.). – Tantalus wird zwar in WA in ihnen wiederfinden oder nicht« (WA 37, 39). Durch
28, 24 unter den mythischen Gestalten genannt, von seine Mythenbearbeitungen hat Dürrenmatt viel da-
denen Dürrenmatts Vater erzählte, taucht aber nur für getan, dass uns ein ›Wiederfinden‹ möglich ist.
einmal kurz in der ironisch-zynischen Skizze auf, die
Teiresias in Das Sterben der Pythia vom degenerierten Literatur
Primärtexte
mythischen »Uradel« der Griechen gibt (WA 24, 141 f.: Dramaturgie eines Rebellen: Prometheus. In: WA 37, 11–46.
Hier werden desillusioniert-rationalisierte Kurzpor- Herkules und der Stall des Augias. In: WA 8, 9–117.
träts von Prometheus, Tantalos, Thyestes, Klytämnes- Minotaurus. Eine Ballade. In: WA 26, 9–32.
tra, Leda, Pasiphae entworfen). Das Sterben der Pythia. In: WA 24, 119–158.
Es bleibt die Gestalt des Ödipus. Eine Ödipus-Figur Der Winterkrieg in Tibet. In: WA 28, 11–170.
gibt es im frühen dramatischen Werk Dürrenmatts:
Sekundärliteratur
Möbius in den Physikern; Dürrenmatt selbst zieht die Abderhalden, Sandra: Friedrich Dürrenmatt e la mitologia
Parallele in den 21 Punkten zu den ›Physikern‹, in greca: ricezione e rielaborazione. In: Dies. u. a. (Hg.): Miti,
Querfahrt (WA 29, 36) und in Gesprächen (G 3, 142 u. triti e ritriti. München 2015, 101–113.
156 u. 176). Vom Ödipus-Mythos selbst liefert er, aus- Andresen, Karen: Der Mensch ein Tier, das Tier ein
gehend von Sophokles’ König Ödipus, in Das Sterben Mensch? Reflexionen zu Minotaurus. Eine Ballade von
Friedrich Dürrenmatt. In: Revista de filología alemana 12
der Pythia (1976) eine höchst bemerkenswerte Neu-
(2004), 99–109.
fassung, in der das Schicksal durch den Zufall ersetzt Crăciun, Ioana: Politisierung durch Metaphorisierung.
ist und das Wissen über die wahren Vorgänge sich am Friedrich Dürrenmatts Minotaurus. Eine Ballade. In:
Ende durch immer weitere Berichtsvariationen voll- Dies.: Die Politisierung des antiken Mythos in der
ends zu verflüchtigen droht. deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2000,
261–324.
Dehrmann, Mark-Georg: Dürrenmatt in Delphi. Korrektu-
ren des Ödipus-Mythos im Sterben der Pythia. In: Martin
Charakteristika von Dürrenmatts Mythen- Vöhler, Bernd Seidensticker (Hg.): Mythenkorrekturen:
Behandlung Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin,
New York 2005, 401–409.
Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten seines Schaf- Donald, Sydney G.: Der Reiz des Mythos. In: Jürgen Söring,
Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. 7. Inter-
fens wandte Dürrenmatt sich den antiken Mythen
nationales Neuenburger Kolloquium 2000. Frankfurt
selbst zu und gab ihnen oft überraschend neue Wen- a. M. 2004, 129–147.
dungen. Das Sterben der Pythia und die Minotaurus- Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen und römischen
Ballade sind dafür gute Beispiele. Die Neubehandlun- Mythologie. Wien 1953.
gen zeichnen sich dadurch aus, dass neue Elemente Jachimowicz, Aneta: Modernität eines Mythos. Die Laby-
hinzugefügt werden (Sterben der Pythia: Verdop- rinthmetapher in Friedrich Dürrenmatts Ballade Mino-
taurus. In: Acta neophilologica 14 (2012), 235–245.
pelung, ja eventuell sogar Vervierfachung der Ödipus- Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie,
Figur; Minotaurus-Ballade: die Spiegelwände des La- Bd. 1–2. Reinbek bei Hamburg 1955.
byrinths) und alte deutlich verändert (Sterben der Py- Rusterholz, Peter: Durchgänge durchs Labyrinth. Minotau-
thia: Die Sphinx ist hier eine schöne Frau und Tochter rus, Der Auftrag, Durcheinandertal. In: Friedrich Dürren-
282 IV  Motive und Diskurse

matt: Die Entstehung des Spätwerks. In: Quarto 6 (1996), renmatt griechische Mythen wiederaufnahm und neu
92–103. erzählte. In: Silvio Vietta (Hg.): Moderne und Mythos.
Schmitz, Heinz: Oedipus bei Dürrenmatt. Zur Erzählung München 2006, 245–258.
Das Sterben der Pythia. In: Gymnasium 92 (1985), 199– Weber, Ulrich: Déconstruction du mythe d’Oedipe et tragé-
208. die du Minotaure. Friedrich Dürrenmatt et la mythologie
Schu, Sabine: »Minotaurus wollte unbewußt ein Mensch grecque. In: Andreas Dettwiler, Clairette Karakash (Hg.):
werden ...« – Friedrich Dürrenmatts kritische Adaption Mythe et Science. Lausanne 2003, 115–125.
des Minotaurus-Mythos. In: Amaltea 1 (2009), 227–242.
Spedicato, Eugenio: Mythisches Pech. Wozu Friedrich Dür- Heinz-Günther Nesselrath
74 Naturwissenschaften 283

74 Naturwissenschaften stantesten Überzeugungen, die er wohl von Teilhard


übernommen hat. Dieser Gedanke führt ihn von der
Die Aneignung naturwissenschaftlichen Wissens und Astronomie hin zur Biologie und schließlich zur Hirn-
die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen forschung. Dürrenmatt hält das menschliche Hirn für
Methoden ist in Dürrenmatts Werk seit Mitte der die komplexeste evolutionär je entstandene Struktur
1950er Jahre und bis zu seinem Tod in vielfältiger (vgl. G 4, 105). Dank des Hirns wird der Mensch fähig,
Weise präsent. Schon 1956 gibt er zu bedenken, »ob sich durch technische Prothesen und durch die ulti-
nicht die Form der heutigen Philosophie die Natur- mative Prothese des Hirns – den Computer – selbst zu
wissenschaft sei« (WA 32, 62), und in einem Gespräch überbieten. Von Turel hat Dürrenmatt gelernt, diese
im Jahr 1990 gesteht er: »[I]ch kann mir heute einfach demiurgische, prothesenbasierte Evolution des Men-
keinen Schriftsteller mehr vorstellen, der nicht von schen von der Evolution durch körperliche Spezialisie-
der Naturwissenschaft zutiefst aufgewühlt wäre« (G 4, rung und irreversible Hypertrophie-Bildung zu unter-
117). Von seinem intensiven Interesse zeugen zahlrei- scheiden, wie sie z. B. für Dinosaurier und Großsäuge-
che einschlägige Bände in seiner Bibliothek und präzi- tiere charakteristisch war (s. Kap. 82). Doch droht sich
se Markierungen und Randnotizen in einigen dieser die Prothesenwelt nun auch gegen den Menschen
Werke. selbst zu richten. In vielen Werken Dürrenmatts wer-
den Situationen aufgezeigt, in denen menschliche Kör-
per auf groteske und selbstzerstörerische Weise mit
Entwicklung des thematischen Interesses den Prothesen verschmelzen, statt sie auf Distanz zu
halten und gerade dadurch das Humane in seiner In-
Schon als Jugendlicher interessiert sich Dürrenmatt tegrität zu bewahren (s. Kap. 70).
für Astronomie, zeichnet Sternkarten und versucht, Die drohende Selbstvernichtung der Menschheit
Teleskope zu bauen (vgl. G 2, 337; WA 28, 21). Astro- durch Waffensysteme wie Atom- und Neutronenbom-
nomische Themen und Bilder sind in seinem Werk ben und durch die Vergiftung der Umwelt lassen Dür-
allgegenwärtig (vgl. Centre Dürrenmatt Neuchâtel renmatt in zunehmendem Maße an den Überlebens-
2017; s. Kap. 62). Physik und Mathematik scheinen chancen der Menschheit zweifeln: »Der wissenschaft-
den Schüler und Studenten hingegen nicht sonderlich liche Mensch gleicht einem, der alles über Krebs weiß
interessiert zu haben. Erst der mit viel Ulk und Weiß- und ihn hat. [...] Aber es gibt nichts Schwereres, als un-
wein verbundene Nachhilfeunterricht durch einen ser Wissen in unsere Existenz zu integrieren« (WA 18,
jungen Physiker kurz vor der Maturitätsprüfung 584 f.). Die emotionale Ausstattung des menschlichen
weckt das Interesse (vgl. WA 28, 205). Später, in einer Hirns sei hinter seiner kognitiven Kompetenz zurück-
wichtigen formativen Phase seines schriftstelleri- geblieben. Diesen Sachverhalt diagnostiziert Dürren-
schen Lebens, in der es ihm nach den ersten Theater- matt als »biologische Krise« (G 4, 115) und als »öko-
erfolgen darum geht, Distanz zum religiösen Existen- logische Katastrophe« (WA 18, 569) der Menschheit.
tialismus seiner Anfänge zu finden, liest und dis- Die ökokritische Sicht auf Wissenschaft und Tech-
kutiert er zusammen mit dem Naturwissenschaftler nik ist bei Dürrenmatt keine Modeerscheinung jünge-
Marc Eichelberg physikalische, mathematische und ren Datums. Er wurde schon früh auf ökologische
wissenschaftstheoretische Werke (Eichelberg 1994). Probleme aufmerksam, denn der Vater seines Freun-
Eichelberg bleibt bis in die letzten Lebensstunden des des Marc Eichelberg, Gustav Eichelberg (Professor für
Autors ein wichtiger Gesprächspartner und Berater Thermodynamik und Verbrennungsmotoren an der
in naturwissenschaftlichen Fragen (Eichelberg 1997). ETH Zürich), machte bereits 1932 auf die Verantwor-
Das kosmologische Wissen um die Sternentwicklung tung der Technik aufmerksam und kritisierte die »re-
und die Genese der schweren Elemente in Super- chenschaftslose Verschwendung der Erdölvorkom-
novae, das Dürrenmatt u. a. aus Schriften Arthur Ed- men und die leichtfertige Verseuchung von Wasser,
dingtons und Fred Hoyles bezieht, machen ihn emp- Luft und Boden« (Eichelberg 1997). Fritz Zwicky, den
fänglich für Evolutionstheorien, die er durch Schrif- Dürrenmatt 1959 persönlich traf, warnte in seinen
ten von Adrien Turel, Teilhard de Chardin, Arthur Schriften eindringlich vor der Verschmutzung der
Koestler, Hoimar von Ditfurth, Karl Popper, J. C. Umwelt und des Weltraums. In einem späten Ge-
Eccles und Gerhard Vollmer kennenlernt. spräch erinnert sich Dürrenmatt an den ökologischen
Dass die Evolution durch eine stete Zunahme der Klassiker Silent Springs von Rachel Carson, der »lange
Komplexität gekennzeichnet sei, ist eine seiner kon- vor den Physikern erschienen« sei (G 4, 68). Das ist

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_74
284 IV  Motive und Diskurse

chronologisch zwar nicht korrekt, denn beide Bücher zungen deduktiv, d. h. ›mathematisch‹, abgeleitet und
erschienen 1962; es weist aber darauf hin, dass in Dür- dann durch Experimente geprüft. Poppers Logik der
renmatts Erinnerung die kritische Auseinanderset- Forschung schlägt eine Rollenteilung von Hypothesen-
zung mit der Physik auch von ökologischen Einsich- bildung und Hypothesenprüfung vor, die Dürrenmatt
ten begleitet war. analog auf seine Poetologie überträgt. Wer aber prüft
die hypothetischen Strukturen eines Theaterstücks? In
letzter Instanz ist es das Publikum, denn das Publikum
Literarische Transposition entscheidet darüber, ob sich das vorgeschlagene Mo-
dell sinnvoll auf seine Wirklichkeit beziehen lässt oder
In der Forschung wird öfter betont, Dürrenmatts Aus- nicht. Dürrenmatts Dramaturgie ist eine Wirkungs-
einandersetzung mit den Naturwissenschaften sei ein ästhetik: »Ohne Vertrauen ins Publikum ist keine Dra-
Gegenbeispiel zu der von C. P. Snow aufgestellten The- matik möglich« (WA 6, 159; vgl. dazu Käser 2007). Wie
se der Nicht-Kommunikation zwischen den ›zwei Kul- mit dem hypothetischen Modellcharakter der Dürren-
turen‹ der Natur- und der Geisteswissenschaften (vgl. mattschen Gesellschaftsdarstellungen wirkungsästhe-
Bellwinkel 1995, 245; Rüedi 2011, 624). Allerdings sagt tisch umzugehen sei, hat Patricia Käppeli 2013 auf-
diese allgemeine Positionierung wenig aus über die gezeigt.
spezifische Form und Relevanz der künstlerischen An-
eignung naturwissenschaftlicher Denkmuster bei
Dürrenmatt. Allzu oft wird die These Jürgen Haber- Subjektive Verdichtungen
mas’ wiederholt, wonach es die Folgen der Naturwis-
senschaft und nicht diese selbst seien, die Literaten Dürrenmatt hat stets betont, seine Auseinanderset-
zum Schreiben drängten (vgl. Habermas 1968, 82 f.). zung mit den Naturwissenschaften erfolge aus der
An dieser These ist Dürrenmatt nicht ganz unschuldig, Perspektive des Laien. Diese Sicht scheint ihm aus
schrieb er doch in den 21 Punkten zu den ›Physikern‹: zwei Gründen wichtig: Einerseits habe sich die Natur-
»Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Aus- wissenschaft durch die unausweichliche Mathemati-
wirkungen alle Menschen« (WA 7, 92). Dem ist jedoch sierung ihrer Darstellungsform der sinnlichen Unmit-
ein Satz an die Seite zu stellen, den Dürrenmatt ein telbarkeit und damit weitgehend dem Verständnis der
Jahr vor den Physikern äußerte: »An der modernen meisten Menschen entzogen und laufe Gefahr, zur
Naturwissenschaft interessiert mich vor allem die Geheimwissenschaft zu werden (vgl. WA 32, 61 f.). In
Konsequenz der Erkenntnistheorie [...]. An der Physik ihrer Spezialisierung sei sie andererseits den »Raubzü-
interessiert mich weniger, was sie aussagt, das Resultat, gen der Techniker und der Ideologen ausgeliefert«
als die Art, wie sie die Natur befragt« (G 1, 101 f.). In (WA 33, 150). Deshalb sei es die Aufgabe des Schrift-
Standortbestimmung (1960) unterscheidet er zwischen stellers, sich von der Bildlosigkeit der modernen wis-
einer »naturwissenschaftlichen« und einer »mathe- senschaftlichen Welt ein eigenes, wenn auch laienhaf-
matischen« Methode, die Welt dramatisch darzustel- tes Bild zu machen. Solche symbolischen Kondensate
len (WA 6, 156). In einem Gespräch erläutert er diesen seiner Begegnung mit den Naturwissenschaften hat
Ansatz: »Wenn die Mathematiker und Physiker die Dürrenmatt für alle ihn interessierenden Bereiche ge-
Natur befragen, so tun sie es immer nur auf einem Teil- schaffen: Im Vortrag Kunst und Wissenschaft stellt er
gebiet. Sie stellen dazu heute immer öfter Arbeitshypo- seinen Besuch des astronomischen Observatoriums
thesen auf, die sich experimentell bejahen oder vernei- auf Mount Palomar dar (WA 36, 91), im Nachwort
nen lassen. [...] Ich schaffe mir, ähnlich wie der Physi- zum Mitmacher denjenigen des Forschungszentrums
ker, Modelle von möglichen menschlichen Beziehun- CERN bei Genf (WA 14, 111 f.). Eine Samenbank für
gen. [...] Diese Modelle sind gleichzeitig auch meine die Rindviehzucht wird in der Erzählung Vallon de
›Hypothesen‹, meine Methode, im wissenschaftlichen l’Ermitage zum real existierenden Gleichnis für Bio-
Zeitalter [...] bestimmte Phänomene der ›mensch- technologie und für die damit einhergehende Entmy-
lichen Natur‹ zu veranschaulichen« (G 1, 102 f.). Diese thologisierung des Minotaurus im »technischen Bul-
Poetologie entspricht Karl Poppers Logik der For- lenpuff« (WA 36, 13). In derselben Erzählung entdeckt
schung. Arbeitshypothesen werden nach dieser Auffas- Dürrenmatt mit ökokritischem Blick eine Mülldepo-
sung nicht durch beschreibende Abbildung gewonnen, nie in unmittelbarer Nähe seines Wohnortes: »Es war,
nicht durch induktive Verallgemeinerungen, sondern als ob ein Dinosaurier an Durchfall litte: Die Scheiße
sie werden aus Theorien und deren axiomatischen Set- prasselte in einen schwarzen öligen See, besät mit
74 Naturwissenschaften 285

Plastikflaschen. Eine merkwürdige Andacht hatte sich Komplementarität des literarischen und des bildneri-
über die Männer gesenkt. Der Anblick war allen ge- schen Werks angemessen zu berücksichtigen (Centre
nierlich« (WA 36, 53). Dürrenmatt geht es in diesen Dürrenmatt Neuchâtel 2017).
Texten nicht um wissenschaftliche Objektivität; es ge-
lingt ihm vielmehr, die menschliche Situation ange- Literatur
Primärtexte, Quellen
sichts der Möglichkeiten und der Folgen moderner Eichelberg, Marc: Brief an Jürgen Meyer, 12.1997 (keine
Naturwissenschaften seismografisch aufzuzeichnen. genaue Datierung). Unv. Kopie im Schweizerischen Lite-
raturarchiv.
Privatbibliothek Friedrich Dürrenmatt, Centre Dürrenmatt
Stand der Forschung Neuchâtel. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-
FD-D-01.
Es hat lange gedauert, bis die von Dürrenmatt ge- Sekundärliteratur
nannte erkenntnistheoretische Dimension seiner Bellwinkel, Hans Wolfgang: Dürrenmatt und die Naturwis-
Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften senschaften. In: Gesnerus 52 (1995), 209–246.
ernst genommen wurde. Eichelberg (1994) nennt Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Phantasie der Wissen-
zwar eine Reihe mathematischer und naturwissen- schaften. L ’ imaginaire des sciences. Neuchâtel 2017
(Cahier 15).
schaftlicher Buchtitel, die Dürrenmatt und er ge-
Eichelberg, Marc: F. D. und die Naturwissenschaften. In:
meinsam gelesen haben, gibt aber nur spärliche Hin- Schweizerisches Literaturarchiv Bern/Kunsthaus Zürich
weise auf die Auswirkungen im Werk des Autors. (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler.
Bellwinkel (1995) stellt eine kursorische Bestandsauf- Bern, Zürich 1994, 225–227.
nahme naturwissenschaftlicher Themen bei Dürren- Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Berlin
matt dar, blendet aber die für Dürrenmatt spezifi- 1995, 218–270.
Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als Ideologie.
schen Kontexte und Perspektiven weitgehend aus Frankfurt a. M. 1968.
und bemüht sich in etwas besserwisserischem Gestus Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
um inhaltliche Korrekturen. Die erste bis heute maß- matt. Köln u. a. 2013.
gebende Studie zur erkenntnistheoretischen Dimen- Käser, Rudolf: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche
sion der Aneignung quantenphysikalischen Denkens Auge«. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungs-
feld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In:
bei Dürrenmatt stammt von Elisabeth Emter (1995).
Text + Kritik 50/51 (2003), 167–182.
1996 erschien die nach wie vor lesenswerte Disserta- Käser, Rudolf: Friedrich Dürrenmatt. Auf der Suche nach
tion von Thomas Wünsche, die aufzeigt, wie Dürren- dem verlorenen Publikum (2007). In: http://www.
matt das subjektive Denken Kierkegaards und das ob- rudolfkaeser.ch/080102 %20Vortrag%20Z%C3 %BCrich.
jektive Denken Poppers komplementär, gleichsam pdf (4.3.2020).
stereoskopisch, zu einer Synthese zu bringen versucht Käser, Rudolf: Schmökern (engl. to browse) in Friedrich
Dürrenmatts Schlafzimmer-Bibliothek. Ein Testlauf. In:
(s. Kap. 75). Unter dem Titel Phantasie der Wissen- Quarto 30/31 (2010), 156–161.
schaften veranstaltete das Centre Dürrenmatt in Neu- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
châtel im Jahr 2017 eine Ausstellung mit Begleitpubli- Biographie. Zürich 2011.
kation, die es unternahm, den thematisch facettenrei- Wünsche, Thomas: Dürrenmatts stereoskopisches Denken:
chen, sowohl auf Folgen wie auf die Denkmethoden die Erkenntniskritik oder der »Versuch zu einem Grund-
riss«. Unv. Diss. Hannover 1996.
bezogenen Umgang Dürrenmatts mit den Naturwis-
senschaften darzustellen und dabei erstmals auch die Rudolf Käser
286 IV Motive und Diskurse

75 Philosophie Rusterholz (1995) leitet einen Paradigmenwechsel


in der Dürrenmatt-Forschung ein, indem er nicht
Friedrich Dürrenmatt hat an der Universität Bern fünf mehr nach der Übernahme bestimmter theologisch-
Semester Philosophie studiert. Als Student von Ri- philosophischer Inhalte fragt, sondern die Bedeutung
chard Herbertz entwickelte er Ideen zu einem Disser- der sprachtheoretischen Reflexionen Kierkegaards
tationsprojekt zum Thema Kierkegaard und das Tragi- (und Barths) für die Funktion der literarischen For-
sche (vgl. WA 29, 125), das allerdings nie realisiert men und Mitteilungsweisen untersucht. Das Konzept
wurde. »Mein Philosophiestudium wurde zur Brut- der ›indirekten Mitteilung‹, wie Kierkegaard es in der
stätte meiner Schriftstellerei, und als ich es aufgab, gab Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu
ich es nicht auf«, schreibt er in Das Haus (WA 29, 131). den Philosophischen Brocken darstellt, ist seither als
Schon während seines Studiums setzte sich Dürren- wichtige Voraussetzung für Dürrenmatts Schaffen er-
matt mit Platons Höhlengleichnis auseinander. Dieser kannt. Mingels (2003) untersucht die zentrale Stellung
Text wirkt in vielen seiner Werke nach, von der frühen des Einzelnen als Denkform bei Kierkegaard und Dür-
Erzählung Die Stadt bis zum späten Winterkrieg in Ti- renmatt. Sie zeigt zudem die formalen und stilistischen
bet; es steht für ihn exemplarisch ein für die Vieldeu- Merkmale literarisch-indirekter Mitteilung auf: »Kei-
tigkeit literarisch gleichnishafter Darstellungsformen ne unanschauliche Theorie, sondern der Standpunkt
(vgl. 129 f.). Ab Beginn der 1970er Jahre vertiefte Dür- eines einzelnen Menschen, dessen Existenz sich be-
renmatt sein philosophisches Fundament durch die ständig in seinem Denken spiegelt und dieses als Kor-
(Re-)Lektüre von Platon, Spinoza, Kant, Schopenhau- relat eines je spezifischen Seins relativiert, begegnet
er, Hegel, Kierkegaard, Marx, Nietzsche, Freud, Pop- dem Rezipienten« (Mingels 2003, 302). Dies führt in
per und weiteren Autoren – eine Lektüre, die vielfälti- Dürrenmatts Komödien zu einer Form der Personen-
ge Spuren in seinem Spätwerk hinterließ. Seine Denk- darstellung, »die nicht mehr überzeugen, sondern nur
wege umkreisen dabei immer wieder die Polarität von noch anstoßen – wo nicht gar abstoßen – will« (ebd.,
Freiheit und Gerechtigkeit, die er ethisch und polito- 303). Dies ist der Grund dafür, dass das Publikum sich
logisch beleuchtet. Zwei Selbstaussagen des Autors mit (fast) keiner seiner Figuren restlos und ohne Am-
haben sich als wegweisend für die Dürrenmatt-For- bivalenz identifizieren kann und soll. Als Dürrenmatt
schung erwiesen: »Ohne Kierkegaard bin ich als 1973 mit seinem Drama Der Mitmacher bei der Thea-
Schriftsteller nicht zu verstehen« und »ich bin dem terkritik durchfiel, bezog er sich wieder auf Kierke-
Denkimpuls nach Erkenntnistheoretiker geblieben« gaard. Im Nachwort zum Mitmacher entwirft er die
(124 f.). Theorie des ›ironischen Helden‹ (vgl. WA 14, 202).
Dieses Konzept markiert seinen Übergang zum (auto-
biografischen) Erzählen. Weber (2007, 168 u. 234)
Kierkegaard spricht zutreffend von einer Ȇbertragung des Kon-
zepts des ›ironischen Helden‹ auf den Ich-Erzähler«.
Die Bedeutung Kierkegaards für Dürrenmatt wurde
eingehend untersucht. Aufgrund seiner frühen Dra-
men Es steht geschrieben und Der Blinde ist er zu- Erkenntnistheorie 1: Kant und Vaihinger
nächst als christlicher Existentialist wahrgenommen
worden. Kein geringerer als der Theologe Karl Barth Dürrenmatt argumentiert, Kierkegaards paradoxe
hat ihn so verstanden (vgl. Rüedi 2011, 312–314). Von Konzeption des Glaubens schließe unmittelbar an
Kierkegaard hat Dürrenmatt den Begriff der ›Positi- Kants Kritik der reinen Vernunft an. Denn Kant
on‹ übernommen (vgl. WA 29, 125). Diese ergibt sich »trennt Wissen und Glauben scharf voneinander«
nach Kierkegaard, wenn ein Einzelner in seinem (WA 29, 123), und er »mauerte den Ausgang des Laby-
Denken und Leben die einer Idee entsprechende ›Be- rinths zu«, es gibt nur den ›Sprung über die Mauer‹,
wegung‹ zu vollziehen versucht, z. B. die ethische Ent- »den Glauben, das Paradox Kierkegaards« (124). Es
scheidung oder den Sprung in den Glauben. Schon in gebe bei Kant »nur ›Menschliches‹ über das Objekt
seinen frühen Werken wird deutlich, dass es Dürren- auszusagen«; das ›Ding an sich‹ sei ein »Gedachtes
matt darum geht, die radikalen Konsequenzen be- [...], wovon der Gedanke zurückgeworfen, reflektiert
stimmter religiöser ›Positionen‹ literarisch zu erkun- wird [...] auf den, der ihn denkt« (123). Dürrenmatt
den und damit auch eine diagnostische Distanz zu findet diese subjektivistische Sicht der kantischen Er-
diesen herzustellen. kenntnistheorie bestätigt durch die Philosophie des Als

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_75
75 Philosophie 287

Ob von Hans Vaihinger (vgl. Burkart 2004). Auf des- matt vor allem die Einsicht, dass die Natur nicht
sen Grundfrage, wie es denn komme, dass wir mit durchgehend determiniert ist, sondern im Einzelnen
»Fiktionen«, d. h. »mit bewußt falschen Vorstellun- den Zufall zulässt, so dass Naturgesetze nur statisti-
gen doch Richtiges erreichen« (WA 30, 210), spielt sche Geltung beanspruchen können. Im Anschluss
Dürrenmatt immer wieder an, z. B. auch in seiner daran entwickelt Dürrenmatt in Sätze über das Theater
Laudatio für Michail Gorbatschow (vgl. WA 36, 196). (1970) sein eigenwilliges Wirklichkeitsverständnis:
Im posthum publizierten Essay Kabbala der Physik »[D]ie Wirklichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit, die
schreibt er in Bezug auf Modellvorstellungen der eingetreten ist. [...] [S]o möchte ich die Aufgabe des
Quantenmechanik ganz im Sinne Vaihingers: » [W]as Dramatikers dahin definieren, daß er beschreibt, was
zurückbleibt sind die Hilfsbilder« (WA 37, 143). Die wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich unwahr-
Quelle aller Fiktionen sieht er mit Vaihinger in der scheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen würde«
»Einbildungskraft«. Zwar besteht Dürrenmatt darauf, (WA 30, 205 u. 207). Emter (1995, 263) weist darauf
der naturwissenschaftliche Weg eines »Denkens in hin, dass der Gegensatz von Wahrscheinlichkeit resp.
Begriffen« sei klar zu unterscheiden vom religiösen Unwahrscheinlichkeit, den Dürrenmatt hier ansetzt,
(und literarischen) »Denken in Mythen« (WA 29, in der Quantenphysik und in der mathematischen
195), doch entspringen beide Äste menschlicher Krea- Statistik so nicht verwendet wird. Man spricht dort
tivität demselben Stamm. von ›Wahrscheinlichkeitsgraden‹. Dürrenmatts Insis-
tieren auf dem Konzept der Unwahrscheinlichkeit in-
terpretiert sie so, dass der Autor nicht an der statisti-
Erkenntnistheorie 2: Einstein, Heisenberg, schen Verteilung in Mengen interessiert sei, sondern
Eddington literarisch vom Einzelfall her denke. Damit erhält die
Auseinandersetzung mit der Wahrscheinlichkeit bei
In seiner Rede Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit Dürrenmatt eine subjektive Färbung. Das Unwahr-
gibt Dürrenmatt schon 1956 zu bedenken, »ob es scheinliche kann zwar eintreffen, es ist nicht unmög-
nicht einfach so sei, daß wir bei Einstein oder Heisen- lich, aber es ist subjektiv gesehen das Unerwartete.
berg die Ansätze einer neuen Philosophie finden und Das Unerwartete kann zwei gegensätzliche Werte an-
nicht bei Heidegger« (WA 32, 62). Bedeutsam wurden nehmen: Es ist das Seltene und damit auch das Wert-
für ihn vor allem die erkenntnistheoretischen Kon- volle, die Chance, so z. B. die Entstehung des Lebens
sequenzen der Quantentheorie in ihrer Kopenhage- auf der Erde. Umgekehrt ist das Zufällige aber auch
ner Interpretation, die er sich durch die Vermittlung das Unberechenbare und damit Zerstörerische: die
Arthur Eddingtons aneignet (vgl. Emter 1995). Dür- ›schlimmstmögliche Wendung‹. Diese Auffassung ist
renmatt bezieht sich wiederholt auf dessen »genia- kompatibel mit den Analysen von Adams (2011), der
lische Philosophie der Naturwissenschaft« (WA 33, Dürrenmatts Umgang mit dem Wahrscheinlichkeits-
127). Ausgehend von der Tatsache, dass in der Quan- begriff als »epistemologisch«, d. h. nicht »objektiv«
tenphysik Licht nur in den komplementären Erschei- charakterisiert. Er argumentiert, dieser lasse sich am
nungsweisen als Welle und als Korpuskel modelliert besten im Kontext komplexitätstheoretischer und
werden kann und dass dies von der Art und Weise ab- chaostheoretischer Überlegungen verstehen, nämlich
hängt, wie Licht beobachtet wird, zieht Eddington die als Ausdruck der von Dürrenmatt diagnostizierten
erkenntnistheoretische Konsequenz, die Physik bezie- »Unberechenbarkeit« der Welt (ebd., 307–311). Dabei
he sich nicht auf die Sache selbst, sondern auf das bleibt allerdings die Frage offen, inwieweit Dürren-
menschliche Wissen von ihr. Fortschritte in den Na- matt mit den einschlägigen Werken der Chaostheorie
turwissenschaften seien deshalb nur zu erwarten, und der Selbstorganisation der Materie vertraut war.
wenn man konsequent den Beobachter selber be-
obachte. Eddington nennt diese erkenntnistheoreti-
sche Position ›selektiven Subjektivismus‹ (vgl. Ed- Politische Philosophie: Popper
dington: Philosophie der Naturwissenschaft, Kap. 2,
28–41). Dürrenmatt hat sich dieses Konzept der Be- Dürrenmatt nennt Karl Popper einen Philosophen,
obachtung des Beobachters angeeignet, wie Emter der »für mich wichtig« war (Über Toleranz; WA 33,
(1995) belegt, und er hat es literarisch umgesetzt z. B. 127). Allerdings ist er für ihn eher als politischer denn
in der Erzählung Der Auftrag. Von Heisenbergs Inter- als erkenntnistheoretischer Denker relevant gewor-
pretation der Quantenmechanik übernimmt Dürren- den. Dürrenmatt plädiert mit Popper dafür, politische
288 IV  Motive und Diskurse

Theorien als Arbeitshypothesen aufzufassen und so- griff auf die Lesespuren, die neuerdings durch die
ziale Institutionen nicht emotional zu besetzen, son- Archivdatenbank HelveticArchives online zugänglich
dern sie kritisch auf ihre Funktionalität hin zu prüfen sind. Trotz dieser Einschränkung gelingt es Wünsche
und stetig zu verbessern, ganz im Sinne der »Stück- aufzuzeigen, dass es dem ›Gedankenschlosser‹ Dür-
werk-Sozialtechnik« (Käppeli 2013, 139). Poppers renmatt gelungen sei, die in der Folge von Kants Er-
Kritik an den Feinden der ›offenen Gesellschaft‹ – an kenntniskritik auseinanderfallenden Gegensätze von
Plato, Hegel und Marx – ist für Dürrenmatts Vor- objektivem und subjektivem Denken, von positivisti-
behalt gegen jede Form politischer Ideologie maß- scher Wissenschaft und subjektivem Glauben, so zu
gebend, auch wenn er anmahnt, Popper sollte »Die of- »verschweißen« (Wünsche 1996, 421), dass das Abso-
fene Gesellschaft und ihre Feinde mit einer Schrift ›Die lutsetzen des einen oder des anderen Pols vermieden
offene Gesellschaft und ihre Folgen‹ ergänzen« (WA und die ständige dynamische Kontrolle der einen Per-
33, 127). Dürrenmatt hat in seinen Komödien des Öf- spektive durch die andere ermöglicht wird (vgl. ebd.,
tern versucht, diese Folgen modellhaft und kritisch 97). Wünsche bezeichnet diese Denkstrategie mit ei-
aufzuzeigen. Hier müsste die Forschung anknüpfen, ner einprägsamen Metapher als »Dürrenmatts stereo-
um den Hinweis Webers (2006, 131) umzusetzen, skopisches Denken«.
»dass Dürrenmatt vor allem auch ein Dramatiker der
Institutionen und ihrer Funktionsweisen war«. In die- Literatur
Primärtexte
se Richtung hat Käppeli 2013 innovative Schritte ge- Das Haus. In: WA 29, 113–187.
tan. Dürrenmatts selektive Aneignung der Philoso- Kabbala der Physik. In: WA 37, 136–144.
phie Poppers ist allerdings noch nicht abschließend Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: WA 32, 60–69.
geklärt. Ein Hinweis auf die Problemlage ergibt sich Über Toleranz. In: WA 33, 125–149.
aus der Beobachtung, dass Dürrenmatt am Ende sei-
ner Rede Über Toleranz (1977) angibt, Poppers Buch Sekundärliteratur
Adams, Dale: Die Konfrontation von Denken und Wirklich-
Objektive Erkenntnis (1973) rezipiert zu haben. Liest keit. Die Rolle und Bedeutung der Mathematik bei Robert
man diese Essaysammlung Poppers, fällt jedoch des- Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt.
sen scharfe Ablehnung des subjektiven Wahrschein- St. Ingbert 2011.
lichkeitsbegriffs auf, an dem Dürrenmatt seinerseits Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
festgehalten hat. Transformation der Erkenntnistheorie Kants und Vaihin-
gers im Spätwerk. Tübingen 2004.
Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Berlin
1995.
Dürrenmatts Synthese von subjektivem und Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
objektivem Denken matt. Köln 2013.
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
Wünsche (1996) fasst nach dem Tod des Autors erst- gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln
2003.
mals das Gesamtwerk ins Auge und rekonstruiert die Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
problemgeschichtlichen Zusammenhänge der Er- Biographie. Zürich 2011.
kenntnistheorie von den frühen, noch während des Rusterholz, Peter: Theologische und philosophische Denk-
Philosophiestudiums entstandenen Prosatexten (z. B. formen und ihre Funktion für die Interpretation und
Die Stadt) bis zur letzten, erst posthum publizierten Wertung von Texten Friedrich Dürrenmatts. In: Claudia
Brinker (Hg.): Contemplata aliis tradere. Studien zum
Erzählung Der Versuch. Der Nachweis dieser Kon-
Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Frankfurt a. M.
tinuität stellt zumindest teilweise Webers These von 1995, 473–489.
einer »erkenntnistheoretischen Wende« in Dürren- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
matts Spätwerk (Weber 2007, 158) in Frage. Zudem Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
berücksichtigt Wünsche bei seiner Rekonstruktion Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
der Denkwege Dürrenmatts erstmals die Bibliothek der Mitmacher-Krise. Frankfurt a. M. 2007.
Wünsche, Thomas: Dürrenmatts stereoskopisches Denken.
des Autors, die zahlreiche Texte zur Philosophie der Die Erkenntniskritik oder der »Versuch zu einem Grund-
modernen Naturwissenschaften enthält. Wünsche riß«. Unv. Diss. Hannover 1996.
kennt diese Bestände allerdings erst durch eine nicht
ganz vollständige Titelliste und hat noch keinen Zu- Rudolf Käser
76 Politik 289

76 Politik damit auf eine naturwissenschaftliche Entwicklung,


die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu tiefgreifenden
»Politik findet der bei mir überall, der Veränderungen führt. Die Statistik, die bereits in der
politisch denkt« klassischen Physik bei der Thermodynamik genutzt
wird, übernimmt in der frühen Quantenmechanik ei-
Friedrich Dürrenmatt äußert diesen Satz  1985 in ei- ne entscheidende Funktion. Denn diese wendet sich
nem Gespräch mit Fritz J. Raddatz (G 3, 216). Bereits von einer vollständigen, minuziösen Berechenbarkeit
acht Jahre zuvor gibt er in einem Interview zu verste- der Welt ab, wie sie u. a. von der Newtonschen Mecha-
hen: »Ich schreibe auch an einer längeren politischen nik in der klassischen Physik propagiert wird.
Sache [...]: Ich versuche, das politische Geschehen vom In diesen Erkenntnissen findet sich nun eine Ana-
Gesetz der großen Zahl her zu verstehen« (G 2, 220). logie zu Dürrenmatts zentraler soziopolitischer Prä-
Obwohl sich Dürrenmatt oft und pointiert zur Poli- misse und zu seinem systemischen Denken. Interes-
tik geäußert hat, beurteilten Kritik und Forschung ihn siert an der Berechenbarkeit von Gesellschaftssyste-
und sein Werk meist vorschnell als apolitisch (vgl. men sowie der Möglichkeit von sozialem Wandel, eig-
ebd., 166 f.). Faktisch aber war er ein durchaus enga- net er sich das Gesetz der großen Zahlen als Gleichnis
gierter Schriftsteller, der zeitlebens in politische De- für Systemdynamiken der Moderne an. Interessanter-
batten eingriff (vgl. Göbel 2008, 54): Er äußerte sich weise folgt er mit diesem eigenwilligen Ansatz weder
u. a. zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg, zur Neutrali- ausschließlich der in der Zeit nach dem Zweiten Welt-
tät oder zum Frauenstimmrecht (vgl. G 1, 252–268), krieg aufkommenden Kybernetik, die sich vor allem
bezog aber auch zu internationalen Themen Stellung, auf die Steuerung und Regelung von Systemen kon-
etwa dem Prager Frühling, dem Kalten Krieg oder zur zentriert, noch dem wieder aufblühenden Existentia-
Israel-Frage (vgl. WA 34, 35–42 u. 123–125; WA 36, lismus, der vorwiegend auf das Individuum fokussiert
175–188 u. 189–209). (vgl. Käppeli 2013, 11–19).
Die Schwierigkeit, sich dem politischen Denker
Dürrenmatt zu nähern, dürfte verschiedene Gründe
haben: seine lebenslange Weigerung, einer Partei bei- Das Gesetz der großen Zahlen im essay-
zutreten (vgl. G 2, 274), das Problem, ihn auf eine kla- istischen Werk
re Position zu fixieren (vgl. WA 14, 325 f.), sein kurzes
Engagement in einer frontistischen Jugendorganisati- Dürrenmatts Auseinandersetzung mit dem Gesetz
on 1941 (vgl. WA 28, 188 f.; Rüedi 2011, 130–139) so- der großen Zahlen findet im essayistischen Werk über
wie sein komplexer Ansatz, sich ab den 1950er Jahren Jahrzehnte statt. Sie beginnt 1956 mit dem Essay Vom
das mathematische Gesetz der großen Zahlen (von Sinn der Dichtung in unserer Zeit und wird in verschie-
ihm lange »Gesetz der großen Zahl« genannt) als Ba- denen Aufsätzen, Interviews und Reden in den 1960er
sis für die gesellschaftspolitischen Reflexionen an- und 1970er Jahren weiterentwickelt. Die letzte Be-
zueignen. schäftigung erfolgt 1981 in den Stoffen (vgl. Käppeli
Das Gesetz der großen Zahlen wurde von Jakob I. 2013, 86–93). Die zentrale Stelle, um Dürrenmatts
Bernoulli entdeckt und 1713 im Werk Ars Conjectandi Aneignung zu verstehen, findet sich im Essay Über-
erstmals veröffentlicht. Es eignet sich zur Berechnung legungen zum Gesetz der großen Zahl (1976/77): »Wie
von Massenphänomenen und kommt z. B. in der in der Thermodynamik gewisse Gesetze erst auftreten,
Thermodynamik zur Anwendung. Verkürzt ausge­ wenn ›sehr viele‹ Moleküle beteiligt sind [...] – wäh-
drückt besagt es, dass etwa über das Verhalten einer rend die Bewegungen der einzelnen Moleküle dem
größeren Anzahl von Gasmolekülen statistische Aus- Zufall unterworfen sind –, so werden gewisse Gesetze
sagen gemacht werden können, während das Verhal- erst bei ›sehr vielen‹ Menschen wirksam [...], etwa je-
ten einzelner Gasmoleküle unberechenbar bleibt. Das nes des Primats der Gerechtigkeit vor der Freiheit«
Gesetz etabliert sich in der Folge auch in der Quanten- (WA 33, 108).
physik sowie in den Wirtschafts- und den Sozialwis- Das Bevölkerungswachstum führt Dürrenmatt nun
senschaften. dazu, das Gesetz der großen Zahlen auf die Gesell-
Wie kommt Dürrenmatt dazu, in seinem soziopoli- schaft zu übertragen. Um die Übertragung zu verste-
tischen Diskurs ein Gesetz aus der Statistik mit ther- hen, muss auf den Monstervortrag über Gerechtigkeit
modynamischen, quantenphysikalischen und gesell- und Recht (1969) zurückgegriffen werden. In diesem
schaftspolitischen Aspekten zu verbinden? Er reagiert Essay führt er den »Doppelbegriff« (WA 33, 56) des

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_76
290 IV  Motive und Diskurse

Menschen ein, der durch die Dualität von Individuum (1956), stellt er das Volk als berechenbar dar. Im noch
und Allgemeinheit bestimmt ist. Dürrenmatt trans- wenig komplexen Gesellschaftssystem der Komödie
feriert das Gesetz auf das Individuum (Einzelatom), kann die Figur Claire Zachanassian ihre Pläne pro-
welches sich unberechenbar verhält und nach Freiheit blemlos umsetzen und den sozialen Wandel vollstän-
strebt, sowie auf das Gesellschaftssystem (große Menge dig steuern. Der unberechenbare Einzelne Ill versucht
an Gasmolekülen), das statistisch berechenbar ist und erst, sich gegen Zachanassians Pläne zu wehren, muss
nach Gerechtigkeit strebt. Dadurch gelingt es ihm, zwei aber realisieren, dass das Milliardenversprechen die
zentrale Ideen der Politik – Freiheit und Gerechtigkeit Güllener korrumpiert hat und seine Opposition er-
– in die Reflexionen zu integrieren (vgl. v. a. 56–58) folglos bleibt. Nach anfänglichem Widerstand fügt er
Dürrenmatt überträgt das Gesetz ursprünglich eins sich ins Unvermeidliche, weigert sich aber bis zuletzt,
zu eins in seine gesellschaftspolitischen Überlegun- das korrupte System zu unterstützen. In Der Mit-
gen. Das exponentielle Bevölkerungswachstum führt macher (1973) führt die verstärkte Undurchschaubar-
ihn jedoch dazu, immer stärker auch das Überschrei- keit des Gesellschaftssystems hingegen dazu, dass die
ten von kritischen Grenzen und dessen Folgen für die Figur Boss die Systemdynamiken nicht mehr vollstän-
Steuerung von Systemen zu reflektieren. Dies zeigt dig lenken kann, die Berechenbarkeit der Menschen
sich bspw. im Jahr 1966. Dürrenmatt bezeichnet die eingeschränkt ist und seine Pläne nicht mehr auf-
systemischen Bedingungen während des Kalten Krie- gehen. Auch in Bezug auf den unberechenbaren Ein-
ges als »Staatsmaschinerie im Osten und im Westen« zelnen ist eine Veränderung festzustellen: Cop kämpft
(G 1, 275), die kaum zu überblicken und daher nur aktiv gegen die große Korruption an, vermag das Sys-
schwer zu steuern seien (vgl. ebd., 275 f.). tem letztlich aber nur geringfügig zu stören, bevor er
Dürrenmatts politscher Diskurs beschränkt sich ermordet wird (vgl. Käppeli 2013, 197–200).
aber nicht auf die Analyse von modernen Systemdy- Es gibt allerdings beträchtliche Unterschiede zwi-
namiken; er äußert sich auch zu deren Ausgestal- schen Dürrenmatts soziopolitischen Reflexionen im
tung, indem er bspw. darüber reflektiert, wie die im essayistischen und im dramatischen Werk, die sich in
Kalten Krieg vorherrschenden Wirtschaftsordnun- der Ausgestaltung der theatralischen Gesellschaftssys-
gen des Kommunismus und des Kapitalismus zu teme manifestieren. In den Komödien werden dem
überwinden sind. Angesichts der stark ansteigenden Zuschauer vorwiegend systemische Schreckensszena-
Weltbevölkerung kommt er zur Einsicht, dass die rien präsentiert, die »schlimmstmögliche Wendung«
Gerechtigkeit bedeutender wird als die Freiheit. Er (WA 7, 91) tritt ein. In Der Besuch der alten Dame
konstatiert: »[D]as Gesetz der großen Zahl fordert bspw. führen die durchgehende Käuflichkeit der Men-
den Sozialstaat. Er ist auch bei uns nicht zu umge- schen sowie die fehlenden Oppositionsmöglichkeiten
hen« (WA 33, 118 f.). Allerdings präzisiert er, dass zur Instabilität der demokratischen Strukturen. In Der
diesem ›Mehr‹ an Staat als notwendige Gegenbewe- Mitmacher führen die durchgehende Korruption so-
gung stets ein ›Mehr‹ an Demokratie entgegengesetzt wie das radikale kapitalistische Gewinnstreben dazu,
werden muss (vgl. 121). dass ein mafiöses Geflecht entsteht, das die demokra-
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Verhinderung tischen Strukturen außer Kraft setzt.
starrer ideologischer Systeme (vgl. WA 33, 93; WA 33, Dürrenmatts Reflexionen über Politik und Gesell-
146 f.). Deshalb plädiert er in Anlehnung an Karl Pop- schaft haben somit je nach Medium verschiedene
per dafür, ein naturwissenschaftliches, kritisches Funktionen. Im essayistischen Werk geht es Dürren-
Denken in die Politik zu übertragen, in der Hoffnung, matt vorwiegend darum, soziopolitische Überzeu-
dass dadurch schrittweise gerechtere Institutionen gungen und Notwendigkeiten zu vermitteln. In den
aufgebaut werden können (vgl. 147). Theaterstücken hingegen werden diese Einstellungen
zu Politik und Gesellschaft in fiktive Gegenwelten
übertragen und in Extremsituationen modellhaft
Literarische Aneignungen und Bruchstellen durchgespielt. Sie können aus diesem Grund als War-
zwischen Essay und Literatur nung interpretiert werden.
Dies zeigt sich auch in Dürrenmatts letzter Aus-
Eine Analyse des dramatischen Werks zeigt, dass Dür- einandersetzung mit dem Gesetz der großen Zahlen
renmatt das Gesetz der großen Zahlen anfänglich in Der Winterkrieg in Tibet (1981). Die Erzählung, die
ebenfalls eins zu eins überträgt. In den früh verfassten sich in Dürrenmatts autobiografischem Werk Stoffe
Theaterstücken, z. B. in Der Besuch der alten Dame findet, nimmt eine Art Scharnierfunktion zwischen
76 Politik 291

dem essayistischen und dramatischen Werk ein. Der Labyrinth. Stoffe I–III. In: WA 28, 11–207.
prophezeite Dritte Weltkrieg (vgl. WA 28, 101 f. u. Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem
114) kann ebenfalls als soziopolitische Extremsituati- helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der
Politik. In: WA 33, 36–107.
on betrachtet werden, die als Warnmodell funktio- Nachwort zum Nachwort. In: WA 14, 223–328.
niert (vgl. Käppeli 2013, 115–125 u. 257–264). Die Schweiz – ein Gefängnis. Rede auf Vaclav Havel. In: WA
36, 175–188.
Tschechoslowakei 1968. In: WA 34, 35–42.
Positionen der Forschung Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl. In: WA 33, 108–
124.
Über Toleranz. In: WA 33, 125–149.
Bereits Rudolf Käser erkennt, dass das Gesetz der gro- [Gespräch mit] Alfred A. Häsler [1966]. In: G 1, 246–279.
ßen Zahlen Dürrenmatts politische Reflexionen ent- [Gespräch mit] Dieter Bachmann/Peter Rüedi [1977]. In: G
scheidend prägt (vgl. 2003, 176). Dennoch hält sich 2, 218–231.
das »Klischee vom ›unpolitischen Dürrenmatt‹« hart- [Gespräch mit] Fritz J. Raddatz [1985]. In: G 3, 211–230.
näckig (Rüedi 2011, 401). Ein Versuch, Dürrenmatts [Gespräch mit] Heinz Ludwig Arnold [1975]. In: G 2, 114–
176.
politischen Standpunkt zu klären, unternimmt Peter [Gespräch mit] Rudolf Blum/Rolf Mühlemann [1979]. In: G
von Matt. Er verortet ihn als politisch Konservativen, 2, 273–278.
weil sich »[d]ie Grundbeschaffenheit der Welt, der Ge-
sellschaft, des Einzelnen nicht ändert« (2010, 78) und Sekundärliteratur
es keinen Verbesserungsprozess gibt. Diese Argumen- Federico, Joseph A.: The Political Philosophy of Friedrich
Dürrenmatt. In: German Studies Review 12 (1989),
tation beruht auf einer Analyse von Dürrenmatts lite-
91–109.
rarischem Werk. Da es zwischen den politischen Re- Göbel, Helmut: Friedrich Dürrenmatts politisches Engage-
flexionen im essayistischen und literarischen Werk ment. In: Eve Pormeister, Hans Graubner (Hg.): Tradition
aber beträchtliche Unterschiede gibt, muss der Ver- und Moderne in der Literatur der Schweiz im 20. Jahrhun-
such, den Autor lediglich über eine Analyse der litera- dert. Beiträge zur Internationalen Konferenz zur deutsch-
rischen Texte als politisch Konservativen einzuordnen, sprachigen Literatur der Schweiz, 26. bis 27. September
2007. Tartu 2008, 53–84.
als problematisch gelten. Ein anderer Ansatz fokussiert
Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
auf Dürrenmatts wiederholte Bezugnahme auf Karl matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
Poppers Fallibilismus und dessen Forderung nach der Werks. Köln 2013.
›Stückwerk-Sozialtechnik‹, die sich im essayistischen Käser, Rudolf: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche
Werk nachweisen lassen (vgl. Federico 1989, 92–95.). Auge.« Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungs-
Darin finden sich zahlreiche Analogien zum Pro- feld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In:
Text + Kritik 50/51 (2003), 167–182.
gramm des gemäßigten SPD-Parteiflügels der Nach- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
kriegszeit (vgl. Käppeli 2013, 21 u. 132–142). Biographie. Zürich 2011.
von Matt, Peter: Der Liberale, der Konservative und das
Literatur Dynamit. Zur politischen Differenz zwischen Max Frisch
Primärtexte und Friedrich Dürrenmatt. In: Elio Pellin, Ulrich Weber
21 Punkte zu den ›Physikern‹. In: WA 7, 91–93. (Hg.): »Wir stehen da, gefesselte Betrachter«. Theater und
»Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang Gesellschaft. Göttingen 2010, 69–85.
zu ziehen.« In: WA 36, 189–209.
Ich stelle mich hinter Israel. In: WA 34, 123–125. Patricia Käppeli
292 IV  Motive und Diskurse

77 Recht und Gerechtigkeit Für das zweite Drittel dieses Spannungsfeldes mag
stellvertretend der Kriminalroman Justiz (s. Kap. 41)
Das Panorama einer knapp gehaltenen Titelschau stehen. Durch ein an Hans Vaihingers philosophi-
über Friedrich Dürrenmatts Werk mag vor Augen schem Grundlagenwerk Die Philosophie des Als Ob
führen, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen (1911) geschulten Gedankenexperiment, in Frage zu
›Recht‹ und ›Gerechtigkeit‹ zu den gewichtigsten stellen, ob sich nicht, was zahlreiche Augenzeugen tat-
Schwerpunkten seines sowohl schriftstellerischen wie sächlich wahrgenommen zu haben glauben, ganz an-
bildnerischen Œuvres zählt: Im Vordergrund stehen ders zugetragen haben könnte, gelangt Dürrenmatt
nicht nur die naheliegenden Kriminalromane, etwa zur entschiedenen Feststellung: »Die Wahrheit [...]
Der Richter und sein Henker oder Justiz, sondern auch spielt sich in Etagen ab, die für die Justiz unerreichbar
ein Hörspiel wie Der Prozeß um des Esels Schatten. Ein sind« (WA 25, 175). Sie ist mittlerweile in abgewan-
Hörspiel (nach Wieland – aber nicht sehr), allen voran delter bzw. entstellter Form durch die Verfilmung von
aber der Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, Hans W. Geißendörfer (1993) sprichwörtlich gewor-
die Rede über Die Schweiz – ein Gefängnis (s. Kap. 57) den: »Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, verehr-
oder ein Rechtfertigungsschreiben wie Zu meinem ter Herr Anwalt, zu der die Justiz keinen Zutritt hat«.
Prozeß gegen Habe. Auch hinter vordergründig un- Tatsächlich wird der (vermeintliche?) Mörder am En-
scheinbaren Titeln wie Der Besuch der alten Dame de freigesprochen, ja die Rede ist gar von »Justizthea-
(s. Kap. 23) verbirgt sich letztlich die Grundsatzfrage ter« (WA 25, 182).
nach dem Verhältnis zwischen Recht, Rache und Ge- Das letzte Drittel, das ›Gericht‹ als ›Gericht‹, wird
rechtigkeit, das Dürrenmatt in seinem Werk unabläs- schon im Kriminalroman Der Richter und sein Henker
sig aufgeworfen hat. aufgetischt, kommt es doch zwischen Kommissär Bär-
Allerdings ›spielt‹ Dürrenmatt dramaturgisch un- lach und seinem Mitarbeiter Tschanz in Form eines
entwegt mit allen sich auf dem Spannungsfeld zwischen Menüs zu dem, was »ein kulinarisches Duell, dessen
Recht und Gerechtigkeit ergebenden Aspekten, nennt Ausgang in die Frage nach Schuld und Unschuld
er doch etwa Die Panne in der Komödienfassung aus- mündet« (Neumann 1969, 56), genannt worden ist,
drücklich ein »Gerechtigkeitsspiel« (WA 16, 65). Worin und in dessen Verlauf Tschanz von Bärlach gewaltsam
besteht dieses ›Spiel‹? Es ist im Wesentlichen ein dreige- überführt wird. Hier fallen in Dürrenmatts Prosawerk
teiltes Spannungsfeld, auf dem Dürrenmatt spielerisch das Gericht, die Gerichte und das (vorweggenom-
den Widerstreit zwischen Recht und Gerechtigkeit in- mene) Urteil im apokalyptischen Endspiel der ›Hen-
szeniert, problematisiert und reflektiert: 1. das Span- kersmahlzeit‹ zusammen. Oft genug erweist sich ein
nungsfeld zwischen den beiden Polen der Zuversicht in Essen bei Dürrenmatt als Henkersmahlzeit, die nur
die staatlich, zumal demokratisch garantierte bzw. zu dem Protagonisten selbst als solche noch nicht be-
garantierende Rechtssicherheit und der Skepsis, ob auf wusst ist. Dasselbe gilt etwa für die verschiedenen
diesem Weg – jedenfalls juristisch – jemals Gerechtig- Versionen von Die Panne oder für Justiz.
keit hergestellt oder gar garantiert werden kann; 2. das Implizit sind alle Theaterstücke, Hörspiele und Pro-
sich daraus ergebende Spannungsfeld zwischen den sawerke Dürrenmatts von der denkbar größten Skep-
beiden Polen Justiz und Selbstjustiz, wobei die hier auf- sis getragen, ob und wie ein Rechtssystem Gerechtig-
geworfene Doppelfrage nach der Perspektivität, aus keit überhaupt gewährleisten kann. Eine bemerkens-
welcher Sicht Recht tatsächlich gerechtfertigt bzw. Ge- werte Rolle innerhalb der Dürrenmattschen Drama-
rechtigkeit juristisch gewährleistet werden kann, dra- turgie spielt dabei immer wieder der Zufall bzw.
maturgisch im Moment der ›Augenzeugenschaft‹ bzw. stellvertretend für diesen etwa eine ›Panne‹ (s. Kap. 84;
der Selbstvergegenwärtigung der beteiligten Protago- vgl. Jambor 2007; Meier 2012; Neumann 1969). Oft
nisten im rechtlich fragwürdigen Geschehen zum Aus- genug weicht die vermeintlich ›höhere Gerechtigkeit‹
druck kommt; 3. während die Subjektivität, ja Körper- diesem Zufall bzw. dieser Panne, obwohl doch gerade
lichkeit dieser Perspektiven von Dürrenmatt auf dem die Selbstjustiz etwa in den Kriminalromanen Der
Spannungsfeld zwischen ›Gericht‹ als rechtlich abge- Richter und sein Henker, Das Versprechen oder Justiz
sichertem Verfahren und ›Gericht‹ als (Letztes Abend-) beidem entgegenwirken, ja sogar vorbeugen sollte.
Mahl inszeniert und ausgetragen wird. Das jeweils dadurch offen bleibende Ende, geradezu
Für das erste Drittel dieses Spannungsfeldes steht dramaturgisches Hauptprinzip und -kennzeichen von
stellvertretend der Monstervortrag über Gerechtigkeit Dürrenmatts Werken über Recht und Gerechtigkeit –
und Recht (s. Kap. 50). und in Die Panne in drei verschiedenen Versionen als

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_77
77  Recht und Gerechtigkeit 293

Abb.  77.1  Letzte Generalversammlung der Eidgenössischen Bankanstalt, 1966.

Erzählung, Hörspiel und Komödie zelebriert –, hält Als Aus-›Blick‹ auf das bildnerische Œuvre sollte
mit der Spannung alle Fragen offen. Es gibt bei Dür- insbesondere die Letzte Generalversammlung der Eid-
renmatt keine im angelsächsischen Sprachraum so- genössischen Bankanstalt (1966; SLA-FD-A-Bi-1-206)
genannte ›Poetic Justice‹, also keine durch die Literatur ins Auge gefasst werden: Dieses Gemälde verdichtet
tröstlicherweise gewährleistete höhere Gerechtigkeit. alle drei Momente der fragwürdigen Institutionalität,
294 IV  Motive und Diskurse

der Selbstjustiz und des ›Gerichts‹, hier parodiert als Jambor, Ján: Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klas-
Letztes Abendmahl. Es ist das jüngste und aktuell ge- sischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach-Roma-
bliebene Gericht, das Friedrich Dürrenmatt uns auf- nen Friedrich Dürrenmatts. Univ. Prešov 2007.
Knapp, Mona/Knapp, Gerhard F.: Recht – Gerechtigkeit –
getischt hat (s. Abb. 77.1). Politik. Zur Genese der Begriffe im Werk Friedrich Dür-
renmatts. In: Text + Kritik 56 (1977), 23–40.
Literatur Losch, Bernhard: Friedrich Dürrenmatt. »Die Gerechtigkeit
Primärtexte ist etwas Fürchterliches«. In: Neue juristische Wochen-
Die Panne. Eine Komödie. In: WA 16, 57–173. schrift 42 (1989), 343–349.
Der Prozeß um des Esels Schatten. Ein Hörspiel (nach Wie- Meier, Thomas Markus: Dürrenmatt und der Zufall. Ostfil-
land – aber nicht sehr). In: WA 8, 119–172. dern 2012.
Der Richter und sein Henker. In: WA 20, 9–117. Neumann, Gerhard: Dramaturgie der Panne. In: Ders., Jür-
Justiz. WA 25. gen Schröder, Manfred Karnick (Hg.): Dürrenmatt –
Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem Frisch – Weiss. Drei Entwürfe zum Drama der Gegenwart.
helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der München 1969, 27–59.
Politik. In: WA 33, 36–107. Robinson, Gabrielle: Justice Breeds Murder. Justice in Dür-
Zu meinem Prozeß gegen Habe. In: WA 30, 212–216. renmatt as Theme and as Theatrical Material. In: Modern
Letzte Generalversammlung der Eidgenössischen Bank- Drama XXIX (1981), 1, 73–87.
anstalt. In: Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD- Tegelkamp, Martin W. J.: Recht und Gerechtigkeit in Dür-
A-Bi-1-206. renmatts Dramen und Prosa. Baden-Baden 2013.
Sekundärliteratur Martin Stingelin
Bauer, Elisabeth: Die Gerichtsthematik im Werk von Fried-
rich Dürrenmatt. München 1990.
78 Religion 295

78 Religion zu finden. In der retrospektiven Darstellung der Stoffe


nimmt dabei ein Unfall im Alter von zehn Jahren den
Exposition Rang einer Schlüsselerfahrung ein. Der Junge, der in
Todesangst zu beten beginnt, muss anerkennen, dass
Friedrich Dürrenmatt gehört fraglos zum Kanon seine Distanzierung vom robusten Glauben der Eltern
der deutschsprachigen Autorinnen und Autoren des nicht gelingt: »Mein Beten kam mir als eine Flucht in
20. Jahrhunderts, deren Werk mit dem Stichwort der den Glauben vor, als eine Kapitulation. Die Religion
Religion assoziiert wird. Seine Beschäftigung mit ihr wurde mir peinlich, ich mißtraute ihr und hatte ein
ist ebenso intensiv wie vielfältig. Die folgende Über- schlechtes Gewissen, weil ich ihr, als es ernst wurde,
blicksdarstellung muss sich entsprechend auf die doch nicht gewachsen gewesen war« (187). Die Über-
grundlegendsten Aspekte beschränken. Diese lassen windung des Distanzierungsbedürfnisses zugunsten
sich, thesenhaft, folgendermaßen fassen: eines entspannteren Verhältnisses zum Vater wie zum
1. Religion spielt für Dürrenmatt nicht nur qua Vater im Himmel ist nach Dürrenmatts Selbstdarstel-
Herkunft eine Rolle; sein hohes Interesse wandelt sich, lung unmittelbar verknüpft mit der lebensbestimmen-
hält aber bis an sein Lebensende an. 2. ›Religion‹ den Entscheidung für die Literatur: Der Entschluss für
meint in seinem Fall primär Christentum, genauer: die ›Schriftstellerei‹ und gegen die Malerei (als primä-
Protestantismus. 3. Dürrenmatts Beschäftigung mit res künstlerisches Ausdrucksmedium) ist zugleich ein
dem protestantischen Christentum resp. der evangeli- Entschluss gegen die Abfassung einer philosophi-
schen Theologie dokumentiert sich u. a. in der Zen- schen Dissertation und für den ›eigenen Glauben‹.
tralstellung des Glaubensproblems. 4. Die Glaubens- Die Ermöglichung dieses Entscheidungskonglome-
frage erscheint durchgängig in dialektischer Ver- rats wird namentlich dem Philosophen/Theologen zu-
schränkung mit dem Zweifel bzw. im Horizont eines gesprochen, dem die akademische Arbeit gewidmet
Bewusstseins von der generellen Begrenztheit von gewesen wäre: Søren Kierkegaard. »Damit kann er [...]
Wissensansprüchen. Insofern bezieht sie sich auch auf nicht mehr objektiv von dem schreiben, was seine
Dürrenmatts Interesse an der Erkenntnistheorie und Aufgabe gewesen wäre, von Kierkegaard und dem
den Naturwissenschaften. 5. Die Religionsthematik ist Tragischen, er wird seine Dissertation liegen lassen
qua Glaube nie isoliert von Dürrenmatts (schriftstelle- und sein Studium aufgeben, er wird nur noch subjek-
rischem) Selbstverständnis resp. seiner literarischen tiv von sich reden können, indirekt [...], in sich immer
Praxis. 6. Wenn es eine Perspektive gibt, die Dürren- widersprechenden Gleichnissen. Die Schriftstellerei
matts Auseinandersetzung mit der Religion grun- und der Glaube sprechen die gleiche Sprache« (WA
diert, ist es die der Religionskritik. 29, 227). Nebst der Subjektivitätsphilosophie über-
Für die thematischen wie erzählpraktischen Kon- nimmt Dürrenmatt von Kierkegaard vor allem die ihr
kretionen dieser Sachverhalte sei auf die betreffenden korrespondierende kommunikative Strategie der »in-
Artikel verwiesen (s. v.a. Kap. 1, 67, 68, 69, 73). Als ge- direkten Mitteilung« (Kierkegaard 1959, 201). Diese
nerelles caveat: Dürrenmatt hat sein Verhältnis zur kalkulierte Indirektheit zeigt sich poetologisch etwa in
Religion selbst ausführlich thematisiert und darin be- Dürrenmatts Neigung zu gleichnishaften, metatextu-
wusst gestaltet. Man kann von diesen Selbstzeugnis- ellen oder auch (narratologisch gesprochen) metalep-
sen nicht absehen, sollte sie aber gerade vor dem Hin- tischen Darstellungsmodi (Nachworte und Nachwor-
tergrund seines hochreflektierten Umgangs mit dem te zu Nachworten; Monologe, in denen die Figuren
Genre der Autobiografie als Teil einer bewussten Kon- aus ihren primären Darstellungsebenen aussteigen,
struktionsleistung, eines autofiktionalen self-fashio- etc.).
ning (Stephen Greenblatt) wahrnehmen. Für Dürrenmatts intellektuelle Genealogie wird be-
treffend Religion als zweiter Referenzdenker Karl
Barth entscheidend (der sich seinerseits, wenn auch
Biografisch-autofiktionale Grundlinien – reservierter, auf Kierkegaard beruft). Der Attraktions-
Kierkegaard und Barth punkt liegt hier zunächst in der fundamentalen Dia-
lektik der Barthschen ›Krisentheologie‹, die empha-
Dürrenmatt ist einer der vielen Pfarrerssöhne der tisch die Alterität Gottes einschärft – und mit ihr das
deutschen Literatur (vgl. WA 28, 183–203). Wie fast notwendige Versagen des Menschen (der mensch-
alle von ihnen musste er sich an dieser Herkunft ab- lichen Sprache) angesichts seiner paradoxen Offen-
arbeiten, um in der Abgrenzung seine eigene Position barung im Gekreuzigten. »Beide Formen der Aussage,

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_78
296 IV  Motive und Diskurse

sowohl die dialektische Rede von Gott wie die ästheti- theologisch-metaphysischen Sphären und organisier-
sche Sprache verweisen durch die Formen der Aus- tem Verbrechen noch einmal intensiv satirisch be-
sage auf einen Gegenstand, der direkt nicht ausgesagt arbeitet. Neben der christlichen Religion, auf die sich
werden kann« (Rusterholz 2017a, 28). In späteren Jah- die genannten Texte in erster Linie beziehen, gilt Dür-
ren widmet sich Dürrenmatt insbesondere Barths renmatts Interesse insbesondere dem Judentum (vgl.
monumentaler Kirchlicher Dogmatik (1932–1967). Sie die Israel-Essays; 1973/74, 1980; vgl. Spycher 1981)
wird zum maßgeblichen Bezugspunkt seiner Reflexi- und, aufgrund der Israel-Frage, dem Islam (vgl. Abu
on auf das Gottesverständnis, nicht zuletzt in Hinsicht Chanifa und Anan ben David).
auf das Schöpfungswerk. Dürrenmatts Spitzensatz –
»Barth erzog mich zum Atheisten« (WA 29, 208) –
wird verständlich, wenn man sich seinen (Dürren- Protestierender Protestantismus: Glaube,
matts) Glaubensbegriff vor Augen führt. Zweifel, Wissen

Dürrenmatt hat sich vielfach zum Protestantismus be-


Das Material im Überblick kannt, freilich zu einem Protestantismus, der an sich
»protestier[t]« (WA 32, 32), also auch gegen diesen
Der erste Text, den Dürrenmatt als gültigen Teil seines selbst. Spricht er von seiner Konfession, versieht er sie
Werks anerkannt hat, ist die halbseitige Prosaminiatur regelmäßig mit einer distanzierenden Klausel. In ei-
Weihnacht (entst. 1942), eine deutlich von Georg nem Figurenmonolog in Es steht geschrieben findet
Büchner inspirierte nihilistische Eucharistie. Doch sich eine Charakterisierung, die sich auch auf den Au-
sind die gesamte frühe Prosa und mehr noch die frü- tor beziehen lässt: ein »im weitesten Sinne entwurzel-
hen Dramen von religiösen Problemlagen und ter Protestant, behaftet mit der Beule des Zweifels,
Sprachmustern bestimmt. Das skandalträchtige erste mißtrauisch gegen den Glauben, den er bewundert,
Drama Es steht geschrieben lotet anhand eines histori- weil er ihn verloren« (WA 1, 58; vgl. WA 3, 58). Das La-
schen Stoffs (des ›Täuferreichs‹ in Münster) die Ideo- bel ›Protestantismus‹ ist insofern deutlich mehr als ein
logieanfälligkeit religiöser Gemeinschaften aus. Das bloßer Verweis auf ein Herkunftsmilieu, nämlich eine
zweite – Der Blinde (1948) – exploriert anhand des bewusst kultivierte Haltung (Wittekind 2005). Deren
Weltverhältnisses des Blinden, der Notwendigkeit des Ausrichtung auf den Einzelnen führt Dürrenmatt auch
Vertrauens, was den Glauben ausmacht. Die Religi- zu einer Distanz zur organisierten Religiosität, na-
onsthematik bleibt aber auch in der Prosa- und Dra- mentlich zur Kirche. Das ist einer der Gründe, weshalb
menproduktion der 1950er und 1960er Jahre domi- sein frühes intensives Interesse am Katholizismus, ja
nant. Offensichtlich ist dies wiederum in den Stücken: die Möglichkeit einer Konversion, nur Episode bleibt
Ein Engel kommt nach Babylon (1953) schließt, wie das (vgl. aber die zahlreichen Papst-Darstellungen inner-
gescheiterte Turmbau-Drama, aus dem es hervorgeht, halb des Bildwerks). Der Protestantismus ist und bleibt
an alttestamentliche Erzählstoffe an und verhandelt auch in literarischer Hinsicht eine bestimmende Refe-
das Verhältnis von Gnade, Armut und Freiheit. In Der renz, etwa hinsichtlich der ausdrücklichen Abgren-
Meteor (1966) steht wiederum die Glaubensthematik zung von den katholischen »Möglichkeiten« der Dra-
im Zentrum, diesmal anhand des theologischen Zen- matik in Theaterprobleme (WA 30, 65 f.).
tralereignisses der Auferstehung. Die Kriminalroma- Protestantisch-protestierend ist aber vor allem Dür-
ne sind, als ›Metakrimis‹, alle mit mehr oder minder renmatts Fokussierung auf den Glauben, also auf die
ausführlichen Überlegungen zur conditio humana Dimension, in welcher religiöse Überzeugungen für
versehen (in theologischer Hinsicht zentral: Der Ver- den Einzelnen lebensweltlich wirksam werden. Damit
dacht, 1953). Im Kontext des Mitmacher-Projekts bewegt er sich im neuzeitspezifischen Spannungs- und
(1973–1981) spielen die Figurentypen des ›mutigen Konfliktfeld von ›Glauben‹ und ›Wissen‹. Seine Positi-
Menschen‹ bzw. ›ironischen Helden‹ eine zentrale on innerhalb dieser komplexen Debatte (vgl. Maly
Rolle (s. Kap. 72), wobei zumindest der Letztere qua 2014) lässt sich hier nur anhand einiger Hinweise zum
Kierkegaard-Bezug religiös konnotiert ist. Nebst vie- weiteren Begriffsfeld andeuten.
len kürzeren Texten und beiläufigen (auch essayisti- 1. Sein Glaubensverständnis ist durch einen Fideis-
schen) Thematisierungen wird schließlich im letzten mus Kierkegaardschen Typs bestimmt: Die Wahrheit
zu Lebzeiten erschienenen Roman Durcheinandertal des Glaubens lässt sich nicht rational andemonstrie-
(1989) die Gottesfrage durch eine Verquickung von ren. Die Kluft zwischen Evidenz und Glaube ist nur
78 Religion 297

durch einen letztlich irrationalen ›Sprung‹ zu über- kraft die Tendenz zur falschen Sicherheit und täu-
brücken, eine vertrauende Einlassung auf die Zumu- schenden Wirklichkeit, die sie ›umbringe‹. So lässt
tung des Paradoxen (s. Kap. 95). Diese Auffassung sich generell sagen, dass Religionskritik bei Dürren-
wird in Verbindung mit erkenntniskritischen Impul- matt – er selbst Dr. h. c. der Theologischen Fakultät
sen deutlich anderer Provenienz (u. a. Arthur Stanley Zürich (1983) – Hand in Hand geht mit Ideologie-
Eddington, Karl Popper) zur Basis einer globalen und insbesondere Institutionskritik (Zeindler 2011).
Theologiekritik. Der Theologie wird ein Vergessen
dieses prekären epistemologischen Status unterstellt,
ein Rückfall in den Glauben als metaphysischen Be- Literarische Figurationen
sitzstand: »In der Theologie vollzieht der Glaube
Selbstmord: Er glaubt zu wissen« (WA 29, 205). Nach Für eine literarische Durchführung dieser Konfliktla-
einem ausführlichen Zitat aus der Kirchlichen Dogma- gen kann exemplarisch auf den Verdacht-Roman ver-
tik verfällt eben auch Barth dem Verdikt: »Wer so re- wiesen werden. Die Figur Dr. Marlok ist eine desillu-
det, glaubt sich im Besitz der Wahrheit« (193). sionierte jüdische Ex-Kommunistin, die sich nach dem
2. Die Bedrohung des authentischen Glaubens Hitler-Stalin-Pakt einem Nihilismus ergibt und willig
durch das Wissen wird auch deutlich in Dürrenmatts zur Handlangerin des Naziarztes Emmenberger wird.
Ausführungen zur Ideologie bzw. zu Ideologie und Im finalen weltanschaulichen Schlagabtausch mit dem
Wissenschaft. Die Ideologie kommt einerseits unmit- gefangenen und sterbenskranken Ermittler Bärlach
telbar als Verfallsform von Religion in den Blick, ande- begründet Emmenberger die Legitimität seines Han-
rerseits ist sie zugleich vermittelt über den Glauben, delns ausführlich durch einen radikalen Materialis-
den Dürrenmatt auch für die Wissenschaft für relevant mus, der mit einer Ablehnung von Werthaltungen wie
erachtet (vgl. insbesondere die Hinweise zu den Ana- Gerechtigkeit, Humanität etc. einhergeht. Angesichts
logien und Differenzen von mathematischen Axiomen von Emmenbergers Forderung, Bärlach möge ihm nun
und »Glaubensaxiom[en]«, WA 29, 198). Im Zusam- seinerseits ›seinen Glauben zeigen‹, verweigert dieser
menhang des Mitmacher-Komplexes erläutert Dürren- hartnäckig eine Antwort. Sein Schweigen lässt sich –
matt die Differenz von Ideologie und Wissenschaft nah an Emmenbergers Sicht – als Ausdruck eines be-
ausführlich am Beispiel des Marxismus. Er sieht die kenntnisscheuen Kulturchristentums verstehen, aber
Wissenschaften idealtypisch vom Zweifel an vorhande- auch positiver: »Wenn nämlich die unerschütterten
nen »Konzeptionen« angetrieben (WA 14, 160). Der Gewissheiten zu den Tyranneien des Jahrhunderts füh-
(marxistische) Ideologe komme dagegen »ohne den ren, [...] wird die Unentschiedenheit in Glaubensdin-
Glauben nicht aus: Er will wissen und nicht zweifeln, gen [...] zur humanen Haltung« (Zeindler 2011, 166).
darum muß er auch an sein Wissen glauben« (ebd.). Aussagekräftig sind zudem Passagen, in denen Dür-
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, wenn Dür- renmatts institutionszentrierte Religionskritik unmit-
renmatt seine Analyse auch auf die Ebene der institu- telbar der wissenschaftlichen Theologie gilt. Diese
tionellen Organisation bezieht und immer wieder die kann, wie in Mondfinsternis, ein satirisches Register be-
Entsprechung von ›absoluter‹ (katholi­scher) Kirche spielen: »wie Barth in Bloch und beide zusammen unter
und Partei betont (vgl. u. a. WA 35, 41; WA 28, 191). In Berücksichtigung von Sölle, Söltermann und Gläube-
diesem Kontext wird der Zweifel, der den Glauben da- rich in Hegel zurückzuintegrieren wären« (WA 28,
vor bewahrt, Wissen resp. Ideologie zu werden, nicht 247). Am prägnantesten kommt die hybride, immer
zu dessen Anderem, sondern – wiederum ganz Kierke- auch durch politische Interessen mitbestimmte Deu-
gaardsch – zum positiven Ausdruck eines existentiel- tungsmacht der Experten aber anhand des Hoftheolo-
len also dynamischen Selbst-, Welt- und Gottesverhält- gen Utnapischtim (in Ein Engel kommt nach Babylon)
nisses. zur Darstellung. Dass Gottes Gnade in Gestalt eines
3. Als eine weitere Bezugsgröße des Glaubens Mädchens von einem Engel nach Babylon gebracht
kommt schließlich auch die »Vorstellungskraft« resp. wird, ist für seine Theologie nicht etwa eine Bestäti-
»Phantasie« ins Spiel (WA 29, 205). Dürrenmatt sieht gung, sondern eine Bedrohung (vgl. u. a. WA 4, 93).
in beiden »die gleiche Bewegung« am Werk wie im Ein vielfach wiederkehrender Typus, der der Kritik
Glauben (ebd.). Diese wird konsequenterweise in bei- verfällt, ist schließlich der freikirchliche ›Frömmler‹,
de Richtungen nachverfolgt: Barths Dogmatik gilt dessen zweifelsfreier Glaube als latent gewalttätig ge-
ihm als ein »Riesenwerk der Vorstellungskraft« (ebd.), zeichnet wird. Das gilt für Kläri Glauber als weitere
er sieht aber auch in der literarischen Vorstellungs- Handlangerin Emmenbergers (Der Verdacht), für den
298 IV  Motive und Diskurse

ding and Using Kierkegaard. In: Jon Stewart (Hg.): Kierke-


Sektenprediger Moses Melker (Durcheinandertal),
gaard’s Influence on Literature, Criticism and Art. The
aber auch für die Heilsarmisten, die den mehrfach ins Germanophone World. Farnham, Burlington 2013, 43–59.
Leben zurückkehrenden Nobelpreisträger Schwitter Busch, Eberhard: Gespannte Beziehung. Friedrich Dürren-
gegen dessen Willen als Beleg für die leibliche Auf- matt und Karl Barth. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 183–
erstehung feiern (Der Meteor). 195.
Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Les Fous de Dieu /
Gottes Narren. Neuenburg 2017.
Cuonz, Daniel: Die Sprache des verschuldeten Menschen.
Bilanz und Desiderate Literarische Umgangsformen mit Schulden, Schuld und
Schuldigkeit. Paderborn 2018, 303–326.
Bereits diese kursorischen Hinweise zeigen, dass Dür- Diller, Edward: Friedrich Dürrenmatt’s Chaos and Calvi-
renmatts Beschäftigung mit der Religion einen deut- nism. In: Monatshefte. A Journal Devoted to the Study of
lich kritischen Grundzug hat. Kritisch ist seine Aus- German Language and Literature 63 (1971), 1, 28–40.
Gabor-Peirce, Olivia G.: Becoming Fiction. Reassessing
einandersetzung aber nicht nur im Sinn einer Kritik Atheism in Dürrenmatt’s Stoffe. New York 2017.
von Religion, sondern auch durch Religion. Durch Maly, Sebastian: Glauben und Wissen. In: Thomas M.
diese doppelte Kritik schreibt Dürrenmatt offensicht- Schmidt, Annette Pitschmann (Hg.): Religion und Säkula-
lich mit am Diskurs der Säkularisierung. Dieser sei- risierung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart
nerseits höchst dialektische Diskurs ist in seinen an- 2014, 291–304.
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Katego-
spruchsvolleren (also religionstheoretisch informier-
rie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln 2003.
ten) Versionen in der verfügbaren Forschung aller- Rusterholz, Peter: Christliches Paradox als Skandalon und
dings noch wenig fruchtbar gemacht worden. Korrektiv der Nachkriegskultur nach 1945. Friedrich
Ausgehend von den betreffenden Entwürfen (einfüh- Dürrenmatt und Karl Barth. In: Ders.: Chaos und Renais-
rend: Schmidt/Pitschmann 2014) wäre insbesondere sance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg. von Hen-
eine schärfere Wahrnehmung des religiös ›positi- riette Herwig und Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017a,
15–34.
veren‹ Frühwerks möglich. Wie Ulrich Weber (2020, Rusterholz, Peter: Untergang und neues Leben im Durch-
107–113) andeutungsweise zeigt, lässt sich Dürren- einandertal. Theologische Spuren bei Friedrich Dürren-
matt auch im Kontext der ›christlichen Literatur‹ der matt. In: Ders.: Chaos und Renaissance im Durcheinan-
Nachkriegszeit (Schlüter 2001) verorten. Weber zufol- dertal Dürrenmatts. Hg. von Henriette Herwig und
ge ist die Differenz von Früh- und Spätwerk gerade Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017b, 189–208.
Schlüter, Dietrich: Christliche Literatur und ihre Kanonisie-
hinsichtlich des Themenkomplexes ›Religion‹ nicht zu
rung seit 1945. Diss. Universität Dortmund 2001.
sehr zu betonen; beide Phasen seien geprägt durch Schmidt, Thomas M./Pitschmann, Annette (Hg.): Religion
»Strukturmodelle, die ursprünglich aus einem religiö- und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch.
sen Kontext stammen, ohne noch an ein christliches Stuttgart 2014.
Glaubensbekenntnis gebunden [...] zu sein« (Weber Spycher, Peter: Friedrich Dürrenmatts Israel-Essay. Reli-
2020, 112). Die Plausibilisierung dieser und anderer giöse Konzeption und Glaubensbekenntnis. In: Gerhard P.
Knapp, Gerd Labroisse (Hg.): Facetten. Studien zum
großräumiger Thesen ist sicher nicht abgeschlossen
60. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts. Bern 1981, 243–
(zum späten Atheismus-Bekenntnis vgl. Gabor-Pierce 257.
2017). Die Sperrung der beiden frühen Dramen für Weber, Emil: Friedrich Dürrenmatt und die Frage nach
die Bühne belegt auf jeden Fall Dürrenmatts fraglos Gott. Zur theologischen Relevanz der frühen Prosa eines
erfolgreichen Versuch, nicht in der Ecke der erbauli- merkwürdigen Protestanten. Zürich 1980.
chen christlichen Literatur zu verbleiben. Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Zürich 2020.
Wittekind, Folkart: Friedrich Dürrenmatt. Der entwurzelte
Literatur
Protestant. In: Günter Brakelmann u. a. (Hg.): Protestan-
Primärtext
ten in öffentlicher Verantwortung – biographische Skiz-
Kierkegaard, Søren: Unwissenschaftliche Nachschrift. In:
zen aus der Anfangszeit der Bundesrepublik. Waltrop
Ders., Philosophisch-theologische Schriften. Köln, Olten
2005, 189–225.
1959, Bd. 3, 131–844.
Zeindler, Matthias: Wider das Reich Gottes auf Erden. Reli-
gionskritik und Ideologiekritik bei Friedrich Dürrenmatt.
Sekundärliteratur
In: David Plüss u. a. (Hg.): Imagination in der Praktischen
Abs, Carina: Denkfaule Hoffnung? Anfragen an Erlösungs-
Theologie. Festschrift für Maurice Baumann. Zürich 2011,
narrationen bei Alfred Döblin, Christine Lavant und
159–169.
Friedrich Dürrenmatt. Ostfildern 2017, 229–278.
Bühler, Pierre: Friedrich Dürrenmatt. A Swiss Author Rea- Andreas Mauz
79 Spiel 299

79 Spiel In einem der ältesten Manuskripte der Stoffe er-


scheint Ende 1970 das Motiv zweier Schachspieler, die
Das poetologische Bekenntnis Dürrenmatts, aus der gemäß eigens gesetzter Spielregeln über Leben und
»Bildlosigkeit [der Welt] ein Bild zu machen« (WA 32, Tod ihrer Nächsten verfügen wollen (vgl. S 1). Dieses
67), verwirklicht sich in Metaphern, Gleichnissen, Bild stehe, so der Autor, in einem größeren Motiv-
Parabeln oder Gedankenexperimenten (s. Kap. 89). komplex rund um die Themen der Schuld und der Su-
Durch sie werden Überlegungen verdichtet, veran­ che nach dem Schuldigen. Darauf folgt eine Skizze, die
schaulicht oder auch der Wirklichkeit als Gegenwelt erst posthum publiziert wurde und als Grundlage ei-
gegenübergestellt (vgl. WA 28, 69). Neben dem Turm, nes von Hannes Binder illustrierten Bildbandes dient
dem Labyrinth (s. Kap. 71), Minotaurus und weiteren (Dürrenmatt/Binder 2007). 1979 plante der Autor au-
Bildkomplexen der Mythologie referiert Dürrenmatt ßerdem eine Komödie unter dem Titel Die Sekretärin.
dabei wiederholt auf das Spiel – insbesondere auf das Eine Friedhofskomödie, die die Geschichte eines an-
Schachspiel –, um menschliche Verhaltensmuster und geblich erfolgreichen Schriftstellers erzählt, der be-
das Weltgeschehen zu reflektieren. Damit setzt er dem hauptet, an einem Roman zu arbeiten, dies aber nicht
literaturhistorisch wie auch kulturgeschichtlich wich- tut (vgl. Mingels 2000). Seine Sekretärin hingegen hat
tigen Komplex des literarisches Spiels oder der Spiele tatsächlich die Idee für einen vielversprechenden Ro-
der Literatur ganz eigene, auch voneinander differie- man, worin dem Weltgeschehen ein Spiel zugrunde
rende Ausgestaltungen gegenüber. liegt: Alle historisch und geistesgeschichtlich bedeut-
samen Momente sind auf die Launen von zwei Schach-
spielern zurückzuführen. Auch diese Komödie blieb
Machtspiele bis zum bitteren Ende Fragment.
Werden menschliche Intrigen als (Macht-)Spiele
In Dürrenmatts Kriminalromanen ist das Schachspiel interpretiert, ist auch das Vorgehen der Milliardärin
zunächst eine Metapher für den Konflikt zwischen Claire Zachanassian, die in Der Besuch der alten Dame
zwei Kontrahenten bis zum bösen Endspiel: In Der (1956/1980) in ihre Heimatstadt Güllen zurückkehrt,
Richter und sein Henker (1950/51) wird die mörderi- um ihrem ehemaligen Geliebten Alfred Ill ein an ihr
sche Wette zwischen dem Verbrecher Gastmann und verübtes Unrecht zurückzuzahlen, ein solches. Unter
dem Kommissär Bärlach im Bild einer Schachpartie dem Deckmantel der Gerechtigkeit spielt sie ihr Ra-
figuriert, die den ganzen Roman als Strukturmetapher chespiel, das zum Tod Ills führt. Die Güllener ihrer-
durchzieht. Der Kommissär wird am Ende als »un- seits vollziehen das geforderte Opfer in einem vor-
erbittliche[r] Schachspieler« entlarvt, der den Täter getäuschten Gerechtigkeitsritual und -spiel im Thea-
Tschanz »matt gesetzt hatte« (WA 20, 113). Im zweiten tersaal des Städtchens. Und in Die Panne (Erzählung/
Bärlach-Roman Der Verdacht (1951/52) bezeichnet Hörspiel 1956, Komödie 1979), in der ein ehemaliger
der ehemalige deutsche KZ-Arzt Emmenberger alias Richter, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger und ein Hen-
Nehle sich und den Kommissär als »zwei Wissen- ker Gericht spielen (vgl. WA 16, 16), wird der Pro-
schaftler mit entgegengesetzten Zielen, Schachspieler, tagonist Traps dergestalt in das »etwas sonderbare[...]
die an einem Brett sitzen«, und prophezeit, dass beide Spiel« (15) miteinbezogen, dass er sich am Ende um-
ihr Spiel verlieren werden (WA 20, 241). Das Bild von bringt (Erzählung und Komödienfassung).
zwei Schachspielern, die sich menschenverachtend Im Roman Justiz (1985) soll ein junger, mittelloser
gegenübersitzen, andere instrumentalisieren und im Rechtsanwalt einen öffentlich begangenen Mord er-
Spiel ihre eigenen Positionen zu sichern versuchen, neut untersuchen. Ein vom Mörder inszeniertes Spiel
überträgt Dürrenmatt außerdem auf das Verhalten um die Frage nach Gerechtigkeit und Recht vollzieht
von Herrschern, Machtinhabern oder politischen In- sich in mehreren Szenen an Billardtischen. Und das
stanzen und deren Vorgehen bei Entscheidungen oder Spiel wird zum Sinnbild einer Reflexion, in der der
gar der Bildung ganzer Staatensysteme – so zum Bei- Protagonist nicht nur sich selbst verspielt (vgl. WA 25,
spiel in der Shakespeare-Bearbeitung König Johann 192 f.), sondern auch andere Menschen. Der Mörder
(1969) oder in der Erzählung Der Sturz (1971), in der zeigt sich als Billardspieler, der indirekt – über eine
Minister auftreten, im begrenzten Raum eines Sit- oder mehrere Banden – einen Menschen opfert. Er
zungszimmers wie auf einem Schachbrett gruppiert, mordet aus Lust am Spiel, das ihn »lockt[...] « (81).
und scheinbar politische Entscheidungen treffen, fak- Spieltrieb als Mordtrieb: In den angedachten Wer-
tisch aber pure Machtspiele betreiben. ken um den oder die Schachspieler, in den Gerichts-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_79
300 IV  Motive und Diskurse

spielen der älteren Herren in Die Panne, im persönli- horchten der Logik des Schachspiels und nicht der
chen Versuch einer öffentlichen Person, Gerechtigkeit Wirklichkeit (vgl. WA 23, 18). Das Requiem auf den
herzustellen in Justiz, werden ausgerechnet jene Figu- Kriminalroman erzählt denn auch die Geschichte des
ren, die mit Gerechtigkeit und Recht assoziiert schei- Kommissärs Matthäi, dessen perfekter Plan zur Iden-
nen, als Verbrecher entlarvt. Die Spiele kippen in bit- tifikation eines Mörders an einem nicht vorherseh-
teren Ernst um. Sie sind als Endspiele konzipiert, die baren Zufall – einem Unfall – scheitert.
Dürrenmatts Vorliebe für individuelle, gesellschaftli-
che und kosmische Katastrophen verbildlichen; sie
illustrieren seine mehrmals umrissene Dramaturgie Das Spiel in seiner politischen Dimension
der »schlimmstmögliche[n] Wendung«, die allein es und als Denkfigur
erlaube, einer »gedankliche[n] Fiktion auch eine ›exis-
tentielle‹ Berechtigung« (WA 30, 209) zu geben und Die Spielmetapher tritt schließlich auch in mehre-
»eine Geschichte [...] zu Ende« zu denken (WA 7, 90). ren nicht-fiktionalen, poetologischen, philosophi-
schen oder politischen Texten des Autors auf und
dient ihm dazu, seine erkenntniskritischen Anliegen
Spiele als theoretische, lebensferne Modelle zu formulieren.
Im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht,
Diese »schlimmstmögliche Wendung« sei, so der Au- nebst einem helvetischen Zwischenspiel (1968/69) legt
tor, »nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein« Dürrenmatt das kapitalistische ›homo homini lupus‹-
(ebd.). Insbesondere im Schachspiel, aber auch im Bil- Menschenbild dar. Das Brettspiel dient ihm dabei als
lardspiel findet Dürrenmatt ein geeignetes Sinnbild, Metapher, um die Funktion des Geldes als Spielstein
um diese These gleichsam ex negativo zu belegen. Die und den bürgerlichen Staat als Schiedsrichter zu ver-
Billardspiele in Justiz wie auch die Schachspiele in den anschaulichen. Im Sozialismus hingegen werde dem
Kriminalromanen werden als Spiele inszeniert, die »Wolfsspiel« das »Gute-Hirte-Spiel« entgegengesetzt:
dem Zufall widerstehen: im ersten Fall, weil der Ku- »Homo homini agnus« (WA 33, 50). Einem system-
gellauf berechenbar ist und die Geschicklichkeit des haften dialektischen Denken, das »eine Lehre auf-
Spielers herausfordert, im zweiten Fall, weil der Ge- zustellen [versucht], wie beim Schachspiel Weiß ge-
genspieler und der ganze Spiellauf vorhersehbaren, winnt« (92), stellt Dürrenmatt in seinen Essays und
starren Abläufen unterworfen ist. Grundsätzlich in- Reden ein alternatives Denken zur Diskussion: ein
szeniert Dürrenmatt das Schachspiel als das Bild einer ›dramaturgisches Denken‹, das ihm als Autor erlaubt,
Ordnung, die nicht der realen Welt, sondern einem die Welt durchzudenken, indem er sie durchspielt
hypothetischen künstlichen Modell entspricht. Strate- (vgl. 91 f.). Das Spiel verliert seinen normativen Cha-
gien und Planung, die den Ablauf des Spiels kenn- rakter und wird spielerisch.
zeichnen, widersprechen der Lebenswirklichkeit. Die Schachspielmetapher als Gedankenexperiment
Bereits in der frühen Kurzgeschichte Der Tunnel (vgl. WA 33, 163) exponiert Dürrenmatt insbesondere
(1952) hat das Schachspiel als Motiv wenig mit der ak- in seinem Vortrag an der ETH Zürich zum 100. Ge-
tuellen Lage der Protagonisten zu tun: Ein Schachspie- burtstag von Albert Einstein (1979). Er schlägt hier
ler, »der mit sich selber Schach spielte« (WA 21, 22), ist das Gleichnis vom »Weltgeschehen als ein Schach-
so in sein Spiel versunken, dass er nicht bemerkt, wie spiel« vor – einem Schachspiel mit zwei denkbaren
der Zug, in dem er sitzt, dem Erdinneren entgegen- Partien, einer »deterministischen« und einer »kausa-
stürzt. Und gerade der Kriminalroman entpuppt sich len« (WA 33, 152 f.) –, um auf dieser Folie die Gottes-,
als geeignetes Genre, um das Bild des Schachspiels als Menschen- und Weltbilder von den manichäischen
theoretisches Prinzip zu inszenieren, das der kontin- Religionen über das Christentum, über Spinoza und
genten Lebenswirklichkeit zuwiderläuft, denn es sei Kant bis hin zu den naturwissenschaftlichen Konzep-
»unmöglich [...], mit Menschen wie mit Schachfiguren tionen der Gegenwart zu überdenken.
zu operieren« (WA 20, 68). In der Rahmenhandlung Innerhalb der kritischen Auseinandersetzung mit
des Romans Das Versprechen. Requiem auf den Krimi- der Rolle der Schweiz schreibt Dürrenmatt den zu-
nalroman (1957/58) legt der ehemalige Polizeikom- nächst im Magazin abgedruckten, später in den zwei-
mandant Dr. H. gegenüber dem Ich-Erzähler, einem ten Stoffe-Band Turmbau integrierten parabelhaften
Kriminalautor, seine Kritik an der schriftstellerischen Essay Das gemästete Kreuz, in dem sich die Schweiz als
Konzeptionsarbeit dar. Ihre Romanhandlungen ge- »F. C. Helvetia 1291« (WA 29, 76) mehr und mehr aus
79 Spiel 301

dem internationalen (Fußball-)Geschehen zurück- len unterscheidet. Diese kulturhistorische Annähe-


zieht und aufs Training konzentriert. Die Bedeutung rung könnte der Erforschung des Spielbegriffs in Dür-
des Clubs verlagert sich von den Aktivmitgliedern auf renmatts Werk sicher weitere Impulse liefern. Nicht
die Passivmitglieder, die Mitgliedsbeiträge zahlen und nur die noch wenig erforschten Spielkomplexe um
den Club als »irrationale[...] Glaubensgemeinschaft« Billard- oder Mannschaftsspiele könnten dadurch
(77) entlarven. Zwar selbst in seiner Jugend aktiver vertiefter in den Blick genommen, sondern auch der
Fußballspieler und großer Fan des Neuchâteler Fuß- zentrale Bildkomplex um das Schachspiel könnte mit
ballclubs Xamax, verwendet Dürrenmatt hier die einer neuen Zielrichtung aufgearbeitet werden: als
Spielmetapher des Nationalmannschaftssport als Bild für die »Gesamtheit der menschlichen Betätigun-
»Kampfsport« (76) und unterbreitet einen satirischen gen und Bedürfnisse« (ebd., 202), die auch Dürren-
Rückblick auf die Schweizer Geschichte von ihren An- matt interessiert.
fängen bis in die Gegenwart und zur Armeeabschaf-
fungsinitiative von 1989, in deren Kontext die Parabel Literatur
Primärtexte
entstand. Albert Einstein. In: WA 33, 150–172.
Justiz. WA 25.
Das gemästete Kreuz. In: WA 29, 76–84.
Positionen der Forschung Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem
helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der
Politik. In: WA 33, 36–107.
Die Forschung richtet ihren Fokus insbesondere auf
Die Panne. WA 16.
das Schachspiel, das in den fiktionalen wie auch theo- Der Richter und sein Henker. In: WA 20, 9–117.
retischen Texten am deutlichsten Dürrenmatts Der Schachspieler. Ein Fragment. Illustriert von Hannes
Grundgedanken veranschaulicht – sei es die Vernei- Binder. Hamburg 2007.
nung der Planbarkeit des Lebens im Bild des Schach- Das Stoffe-Projekt. Hg. von Ulrich Weber, Rudolf Probst.
spiels als »indirekter Mitteilung« (Kierkegaard; Min- Zürich 2020.
Der Verdacht. In: WA 20, 119–265.
gels 2003, 326 f.), seien es die Leitideen seiner Drama-
Das Versprechen. In: WA 23, 9–163.
turgie (Rüedi 2011, 513–553; Bloch 2017, 289–311)
und die formgebende Metapher der Dramen (Irm- Sekundärliteratur
scher 1983, 336 f.). In der Literatur wird insbesondere Alami, Marita: Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt.
die Dramaturgie des Endspiels und der schlimmst- Computergestützte Analyse und Interpretation mytholo-
möglichen Wendung betont, die sich beispielhaft in gischer und psychologischer Bezüge. Wien 1994.
Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und
der Schachspielmetapher spiegle (Weber 2003) und Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen –
im Umschlag eines »Gelingens im Scheitern« zuspitze Interpretationen. Göttingen 2017.
(Weber/von Planta 1998, 16). Das Schachspiel ziele – Bigler, Regula: Friedrich Dürrenmatt/Hannes Binder: Der
anders als die Bildkomplexe des Labyrinths und des Schachspieler. In: Dies.: Surreale Begegnungen von Bild
Turms – auf die Handlungsabfolge und ermögliche und Text. Lektüren im intermedialen Dialog. Paderborn
2014, 271–295.
deshalb auch eine selbstbezügliche Komponente (We-
Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und
ber/von Planta 1998). Schließlich variiere der Autor in Rausch. Frankfurt a. M. 1982 (frz. 1958).
diesem poetologischen Bild wie ein Schachspieler sei- Gasser, Peter: Die Geburt der Literatur aus dem Geist des
ne narrative Distanz zu den Figuren oder bringe sich Spiels. Zu Friedrich Dürrenmatts Dramaturgie der Phan-
selbst ins Spielgeschehen ein (Bigler 2014). tasie. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der
Die – metaphorische – Darstellung anderer Spiele Phantasie: Dürrenmatt intertextuell und intermedial.
Göttingen 2014, 19–40.
(Billard, Mannschaftsspiele, Sport) wäre vor diesem Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur
Hintergrund weiterzuverfolgen. Seit das Spiel von Jo- im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1997 (nl. 1938).
hann Huizinga (1987) als »Kulturerscheinung« und Irmscher, Hans-Dietrich: Das Schachspiel als Metapher.
als anthropologische Basis der Kultur überhaupt dar- Bemerkungen zum ›komödiantischen Denken‹ Friedrich
gestellt wurde, steht der spielende Mensch am Ur- Dürrenmatts. In: Ders. u. a. (Hg.): Drama und Theater im
20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. Göttingen
sprung wissenschaftlicher Überlegungen und ästheti-
1983, 333–348.
scher Ausgestaltungen im 20. Jahrhundert. Im An- Jambor, Jan: Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klas-
schluss an Huizinga entwickelte Roger Caillois (1982) sischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach-Roma-
eine Typologie, in der er zwischen Kampfspielen, nen Friedrich Dürrenmatts. Presov 2007.
Glücksspielen, Schauspielen und rauschartigen Spie- Mingels, Annette: Das Spiel mit dem Spiel im Spiel. Gefähr-
302 IV  Motive und Diskurse

liche Schachpartie in Dürrenmatts Dramenfragment Die matt Neuchâtel (Hg.): Dürrenmatts Endspiele (Cahier 7).
Sekretärin. In: Stefan Koslowski u. a. (Hg.): Berner Alma- Neuchâtel 2003, 11–38.
nach, Bd. 3: Theater. Bern 2000, 248–263. Weber, Ulrich/Planta, Anna von: Der Dichter als schach-
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate- spielender Gott oder Von der Schwierigkeit, als Figur die
gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln Partie zu verstehen. Die Schachmetapher im Werk Fried-
2003, 326–332. rich Dürrenmatts. Arbeitsberichte des Schweizerischen
Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Literaturarchivs. Bern 1998.
Biographie. Zürich 2011.
Weber, Ulrich: Dürrenmatts Endspiele. In: Centre Dürren- Regula Bigler
80 Sterben/Tod 303

80 Sterben/Tod matts Interesse für ›schlimmstmögliche Wendungen‹


verdichtet (s. Kap. 98).
Exposition Gerade aufgrund der Popularität dieses Diktums
ist aber Dürrenmatts grundsätzlich positives Verhält-
Auf die Behauptung, dass in seinen Stücken »reihen- nis zu Sterben und Tod zu betonen. Die Befristung
weise Menschen umgebracht« würden, hat Dürren- der Lebenszeit gilt ihm, wie vielen, als die eigentliche
matt mit deutlicher Reserve reagiert: »Das ist ein rei- Möglichkeitsbedingung von Sinn: »Was unsterblich
nes Gerücht. Ich habe viel weniger Leichen als Shake- ist, ist ewig und damit außerhalb des Sinns [...], nur
speare« (G 3, 81). Die Abgrenzung erschöpft sich aber Vergängliches vermag sinnvoll zu sein« (WA 37, 15).
nicht im numerischen Vergleich; sie gilt auch dem Ur- Für die Wahrnehmung seiner eigenen Sterblichkeit
teil der Interpreten, es zeige sich an der Leichendichte scheint die zunächst schmerzhafte, dann aber befrei-
sein grundlegender »Zynismus«, seine »Menschen- ende Erfahrung eines Herzinfarktes (1969) entschei-
verachtung« (ebd.). dend gewesen zu sein (vgl. WA 36, 42–46). Die hohe
Aus dieser Anekdote geht in nuce hervor, was of- biografische Bedeutung des Themas zeigt besonders
fensichtlich generell gilt: Die Thematisierung von deutlich der zweite Stoffe-Band Turmbau (1990). Die
Sterben und Tod ist sensibel, im Leben wie in der Li- Generaldiagnose einer massiven Todesverdrängung
teratur. Die Darstellung von Sterbeprozessen hat ein (vgl. WA 29, 16) geht in den ersten beiden Abschnit-
besonderes Gewicht, steht in diesem Fall doch nicht ten mit einer eigentlichen Kaskade von Sterbeerzäh-
eine beliebige Lebensphase zur Debatte. Als letztes lungen einher. Die Darstellung und Reflexion gilt da-
Kapitel formatieren Sterbeerzählungen die betreffen- bei nicht nur dem Sterben naher Menschen (seiner
den Lebensgeschichten in grundsätzlicher Weise; sie Frau Lotti, des Freundes Varlin), sondern – eng ver-
mobilisieren umfassendere biografische Integrations- zahnt – auch dem seines Hundes. Aber auch literari-
muster und geben auch früheren Ereignissen ihr spe- sche Variationen des Themas sind zentral (v. a. Jean
zifisches Gewicht (vgl. Peng-Keller/Mauz 2018) – ein Pauls »Auferstehungsparodie« im Siebenkäs, 32), be-
Zusammenhang, der im Narrativ des Sterbens des ›ei- vor mit Der Tod des Sokrates eine Alternative zur pla-
genen Todes‹ besonders anschaulich wird. tonischen Apologie angeboten wird und das Buch im
Für eine Sichtung der Gemengelage im Werk Dür- Rahmen der metafiktionalen Erzählung Das Hirn mit
renmatts scheint es hilfreich, die Phänomene Ster- einem Besuch des KZ Auschwitz endet (vgl. Weber
ben/Tod klar zu unterscheiden: Das Sterben hat als 2020, 561–564; zu Dürrenmatts Tod: vgl. Lötscher
letzte Lebensphase Prozesscharakter; dieser psycho- 2003, 282–298).
physische Prozess wird durch das Ereignis des Todes Dass und wie nah Dürrenmatts Umgang mit Ster-
abgeschlossen (vgl. Groß/Grande 2010, 75). Dabei ben und Tod mit poetologisch-dramaturgischen Inte-
ergeben sich trotz der kausalen Bindung jeweils ver- ressen und Entscheidungen verbunden ist, zeigt sein
schiedene Fragen und potentielle Kontroverspunkte. Modell Scott mit besonderer Prägnanz (in: Drama-
Im Fall Dürrenmatts geht der Finalitätsaspekt des To- turgische Überlegungen zu den ›Wiedertäufern‹, 1967):
des etwa einher mit einem hohen Interesse an der no- Hier wird der vornherein feststehende Tod des Po-
torisch strittigen Vorstellung einer ›Auferstehung‹. larforschers anhand verschiedener Sterbeprozesse
In der unbestreitbaren Dichte von Todesfällen in durchgespielt, die jeweils kanonische Positionen der
Dürrenmatts Werk wird augenscheinlich: Der Autor Dramatik repräsentieren (Shakespeare, Brecht, Be-
interessiert sich – einhergehend mit seiner Neigung ckett). In seiner eigenen Variante wird der tragische
zum Katastrophischen (s. Kap. 69) – kaum für den Stoff ›schlimmstmöglich‹ zur Komödie gewendet:
›ordentlichen‹ Alters- oder auch den ›alltäglichen‹ Scott erfriert im Eis eines Kühlraums, in den er sich im
Unfalltod; seine Aufmerksamkeit gilt den außer- Zuge der Expeditionsvorbereitungen versehentlich
ordentlichen, in vielen Fällen gewalttätigen Todes- eingeschlossen hat. – Die folgende Übersicht kann nur
umständen. Dies ist nicht hinreichend erklärt durch kursorische Hinweise zu den thematisch einschlägigs-
die generischen Üblichkeiten des Kriminalromans ten Texten geben.
oder Dürrenmatts ›tragischer Komödie‹. Gerade in
der Individualität ist der Tod eine prominente Form
des Zu-Ende-Denkens und mit maßgebenden phi-
losophischen, theologischen wie poetologischen Fra-
gen verbunden – ein Umstand, der sich in Dürren-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_80
304 IV  Motive und Diskurse

Der Meteor: Tod und ›Auferstehung‹ nahme) aber weder die Morde noch die (Auflösung
der) Leichen zur Darstellung gebracht werden. Dieses
Die Komödie Der Meteor (1964/65) spielt die Proble- ›Prinzip des Nichtzeigens‹ (s. Kap. 33) manifestiert
matik insofern radikal durch, als sie die Endlichkeit sich auch in der Sprachgebung: Die Leichen werden
des Lebens außer Kraft setzt: Die Hauptfigur Schwitter euphemistisch als »Ware« (u. a. 68) bezeichnet, die
stirbt wiederholt, ein endgültiger Tod bleibt jedoch Verbrecherorganisation als »Unternehmen« (u. a. 60).
aus. Während er mehrfach ins Leben zurückkehrt, Weil durch die Leichenauflösung »[d]er perfekte
sterben jedoch sämtliche Figuren, die ihn umgeben. Mord« (30) möglich wird, wollen sich auch der Poli-
Seine hartnäckige ›Auferstehung‹ wird von manchen zist Cop und Docs Sohn Bill diese Geschäftspraxis zu-
verflucht, von anderen – etwa dem Pfarrer – im christ- nutze machen. Innerhalb des durch und durch kor-
lichen Sinn gefeiert. Innerhalb dieser Anlage lotet rupten Systems, das die kriminelle Sphäre mit Politik
Dürrenmatt die Freiheiten aus, die mit einem Leben und Wirtschaft verbindet, bildet Cop eine Ausnahme.
in Todesnähe einhergehen. Der Sterbewillige verfügt Er fungiert vor allem als Gegenfigur zum ›Mitmacher‹
über eine ungeheure Vitalität, die er skrupellos aus- Doc: »Wer stirbt, macht nicht mehr mit« (90). Durch
lebt. Die einschlägigen Lebensthematiken des Ab- den Mord an Bill ergreift er die »letztmögliche Frei-
schiednehmens, der Bereinigung von Beziehungen, heit« (211) und versucht, »eine kurze Weltsekunde
aber auch der Erbschaft spielen dabei durchaus eine lang [...] dem fatalen Abschnurren der Geschäfte Ein-
Rolle, dies aber durchgängig in Verbindung mit der halt« zu gebieten (87). Darin repräsentiert Cop den
Inversion, dass der Sterbende schließlich doch die Le- Typus des ›mutigen Menschen‹, der im Wissen um die
benden überlebt. minimalen wie letalen Folgen seines Handelns dem
Dürrenmatt hat stark auf den christlichen Bezugs- System um seiner Selbstachtung als Einzelner ent-
horizont verwiesen: Da Schwitter selbst mit seiner gegentritt (s. Kap. 72; zur sorgfältigen Abgrenzung
Auferstehung hadert, wird er zum doppelten Ärger- vom Tod des tragischen Helden, vgl. 196).
nis: »für die einen [...] als Auferstandener [...] und für
die anderen als ein nicht Glaubender« (WA 9, 160).
Schwitter ist laut Dürrenmatt auch eine Versinnbild- Die Frist: medizinische und mediale Ver-
lichung des heutigen Christentums, dem die Auferste- waltung des Lebensendes
hung selbst zum Skandalon geworden ist. Es liegt ihm
aber zugleich an einem selbstreflexiven Bezug auf die Auch in der Komödie Die Frist (1977) steht ein indivi-
Poetik der Komödie: »Für gewöhnlich stehen die To- dueller Todesfall im Zentrum, doch mit anderen Ak-
ten im Theater erst auf, wenn der Vorhang gefallen ist; zenten. Laut Dürrenmatt bot das Sterben Francisco
Schwitter aufersteht, als sich der Vorhang hebt: Das ist Francos (1975), genauer: dessen unmenschliche Ver-
der entscheidende Einfall« (G 1, 202; s. Kap. 93). Eine längerung »durch dreißig Ärzte« (WA 15, 136) eine
Federzeichnung Dürrenmatts von 1978, welche die Anregung. Die ›Frist‹ entspricht der künstlichen Le-
(titelgebende) Auferstehung in Gestalt einer kokon- bensverlängerung eines sterbenden Diktators, um
artigen Mumie zeigt, die aus der Gruft ins All schießt, dessen Nachfolge möglichst günstig regeln zu können.
dokumentiert dieses anhaltende spezifische Interesse Der Ministerpräsident spielt die potentiellen Nachfol-
(SLA-FD-A-Bi-1-113). ger politisch gegeneinander aus und versucht so einen
Bürgerkrieg zu vermeiden. In diesem Spiel wird der
Sterbende mehrfach narkosefrei operiert und seine
Der Mitmacher: Nekrodialyse und Nichtmit- Agonie kalkuliert zur Schau gestellt. Dass dieser den
machen durch Opfertod medizinischen wie medialen Maßnahmen restlos aus-
geliefert ist, korrespondiert mit seiner Repräsentation
Sterben und Tod stehen als Fait accompli auch im Zen- durch Absenz: Im Gegensatz etwa zum gesprächigen
trum von Dürrenmatts »größte[r] Theaterniederlage« Schwitter kommt der sterbende Diktator, der nicht
(Dürrenmatt, zit. nach Weber 2007, 88) Der Mit- sterben darf, kein einziges Mal zu Wort; er wird nur
macher (1973). Im Fokus steht der ehemalige Spitzen- besprochen, reduziert auf seine Lebensfunktionen.
wissenschaftler Doc, der mittels seines »Nekrodialysa- Die Verfügung über den Körper bildet zudem das
tor[s]« (WA 14, 21) die Leichen beseitigt, die im Zuge Analogon zu einem anderen Kontext: Die Manipulati-
der Machenschaften seines verbrecherischen Auftrag- on des Todeszeitpunktes scheint Dürrenmatt auf »dia-
gebers Boss zahlreich anfallen, wobei (mit einer Aus- bolische Weise identisch mit den Methoden gewisser
80 Sterben/Tod 305

KZ-Ärzte, die mit Menschen Tests unternommen hat- oder in Arbeiten zu Dürrenmatts Katastrophen (z. B.
ten, welche die Grenze seines Sterben-Könnens er- Utz 2013). Eine Zusammenschau, die die betreffende
forschten« (141). Dazu treten mythische Bezüge: Der Spezialforschung aufnimmt (u. a. Jernigan 2019), bil-
Diktator gilt ihm als »krepierender Atlas« (143) und det ein Desiderat. Als besonders ergiebig dürfte sich
Goldbaum (Arzt und Opfer jener NS-Menschenver- die Untersuchung der Beziehungen von Sterben/Tod
suche) als Prometheus-Figur. Diese Dimension wird und Humor erweisen (s. Kap. 90), aber auch das testa-
auch durch die Figurengruppe der ›Unsterblichen‹ re- mentarische Schreiben (vgl. Der Winterkrieg in Tibet)
präsentiert, die ein zotig kommentierendes weibliches und die Befristung des Lebens als Spannungselement.
Komplement zum männlichen Machtspiel bildet. Im
seinem Kommentar entwickelt Dürrenmatt eine ei- Literatur
Primärtexte
gentliche Todesästhetik: Jede Kunst sei »apokalyp- Die Frist. WA 15.
tisch: Sie setzt dem Menschen ein endgültiges Denk- Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. In:
mal, das nur ein Grabmal sein kann: so wie einmal un- WA 17, 9–32.
sere Erde« (147). Der Meteor. In: WA 9, 9–95.
Das Hörspiel Nächtliches Gespräch mit einem ver- Der Mitmacher. In: WA 14, 13–93.
Das Sterben der Pythia. In: WA 14, 274–313.
achteten Menschen (1951) bildet werkgeschichtlich
Der Tod des Sokrates. In: WA 29, 144–176.
eine frühe und intime Variante zum Sterben unter Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29.
diktatorischen Bedingungen: Das Stück gilt dem Dia- Dramaturgische Überlegungen zu den ›Wiedertäufern‹. In:
log zwischen einem in Ungnade gefallenen Schrift- WA 10, 127–137.
steller und seinem Henker, wobei die beiden eine
»fast wohlwollende Komplizenschaft« (Knapp 1993, Sekundärliteratur
Brady, Philipp: Captain Scott in the Cold-Store: Some Ritual
76) verbindet.
Formalities in Friedrich Dürrenmatt. In: Forum for
Modern Language Studies 8 (1972), 1, 27–39.
Groß, Dominik/Grande, Jasmin: Sterbeprozess. In: Héctor
Fazit und Ausblick Wittwer u. a. (Hg.): Handbuch Sterben und Tod. Stuttgart
2010, 75–83.
Was an diesen Texten deutlich wird, ließe sich am Ge- Esslin, Martin: Die Frist. Dürrenmatt’s late Masterpiece. In:
Moshé Lazar (Hg.): Play Dürrenmatt. Malibu 1983, 139–
samtwerk vielfältig weiter vertiefen: Dürrenmatt zeigt 153.
Sterben und Tod bevorzugt als Schau- oder vielmehr Lötscher, Hugo: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literari-
Kampfplatz konkurrierender ökonomischer, politi- schen Schweiz. Zürich 2003, 282–375.
scher, aber auch psychologischer Interessen. Leben Jernigan, Daniel Keith: Narrating Death. The Limit of Litera-
werden nach Maßgabe entsprechender Kriterien ver- ture. New York 2019.
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
kürzt oder verlängert. Mit der Dominanz (extravagan-
Weimar 1993, 75–77 u. 99–103.
ter) gewalttätiger und damit schneller Tode gehen Peng-Keller, Simon/Mauz, Andreas (Hg.): Sterbenarrative.
komplexe Täter-Opfer-Konstellationen einher, die in- Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am und
nerliterarisch wie außerliterarisch bevorzugt in der vom Lebensende. Berlin 2018.
Strukturmetapher des Schachspiels thematisiert wer- Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
den (s. Kap. 79). Der selbstbestimmte Tod bildet dabei gangsszenarien aus der Schweiz. München 2013.
Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
– wie etwa in der Erzählung Der Tod des Sokrates – der Mitmacher-Krise. Frankfurt a. M. 2007.
eher die Ausnahme als die Regel. Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Die Forschung hat sich bislang eher beiläufig der Zürich 2020.
Sterbe- und Todesthematik gewidmet, sei es im Kon-
Andreas Mauz
text von Einzeltextuntersuchungen (z. B. Esslin 1983)
306 IV  Motive und Diskurse

81 System Frank der Fünfte im Fokus

Einleitung Die zunehmende Unüberschaubarkeit der Welt u. a.


aufgrund der Bevölkerungsexplosion, die Dürrenmatt
Friedrich Dürrenmatt hat sich in seinem essayisti- bereits im Essay Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit
schen und literarischen Werk über viele Jahre mit mo- beschäftigt (1956), birgt für ihn ein dramaturgisches
dernen Gesellschaftssystemen beschäftigt. Seine Aus- Darstellungsproblem: Wie kann ein solches Gesell-
einandersetzung beginnt gegen Ende der 1950er Jahre, schaftssystem auf der Bühne präsentiert werden? Da
verstärkt sich in den 1960er und 1970er Jahren wäh- er sich v. a. während der Arbeit an Frank der Fünfte
rend der Arbeit an Frank der Fünfte und Der Mit- (1959) intensiv zum Systembegriff äußert, liegt der
macher und findet u. a. eine Wiederaufnahme im La- Fokus im Folgenden auf diesem Theaterstück und den
byrinth. Um Dürrenmatts Systembegriff in seiner dazugehörenden Reden und Gesprächen. Die Analyse
Komplexität zu verstehen, ist es notwendig, auf seine der dargestellten systemischen Bedingungen zeigt,
Ausführungen zum Menschen zurückzugreifen, denn dass das Stück in Dürrenmatts Schaffen eine Art Wen-
er fasst ihn 1969 anhand eines »Doppelbegriff[s]« (WA depunkt darstellt (vgl. Käppeli 2013, 219).
33, 56): Einerseits ist der Mensch Teil eines Kollektivs; 1961 erklärt er in einem Gespräch: »Ich stelle nicht
andererseits kann er in diesen Strukturen auch ein eine kapitalistische Gesellschaft dar, sondern ein Ge-
Einzelner sein (vgl. 56–58). Auf dieser Dualität basiert waltsystem« (G 1, 121). Zwei Jahre später ergänzt er in
sein soziopolitischer Diskurs, der die Reflexionen über einer Rede, dass die Franksche Privatbank »als Sym-
moderne Gesellschaftssysteme maßgeblich bestimmt. bol eines Machtsystems verstanden werden« (WA 6,
Wie wichtig dieses duale Konzept für Dürrenmatt 163) kann, in der ein Kollektiv »radikal ins Schiefe ge-
ist, führt er 1966 aus: »Frank der Fünfte behandelt ein dreht« (162) wird. Wie wichtig für ihn dieser Fokus
Kollektiv. Ich fingierte eine Verbrecherbank, um [...] auf die systemischen Bedingungen ist, in denen das
zu zeigen, daß ein Kollektiv Gesetzen untersteht, die Kollektiv lebt, zeigt sich daran, dass er wiederholt da-
anders sind als die Gesetze, die den Einzelmenschen rauf zurückkommt und sich mit seinem »Kollektiv-
bestimmen. Die Soziologie behandelt den Menschen Drama« bewusst vom Theater des einzelnen Helden
innerhalb der Gemeinschaft, die Psychologie hat den abgrenzt (G 1, 192 f.; vgl. G 2, 87).
Einzelmenschen zum Gegenstand. Es ist bemerkens- 1967 erklärt Dürrenmatt zudem, wieso er in Frank
wert, daß wir in der Dramaturgie noch weitgehend der Fünfte auf eine Privatbank fokussiert, also auf die
den Menschen als Einzelwesen verwenden [...]. Dem ökonomischen Institutionen des Gesellschaftssys-
gegenüber steht [...] der Mensch, der in ein System ge- tems: »Nehmen Sie die griechischen Klassiker oder
zwungen ist [...]. Die meisten Menschen leben heute Racine, Corneille: Die Familie ist der Urstaat. [...] Der
in Kollektiven« (G 1, 248). Staat ist heute vielmehr unter dem Begriff einer Firma
Der systemische Ansatz wurde lange Zeit wenig be- zu sehen. [...] Ich nehme ein ›anderes‹ Symbol für den
achtet, denn bei Kritik und Forschung stand vorwie- Staat: eine Bank« (G 1, 282). Dürrenmatt wechselt so-
gend Dürrenmatts Einzelner, der ›mutige Mensch‹ mit bewusst die Systemmetapher; er ist überzeugt,
oder ›der ironische Held‹, im Fokus. Der Autor hat die- mithilfe einer Firma die modernen Bedingungen ad-
se Fokussierung auf den Einzelnen zwar verstanden, äquat darstellen zu können.
entsprach sie doch seinem wiederholten Hinweis auf In Frank der Fünfte wird dem Zuschauer nun ein
eine starke Prägung durch Kierkegaard (vgl. WA 29, durch und durch verbrecherisches System präsentiert,
125); dennoch zeigte er sich zunehmend irritiert, dass eine »Gangsterdemokratie« (WA 6, 162), in der durch
sein Versuch, auf der Bühne moderne Gesellschaftssys- die vorherrschende Korruption alle Regeln und Ge-
teme darzustellen, vernachlässigt oder nicht verstan- setze außer Kraft gesetzt sind. Im Nachwort des Mit-
den wurde (vgl. G 1, 186 u. 192 f. u. 248). Charakteris- macher-Komplexes geht Dürrenmatt ausdrücklich auf
tisch ist dabei, dass sich Dürrenmatts Interesse an Ge- deren Funktion ein: »Die Korruption setzt die poli-
sellschaftssystemen oder Teilbereichen, etwa den poli- tischen Systeme ebenso außer Kurs wie die Ironie
tischen Institutionen, nicht allein auf deren statischen die ästhetischen und moralischen Kategorien. Wird
Ist-Zustand richtete. In einer Welt, in der die Bevölke- durch die Korruption die Demokratie unwirksam,
rung exponentiell anwuchs, interessierte ihn auch die wird die Diktatur durch sie erträglicher, sie entschärft
Möglichkeit von Wandel und Steuerbarkeit der syste- jedes System« (WA 14, 218). Hier erfolgt nun die für
mischen Bedingungen sowie die Rolle des Einzelnen. Dürrenmatts systemisches Denken wichtige Schluss-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_81
81 System 307

folgerung, wonach der Einzelne in seinen Theaterstü- (1919), zwei politische Systemkonzepte: Zum einen
cken erst geboren wird, wenn das Allgemeine negativ wird System als rationaler, totaler Begriff verstanden
wird (vgl. 197). und mit Institution gleichgesetzt. Zum anderen wird
Der Dürrenmattsche Einzelne ist somit primär eine der Staat als Ordnung definiert, die ein emotionaler,
systembedingte Figur, die in ungerecht gewordenen individueller Begriff ist, und somit als Vaterland ver-
Systemen entsteht. Während der mutige Mensch standen. Das erste Konzept findet sich in Dürrenmatts
Böckmann sich gegenüber den systemischen Bedin- Erzählung Der Sturz literarisch umgesetzt, das zweite
gungen vorwiegend passiv verhält, kämpft der iro- in Der Rebell (vgl. Weber 2003, 81–83).
nische Held Cop in Der Mitmacher aktiv gegen die Auch im essayistischen Werk findet weiterhin eine
Missstände an (vgl. Weber 1996, 68). Böckmann, in Auseinandersetzung mit Systemen statt, z. B. in der
Frank der Fünfte der Einzelne, steht noch in der Tradi- Rede Über Toleranz (1977). Dürrenmatt ist der Über-
tion der frühen Stücke Dürrenmatts. Die systemi- zeugung, aufgrund des exponentiellen Bevölkerungs-
schen Bedingungen hingegen werden als zunehmend wachstums werde die Gerechtigkeit wichtiger als die
undurchschaubar und entdifferenziert dargestellt. Die Freiheit. Daher müssen, so folgert er, politische Syste-
Entwicklungen können, wie in späteren Stücken, denn me geschaffen werden, die stets gerechter, vernünfti-
auch nicht mehr bis ins Detail berechnet und gesteu- ger werden – was nur möglich ist, wenn sie kritisierbar
ert werden. Auf der Bühne tritt die ›schlimmstmögli- und veränderbar sind (vgl. WA 33, 145–147).
che Wendung‹ ein, sozialer Wandel zum Positiven
bleibt aus (vgl. Käppeli 2013, 211–213). Literatur
Primärtexte
An die Kritiker ›Frank des Fünften‹. In: WA 6, 160–165.
[Der Mitmacher.] Nachwort. In: WA 14, 95–328.
Diskussion Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem
helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der
Der konsequente Versuch, auf der Bühne zunehmend Politik. In: WA 33, 36–107.
Nachwort zu ›Achterloo IV‹. In: WA 18, 541–567.
komplexe, entdifferenzierte Systeme zu zeigen, ist be-
Über Toleranz. In: WA 33, 125–149.
reits in Frank der Fünfte erkennbar und wird in Der
Mitmacher auf die Spitze getrieben. Der dargestellte Sekundärliteratur
Problemzusammenhang wird vom Publikum und den Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
Kritikern aber teilweise nicht mehr verstanden (vgl. matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
u.a WA 6, 160–165). Dürrenmatt bezeichnet Der Mit- Werks. Köln, Weimar, Wien 2013.
Käser, Rudolf: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche
macher denn als »große Niederlage« (G 2, 145); das
Auge«. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungs-
Stück markiert den Beginn seines ›Abschieds vom feld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In:
Theater‹, den er mit Achterloo IV schließlich vollzieht Text + Kritik 50/51 (2003), 167–182.
(vgl. WA 18, 541). Aus der erfahrenen Unmöglichkeit, Weber, Ulrich: »Ob man sich selbst zum Stoff zu werden ver-
mit einer Dramaturgie der Personalisierung ein Sys- mag?«. Kierkegaard und die Entwicklung des subjektiven
tem der Entpersonalisierung auf der Bühne erfolg- Schreibens im Mitmacher-Komplex. In: Quarto. Zeitschrift
des Schweizerischen Literaturarchivs 7 (1996), 65–79.
reich darzustellen, findet er vorerst einen künstleri- Weber, Ulrich: Elternsuche und Ideologiekritik. Die Stoffe-
schen Ausweg in eine neue Prosaform (vgl. Käser Erzählung Der Rebell und Dürrenmatts wiederholte Kass-
2003, 178 f.; Weber 2007, 97–99 u. 231–240; Käppeli ner-Lektüre. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 73–86.
2013, 217–219). Weber, Ulrich: Die Entstehung von Friedrich Dürrenmatts
Dort nimmt Dürrenmatt auch seine systemischen Spätwerk aus der Mitmacher-Krise. Basel, Frankfurt a. M.
2007.
Überlegungen wieder auf. In Labyrinth entwickelt er,
in Anlehnung an Rudolf Kassners Zahl und Gesicht Patricia Käppeli
308 IV  Motive und Diskurse

82 Technik Status der Technik. Eichelberg weist darauf hin, dass


Dürrenmatt schon damals auf ökologische Probleme
»Was ist Technik?« (WA 32, 154). Diese Frage beant- aufmerksam wurde, denn Eichelbergs Vater (Gustav
wortet Dürrenmatt im Vorwort zum Buch von Bern- Eichelberg, Professor für Thermodynamik und Ver-
hard Wicki ›Zwei Gramm Licht‹ (1960) mit Hinweis brennungsmotoren an der ETH Zürich) habe bereits
auf den Schriftsteller und Technosophen Adrien Tu- seit den 1930er Jahren auf die Verantwortung der
rel: Technik sei »die Möglichkeit, Prothesen anzuwen- Technik hingewiesen und sei über die »rechenschafts-
den« (ebd.). Wer Technik unter dem Aspekt ihrer Pro- lose Verschwendung der Erdölvorkommen und die
thesenhaftigkeit denkt, denkt sie ambivalent: Sie ist leichtfertige Verseuchung von Wasser, Luft und Bo-
notwendig, ermöglicht vieles, aber sie macht den den« erzürnt gewesen (Eichelberg 1997).
Menschen auch abhängig. Diese Spannung entfaltet In diesem Zusammenhang ist Dürrenmatts Lektü-
Dürrenmatt in seinem Nachdenken über Technik auf re des 1956 erschienenen Buches Heller als tausend
exemplarische Weise. Sonnen von Robert Jungk von entscheidender Bedeu-
tung. Jungk thematisiert die Erfindung der Atom-
bombe und rekonstruiert das Verhalten der an ihr be-
Technik in der Evolutionsgeschichte teiligten Akteure. Dürrenmatt bespricht das Werk für
die Weltwoche. In der Atombombe sieht er den »Son-
Turel hat den Menschen im Anschluss an Freud als derfall« einer grundsätzlichen Ambivalenz der Tech-
›Prothesenwesen‹ bestimmt und dieses Konzept in nik: »Was ›technisch süß‹ war, verführte die meisten
mehreren seiner Schriften entfaltet, die sich in der Bi- [...]. Daß alles menschlich verständlich ist, macht die
bliothek Dürrenmatts befinden. Turels Konzept ist in Geschichte teuflisch. So entsteht schließlich der Ein-
eine umfassende Periodisierung der Evolutions- druck, daß all diese apokalyptischen Bomben nicht
geschichte eingebettet. Der Mensch zeichnet sich, so erfunden wurden, sondern sich selber erfunden ha-
betrachtet, dadurch aus, dass er in der relativ kurzen ben, um sich, unabhängig vom Willen Einzelner, ver-
Zeit von 50.000 Jahren alle Lebensräume durch tech- mittels der Materie Mensch zu verwirklichen« (WA
nische Prothesen (Schiffe, Dampflokomotiven, Flug- 34, 24). Diese Lesart steht in engem Zusammenhang
zeuge) erobert hat, ohne dabei seine leibliche Gestalt mit Dürrenmatts Zeitdiagnose in Theaterprobleme
zu verändern (»Werkumsatz«). Die Saurier brauchten (1954): »In der Wurstelei unseres Jahrhunderts [...]
zur Eroberung derselben Lebensräume 150 Millionen gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwort-
Jahre und waren dabei auf evolutionäre Artendiffe- lichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es
renzierung angewiesen, die einherging mit massiver nicht gewollt« (WA 30, 62). Erstmals zeigt sich hier
körperlicher Spezialisierung, was wiederum ihre An- eine Einsicht in die Eigengesetzlichkeit komplexer
passungsfähigkeit an veränderte Umweltbedingungen Systeme, die den Einzelnen als Ressource behandeln
schmälerte und zu ihrem Aussterben beitrug (»Wer- und ihn zum ›Mitmacher‹ degradieren.
deumsatz«; vgl. Turel 1947, 116). Eine vergleichbare
»Formpanik« (ebd., 108) der körperlichen Überspe-
zialisierung stellt Turel bei den Großsäugetieren am Technikreflexion in Dürrenmatts Poetologie
Ende des Tertiär fest, bei Säbelzahntigern, Mammuts und literarischem Werk
und anderen »groteske[n] Zahnhypertrophien« (ebd.,
90). Solche Sackgassen hat der Mensch sich ersparen Dürrenmatts Auseinandersetzung mit der Ambiva-
können. Diesen »›allgeschichtlichen‹ Aspekt« Turels lenz der Technik gehört auch zu den Voraussetzungen
(WA 32, 156) übernimmt Dürrenmatt. Er prägt bei seines poetologischen Entwurfs Vom Sinn der Dich-
ihm nicht nur das Motiv der Saurier und der Mam- tung in unserer Zeit (1956). »Der Mensch sieht sich
muts im bildnerischen Werk, sondern er bezieht sich immer gewaltiger von Dingen umstellt, die er zwar
auch an bedeutenden Stellen seiner Reden darauf, z. B. handhabt, aber nicht mehr begreift« (WA 32, 63). Er
im Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht (1968; kritisiert die Tendenz von Schriftstellern und Geistes-
WA 33, 87), in Kunst und Wissenschaft (1984; WA 36, wissenschaftlern, sich angesichts dieser Sachlage in
90) und zuletzt in der Laudatio auf Michail Gorbat- den Elfenbeinturm des Humanismus zurückzuziehen.
schow (1990; WA 36, 194). Doch gleichzeitig reflektiert Dürrenmatt die Ambiva-
In den Jahren 1955 bis 1957 führte Dürrenmatt mit lenz technischer Prothesen literarisch, indem er z. B.
seinem Freund Marc Eichelberg Gespräche über den im Besuch der alten Dame (1956) oder in Der Winter-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_82
82 Technik 309

krieg im Tibet (1981) menschliche Körper darstellt, die matiker und die Philosophen sich selber, treiben wir
auf groteske und selbstzerstörerische Weise mit Pro- sie endgültig in die Ghettos ihrer Fachgebiete zurück,
thesen verschmelzen und gerade dadurch die humane wo sie hilflos und unbemerkt den Raubzügen der
Flexibilität einbüßen (vgl. Kap. 70). Techniker und der Ideologen ausgeliefert sind [...].
Dürrenmatts Auseinandersetzung mit der Kern- Ich werde darum [...] unerbittlich als Laie reden«
physik erreicht ihren Höhepunkt in der Komödie Die (WA 33, 150). Damit hörte Dürrenmatt nicht auf. Bei
Physiker (1962). Ihr Protagonist Möbius löst nicht nur seinen Besuchen des CERN und des astronomischen
das Problem der »einheitliche[n] Feldtheorie« (WA 7, Observatoriums auf Mount Palomar erkannte er, dass
69), an dem Einstein scheiterte; er kümmert sich auch die Wissenschaften heute von der Technik abhängig
um die technischen Anwendungsmöglichkeiten sei- geworden seien (vgl. WA 36, 90–94). Die Parodie des
ner Erkenntnisse, indem er das »System aller mögli- Gebissprothesen schwingenden Zahntechnikers in
chen Erfindungen« (ebd.) entwirft – ein Konzept, das Achterloo III und Achterloo IV (z. B. WA 18, 346 f.)
an Fritz Zwickys ›morphologischen Baukasten‹ zur sind späte Variationen des evolutionsphilosophi-
Erfindung aller erdenklichen Antriebssysteme er- schen Konzeptes, das Dürrenmatt von Turel über-
innert (vgl. Zwicky 1962). Möbius erkennt: »Neue, nommen hat. Die späte Science-Fiction-Erzählung
unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Der Versuch ist aus der Perspektive eines Computers
Technik ermöglicht, die jeder Phantasie spottet« (WA erzählt, der mit letztem Engagement die These be-
7, 69). Er zieht die Konsequenz, sein Wissen um jeden kämpft, der Mensch habe den Computer erfunden;
Preis zu verheimlichen, was ethisch unhaltbare und wahr sei vielmehr das Gegenteil: Computer hätten
tragikomische Folgen nach sich zieht. Skepsis gegen- den Menschen geschaffen (vgl. WA 37, 129). Die Pro-
über Technikeuphorie kommt in dieser Komödie these hat die Herrschaft übernommen. Immer wieder
pointiert in Möbius’ »Psalm Salomos, den Weltraum- erhebt Dürrenmatt Einspruch gegen technik-eupho-
fahrern zu singen« zum Ausdruck (vgl. 41 f.). Vorder- rische Blindheit: »Ob es sich um die Abschreckung
gründig dient der Psalm dazu, Möbius’ Familie ab- durch Atombomben, um Atomkraftwerke, um die
zuschrecken, hintergründig stellt er aber eine prophe- Lagerung von Atommüll, um die Plünderung unseres
tische Vision des Scheiterns dar: Die Raumfahrt führt Planeten usw. handelt, immer reden diejenigen, wel-
zu tödlichem Orientierungsverlust, zum Vergessen che daran glauben, uns ein, wir sollen glauben, was sie
der »atmende[n] Erde« (42) als dem einzigen Biotop tun, sei absolut sicher« (WA 29, 111). Im autobiogra-
des Menschen. fischen Essay Vallon de l’Ermitage (1988) beschreibt
Dürrenmatt hat 1969 die Fernsehübertragung der er schließlich eine Mülldeponie in unmittelbarer Nä-
Mondlandung mitverfolgt. Er reagiert auf dieses Me- he seines Wohnhauses. Diesen Unort stellt er als real
dienereignis mit dem zornigen Essay Die vier Ver- existierendes Gleichnis des schlechten Umgangs des
führungen des Menschen durch den Himmel. Zwar Menschen mit der Welt dar. In den publizierten Ge-
anerkennt er die Sachkompetenz wissenschaftlicher sprächen wird spürbar, dass sich seine Zukunftsvision
Experten, aber er verspottet die Euphorie der kom- verdüstert: »Wenn ich als Arzt sprechen würde, so
mentierenden Geisteswissenschaftler: »Zu einer tech- lautete meine Diagnose: Die Menschheit ist bio-
nischen Perfektionsleistung sollte man keine Schön- logisch krank. Sie ist nicht imstande, gemäß ihrem
geister beiziehen; da die Naturwissenschaften immer Wissen zu leben« (G 4, 14).
noch unter ihrem Denkniveau liegen, bestaunen sie
die Technik, wie Neandertaler ein Fahrrad bestau- Literatur
Primärtexte, Quellen
nen würden: sie beten sie an« (WA 33, 28). Diesen Albert Einstein. In: WA 33, 150–172.
Euphorikern schreibt Dürrenmatt ins Gedächtnis: ›Heller als tausend Sonnen‹. Zu einem Buch von Robert
»Es ist leichter, auf den Mond zu fliegen, als mit ande- Jungk. In: WA 34, 20–24.
ren Rassen friedlich zusammenzuleben, [...] leichter, Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: WA 32, 60–69.
als den Hunger und die Unwissenheit zu besiegen« Die Physiker. WA 7.
Die vier Verführungen des Menschen durch den Himmel.
(31).
In: WA 33, 26–32.
Im Festvortrag zum 100. Geburtstag Albert Ein- Vorwort zum Buch von Bernhard Wicki ›Zwei Gramm
steins (1979) spricht Dürrenmatt davon, es sei die Licht‹. In: WA 32, 154–159.
Aufgabe des Schriftstellers, die Wissenschaft anders Eichelberg, Marc: Brief an Jürgen Meyer, 12.1997 (keine
zu durchdenken, als die Wissenschaft sich selber den- genaue Datierung). Unv. Kopie im Schweizerischen Lite-
ke: »Denn überlassen wir die Physiker, die Mathe- raturarchiv.
310 IV  Motive und Diskurse

Turel, Adrien: Von Altamira bis Bikini. Die Menschheit als Sekundärliteratur
System der Allmacht. Zürich 1947. Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Phantasie der Wissen-
Zwicky, Fritz: Morphology of Propulsive Power. Pasadena schaften. L ’ imaginaire des sciences. Neuchâtel 2017
1962. (Cahier 15).
Youngman, Paul A.: We are the Machine. The Computer, the
Internet, and Information in Contemporary German Lite-
rature. Rochester 2009, 49–60.

Rudolf Käser
83 Tiere 311

83 Tiere referentialisiert, nicht aber als dramatis personae re-


präsentiert werden, spielen sie als diegetische Figu-
Tiere tauchen in Dürrenmatts Werk in allen Schaf- ren insbesondere in der Prosa, Essayistik sowie in
fensphasen und in allen Gattungen auf. Selbst in den den Stoffen und Zusammenhängen eine entscheiden-
Zeichnungen fehlen sie nicht. Die Ursprünge einiger de Rolle. Buchstäblich Gestalt und Form, vor allem
Tierfiguren sind dabei im antiken Mythos und der aber bestimmte Bedeutungen und Identitäten neh-
europäischen Literaturgeschichte zu suchen, wie etwa men die Prosa-Tiere durch die Perspektive der Er-
die Frösche und der Esel in Der Prozeß um des Esels zählinstanzen und die Fokalisierung der mensch-
Schatten oder der Minotaurus der gleichnamigen ›Bal- lichen Figuren an. Die Dramen-Tiere wiederum
lade‹ und dazugehörigen Zeichnungen. Andere, wie kommen vornehmlich typisiert und in absentia durch
die konversierenden Saurier in Die Dinosaurier und den Nebentext zum Vorschein. Die Kühe, die in Her-
das Gesetz, treten als gleichnishafte Fantasiewesen in kules und der Stall des Augias gemolken und getät-
Erscheinung. Weit zahlreicher sind allerdings solche schelt werden, sind laut Nebentext »nur in der Ein-
Tiere, die integraler Bestandteil sowohl der Kultur- bildungskraft des Publikums« vorhanden (WA 8, 69).
geschichte des Menschen als auch der Lebensgeschich- Dennoch sind auf Dürrenmatts Werk-Bühne nicht
te Dürrenmatts sind: Hunde, Katzen, Pferde, Kühe, alle Tiere abwesend anwesend. Von den »unermeß-
Schweine, Hühner und Ratten. liche[n] Scharen von gackernden Hühnern« (WA 2,
Dieses Bestiarium ist nicht nur in seinem Umfang 13) in Romulus der Große bis hin zu der toten Hün-
ungewöhnlich, sondern erscheint gerade für einen din, die in Achterloo vor Napoleons Füßen landet –
Autor wie Dürrenmatt erstaunlich, hatte er doch z. B. Dürrenmatts dramatisierte Tiere können sich auch
in seiner Rede Über Toleranz selbst betont, dass »vom jenseits einer rein rhetorischen Präsenz bemerkbar
Menschen« geredet werden müsse, denn »nur von machen.
ihm läßt sich reden« (WA 33, 148). Klar ist aber
auch: Wer vom Menschen und menschlicher »Ver-
nunft« (ebd.) sprechen will – und das tut Dürrenmatt Anthropologische Differenz und politische
zeitlebens –, muss gleichzeitig auch immer etwas Zoologien
über »die Tiere« (ebd.) sagen. Dürrenmatt als ›Tier-
autor‹ zu betrachten, ist daher durchaus berechtigt. Wann immer in Dürrenmatts Werk von Tieren, vor
allem aber von ›dem Tier‹ oder ›den Tieren‹ im Sinne
eines Kollektivsingulars gesprochen wird, geht es um
Dürrenmatts Bestiarium die Setzung eines Unterschieds. Besonders augenfäl-
lig wird dies mit Blick auf das essayistische und auto-
Bei weitem nicht jedes von Dürrenmatts Tieren wird fiktionale Werk, vor dessen Hintergrund sich Dür-
als leibhaftige Figur der textuellen oder gezeichneten renmatts Tiertheorie rekonstruieren lässt. Unter
Welt in Szene gesetzt. Eine Vielzahl der Tiere ist aus- Rückgriff auf ein evolutionsbiologisches Narrativ
schließlich auf einer rhetorischen Ebene präsent, animalisiert Dürrenmatt den Menschen wiederholt
wenn sie beispielsweise als abwertende Ausdrücke, als »Raubtier mit manchmal humanen Ansätzen«
sprachliche Mittel der Vergleichung oder in Redewen- (WA 28, 21), relativiert diese Animalisierung dann
dungen verwendet werden. In anderen Texten besit- aber dadurch, dass er drei ineinandergreifende Ver-
zen Tiere einen konkreten Stellenwert im jeweiligen mögen ins Spiel bringt, die eine Ausnahmestellung
Handlungsgefüge. Die Hunde aus den Früherzählun- des Menschen konstatieren sollen: 1. Denk-, Sprach-
gen Der Alte und Der Hund agieren ebenso wie Gast- und Vernunftfähigkeit, 2. Bewusstsein der eigenen
manns Wachhund in Der Richter und sein Henker, der Sterblichkeit und Geschichtlichkeit, 3. neurophysio-
Hund Mani, der im Durcheinandertal den Milchkar- logische und technologische Entwicklung. Das Tier
ren zieht, aber auch Dürrenmatts eigene Hunde (She- wiederum wird »als etwas Unbedingtes« mystifiziert,
riff, Buddy etc.), die in den Stoffen erwähnt werden, als »das, weil es den Tod nicht kennt, in einer Art Un-
diegetische Figuren der erzählten (Auto-)Fiktion. endlichkeit lebt« (WA 37, 20; vgl. G 2, 310 f.). In ra-
Mithilfe dieser heuristischen Unterscheidung kön- tionalistischer Manier kann Dürrenmatt daher zu
nen hinsichtlich des Gesamtwerks zwei gattungsspe- dem Schluss kommen: »Könnte sich das Tier definie-
zifische Befunde konstatiert werden: Während Tiere ren, so würde es sagen, sentio ergo sum, ich fühle, also
in Dürrenmatts (Hörspiel-)Dramatik vornehmlich bin ich, während der Mensch bestimmt ist durch das

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_83
312 IV  Motive und Diskurse

cogito ergo sum, ich denke, also bin ich« (WA 36, lerdings nicht allein Medien der anschaulichen Er-
193). kenntnis. Vielmehr können sie, drittens, als Formen
Ähnliche Formen der Animalisierung des Men- angesehen werden, »in denen eine Politisierung des
schen und Mystifizierung des Tieres finden sich auch Umgangs mit Tieren zu erkennen ist« (Kling 2016,
im literarischen Werk; etwa, wenn Richelieu in Ach- 98). Mithilfe von Tieren versprachlicht Dürrenmatt
terloo den Menschen als »ganz passable[n] Raubaf- bestimmte Ordnungssysteme: Tiere und Tierbezeich-
fe[n]« (WA 18, 88) bezeichnet oder der Henker in nungen reflektieren in diesem Zusammenhang ins-
Nächtliches Gespräch zwischen einem demütigen besondere soziale Unterschiede zwischen Menschen
Sterben und einem »wie Tiere [S]terben, gleichgül- auf der einen, Grade der Menschlichkeit auf der ande-
tig« (WA 17, 22), unterscheidet. Mit Tieren lotet Dür- ren Seite. Was alle menschlichen Figuren eint, die in
renmatt demzufolge die Gemeinsamkeiten, vor al- Dürrenmatts Texten aus der Wahrnehmung der je-
lem aber die Unterschiede zwischen Tieren und Men- weilig Sprechenden als Tiere bezeichnet werden, ist
schen, Natur und Kultur aus. Deutlich wird dabei, ihr damit angezeigter Ausschluss aus bestimmten so-
dass diese Unterschiede keineswegs selbstverständ- zialen Verbünden oder der menschlichen Gemein-
lich sind. Sie müssen affirmiert, inszeniert und fort- schaft als solcher, an die bestimmte kulturelle und
während postuliert werden. Genau dies tut Dürren- ideelle Werte geknüpft sind: Humanität, Mitgefühl,
matt auf eine frappierend vehemente Art in seinen Partizipation, Integrität. Besonders eindrücklich wird
Schriften. eine solche politische Zoologie der Mensch-Mensch-
Vor dem Hintergrund dieser Tiertheorie kann Dür- Differenzierung qua Tier, wenn Ratten auftauchen
renmatt mit Tieren dann in dreierlei Hinsicht Politik (vgl. etwa Abu Chanifa und Anan ben David; Knipper-
machen. Weil sie als das Andere des Menschen erschei- dollinck in Es steht geschrieben; den Juden Gulliver in
nen, das dennoch aus evolutions- und kulturgeschicht- Der Verdacht; den Protagonist in Vinter). Als Symbole
licher Sicht in einem Analogie- und Kontinuitätsver- des Abjekten und Grotesken, als Metaphern des Ent-
hältnis zum Menschen steht, lässt sich mit Tieren, ers- menschlichten oder Noch-Nicht-Menschlichen er-
tens, exemplarisch über Abstrakta und Konzepte re- schöpfen sich Dürrenmatts Tiere allerdings nicht.
den. Im Sinne einer gleichnishaften Verfremdung, die Vielmehr demonstrieren die Texte, wie politische
groteske, humoristische, satirische und zynische Züge Zoologien und literarische Anthropologien an der
tragen kann, funktioniert dies z. B. im Hinblick auf Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren, Men-
Ideologien, politische Systeme und Kalküle. So können schen und anderen Menschen mitschreiben, dabei
z. B. bürgerliche und sozialistische Theorie als »das aber gleichermaßen diese Unterscheidungen qua Text
Wolfsspiel und das Gute-Hirte-Spiel« (WA 33, 51) oder als etwas Gemachtes, vorsätzlich Gestaltetes vor Au-
die atomare Bewaffnung der Schweiz als »Schaf« im gen stellen, das sowohl in philosophischer als auch äs-
»Wolfspelz« (G 1, 262) reflektiert werden. thetischer Hinsicht transformiert werden kann.
Weil (Haus-)Tiere für Dürrenmatt als das Fremde
im Eigenen, als begriffslose Teilnehmende in der
menschlichen Welt des Begrifflichen gelten, können Zoopoetik
sie, zweitens, als mediale Vermittler einer außer-
sprachlichen Wirklichkeit das veranschaulichen, was Eine Besonderheit in Dürrenmatts Schriften sind die-
sich der sinnlichen Anschauung entzieht. Ein toter jenigen Tiere, die als Akteure künstlerische Produkti-
Schäferhund wird somit zum »Sinnbild des Todes on und ästhetische Reflexion initiieren. In diesem Sin-
selbst« (WA 29, 19) und offenbart dabei sowohl den ne stehen sie im Zeichen einer Zoopoetik: »a process
Schrecken des Todes als auch die Suspension der Zeit of discovering innovative breakthroughs in form
im Tod. Die Ratte im Laborlabyrinth wiederum bringt through an attentiveness to another species’ bodily
die retrospektiv beleuchteten »Irrwege« (WA 29, 26) poiesis« (Moe 2014, 10). So bildet eine Fledermaus, die
und damit verbundenen Gefühlszustände der eigenen Dürrenmatt wiederholt während des Malens »be-
Jugend zum Ausdruck. Tiere kommen also nicht zu- sucht«, den Ursprung seiner literarischen und zeich-
letzt auch dort ins Spiel, wo es um das »Nichtdarstell- nerischen Beschäftigung mit dem »Motiv ›Engel‹«
bare« (21), wie Emotionen, Subjektivität, Tod und die (WA 32, 203). Aus der Berührung mit und in Anse-
außersprachliche Realität per se geht. hung von Fledermaus Mathilde entsteht allerdings
Dürrenmatts Tiere sind in beiden genannten Ent- mehr als ein Fledermaus-Engel-Motiv, das sich als sol-
faltungsweisen einer anthropologischen Differenz al- ches sowohl in Ein Engel kommt nach Babylon und Die
83 Tiere 313

Panne als auch in Dürrenmatts Zeichnungen nieder- Zur Forschung


geschlagen hat. Denn Mathilde ist nicht nur der Aus-
gangspunkt für die Frage, wie ein Engel »dramatur- Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich den
gisch« und ästhetisch »zu gestalten wäre« (204). Viel- Tieren Dürrenmatts bislang nur spärlich zugewandt.
mehr ist sie auch dann noch präsent, wenn Dürren- Besonders häufig ist dabei die Mensch-Stier-Figur des
matt das Mystische als »ultraviolette Fledermaus« Minotaurus als »Sinnbild der sich widersprüchlichen
bezeichnet, und damit »das rein Subjektive, das nicht Kreatur« (Mingels 2004, 265) des Menschen in den
Beweis- und das nicht Widerlegbare« (WA 36, 138) Blick genommen worden. Den Text selbst hat man et-
auszudrücken bestrebt ist, das für ihn jenseits sprach- wa als »Parabel über den Zweiten Weltkrieg, den Na-
licher und bildlicher Darstellung steht. tionalsozialismus und den Holocaust« (Ziolkowski
Auch die Erinnerung an die Spuren eines Tieres 2014, 260; vgl. auch Craciun-Fischer 2000) interpre-
kann zum Ausgangspunkt ästhetischer Theoriebil- tiert. In diesem Sinne wurden Dürrenmatts Tiere vor-
dung werden. Zweimal gleitet Dürrenmatt laut eige- nehmlich als satirisch-parabolische, grotesk-verfrem-
nen Abgaben »unfreiwillig« (WA 29, 116) unter den dete Manifestationen einer imaginativen Auseinan-
Augen eines Gärtners »auf dem gleichen Hundedreck« dersetzung mit gesellschaftlicher Wirklichkeit gedeu-
(ebd.) aus. Diesem Gärtner, so stellt sich Dürrenmatt tet (vgl. etwa Schu 2007, 129; Grimm 2013, 49).
rückblickend vor, war an dieser Stelle »der Mensch in Dass Dürrenmatts Tiere auf paradigmatische Weise
seiner Lächerlichkeit an sich erschienen, als die Urko- an der Schnittstelle von Literatur und Autofiktion, Er-
mödie« (ebd.). Ein leibhaftiger Schäferhund ist wiede- findung und Erinnerung, Philosophie und Zoologie
rum dasjenige Tier, das er im Rückblick zum Inbegriff stehen, hat Rudolf Probst (2008, 151–155) aus einer
künstlerischer Inspiration und Produktion stilisiert. werkgenetischen Perspektive herausgearbeitet. Einige
Dreimal erscheint Dürrenmatt der »große[...] wei- rezente Studien haben sich darüber hinaus mit den
ße[...] Abruzzen-Schäferhund« (WA 29, 206) inner- Prätexten des Esels im Prozeß (Košenina 2015) oder
halb weniger Stunden: Auf der Bühne eines Theaters, mit dem »rekurrenten Hundemotiv[...]« beschäftigt,
wo der Hund den Protagonisten »an die Wand [spiel- dem sich Dürrenmatt wiederholt selbst in quasi-auto-
te]« (207); kurz darauf erneut in einem Gasthof, wo hermeneutischen Zirkeln anzunähern versucht hat,
Dürrenmatt das stockend-mühsame Schreiben an um »der eigenen literarischen Produktion auf die
Vinter unterbricht und sich mit dem Besitzer des Hun- Schliche zu kommen« (Weber 2014, 120). Das Deside-
des einen Rausch antrinkt; zuletzt auf dem Rückweg, rat einer »Monographie über das Kynische bei Dürren-
als er ausgleitet, fällt und der weiße Schäferhund un- matt« (Rüedi 2000, 52) besteht indes bis heute. Auch
erwartet über ihm auftaucht: »Er hatte etwas Gespens- eine umfassend-systematisierende Untersuchung zu
terhaftes, Unwirkliches. Ich fühlte mich seltsam ge- Dürrenmatts Tieren steht noch aus. Zu erwarten ist je-
borgen« (208). Ausgehend von diesem Erlebnis kann doch, dass die vornehmlich motivgeschichtlich aus-
der Text entstehen: »Ich wußte plötzlich, wie Vinter zu gerichteten Arbeiten künftig durch kulturwissen-
schreiben sei: wie im Fiebertraum. Gespenstisch wie schaftlich orientierte Beiträge aus den Cultural and Li-
der weiße Hund über mir in der hereinbrechenden terary Animal Studies (vgl. Borgards 2016) ergänzt
Nacht« (ebd.). Die Begegnung mit dem geisterhaften werden. Anstatt Dürrenmatts Tiere als Motive, Meta-
Hund wird zum Initiator eines literarischen Schaffens, phern und Symbole zu betrachten und als Zeichen für
das aus dem Zusammenfall von Ereignis, Zu- und etwas Anderes zugunsten eines menschlichen Refe-
Einfall, von Delirium und Vision, von Phänomen und renzrahmens gewissermaßen zum Verschwinden zu
Fantastik hervorgeht. Die Erinnerung an den Schäfer- bringen, gilt es die Ambivalenzen der Texte im Hin-
hund, die sich mit der Erinnerung an die Sage um den blick auf ihr Mensch-Tier-Demarkationsregime he-
»riesige[n] schneeweiße[n] Wolfshund« (WA 28, rauszuarbeiten, nach dem Akteurstatus der Tiere in ei-
209), den »Stinkhaldenwaldhund« (210) verquickt, nem Netzwerk menschlicher und nichtmenschlicher
stellt Dürrenmatts Zoopoetik als imaginierte Aneig- Entitäten zu fragen oder zu ergründen, wo bestimmte
nung und fantasievolle Verarbeitung von konkreten, Tiere aus Dürrenmatts Werk mit Blick auf ihren kul-
epiphanischen Mensch-Tier-Begegnungen vor Au- tur- und wissenshistorischen Kontext stehen.
gen. Die Tiere seines Werks sind in dieser Hinsicht Für die Forschung sind die Tiere insbesondere des-
weder schwarz noch weiß, sondern befinden sich in halb interessant, weil sich mit ihnen die Grundele-
einer unauflöslichen Grauzone zwischen Materialität mente von Dürrenmatts Philosophie-, Literatur- und
und Metapher. Ästhetiktheorie vom Früh- bis ins Spätwerk nachvoll-
314 IV  Motive und Diskurse

ziehen lassen. Für die kulturwissenschaftliche Tierfor- Grimm, Gunter E.: Friedrich Dürrenmatt. Marburg 2013.
schung wiederum sind Dürrenmatts Tiere nicht zu- Kling, Alexander: Die Tiere der Politischen Theorie. In:
letzt deshalb von Interesse, weil sich an ihnen Theorien Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches
Handbuch. Stuttgart 2016, 97–110.
und methodische Zugriffe des neuen Forschungsfelds Košenina, Alexander: Aktenzeichen Eselschatten ungelöst.
erproben und schärfen lassen. Die Erforschung von Vertrackter Rechtsfall in den literarischen Gerichtshöfen
Dürrenmatts Tieren hat dabei gerade erst begonnen. von Wieland, Kotzebue und Dürrenmatt. In: Zeitschrift
für Germanistik, Neue Folge XXV (2015), 1, 110–122.
Literatur Mingels, Annette: Jener Einzelne. Kierkegaards Kategorie
Primärtexte des Einzelnen als Grundkonstante in Dürrenmatts ideo-
Achterloo I. In: WA 18, 9–122. logiekritischem Denken. In: Dies., Jürgen Söring (Hg.):
Persönliche Anmerkungen zu meinen Bildern und Zeich- Dürrenmatt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger
nungen. In: WA 32, 201–216. Kolloquium 2000. Frankfurt a. M. 2004, 259–284.
Begegnungen. In: WA 29, 13–22. Moe, Aaron: Zoopoetics. Animals and the Making of Poetry.
Das Haus. In: WA 29, 113–187. Lanham 2014.
Gedankenfuge. In: WA 37, 9–144. Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich
Die erste Geschichte. In: Monstervortrag über Gerechtigkeit Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels. Paderborn
und Recht, nebst einem helvetischen Zwischenspiel. Eine 2008.
kleine Dramaturgie der Politik. In: WA 33, 38–70. Rüedi, Peter: Friedrich Dürrenmatt und die Stoffe als Auto-
Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. In: biographie des Als-Ob. In: Peter Rusterholz, Irmgard
WA 17, 9–32. Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff der Ver-
Kants Hoffnung. In: WA 32, 175–209. wandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Berlin 2000,
Querfahrt. In: WA 29, 23–84. 41–53.
Romulus der Große. In: WA 2, 13–115. Schu, Sabine: Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dür-
Über Toleranz. In: WA 33, 125–149. renmatt. Eine Untersuchung des dramatischen Werkes.
Vinter. In: WA 29, 189–231. St. Ingbert 2007.
Der Winterkrieg in Tibet. In: WA 28, 11–170. Weber, Ulrich: Erinnerung und Metapher im Schreibprozess
von Dürrenmatts Stoffen. In: Ders. u. a. (Hg.): Dramatur-
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Borgards, Roland: Tiere und Literatur. In: Ders. (Hg.): Tiere. medial. Göttingen 2014, 117–141.
Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2016, 225– Ziolkowski, Theodor: Der Minotaurus als tragische Gestalt
244. bei Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
Craciun-Fischer, Ioana: Politisierung durch Metaphorisie- gien der Phantasie: Dürrenmatt intertextuell und inter-
rung: Friedrich Dürrenmatts Minotaurus. Eine Ballade. medial. Göttingen 2014, 239–260.
In: Dies.: Die Politisierung des antiken Mythos in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin 2000, 261– Frederike Middelhoff
323.
84 Zufall 315

84 Zufall sen Begriff. So beginnt die Erzählung Das Bild des Sisy-
phos (1945/46) mit dem Satz: »Der Zufall hatte mich
Einleitung diesen Winter in ein Dorf der französischen Schweiz
geführt« (WA 19, 43). Dieser traditionellen erzähleri-
Das Phänomen des Zufalls hat in Dürrenmatts Werk schen Verwendung, etwa auch bei (Wieder-)Begeg-
einen zentralen Stellenwert. Sein gezielter Einsatz in nungen von Figuren – z. B. in der Erzählung Die Falle
den sujethaften Gattungen – vor allem (tragische) Ko- (1946; WA 19, 73) –, steht spezifischer der Zufall in
mödie, Hörspiel, Kriminalroman, Autobiografie – Verbindung mit den Kategorien des ›Einfalls‹ und der
wurde zum Markenzeichen des Autors, der sich zu ›schlimmstmöglichen Wendung‹ gegenüber. So han-
diesem Phänomen auch in seinen Essays und Reden delt die Erzählung Der Tunnel (1952) vom Einfall einer
wiederholt äußert. Zu unterscheiden ist bei Dürren- kausal nicht erklärbaren Katastrophe. Ein Zug fährt in
matt zwischen dem thematisierten und dem reflek- einen endlosen Tunnel, bis er ins Erdinnere stürzt.
tierten Zufall. Ersterer lässt sich als »eine Koinzidenz Der reflektierte Zufall kommt im Frühwerk da-
von mindestens zwei Ereignissen bzw. Ereignisketten« gegen seltener vor. Am Beispiel des titelgebenden Pro-
bestimmen, »die zum Fortgang der Handlung beiträgt tagonisten wird in der Erzählung Der Theaterdirektor
und deren Kausalität für den Leser nicht evident ist« (1945) der als Korrelat zur Freiheit aufgefasste Zufall
(Jambor 2007, 133). Er erfüllt drei Funktionen: Er ist vom Ich-Erzähler in Verbindung mit der Diktatur ge-
eines der Handlungselemente des Textes; er dient in bracht, die im Ausschalten des Zufalls ein Mittel zur
dreifacher Hinsicht als Kompositionsmittel (als Hand- Machterhaltung sieht (vgl. WA 19, 61).
lungsauslöser, Handlungskatalysator und Faktor für
das Handlungsende); er kann zum Bestandteil der
Gedankenwelt der Figuren oder der Äußerungen des Dramatik der mittleren Phase
Erzählers werden. Mit der letztgenannten Funktion
wird die Grenze zum reflektierten Zufall überschrit- Der Zufall gehört zu den Schlüsselbegriffen der Ko-
ten, der für Essays und Reden typisch ist. Zum einen mödientheorie des Autors. Die Katastrophe des Zwei-
lässt Dürrenmatt in den fiktionalen Texten seine Figu- ten Weltkriegs führt ihn im Vortrag Theaterprobleme
ren und Erzähler Stellung zum Zufall einnehmen, (1954) zur Ansicht, dass die heutige Welt in der Form
zum anderen tut er dies als empirischer Autor in den des geschichtlichen Dramas Schillers kaum darzustel-
faktualen Texten. len ist: »Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wal-
Dürrenmatts Arbeit mit dem Zufall ist interdis- lensteine mehr machen.« Beide sind »nur noch zufäl-
ziplinär und intertextuell. Der Autor rezipiert vor al- lige, äußere Ausdrucksformen [ihrer] Macht« (WA 30,
lem philosophische, theologische, naturwissenschaft- 59). Aufgrund der chaotischen Beschaffenheit der
liche und mathematische Positionen. Dabei konzen- Welt zieht Dürrenmatt der Tragödie die Komödie vor.
triert er sich u. a. auf Konzepte, die mit dem Zufall in In 21 Punkte zu den ›Physikern‹ (1962) legt der Autor
Verbindung stehen (Erkenntnistheorie Kants, Vai- eine nähere Charakteristik des Zufalls vor, die in
hingers und Poppers; Religionsphilosophie Kierke- Punkt 9 kulminiert: »Planmäßig vorgehende Men-
gaards; Relativitäts- und Quantentheorie; kinetische schen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zu-
Gastheorie; Evolutions- und Chaostheorie; Wahr- fall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn
scheinlichkeitsrechnung, Gesetz der großen Zahlen). das Gegenteil ihres Ziels erreichen. Das, was sie be-
Im Unterschied zu den fiktionalen Texten, in denen fürchteten, was sie zu vermeiden suchten, z. B. Ödi-
die intertextuellen Bezüge zur Zufall-Problematik pus« (WA 7, 92). Im Essay Sätze über das Theater
nicht evident sein müssen, pflegt Dürrenmatt in den (1964/1970) betrachtet der Autor seinen Verkehrs-
faktualen Texten auf die verwendete Fachliteratur zu unfall vom Mai 1959 dramaturgisch. Dieser setzt sich
verweisen. »auf den ersten Blick aus lauter Zufälligkeiten zusam-
men« (WA 30, 204). Dürrenmatt definiert die Wirk-
lichkeit als »die Unwahrscheinlichkeit, die eingetreten
Frühwerk ist« (205). In Abgrenzung zu Aristoteles sieht er die
Aufgabe des Dramatikers darin, »daß er beschreibt,
Obwohl der thematisierte Zufall im Frühwerk meis- was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich un-
tens nicht als solcher bezeichnet wird, fasst Dürren- wahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen
matt manche einschlägigen Ereignisse doch unter die- würde« (207).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_84
316 IV  Motive und Diskurse

Das Konzept des Zufalls, in dem »die definitiven längeren Monolog kritisiert Dr. H. das vereinfachte,
oder zum Definitiven tendierenden Zufälle« (Profit- weil zufallsfreie Weltbild des traditionellen Kriminal-
lich 1971, 265) bevorzugt werden, bleibt für das dra- romans.
matische Werk von der Komödie Romulus der Große Im Romanfragment Aufenthalt in einer kleinen
(1949) bis zum Spätwerk bestimmend. Wie jedoch Stadt (1953/54) und in der Erzählung Die Panne
Profitlichs Analyse der Theaterstücke und Hörspiele (1955/56) funktioniert der Zufall vor allem als Aus-
der mittleren Phase zeigt, gibt es auch viele Zufälle an löser der Handlung, der zur Verwicklung des Protago-
anderen Stellen als am Handlungsende. Dürrenmatt nisten in unerwartete Situationen mit vernichtenden
teilt mit seinen Figuren die »Überzeugung von der Folgen führt. Im essayistische Ersten Teil der Panne
Zufallsbestimmtheit alles Geschehens« (ebd., 276). (WA 21, 37–39) verweist Dürrenmatt reflektierend
Die effektive Arbeit mit dem Zufall ermöglicht ihm, auf die Ersetzung des Schicksals durch die auf den Zu-
auf die Grenzen menschlichen Denkens und Han- fällen beruhenden Unfälle als bestimmende Größe
delns hinzuweisen. der durch Naturwissenschaften und Technik determi-
nierten modernen Welt.

Kriminalliteratur der 1950er Jahre


Spätwerk
Dürrenmatts Interesse an der Kriminalliteratur ist
u. a. darin begründet, dass vor allem der klassische Dürrenmatts Spätwerk zeichnet sich durch Wieder-
Detektivroman zur Konstruktion eines vereinfachten aufnahme, Radikalisierung und Umkehrung des
Weltbildes neigt, in dem der Zufall ausgeklammert Konzepts des Zufalls aus. Die Radikalisierung ist für
wird. Dürrenmatt versteht die Gattungstradition als Der Mitmacher. Ein Komplex (1976) typisch, in dem
Herausforderung und entwirft komplexere Textwel- die Komödie Der Mitmacher (1973) in die Gattung
ten, in denen der Zufall rehabilitiert wird. der Posse eingereiht wird, da wir nur darin »ein
Seine ersten drei Kriminalromane sind »eine Art Übermaß an Zufall« hinnehmen; ihr Reiz besteht da-
Kriminalromantrilogie über die ausschlaggebende rin, »daß aus dem Zufall immer wieder Notwendig-
Rolle des Zufalls in der Welt und im menschlichen Le- keit entsteht« (WA 14, 315). Die parodistische Nach-
ben« (Jambor 2007, 14). In Der Richter und sein Hen- erzählung des Ödipus-Stoffes in Das Sterben der Py-
ker (1950/51) vermag der Kommissär Bärlach ver- thia (1976) als »das radikale literarische Experi-
schiedene Zufälle zu seinen Gunsten auszunutzen, um ment«, »das metaphysische Konzept ›Schicksal‹ [...]
die zwei zufällig miteinander verknüpften Fälle zu lö- durch das naturwissenschaftlich geprägte Denkmus-
sen (Wette mit Gastmann, Mord an Schmied). In Der ter ›Zufall‹« (Käser 2003, 177) zu ersetzen, umrah-
Verdacht (1951) wendet sich die Gunst des Zufalls men Überlegungen zu den beiden Kategorien (vgl.
vom todkranken Bärlach ab. Ihm unterlaufen mehrere WA 14, 269–274 u. 313–316): »Ist in der griechischen
Fehler, die u. a. aus der Unterschätzung des Zufalls re- Tragödie der Mensch durch das Schicksal zugleich
sultieren. Mehrere Figuren der beiden Romane (Bär- bedroht und gehalten [...], so ist er in der Welt des
lach, Gastmann, Emmenberger, Marlok, Gulliver) Zufalls nur noch bedroht, aber nicht mehr gehalten,
präsentieren ihre weltanschaulichen Positionen, in er ist dem Zufall gegenüber, als dem Unvorherseh-
denen die Rolle des Zufalls überbetont wird. baren, nur noch ein Opfer« (314 f.). In der Erzählung
In Das Versprechen (1957/58) ist der Zufall bestim- schildert der Autor das Scheitern der delphischen
mend in der Rahmengeschichte, die ein Kriminal- Priesterin im Bemühen, den Fall Ödipus zu lösen
romanautor erzählt, und auch in der Binnengeschich- und zu untersuchen, wieso ihr nicht ernst gemeintes
te vom Kommissär Matthäi, die Dr. H. diesem Autor Orakel als »grotesker Zufallstreffer« (282) zur Wirk-
erzählt. Matthäi gelingt es zwar, den Fall Gritli Moser lichkeit wurde.
durch seinen Verstand zu lösen; das Eingreifen des In Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobach-
Zufalls (Tod des Mörders durch einen Autounfall) ters der Beobachter (1986) wird die Umkehrung deut-
verhindert jedoch, dass der Täter dingfest gemacht lich. Die Filmemacherin F., die ein Gesamtporträt un-
wird. Der Detektiv scheitert an seiner Unfähigkeit, seres Planeten »durch ein Zusammenfügen zufälliger
den Zufall als seinen stärksten Gegenspieler zu ak- Szenen zu einem Ganzen« (WA 26, 38) drehen will,
zeptieren. Neben der fiktionalen Ebene bestimmt das soll den mutmaßlichen Tod von Tina von Lambert
Problem auch die metafiktionale Ebene: In einem untersuchen. Die Ehefrau des Psychiaters verließ ih-
84 Zufall 317

ren Mann, als sie »durch Zufall« (39) feststellte, von Zur Forschung
ihm medizinisch beobachtet zu werden. Auf der ge-
fährlichen Reise begegnen F. verschiedene Zufälle, so In der Forschung lassen sich zwei Richtungen erken-
dass sie in Korrespondenz zum Kierkegaard-Motto nen. Die ältere Richtung beschreibt Formen und
steht, wonach die Zukunft des Menschen unvorher- Funktionen des Zufalls, die jüngere stellt interdiszipli-
sehbar ist (35). Indem F. zufällig gerettet wird, ersetzt näre und intertextuelle Aspekte in den Vordergrund.
Dürrenmatt die »schlimmstmögliche Wendung« Ein Teil der ersten Richtung stellt Typologien des
durch eine »bestmögliche«, die er im Prometheus-Es- Zufalls auf (Profitlich 1971; Włodzimierz Bialik 1976;
say begründet (1984/1990; WA 37, 12). Jambor 2007). Bahnbrechend ist Profitlichs Arbeit, in
Bereits Dürrenmatts »Dramaturgie des Unwahr- der zwei Gruppen unterschieden werden: die Zufälle
scheinlichen« (Emter 1994, 218) der mittleren Phase am Anfang einer Handlungseinheit, mit Hilfe derer
ist im Kontext der modernen Physik zu betrachten. Im sich die Figur ein Ziel setzt, und jene, welche die
Spätwerk sind die wissenschaftlichen Bezüge der Zu- Realisierung der Ziele positiv oder negativ beeinflus-
fall-Problematik noch deutlicher. So steht z. B. in Der sen. Der definitive Zufall als ausschlaggebender Fak-
Mitmacher. Ein Komplex die Passage Zufall und Evolu- tor lässt dem menschlichen Handeln keinen Spiel-
tion (WA 14, 145–149). Im essayistischen Fragment raum mehr (vgl. Profitlich 1971, 262–265). An diese
Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl (1976/77) Studie knüpfte Jambors Dissertation an, die die drei
bespricht Dürrenmatt den Zufall im Zusammenhang einleitend genannten Funktionen des Zufalls unter-
mit den gesellschaftlichen Prozessen als »Auslöser im- scheidet und die Stellung des Zufalls zur Figur und
mer größerer Katastrophen« (WA 33, 110). vice versa der Figur zum Zufall (im Bereich der Akti-
Aus dem Stoffe-Projekt sind vor allem die Erzäh- on und der Kontemplation) anhand verschieder Re-
lung Mondfinsternis (1981; WA 28, 171–269) und Die aktionstypen untersucht (Jambor 2007, 143–150).
Brücke (1990; WA 29, 85–111) zu berücksichtigen. Andere Arbeiten lieferten exemplarische Interpreta-
Mondfinsternis entwickelte sich »zu einem Satyrspiel tionen ausgewählter Komödien unter dem Blickwin-
auf die Tragikomödie Der Besuch der alten Dame, zu kel der Ironie (Bodo Fritzen 1974) oder der Komödie
einer bösartigen Posse im Zeichen einer Dramaturgie Die Physiker (1962) als »Grundmodell« (Lee 1993, 10)
des Zufalls« (Weber 2000, 195). Während die Erzäh- von Dürrenmatts Zufallsdramaturgie.
lung auf der Radikalisierung baut, basiert Die Brücke Nach den Arbeiten, die z. T. auf den Zusammen-
auf der Wiederaufnahme. Am Beispiel der Geschichte hang des Dürrenmattschen Zufalls mit der Quanten-
des 22-jährigen Studenten F. D., der 1943 auf der Ber- mechanik eingehen (u. a. Otto Keller 1980; Hans Diet-
ner Kirchenfeldbrücke von einem Meteor erschlagen rich Irmscher 1983; Jan Knopf 1998), gilt als Pionier-
wird, beschäftigt sich der Autor mit den Kategorien leistung der zweiten Richtung Emters Dissertation, in
der Wahrheit und des Glaubens. Im Unterschied zur der einleuchtend nachgewiesen wird, »daß Edding­
deduktiv interpretierenden Vernunft der Götter be- tons Philosophie der Naturwissenschaften zu Dürren-
wegt sich das menschliche Leben »im Induktiven«, matts Lieblingsbüchern zählte« (1994, 270). An Em-
»im Unberechenbaren«. Das Unberechenbare, »das ters Arbeit knüpfte Adams an, für den der Zufall bei
wir Zufall nennen, weil es auf uns zufällt wie ein Mete- Dürrenmatt »die Weigerung der Wirklichkeit reprä-
or, verwandelt sich nachträglich, kaum hat er uns zer- sentiert, sich den menschlichen Vorstellungen von ihr
malmt, in etwas Berechenbares« (WA 29, 87). Der zu unterwerfen« (2011, 325). Den theologischen As-
Mensch ist jedoch »ein unendlich komplizierteres Ge- pekten des Zufalls geht Meier (2012) nach. Schließlich
bilde als ein Meteor« (93); die Bahn des Kometen ver- sei Spedicatos Aufsatz erwähnt, in dem der Zufall mit-
laufe »kausal«, jene F. D.s unterläge »dem Zufall«, »ih- tels einer Figurentypologie (2014, 80) philosophisch
re Kausalität sei nicht mehr rekonstruierbar« (92), verankert wird.
weshalb der Autor dreizehn mögliche Varianten der
Geschichte F. D.s entwirft. Literatur
Primärtexte
Eine andere Wiederaufnahme besteht darin, dass Der Mitmacher. Ein Komplex. WA 14.
in Turmbau wie im Frühwerk Erzählungen mit den 21 Punkte zu den ›Physikern‹. In: WA 7, 91–93.
bezeichneten Zufällen (Das Haus) und solche mit Sätze über das Theater. In: WA 30, 176–211.
den nicht bezeichneten Zufällen (Vinter) neben- Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl. In: WA 33, 108–
einander stehen. 124.
Das Versprechen. In: WA 23, 9–163.
318 IV  Motive und Diskurse

Sekundärliteratur Zufalls unter besonderer Berücksichtigung der Physiker.


Adams, Dale: Die Konfrontation von Denken und Wirklich- Marburg 1993.
keit. Die Rolle und Bedeutung der Mathematik bei Robert Meier, Thomas Markus: Dürrenmatt und der Zufall. Ostfil-
Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt. dern 2012.
St. Ingbert 2011. Profitlich, Ulrich: Der Zufall in den Komödien und Detek-
Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezep- tivromanen Friedrich Dürrenmatts. In: Zeitschrift für
tion der modernen Physik in Schriften zur Literatur und deutsche Philologie 90 (1971), 2, 258–280.
Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970). Spedicato, Eugenio: Der Kontingenz-Gedanke und die Uni-
Berlin, New York 1995. versalien Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit bei Fried-
Jambor, Ján: Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klas- rich Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
sischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach-Roma- gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
nen Friedrich Dürrenmatts. Prešov 2007. dial. Göttingen 2014, 77–96.
Käser, Rudolf: »Fernsehkameras ersetzen das menschliche Weber, Ulrich: Erinnerung und Variation. Mondfinsternis
Auge.« Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungs- und Der Besuch der alten Dame in genetischer Sicht. In:
feld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In: Peter Rusterholz, Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung
Text + Kritik 50/51 (2003), 167–182. der Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürren-
Lee, Nae-Keum: Friedrich Dürrenmatts Konzeption des matts Spätwerk. Berlin 2000, 179–195.

Ján Jambor
V Ästhetik und Poetik
85 Dialekt und Standardsprache Gegen diese normativen sprachpflegerischen Be-
mühungen entwickelte sich in der Literatur um 1900
Dialekt und Poetik ein neuer Umgang mit der Mundart, der durch die li-
terarischen Strömungen der Moderne geprägt war:
Im Essay Persönliches über Sprache schrieb Dürren- durch den Naturalismus mit seiner Darstellung der
matt 1967: »Es gibt Kritiker, die mir vorwerfen, man Sprache proletarischer Milieus und durch die Avant-
spüre in meinem Deutsch das Berndeutsche« (WA 32, garden mit ihrer Lust an Sprachzertrümmerung und
123). Dieser Vorwurf und Dürrenmatts Reaktion da- Wortneuschöpfung. Die Mundart wurde zum iro-
rauf – u. a. auch in Texten wie Über Kulturpolitik und nisch-kritischen Element in Texten etwa Robert Wal-
Der Tod des Sokrates – sind Teil einer Debatte, die im sers, wo Formen entstanden, die sich keiner der bei-
frühen 18. Jahrhundert begann und in der Deutsch- den Varietäten zuordnen lassen. Und in Friedrich
schweizer Diglossiesituation gründet: Verhandelt Glausers Romanen erschien der Dialekt als Element,
wird die Beziehung der Deutschschweiz zum deutsch- das die Einheit der Hochsprache stört und die politi-
sprachigen Kulturraum und ihre Rolle im philosophi- sche und soziokulturelle Vereinheitlichungstendenz
schen und ästhetischen Diskurs. Die Tauglichkeit der konterkariert.
Schweizer als Gesprächspartner wurde dabei auch an
ihrer Fähigkeit gemessen, sich an die deutsche Stan-
dardsprache anzupassen (vgl. Böhler 1997, 149–166). Literarische Sprache als Kunstsprache
In der Schweiz schieden sich im 18. Jahrhundert an
der Mundart die republikanischen und aristokrati- Dürrenmatts Position in der Debatte erschließt sich,
schen Geister: Letztere argumentierten, der Dialekt wenn man seine literarischen Texte vor dem Hinter-
sei nicht schreibbar und daher unvollkommen (vgl. grund der diskursiven Texte betrachtet: In Turmbau
Trümpy 1955, 102–111). Die Gegner des Ancien Ré- schrieb er, in einer »schweizerdeutschen Sprachwelt«
gime aber propagierten den Dialekt, der zunehmend sozialisiert, habe er als Jugendlicher das Hochdeut-
mit der neuen politischen Situation der Schweiz asso- sche wahrgenommen als »eine Fremdsprache und
ziiert wurde. doch keine« (WA 29, 157 f.). Im Artikel Persönliches
Das Stereotyp von der Mundart als einer Sprache über Sprache (1967) steht die in der Forschungslitera-
der Bauern und des – zunehmend idealisierten – ›Vol- tur zur Sprachdebatte oft zitierte Passage: »[D]er
kes‹ blieb bis ins 20. Jahrhundert wirksam: Aufgrund deutschschweizerische Schriftsteller bleibt in der Span-
der traditionellen Assoziation von Literatur mit Stan- nung dessen, der anders redet, als er schreibt. Zur
dardsprache galt literarische Dialektverwendung Muttersprache tritt gleichsam eine ›Vatersprache‹. Das
meist nur dann als zulässig, wenn das Landleben the- Schweizerdeutsche als seine Muttersprache ist die
matisiert wurde (vgl. Haas 1983, 1638). Um 1900 sa- Sprache seines Gefühls, das Deutsche als seine ›Vater-
hen manche Zeitgenossen in Heimatschutz und sprache‹ die Sprache seines Verstandes, seines Willens,
Mundartpflege ein Heilmittel gegen die »befürchtete seines Abenteuers. Er steht der Sprache, die er schreibt,
Überfremdung durch Reichsdeutschland« (Böhler gegenüber. Aber er steht einer Sprache gegenüber, die
2007, 445). Die Essenz des Deutschschweizerischen von ihren Dialekten her formbarer ist als das Französi-
wurde im reinzuhaltenden Dialekt gesehen; die Hoch- sche« (WA 32, 122). Übersehen wurden oft die daran
sprache dagegen wurde als ›fremd‹ und ›aufgezwun- anschließenden Überlegungen: Gotthelf, so Dürren-
gen‹ bezeichnet (vgl. von Matt 2012, 133 f.). Es über- matt, habe sein Deutsch durch Verschmelzung von
rascht daher nicht, dass nun Gotthelfs stilbildendes Dialekt und Hochsprache gefunden; er habe es sich
Verfahren der sprachlichen Hybridisierung wie schon überhaupt erst erschrieben, wie Luther mit seiner Bi-
zur Entstehungszeit seiner Texte heftig kritisiert wur- belübersetzung (vgl. ebd., 123). Die Sprache, die man
de: Gotthelf sei an der Aufgabe, die Sphären von Dia- schreibe, sei – anders als die gesprochene – nicht selbst-
lekt und Hochsprache »reinlich zu scheiden«, geschei- verständlich, sie scheine es nur zu sein: »In diesem
tert (Muschg 1931, 435). ›scheint‹ liegt die Arbeit des Schriftstellers verborgen«

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_85
322 V  Ästhetik und Poetik

(ebd.). Er selbst freue sich, wenn man ihm vorwerfe, in man, der im Titel das ›Durcheinander‹ vorwegnimmt,
seinem Deutsch spüre man das Berndeutsche, da er ja an dem hier die Varietäten mitwirken: Unter den Pro-
hoffe, dass man es spüre: Hochdeutsch versuche man tagonisten sind ›der Lappi‹ von einem Dorfpolizist
stets nur zu können, es bleibe bei der Annäherung (vgl. und der ›Stierengrind‹ Pretánder, der auch als ›Löli‹
ebd., 124). Im Grunde habe er mit seinem Fallbeispiel und ›Glünggi‹ bezeichnet wird, sowie »das cheibe
etwas Allgemeingültiges beschrieben: »[W]elcher Meitschi« Elsi, zu dessen Vater Marihuana-Joe sagt:
Schriftsteller der Welt lebt dort, wo man die Sprache re- »Elsi ma di de, u mi ma si de o« (WA 27, 117). In die-
det, die er schreibt? Die Sprache, die er schreibt, redet sem Text, der 1989 die Mauern des vermeintlich stabi-
nur aus seinem Werk« (ebd.). Es handelt sich also um len Weltzentrums von Kapital und Verbrechen bersten
eine Kunstsprache, die jeder Autor erst finden muss. lässt, werden so die Anspielungen auf Mani Matters
In manchen literarischen Texten Dürrenmatts ist abgründige Berner Chansons dadaistisch-musikalisch
das ›Berndeutsche‹ in Form von Dialektelementen auf die Spitze getrieben. Dem subversiven Wirken des
und Helvetismen tatsächlich präsent. Doch ist dies – Riesenhunds Mani ist selbst die Armee nicht gewach-
wie bei Gotthelf (vgl. Theisohn 2014, 26) – nicht auf sen. Die Bedeutung der ›modern mundart‹-Bewegung
ein Unvermögen des Autors zurückzuführen, sondern hatte Dürrenmatt bereits 1969 unterstrichen, als er ei-
eine poetologische Entscheidung. Dass in Dürren- nen Teil seines Literaturpreises an den Berner Non-
matts Erzählungen und Dramen Dialektwörter weit- konformisten und Vorreiter der ›modern mundart‹
gehend fehlen, entspricht dem Umstand, dass meist Sergius Golowin weitergab. Dürrenmatt sagte in seiner
offen bleibt, wo die Handlung zu verorten ist: Zwar Rede: »Es gibt heute moderne schweizerische Schrift-
sind in einigen Dramen Anspielungen auf existieren- steller, [...] die ihren Dialekt nicht als Medium einer
de Schweizer Orte häufig und zahlreiche Figuren tra- Blut- und Bodenliteratur oder zur Verherrlichung des
gen schweizerisch klingende Namen, doch durch an- alten Bern benutzen, sondern als modernes Sprach-
dere Ortsnamen und Figuren, deren Sprechweise eher experiment einsetzen« (WA 34, 55).
auf Deutschland verweist, wird eine eindeutige Zu- Wie diese Ausführungen zeigen, ging Dürrenmatt
ordnung verunmöglicht. Die Handlung spielt im Ir- gerade nicht davon aus, dass die besondere Deutsch-
gendwo, woraus der Rezipient schließen kann, dass schweizer Sprachsituation eine spezifische Literatur-
hier neben schweizerischen auch andere Angelegen- sprache hervorgebracht habe, die »aus der Differenz
heiten verhandelt werden. zwischen dem Eigenen, der Mundart, und dem Frem-
In den Romanen ist das Geschehen dagegen an ge- den, der Hochsprache, lebe« und in der stets erkenn-
nau benannten oder rekonstruierbaren Schweizer bar bleibe, dass die Autoren »anders reden«, wie Mi-
Schauplätzen verortet. Dennoch enthalten die frühen chael Böhler es beschrieb (Böhler 2007, 452). Viel-
Romane nur an wenigen spezifischen Stellen Dialekt- mehr vertrat er die Ansicht, die Sprache der Literatur
elemente: In Der Richter und sein Henker weisen die folge eigenen Gesetzen; sie komme, wie Hugo Loet-
Lieder der betrunkenen Diener Gastmanns auf Täter scher es formulierte, »aufgrund eines intellektuell-sti-
und Motiv hin: »Der Tüfel geit um« und »Der Müllere listischen Entscheids zustande« (Loetscher 2000, 82).
ihre Ma isch todet, / d’Müllere läbt, sie läbt, / d’Müllere In jüngerer Zeit versuchte man in der Debatte über die
het der Chnecht ghürotet« (WA 20, 63). Der Dialekt Situation postkolonialen Schreibens mit dem Konzept
bildet hier die Tiefenschicht der deutschen Sprache der ›Exophonie‹ die Tatsache zu fassen, dass Literatur
und steht für ein Verdrängtes, das archäologisch-kri- immer schon ›Zweitsprache‹ ist: Auch wenn man in
minalistisch ans Licht gebracht werden muss. Auch in der Sprache schreibt, die man als erste, prägende ge-
Der Verdacht entlarvt der Dialekt, der an einer ein- lernt hat, schreibt man nicht, wie man spricht (vgl.
zigen Stelle eingesetzt wird, die wahren Verhältnisse. Stockhammer/Arndt/Naguschewski 2007, 21).
Bärlach stellt im Gespräch mit Emmenberger fest:
»Nehle ist der nicht. Ein Berliner hätte es nie zum Literatur
Primärtexte
Miuchmäuchterli gebracht« (›Melkeimer‹; WA 20,
Durcheinandertal. WA 27.
200). Dass der von Mundartpflegern als das ›Eigene‹, Der Richter und sein Henker. In: WA 20, 9–117.
als Sprache der ›Nähe‹ und des ›Herzens‹ bezeichnete Der Tod des Sokrates. In: WA 29, 144–176.
Dialekt auch vom verkörperten Bösen genutzt wird, Der Verdacht. In: WA 20, 119–265.
ist die hier schockartig sich einstellende Erkenntnis. Persönliches über Sprache. In: WA 32, 120–124.
Über Kulturpolitik. In: WA 34, 46–59.
Von Mundart durchsetzt sind einzig die Stoffe-Er-
zählung Mondfinsternis und Dürrenmatts letzter Ro-
85  Dialekt und Standardsprache 323

Sekundärliteratur Lavater, Johann Caspar: Schweizerlieder. Vermehrte fünfte


Böhler, Michael: Gotthard Heideggers »Mythoscopia Auflage. Zürich 1788.
Romantica oder Discours von den so benanten Romans«. Loetscher, Hugo: äs tischört und plutschins. Über das
Ein vergessener Zürcher Literaturstreit. In: Helmuth Unreine in der Sprache – eine helvetische Situierung.
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324 V  Ästhetik und Poetik

86 Distanz/Gegenwelt gisches Unterscheidungskriterium, was er in Theater-


probleme (1954) weiter pointiert: »Die Tragödie über-
Distanz und Ästhetik windet die Distanz. Die in grauer Vorzeit liegenden
Mythen macht sie den Athenern zur Gegenwart. Die
Wenn Dürrenmatt 1977 in einem Gespräch postuliert, Komödie schafft Distanz« (WA 30, 61).
dass es schlechterdings »keine Kunst und kein Kunst-
werk ohne Distanz« (G 2, 223) gebe, benennt er nicht
nur ein zentrales Kriterium seiner Poetik. Er reiht sich Distanz qua Verfremdung und Komisierung
zugleich in eine Tradition ein, die ›Distanz‹ spätestens
seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ins- Auf die mit Dürrenmatts dramenpoetischer Zuspit-
besondere im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem zung einhergehende Verkürzung und Einseitigkeit
Grundbegriff der Ästhetik im Allgemeinen hat avan- wurde in der Forschung hingewiesen (vgl. Greiner
cieren lassen (vgl. Toepfer 2012, 13 f.). Im Kontext äs- 2006, 446 f.). Etwa mit dem Argument, dass seine The-
thetischer Erfahrung kennzeichnet Distanz sowohl ei- se »die Distanznahme aller ›Arbeit am Mythos‹ [ver-
ne rezeptions- als auch produktionsästhetische Not- kenne], gerade auch in der Tragödie«, und die Komö-
wendigkeit künstlerischen Erkennens und Tuns, die die »um ihre wesentliche dionysisch-karnevalistische
in Form nüchtern-mitleidloser Sachlichkeit im schar- Komponente« (ebd.) beschneide. Dies gilt nicht min-
fen Gegensatz zur distanzlosen Einfühlung oder gar der für die Verkennung des aristotelischen Ansatzes,
Identifikation des schöpferischen Subjekts mit dem wo die Tragödie mit einer ›Reinigung‹ der Affekte und
fraglichen Objekt steht. insofern mit deren Enthebung aus der Unmittelbar-
Dürrenmatt hebt in seiner Poetik der Distanz an keit, mit einem Moment der Distanzierung also, asso-
erster Stelle auf die zeitliche Komponente dieser Ab- ziiert wird. Ungeachtet solcher plausiblen Einwände
standsmarkierung ab. In seinen dramentheoretischen lassen sich Dürrenmatts Überlegungen für literatur-
Schriften macht er ein Darstellungsproblem geltend, wissenschaftliche Analysen fruchtbar machen, die
das der mangelnden zeitlichen Distanz entspringt, die über das Werk des Autors hinaus reichen. So hat Ursu-
zwischen dem Zeitpunkt der Literarisierung eines his- la Amrein aufgezeigt, dass seine Poetik literarhis-
torisch verortbaren Stoffs und demjenigen des Ereig- torisch eng an die maßgeblich von deutschen Exilan-
nisses selbst liegt. Der Gegenstand drohe die Bildflä- ten geprägte Programmatik des Zürcher Schauspiel-
che zuzustellen und das Erkennen des Gesamtbilds zu hauses und eine »in Auseinandersetzung mit dem
verunmöglichen: »Man kann heute die Welt nur noch Dritten Reich formulierte Ästhetik der Distanz« (Am-
von Punkten aus beobachten, die hinter dem Mond rein 2007, 161) anknüpfe. Amreins Befund gälte es in-
liegen, zum Sehen gehört Distanz, und wie wollen die soweit zu präzisieren, als Dürrenmatts Poetik ein-
Leute denn sehen, wenn ihnen die Bilder, die sie be- gedenk ihrer Präferenz für die Entpathetisierung des
schreiben wollen, die Augen verkleben?« (WA 32, 32). darzustellenden Gegenstands eine Tendenz aufgreift,
Dass erst ein gewisser Abstand zum Geschehen den die sich schon im epischen Theater Brechts und in der
Künstler in den Stand versetzt, ein Phänomen in all deutschsprachigen Exilliteratur abzeichnete. Wiewohl
seinen Facetten intellektuell zu erfassen, in seinen das Wissen um das Ausmaß der NS-Verbrechen in
Kontexten zu beurteilen und ästhetisch zu verarbei- Dürrenmatts Schreibgegenwart das Darstellungspro-
ten, weil die persönliche Verstrickung als Zeitgenosse blem weiter verschärfte, sahen sich bereits die auf-
der Reflexion im Wege steht, ist freilich eine Beobach- grund der NS-Diktatur exilierten Autorinnen und
tung, die viel weiter zurückreicht (vgl. etwa Schiller, Autoren vor die Herausforderung gestellt, angemesse-
Über Bürgers Gedichte, 1789). Dürrenmatt spitzt die- ne ästhetische Verfahren zur Darstellung der men-
ses poetologische Axiom der Distanzierung in den schenverachtenden Ideologie und Gewalt zu finden.
Anmerkungen zur Komödie (1952) so weit zu, dass er Angesichts der biografischen Betroffenheit boten
die Tragödie zur Behandlung zeitgenössischer Stoffe Schreibverfahren des Komischen gegenüber dem pa-
kategorisch ausschließt und stattdessen allein für die thetischen Ton der Anklage und dem elegischen der
Groteske optiert: »Ich könnte mir daher wohl eine Heimwehdichtung jenen Vorzug, den Dürrenmatt ex-
schauerliche Groteske des Zweiten Weltkrieges den- klusiv der Komödie unterstellt, und der eine Grund-
ken, aber noch nicht eine Tragödie, da wir noch nicht voraussetzung für die ästhetische Reflexion und Revi-
die Distanz dazu haben können« (WA 30, 25). Distanz sion der Verhältnisse im Exil bildete: die Fähigkeit zur
bildet für ihn somit ein wesentliches gattungstypolo- Distanzierung qua Verfremdung. Dürrenmatts Dis-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_86
86 Distanz/Gegenwelt 325

tanzbegriff ließe sich somit in Gegenüberstellung zu solche Illusionsdurchbrechungen eine neue dichteri-
Nietzsches elitärem Konzept des ›Pathos der Distanz‹ sche Freiheit zu erlangen. Diese negiert die Wirklich-
als Vermeidung und Entschärfung des Pathos dank keit keineswegs. Sie transformiert sie in eine »überrea-
Distanz begreifen. Stellt man die im Pathos und La- le Sphäre, das ist die Sphäre einer neuen Wahrheit und
chen vereinenden Humor angelegte Kompetenz zur einer ganz besonderen Realität« (ebd., 223), indem sie
Selbstdistanzierung in Rechnung, erschließt sich Dür- ›Mythen‹ bloßlegt, die auf die Wirklichkeit zurück-
renmatts Aussage, wonach »Humor [...] im Grunde spiegeln: »Zur Wirklichkeit, wie sie ist, wird eine
Distanz« (G 1, 243) sei. Verfremdung und Komisie- künstliche Gegenwirklichkeit geschaffen, in der sich
rung sind in seinem Werk untrennbar mit der in Rede die Wirklichkeit, wie sie ist, widerspiegelt« (WA 30,
stehenden Poetik verbunden: »[J]e unheimlicher die 210).
Welt ist, um so wichtiger ist es, daß ich Distanz davor
gewinne. Und Distanzgewinn ist nur durch die Ver-
fremdung der Welt möglich« (G 1, 349). Distanz in der Gegenwelt

Die fiktiven Bühnen für diese überrealen Spiegelun-


Distanz in der Überrealität gen und Distanznahmen bezeichnet Dürrenmatt als
»Eigenwelten« (WA 32, 68; G 1, 115) oder »Gegenwel-
In der anlässlich des Erstdrucks von Frank der Fünfte ten«: »Bilder sind Antworten, die man auf die Wirk-
verfassten Standortbestimmung (1960) deutete Dür- lichkeit gibt. Versuche, mit der Wirklichkeit fertig zu
renmatt die Entwicklung seiner Dramenpoetik als Fo- werden in Form von Gegenwelten« (G 2, 175). Das
kusverschiebung »vom ›Denken über die Welt‹ zum Gegenwelt-Paradigma ist im unmittelbaren Zusam-
›Denken von Welten‹« (WA 6, 155). Er stellt diese Ge- menhang mit der Ablehnung der Abbildfunktion von
nese in Verkehrung des Newtonschen Axioms unter Literatur zu beurteilen. ›Gegenwelt‹ impliziert sodann
den Leitsatz »Hypotheses fingo« (ebd.). Nicht auf mi- keine getreue Wiedergabe der Erfahrungswirklich-
metische Abbildung der Wirklichkeit ziele er ab, son- keit, sondern eine der Einbildungskraft entspringende
dern auf das Erschaffen möglicher Welten. Der Dra- Eigenwelt als experimentell-modellhafte Gegen-Welt
matiker erkennt in diesem Paradigmenwechsel so- im Sinne Swifts (vgl. WA 32, 68).
wohl einen Akt der Befreiung, indem er nicht mehr an Als Schlüsseltext dieser Poetik kann denn auch Der
die vorgegebenen Verhältnisse gebunden sei, formu- Winterkrieg in Tibet gelten, eine kontrafaktische Para-
liert aber ebenso die Gefahr, »ins Leere zu stoßen« bel des Zweiten Weltkriegs. Ihr autofiktionaler Erzäh-
(157), d. h. ganz im Ästhetischen aufzugehen. Um sol- ler deutet den Stoff retrospektiv als »erste[n] Versuch,
chem Wirklichkeitsverlust vorzubeugen, müsse die mich in die Wirklichkeit, von der ich und mein Land
»Fiktion [...] auch die Realität in sich schließen [...]. ausgeschlossen waren, durch eine erfundene Unwirk-
Der Realität muß im Theater eine Überrealität gegen- lichkeit zu integrieren, eine Gesamtdarstellung zu wa-
überstehen. Aus den Fiktionen müssen ›Mythen‹ her- gen, indem ich nach einem Weltgleichnis suchte«
vorgehen, sonst sind sie sinnlos« (ebd.). Dreißig Jahre (WA 28, 65). Zunächst dient folglich noch die Un-
zuvor hatte Alfred Döblin in seiner wichtigen poetolo- wirklichkeit als Sprungbrett für den persönlichen Ein-
gischen Schrift Der Bau des epischen Werks unter Ver- bezug in die Wirklichkeit; später dominiert die gegen-
wendung identischer Begriffe ähnliche Vorstellungen läufige Absicht, nämlich die Wirklichkeit in die Über-
auf dem Feld der Epik formuliert. Döblin plädiert da- realität der fabelhaften Gegenwelt zu integrieren. Ge-
rin für die Abkehr vom reinen Berichtstil, der die meint ist mit dem konstatierten Ausschluss von der
Wirklichkeit lediglich abbilde und sich dadurch kaum Wirklichkeit die »Groteske des Verschontseins« (67),
mehr vom Tatsachenbericht der Zeitung unterschei- die dem Erzähler-Ich im Zuge einer ikonisch gewor-
de. Stattdessen sei es die Aufgabe des Dichters, »dicht denen Brechszene infolge eines maßlosen Besäufnis-
an die Realität zu dringen und sie zu durchstoßen, um ses mit Berner Bauern in La Plaine bei Genf bewusst
zu gelangen zu den einfachen großen elementaren wird; hier leistete Dürrenmatt im Winter 1944/45 mi-
Grundsituationen und Figuren des menschlichen Da- litärischen Hilfsdienst, während um die Schweizer
seins« (Döblin 2013, 245). Dürrenmatt wie Döblin er- Friedensinsel herum Europa in Flammen stand. Aus
kennen mithin Chance und Gebot einer Distanzie- dieser historischen Schreibsituation heraus entwickelt
rung sowohl von der empirischen ›Wirklichkeit‹ als der Autor seine poetologische Maxime: »Die Welt, die
auch von realistischen Schreibverfahren, um durch ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erden-
326 V  Ästhetik und Poetik

ken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die den kann ›Gegenwelt‹ neben der Etablierung von
mich nicht fanden, zu erfinden« (ebd.). Die »Geburt Selbst- und Weltdistanz eine von jeglicher Erfahrung
als Schriftsteller« (Rüedi 2011, 224) fällt somit in eins entkoppelte Entität repräsentieren, die dank Mecha-
mit dem kompensatorischen Entwurf einer Gegen- nismen der Verfremdung wie Parodie oder Groteske
welt, die die erfahrene Sinnvakanz in eine wenn nicht (s. Kap. 90) den verstellten Weg zu den literarischen
sinnstiftende, so doch der Darstellung zugängliche Stoffen wieder frei zu räumen verspricht.
ästhetische Struktur überführen soll. Evident wird
hier die in Dürrenmatts Werk manifeste Affinität zum Literatur
Primärtexte
Grotesken, welches das Lächerliche und das Grauen Anmerkungen zur Komödie. In: WA 30, 20–25.
in spannungsreiche Nachbarschaft stellt, krisenhaf- Der Winterkrieg in Tibet. In: WA 28, 11–170.
ten Orientierungsverlust und Formzerfall zelebriert, Fingerübung zur Gegenwart. In: WA 32, 31f.
gleichzeitig aber mittels »Gestaltung [...] das Dämo- [Gespräch mit] Artur Joseph [1966]. In: G 1, 235–246.
nische in der Welt zu bannen und zu beschwören« [Gespräch mit] Dieter Bachmann/Peter Rüedi [1977]. In: G
2, 218–231.
(Kayer 1957, 202) vermag.
[Gespräch mit] Hans Fröhlich [1970]. In: G 1, 348–354.
Dürrenmatt verbindet die von grotesken Evokatio- [Gespräch mit] Heinz Ludwig Arnold [1975]. In: G 2, 114–
nen und Metamorphosen tingierten Gegenwelten 176.
schließlich unauflöslich mit dem raumsemantischen Sätze über das Theater. In: WA 30, 176–211.
»Urmotiv« (WA 28, 69) des Labyrinths, das neuerlich Standortbestimmung. In: WA 6, 155–160.
der Abstandsmarkierung zur empirischen Wirklich- Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72.
Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: WA 32, 60–69.
keit dient: »Indem ich die Welt, in die ich mich aus-
Döblin, Alfred: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur.
gesetzt sehe, als Labyrinth darstelle, versuche ich, Dis- Gesammelte Werke. Hg. von Christina Althen, Bd. 22.
tanz zu ihr zu gewinnen, [...] sie ins Auge zu fassen wie Frankfurt a. M. 2013.
ein Dompteur ein wildes Tier. Die Welt, wie ich sie er-
lebe, konfrontiere ich mit einer Gegenwelt, die ich er- Sekundärliteratur
denke« (ebd.). Wo der Dompteur indes das Raubtier Amrein, Ursula: Phantasma der Moderne. Die literarische
Schweiz 1880 bis 1950. Zürich 2007.
zu zähmen sucht, heben Dürrenmatts Gegenwelten Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
mitnichten auf die Domestizierung der Wirklichkeit Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
ab, sondern auf deren Erkenntnis erheischende Ver- hingers im Spätwerk. Tübingen, Basel 2004.
wandlung und auf Deutung verzichtende Verformung. Greiner, Bernhard: Die Komödie. Eine theatralische Sen-
Dürrenmatt setzt die Welt im naturwissenschaftlich dung: Grundlagen und Interpretationen [1962]. Tübingen
2006.
dominierten Zeitalter in ein dezidiert mehrdeutiges
Grimm, Reinhold: Parodie und Groteske im Werk Friedrich
Bild und geht dabei konsequent vom Ich aus, wie Phi- Dürrenmatts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift
lipp Burkard mit Rückgriff auf Kant überzeugend dar- 11 (1961), 431–450.
gelegt hat: »Das Subjektive geht dem sogenannt Objek- Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Male-
tiven voraus, das Erkenntnissubjekt konstituiert ein rei und Dichtung. Oldenburg, Hamburg 1957.
Bild der Welt« (Burkard 2004, 93). In Auseinanderset- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Biographie. Zürich 2011.
zung mit den Theaterproblemen brachte Reinhold Toepfer, Georg: Distanz. In: Forum Interdisziplinäre
Grimm ferner Brechts Konzept des ›Gegenentwurfs‹ Begriffsgeschichte 1 (2012), 1–24.
ins Spiel, wonach Dürrenmatt das durch Wissenschaft
und Literatur »Vorgeformte durch [...] Gegenentwürfe Moritz Wagner
›verfremden‹« (Grimm 1961, 443) wollte. So verstan-
87  Dramaturgisches Denken 327

87 Dramaturgisches Denken lichkeit ereignet sich, sie spielt sich im ›ontologischen‹,


die Fiktion im logischen Bereich ab. Ich muß deshalb
Ästhetisches Konzept gedanklich meiner Fiktion die schlimmstmögliche
Wendung geben, ich muß den tödlichen Unfall be-
Dürrenmatts Begriff des ›dramaturgischen Denkens‹ schreiben. Nur so bekommt meine gedankliche Fikti-
bezeichnet einen essentiellen Punkt in seinem ästheti- on auch eine ›existentielle‹ Berechtigung« (WA 30,
schen Selbstverständnis. Er markiert eine geistige Hal- 209; s. Kap. 98).
tung, die sich in den frühen Jahren seines Schaffens Die Abstraktion der Wirklichkeit auf die Ebene ei-
aus einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem nes gedanklichen Systems dient Dürrenmatt nicht nur
Drama herauskristallisiert hat und zur Grundlage sei- für sein literarisches Schaffen. Sie spielt auch eine zen-
ner intellektuellen Position wurde. Ausgehend von trale Rolle für das Erfassen und Visualisieren der
Aristoteles’ These, die Dichtung ahme im Möglichen Wirklichkeit jenseits seiner Dramentexte und schafft
das Wesen des Wirklichen nach (Poetik, Kap. 9), stellt dabei einen Weg, sich ihr auf einer systematischen
Dürrenmatt in den Sätzen über das Theater (1970) die Metaebene zu nähern. Im Monstervortrag über Ge-
Frage nach den Wegen, das Mögliche der Wirklichkeit rechtigkeit und Recht (1969) stellt er das dramaturgi-
auszuloten, ins Zentrum seiner Dramaturgie (vgl. WA sche Denken als seinen Zugang zur Rechtsthematik
30, 183 f.). Damit umfasst sein dramaturgisches Den- im Sinne eines gedanklichen Phänomens heraus (vgl.
ken analytisches Erfassen ebenso wie mimetisches WA 33, 91 f.), während er im Israel-Essay Zusammen-
Darstellen der Wirklichkeit; es stellt sich als ein hybri- hänge (1975) auf systematisch-abstrakter Ebene die
des Moment heraus, das philosophische Fragen der Daseinsberechtigung des Staates Israel entwickelt (vgl.
Erkenntnis mit kreativen Aspekten literarischen WA 35, 9–62). Im Zentrum steht jeweils das gedank-
Schaffens vereint. Die Dimension des ›Dramaturgi- lich fassbare System hinter der tatsächlich politischen
schen‹ markiert darin den schöpferischen Akzent des oder gesellschaftlichen Wirklichkeit, das diese zu be-
analytischen Zugangs zur Wirklichkeit und weist das greifen helfen soll. Dabei geht es Dürrenmatt nicht da-
Denken als eine Methode aus, die Welt sichtbar zu rum, »eine Politik zu rechtfertigen, sondern sie zu
machen (vgl. Gasser 2014, 37); das Moment des ›Den- durchschauen« (WA 33, 94) und so politische Diskus-
kens‹ bringt dagegen die epistemische Ausrichtung sion jenseits von Ideologien zu ermöglichen.
des schöpferischen Aktes zum Ausdruck. Das Erden-
ken in sich stimmiger Abbilder der an sich kontingen-
ten Wirklichkeit wird so zu einem Weg, sie verhandel- Formen des dramaturgischen Denkens
bar zu machen. Damit begreift Dürrenmatt Wissen
nicht als Teil der Gegenstände, sondern als Teil sub- Die Idee, die Wirklichkeit durch die Transposition in
jektiver Denksysteme (vgl. WA 35, 16). Er weist so die ein gedankliches System zugleich zu abstrahieren und
Strukturen des schöpferischen Aktes selbst als eigent- zu visualisieren, weist grundlegende Parallelen zu
lichen Zugang zur Wirklichkeit aus (vgl. WA 32, 68), Spiel- sowie Experimentanordnungen auf. Sie findet
der sich in Formen wissenschaftlichen und spieleri- sich gerade in dieser Eigenschaft in zahlreichen Vor-
schen Modelldenkens (vgl. Käser/Käppeli 2014) sowie trägen und Essays ebenso wie in Dürrenmatts literari-
archetypischer Systematisierung des Lebens manifes- schem Werk wieder. So macht er das Erschaffen expe-
tiert (etwa im Mythos; vgl. Gasser 2004). rimenteller Anordnungen als Zugang zur Welt zum
Nach diversen Versuchen, das mimetische Potential zentralen Gegenstand seines Einstein-Vortrags (1979),
des Dramas systematisch zu fassen, die im Essayfrag- nicht zuletzt indem er den Physiker selbst zitiert: »Der
ment Aspekte des dramaturgischen Denkens (1964) ei- Mensch sucht in irgendwie adäquater Weise ein ver-
nen Höhepunkt erfahren, entwickelte Dürrenmatt mit einfachtes und übersichtliches Bild der Welt zu gestal-
der ›Dramaturgie des Unfalls‹ in den Sätzen über das ten und so die Welt des Erlebens zu überwinden, in-
Theater (1970) ein Konzept, mit dem das Spektrum des dem er sie bis zu einem gewissen Grad durch dies Bild
Möglichen ausgelotet werden soll. Entscheidend dabei zu ersetzen strebt. Dies tut der Maler, der Dichter, der
ist ihm die Logik als Struktur des Denkens, mit der das spekulative Philosoph und der Naturforscher, jeder in
gerade noch Mögliche gedacht werden kann, das als seiner Weise« (WA 33, 169 f.). Zentral ist dabei die al-
die ›schlimmstmögliche Wendung‹ in Dürrenmatts len Positionen zugesprochene innere Verbindlichkeit
Ästhetik eingehen sollte: »Stelle ich nun eine Fiktion der in sich stimmigen Abbilder von der Welt, die in
auf, gebe ich nicht die Wirklichkeit wieder. Die Wirk- Dürrenmatts dramaturgischem Denken der Kausallo-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_87
328 V  Ästhetik und Poetik

gik sowie den Kategorien von Raum und Zeit folgen. Projekt zum Gegenstand macht (vgl. Emter 2000; Rüe-
Als Antwort auf eine als kontingent erkannte Wirk- di 2000). Im ersten Band Stoffe I–III (1981) führt Dür-
lichkeit besteht der dramaturgische Erkenntnisweg renmatt das System der »Urbilder« als archetypische
mithin in Strategien, die Möglichkeiten der Wirklich- Grundstrukturen des eigenen Denkens aus: »Die Welt,
keit durchzuspielen. Dies zeigt sich auch und beson- wie ich sie erlebe, konfrontiere ich mit einer Gegen-
ders in den zahlreichen Spielmetaphern, etwa im Mo- welt, die ich erdenke. Nun sind die Bilder, zu denen
dell des Schachspiels, das Dürrenmatt auch im Ein- man greift, nicht zufällig, auch sie sind schon etwas
stein-Vortrag wählt, um die Strukturen der Verhältnis- Vorhandenes, jedes Gedachte ist schon einmal ge-
se zwischen denkenden und handelnden Positionen in dacht, jedes Gleichnis schon einmal angewandt wor-
der Welt durchzuspielen. Unter der Prämisse, komple- den. In der Phantasie gibt es nichts Neues, alle Struk-
xe Zusammenhänge gedanklich strukturiert darzustel- turen gehen auf Urstrukturen, alle Motive auf Urmoti-
len, stehen auch die Kriminalromane, die innerhalb ve, alle Bilder auf Urbilder zurück. Selbst die kompli-
seines Werkes nichts weniger als Formen der Aus- zierte räumliche Struktur des Kettenmoleküls, das die
einandersetzung mit den Grenzen der Erkenntnis dar- Eigenschaften eines jeden Individuums speichert, war
stellen (vgl. Famula 2014; Gasser 2014). Im Roman Der in der Einbildungskraft schon vorhanden – sonst hätte
Richter und sein Henker (1950) veranschaulicht die sie nicht entdeckt werden können« (WA 28, 69 f.). So-
Schachmetapher unterschiedliche Grade des Wissens wohl auf der Ebene der Form als auch auf jener des
und führt dabei die Position des Autors von Kriminal- Stoffes stellen die Strukturen des dramaturgischen
romanen selbst ins Feld, der innerhalb einer kontin- Denkens damit eine Grundlage nicht nur des literari-
genten Welt die Möglichkeit zur Erkenntnis suggeriert. schen, sondern auch des bildnerischen Werkes Dür-
Im späteren poetologisch angelegten Roman Das Ver- renmatts dar, was sich in Bildern wie Die Katastrophe
sprechen. Requiem auf den Kriminalroman (1957) wird niederschlägt (vgl. Rusterholz 2014).
dies von den Figuren selbst problematisiert (vgl. WA
23, 18). Eine entscheidende Komponente des drama-
turgischen Denkens ist dabei das Zusammenspiel der Deutungsaspekte
Gültigkeit der Regeln des Schachspiels und der Offen-
heit des Spielverlaufs, wobei einzig die Verbindlichkeit Das dramaturgische Denken leistet auf der Basis eines
der Spielregeln den Spielvollzug ermöglicht (vgl. WA komplexen Wirklichkeitsbegriffs eine unhintergeh-
33, 159 f.). In der Metapher des Billardspiels, vor allem bare Aufwertung der Kunst und weist darin, in der
im Spielzug à la bande, bei dem die Kugel über die ge- Frage nach der Relevanz künstlerischer Mimesis für
genüberliegende Bande gespielt wird, kommt in den die Wirklichkeit, sowohl das Potential als auch die
Kriminalromanen eine mehrfach konnotierte Meta- Grenzen dieses ästhetischen Konzeptes auf. Das An-
pher zum Tragen, die für das indirekte Bewältigen der liegen, die Strukturen der Wirklichkeit zu erkennen,
an sich unverfügbaren Wirklichkeit durch gedankliche das den grundlegenden Anspruch impliziert, nach
Systematisierung und Sinnerzeugung steht. Die Ein- Prinzipien statt nach Lösungen zu fragen, intendiert
deutigkeit der Metaphern wird im Laufe des Werks im- politische Positionen und Problemlösungsansätze
mer diffuser: Während die Figuren in Der Richter und jenseits festgefahrener Normen. Diese programmati-
sein Henker in der Lage waren, ein Verbrechen indi- sche Neutralität birgt jedoch zugleich das entschei-
rekt, durch manipulatives Eingreifen in das Gesche- dende Problempotential: Die Abstraktheit des drama-
hen, zu bestrafen, bleibt die Welt in Dürrenmatts spä- turgischen Nachdenkens über die Welt schließt prak-
tem Kriminalroman Justiz (1985) für alle undurch- tische Umsetzung geradezu kategorisch aus, weshalb
schaubar und der Plan, indirekt ans Ziel zu gelangen, es konkrete Lösungsvorschläge für gesellschaftliche
scheitert am Zusammenspiel unzureichender Inter- und politische Situationen schuldig bleiben muss (vgl.
pretationen der Wirklichkeit (vgl. Auge 2004, 89–182; Buchholz 2012; Améry 1984).
Famula 2014, 189–199). Ein wichtiger Grund für diese Problematik liegt in
Nicht nur die Form der literarischen Werke, son- der erkenntnistheoretischen Ausrichtung der Ästhe-
dern auch die Stoffe selbst weisen in Dürrenmatts Äs- tik Dürrenmatts. Als Konsequenz seiner Auseinan-
thetik Strukturen des dramaturgischen Denkens auf: dersetzung mit Kants Kritik der reinen Vernunft bleibt
So lassen sich zahlreiche seiner Figuren auf mythologi- eine verbindliche Darstellbarkeit der Wirklichkeit un-
sche Urfiguren zurückführen, deren zentrale Bedeu- möglich; der weitestmögliche Zugang zu ihr besteht in
tung er in seinem zweibändigen autobiografischen der Auseinandersetzung mit den Kriterien der eige-
87  Dramaturgisches Denken 329

nen Erkenntnis (vgl. Burkard 2004). Damit erweist Labyrinth. Das politische Denken im Werk Friedrich
sich Dürrenmatts ästhetisches Selbstverständnis als Dürrenmatts. Hamburg 2012.
Auseinandersetzung mit der subjektiven Erkenntnis- Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
fähigkeit. Die Modellhaftigkeit der Stücke und die Ab- hingers im Spätwerk. Tübingen 2004.
straktion des eigenen Denkens in der Kunst avancie- Emter, Elisabeth: Geschichte der Stoffe als Geschichte des
ren zu einem erkenntnisorientierten Anliegen, hinter Denkens. Dürrenmatts Gedankenexperiment Die Brücke
dem jedoch stets die ethische – und weitestgehend re- im Kontext der modernen Physik. In: Peter Rusterholz
ligiöse – Intention erkennbar bleibt, trotz des Wissens u. a. (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff der Ver-
wandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Berlin 2000,
um die Grenzen der Erkenntnis eine aktive Haltung
77–89.
gegenüber der Wirklichkeit einzunehmen (s. Kap. 72). Famula, Marta: Fiktion und Erkenntnis. Dürrenmatts
Die aktive Haltung manifestiert sich im Konzept des Ästhetik des ethischen Trotzdem. Würzburg 2014.
dramaturgischen Denkens als eine indirekte, die nicht Gasser, Peter: Dramaturgie und Mythos. Zur Darstellbarkeit
die Wirklichkeit, sondern Modelle derselben zum Ge- des Grotesken in Dürrenmatts Spätwerk. In: Jürgen Söring
genstand macht und sich damit in die Tradition der u. a. (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. 7. Internationales
Neuenburger Kolloquium 2000. Frankfurt a. M. 2004,
›Philosophie des Als Ob‹ stellt, die der Kantianer Hans 191–209.
Vaihinger entwickelt hat (vgl. Burkard 2004, 69–87). Gasser, Peter: Die Geburt der Literatur aus dem Geiste des
Innerhalb der verbindlichen Strukturen der Wirklich- Spiels. Zu Friedrich Dürrenmatts Dramaturgie der Phan-
keitsmodelle verlässt das dramaturgische Denken al- tasie. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der
lerdings seine subjektive Grundlage und wird zu einer Phantasie: Dürrenmatt intertextuell und intermedial.
Göttingen 2014, 19–40.
Möglichkeit, gesellschaftliche Konstellationen syste-
Käser, Rudolf/Käppeli, Patricia: System-Metaphern. Modelle
matisch zu durchdenken, die über die Entscheidungs- des Staates und der Gesellschaft im essayistischen und
dimension des Einzelnen hinausreichen und somit dramatischen Werk Friedrich Dürrenmatts. In: Ulrich
indirekt – à la bande – politische Relevanz erhalten Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie: Dürren-
könnten (vgl. Käser/Käppeli 2014, 115 f.). matt intertextuell und intermedial. Göttingen 2014,
97–116.
Literatur Rüedi, Peter: Friedrich Dürrenmatt und die Stoffe als Auto-
Primärtexte biographie des Als-Ob. In: Peter Rusterholz u. a. (Hg.):
Aspekte des dramaturgischen Denkens. In: WA 30, 104–120. Die Verwandlung der Stoffe als Stoff der Verwandlung.
Sätze über das Theater. In: WA 30, 176–211. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Berlin 2000, 41–53.
Rusterholz, Peter: Dürrenmatts Bild Die Katastrophe. Ein
Sekundärliteratur Modellfall seiner dramaturgischen Erfindung. In: Ulrich
Améry, Jean: Friedrich Dürrenmatts politisches Engage- Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie: Dürren-
ment. In: Text + Kritik 56 (1984), 63–70. matt intertextuell und intermedial. Göttingen 2014, 143–
Auge, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts Roman Justiz. Ent- 160.
stehungsgeschichte. Problemanalyse, Einordnung ins
Gesamtwerk. Münster 2004. Marta Famula
Buchholz, Hans-Ludwig: Die Welt als dramaturgisches
330 V  Ästhetik und Poetik

88 Einfall kommen auf der inhaltlichen Ebene Einfälle, die inner-


halb einer formalen Anordnung für Überraschung und
Der Einfall kommt in Dürrenmatts Werk in mindes- Irritation sorgen. Ein Mann, der seine Frau verwurstet
tens drei Ausprägungen vor: als ereignishafter Einfall, (Die Wurst), eine Tunnelfahrt, die kein Ende nimmt
als thematisierter Einfall und als poetisch reflektierter (Der Tunnel), eine Frau, die vor einer Dorfgemeinschaft
Einfall. Dabei beziehen sich der thematisierte und der einen Mord in Auftrag gibt (Der Besuch der alten Da-
poetisch reflektierte Einfall nicht nur, aber auch, auf me), ein Kommissär, der die Lösung eines Kriminalfalls
die eigene Schreibpraxis. Umgekehrt entzieht sich der gefunden hat, aber nicht beweisen kann (Das Verspre-
ereignishafte Einfall seiner Thematisierung und Poeti- chen), die Tötung eines Sterbenden aus Angst, er könnte
sierung (und also auch seiner Fiktionalisierung) stets noch beichten (Frank der Fünfte), die Niederschrift ei-
auch dort noch ein Stück weit, wo er explizit reflektiert ner Novelle, die aus vierundzwanzig extrem langen Sät-
wird. Denn was einem einfällt – und nichts anderes zen besteht (Der Auftrag): Auf solche Einfälle muss man
meint die Rede vom Einfall in einem ganz basalen Sin- erst kommen. Zugleich bedarf es einer Bereitschaft,
ne –, kann nur bedingt erfasst, gewollt oder kontrol- diese Einfälle auszuarbeiten, sie dramaturgisch zu-
liert werden. Einfälle lassen sich wohl provozieren, zuspitzen, sie zu grotesken Parabeln auszuweiten.
und man kann sich ihnen gegenüber offen oder dank- Der legendäre »Einfallsreichtum« Dürrenmatts
bar erweisen. Oder man kann sie abzuwehren ver- (Peter Wyrsch in G 1, 41) ist bereits früh bezeugt, und
suchen. Man kann auch mit Einfällen arbeiten. Aber tatsächlich lässt sich seine literarische Produktion von
man kann sie, als Phänomene der Kontingenz (vgl. den Anfängen bis zum Spätwerk der Stoffe auch jen-
Zanetti 2014, 16 f.), ebenso wenig ›machen‹, wie man seits der auktorialen Selbsteinschätzungen gut er-
sie in ihrer Plötzlichkeit bewahren oder in ihren mög- kennbar als ›einfallsorientiert‹ kennzeichnen. Bestim-
lichen Folgen determinieren könnte. mend sind nicht stilistische Raffinesse, psychologi-
Für den literarischen Schreibprozess heißt dies: Un- sche Introspektion, ein primär ästhetisches Interesse
ternommen werden kann wohl der Versuch, sein an Form, eine Realistik der Wahrscheinlichkeit, die
Schreiben aus den Möglichkeiten eines folgenreichen Suche nach Beschreibungspotenz oder Überzeu-
Einfalls heraus zu entwickeln – und genau davon ließ gungsabsichten, sondern es sind außergewöhnliche
Dürrenmatt sich faszinieren. Nur bedarf es dazu eines Situationen, extreme Momente, folgenreiche Konstel-
doppelten Vertrauens: zum einen darauf, dass einem lationen, zerreißende Konflikte, die in praktisch allen
im rechten Moment ein guter Einfall kommt, zum an- Arbeiten von Dürrenmatt ebenso am Anfang wie im
deren darauf, dass der Einfall genügend Potential für Zentrum einer ›Dramaturgie des Einfalls‹ stehen (vgl.
seine poetische Entfaltung bereithält. Dabei ist für den Dick 1990): »Die Absicht darf nicht der Grund des
Fortgang eines Schreibprozesses und also auch für das Schreibens sein. Erst muß man einen guten Einfall ha-
am Ende allenfalls Veröffentlichte die Frage mindes- ben, dann kann man ein Stück beginnen« (G 1, 196).
tens so wichtig, wie mit einem Einfall, schreibend, um- Die für Dürrenmatt auch jenseits der Theaterarbei-
gegangen wird. Wichtig ist demnach auch die Frage, ten zentrale Auffassung von ›Dramaturgie‹ orientiert
welche Konsequenzen aus dem Einfall im Prozess ge- sich dabei nicht an einer Reihe von Einfällen, die span-
zogen werden und welche daraus entspringenden poe- nungsreich inszeniert und als Folge von Konflikten
tischen Effekte wiederum im Verlauf oder im Nach- am Ende einer Lösung zugeführt würde. Leitend ist je-
hinein als affirmationsfähig wahrgenommen werden weils vielmehr die Orientierung an einem bestimm-
können. Ebendiese vielfältigen Aspekte der Einfalls- ten, bestenfalls extrem konfliktgeladenen Einfall. Die-
bearbeitung lassen sich bei Dürrenmatt wie bei kaum ser fungiert nicht als Treiber zur Lösung eines Kon-
einem anderen Schriftsteller gut beobachten. flikts, sondern als fortlaufend bekräftigter Kristallisa-
tionspunkt einer tendenziell unlösbaren Zuspitzung
einer Problematik.
Der ereignishafte Einfall

Einfälle der ereignishaften Art sind in Dürrenmatts Der thematisierte Einfall


Werk insbesondere dort auszumachen, wo Erwar-
tungshaltungen, die sich mit einem bestimmten Genre Die ersten umfangreichen Thematisierungen des Ein-
verbinden – etwa demjenigen des Kriminalromans –, falls finden sich in Dürrenmatts theaterkritischen
einer gezielten Subversion unterzogen werden. Dazu Texten der frühen 1950er Jahre. Zu nennen sind hier

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_88
88 Einfall 331

vor allem die Anmerkung zur Komödie (1952; WA 30, Besonderen, vom Einfall her« zu realisieren suchen,
20–25) und – teils mit wörtlichen Wiederholungen – »nicht vom Allgemeinen, vom Plane her« (WA 30, 66).
die Theaterprobleme (1954; WA 30, 31–72). Diese Stel- Die bündigste eigene Definition des Einfalls findet
lungnahmen machen darauf aufmerksam, dass der sich in den Randnotizen Dürrenmatts zum Besuch der
Einfall für Dürrenmatt insgesamt, auch jenseits der alten Dame: »So höre ich immer wieder, ich sei der
Bühne, eine theatralische Komponente aufweist, ja so- Mann der maßlosen Einfälle, der gleichsam ohne
gar »rein theatralisch« zu denken sei: »Jeder gute Ein- Zucht und Disziplin daherschreibe. Was ist nun aber
fall ist rein theatralisch. Es kommt nur darauf an, wie- ein Einfall? Darüber zerbrechen sich manche den
viel Wirklichkeit durch ihn eingefangen wird, sich in Kopf. Begreiflicherweise. Für sie entsteht Literatur aus
ihm spiegelt – sonst wird die Sache abwegig, unsinnig. der Literatur, Theater aus Theater ... Meine Kunst da-
Die Situation mag ›unwahrscheinlich‹ sein, was sich gegen entsteht nicht primär aus der Kunst – ohne den
aus ihr entwickelt, ist es nicht: Wie jedes ›Wunder‹ Einfluß, den auch auf mich andere Schriftsteller haben,
schafft sie Verlegenheit« (G 1, 202). leugnen zu wollen –, sondern aus der Welt, aus dem
In den frühen theaterkritischen Texten hebt Dür- Erlebnis, aus der Auseinandersetzung mit der Welt,
renmatt insbesondere die Rolle des Einfalls in der al- und genau dort, wo die Welt in Kunst gleichsam über-
ten attischen Komödie (Aristophanes) hervor, die er springt, steht der Einfall: Weil die Welt mit ihren Ereig-
sowohl von der neuen attischen Komödie (Menander) nissen in mich einfällt (wie ein Feind oft in eine Fes-
als auch, und erst recht, von der Tragödie (Sophokles) tung), entsteht eine Gegenwelt, eine Eigenwelt als eine
klar unterscheiden möchte. Dürrenmatt zufolge setzt Gegenattacke, als eine Selbstbehauptung« (WA 5, 138).
die antike Tragödie auf bekannte Stoffe und inszeniert Als Dürrenmatt seine literarische Produktion mehr
diese anhand typisierter Figuren so, dass die histori- und mehr weg vom Theater und hin auf das Schreiben
sche Distanz in der Rezeption möglichst überwunden von Prosatexten verlagerte, gewann zeitweise der Ver-
wird. Dagegen zeichne sich die alte attische Komödie such an Bedeutung, das Prosaschreiben nicht am Ein-
dadurch aus, dass sie sich rückhaltlos mit ihrer Gegen- fall, sondern an dem zu orientieren, was er »Vision«
wart auseinandersetze. Allerdings geschehe das im nannte: »Die Bühne braucht den Einfall, und die Prosa
Falle der attischen Komödie so, dass sie die Gegenwart braucht die Vision« (G 3, 50). Gerade sein Spätwerk
anhand nicht-typisierter Persönlichkeiten in eine zeigt allerdings, dass der Einfall seinerseits, und zwar
größtmögliche Distanz zum Zuschauer versetze. Das in einem ganz nüchternen Sinne, für die Arbeit an den
Mittel dazu sei der Einfall: Die Stoffe liegen im Unter- Prosatexten bestimmend bleibt.
schied zur Tragödie nicht einfach da, sie müssen mit-
hilfe von Einfällen erst geschaffen werden, und zwar
so, dass sie als gegenwärtige Stoffe ihre Gegenwart zu Der poetisch reflektierte Einfall
verstören vermögen.
Dürrenmatt zufolge sind die alten attischen Ko- Die dritte Ausprägung des Einfalls ist vor allem cha-
mödien »Eingriffe in die Wirklichkeit« (WA 30, 21). rakteristisch für die Stoffe, das Spätwerk. Die Arbeit
Es sind »Eingriffe«, die ihrerseits von Vorgängen in an den Stoffen zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr
der Wirklichkeit handeln: »Das gemeinsame All die- Einfälle nicht nur – wie in den frühen theaterkriti-
ser Vorgänge liegt [...] im Einfall, darin, daß sie vom schen Texten oder in Gesprächsaussagen – Thema
Einfall leben, nur durch den Einfall möglich sind. Es sind, sondern darüber hinaus eine poetisch reflek-
sind Einfälle, die in die Welt wie Geschosse einfallen tierte Form gewinnen. Der poetisch reflektierte Ein-
(um ein Bild zu brauchen), welche, indem sie einen fall ist durchaus auch thematisierter Einfall – und von
Trichter aufwerfen, die Gegenwart ins Komische um- seinen Anfängen her immer noch: kontingentes Er-
gestalten« (ebd.). Dürrenmatt wird auf das poetische eignis. Zugleich ist die Thematisierung selbst aller-
Bild des Geschosses oder des Kometen bzw. des Mete- dings integraler Bestandteil einer hybriden, wuchern-
ors immer wieder zurückkommen (vgl. z. B. WA 36, den Werkform, in der Erinnerungsarbeit, Wieder-
77) und dabei sein eigenes Schaffen dezidiert an die- gabe, Neubearbeitung, Inszenierung, Fiktionalisie-
sem Modell von Dramatik orientieren. Seine Vorstel- rung sowie Kommentar und Reflexion fortlaufend in
lung vom ›Bau des Dramas‹ setzt den Einfall zentral, neue Konstellationen treten. Elementar ist dabei der
wobei sich damit zugleich eine Wertschätzung des Be- radikale »Verzicht auf eine Poetik des Gelingens, das
sonderen gegenüber dem Allgemeinen verbindet: Sei- sich bei anderen Schriftstellern noch im Kunstvollen
ne Vorhaben will Dürrenmatt ganz affirmativ »vom des Scheiterns erfüllt« (Stingelin 2004, 259). Das
332 V  Ästhetik und Poetik

Scheitern der Utopien, der Lösungen für Konflikte arbeitet, erweisen sie sich selbst als Stoffe – Stoffe, in
oder auch ganz konkret der Bewältigbarkeit des Stof- denen Wirklichkeit und Fiktion verwoben sind.
fe-Vorhabens gewinnt dagegen in den Stoffen selbst
Form, aber so, dass es am Ende kein Glücksverspre- Literatur
Primärtexte
chen gibt. Anmerkung zur Komödie. In: WA 30, 20–25.
Die merkwürdige Werkform der Stoffe beruht im [Gespräch mit] Andreas Conrad [1983]. In: G 3, 168–194.
Übrigen selbst auf einem folgenreichen Einfall, für [Gespräch mit] Annette Freitag [1966]. In: G 1, 196–200.
den die konventionellen Gattungen und insbesondere [Gespräch mit] Franz Kreuzer [1982]. In: G 3, 121–167.
das Theater offensichtlich keinen passenden Rahmen [Gespräch mit] Heinz Ludwig Arnold [1981]. In: G 3, 11–80.
[Gespräch mit] Urs Jenny [1966]. In: G 1, 200–209.
mehr bieten konnten: dasjenige aufzuschreiben, was
Kunst und Wissenschaft oder Platon oder Einfall, Vision
man zeitlebens nicht oder nicht so recht oder nur in und Idee oder Die Schwierigkeit einer Anrede oder
einer revisionsoffenen Form zu Papier bringen konn- Anfang und Ende einer Rede. In: WA 36, 72–97.
te. Darin besteht Dürrenmatts Projekt – und ebenso Labyrinth. Stoffe I–III. WA 28.
der Grundeinfall der Stoffe (vgl. WA 28, 13 f.), deren Randnotizen. In: Der Besuch der alten Dame. WA 5, 137–
publizierter Teil quantitativ nur die Spitze eines Eis- 141.
Theaterprobleme. WA 30, 31–72.
bergs bildet (vgl. Rusterholz/Wirtz 2000; Weber/
Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29.
Probst 2007). In Das Hirn, dem neunten Teil der Stoffe
(WA 29, 233–263), treibt der Autor die Reflexion bis Sekundärliteratur
an die (mit dem Namen ›Auschwitz‹ belegten) Gren- Dick, Ernst S.: Dürrenmatts Dramaturgie des Einfalls. Der
zen dessen, was man sich, am Schreibtisch sitzend, Besuch der alten Dame und Der Meteor. In: Herbert Mai-
einfallen lassen und zu Fiktionen verarbeiten kann nusch (Hg.): Europäische Komödie. Darmstadt 1990,
389–435.
(vgl. Prinz 2014). Prinz, Mathias: Die Urknalltheorie als Erfindungsmotiv bei
Entscheidend für die Auseinandersetzung mit dem Friedrich Dürrenmatt. In: Sandro Zanetti (Hg.): Improvi-
Einfall in den Stoffen ist das Interesse daran, unter wel- sation und Invention. Momente, Modelle, Medien. Berlin,
chen Bedingungen sich eine für die eigene literarische Zürich 2014, 99–111.
Produktion folgenreiche Idee (ein Einfall in diesem Rusterholz, Peter/Wirtz, Irmgard (Hg.): Die Verwandlung
der Stoffe als Stoff der Verwandlung: Friedrich Dürren-
Sinne) einstellen kann. Dürrenmatt weiß darum, dass
matts Spätwerk. Berlin 2000.
eine solche Erörterung nur »nachträglich« (G 3, 142) Stingelin, Martin: Ort, undenkbar. Friedrich Dürrenmatts
stattfinden kann und nie frei von Fiktion ist. Das ganze Sicht vom Gehirn. In: Christian Geyer (Hg.): Hirnfor-
Stoffe-Projekt ist der Versuch, diese Nachträglichkeit schung und Willensfreiheit. Frankfurt a. M. 2004, 255–
als Spielraum für eine poetische Reflexion früherer 260.
Einfälle und ihrer möglichen Fortsetzungen zu begrei- Weber, Ulrich/Probst, Rudolf: »Das ist natürlich ein ziemli-
ches Abenteuer«. Zur genetischen Edition von Friedrich
fen. Wichtig wird dabei der Gedanke, dass biografische Dürrenmatts Stoffen. In: Michael Stolz, Lucas Marco Gisi,
Prägungen, auch solche durch Lektüren, die jeweils in- Jan Loop (Hg.): Literatur und Literaturwissenschaft auf
dividuelle Disposition dafür bilden, dass sich be- dem Weg zu den neuen Medien. Zürich 2007, 164–175.
stimmte Einfälle überhaupt einstellen können (vgl. Wyrsch, Peter: Die Dürrenmatt-Story. In: G 1, 25–97.
z. B. WA 28, 213–215): »Der Mensch hat eine geistige Zanetti, Sandro: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Improvisation
und Invention. Momente, Modelle, Medien. Berlin,
Atmosphäre, und in diese schießen nun die Einfälle,
Zürich 2014, 13–28.
die aber schon subjektiv vorbereitet sind, damit sie
überhaupt aufleuchten und einschlagen können« (G 3, Sandro Zanetti
182 f.). Werden diese Einfälle am Ende literarisch be-
89 Gleichnis 333

89 Gleichnis gewinnen, [...] sie ins Auge zu fassen wie ein Domp-
teur ein wildes Tier« (69). In dieser Hinsicht ist das
Exposition Gleichnis im weiteren Kontext von Dürrenmatts Ko-
mödienverständnis (s. Kap. 93) und seiner Reflexion
Das ›Gleichnis‹ als »[r]hetorisch oder auch erzäh- des Paradoxen (s. Kap. 95) zu sehen.
lerisch erweiterter Vergleich« (Zymner 2007, 724) ist 2. Mehrdeutigkeit: »Das Labyrinth ist ein Gleichnis
lebenslang eine zentrale Kategorie der poetologischen und als solches mehrdeutig wie jedes Gleichnis« (71).
Selbstreflexion Dürrenmatts. Angesichts des ambiva- Diese Mehrdeutigkeit wird nachdrücklich als herme-
lenten Verschontseins der Schweiz im Zweiten Welt- neutische Maßgabe eingeschärft, u. a. in der Abgren-
krieg schreibt er um 1945 an Eduard Wyss: Das »Bo- zung gegen psychoanalytische Erklärungen (82 f.),
denlose« könne »nur durch das Phantastische Gesicht aber – generisch – auch gegen die Allegorie als »ver-
›erhalten‹«; er glaube, »dass es nie möglich sein wird, kleidete Sentenz« (82; vgl. G 2, 173). Die Aufgabe der
dies im Begriff zu sagen, sondern eben nur im Gleich- Auslegung ist nicht eine Singulierung, sondern eine
nis [...]. Dies versuche ich in meinen Novellen« (zit. programmatische Pluralisierung des Sinns. Der Sinn
nach Rüedi 2011, 231). In den späten Stoffen wiederum eines Gleichnisses umfasse »alle seine möglichen Er-
finden sich neben Gleichniserzählungen auch ausführ- klärungen zusammen«, wobei dieser Sinn durch die
liche Erörterungen zur Gleichnishermeneutik. Der be- Auslegung »immer mehrdeutiger« (83 f.) werde. Diese
vorzugte Gleichnis-Begriff (deutlich seltener ›Para- These spitzt Dürrenmatt bis in der Aufhebung der
bel‹) steht innerhalb eines weiteren terminologischen strukturbildenden hermeneutischen Differenz von
Feldes und wird nicht trennscharf von ›(Ur-)Bild‹, Ausgelegtem und Auslegung zu: ›Vereindeutigende‹
›Metapher‹ oder auch ›Modell‹ abgegrenzt (vgl. Alami Erklärungen würden den Sinn des Gleichnisses zer-
1994, 25–56). Die Intensität der Gleichnisproduktion stören, weil dieser »eins mit dem Gleichnis« sei und
wie -reflexion verdankt sich Dürrenmatts ausgepräg- sich nur in ihm »unzerlegt widerspieg[le]« (83). Im li-
tem erkenntnistheoretischen Interesse (s. Kap. 75). teraturgeschichtlichen Kontext der 1970er Jahre kann
Das Gleichnis – zumal das favorisierte des Labyrinths Dürrenmatts Betonung der Mehrdeutigkeit auch mit
– erscheint als geeignetes Medium, sich angesichts der seiner Skepsis gegenüber einer unmittelbar ›engagier-
eigenen »Höhlensicht« (WA 28, 71) der Komplexität ten‹ Literatur in Verbindung gebracht werden (vgl.
der Welt zu stellen. Wie Philipp Burkard zeigt, bildet WA 34, 161).
der Gleichnis-Begriff »quasi das poetologische Schar- 3. Die Einschärfung der Mehrdeutigkeit korres-
nier zwischen [Dürrenmatts] Erkenntniskritik und pondiert mit einer Emphase des unmittelbaren Er-
seinen fiktionalen Texten« (2004, 11). Die neutesta- lebens. Es gelte, die »Geschichte [des Minotaurus] zu
mentlichen Gleichnisse als klassische Ausprägung des erleben. Wir feiern sonst nur unsere Bildung, statt uns
Darstellungsmodus spielen dagegen nur eine margina- unmittelbar vom Gleichnis packen zu lassen« (WA
le Rolle (vgl. WA 6, 11). 28, 84). Die Intensität der Gleichniserfahrung führt
zugleich zu fließenden Grenzen zwischen »analyti-
scher Methode und kreativer Neuschöpfung« (Bur-
Dürrenmatts Gleichnis-Verständnis kard 2004, 109); lässt sich der Ausleger auf das Gleich-
nis ein, führt dies zu seiner potentiellen Fortschrei-
Für Dürrenmatts Gleichnis-Verständnis sind, wie u. a. bung. Gleichnistheoretisch gesprochen: Die Bilddi­
seiner wichtigsten theoretischen Erörterung in der mension neigt dazu, sich von ihrer linearen Bindung
Dramaturgie des Labyrinths (im ersten Stoffe-Band: an die Sachdimension zu emanzipieren (vgl. ebd.,
WA 28, 71–86) zu entnehmen ist, vier Aspekte zentral: 256–260).
1. In funktionaler Hinsicht gilt ihm das Gleichnis 4. Die Bildung von Gleichnissen stellt sich nach
als Gegenwelt: »Die Welt, wie ich sie erlebe, konfron- Dürrenmatt in manchen Fällen als freie Option dar, in
tiere ich mit einer Gegenwelt, die ich erdenke« (69). anderen ist sie dagegen alternativlos: »Was seiner Na-
Die »erfundene Unwirklichkeit« (65) fungiert als Me- tur nach nicht anschaulich ist, kann lediglich durch
dium zur Erfassung oder, stärker noch, Bewältigung Gleichnisse dargestellt werden« (WA 32, 215). Diese
der Wirklichkeit durch Distanzgewinn. Was Dürren- Äußerung steht bezeichnenderweise im Kontext von
matt seinerseits gleichnishaft auf den Punkt bringt: Erwägungen zur Abstraktion und Formalisierung in
»Indem ich die Welt, in die ich mich ausgesetzt sehe, den Naturwissenschaften und Künsten. Dürrenmatt
als Labyrinth darstelle, versuche ich, Distanz zu ihr zu bemisst die Güte und Möglichkeit der Gleichnisse

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_89
334 V  Ästhetik und Poetik

ausdrücklich auch an den Erkenntnis- und Darstel- len und seine Winterkrieg-Erzählung zeigen die ge-
lungsprinzipien der exakten Wissenschaften. nannten Aspekte in praxi. Im Blick auf Erstere wird
Die entscheidende Hintergrundfrage, wie der Aus- etwa das Mehrdeutigkeitsmoment sowohl in der Zu-
leger allererst dazu kommt, ein Artefakt als Gleichnis rückhaltungsrhetorik kenntlich (z. B. »Möglich, dass
wahrzunehmen und die beschriebene hermeneuti- [...]«, »Vermutung«, »es ist vorstellbar«, 78 f.) wie im
sche Disposition zu aktivieren, diskutiert Dürrenmatt Aufweis inhaltlicher Mehrdeutigkeiten (das Labyrinth
nicht explizit. Dabei kann sich eine Antwort kaum als offenes Gefängnis; Höhlen- vs. Gartenlabyrinth;
auf das textanalytische Datum des Gleichnis-Begriffs offene Optionen zur Identifikation mit Figuren etc.).
beschränken. Grundsätzlich müssen fraglos auch Tex- Das unordentliche Labyrinth ist, so es die Welt abbil-
te als Gleichnisse verhandelt werden, die nicht aus- den soll, das adäquate Gleichnis, das insofern – wie die
drücklich als solche ausgewiesen sind. Textanalytische subtile biografische Einbettung von Theoriebildung
Befunde sind allerdings aufschlussreich, um – praxeo- und Erzählung zeigt – höchst ordnungsgebend ist.
logisch-hermeneutisch – latente Spannungen zwi-
schen Gleichnistext und Gleichnistheorie wahrzuneh-
men, auch bei Dürrenmatt. Zur Forschung

Dürrenmatts Sprachgebrauch folgend erscheint der


Das ›Weltgleichnis‹ des Labyrinths und Gleichnis-Begriff regelmäßig, wenn auch oft ohne ge-
andere Gleichnisse nauere Schärfung, in der literaturwissenschaftlichen
Metasprache. Innerhalb der spezifischeren Forschung
Dürrenmatt macht einen großzügigen Gebrauch vom ist aufgrund der genauen Einzeichnung in den er-
Gleichnis-Begriff; er wendet ihn auf (eigene und frem- kenntnistheoretischen Problemhorizont an erster
de) Texte recht verschiedener Art an (vgl. Burkard Stelle die Untersuchung Burkards (2004) zu nennen.
2004, 244). Im Blick auf seine Mehrdeutigkeitsempha- Alamis Arbeit (1994) situiert das Gleichnis im Kon-
se, die zugleich eine Distanzierung von der didakti- text von Dürrenmatts Bild-Denken; Hennig (2015;
schen Gattungstradition bedeutet, ist von Interesse, s. Kap. 71) gibt die subtilste Darstellung von Dürren-
dass er die konstitutive Relation von Bild- und Sachdi- matts Labyrinth-Poetik. Zum mathematischen ›Ge-
mension oft ausdrücklich macht und tendenziell ein- setz der großen Zahl‹ als Gleichnis vgl. die ausführ-
deutig ›verrät‹. Das kann textimmanent durch die Be- liche Kommentierung Käppelis (2013, 87–124); zur
nennung einer bewussten Konstruktion geschehen: literaturhistorischen und auch schweizspezifischen
»Gesetzt, ich nenne die Institution einen Verein, ist Bedeutung der ›Ästhetik des Exemplarischen‹ siehe
die Schweiz ein Verein. Wäre sie ein Fußballclub, so die Hinweise von Utz (2013, 54) und Barner (1994).
hieße dieser [...] F. C. Helvetia 1291« (WA 29, 76; vgl. Die künftige Forschung könnte von der Debatte um
auch WA 36, 175–188). Es zeigt sich aber auch in Stel- das (philosophische) Gedankenexperiment (Bertram
lungnahmen zu eigenen Texten. Mit Bezug auf die 2018) neue Impulse empfangen.
Böckmann-Szene in Frank der Fünfte (die Verhin-
derung einer Beichte durch die Tötung eines Sterben- Literatur
Primärtexte
den) gibt Dürrenmatt etwa zu Protokoll, dies sei »ein Dramaturgie des Labyrinths. In: WA 28, 71–86.
Bild nicht nur der kapitalistischen Welt, sondern der
Machtwelt überhaupt, ein Gleichnis« (G 2, 354). Dass Sekundärliteratur
der Autor qua Schöpfungspotenz als Alter Deus gese- Alami, Marita: Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt.
hen werden kann, wird gleichfalls in mehreren Texten Computergestützte Analyse und Interpretation mytholo-
gischer und psychologischer Bezüge. Köln 1994.
klar (vgl. u. a. WA 29, 233–263). Die Erzählung Auto-
Barner, Wilfried u. a. (Hg.): Das Jahrzehnt Frischs und Dür-
und Eisenbahnstaaten (WA 29, 131–144) ist wiederum renmatts. Parabeltheater aus der Schweizer Loge. In: Dies.:
ein Gleichnis auf den Antagonismus von Kapitalismus Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur
und Kommunismus, der gar in bester aufklärerischer Gegenwart. München 1994, 260–269.
Manier in eine Lehre mündet (vgl. 144). Bertram, Georg W. (Hg.): Philosophische Gedankenexperi-
Dürrenmatts als Dramaturgie des Labyrinths entfal- mente. Ein Lese- und Studienbuch [2012]. Stuttgart 2018.
Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
tete Gleichnishermeneutik findet ihre höchste An-
Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
schaulichkeit und Plausibilität insofern tatsächlich im hingers im Spätwerk. Tübingen 2004.
Labyrinth. Seine Kommentierung der antiken Quel-
89 Gleichnis 335

Hennig, Matthias: Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2015, gangsszenarien aus der Schweiz. München 2013.
180–196. Zymner, Rüdiger: Art. Gleichnis. In: Klaus Weimar u. a.
Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren- (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.
matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen Berlin 2007, Bd. 1, 724–727.
Werks. Köln 2013.
Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Andreas Mauz
Biographie. Zürich 2011, 226–243.
336 V  Ästhetik und Poetik

90 Humor und Ironie Humor als kreative Verfremdung

In seiner Persönlichen Anmerkung zu meinen Bildern »Humor ist im Grunde Distanz« (G 1, 243). Er erlaubt,
und Zeichnungen schrieb Dürrenmatt über den Hu- Abstand zu nehmen, um nicht an einer Situation zu ver-
mor: »Dieser Faktor – mein hauptsächlicher – ist nie zweifeln, sondern sie aus einer anderen Perspektive in
zu unterschätzen; er ist überall wirksam« (WA 32, Angriff zu nehmen. In diesem Sinne gilt, dass der Hu-
204). Und auf den letzten Seiten von Der Mitmacher. mor »wie die Ironie eine der philosophischen Grund-
Ein Komplex, schildernd, wie er von Menschen ver- haltungen des Menschen« ist (ebd.) und nicht – ent-
folgt wird, die ihn nach dem Verständnis seines Wer- gegen einer verbreiteten Meinung – einfach zynische
kes befragen, ist die letzte Antwort des Flüchtenden, Verzweiflung. Dramaturgisch betrachtet ist der Humor
es sei alles »[m]it Humor!« zu nehmen (WA 14, 325– deshalb für Dürrenmatt eng verbunden mit der Komö-
328). Obwohl oder gerade weil er das gesamte Werk die; was von dieser gesagt wird, gilt auch für jenen. Das
prägt und überall zum Zug kommt, wird der Humor zeigt sich am hier zitierten Gespräch: »Die Komödie
nie Gegenstand einer ausführlichen Theorie; man hat kann sehr schrecklich sein. [...] Die Komödie stellt ja
sich deshalb an einzelne und relativ knappe Aussagen nicht alles direkt dar, sondern bricht es, verwandelt es,
zu halten. Anders bei der Ironie: In Der Mitmacher hat und deshalb kann sie die Dinge wieder zeigen. [...] Ko-
sich Dürrenmatt intensiv damit befasst, was ein iro- mödie kommt ohne Verfremdung nicht aus« (ebd.,
nischer Held und inwiefern Ironie dramaturgisch be- 244). Es entspricht dieser Verfremdung als Ausdruck
deutsam ist. Bei beiden Kategorien ist der dänische des Humors, wenn es in Theaterprobleme heißt, das
Philosoph Søren Kierkegaard zentral und in Verbin- Verzweifeln am Sinnlosen der Welt sei keine Folge die-
dung mit ihm auch der griechische Philosoph Sokra- ser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Welt
tes. Vor dieser philosophisch-theologischen Reflexion gebe. Eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln,
sei jedoch kurz auf Dürrenmatts literarisch-künstleri- »der Entschluß etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft
sche Praxis von Humor und Ironie geachtet. leben, wie Gulliver unter den Riesen« (WA 30, 63).
»Wer verzweifelt, verliert den Kopf; wer Komödien
schreibt, braucht ihn« (WA 32, 110): Aus diesem Grund
Komik in unterschiedlichen Formen kann Dürrenmatt mit höchster Entschiedenheit sagen:
»Die Sprache der Freiheit in unserer Zeit ist der Hu-
»[Ü]berall wo Leben ist, da ist Widerspruch, und wo mor, und sei es auch nur der Galgenhumor, denn diese
Widerspruch ist, da findet sich das Komische« (Kier- Sprache setzt eine Überlegenheit voraus auch da, wo
kegaard 1976, 709). Das gilt auch bei Dürrenmatt: der Mensch, der sie spricht, unterlegen ist« (ebd.).
Durchwegs, beim Schreiben, Inszenieren und Zeich- Diese Spannung von Über- und Unterlegenheit
nen, sind Humor und Ironie im Einsatz als unter- entspricht Kierkegaards Bestimmung des Humors als
schiedliche Formen der spielerischen Verarbeitung Ineinander von Scherz und Ernst, von Leichtigkeit
von Widersprüchen und Spannungen im mensch- und Schwierigkeit – und somit von Tragik und Ko-
lichen Denken und Leben. Während Humor eher em- mik: »Das Tragische und das Komische sind dasselbe,
pathisch bestimmt ist, vollzieht Ironie einen radikale- insofern als beide den Widerspruch bezeichnen, aber
ren Abstand, kann bitterer, kämpferischer werden, das Tragische ist der leidende Widerspruch, das Ko-
wie etwa im Sarkasmus. Als Kommunikationsstrate- mische der schmerzlose Widerspruch« (Kierkegaard
gien sind Humor und Ironie Gegenstand literaturwis- 1976, 709). Ähnlich kann Dürrenmatt für seine Auf-
senschaftlicher Zugänge. So hat etwa Jürgen Meyer fassung der Komödie das Tragikomische hervorheben
den Roman Durcheinandertal als »ironische Kosmo- als »das Tragische aus der Komödie heraus«, »als ei-
graphie« (2001) charakterisiert. Die Einflüsse auf die- nen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden
sen rhetorischen Gebrauch von Humor und Ironie Abgrund« (WA 30, 63).
dürften vielfältig sein: Durch Kierkegaard kennt Dür-
renmatt die romantische Ironie; zugleich verweist er
oft auf die attische Komödie des Aristophanes. So- Humor als indirekte Mitteilung
wohl Humor als auch Ironie werden bei Dürrenmatt
regelmäßig ins Groteske gesteigert: Durch die Öff- Die Komödie stellt, wie ausgeführt, nicht alles direkt
nung zum Grauenvollen kippt das Komische ins Tra- dar, sondern bricht und verwandelt es. Das findet in
gische hinüber. Kierkegaards Auffassung der »indirekten Mitteilung«

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_90
90  Humor und Ironie 337

(Kierkegaard 1976) seine Begründung, und diese 334 f.). Für Dürrenmatt spiegelt sich Kierkegaards
prägt Dürrenmatts Verhältnis zu seinem Publikum. In komplexer Satz in Varlins Malerei: »Mag er Dirnen,
Etwas über ›Die Ehe des Herrn Mississippi‹ und etwas Schriftsteller, Vaganten oder andere ehrliche Men-
über mich hat er dieses Verhältnis beschrieben, indem schen malen, nie sind sie Untermenschen, sondern
er von sich selbst sagt: »Man sehe sich vor. Er bringt Geschöpfe. Geschöpfe eines Malers, der die Menschen
seine Helden nicht mit-leidend um, wie die Tragiker liebt, obwohl er sie so sieht, wie er sie malt. Wer den
[...]. Er mordete sie hohnlachend. Er hat zwar Witz, Menschen auf diese Weise liebt, gibt ihm eine Chance.
doch geht es in seinem Stück ungemütlich zu. Die Credo quia absurdum« (WA 32, 182).
Wahrheit sagt er mit einer Grimasse, und die Bezie- Sowohl in Skepsis als auch in Positivität übertrifft
hung, die er zu seinem Publikum hat, ist vielleicht am also der Humor die Ironie: Mit der Sündigkeit, dem
besten mit jener zu vergleichen, die zwei Faustkämp- Satz credo quia absurdum und dem Gott-Mensch-Ver-
fer zueinander haben« (WA 3, 218 f.). hältnis markiert Kierkegaard, dass der Humor es mit
Im Gegensatz zur Tragödie, die dem Zuschauer ei- dem Religiösen zu tun hat, während Ironie an inner-
ne direkte Identifikation mit dem Helden gewährt, menschlichen Spannungen arbeitet. Das hat Kierke-
wird hier also eine komische Distanz geschaffen, die gaard später dazu geführt, in seiner Theorie der Exis-
das Mitleiden verhindert. Die Identifikation kann tenzsphären Ironie als Grenzgebiet zwischen dem Äs-
nicht mehr unmittelbar geschehen, sondern nur indi- theten und dem Ethiker und Humor als Grenzgebiet
rekt und wird damit zu einem Wagnis: Der Zuschauer zwischen dem Ethiker und dem religiösen Menschen
muss »sich die Frage stellen, inwiefern der Fall auf der anzusiedeln.
Bühne auch sein Fall sei, und sich so die Gestalten auf
der Bühne wieder aneignen« (WA 10, 134).
Der ironische Held

Humor und Ironie – nach Kierkegaard In Der Mitmacher setzt sich Dürrenmatt mit Kierke-
gaards Begriff der Ironie auseinander, um damit die
Dürrenmatts ausführlichste Stellungnahme zum Hu- Figur Cops zu interpretieren. Er bezieht sich dabei
mor ist im Essay zur Malerei seines Freundes Varlin auf Kierkegaards Dissertation, aber auch auf dessen
(Willy Guggenheim) zu finden (WA 32, 174–182). Sokrates-Interpretation in den Philosophischen Bro-
Auch hier arbeitet er mit einem Zitat Kierkegaards, samen und in der Unwissenschaftlichen Nachschrift.
das den Unterschied von Humor und Ironie markiert. »Nach der Ansicht Kierkegaards ist Sokrates ein iro-
Dürrenmatt bezeichnet Varlin zunächst als einen nischer Held« (WA 14, 202). Das muss zwar leicht kor-
kritischen Maler, was er dann wie folgt expliziert: rigiert werden: Kierkegaard spricht von einem »iro-
»Varlins Kritik ist sein Humor. Er sieht die Welt durch nischen Subjekt« oder einem »ironische[n] Einzel-
seinen Humor und gibt sie mit seinem Humor wieder« ne[n]« (Kierkegaard 1961, 263 u. 269; vgl. dazu Min-
(181). Der Humor sei jedoch etwas Individuelles. Um gels 2003, 218 f.). Dennoch ist Dürrenmatts Rezeption
Varlins eigenartigen Humor zu deuten, zitiert Dürren- angemessen: Die Ironie macht Sokrates zu einem radi-
matt einen komplexen Satz aus Kierkegaards Disserta- kalen Einzelnen, dessen Standpunkt zwar ihn selbst in
tion. Nachdem sich dieser ausführlich mit der sokrati- seiner Innerlichkeit überzeugt, der Allgemeinheit je-
schen Ironie befasst hat, skizziert er den Kontrast zwi- doch unglaubwürdig bleiben muss. Deshalb gilt so-
schen Humor und Ironie folgendermaßen: »Humor wohl für den griechischen Philosophen als auch für
enthält eine weit tiefere Skepsis als Ironie; denn hier Dürrenmatts Cop, dass sie entgegen aller äußeren Evi-
dreht sich alles nicht um die Endlichkeit, sondern um denz eine innere Überzeugung vertreten und bereit
die Sündigkeit: die Skepsis des Humors verhält sich zu sind, für sie in den Tod zu gehen, ja diesen Tod sogar
der der Ironie wie Unwissenheit zu dem alten Satz: cre- erzwingen. Der ironische Held spielt mit Beharrlich-
do quia absurdum [ich glaube, weil es absurd ist]; aber keit seine Subjektivität gegen die Objektivität aus, im
der Humor enthält auch eine weit tiefere Positivität; bewussten Wissen darum, dass seine Position mit der
denn er bewegt sich nicht in humanen, sondern in Wirklichkeit nur kollidieren kann.
gottmenschlichen (theanthropischen) Bestimmungen, Durch eine ausführliche Rekonstruktion von Dür-
er findet nicht Ruhe darin, daß er den Menschen zum renmatts Arbeit am Mitmacher hat Ulrich Weber in
Menschen macht, sondern darin, daß er den Men- seiner Dissertation die Probleme aufgewiesen, die die-
schen zum Gottmenschen macht« (Kierkegaard 1961, se Parallelisierung von Sokrates und Cop stellt (2007,
338 V  Ästhetik und Poetik

126–132 u. 161–171). Vor allem aber zeigt er auf, wie Humor über das nicht so ganz vollkommen Gelunge-
sich aus dieser figuralen Deutung Cops in drei Rezep- ne« (Dürrenmatt 2005, 126).
tionsphasen das Modell »des sokratischen, subjektiv
existierenden Denkers« entwickelt, das prägend wirkt Literatur
Primärtexte
»für die Form des essayistisch-autobiographischen Dramaturgische Überlegungen zu den ›Wiedertäufern‹. In:
Schreibens, wie es Dürrenmatt vor allem im Mitma­ WA 10, 127–137.
cher-Komplex, im Israel-Essay Zusammenhänge und Das Nashorn schreibt der Tigerin. Hg. von Charlotte Kerr.
in den Stoffen realisiert« (ebd., 167). St. Gallen 2001.
Der Mitmacher. WA 14.
Der Rest ist Dank. In: WA 32, 109–112.
Etwas über ›Die Ehe des Herrn Mississippi‹ und etwas über
Auch Gott hat Humor ... mich. In: WA 3, 217–219.
[Gespräch mit] Artur Joseph [1966]. In: G 1, 235–246.
Bei Kierkegaard wacht der Humor am Übergang zur Persönliche Anmerkung zu meinen Bildern und Zeichnun-
religiösen Existenz und prüft den religiösen Men- gen. In: WA 32, 201–216.
schen stets, um ihn vom falschen Ernst zu befreien Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72.
Totenrede für Varlin (Willy Guggenheim). 1. November
und zum echten Ernst anzuhalten. Dem entspricht bei
1977. In: Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Varlin –
Dürrenmatt, dass er in seinen Bildern immer wieder Dürrenmatt. Horizontal. Zürich 2005, 125 f.
den falschen Ernst des Päpstlichen humorvoll kari- Varlin [1969]. In: WA 32, 174–182.
kiert hat: »Der Papst ist das Sinnbild des Theologi- Kierkegaard, Søren: Philosophische Brosamen und Unwis-
schen und damit des Rechthaberischen, des Glaubens, senschaftliche Nachschrift. München 1976.
im Besitze der Wahrheit zu sein« (WA 32, 205). Kierkegaard, Søren: Über den Begriff der Ironie mit ständi-
ger Rücksicht auf Sokrates. In: Ders.: Gesammelte Werke.
Demgegenüber kann Dürrenmatt als befreiend Düsseldorf, Köln 1961, Bd. 31.
hervorheben, dass selbst Gott, falls es ihn gibt, Humor
hat. Seine eigene schöpferische Arbeit mit der gött- Sekundärliteratur
lichen in Beziehung bringend schreibt er: »[W]enn es Bühler, Pierre: Foi et humour. Une petite dramaturgie de la
einen Gott gibt, muss er einen unendlichen Humor foi chrétienne, d’après Dürrenmatt. In: Bulletin du Centre
protestant d’études 28 (1976), 3, 5–39.
haben. Der muss wahnsinnig Freude haben, Welten in
Bühler, Pierre: Friedrich Dürrenmatt: A Swiss Author Rea-
die Luft zu jagen, [...] ich glaube, der hat einfach Freu- ding and Using Kierkegaard. In: Jon Stewart (Hg.): Kier-
de am ganzen Spektakel. Und das hat unbewusst der kegaard’s Influence on Literature, Criticism and Art. Farn-
kreative Mensch auch. Ich habe nie etwas geschrieben ham, Burlington 2013, 43–59.
mit Hass. Ich habe einfach Freude an dem, was man Meyer, Jürgen: Allegorien des Wissens. Flann O’Briens The
kreiert« (Dürrenmatt 2001, 5). Third Policeman und Friedrich Dürrenmatts Durcheinan-
dertal als ironische Kosmographien. Tübingen 2001.
Auch bei Varlins Humor klang bereits ein ähn- Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
licher Vergleich an, als dieselbe Liebe zu den Ge- gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln
schöpfen. Deshalb überrascht es nicht, dass Dürren- 2003.
matt am 1.11.1977 an Varlins Grab dieses Motiv in ei- Rusterholz, Peter: Dürrenmatts und Kierkegaards Wieder-
ner letzten Geschichte für seinen Freund nochmals Holungen. In: Ders.: Chaos und Renaissance im Durch-
einandertal Dürrenmatts. Hg. von Henriette Herwig und
aufgreift und Gott zu einem malenden Varlin werden
Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017, 165–175.
lässt. Nach dem Schöpfungsakt schläft der erschöpfte Weber, Ulrich: »Ob man sich selbst ein Stoff zu werden ver-
Gott für Abermillionen Jahre ein. Als er wieder auf- mag?« Kierkegaard und die Entwicklung des subjektiven
wacht, betrachtet er verwundert, was aus seiner Schreibens im Mitmacher-Komplex. In: Quarto 7 (1996),
Schöpfung geworden ist. Er schweigt, fast sieht es da- 65–79.
nach aus, dass er zornig werde. Aber dann wird er lä- Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
der Mitmacher-Krise. Basel 2007.
cheln »und seine Geschöpfe [...] zuerst mit etwas
Kohle, dann mit etwas Farbe etwa so malen, wie du Pierre Bühler
seine Geschöpfe gemalt hast: mit viel Güte, mit viel
91 Intermedialität 339

91 Intermedialität 32, 60 f.). In diesem Fokus auf die ›Geschichte‹, die


dem jeweiligen Medium angepasst wird, besteht die
Friedrich Dürrenmatts Werk ist genuin intermedial Grundlage von Dürrenmatts intermedialen Arbeiten.
angelegt. Die drei Phänomene Medienwechsel, Medi- Dabei spielt der Medienwechsel der Stoffe eine
enkombination und intermediale Bezüge (vgl. Rajew- wichtige Rolle: Zahlreiche Motive hat Dürrenmatt in
sky 2002) sind wichtige Elemente seines Schaffens. verschiedenen Medien ausgeführt. Jedes Medium hat
Die Arbeit als Autor, Dramatiker, Regisseur und Ma- dabei eigene Anforderungen, die es zu beachten gilt.
ler fand in verschiedenen Medien ihren Ausdruck. In Bezug auf das Stück Die Panne – einem Stoff, der
Die transmediale Verwendung von Motiven und The- als Erzählung, Hörspiel, Theater und Film bearbeitet
men und deren Bezüge untereinander sind offenkun- wurde – erläutert er: »Die Transposition eines Stoffes
dig; schließlich werden insbesondere im Spätwerk in ein anderes Medium stellt nicht so sehr ein Pro-
Medialität und Intermedialität explizit reflektiert und blem der Phantasie als eines des Denkens dar – zu
Medienkritik geübt. dem freilich das neue Medium zwingt« (WA 16, 64).
Das ›Scheitern‹ seiner späten Stücke hat Dürrenmatt
häufig als ein Versagen der Inszenierung, also als
Medienwechsel mangelhafte Übertragung in das andere Medium ge-
sehen; er wünschte sich deshalb ein »Theater meiner
Bekanntlich strebte Dürrenmatt eine Karriere als Einbildungskraft« (WA 15, 14), in dem ein Stück zu
Maler an, wandte sich dann der Philosophie zu, um einem ›Lesestück‹ wird.
schließlich zur Literatur zu finden. Die Produktivität
im jeweiligen Medium hat in Dürrenmatts Selbst-
beschreibung denselben Ursprung: »Was ich – in mei- Medienkombination
nem Schreiben wie Zeichnen – suche, sind die Bilder
und Gleichnisse, die im Zeitalter der Wissenschaft In Dürrenmatts Entwicklung zum Schriftsteller spiel-
noch möglich sind« (WA 32, 215). te das Theater als Medienkombination eine zentrale
Zahlreiche Texte Dürrenmatts stehen in engem Zu- Rolle: »Einer der Maler werden wollte, Philosophie
sammenhang mit Zeichnungen und Gemälden, die er studiert hatte und ohne Sprache nicht mehr aus-
im Vorfeld, gleichzeitig oder danach angefertigt hat gekommen sei, habe sich durch die Sprache mit Hilfe
(s. Kap. 61): »Meine Zeichnungen sind nicht Neben- der Bühne befreit« (WA 31, 143). Dürrenmatt nahm
arbeiten zu meinen literarischen Werken, sondern die das Theater als spezifisches Medium sehr ernst; es war
gezeichneten und gemalten Schlachtfelder, auf denen ihm wichtig, »mit der Bühne zu denken« (163). Im
sich meine schriftstellerischen Kämpfe, Abenteuer, Theater nahm Dürrenmatt verschiedene Funktionen
Experimente und Niederlagen abspielen« (201). Hin- ein: Er war als Schriftsteller Verfasser von Stücken und
tergrund der intermedialen Bezüge zwischen Schrift nahm als Regisseur seiner eigenen und fremder Stü-
und Bild und der Medienwechsel bei bestimmten Mo- cke sowie als Direktor des Theater Basel zugleich Auf-
tiven (etwa dem Labyrinth; s. Kap. 71) ist Dürren- gaben an, die über diejenigen des Schriftstellers hi-
matts »dramaturgisches Denken beim Schreiben, nausgingen (vgl. Rüedi 2004; s. Kap. 31).
Zeichnen und Malen«, der Versuch, »immer endgülti- Das Thema der Intermedialität spielt insbesondere
gere Gestalten zu finden, bildnerische Endformen« im dramatischen Spätwerk eine zentrale Rolle, wobei
(207): »Ich male aus dem gleichen Grund, wie ich es Dürrenmatt stets auch um die Begrenzungen des
schreibe: weil ich denke« (216). Die bildkünstlerische Mediums geht. Dies gilt bereits für sein 1948 vernich-
Arbeit versteht Dürrenmatt als »Ergänzung« der tetes Stück Turmbau zu Babel, das auf einem in die
Schriftstellerei, wobei das »Ursprüngliche [...] stets Höhe wachsenden Turm hätte spielen sollen, und das
das Bild, die Situation – die Welt« (ebd.) ist, an denen als Prosa-Fragment erst in den Stoffen möglich wurde
sich das Denken abarbeitet. (vgl. WA 29, 50 f.). Es gilt aber auch für Achterloo,
Den Beruf des Schriftstellers reduzierte Dürrenmatt Dürrenmatts letztes (Rollentherapie-)Stück, in dem
nicht auf den Roman- oder Theaterautor, vielmehr ver- die Schauspielenden die Funktionen des Schauspie-
stand er sich in einem weiten Sinn als Erzähler von Ge- lers, der historischen und der gespielten Figur auf der
schichten: »Ich schreibe, [...] weil ich es liebe, Ge- Bühne darstellen.
schichten zu erzählen, ohne mich bemüßigt zu fühlen, Wie das Theater ist auch die Oper ein multimedia-
bei der Auflösung der Welträtsel dabei zu sein« (WA les Format, in dem zur dramatischen Handlung der

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_91
340 V  Ästhetik und Poetik

Gesang und die Musik hinzukommen. Dürrenmatt Die Brücke, Das Hirn und Kabbala der Physik). Dür-
schrieb mit Frank der Fünfte. Eine Privatoper, die auch renmatts Schreiben zeichnet sich durch ein »Funktio-
als Komödie einer Privatbank geführt wird, eine thea- nalstilverständnis« aus: Analog zur Wahl des Medi-
tralische Oper. Er verfasste die Songs nach eigener ums soll sich auch die Wahl des (Schreib-)Stils der
Aussage in nur zehn Tagen zusammen mit dem Kom- Funktion des Denkens unterordnen und keinen
ponisten Paul Burkhard (vgl. WA 29, 48 f.) und stellte Selbstzweck darstellen (Holzheid 2011, 286).
sie selbst in Differenz zur Dreigroschenoper: Wo die Fi- Dürrenmatt hat auch mehrere seiner Bücher illus-
guren dort »ihre Wahrheiten im Sinne Brechts sin- triert bzw. mit zeichnerischen Arbeiten angereichert
gen«, singen sie bei Dürrenmatt ihre »Ausreden«: »Sie und so die Medien Schrift und Bild kombiniert (z. B.
singen, wenn sie morden« (WA 31, 150). Dürrenmatt 1985; Dürrenmatt/Kerr 1986; vgl. Bigler
Zahlreiche Stücke Dürrenmatts wurden vertont. 2014).
Dass die Zusammenarbeit mit Komponisten nicht im-
mer reibungslos ablief, zeigt etwa die Opernadaption
von Der Besuch der alten Dame durch Gottfried von Ei- Poetik der Intermedialität
nem (vgl. Eickhoff 2004). Ähnliches gilt für den Film.
Eine erstaunliche Zahl an Texten Dürrenmatts Medialität ist nicht nur in Dürrenmatts künstlerischer
wurde für Film und Fernsehen bearbeitet, ebenso wie Praxis wichtig, sondern auch zentral für sein poetolo-
er an zahlreichen Filmen beteiligt war (vgl. Bolliger/ gisches Selbstverständnis und die Inhaltsdimension
Buchmüller 1996; s. Kap. 60). Für die Filmfassungen der Texte. Die Bedeutung der dem Erzählen eigenen
hat der Autor den Stoff jeweils stark bearbeitet. Nicht (Meta-)Medialität wird vielfach im Erzählen wie dem
selten stand der Film am Anfang einer Arbeit, die sich Erzählten aufgenommen. Schon in den früheren Tex-
dann in einem anderen Medium fortsetzte. So hat ten haben Medien eine wichtige Funktion: Im Krimi-
Dürrenmatt vor dem Kriminalroman Das Verspre- nalroman Der Verdacht ist es eine Fotografie aus der
chen zunächst die Filmerzählung und das Drehbuch Zeitschrift Life, einem Massenmedium, das die Er-
zu Es geschah am hellichten Tag geschrieben (vgl. Mö- mittlungen auslöst; in Das Versprechen weist eine
bert 2011). Zeichnung auf den Mörder hin.
Trotz acht Hörspielen und des Hörspielpreises der Die Tendenz, (Inter-)Medialität auch konzeptuell
Kriegsblinden 1957 blieb Dürrenmatt gegenüber dem und reflexiv hervorzuheben, nimmt im Spätwerk zu.
Medium des Rundfunks skeptisch (vgl. Würffel 2004, Den posthum erschienenen Text Midas oder Die
61; s. Kap. 13). Seine Hörspielproduktion beschrieb er schwarze Leinwand, ursprünglich für einen Film ge-
als »Versuch, Geld zu verdienen« (G 3, 168) und plant, nennt Dürrenmatt auf dem Umschlag der Erst-
schätzte die Regiearbeit tief ein: »[J]eder Esel kann da ausgabe »[k]ein Drehbuch für einen Film, ein Film
Regie führen« (170). Dennoch sollte die Relevanz die- zum Lesen« (Dürrenmatt 1991). Der Drehbuch-Cha-
ses Mediums nicht unterschätzt werden: Schon in Der rakter bleibt in diesem Text zwar erhalten, ebenso gut
Doppelgänger, seiner ersten Arbeit für das Radio, lässt er sich jedoch als Theater, Hörspiel oder Lesetext
stellt der damals 25-jährige Autor die Herstellung des auffassen (vgl. Banz 2003). Durch die metaleptische
Mediums selbst aus, eine metaleptische Volte, die »in- Grundstruktur des Textes und die paradoxe Situation
novative[...] formale[...] Aspekte« (Würffel 2004, 65) eines toten Sprechers stellt sich die Frage nach den
an den Tag legt. medialen Möglichkeiten des Erzählens, nach Fiktion
Auch die Philosophie und Essayistik lassen sich, in- und Wirklichkeit überhaupt (vgl. Stingelin 2006; Rus-
sofern sie Gattungen im Rahmen der Schriftstellerei terholz 2004).
darstellen, als eigene Medien beschreiben. Als Medi- Die Novelle Der Auftrag oder vom Beobachten des
enkombination sticht dabei Der Mitmacher. Ein Kom- Beobachters der Beobachter, deren Titel bereits eine
plex hervor: ein Theaterstück, das durch extensive hochmedialisierte Szene evoziert, hat ihren Ursprung
bühnentechnische Anweisungen, Charakterisierun- ebenfalls im Film, referiert mit ihren 24 Sätzen aber
gen der Figuren, essayistische Ausführungen und Er- auch auf Johann Sebastian Bachs Das wohltemperierte
zählungen begleitet und kommentiert wird. Diese Klavier (vgl. Kerr 1992, 172 f.). Die erzählte Geschich-
Kombination verschiedener medialer Gattungsstile ist te formuliert dezidiert Kritik an der Macht der Medi-
für das Spätwerk der Stoffe, in denen u. a. gerade auch en und ihrem Einfluss auf die Wirklichkeit als Be-
naturwissenschaftliche Überlegungen in philosophi- obachtbares. Die Dominanz der Medienthematik in
sche Paradoxien übergehen, äußerst bedeutsam (vgl. Dürrenmatts Spätwerk verdankt sich einerseits der
91 Intermedialität 341

Medienrevolution der (Post-)Moderne und ist ande- Gasser, Manuel: Einleitung. In: Christian Strich (Hg.): Dür-
rerseits Zeichen einer zunehmenden Selbstreflexivität renmatt. Bilder und Zeichnungen. Zürich 1978, [1–7].
seiner künstlerischen Praxis. Holzheid, Anett: Stilisierte Unordnung im Versuchsraum
des Kunstwerks. Zur intermedialen Stilkonzeption bei
Eine umfassende und theoretisch informierte Un- Friedrich Dürrenmatt. In: Ulrich Breuer, Bernhard Spies
tersuchung zur Intermedialitätsthematik stellt ein De- (Hg.): Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen
siderat dar. Nicht zuletzt wären Dürrenmatts Arbeiten Evolution. Bielefeld 2011, 285–315.
auch in Bezug zu Positionen der postmodernen Medi- Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. München, Zürich
entheorie zu setzen, was ihn als frühen Medienkriti- 1992.
Möbert, Oliver: Intertextualität und Variation im Werk
ker erscheinen ließe.
Friedrich Dürrenmatts. Zur Textgenese des Kriminal-
romans Das Versprechen (1957/58) unter besonderer
Literatur
Berücksichtigung des Spielfilms Es geschah am hellichten
Primärtexte
Tag (CH/D/E, 1958). Frankfurt a. M. 2011.
Der Mitmacher. Ein Komplex. WA 14.
Rajewsky, Irina: Intermedialität. Tübingen 2002.
Dürrenmatt, Friedrich/Kerr, Charlotte: Rollenspiele. Proto-
Stingelin, Martin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas.
koll einer fiktiven Inszenierung und Achterloo III. Zürich
Das Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild in
1986,
Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. In: David Giuriato, Ste-
Labyrinth. Stoffe I–III. WA 28.
phan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphi-
Midas oder Die schwarze Leinwand. Zürich 1991.
sche Dimension der Literatur. Frankfurt a. M., 269–292.
Minotaurus. Eine Ballade. Mit Illustrationen des Autors.
Rusterholz, Peter: Die Krise der Darstellung als Darstellung
Zürich 1985.
der Krise: Midas – der Film zum Lesen. In: Jürgen Söring,
Persönliche Anmerkungen zu meinen Bildern und Zeich-
Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. Frank-
nungen. In: WA 32, 201–216.
furt a. M. 2004, 177–190.
Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29.
Ryan, Marie-Laure: Narration ins Various Media. In: Peter
Hühn u. a. (Hg.): The Living Handbook of Narratology.
Sekundärliteratur
Hamburg 2014, http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/
Banz, Stefan: »Ich mag heute keine Gespenster sehen«.
narration-various-media (4.7.2019).
Friedrich Dürrenmatts Midas oder Die schwarze Lein-
Wassmann, Elena: Die Novelle als Gegenwartsliteratur.
wand. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 216–221.
Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität
Bigler, Regula: Surreale Begegnungen von Bild und Text.
bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind
Lektüren im intermedialen Dialog. Paderborn 2014, bes.
und Günter Grass. St. Ingbert 2009, 191–258.
213–298.
Weber, Ulrich u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie. Dür-
Bolliger, Luis/Buchmüller, Ernst (Hg.): Play Dürrenmatt.
renmatt intertextuell und intermedial. Göttingen 2014.
Ein Lese- und Bilderbuch. Zürich 1996.
Würffel, Stefan Bodo: »Jeder Esel kann da Regie führen...«
Eickhoff, Thomas: Von Einem, der Dürrenmatt wegen seiner
Friedrich Dürrenmatts Rundfunkarbeiten. In: Jürgen
Alten Dame besuchte. Zum Verhältnis zwischen Kom-
Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum.
ponist und Dramatiker im Kontext der Opernfassung der
Frankfurt a. M. 2004, 61–78.
›Tragischen Komödie‹. In: Jürgen Söring, Annette Mingels
(Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. Frankfurt a. M. 2004, Lukas Gloor
79–107.
342 V  Ästhetik und Poetik

92 Intertextualität nannt seien hier nur Aristophanes, Rabelais, Cervan-


tes, Swift, Lessing und Wedekind, die für das Œuvre
Einleitung Dürrenmatts eine bedeutende Rolle spielen.
Mit Broich/Pfister (1985) lassen sich hierbei drei
»Ich denke nicht an Vorbilder. Ich bin ein Mensch, der Verfahrensweisen der intertextuellen Bezugnahme
die Literatur vergißt, wenn er schreibt« (G 2, 101). unterscheiden, die im Folgenden näher skizziert wer-
Nachdrücklich hat sich Dürrenmatt als ein Schriftstel- den: 1. der Bezug auf einen fremden Prätext (›Einzel-
ler stilisiert, der seine Stoffe nicht in der Kunst, son- textreferenz‹); 2. der Bezug auf literarische Muster
dern in der Welt findet (vgl. WA 5, 138). Die For- (›Systemreferenz‹); 3. der Bezug auf eigene Prätexte
schungslage zu intertextuellen Bezügen im Werk Dür- (›Autointertextualität‹). Jeder Verweis schreibt dabei
renmatts ist dementsprechend auch recht dünn. Nur dem Text eine semantische Relevanz ein, die vom Re-
wenige Arbeiten haben sich bislang mit dieser Thema- zipienten mit Blick auf das Trennende und Verbin-
tik befasst, überwiegend handelt es sich hierbei um dende zwischen Text und Prätext zu erkennen und zu
Einzelstudien zu prominenten Texten (vgl. Mitrache aktualisieren ist (vgl. Berndt/Tonger-Erk 2013, 10 f.).
1999; Möbert 2011; Park 2000). Den Beiträgen von
Rusterholz und Weber ist es zu verdanken, dass Dür-
renmatts intertextuellen Verfahrensweisen mehr Be- Einzeltextreferenz
achtung geschenkt wurde (vgl. Rusterholz 2002; We-
ber 2000; Weber 2014), wenngleich eine Studie, die Egal, ob Dürrenmatt mit Play Strindberg die adaptier-
das Werk hinsichtlich der Präsenz, Form und Funk- te Vorlage gegen sich selbst verkehrt (vgl. WA 12,
tion fremder und eigener Prätexte systematisch unter- 193 f.), König Johann als ›Stoff für Stoffe‹ benutzt (vgl.
sucht, derzeit noch fehlt. WA 11, 212; G 1, 310) oder die Szenenfolge im Woy-
Peter Stocker hat die bisher überzeugendste Inter- zeck umstellt (vgl. WA 13, 131–189) – in jedem Fall
textualitätstheorie vorgelegt und beschreibt ein litera- maßgeblich war für ihn der kritisch-transformierende
risches Phänomen genau dann als »intertextuell, wenn Umgang mit dem Prätext: »Das Durchdenken der
es (a) auf Zitieren und/oder (b) auf Thematisieren vorhandenen Theaterstücke, das Weiterspielen ist nö-
und/oder (c) auf Imitieren eines Textes oder mehrerer tig. Das gibt eine neue Sicht« (G 1, 339). Dürrenmatt
Texte (›Prätexte‹) durch einen andern Text beruht [...] experimentierte mit den Vorlagen und verzerrte sie
und/oder wenn es (d) auf Imitieren und/oder (e) auf mitunter bis zur Groteske und Travestie. Seine Über-
Thematisieren und/oder (f) auf Demonstrieren von schreibungen tragen damit das Signum des Iro-
poetischen Mustern beruht« (Stocker 1998, 72). Ent- nischen, sie entkleiden die Vorlage von ihrem Pathos
gegen seiner eigenen Aussage hat Dürrenmatt wieder- und weisen den transformierten Text in seiner ganzen
holt auf fremde und eigene Prätexte zurückgegriffen Ambivalenz aus: ein spöttischer Gegenentwurf. In
und diese bearbeitet. Seine Bezugnahmen sind dabei späteren Jahren stellt Dürrenmatt seine intertextuel-
ebenso vielfältig wie eigenständig und können an die- len Verweise immer offener aus, während er manche
ser Stelle nur kursorisch abgesteckt werden: Sie rei- Einsprengsel zugleich so sehr mit seinem eigenen Text
chen von der Auseinandersetzung mit Sophokles (Ro- verwebt, dass sich die Hinweise nicht mehr eingängig
mulus der Große, Der Besuch der alten Dame, Das Ster- erschließen (vgl. Grimm 2000, 91). Das Spiel mit der
ben der Pythia), Platon (Die Stadt, Der Winterkrieg in Ironie nimmt zu, und die im Text markierten Referen-
Tibet), Ovid (Midas), Shakespeare (König Johann, Ti- zen verlieren an Validität.
tus Andronicus), Wieland (Der Prozeß um des Esels
Schatten) und Goethe (Urfaust, Stoffe) über Büchner
(Woyzeck, Achterloo), Nietzsche (Der Folterknecht, Systemreferenz
Winterkrieg), Strindberg (Play Strindberg), Kafka (Die
Panne, Der Rebell) und García Lorca (Die Frist) bis hin Diese Verfahrensweise zeigt sich auch in Dürrenmatts
zu Glauser (Der Richter und sein Henker), Brecht Transformation poetischer Muster. Aus dem Held
(Frank V., Der Mitmacher), Bachmann (Der Auftrag) Theseus wird so der Betrüger Theseus, der seine Hel-
und Frisch (geplante Fortsetzung zu Biedermann und dentat lediglich zu Karrierezwecken fingiert (vgl. Kel-
die Brandstifter; vgl. WA 29, 63 u. 68–73). Daneben ler 2014, 149). Doch nicht nur der Mythos wird ent-
finden sich zahlreiche Bezüge zu Figuren-, Dramen- mythisiert, ganze Genres werden von Dürrenmatt
und Darstellungskonzeptionen anderer Autoren; ge- strukturell umgeschrieben. Stellt er in seinen Krimi-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_92
92 Intertextualität 343

nalgeschichten den Zufall in den Mittelpunkt und ne Prämisse aus, dass es keine endgültigen Lösungen
führt damit die Vorstellung einer vernunftgeleiteten gibt – Schreiben ist Denken und als solches immer
Aufklärung des Verbrechens ad absurdum (vgl. Lin- schon ein work in progress.
den 2013, 125–128), so gerät seine Novelle Der Auftrag
zum »bloße[n] Zitat« einer solchen, Ausdruck einer
»ins Groteske gewendete[n] Simulation« (Wassmann Beispiel: Der Prozeß um des Esels Schatten.
2009, 209). Die überlieferten Gattungskonzepte grei- Ein Hörspiel (1951)
fen für Dürrenmatt nicht mehr: Die erfahrene Le-
benswirklichkeit können sie nicht adäquat wieder- Dass Dürrenmatt mit seinen Vorlagen sehr frei ver-
geben. Konzepte von Verantwortung und Schuld – für fährt und die Allusion dazu nutzt, um Inhalt und Be-
das Modell der klassischen Tragödie unabdingbar – deutung des referierten Texts ins Gegenteil zu verkeh-
haben nach seiner Auffassung an Gültigkeit verloren ren, lässt sich am trickreichen Untertitel des Hörspiels
(vgl. WA 30, 62). Das Modell der Tragödie kann für Der Prozeß um des Esels Schatten paradigmatisch zei-
Dürrenmatt daher nur noch verfremdet wiedergege- gen (vgl. WA 8, 119–172). So stellt hier der paratextu-
ben werden, als Parodie und Kontrafaktur (vgl. Rus- elle Hinweis nach Wieland die Textphorik des Hör-
terholz 2002, 297 f.), in der die einzelnen Gattungs- spiels offensiv aus, nimmt diese jedoch über die lako-
merkmale oft bis ins Groteske gesteigert werden (vgl. nische Anschlussbemerkung aber nicht sehr sogleich
Stocker 2000, 421). Dürrenmatts Umschreibungen wieder zurück. Tatsächlich lässt sich Dürrenmatts
hinterfragen damit die geltenden Gattungsnormen Hörspiel als eine Kontrafaktur der Wielandschen Ab-
und sind in ihren Umkehrungen Ausdruck eben jener deriten (1774–1780) verstehen, einem satirischen
›verkehrten Welt‹, die der Schriftsteller für seine Ge- Fortsetzungsroman, der im vierten Band von einem
genwart diagnostiziert (vgl. Bloch 2017, 156). Streit um einen Eselsschatten erzählt und der Frage,
ob bei der Anmietung eines Esels auch dessen Schat-
ten mitgemietet wird. Während bei Wieland der frag-
Autointertextualität liche Prozess ein aufklärerisch-gutes Ende findet, auch
wenn dafür das Tier massakriert werden muss, so en-
Kritisch reflektiert werden von Dürrenmatt jedoch det der Streit bei Dürrenmatt in einer apokalyptischen
nicht nur fremde Texte und literarische Muster, auch Zerstörung von ganz Abdera (vgl. Knapp 1993, 74 f.).
das eigene Œuvre wird Gegenstand zahlreicher Um- Es ist die Unvernunft, die hier siegt, und das ›nicht
arbeitungen und Fortschreibungen. Wie Mitrache am sehr‹ des Untertitels ironisch untertreibt. Das Hörspiel
Beispiel der Panne herausarbeitet, ermöglicht die un- persifliert damit den heiteren Gestus der Wieland-
terschiedliche Ausgestaltung dieses Stoffs als Hörspiel, schen Geschichte und denkt den in seinem Kern we-
Drama und Erzählung differente Modi der Sinnkon- senlosen Konflikt bis zur ›schlimmstmöglichen Wen-
stitution und Rezeption (vgl. 1999, 142 f.), während dung‹ weiter. Dem aufklärerisch-vernünftigen Ende
das Drama Achterloo mit seinen drei Versionen Aus- wird das Schreckbild eines irrationalen und zerstöre-
druck einer fortwährenden Weiterentwicklung des ei- rischen Konflikts entgegengehalten.
genen Schreibens ist (vgl. Klimant 2014, 13 u. 19). Ihre
Zuspitzung findet diese Form der Umschreibung in
den Stoffen Dürrenmatts, die als eine Rekonstruktion Der Reflexionsprozess im Schreiben
früherer Textentwürfe präsentiert werden. Die Novelle
Mondfinsternis wird so als Vorläufer des Besuchs der al- Wenn Berndt/Tonger-Erk (2013, 13) konstatieren,
ten Dame präsentiert, wobei, wie Weber (2000, 184 f.) dass der »literarische Text [...] sowohl das wichtigste
darlegt, das Verhältnis von Prä- und Posttext vom Au- Beispiel für Intertextualität [ist] als auch deren selbst-
tor ironisch verkehrt wird: »Die vermeintliche Quelle reflexives Medium«, so schildert das sich selbst reflek-
oder Vorstufe wird im Laufe der Rekonstruktion zu ei- tierende Spätwerk Dürrenmatts Bewusstseins- und
nem impliziten Gegenentwurf entwickelt.« Der eigene Gedankenprozesse, die nicht linear, sondern in ihren
Text wird in seiner Bedeutung umgeschrieben; er wird intertextuellen Bezügen gelesen werden wollen, als
als Fortführung eines Fragment gebliebenen Prätexts Resonanzraum und Ort des ›Weiter-Denkens‹ (vgl.
präsentiert, wobei der rekonstruierte Prätext de facto Rusterholz 2002, 302 f.). In seinem Nachwort zum
ein Posttext ist. Gerade in diesen fortwährenden Um- Nachwort schreibt der Autor: »[D]ie Stücke, in die
arbeitungen drückt sich die von Dürrenmatt vertrete- man sich einläßt, sind nun einmal Affären, mehr oder
344 V  Ästhetik und Poetik

weniger glückliche Liebesgeschichten mit Stoffen. [...] Linden, Patricia: Literatur als »Wiederholungstäterin«. Dür-
Doch wie die Geliebte im Verlauf der Affäre, die sich ja renmatts Werke zwischen Text und Film. In: Germanica
in der Zeit abspielen muß, auch an sich eine andere ist 53 (2013), 121–135.
Mitrache, Liliana: Intertextualität und Phraseologie in den
als die Braut [...], so ist auch ein Stoff etwas anderes als drei Versionen der Panne von Friedrich Dürrenmatt.
Idee oder als eben geschriebenes Stück [...] oder als ein Aspekte von Groteske und Ironie. Uppsala 1999.
Stück endlich, aus dessen Bannkreis der Autor getre- Möbert, Oliver: Intertextualität und Variation im Werk
ten ist, [...] indem er es noch einmal durchdachte, Friedrich Dürrenmatts. Zur Textgenese des Kriminal-
nicht um es vor der Welt, sondern um es vor sich selbst romans Das Versprechen (1957/58) unter besonderer
Berücksichtigung des Spielfilms Es geschah am hellichten
zu bewältigen« (WA 14, 229 f.). Die Auseinanderset-
Tag (CH/D/E, 1958). Frankfurt a. M. 2011.
zung mit anderen und eigenen Texten wird damit zu Park, Gun-Yong: Intertextuelle Analyse zweier Werke von
einem Prozess des ›Nach-Denkens‹, der im Verwirr- Friedrich Dürrenmatt: Mondfinsternis und Der Besuch der
spiel der intertextuellen Bezüge seine performative alten Dame. Bochum 2000.
Umsetzung findet. Rusterholz, Peter: Vom ›Werk‹ zur Intertextualität der Stoffe:
Friedrich Dürrenmatts Wandlung. In: Zeitschrift für
Literatur Semiotik 24 (2002), 2–3, 295–305.
Berndt, Frauke/Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Ein- Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle
führung. Berlin 2013. und Fallstudien. Paderborn 1998.
Bloch, Peter André: Dürrenmatts Dramaturgie der Verkeh- Stocker, Peter: Friedrich Dürrenmatt (1921–1990). In: Alo
rung in seinen Kriminalgeschichten und frühen dramati- Allkemper, Norbert Otto Eke (Hg.): Deutsche Dramatiker
schen Kompositionen. In: Ders.: Friedrich Dürrenmatt – des 20. Jahrhunderts. Berlin 2000, 417–441.
Visionen und Experimente. Werkstattgespräche – Bilder Wassmann, Elena: Die Novelle als Gegenwartsliteratur.
– Analysen – Interpretationen. Göttingen 2017, 135–166. Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität
Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. For- bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind
men, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen und Günter Grass. St. Ingbert 2009.
1985. Weber, Ulrich: Erinnerung und Variation. Mondfinsternis
Grimm, Reinhold: Intertextualitäten: Einige Beispiele aus und Der Besuch der alten Dame in textgenetischer Sicht.
Dürrenmatts späterer Schaffenszeit. In: Peter Rusterholz, In: Peter Rusterholz, Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwand-
Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der Stoffe als Stoff lung der Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dür-
der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. Ber- renmatts Spätwerk. Berlin 2000, 179–195.
lin 2000, 91–106. Weber, Ulrich u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie. Dür-
Klimant, Thomas: Dürrenmatts Transzendentaldramatur- renmatt intertextuell und intermedial. Göttingen 2014.
gie. Die Achterloo-Varianten (1982–1988) als Beitrag zur
Auseinandersetzung zeitgenössischer Dramaturgie mit
Julia Röthinger
radikal konstruktivistischen Denkfiguren. Berlin 2014.
93  Komödie (tragische) 345

93 Komödie (tragische) zen: die unter den Kulturgeboten zu mäßigenden


Triebwünsche, ebenso Lust am Unsinn wie am Auf-
Werkpoetik der Komödie heben von Formgeboten. So entfaltet diese Komik
entstrukturierende, ordnungssprengende Kräfte, die
Dürrenmatts Äußerungen zur Komödie sind kontext- von jeher einzuschränken gesucht wurden, etwa auf
gebunden, auf die Arbeit an Stücken oder deren Wir- eine bestimmte Zeit, den Karneval, oder auf institutio-
kung auf der Bühne bezogen. So hebt er in den 1950er nell geregelte Aktionen wie das Theaterspiel. Komik
Jahren in der Anmerkung zur Komödie und in den dieser Art schmilzt Unterscheidungen ein, bricht
Theaterproblemen den Gegensatz von Komödie und Grenzen auf, auch die zwischen Menschen; sie ist eine
Tragödie hervor, bis hin zur vielzitierten These: »Uns Komik der Teilhabe, wie dies das Phänomen des ›an-
[der Wirklichkeit nach den Weltkriegen] kommt nur steckenden‹ Lachens bezeugt.
noch die Komödie bei« (WA 30, 62). In den 1970er Jah- Ihren besonderen Reiz gewinnt die Komödie nicht
ren rückt er mit Blick auf die Physiker und die Idee im isolierten Ausprägen einer dieser beiden Arten von
eines ›komischen‹ Galilei das Tragische und das Ko- Komik, sondern in deren Zusammenführen. Das ver-
mische eng zusammen. Beide seien nicht Eigenschaf- leiht ihr ein Gattungsgesetze und -grenzen immer
ten von Figuren oder Situationen, sondern Zuschrei- auch unterminierendes Moment, der in ihr entfalteten
bungen des jeweils wahrnehmenden Subjekts: »Das Komik eine irritierende Ambiguität. Beide Arten der
Tragische und das Komische sind für mich so hauch- Komik wie auch der hierauf gegründeten Komödien
dünn getrennt, sind für mich nicht sachlich unterschie- geben Öffnungen zur jeweils entgegengesetzten Art zu
den, sondern rein im Bewußtsein, rein psychologisch« erkennen. So darf die satirische Komödie das dem
(G 2, 131). Dürrenmatts Einlassungen zur Komödie Verlachen Preisgegebene nicht gänzlich vernichten,
wandeln sich mit seinem Komödienschaffen, lassen was in der Regel durch Betonen des Spielmomentes
dabei aber durchaus eine Linie erkennen: In program- verhindert wird. Weiter sind in der Verlachkomödie
matischer Hinwendung zur Komödie wird die Frage die Ordnung verbürgenden Instanzen gezwungen,
nach deren Chance immer schärfer herausgearbeitet, eben demjenigen Figur und Stimme zu geben, das sie
angesichts einer sinnverweigernden, diffusen Wirk- ausschließen wollen (vgl. Freud 1970; Ritter 1974).
lichkeit Sinnorientierung zu bewahren, zumindest als Gibt die Komödie umgekehrt entgrenzender, form-
Forderung. Die Komödie wird mit der Konzentration auflösender ›karnevalistischer‹ Komik (vgl. Bachtin
auf diese Frage fortschreitend totalisiert, in dem Sinne, 1990, 32–85) Raum, so hat sie zur Sicherung ihres
dass es zu ihr kein Außerhalb mehr gibt. Werkcharakters als Drama den Tendenzen zur Ge-
staltauflösung halt- und strukturgebende Momente
entgegenzusetzen. Das kann die eigene Ordnung des
Theorie der Komödie Spielens sein oder das Gefüge einer schlüssigen Hand-
lung – bei Dürrenmatt etwa die jeweils streng durch-
Als ›Komödie‹ wird ein Theaterstück bezeichnet, das gehaltene Versuchsanordnung – oder der Entwurf
seinem Gehalt und seiner Struktur nach durch Komik konsistenter Figuren, dem Dürrenmatt durch starkes
bestimmt wird. Entsprechend gewinnt die Komödie Typisieren nachkommt.
ihre jeweilige Eigenart primär aus der Art und Weise, Grundbedingung der Komödie ist, dass die Pro-
in der sie die beiden Grundformen der Komik zusam- tagonisten an den Gefährdungen der Handlungswelt,
menführt (vgl. Jauß 1976, 103–132; Greiner 2006, 87– die sich ihnen aufgetan haben, und an den Folgen ih-
113): die des ›Verlachens‹ und die des ›entgrenzenden, rer Handlungen nicht zugrunde gehen, damit dem
Unterdrücktes freisetzenden Lachens‹. Die ›Komik vollen Ernst der Lebenspraxis entzogen sind. Dieses
des Verlachens‹ misst eine Handlung oder Figur an konstitutive Moment des Spiels machen Komödien
Erwartungen oder Normen; sie ist intellektuell, akzen- insbesondere im Durchbrechen der Spielillusion in
tuiert Gegensätze, etwa von Schein und Sein, Anstren- direkter Wendung an das Publikum bewusst oder im
gung und Ergebnis und wertet ab, indem sie dem Ver- Potenzieren des Spiels durch Spiel-im-Spiel-Struktu-
lachen preisgibt, was den als gültig angesetzten Nor- ren. Dürrenmatt lotet die Grenzen dieses Spielmo­
men nicht genügt. ›Entgrenzende Komik‹ manifestiert ments immer neu aus, wenn er dem Handeln seiner
sich demgegenüber primär physisch, der Sinnlichkeit Figuren auch tödliche Konsequenzen zuweist oder be-
Raum gebend; sie zielt darauf, das in den gegebenen tont, dass man »das Tragische aus der Komödie heraus
Ordnungen Unterdrückte oder Verdrängte freizuset- erzielen, hervorbringen« könne »als einen schreck-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_93
346 V  Ästhetik und Poetik

lichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund« dacht, wird sie mithin um ihre dionysisch-entgren-
(WA 30, 63). zende Komponente beschnitten, die Unterscheidung
einzieht, auch die zwischen vorgestellter Welt und Pu-
blikum. Das Groteske wird weiter als »äußerste Stili-
Aspekte des Komödienschaffens sierung« bestimmt (24), worauf Dürrenmatts gestalte-
rische Verfahren dann auch in der Regel zielen, inso-
Dürrenmatt favorisiert die intellektuelle Komik, ent- fern seine Figuren überwiegend Typen, keine Charak-
sprechend die Verlachkomödie, die Missverhältnisse tere sind, während die Handlung seiner Stücke oft in
herausstellt, in der Romulus-Komödie (WA 2, 9–115) unwahrscheinlichen Annahmen und Zufällen grün-
z. B. von Status (Kaiser) und faktischem Handeln det. Die entschiedene Künstlichkeit soll die diffuse
(Hühnerzüchten). Die Repräsentanten der Normen, Welt der Jetztzeit zur Kenntlichkeit entstellen, was die
an denen die Inkongruenz offenbar wird, werden dort Theaterprobleme im Paradox der »Gestalt [...] einer
aber ihrerseits (als realitätsfremde Ideologen des Ungestalt« fassen (WA 30, 62). Im Drängen zu solcher
Machterhalts) dem Verlachen preisgegeben. So wird Künstlichkeit gibt die Komödie auch der anderen Ko-
die Verlachkomik auf sich selbst zurückgewendet, als mik Raum, die Ordnungen, hier Gebote der Darstel-
Verlachen des Verlachens potenziert, was der anderen lung von Wirklichkeit, z. B. das der Wahrscheinlich-
Komik Raum gibt, die Unterdrücktes freisetzt, hier: keit, aufbricht.
staatliche Ordnungen außer Kraft zu setzen im Aus- Dürrenmatts Komödienpoetik gründet in einer Set-
treten aus der Geschichte. In der Hinnahme des Todes zung: einem Bild der erfahrbaren Wirklichkeit als un-
derer, die dem nicht vertrauen, wird die Komödien- überschaubar, chaotisch, von verantwortlichem Han-
bedingung des glücklichen Ausgangs allerdings auf- deln entlastend (vgl. 62 f.) und entsprechend Perspekti-
gehoben. Damit stellt die Komödie des potenzierten vierung auf Sinn verweigernd. Die im Grotesken zen-
Verlachens sich selbst in Frage, lässt sie im konsequen- trierte Komödie gebe dieser gesichtslosen Welt, so
ten Durchspielen der angesetzten Komödienbedin- Dürrenmatt, ein Gesicht, das Sinnerwartung aufrecht-
gungen einen tragischen Horizont aufscheinen und erhält. Da in einer sinnverweigernden Welt Versuche
erweist dabei die Selbstinfragestellung als Bestandteil der Begründung von Sinn vom Verkehrten dieser Welt
ihrer in sich konsequenten Konstruktion. notwendig affiziert werden – wie im Besuch der alten
Das Ausgehen von ›witzigen‹ oder ›komischen‹ Dame der Versuch, das gebeugte Recht zu restituieren,
Missverhältnissen theoretisiert und verallgemeinert das Unrecht allgemein macht –, kann Begründung von
Dürrenmatt zu einer Dramaturgie des (fantastischen) Sinn nur im Heraustreten aus der durch das Groteske
Einfalls, für die er Aristophanes’ Komödie als Vorbild der Komödie entstellten Welt erfolgen. Das bekräftigt
feiert. Dem »gewaltigen Einfall« wird die »Kraft« zu- Dürrenmatt durch zwei Sätze, deren Verbindung
erkannt, »die Welt in eine Komödie zu verwandeln«, höchst aufschlussreich für seine Komödienpoetik ist:
in eine durch das ›Groteske‹ bestimmte Komödie (WA »Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als
30, 21 u. 24). Dürrenmatt umschreibt einige Züge des religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei«
Grotesken als ein »sinnliches Paradox« (WA 30, 62), (62). Schuld als »persönliche Leistung« wird als Akt des
etwa dessen Vermischen des Heterogenen. Nur indi- »mutigen Menschen« erläutert, der »die verlorene
rekt bestimmt er deren Sinnpotential: Sinnerwartung Weltordnung« in seiner Brust wiederherstelle (62 f.),
zu wecken und zu enttäuschen, ohne neuen Sinn zu wie Ill, der mit dem Anerkennen seiner Schuld und sei-
setzen, aber auch ohne die Frage nach einer Sinn-Per- ner Bereitschaft zum Tod sich auf eine Welt der Wirk-
spektivierung aufzugeben (vgl. Pietzcker 1972; Oes- lichkeit der Idee Recht hin entwirft. Schiller hat die Tra-
terle 2017). Letzteres zeigt er an, wenn er das Groteske gödie von dem Wirkungsziel her bestimmt, dass der
als Kunst nicht des Nihilisten, sondern des Moralisten Zuschauer der vorgestellten, alle Sinnerwartung
darlegt (vgl. WA 30, 25). Die Tragödie, so Dürrenmatt, durchkreuzenden Welt seine Selbstvergewisserung in
überwinde Distanz, da sie erschüttern wolle – die auf seinem Vermögen zur Vernunft entgegenstelle (vgl.
erhabene Selbstbesinnung des Zuschauers zielende Schiller 1992). Dürrenmatt verbindet solch ›erhabene
Tragödie, z. B. Schillers, ist hier nicht im Blick –, wäh- Wende‹ mit der Komödie, wenn auch einer, die sich zur
rend die Komödie Abstand zur Welt schaffe, indem sie Tragödie hin öffnet. Zwei konstitutive Momente der
dieser eine eigene, groteske entgegenstelle. Mit der Komödie konnten ihm das nahe legen. Zum einen de-
Festlegung auf das Vermögen, Distanz zu schaffen, ist ren Gründung in der Groteske, da diese in sinnverwei-
die Komödie von Verlach- und Kontrastkomik her ge- gernder Wirklichkeit Sinnforderung bewahrt, zum an-
93  Komödie (tragische) 347

dern das Heraustreten aus der vorgestellten Welt, die nisse, etwa eines erhabenen Helden, der unter lächer-
›Parabase‹ (Übertretung), die einen anderen Raum für lichen Umständen zu Tode kommt (Dürrenmatts
Sinnsetzung eröffnet. Scott), sondern auch auf das dramaturgische Verfah-
Dürrenmatt macht von der Parabase einen Ge- ren, jedes Heraustreten aus einer Komödie in einer
brauch, der sein weiteres Komödienschaffen wesent- übergeordneten Komödie einzuholen, die die Sinnset-
lich prägt. Er vollzieht sie nicht zwischen vorgestellter zung der ersten Parabase aufhebt. Dann gibt es kein
Welt und Wirklichkeit der Spieler und Zuschauer; er Außen mehr zur Komödie, ist diese total. In diesem
wendet sie vielmehr in die vorgestellte Welt zurück, als Licht besagt der dritte Punkt zu den Physikern: »Eine
Grenzüberschreitung in eine andere, mit diesem Akt Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre
erst geschaffene Welt, in der Anerkennen und Verant- schlimmstmögliche Wendung genommen hat« (WA
worten von Schuld geleistet werden. Das so »aus der 7, 91), dass der Dramatiker auf solche ›Wendung‹
Komödie heraus« erzielte »Tragische« (WA 30, 63) sinnt als den Weg zu einer ›totalen Komödie‹.
bleibt aber intersubjektiv ohne Wirklichkeit, in die In der Komödie Der Meteor unternimmt Dürren-
Seele des ›mutigen Menschen‹ eingeschlossen. Es wird matt ein neues Experiment mit der Parabase: Statt sie
daher leicht von der anderen Art Komödien-Parabase in einer übergeordneten Komödie umzuwenden und
überdeckt, der Öffnung des Spiels zu Spielen-im-Spiel. ihr Sinnversprechen zunichte zu machen, hält er an
So spielt im Besuch der alten Dame der Chor der Gül- der Parabase fest, wendet aber die Figur, die sie voll-
lener, nachdem er Ill gelyncht hat, als Spiel-im-Spiel zogen hat, also in eine andere Wirklichkeit übergetre-
die berühmte Chor-Rede in der Antigone des Sopho- ten ist, in die ursprüngliche Komödienwelt zurück.
kles – »Vieles ist ungeheuer, nichts ungeheurer als der Dürrenmatt hat dieses Stück als eines »über das Nicht-
Mensch« (Vs. 332 f.) – in aktueller Konkretion nach glauben-Können« bestimmt; seine Idee sei »die Ge-
(vgl. WA 5, 132 f.). Die auf tragische Sinnsetzung ge- schichte eines Mannes, der aufersteht und seine Auf-
richtete Komödien-Parabase wird damit durch eine erstehung nicht glaubt« (WA 9, 161 u. 160). Er hat aber
Tragik-Camouflage auf der nächsthöheren Fiktions- auch auf eine andere Art Auferstehung verwiesen, die
ebene neutralisiert. jedem Theaterspiel eignet, und damit eine Spur gelegt,
Die Komödien-Parabase als vielversprechender das Stück als poetologisch selbstreflexive Auseinan-
Akt im Versuch, in sinnverweigernder Wirklichkeit dersetzung mit seiner Komödienpoetik zu lesen: »Für
Sinn zu setzen, wird in den als Komödie angezeigten gewöhnlich stehen die Toten im Theater erst auf, wenn
Physikern umfassend in Frage gestellt. Um der Welt der Vorhang gefallen ist; Schwitter aufersteht, als sich
ihre gefährlichen Erkenntnisse vorzuenthalten, treten der Vorhang hebt: Das ist der entscheidende Einfall,
die Protagonisten doppelt aus der Komödie, die sie ich glaube, ein eminent theatralischer« (G 1, 202).
spielen, heraus: Sie ermorden ihre Krankenschwes- Folgt man dieser Spur, ist Schwitter aus der vorgestell-
tern – machen so aus ihrem Spiel Ernst – und gestehen ten Welt in die Wirklichkeit des Theaterspielens he-
sich gegenseitig ihr Verrücktsein als nur gespielt. Die- rausgetreten; in dieser wendet er sich aber nicht dem
se Komödien-Parabasen sind jedoch längst eingebun- Publikum zu, sondern – als Figur mit einem ganz an-
den in das Theater der verrückten Irrenhausärztin auf deren Sein – in seine bisherige gespielte Welt zurück.
der nächsthöheren Spielebene, die Möbius’ Aufzeich- An der Komödienparabase festhaltend, kehrt er sie
nungen für ihre Machtpläne verwertet. Die sinnori- um. Da Schwitter in seinem jetzigen Sein der Welt der
entierte, ›mutige‹ Tat, Komödie zu spielen und durch anderen Figuren nicht mehr angehört, kann er in de-
Parabasen zu befestigen, ist durch das übergeordnete ren Welt nicht sterben, und umgekehrt erweist sich
Theaterspiel in den Raum von Komödie zurück- deren Leben als bloßes Theater, als der Illusion ver-
gewendet, als eine Parabase zweiter Ordnung, die die pflichtetes Sein, das an ihm folgerichtig erlischt. Den
erste Parabase umkehrt und um ihren Sinn bringt. astronomischen Meteor hat Dürrenmatt als Bild des
Entsprechend schließt diese zweite Parabase auch den für seine Komödie konstitutiven ›Einfalls‹ bemüht
in der Binnenkomödie der Physiker aufscheinenden (vgl. G 1, 201), der die gestaltlose Welt zur Kenntlich-
tragischen Horizont. So zeigen sich die Protagonisten keit entstelle. Hier wird er als das groteske Phantasma
in Komödie-Spielen gefangen. Das Diktum aus dem eines Mannes berufen, der nicht sterben kann, um
Nachwort zu den Wiedertäufern: »Die schlimmst- sich herum jedoch sterben macht. Erreicht wird dies
mögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen durch eine Inversion der Komödienparabase, die eine
kann, ist die Wendung in die Komödie« (WA 10, 128), ›umfassende‹ Komödie entstehen lässt: nicht nur eine
verweist derart nicht nur auf komische Missverhält- des Verlachens, die die Lebenslügen der Mitfiguren of-
348 V  Ästhetik und Poetik

fenbart, sondern ebenso eine Komödie entgrenzender vor: nicht nur von den Weltmodellen der Komödien
Komik, die Forderungen sinnverbürgender Ordnung zur Erfahrungswirklichkeit, der sie entgegengestellt
unterläuft, nicht zuletzt das Gebot, ontologisch ver- werden, sondern auch von den entworfenen Grotes-
schiedene Ebenen des Theaterspiels zu unterscheiden. ken zur Komödie als Mittel zu deren stringenter Kon-
Diese Komödie ist total, da sie die fiktive Welt und das struktion. Gunter E. Grimm (2013) betont den Zufall
ihr jenseitige Sein umgreift. in Dürrenmatts Komödienkonstruktionen, den der
Mit der Gleichzeitigkeit von drei ontologisch ver- Autor als radikalen Bruch mit dem deterministischen
schiedenen Ebenen des Spiels macht Achterloo (WA Naturbild wie dem Bild einer rational strukturierten
18, 9–122) die Parabase, die die Figuren, die Schau- Welt aufgreife und zur Grundlage seiner Dramaturgie
spieler und die Zuschauer zu leisten und nachzuvoll- mache, deren Zentrum die Figur der Groteske bilde,
ziehen haben, zum Hauptgegenstand des Komödien- die aber auch, wie in Achterloo, zum Entwurf eines un-
spiels. Die Arbeit an diesem Stück endete mit einer Pa- verbindlichen Spiels führen kann. Seine Dürrenmatt-
rabase des Autors selbst, seinem Heraustreten aus sei- Biografie stellt Peter Rüedi unter die Maxime, man
nem Komödienkosmos, eine Parabase allerdings, die müsse »Dürrenmatts gesamte Ästhetik [...] als einen
der Autor nicht mehr in einer übergreifenden ›Dich- einzigen Vorgang der Distanzierung verstehen« (2011,
ter-Komödie‹ eingeholt hat. 32). In diesem Sinne sei die Wendung zum Grotesk-
Komischen eine Notwehr gegen eine gesichts- und ge-
richtslose Welt, wie eine Strategie, religiöse oder phi-
Forschung losophische Fragen einzubringen; sie sei aber auch ein
dem Autor grundeigenes eingeborenes produktives
In den Theaterproblemen erkennt Karl S. Guthke »die Vergnügen am Unangemessenen, Paradoxen, Grotes-
bisher ausführlichste Theorie der Tragikomödie als ken (vgl. ebd., 569 f.). Verwiesen wird damit auf die
der modernen Dramengattung par excellence« (1968, Dynamik Grenzen aufhebender, Ordnungen unter-
133). Dürrenmatt entwerfe sie als ein prekäres Gleich- minierender Komik, die der bei Dürrenmatt dominan-
gewicht von Chaos und Form. Zwar setze die Komödie ten, Normen voraussetzenden Verlachkomik entge­
der Formlosigkeit der Welt mit der Groteske das Para- gen­wirkt. Die Frage nach der Verbindung der beiden
dox der Gestalt einer Ungestalt entgegen, ziele dann Grundarten der Komik bleibt ein perspektivenreicher
aber mit dem ›mutigen Menschen‹, der der Sinnlosig- Zugang zur Komödienarbeit des Autors.
keit die Stirn biete, auf Ordnung und Form. Allerdings
gestalte Dürrenmatt derart keine Tragödie, sondern Literatur
Primärtexte
das ›Tragische‹, das die Erfahrung des Leidens stark Anmerkung zur Komödie. In: WA 30, 20–25.
mache. Das erklärt, warum Dürrenmatt nicht den Dramaturgische Überlegungen zu den ›Wiedertäufern‹. In:
Begriff ›Tragikomödie‹ gebraucht, sondern den einer WA 10, 127–137.
›tragischen Komödie‹. Jan Knopf (1980) hebt auf Dür- 21 Punkte zu den ›Physikern‹. In: WA 7, 91–93.
renmatts explizit politische Herleitung seiner Ko- Sätze über das Theater. In: WA 30, 176–211.
Theaterprobleme. WA 30, 31–72.
mödientheorie ab. Der – für sich – sinnsetzende muti-
Zwanzig Punkte zum ›Meteor‹. In: WA 9, 159–162.
ge Mensch stelle durch den bewussten Akt seiner
Selbstbehauptung seine Individualität wieder her, al- Sekundärliteratur
lerdings sei die Bedingung der Möglichkeit solcher In- Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval. Zur Roman-
dividualität durch die Wirklichkeit, auf die die Komö- theorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1990.
die antworte, gerade negiert. So erscheint die Sinnset- Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbe-
wußten [1905]. In: Studienausgabe, Bd. IV: Psychologi-
zung der Komödie Dürrenmatts bodenlos. Günter
sche Schriften. Hg. von Alexander Mitscherlich u. a.
Niggl (1978) zeichnet die Umbildungen in Dürren- Frankfurt a. M. 1970, 9–219.
matts Komödienarbeit als Wandel der Relation von Greiner, Bernhard: Die Komödie. Eine theatralische Sen-
Komik/grotesker Komödie und – individueller – Tra- dung. Grundlagen und Interpretationen [1992]. Tübingen
gik differenziert nach. Während diese zunächst in ei- 2006.
nem antinomischen Bezug entfaltet wurden, sei dieser Grimm, Gunter E.: Friedrich Dürrenmatt. Marburg 2013.
Guthke, Karl S.: Die moderne Tragikomödie. Theorie und
zu einem Zusammenfallen oder Ineinander-Umschla- Gestalt. Göttingen 1968.
gen von ›komisch‹ und ›tragisch‹ in Formen des Gro- Jauß, Hans Robert: Über den Grund des Vergnügens am
tesken und Paradoxen radikalisiert worden. Bernhard komischen Helden. In: Wolfgang Preisendanz u. a. (Hg.):
Greiner (2006) schlägt eine doppelte Blickrichtung Das Komische. München 1966, 103–132.
93  Komödie (tragische) 349

Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt [1976]. München 1980. Ritter, Joachim: Über das Lachen [1940]. In: Subjektivität.
Niggl, Günter: Tragik und Komik bei Dürrenmatt. In: Lite- Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974, 62–92.
raturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 19 (1978), 77–93. Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Oesterle, Günter: Das Groteskkomische. In: Uwe Wirth Biographie. Zürich 2011.
(Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart Schiller, Friedrich: Über das Erhabene [1801]. In: Werke
2017, 35–42. und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8: Theoretische Schriften.
Pietzcker, Carl: Das Groteske. In: Deutsche Vierteljahres- Hg. von Rolf-Peter Janz u. a. Frankfurt a. M. 1992, 822–
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 840.
(1971), 197–211.
Bernhard Greiner
350 V  Ästhetik und Poetik

94 Moderne Tragödie setzt nämlich wie das epische Theater ein ge-
schlossenes Weltbild voraus, das Dürrenmatt radikal
Unter Moderne soll im Folgenden die Zeitspanne ver- in Frage stellt, indem er das Schicksal durch den Zufall
standen sein, die um die Jahrhundertwende beginnt ersetzt (vgl. Weber 2007a, 150).
und die durch das Bewusstsein eines Wertezerfalls ge-
kennzeichnet ist, der einhergeht mit der Erfahrung
der Großstadt, der Technologisierung, der Beschleu- Poetologische Umsetzung
nigung. Auf der ästhetischen Ebene wird die Auffas-
sung vertreten, dass die überkommenen Darstellungs- Dürrenmatts poetologisches Problem ist zu Beginn
weisen der als unübersichtlich empfundenen Welt seiner Laufbahn, dass er zwar die Unübersichtlichkeit,
nicht gerecht werden. Das Konzept der Mimesis wird die Pannenanfälligkeit der Welt behauptet, in seinen
aufgegeben: In der erzählenden Literatur vervielfa- Dramen und selbstverständlich in den Kriminalroma-
chen sich die Stimmen, die Identität der Figuren wird nen letztlich doch eine geschlossene, relativ übersicht-
in Frage gestellt, die strenge dramatische Form wird liche Welt darstellt, in der es einer Figur gelingt, die Plä-
aufgebrochen, die Erzeugung von Illusion ist verpönt. ne der andern zu durchkreuzen und den schlecht infor-
Es ist eine Tendenz zum Spiel mit Zitaten und Text- mierten Rezipienten damit ebenso zu überraschen wie
mustern festzustellen. die Figuren.
Um 1980 – vielleicht im Zusammenhang mit dem
Misserfolg von Der Mitmacher (Weber 2007b) und
Dürrenmatt und die Literatur der Moderne dem Erscheinen der Werkausgabe – scheint er sich der
Problematik, dass seine Konzeption der modernen
In Dürrenmatts Schriften tauchen nur zwei Namen, Welt als Chaos ästhetisch nicht umgesetzt wird, be-
die diese Moderne repräsentieren, öfters auf: Søren wusst geworden zu sein. So beginnt die Komödie Die
Kierkegaard und Bertolt Brecht. Die Forschung glaubt, Panne (WA 16, 57–173) in der Version der Werkaus-
in Dürrenmatts Texten auch Anspielungen auf Kafka gabe mit mehreren Pannen: Es gibt zu wenig Särge für
und Ähnlichkeiten mit seinem Werk ausmachen zu die durch Unfälle gestorbenen Toten, dann spielen die
können, was Dürrenmatt selbst bestreitet (Nagel 1987; Schauspieler den Schluss zuerst inklusive Schluss-
Weber 2010). Ohne eine Analyse von Dürrenmatts Bi- applaus, damit die kleinen Rollen nicht zu lange war-
bliothek ist es schwer zu sagen, welche Werke der Mo- ten müssen, bis sie an die Reihe kommen, ein Verfah-
derne er tatsächlich gelesen hat (s. Kap. 92). Fest steht, ren, das Dürrenmatt bereits in Die Ehe des Herrn Mis-
dass sich Dürrenmatt sein Leben lang mit Brechts sissippi (WA 3) angewendet hat, dort aber nicht im
Konzeption des epischen Theaters auseinandergesetzt Sinn einer Panne, sondern als eine vom Autor insze-
und gegen diese polemisiert hat. Dabei ging es weni- nierte Illusionsdurchbrechung. In Die Panne wird die
ger um die Ablehnung des epischen Theaters und sei- Panne generalisiert und zum Symbol der modernen
ner Durchbrechung der Illusion als um die Ablehnung Welt. Das hatte der Autor bereits im ersten Kapitel der
jeglicher Ideologie. So stellte er 1970 fest: »Die moder- Erzählung (WA 21, 37–39) umschrieben, in der Ko-
ne Welt ist ein Ungeheuer, das mit ideologischen For- mödie formuliert er es jetzt stringenter: »In einer Welt
meln nicht mehr zu bewältigen ist« (WA 30, 174). der schuldigen Schuldlosen und der schuldlosen
Er selbst beansprucht für sich lange Zeit die klassi- Schuldigen hat das Schicksal die Bühne verlassen, und
sche Form des Dramas inklusive Illusion des Zuschau- an seine Stelle ist der Zufall getreten, die Panne. [...]
ers (vgl. WA 7, 93), der nicht mehr weiß als die Figu- Das Zeitalter der Notwendigkeit machte dem Zeitalter
ren: »[E]iner Handlung, die unter Verrückten spielt, der Katastrophen Platz« (WA 16, 162). Das künstleri-
kommt nur die klassische Form bei« (12), heißt es in sche Problem, das Dürrenmatt in seinem Spätwerk im-
Die Physiker. Immer wieder setzt sich Dürrenmatt mer wieder zu lösen versucht, ist demnach: Wie bringt
auch innerhalb seiner Komödien mit der antiken Tra- man die totale Panne auf die Bühne, wie verunmög-
gödie auseinander, so in Romulus der Große (WA 2) in licht man jede Konstituierung von Sinn in einer Welt,
der Figur der Rea oder auch in der Hörspiel-Fassung in der die Ideologien abgedankt haben, in der es »nach
der Panne (WA 16, 9–56). Gerade diese beiden Bei- dem Sinn des Irrsinns« zu suchen gilt (WA 18, 477)?
spiele zeigen, dass die Aufnahme der klassischen Dürrenmatt macht dies, indem er eine Position durch
Form des Dramas (Einheit der Zeit und des Ortes) vor eine andere relativiert oder annulliert. Dies wird be-
allem in parodistischer Absicht erfolgt. Die antike sonders deutlich in einem Text wie Das Sterben der Py-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_94
94 Moderne 351

thia (WA 24, 117–158), welcher zugleich als moderne Mitmacher-Komplex (WA 14), wo der Text des Dra-
Mythendekonstruktion gelesen werden kann. Ein wei- mas durch Kommentare und Erweiterungen – zwei
teres Mittel, das Dürrenmatt anwendet, ist die Dekon- Erzählungen sind ins Nachwort eingebaut – über-
struktion der Identität der Figur durch Vervielfachung. schrieben, relativiert und letztlich aufgelöst wird.
So hat in Achterloo III und IV (WA 18, 275–414 u. 415– Dürrenmatts späte Texte zeigen alle Kennzeichen
539) jede Figur einen bürgerlichen Beruf, eine Wahn- modernen Erzählens: Es gibt keine Hierarchie mehr,
rolle und eine Spielrolle; zudem wird die Geschlechter- keine Sicherheit darüber, was in der fiktiven Welt ob-
identität unterminiert. Hatten die Physiker im gleich- jektiv existiert, weil es keine Instanz mehr gibt, die das
namigen Stück auch schon vorgegeben, jemand ande- Erzählte garantiert; es gibt nur noch eine Vervielfa-
res zu sein, so wird dieses Prinzip in Achterloo chung der (unzuverlässigen) Perspektiven auf die
potenziert und der Wirrwarr nicht mehr aufgelöst. Im Welt, die nicht zur Deckung gebracht werden können.
Durcheinandertal (WA 27) sehen die Verbrecher nach Der Topic verändert sich ständig, so dass der Leser das
einer Operation gleich aus. Gelesene immer wieder reinterpretieren muss. Der
Wenn Dürrenmatt es immer schon liebte, groteske Text erzeugt Bedeutung, um sie jedoch gleich wieder
Welten zu konstruieren, so konstruiert er jetzt ›un- in Frage zu stellen und so dem Rezipienten bewusst zu
mögliche Welten‹, ja nicht ›authentifizierte‹ Welten machen, dass es die Bedeutung nicht gibt.
(vgl. Doležel 1980). Dem Leser wird nicht mehr ver-
bindlich mitgeteilt, welche Personen und Orte nun Literatur
Doležel, Lubomír: Truth and Authenticity in Narrative. In:
Bestandteil der dargestellten Welt sind. Im Durch- Poetics Today 1 (1980), 3, 7–25.
einandertal gibt es das Anwalts-Büro Raphael, Ra- Eco, Umberto: Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpre-
phael und Raphael, wobei man nicht weiß, ob es von tation in erzählenden Texten. München, Wien 1987 (ital.
einer, zwei oder drei Personen geführt wird. Die Ad- 1979).
resse des Büros existiert nicht. Ob der Große Alte exis- Müller, Klaus-Peter: Moderne. In: Ansgar Nünning (Hg.):
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie [1998].
tiert – eine Gestalt, die Züge eines Gangsterbosses und
Stuttgart 2013, 534–537.
eines Gottes in sich vereint –, wird im Verlauf des Tex- Nagel, Bert: Friedrich Dürrenmatt und Franz Kafka. In:
tes immer unklarer. Bild und Spiegelbild sind nicht zu Modern Austrian Literature 20 (1987), 1, 37–51.
unterscheiden. In Achterloo begegnen sich Figuren, Weber, Ulrich: Kafka – Dürrenmatt. Angst vor dem Ein-
die zu verschiedenen Zeiten gelebt haben, aber auch fluss? In: Irmgard M. Wirtz (Hg.): Kafka verschrieben.
historische und fiktive Figuren. Büchner, der im Stück Göttingen 2010, 133–151.
Weber, Ulrich: Comment Dédale, en écrivant, se perd dans
für den Text verantwortlich sein sollte, hat keinerlei
le labyrinthe. Friedrich Dürrenmatt et le discours labyrin-
Autorität, und die Figuren sprechen den Text anderer thique de la modernité. In: Marc-Olivier Gonseth, Yann
Figuren. Es gibt keine Hierarchien mehr, man weiß Laville, Grégoire Mayor (Hg.): Figures de l’artifice. Neu-
nicht mehr, was eigentlich der Topic (Eco 1987, 108– châtel 2007a, 146–153.
114) des Textes ist, weil er sich ständig verändert – be- Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
sonders deutlich in Der Auftrag (WA 26, 33–130), wo der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung.
Frankfurt a. M. 2007b.
der Auftrag alle paar Seiten ein anderer ist. Wenn man Zeller, Rosmarie: »Ein doppelt verrücktes Unternehmen.«
nicht weiß, worum es geht, gibt es auch keine Bot- Das Delirium des Irr-Sinns in Dürrenmatts Achterloo. In:
schaft des Textes mehr. Nicht zufällig taucht jetzt Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in
häufig die Metapher des Labyrinths auf, die auch Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten –
die Schreibweise Dürrenmatts kennzeichnet (Weber realistische Imagination. Kiel 2002, 279–298.
2007a; 2007b). Am deutlichsten wird dies vielleicht im Rosmarie Zeller
352 V  Ästhetik und Poetik

95 Paradox und ihrer Nähe zur christlichen Mythologie als ›Kab-


bala‹ hat Dürrenmatt hervorgehoben (vgl. WA 37,
Der Begriff des Paradoxes, von griech. para, ›gegen‹ 136–144).
und dóxa, ›Meinung‹, wird für scheinbar widersinnige Das Projekt der Stoffe ist ein in mehrfacher Hin-
Sachverhalte verwendet, die herkömmlichen Ansich- sicht paradoxes Unternehmen (vgl. Burkard 2003):
ten widersprechen, weshalb ihm eine erkenntnisför- Das sich entziehende Ich soll im Schreiben des Un-
dernde Funktion zugesprochen wird (vgl. Neumeyer geschriebenen unter Ausschluss des ›Biografischen‹
2003). Das Paradox als Motiv und Denkfigur begleitet greifbar werden (vgl. WA 28, 13–15). Im »Versuch, die
Dürrenmatt seit den Anfängen seines Schreibens und Geschichte meiner ungeschriebenen Stoffe zu schrei-
erscheint, neben den verwandten Begriffen des Ab- ben« (WA 29, 11), entstanden wiederum neue Stoffe,
surden und Grotesken, früh als wichtiger Aspekt in ›neues Ungeschriebenes‹, das es zu bearbeiten galt,
der Rezeption (vgl. Dyrenforth 1963). weshalb der prinzipiell infinite Prozess abgebrochen
In den frühen Stücken Es steht geschrieben, Der werden musste. Eine eingehende Untersuchung der
Blinde und Ein Engel kommt nach Babylon ist das Pa- verschiedenen Formen und Funktionen des Parado-
radox in der Auseinandersetzung mit dem Christen- xes bei Dürrenmatt stellt ein Desiderat dar.
tum wichtig (vgl. Rusterholz 2013). Hervorzuheben
ist die Bedeutung Kierkegaards, der das Paradox des Literatur
Primärtexte
Glaubens als Notwendigkeit zum ›Sprung‹ beschreibt, Kabbala der Physik. In: WA 37, 136–144.
also als bewusste und ungesicherte Entscheidung. Der Meteor. WA 9.
Christliche Paradoxien beschäftigen Dürrenmatt auch Die Panne. Eine Komödie. In: WA 16, 57–173.
später, etwa die Auferstehung als ›sinnwidriges‹, d. h. Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29.
physikalischen Gesetzen widersprechendes Ereignis Der Winterkrieg in Tibet. In: WA 28, 11–170.
in Der Meteor. In der späten Theaterfassung der Panne
Sekundärliteratur
wird das Paradox formalisierter entwickelt: Traps’ Burkard, Philipp: Eine Lebensgeschichte als Geschichte von
Mord hat im doppelten Schuldspruch des Richters ungeschriebenen Stoffen? Friedrich Dürrenmatts parado-
gleichzeitig stattgefunden und nicht stattgefunden xes Projekt der Stoffe im literaturgeschichtlichen Kontext
(vgl. WA 16, 161–164). der Autobiografie. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 47–60.
Auch in der Prosa ist das Paradox ein zentrales Mo- Dyrenforth, Harald Oskar: The Paradox and the Grotesque
in the Work of Friedrich Dürrenmatt. Ann Arbor 1964.
tiv: In der Erzählung Die Stadt ist der Protagonist im
Neumeyer, Martina: Paradoxe. In: Gert Ueding (Hg.): His-
Labyrinth zugleich Wärter und Gefangener; das Laby- torisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6. Tübingen 2003,
rinth wird im Winterkrieg in Tibet als »Unbegreiflich- 515–524.
keit« beschrieben, das »als seine letzte Paradoxie da- Rusterholz, Peter: Christliches Paradox als Skandalon und
von unabhängig [ist], ob der Minotaurus existierte Korrektiv der Nachkriegskultur nach 1945: Friedrich
oder nicht, weil ein jeder, der es betritt, zum Minotau- Dürrenmatt und Karl Barth. In: Natalia Bakshi, Dirk
Kemper, Iris Bäcker (Hg.): Religiöse Thematiken in den
rus wird« (WA 28, 81): Das Labyrinth, das seine Ursa- deutschsprachigen Literaturen der Nachkriegszeit (1945–
che in der Existenz des Minotaurus hat, bringt diesen 1955). Paderborn 2013, 71–89.
wiederum hervor. Rusterholz, Peter: Paradox und Karikatur als Grundformen
Dürrenmatts Begriff des Paradoxons entwickelt der Darstellung des Dichter-Malers Dürrenmatt. In: Euge-
sich von einer »konventionellen Definition«, in der es nio Spedicato (Hg.): Friedrich Dürrenmatt e l’esperienza
della paradossalità. Pisa 2004, 137–161.
»sich auf höherer Ebene selbst auflöst[,] zu einem dy-
Schulte, Vera: Das Gesicht einer gesichtslosen Welt. Zu Para-
namisch-interaktionistischen Verständnis« (Ruster- doxie und Groteske in Friedrich Dürrenmatts dramati-
holz 2004, 138): So stellt der späte Text Das Hirn in ei- schem Werk. Frankfurt a. M. 1987.
ner metaleptischen Struktur die Weltgeschichte als Spedicato, Eugenio: Das Böse im Land des Paradoxes. Über-
bloße Vorstellung eines Hirns dar, das nicht nur sich legungen zu Friedrich Dürrenmatts Erzählwerk. In: Ders.
selbst, sondern im Erzählen der Welt auch den Autor (Hg.): Das Böse. Fragmente aus einem Archiv der Kultur-
geschichte. Bielefeld 2001, 121–141.
Dürrenmatt als Ursprung des Texts – und damit sei-
ner selbst – erdenkt. Auch die grundlegende Parado- Lukas Gloor
xie der modernen physikalischen Weltbeschreibung

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96 Parodie/Satire/Groteske 353

96 Parodie/Satire/Groteske risch-kritische Absicht verfolgt. Dürrenmatt hat sich


bereits in jungen Jahren neben der Bibellektüre ver-
Friedrich Dürrenmatt hat in seinem literarischen stärkt mit den klassischen Mythen der Antike und des
Werk immer wieder Formen der Parodie, der Satire Orients beschäftigt. Weil das Drama – als klassische
und der Groteske gestaltet, insbesondere in seinem Gattung par excellence – den Mythos aktualisiert, hat
dramatischen Schaffen, das ihn mit Satiren wie Der er die Größe dieser mythischen Helden insbesondere
Besuch der alten Dame und Die Physiker weltberühmt in seinen ersten großen Dramen parodiert (Romulus
gemacht hat. Aber auch in seiner Prosa, in den frühen der Große, Ein Engel kommt nach Babylon, Herkules
Kriminalromanen der 1950er Jahre oder in Spätwer- und der Stall des Augias). Dürrenmatts Werk weitet
ken der 1980er Jahre (etwa Justiz oder Durcheinander- diese inhaltlichen Parodien klassischer Stoffe auf Pa-
tal) finden sich neben zahlreichen Parodien und gro- rodien aristotelischer Elemente und Strukturen der
tesk-skurrilen Figuren auch starke gesellschaftssatiri- Tragödie (Der Besuch der alten Dame), aber auch auf
sche Elemente. die Schweizer Gegenwartsgesellschaft (Frank der
Diese besonderen Formen des Komischen sind für Fünfte), das Zeitgeschehen (Die Physiker) und schließ-
Dürrenmatt eine unausweichliche Konsequenz der lich auf die gesamte Weltgeschichte (Achterloo IV) aus.
mangelnden Transzendenz seiner Zeit: Er gehört ne- Herkules und der Stall des Augias und Der Besuch
ben Pirandello und Ionesco zu den großen europäi- der alten Dame belegen gut diese inhaltlichen und
schen Dramatikern des 20. Jahrhunderts, die die Rolle strukturellen Parodien: Im Herkules-Stück geht es
des Komischen theoretisch neu definieren und ihm als nicht darum, wie im Mythos eine Schuld zu sühnen,
Substitut des Tragischen eine ernsthafte Dimension sondern darum, banale finanzielle Schulden zu tilgen
zusprechen. Dürrenmatt äußert sich hierzu 1954 – zur – nicht die Reinheit hehrer Ziele steht im Vorder-
Zeit seiner größten Bühnenerfolge – in seinem Essay grund: Herkules, der »Säuberer Griechenlands« (WA
Theaterprobleme: »Die Tragödie und die Komödie sind 8, 34), wird zum Ausmisten von Ställen eingestellt, ver-
Formbegriffe, dramaturgische Verhaltensweisen, fin- sinkt hoffnungslos im Mist und muss sich schließlich
gierte Figuren der Ästhetik, die Gleiches zu umschrei- nach dem Scheitern an seiner Heldenaufgabe als Kraft-
ben vermögen. [...] Die Tragödie setzt Schuld, Not, protz in einem Zirkus verdingen. Die ernsthafte Di-
Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurs- mension der Dürrenmattschen Parodie erscheint da-
telei unseres Jahrhunderts [...] gibt es keine Schuldigen gegen in Der Besuch der alten Dame, einem Stück, das
und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nach außen hin gewollt Strukturelemente der klassi-
nichts dafür und haben es nicht gewollt. [...] Wir sind schen Tragödie enthält: die Einheit des Ortes, der Zeit
zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sün- und der Handlung, der Aufbau in drei Akten, der tra-
den unserer Väter und Vorväter. [...] Das ist unser gische Konflikt (versprochener Reichtum gegen einen
Pech, nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als Mord). All diese Strukturelemente werden hier paro-
persönliche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt nur diert: der Ort der Handlung, das Dorf Güllen (in der
noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Schweiz synonym für ›Jauche‹), fällt aus dem Rahmen
Groteske geführt wie zur Atombombe [...]. Doch ist einer Tragödie ebenso heraus wie Zeit und Handlung,
das Tragische immer noch möglich, auch wenn die rei- deren Einheit einzig in deren Aufhebung besteht, in-
ne Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das dem Claire auf den Tod Ills wartet. Claire handelt im
Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervor- ersten Akt, Ill im zweiten Akt, die Dorfbewohner im
bringen als einen schrecklichen Moment« (WA 30, dritten Akt – es kommt zu keinem Agon. Einen inne-
62 f.). Diese Vielschichtigkeit und neue Aufgabe des ren Kampf als Helden oder einen wahrhaft tragischen
Komischen ist in allen Formen seines Werkes präsent. Konflikt haben weder Ill noch die Dorfbewohner aus-
gestanden (einzig Ill erlebt eine geminderte Form des
inneren Kampfes, indem er sich am Ende in sein
Parodie Schicksal fügt). Allen Akteuren fehlt nämlich die Grö-
ße des individuellen Helden. Außer den beiden Haupt-
Die Parodie als literarische Form ist eine Gattung figuren, die mit Namen genannt werden, gibt es von
(oder als Pastiche ein stilistisches Verfahren), die ein Anfang an keine eigentlichen Individuen mehr, da alle
als bekannt vorausgesetztes Werk (bzw. dessen Stil im entweder mit Funktionen bezeichnet werden (Bürger-
Pastiche) bewusst nachahmend verzerrt, dessen ur- meister, Pfarrer, Lehrer etc.) oder als vervielfachte Fi-
sprüngliche Intention verkehrt und damit eine sati- guren ohne Persönlichkeit (Gatten VII–IX, Toby, Ro-

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354 V  Ästhetik und Poetik

by, Koby, Loby) auftreten. Nach und nach benutzen logenheit der Kirche, spricht gar von der ›Demission‹
auch die Dorfbewohner die mechanische Sprache die- Gottes; Bockelson hat wie die Kirchenvertreter den
ser Marionetten, die sich auf chorhaft wiederholte Sät- Glauben nur gespielt, er wird am Ende durch den Kar-
ze reduziert. Selbst Claire – mehr auslösende denn dinal in die offizielle Schauspieltruppe engagiert. Ge-
agierende Nemesis – erweist sich letztlich als eine alte nauso ist in Die Frist, einem der letzten Stücke Dür-
Frau, die nur noch aus Prothesen besteht und am Ende renmatts, die Religion nur noch als Fernsehspektakel
versteinert. präsent, in welchem der Schauspieler Nostromanni
In seinen Parodien traditioneller Sprach- und die Rolle des Religionsvertreters besser spielt als der
Denkmuster der Tragödie und der Mythen setzt Dür- wahre Kardinal.
renmatt, trotz des Scheiterns traditionellen Helden- Justiz und Gerechtigkeit sind auch ein häufiges Ziel
tums an der Sprache, seine Hoffnung auf eine neue Art der Dürrenmattschen Satire: sowohl in den frühen
des Helden, nämlich den des ›mutigen Menschen‹, der Kriminalromanen der 1950er Jahre (Der Richter und
charakteristisch ist für seine Satire: »Es ist immer noch sein Henker, Der Verdacht), in denen die offizielle Jus-
möglich, den mutigen Menschen zu zeigen. Dies ist tiz versagt und deren Vertreter Kommissär Bärlach
denn auch eines meiner Hauptanliegen. Der Blinde, mit illegalen Mitteln Gerechtigkeit ›herstellt‹, als auch
Romulus, Übelohe, Akki sind mutige Menschen. Die Claire Zachanassian im Besuch der alten Dame oder
verlorene Weltordnung wird in ihrer Brust wieder der Kantonsrat Kohler in einem der letzten Romane,
hergestellt« (WA 30, 63), schreibt der Autor zwei Jahre Justiz, die als Rächer auf eigene Faust Gerechtigkeit
vor dem Besuch der alten Dame. Dieser Figurentypus durch Mord zu verwirklichen meinen. Romulus der
des ›mutigen Menschen‹ ist charakteristisch für die Große zeigt aber ebenso wie Frank V., dass auch diese
Satire bei Dürrenmatt. vermeintlichen Träger der Satire der verschiedenen
Machtinstitutionen (politische oder wirtschaftliche
Imperien) durch die Wirklichkeit eingeholt werden
Satire und an ihr scheitern. Denn sowohl Frank V., der von
den ›ehrlichen‹ Geschäften seiner Kinder ausgebootet
Die Satire ist eine Gattung des Komischen, die durch wird, als auch Romulus, der keinen Heldentod sterben
ihre verlachende Kritik versucht, die Welt zu verbes- darf, um als gewollt erfolgloser Kaiser das mörderi-
sern: »Satire ist Utopie ex negativo« (Arntzen 1971, sche Römische Reich zu versenken, werden als schein-
166). Es gibt deshalb in jeder Satire eine implizite bar agierende Träger der Satire einfach in den Ruhe-
Norm, von der aus der mundus perversus verurteilt stand versetzt. Eine ähnliche Entwicklung – als schei-
bzw. eine ›bessere Welt‹ skizziert wird. Meist geschieht ternde Sprecher der Satire – erfahren auch andere
dies mithilfe von satirischen Sprechern, die bei Dür- Hauptfiguren: In Dürrenmatts Wissenschaftssatiren
renmatt oft Repräsentanten dessen sind, was sie expli- nämlich ist es Möbius, der geniale Physiker, der um-
zit kritisieren: Kardinäle kritisieren die Kirche, Kaiser sonst gemordet hat, um die Welt vor Schrecklichem zu
Romulus das Römische Reich, Staatsanwalt Mississip- bewahren. Seine vermeintlichen Weisheiten sind zwar
pi die Justiz, Physiker Möbius die Gefahren der Wis- zunächst eine Satire der Wissenschaft: »Entweder
senschaft. Seine Satiren befassen sich vorrangig mit bleiben wir im Irrenhaus, oder die Welt wird eines.
Religion, Gerechtigkeit und Wissenschaft und sind Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Men-
generell Satiren der Macht. Das Thema Religion, das schen aus, oder die Menschheit erlischt« (WA 7, 76).
Dürrenmatts frühe Prosa (von Weihnacht bis Pilatus) Aber der Zufall (in Gestalt der größenwahnsinnigen
stark geprägt hat, ist satirisches Angriffsziel seines ers- Ärztin Mathilde von Zahnd) lässt diese bessere Welt
ten veröffentlichten Stücks Es steht geschrieben (1947), als unverwirklichbar erscheinen, auch wenn sie vom
dessen Handlung er unter dem Titel Die Wiedertäufer Autor bis in die 1960er Jahre zumindest noch als Uto-
1967 neu aufgegriffen hat. In Es steht geschrieben ge- pie formuliert wird. Dürrenmatt hatte seine Satire
schieht der Angriff indirekt, durch Bockelsons gro- stark auf und um die Figur seiner ›mutigen Menschen‹
tesk-grausame Ausschweifungen als falscher Prophet gebaut. Doch im Laufe der Stücke scheint diese zen-
und Knipperdollincks lächerliches Scheitern in seiner trale konstituierende Figur der Satire schrittweise an
Suche nach einem verborgenen Gott. In den Wieder- Effizienz verloren zu haben: Romulus wollte ein gan-
täufern verzichtet Dürrenmatt auf Pathos und existen- zes Imperium zerstören, Übelohe den Glauben an die
tielle Fragestellungen und betont die Satire der Macht: Liebe retten, Akki sich nur in Sicherheit bringen, in-
Knipperdollinck kritisiert direkt die materielle Ver- dem er flieht, was Ill, der überhaupt kein Ideal mehr
96 Parodie/Satire/Groteske 355

formuliert, nicht mehr gelingt. Dürrenmatt hat in den vom Kippphänomen des Tragikomischen zu unter-
21 Punkten zu den ›Physikern‹ die Wirkungslosigkeit scheiden, mit dem es oft verwechselt wird, und um der
individuellen Handelns festgestellt: »Was alle angeht, ununterscheidbaren Mischung aus Tragischem und
können nur alle lösen« (Punkt 17, 92), »Jeder Versuch Komischen gerecht zu werden, auf die Dürrenmatt
eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, zurückgreift, wurde das Groteske ab 1992 anhand von
muß scheitern« (Punkt 18, 93). In der Folge verzichtet Dürrenmatts Theater erstmals als »Oszillation zwi-
Dürrenmatt darauf, mögliche Alternativen mit Hilfe schen einem tragischen und einem komischen Pol«
seiner Figuren zu formulieren und verabschiedet sich (Wellnitz 1999, 21) definiert.
immer mehr von den klassischen Gattungsmerkma- Für Dürrenmatt ist das Groteske ein Mittel, um
len der Satire. Die ›bessere Welt‹ muss im Bewusst- Distanz zu gewinnen. In seiner Anmerkung zur Komö-
sein seines Publikums entstehen. Protagonisten wie die (1952) hält er fest, er verwende das Groteske »eben
Doc in Der Mitmacher (1973) oder Goldbaum in Die der Distanz zuliebe, die nur durch dieses Mittel zu
Frist (1978) handeln nicht mehr, sondern werden schaffen ist« (WA 30, 24), und damit als Mittel, um sei-
agiert. Doc, der als Biologe zu den Ursprüngen des ne Zeit kritisch zu hinterfragen: »Das Groteske ist eine
Lebens geforscht hat, arbeitet an der Beseitigung Er- äußerste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen
mordeter; Goldbaum war so sehr auf das eigene und gerade darum fähig, Zeitfragen, mehr noch, die
Überleben konzentriert, dass er seine Folterer verges- Gegenwart aufzunehmen« (24 f.). Dürrenmatts Inten-
sen hat und schließlich selbst zum neuen Machthaber tion ist es, das Groteske als Mittel seiner Satire zu nut-
der Diktatur wird. Die klassische Satire scheint in zen, doch stellt sich ab Mitte der 1960er Jahre die Fra-
Dürrenmatts Werken ab Mitte der 1960er Jahre ihrer ge, ob es nicht zu einer gewissen Autonomie des gro-
Sprecher ledig geworden bzw. an die Grenze ihrer tesken Stils gekommen ist. Denn spätestens ab dem
Mitteilbarkeit gestoßen zu sein. Diese Unbestimmt- Stück Der Meteor (1966) ist nicht mehr eindeutig fest-
heit in der expliziten Aussage ist ein typisches Merk- stellbar, auf welches (satirische) Gegenbild Dürren-
mal des Grotesken. matt verweist. Weder ist dessen Protagonist Schwitter
ein ›mutiger Mensch‹, noch lassen sich hier und in
den folgenden Werken und deren ›ironischen Hel-
Groteske den‹, ›Clowns‹ oder ›Atlasfiguren‹ weiterhin Hinweise
auf eine ›bessere Welt‹ ausfindig machen.
Das Groteske ist eine Kategorie, die Dürrenmatt im- Besonders deutlich lässt sich der allmähliche Wan-
mer wieder bemüht hat, um seine eigene Ästhetik zu del des Grotesken vom Stilmittel zu einer übergreifen-
definieren. 1954 schrieb er im Essay Theaterprobleme: den Kategorie an Dürrenmatts veränderter Dialog-
»[D]as Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein gestaltung ablesen: In Der Besuch der alten Dame gibt
sinnliches Paradox, die Gestalt [...] einer Ungestalt, es zwar bereits die verdoppelten Aussagen der Diener
das Gesicht einer gesichtslosen Welt« (WA 30, 62). Ei- Claires, die die chorhaft werdende Sprache der Dorf-
nige Forscher (z. B. Schulte 1987) haben in der Folge bewohner kontaminieren bzw. zu »Stille« und »Schwei­
das Groteske bei Dürrenmatt schlicht auf Paradoxa re- gen« führen (WA 5, passim). Doch ist hier die sich aus-
duziert. Doch hat Dürrenmatt in der Tat eine dyna- breitende Lähmung durch die groteske Sprache noch
mischere Konzeption des Grotesken, dessen Unaus- quasi kontrapunktisch der Satire zugeordnet, um das
weichlichkeit er feststellt, da das Tragische als eigen- satirische Leitmotiv der Macht des Geldes zu betonen.
ständige Form heutzutage nicht mehr möglich sei Im Meteor entsteht durch eine starke Verknappung der
(s. o.): »Wir können das Tragische aus der Komödie Dialoge eine beklemmende Stille, an der alle zugrunde
heraus erzielen, hervorbringen als einen schreck- gehen – außer dem stets wiederauferstehenden Schwit-
lichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund« ter. Das allgemeine Sterben, begleitet vom dahinsie-
(WA 30, 63). Wolfgang Kayser hat sich direkt auf Dür- chenden Dialog, weist ins Leere. Im Mitmacher bleibt
renmatt bezogen (1957, 11), um das Groteske all- selbst Cops anarchistisches Morden ohne »objektive,
gemein als »entfremdete Welt« (ebd., 198) oder »Ge- gesellschaftsverändernde Auswirkungen« (s. Kap. 33).
staltung des ›Es‹« (ebd., 199) zu definieren. Doch ist In den experimentellen Werken Dürrenmatts (Play
das Groteske ursprünglich eine komplexe Gestal- Strindberg, Dichterdämmerung) wird das Kontrapunk-
tungsform der bildenden Künste, charakterisiert tische gegenüber dem Verstummen des ›eigentlichen‹
durch Mischphänomene, die Lachen und Schrecken Textes dominierend. In seinem Nachwort zu ›Porträt
erregen (vgl. Chastel 1997). Um es in der Literatur eines Planeten‹ räumt der Autor ein: »Die Spannung
356 V  Ästhetik und Poetik

zwischen den Sätzen ist mir wichtiger geworden als die Sekundärliteratur
Sätze selbst« (WA 12, 198). In Die Frist sieht man Arntzen, Helmut: Nachricht von der Satire. Einleitung zu
schließlich, dass das Kontrapunktische gedankenlee- einer Anthologie deutscher Satire des 20. Jahrhunderts.
In: Ders.: Literatur im Zeitalter der Information. Frank-
rer Sätze über Fußball sowie vor allem die »Gugus« furt a. M. 1971, 148–166.
und »Dadadas« der »Unsterblichen« (WA 15, passim) Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt. Visionen und
ohne jeden (satirischen) Bezugspunkt für Desorientie- Experimente. Göttingen 2017.
rung sorgen. »Zur Struktur des Grotesken gehört, dass Brummack, Jürgen: Zu Begriff und Theorie der Satire. In:
die Kategorien unserer Weltorientierung versagen« Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte 45 (1971), Suppl. 1, 275–377.
(Kayser 1957, 37).
Chastel, André: Die Groteske. Streifzug durch eine zügellose
Vom einfachen grotesken Stil seiner ersten Werke, Malerei. Berlin 1997 (frz. 1988).
die noch Satiren mit expliziten Hoffnungssignalen Grimm, Reinhold: Parodie und Groteske im Werk Friedrich
waren, ist Dürrenmatt so schrittweise zur Grotesken Dürrenmatts. In: Ders. (Hg.): Der unbequeme Dürren-
als Gattung übergegangen, die nur noch auf das Be- matt. Basel 1962, 71–96.
wusstsein seines Publikums setzen kann. Doch die sa- Heidsieck, Arnold: Das Groteske und das Absurde im
modernen Drama. Stuttgart 1969.
tirische Intention bleibt erhalten: Trotz des Wandels in
Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Male-
Stil und Gattung belegen einige späte Publikationen rei und Dichtung. Oldenburg 1957.
früher Textprojekte (wie 1985 der Roman Justiz, der Schulte, Vera: Das Gesicht einer gesichtslosen Welt. Zu Para-
ab 1959 entstand oder die Texte in Turmbau, Stoffe IV– doxie und Groteske in Friedrich Dürrenmatts dramati-
IX) und auch die sehr scharfen politischen Kritiken schem Werk. Frankfurt a. M. 1987.
kurz vor seinem Tod (etwa Die Dinosaurier und das Wellnitz, Philippe: Dürrenmatt und das europäische Thea-
ter. In: Schweizer Monatshefte 74 (1994), 6, 18–22.
Gesetz, FAZ, 21.12.1989), dass Dürrenmatt bis zuletzt Wellnitz, Philippe: Le théâtre de Friedrich Dürrenmatt. De
ein sehr engagierter Autor war. la satire au grotesque. Strassburg 1999.
Wellnitz, Philippe: Le grotesque chez Dürrenmatt. In: Jürgen
Literatur Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum.
Primärtexte Frankfurt a. M. 2004, 45–60.
Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72. Whitton, Kenneth S.: The Theatre of Friedrich Dürrenmatt.
A Study in the possibility of freedom. London 1980.

Philippe Wellnitz
97 Prozessualität 357

97 Prozessualität Frühe Stücke

Werk und Werkgenese Dürrenmatts frühe Stücke sind im Kontext des Un-
tergangs der alten Welt und ihrer Werte im Zweiten
Wer Dürrenmatts Texte verstehen will, wird immer Weltkrieg zu sehen. Sie versuchen, dieses Scheitern
die Frage klären müssen, auf welche Ausgabe er sich in grotesken Bildern christlicher Paradoxie zu zeigen.
bezieht. Frühere editorische Methoden vereinfachten Da diese Stücke als direkte christliche Botschaft miss-
dieses Problem durch die Privilegierung der Erstaus- verstanden wurden, zog der Autor sie aus dem Ver-
gabe oder der Ausgabe letzter Hand, oder sie postu- kehr. Sein Schaffen ist geprägt durch Urbilder, durch
lierten als Kriterium der Interpretation die Fiktion Mythen und Stoffe seiner Phantasie, die ihm erlau-
der Rekonstruktion einer Autorintention. Sein Werk ben, seinen Ängsten und Problemen und denen sei-
ist nicht – wie eine verbreitete Dürrenmatt-Einfüh- ner Zeit Ausdruck zu geben, indem er der bildlosen,
rung behauptet – »aus sich heraus verständlich« technisch geprägten Welt ein Gegenbild gegenüber-
(Goertz 1987, 128). Jeder literarische Text ist je nach stellt: das Labyrinth: »[Der Mensch] entdeckt es im-
Kunst-, Sprach- und Zeichenbegriffen, die seine Ge- mer wieder, es ist ein Urbild dessen, daß er in einer
nese und seine Rezeption bestimmen, verschieden zu Welt lebt, die er sich selber schafft und in der er sich
verstehen. Dürrenmatts Werk ist kein eindeutig be- nicht zurechtfindet« (G 3, 130). Der Schriftsteller ha-
stimmbares Objekt, sondern ein in verschiedenen be sich »die Stoffe nicht durch eine Dramaturgie zu
Formen sich dynamisch entwickelndes work in pro- verbauen, sondern jeden Stoff durch die dem Stoffe
gress, abhängig von den Wechselwirkungen seines gemäße Dramaturgie zu ermöglichen« (WA 32, 68).
Lebens, Denkens und Schreibens. Die Werkgenese Im Konflikt, ob er Dichter oder Maler werden solle,
zeigt die ›Verwandlung der Stoffe als Stoff der Ver- entschied er sich für die Schriftstellerei, im Bewusst-
wandlung‹ (Rusterholz/Wirtz 2000). Das Selbstver- sein, dass er ein Künstler sein wolle, der schreibend
ständnis verändert sich vom auktorialen Autor bis und malend die Bilder seiner Stoffe gestalte.
zur Erzählinstanz, die ihr Verhältnis zwischen Sub-
jekt und Objekt des Schreibens im Kontext sich ver-
ändernder Bedingungen von Produktion und Rezep- Mutige Menschen als Nachfahren des
tion reflektiert. heroischen Helden
Schon als Student distanzierte sich Dürrenmatt
von den literarischen Vorbildern seiner Jugend, die 1955 bestimmt er in Theaterprobleme die dramaturgi-
noch schrieben, als wären Weltkriege und Atombom- schen Formbegriffe Tragödie und Komödie (WA 30,
ben mit Stil zu bewältigen. Während seiner Studien in 31–72). Die reine Tragödie sei in unserem Zeitalter
Zürich betrachtete er sich als nihilistischen Dichter. nicht mehr möglich, da sie eine geordnete Welt vo-
Als Verfasser seiner ersten Stücke bekannte er sich zu raussetze, in der es Schuldige und Verantwortliche ge-
einem unkonventionellen Christentum. Dürrenmatt be. Unsere Welt aber sei grotesk, ein sinnliches Para-
hat in verschiedenen Phasen seines Lebens immer dox, die Gestalt einer Ungestalt, das Gesicht einer ge-
wieder Karl Barth gelesen, den bedeutendsten Vertre- sichtslosen Welt. Ihr komme in diesem Kehraus der
ter der sogenannten Dialektischen Theologie, und Sø- weißen Rasse nur noch die Komödie bei. Doch sei das
ren Kierkegaard, den Vater der dialektischen Exis- Tragische noch immer möglich; wir könnten das Tra-
tenzphilosophie (vgl. Rusterholz 2011, 3–30). Beide gische aus der Komödie heraus hervorbringen, denn
negieren die Möglichkeit der Äußerung objektiver – das sei eines seiner Hauptanliegen – es sei möglich,
Wahrheit durch direkte Mitteilung. Dürrenmatt er- »den mutigen Menschen zu zeigen«: »Der Blinde, Ro-
kennt schon, was er noch in Stoffe VIII (Vinter) bestä- mulus, Übelohe, Akki sind mutige Menschen. Die ver-
tigt: »Die Schriftstellerei und der Glaube sprechen die lorene Weltordnung wird in ihrer Brust wieder her-
gleiche Sprache«, die Sprache der indirekten Mittei- gestellt, das Allgemeine entgeht meinem Zugriff« (62
lung »in sich immer widersprechenden Gleichnissen« u. 63; s. Kap. 72). Akki in Ein Engel kommt nach Baby-
(WA 29, 227). Barths Dogmatik blieb ihm wichtig, lon (1953) ist zweifellos ein mutiger Mensch, der aber
auch als er sie nicht mehr nur als Möglichkeit der Be- in der modernen Welt keine Heimstatt hat und mit
gründung des Glaubens wahrnahm, sondern, je nach Kurrubi in die Wüste entschwindet. In der Erstfassung
Voraussetzung, als Konsequenz des Glaubens oder von Die Ehe des Herrn Mississippi spricht Übelohe von
des Atheismus las. sich als letzter Christ; am Schluss spricht er als Cer-

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U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_97
358 V  Ästhetik und Poetik

vantes’ Ritter von der traurigen Gestalt, als Figur einer Autobiografie seiner Stoffe (Probst 2008), ein work in
ewigen Komödie: »Daß aufleuchte Seine Herrlich- progress, das in seinen intra- und intertextuellen Bezü-
keit / genährt durch unsere Ohnmacht« (WA 3, 114). gen zu lesen ist. Die späteren Stoffe fungieren als Reso-
Ill in Der Besuch der alten Dame (1956) ist die drama- nanzraum der früheren, so z. B. Der Besuch der alten
tische Figur, die sich aus der Komödie tragisch ent- Dame in der Mondfinsternis (vgl. Weber 2007, 241–
wickelt; indem er seine Schuld bekennt, wird er zum 303) oder Die Dramaturgie des Labyrinths, die in die
Nachfahren des tragischen Helden, zum mutigen Binnenerzählung Der Winterkrieg in Tibet integriert
Menschen. Die tragische Komödie Die Physiker ist. Diese demonstriert die Vieldeutigkeit des Gleich-
(1962) zeigt das Bild der Möglichkeit des Untergangs nisbegriffs (vgl. Burkhard 2004, 102–172), indem der
der Menschheit, wenn kein von Menschen bestimm- Erzähler wechselnd aus den Perspektiven des Mino-
tes Schicksal noch eine göttliche Vorsehung regiert, taurus, des Theseus oder des Erbauers des Labyrinths
sondern die »schlimmstmögliche Wendung« (WA 7, erzählt. Die polyperspektivische Erzählweise hat auch
91) durch Zufall eintritt. Schon Der Meteor (1966) die Funktion der Leseanweisung. Die Strukturen des
stellt mit dem radikalen Nihilisten Schwitter den Sinn Erzählens provozieren die Lesenden zum Modus der
des christlichen Glaubens und die Funktion der Kunst dynamischen Interpretation, wie sie Dürrenmatt in
zur Debatte. In den frühen 1970er Jahren zeigen sich seinen poetologischen Reflexionen über das Gleichnis
Zeichen der Krise des Glaubens und Schreibens, entwickelt hatte. Der Autor zeigt den Lesenden mit
nachdem Dürrenmatt im Streit das Basler Theater ver- den sich verändernden Perspektiven nicht nur die Ge-
lassen hatte. Im April 1969 erlitt er einen Herzinfarkt. nese der Stoffe, sondern auch das Werden seines sich
Mit dem Misserfolg des Porträt eines Planeten (1970) wandelnden Ichs. – Die Stoffe präsentieren eine Ge-
glaubt er, »an die Grenze dessen vorgestoßen zu sein, schichte, die ihre Konstitutionsbedingungen reflek-
was eigentlich Theater vermag« (WA 12, 199). tiert und damit polyperspektivisch komponierte Mög-
lichkeiten der Deutung präsentiert, die den Autor im-
mer wieder zum Schreiben zwingen und die Lesenden
Versuch, (K)eine Autobiographie zu schreiben auffordern, mit dem Prozess der Lektüre immer wie-
– Ein neues Prinzip des Schreibens und Lesens der neu zu beginnen.

Der Misserfolg der Uraufführung seiner Komödie Der Literatur


Primärtexte
Mitmacher am 8.3.1973 im Zürcher Schauspielhaus Vinter. In: WA 29, 189–233.
stürzte Dürrenmatt in die tiefste Krise seines Lebens Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit. In: WA 32, 60–69.
und Schreibens: »Jetzt kannst du aufhören zu schrei- Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72.
ben, oder es geht dir eine Möglichkeit auf, wieder an- Der Mitmacher. WA 14.
ders zu schreiben« (G 2, 147). Diesen Schock verarbei-
tet er umfassend in Der Mitmacher. Ein Komplex (WA Sekundärliteratur
Burkhard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
14). Er zeigt die Wandlungen des Autors und seines Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
Selbstverständnisses, seine Entwicklung zum subjektiv hingers im Spätwerk. Tübingen 2004.
sich reflektierenden Schreiben unter dem Einfluss der Goertz, Heinrich: Dürrenmatt. Hamburg 1992.
wiederholten Kierkegaard-Lektüre, vor allem der Ab- Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich
schließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels. Paderborn
2008.
Philosophischen Brosamen (vgl. Weber 1996, 65–78).
Rusterholz, Peter: Vom ›Werk‹ zur Intertextualität der Stoffe.
Reflektiert wird insbesondere die Bedeutung der Friedrich Dürrenmatts Wandlung. In: Zeitschrift für
Hauptfigur Cop, sein Verhältnis zum mutigen Men- Semiotik 24 (2002), 295–302.
schen und seine Qualität als ironischer Held, der sei- Rusterholz, Peter: Dürrenmatt, Barth und Kierkegaard. In:
nen Widerstand gegen das korrupte System nur gel- Véronique Liard, Marion George (Hg.): Dürrenmatt und
tend machen kann, indem er »eine Weltsekunde lang die Weltliteratur. München 2011, 3–30.
Rusterholz, Peter/Wirtz, Irmgard: Die Verwandlung der
dem fatalen Abschnurren der Geschäfte Einhalt zu ge- Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürrenmatts
bieten« vermag (WA 14, 203). Der Autor erfährt und Spätwerk. Berlin 2000.
versteht sich nicht nur als Subjekt und Objekt des Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
Schreibprozesses; er erinnert sich ungeschriebener der Mitmacher-Krise. Frankfurt a. M. 2007.
Stoffe und ›rekonstruiert‹ sie so, dass ein neues Werk Peter Rusterholz
entsteht: die Stoffe. Er schreibt eine Autobiografie bzw.
98  Schlimmstmögliche Wendung 359

98 Schlimmstmögliche Wendung Paradoxie bzw. in die Komödie und eröffnet als Peri-
petie das tragisch-komische Ende des Helden. Dür-
Die ›schlimmstmögliche Wendung‹ ist die wahr- renmatt illustriert diesen Zusammenhang exempla-
scheinlich am häufigsten zitierte Formulierung Dür- risch am Beispiel des Arktis-Forschers Robert F.
renmatts. Er entwickelte das betreffende poetologi- Scott, der bei seiner Expedition im ewigen Eis erfror.
sche Programm parallel zur Arbeit an den Physikern Sein Schicksal entspreche grundsätzlich dem Gestus
und verwendete die Prägung erstmals 1962 in den der Tragödie: Shakespeare hätte es wohl »in der Weise
21 Punkten zu den ›Physikern‹ (WA 7, 91–93): »Eine dramatisiert, daß der tragische Untergang des großen
Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ih- Forschers durchaus dessen Charakter entsprungen
re schlimmstmögliche Wendung genommen hat« wäre«; denkbar sei aber auch eine Dramatik, »die
(Punkt 3; 91). Die griffige Rhetorik der Radikalität Scott beim Einkaufen der für die Expedition benötig-
(›schlimmst‹, ›zu Ende gedacht‹) mag zum Erfolg der ten Lebensmittel aus Versehen in einen Kühlraum
Formel beigetragen haben. Da sie schnell zum inter- einschlösse und in ihm erfrieren ließe« (WA 10, 127).
pretatorischen Generalschlüssel wurde und gelegent- Dieser Tod im Eis macht aus der tragischen eine ko-
lich auch als – nur bedingt treffendes – Kürzel für das mische Gestalt: »Die schlimmstmögliche Wendung,
Gesamtwerk fungiert, muss zunächst ihr spezifischer die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wendung in
dramentheoretischer wie dramaturgischer Ort geklärt die Komödie« (128).
werden. Auf dieser Grundlage ist dann exemplari-
schen literarischen Figurationen wie theoretischen
Explikationen des Autors Rechnung zu tragen. Figurationen und Explikationen

Im Kontext der Physiker verknüpft Dürrenmatt die


Dramentheoretische und dramaturgische Formel unmittelbar mit der Idee einer elementaren
Bedeutung Wirksamkeit des Zufalls (s. Kap. 84): »Die schlimmst-
mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt
In den 1967 veröffentlichten Dramaturgischen Über- durch Zufall ein.« »Die Kunst des Dramatikers besteht
legungen zu den ›Wiedertäufern‹ (WA 10, 127–137) darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirk-
ordnet Dürrenmatt das Prinzip der schlimmstmögli- sam einzusetzen« (Punkte 4 und 5 der 21 Punkte; WA
chen Wendung ausführlich in die betreffenden Kon- 7, 91). Daraus ergibt sich sowohl eine poetisch-funk-
texte ein und zeigt, wie es mit seinem Verständnis tionale als auch eine inhaltliche Interpretation der For-
der Komödie und des Welttheaters zusammenhängt mel. Poetisch-funktional fungiert sie im Sinne einer
(s. Kap. 93, 99). Wie die meisten Dramatiker des Pointe. Die Peripetie ist nicht voraussehbar und tritt
20. Jahrhunderts geht er davon aus, dass die klassi- für den Zuschauer überraschend und damit distanzie-
sche aristotelische Tragödie den kathartischen Effekt rend ein. Die inhaltliche Interpretation lässt sich an
nicht mehr erreichen kann, da die Zuschauerinnen der Physiker-Figur Möbius illustrieren: Sein an sich
und Zuschauer »der Bühne ihre Illusionen nicht souveränes Kalkül, die Weltformel vor der Welt zu ver-
mehr so recht glauben« würden (130). Daher auch stecken, indem er sich durch vorgetäuschten Wahn in
setzt er auf die Komödie und das Komische, denn »ob die Freiheit der psychiatrischen Gefangenschaft ent-
das Komische erfunden oder wirklich sei, wir müssen zieht, kann und wird nur am Zufall scheitern. Dieser
gleichwohl lachen« (132). Dürrenmatts Komödien- besteht in der zufälligen Begegnung mit der effektiv
auffassung zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie geisteskranken Anstaltsleiterin Mathilde von Zahnd
nicht auf die Identifikation mit den Figuren setzt, (vgl. auch Punkt 7, 91), die sich die Formel aneignet.
sondern die Zuschauer durch die Eigenschaft des Ko- Von dieser inhaltlichen Interpretation versucht sich
mischen vom Gegenstand ›wegtreibt‹ und Distanz Dürrenmatt später jedoch zu distanzieren. Das ge-
zum Geschehen aufbauen lässt (vgl. ebd.; Allemann schieht u. a., wenn er im extensiven Nachwort zum
1969, 207). Seine Form des Welttheaters besteht ent- Mitmacher eine theoretische Explikation gibt, die die
sprechend darin, dass die Figuren meist tragisch en- Wendung in Hinsicht auf das Ende/Zu-Ende-Denken
den, die Handlung qua ihrer Komik aber Distanz zu hin akzentuiert. In ausdrücklicher Bezugnahme auf
diesen aufbaut. In diesem Zusammenhang spielt die das mögliche ›Hereinfallen‹ eines Kritikers auf »mei-
›schlimmstmögliche Wendung‹ eine entscheidende nen Ausspruch in den Physikern« (d. h. jenen zitierten
Rolle: Sie markiert die Wendung der Handlung in die Punkt 3) profiliert Dürrenmatt sein Programm inner-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_98
360 V  Ästhetik und Poetik

halb des »alten Gegensatz[es] zwischen einem logi- die schlimmst- wie die bestmögliche Wendung zitiert
schen System und der Existenz« (WA 14, 188). In po- (WA 9, 145 u. 147 u. 153); der Autor spielt mit seinem
sitiver Aufnahme der Kritik am Nicht-zu-Ende-ge- eigenen Spielprinzip. Der zelebrierte Schluss demons-
dacht-Haben (nämlich der Position Brechts) betont er, triert in seiner Mehrstufigkeit gleichsam, dass es im-
dass logische Systeme – die Mathematik, die christliche mer noch schlimmer geht: Nachdem das Bühnen-
Dogmatik, der Marxismus – durchaus »annähernd« geschehen in einem schwarzen Loch verschwunden
(188) zu Ende gedacht werden könnten, nämlich bis ist, kollabiert schließlich auch der institutionelle Rah-
zur Bloßlegung ihrer »Unstimmigkeiten« (189). Dieser men des Theaterbetriebs.
Versuch wird dann anhand der auch andernorts rele-
vanten Schachspiel-Metapher (s. Kap. 79) illustriert:
»Ich strebe mit meinem Endspiel das schlimmstmögli- Zur Forschung
che Ende an, das Schachmatt, während andere nur das
Patt suchen« (ebd.). Das schlimmstmögliche Ende zei- Peter Rüedi hat mit Nachdruck betont, dass Dürren-
ge insofern »nur die Denkrichtung« seiner Arbeit an, matts »geflügeltes Wort« (Rüedi 2011, 522) ungünstig
sage aber nichts über seine »Existenz« aus, seine auf den Autor zurückgefallen sei: Die Physiker stellten
»Schuld oder Nichtschuld« (ebd.). als paradoxe »aristotelische Komödie« einen »Aus-
Ein weiterer Bezugspunkt zur Explikation der For- nahmefall« (ebd., 523) dar; es sei verfehlt von ihm
mel liegt im Wahrscheinlichkeitskalkül, das im Ereig- bzw. den zugehörigen apodiktischen 21 Punkten auf
nis des Unfalls seine negative Konkretion findet. Die Dürrenmatts Dramaturgie an sich zu schließen. Die
entsprechenden Überlegungen finden sich in den Sät- schlimmstmögliche Wendung fungiert demnach le-
zen über das Theater (1970; WA 30, 176–211) und da- diglich als ein Instrument dramatischer Ökonomie
mit im Kontext von weiträumigen Erwägungen zum unter anderen. Gegen entsprechende Generalisierun-
Verhältnis von (dramatischer) Fiktion und Wirklich- gen schärft Ulrich Weber gleichfalls den technischen
keit. Anhand eines eigenen Autounfalls entwickelt Aspekt der Formel ein und grenzt sie von einem »pes-
Dürrenmatt eine ›Dramaturgie des Unfalls‹ (vgl. 204), simistische[n] Glaubensbekenntnis« ab (Weber 2003,
die mit der einprägsamen These einhergeht, die Wirk- 21). Wie sich in der Beziehung zum Wahrscheinlich-
lichkeit sei »die Unwahrscheinlichkeit, die eingetreten keitsdenken andeutet, hat die Formel eine Nähe zu
ist« (205). Die Wirklichkeit wird dabei als ›ontologisch‹ technischen worst case scenarios, die freilich lustvoll
vom »logischen« (209) Bereich der Fiktion abgegrenzt: ausgemalt werden. Während die Formel, wie Schu
Die Schramme wird in der fiktionalen Logik zum »töd- zeigt, auch als Interpretament textimmanenter Dar-
lichen Unfall«: »Nur so bekommt meine gedankliche stellung »deformierter Weiblichkeit« fungieren kann
Fiktion auch eine ›existentielle‹ Berechtigung. Wir sind (2007, 659–676, v. a. 672–674), stehen ausführlichere
als Menschen auch existentiell vom Schlimmstmögli- Aneignungen im weiteren Kontext der Risikofor-
chen bedroht, nicht nur von der Atombombe, sondern schung noch aus (vgl. aber Haller 2004). Ausstehend
auch von der schlimmstmöglichen Gesellschaftsord- sind erstaunlicherweise auch Überlegungen zur Dia-
nung, oder von der schlimmstmöglichen Ehe« (ebd.). lektik und Perspektivität, die die Formel begleiten:
Im Kontext von Überlegungen zur Rationalität der Jenseits des unwahrscheinlichen bestmöglichen Aus-
Mythen gibt das Wahrscheinlichkeitskalkül Dürren- gangs, der von Dürrenmatt thematisiert wird, steht
matt darüber hinaus Anlass, das Gegenprinzip der die fallbezogene Dialektik. Am Beispiel der Physiker:
bestmöglichen Wendung zu thematisieren. Mit der er- Dass die schlimmstmögliche Wendung für Möbius
wartbaren Gewichtung: »Die bestmögliche Wendung wenn nicht mit der bestmöglichen, so doch mit einer
ist ebenso logisch wie die schlimmstmögliche, wenn positiven für Mathilde von Zahnd korrespondiert,
auch die unwahrscheinlichere. Wir sind nun einmal zeigt das Primat dieser Figur und nicht jener.
kosmische Pechvögel. [...] Wer die schlimmstmögliche
Wendung wählt, warnt, wer die bestmögliche Wen- Literatur
Primärtexte
dung bevorzugt, hofft. [...] Das Prinzip Hoffnung ist Boss. Zu Ende denken. In: WA 14, 187–190.
allzuoft eine denkfaule Schlamperei« (WA 37, 12). Dichterdämmerung. Eine Komödie. In: WA 9, 97–156.
Vor diesem verzweigten Hintergrund erstaunt es Dramaturgische Überlegungen zu den ›Wiedertäufern‹. In:
kaum, dass die Formel im metadramatischen Spät- WA 10, 127–137.
werk auch in Primärtexten auftaucht. Im Katastro- 21 Punkte zu den ›Physikern‹. In: WA 7, 91–93.
Sätze über das Theater. In: WA 30, 176–211.
phenstück Dichterdämmerung (UA 1987) wird ebenso
98  Schlimmstmögliche Wendung 361

Sekundärliteratur uploads/2019/09/2004_Abschiedsvorlesung_Matthias_
Adams, Dale: Chaos, Zufall und Mathematik. Friedrich Haller_Universitiaet_St.Gallen_Duerrenmatt.pdf
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desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen«. matt Neuchâtel (Hg.): Dürrenmatts Endspiele (Cahier 7).
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St. Gallen. In: https://www.risiko-dialog.ch/wp-content/
Andreas Mauz / Philip Schimchen
362 V  Ästhetik und Poetik

99 Welttheater eröffnet der Komödie Möglichkeiten – für den Autor


und das Publikum. Indem er in der Entwicklung sei-
1988 stellt Dürrenmatt rückblickend fest: »Ich ver- ner Komödien das Vorstellungsbild des Welttheaters
suchte über vierzig Jahre Welttheater zu schreiben« mitnimmt, grundiert und kontextualisiert er den dra-
(Nachwort zu ›Achterloo IV‹; WA 18, 541). Auf dieses maturgischen Einfall für die Figuren in einem durch
Modell des ›Welttheaters‹ rekurriert er apologetisch Ort und Rolle abgesteckten Handlungsspielraum.
nämlich bereits 1952 als Kritiker einer Zuckmayer- Dieser mitunter ›tragischen‹ (WA 5) oder – so im Un-
Inszenierung: »Das Theater bedeutet immer noch die tertitel von Romulus der Große (WA 2) – ›ungeschicht-
Welt und folglich der Fröhliche Weinberg – auch die- lich historischen Komödie‹ schreibt Dürrenmatt die
ses Stück – ein Welttheater« (WA 31, 82). Damit be- Wirkung zu, die Welt in eine Komödie zu verwandeln,
ruft er sich auf das reziproke Vorstellungsbild der und hält damit am reziproken Verhältnis von Welt
Welt als Theater und des Theaters als Welt, des Lebens und Theater des Vorstellungsbilds ›Welttheater‹ fest.
als eines Stücks und des Menschen als eines Darstel- In seinen Erfolgskomödien Der Besuch der alten
lers, das in Shakespeares Dramen ebenso wirksam ist Dame (1955/56) und Die Physiker (1961/62) steht der
wie in Calderóns Welttheater. Letzteres liefert seit Jo- Ort der Handlung gleichnishaft für die Welt: das Dorf
seph von Eichendorffs Übersetzung noch bis ins und die Irrenanstalt. Die Geschlossenheit des Orts be-
20. Jahrhundert vielen Inszenierungen den gültigen günstigt die wirkungsvolle Durchführung des Ein-
Text (u. a. ›Einsiedler Welttheater‹). Das Welttheater falls. Sind die Figuren in Der Besuch der alten Dame
exponiert die Vertreter der ständischen Gesellschaft durch ihre Rollen im Dorf sozial determiniert, so ha-
in ihrem durch den göttlichen Heilsplan vorbestimm- ben die Figuren in Die Physiker eine Rollengewandt-
ten Lebenszyklus. Die Frage nach dem richtigen Le- heit und verfügen über mehrere Rollen gleichzeitig:
ben angesichts des Todes bleibt im 20. Jahrhundert Wahnrollen, Spielrollen und die sozialen Rollen ihrer
verinnerlicht ins Individuum im Jedermann-Spiel er- Herkunft als Ergebnis ihrer Sozialisation. Die Ver-
halten (Hugo von Hofmannsthal) oder wird gar in- wendung von Rollen wird hier mit der Demaskierung
tensiviert, wenn der Plan und die Rollen wie in den analytisch als Spiel im Spiel enthüllt, womit die Scha-
Endspielen Samuel Becketts, Eugène Ionescos und rade zum Thema des Stücks wird.
Thomas Bernhards fehlen. Mit den Übungsstücken für Schauspieler (WA 12)
Dürrenmatt entwickelt seine Dramaturgie des sprengte Dürrenmatt 1970 erstmals die in den Er-
Welttheaters von seinen Anfängen in der Komödie folgskomödien noch ironisch eingehaltenen aristote-
bis zu seinem Essay Abschied vom Theater (WA 18, lischen Einheiten von »Bühne, Stoff und Form« (WA
568–586), nicht aber in seinen dramaturgischen 30, 190) (Ort, Handlung und Zeit) und die mimeti-
Schriften. Die Komödien verlaufen nicht nach der sche Handlung: In Porträt eines Planeten stellt er den
Vorsehung eines göttlichen Heilsplans, sondern sie Planeten Erde unter das naturwissenschaftliche Ge-
folgen einem auktorialen Einfall, was sie von der setz der Wahrscheinlichkeit und verweist indirekt auf
nachahmenden, auf die Wirklichkeit oder den My- den Schöpfungsplan, indem seine Figuren aus der
thos bezogenen Tragödie unterscheidet (vgl. WA 30, Schöpfungsgeschichte und dem Alten Testament
185 u. 189). Seine Figuren sind die Darsteller dieses kommen. Sie sind also mythische Figuren, die ihre
Einfalls. Ihre Funktionen sind so typisiert wie die Rol- Rollen selbst wählen und alle Gott spielen wollen, in
len im modellgebenden Welttheater: In seiner ersten komischer Verkehrung der Ausgangslage des Welt-
Komödie, einem düsteren Nachkriegsstück – später theaters. Ihr Spielgrund ist die Erde im unbegrenzten
publiziert als Untergang und neues Leben (WA 1, 260– Universum. Zwar verstehen sie die Erde als Chance
294) – begegnen sich Soldat und Fremder, Fremder und schlittern dennoch ohne Plan und Ziel unter dem
und Hure, Fremder und General, Junge und Henker. Gesetz der ›schlimmstmöglichen Wendung‹ in den
Ihr Interesse füreinander besteht nur angesichts des Untergang. Das Porträt ist ein Gleichnis des mensch-
Todes; sie stellen dar, was ihnen nach dem Krieg ge- lichen Daseins angesichts der Katastrophe.
blieben ist. Dürrenmatt überdenkt am Ende des Kal- Dürrenmatts letzter Versuch, das Dispositiv ›Welt-
ten Krieges die drastischen Mittel der Politik und der theater‹ umzusetzen, sind die Bearbeitungen von Ach-
Medien in ihrer radikalen Konsequenz in Hinblick terloo I bis IV. In der ersten Fassung wird die Einheit
auf den Einzelnen. von Zeit und Ort scheinbar aufgehoben. Das meta-
Dürrenmatts dramaturgischer Aufbruch von ei- reflexive Theater (Klimant 2014) stellt eine zweite
nem nachahmenden zu einem darstellenden Theater Bühne auf die Bühne und präsentiert die Schauspieler

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_99
99 Welttheater 363

als Darsteller historischer und fiktiver Personen im zogen, die mit dem Abschied von der mimetischen
Vergleich zu ihren Vorläufern in Film und Theater. hin zur metareflexiven Dramaturgie im Porträt eines
Aus aktuellem Anlass fragt Dürrenmatt hier nach der Planeten und in Achterloo um den Preis der Spielbar-
Notwendigkeit des Verrats in der Politik; er reagiert keit aufgegeben wird. Die jüngere Forschung von
auf die Verhängung des Kriegsrechts durch den pol- Cuonz (2018) betrachtet die Spielform der Komödie
nischen Ministerpräsidenten Wojciech Jaruzelski als an der Grenze zur Katastrophe (Romulus der Große)
Antwort auf die erstarkende Gewerkschaftsbewegung als Voraussetzung für das Rollenspiel oder für die Be-
›Solidarnosz‹ (1981–1983): General Bonapartes Ge- wältigung der Schuld- und Schuldenproblematik in
genspieler sind Jan Hus und Woyzeck und seine Toch- Frank der Fünfte. Nur Dedner (2003) lässt sich auf das
ter Marion, andere Figuren aus verschiedenen histori- Spiel im Spiel und die Dynamik der multiplen Rollen
schen Epochen (Benjamin Franklin, Kardinal Riche- ein, die im Welttheater stabilen Verläufen folgen. Die-
lieu, Robespierre) treten angesichts der Staatskrise als se sind in Dürrenmatts Spätwerk nicht gewährleistet;
Verräter und Verbündete auf. Die Handlung wird am die Grenzen der Darstellbarkeit bedeuten Dürren-
Schluss als entgleistes Rollenspiel in einer psychiatri- matts Abschied vom Theater.
schen Anstalt aufgelöst und führt so wieder an einen
Ort zurück. Literatur
Primärtexte
Die ausführliche protokollierte Besprechung des Achterloo I. Rollenspiele. Achterloo IV. WA 18.
Misserfolgs von Achterloo I mit Charlotte Kerr ent- Anmerkungen zur Komödie. In: WA 30, 20–25.
zündet sich an der Frage nach dem Leiter dieser Rol- Der Besuch der alten Dame. WA 5.
lentherapie. In der weiteren Bearbeitung werden die Die Physiker. WA 7.
Rollen klarer ausdifferenziert: Jeder Darsteller verfügt Porträt eines Planeten. In: WA 12, 95–201.
Sätze über das Theater. In: WA 30, 176–211.
neben der Wahnrolle über eine Spielrolle, die zwi-
Untergang und neues Leben. In: WA 1, 259–294.
schen Person und Wahn vermitteln könnte (Dedner ›Der fröhliche Weinberg‹. Lustspiel von Carl Zuckmayer. In:
2003, 267). Diese unterschiedlichen Rollen einer Fi- WA 31, 80–82.
gur stehen in Achterloo III in einem Verhältnis von Rede zu Verleihung des Ehrendoktorats. In: Hommage à
Analogie und Kritik zueinander: Wie im Welttheater Friedrich Dürrenmatt à l’occasion de son 60e anniversaire
sind die Figuren durch ihre Präfigurationen definiert, et de la collation du titre de docteur honoris causa. Neu-
châtel 1981, 25–30.
mythisch, kulturell oder historisch. Das Zusammen-
spiel ihrer unterschiedlichen Handlungskonzepte Sekundärliteratur
wird nicht durch einen Plan, sondern durch die Figu- Cuonz, Daniel: Die Sprache des verschuldeten Menschen.
ren, und hier neu durch die Wahnrolle Büchners als Literarische Umgangsformen mit Schulden, Schuld und
Ko-Autor Dürrenmatts, geleitet. Achterloo überblen- Schuldigkeit. Paderborn 2018, 303–323.
det in multiplen Rollen historische Zeiten und fragt Dedner, Ulrike: Deutsche Widerspiele der Französischen
Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im
nach den Wirkkräften zwischen der Existenz des Ein- selbstbezüglichen Spiel von Goethe bis Dürrenmatt.
zelnen und den Instanzen der Macht im Moment der Tübingen 2003, 261–297.
Revolution. Freund, Winfried: Modernes Welttheater. Eine Studie zu
Dürrenmatt lokalisiert sein Welttheater im Dorf Friedrich Dürrenmatts Komödie Der Meteor. In: Literatur
oder in der psychiatrischen Anstalt. Das betrifft nicht in Wissenschaft und Unterricht 6 (1973), 110–121.
Klimant, Tom: Dürrenmatts Transzendentaldramaturgie.
nur seine ›Übungsstücke‹, sondern gerade auch seine
Die Achterloo-Varianten (1982–1988) als Beitrag zur Aus-
Meisterdramen Der Besuch der alten Dame und Die einandersetzung zeitgenössischer Dramaturgie mit radi-
Physiker. Die Diskussion von Dürrenmatts Weltthea- kal konstruktivistischen Denkfiguren. Berlin 2014.
ter hat sich bis zu Der Meteor (Freund 1973) auf die
gleichnishafte Darstellung der Welt auf der Bühne be- Irmgard M. Wirtz
VI  Rezeption und Wirkung
A Generelles

100 Nachlass und Institutionen vervollständigen den literarischen Nachlass. Das


Schwergewicht der überlieferten Manuskripte liegt
Der literarische Nachlass im auf den Vorfassungen und Überarbeitungsstufen der
Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) publizierten Texte, die vor allem in den späten Jahren
systematisch aufbewahrt und archiviert wurden. Der
Friedrich Dürrenmatt starb am 14.12.1990. Am Nachlass bietet jedoch auch eine Reihe zu Lebzeiten
11.1.1991 fand die öffentliche Trauerfeier im Berner unpublizierter Texte, hauptsächlich Fragmente, die in
Münster statt. Gleichentags wurde auf der anderen der Zwischenzeit zu großen Teilen vom Diogenes Ver-
Seite der Kirchenfeldbrücke, über die der Autor als lag veröffentlicht wurden (s. u.).
Student oft gegangen war, das Schweizerische Litera- Bedeutender als bei einem zu erwarten, dem nicht
turarchiv (SLA) eröffnet, dessen Gründung auf Dür- ganz zu Unrecht nachgesagt wurde, er beantworte
renmatts Initiative bzw. das Angebot der Schenkung prinzipiell keine Briefe, ist die Korrespondenz. Im
seines Nachlasses zurückging (vgl. von Matt 2011). Nachlass finden sich ca. 15.000–20.000 Briefe an den
Dieser traf wenige Wochen später aus Neuchâtel ein. Autor. Es handelt sich bis auf wenige Ausnahmen um
Das SLA, das heute rund 400 Nachlässe von Autorin- Einzelbriefe, nur in den wenigsten Fällen kam es zu ei-
nen und Autoren aus allen Schweizer Landessprachen gentlichen Briefwechseln. Unter den Absenderinnen
zu seinen Beständen zählt, hielt für seinen geistigen und Absendern finden sich Namen wie Heinz Ludwig
Gründer stets einen Ehrenplatz bereit und investierte Arnold, Peter Brook, Paul Celan, Federico Fellini,
viel Energie in die Erschließung und Vermittlung des Gottfried Bermann Fischer, Paul Flora, Max Frisch,
Dürrenmatt-Bestandes. Das ausführliche Inventar Stefan Heym, Wolfgang Hildesheimer, Rolf Hoch-
steht heute in doppelter Form online zur Verfügung, huth, Walter Höllerer, Ephraim Kishon, Hans Mayer,
einerseits in der Datenbank HelveticArchives, ande- Walter Mehring, Paul Nizon, Fritz J. Raddatz, Marcel
rerseits in Form einer HTML-Präsentation auf der Reich-Ranicki, Hans Werner Richter, Tuvia Rübner,
Webseite des Archivs. Gershom Scholem, Alexander Sinowjew, Tomi Unge-
Der literarische Nachlass präsentierte sich bereits rer, Siegfried Unseld, Jef Verheyen, Martin Walser, La-
bei der Übergabe als zu großen Teilen wohlgeord- zar Wechsler, Lina Wertmüller und Carl Zuckmayer.
netes, über lange Jahre dank der Zuverlässigkeit der Zwar trifft es zu, dass die Briefe Dürrenmatts ab
Sekretärinnen und Dürrenmatts Ordnungssinn syste- Mitte der 1950er Jahre sehr selten werden, aber aus den
matisch aufgebautes Privatarchiv. Den Kern des Nach- ersten Jahren der schriftstellerischen Arbeit sind recht
lasses bilden die große Manuskripte-Sammlung (rund umfangreiche Briefwechsel und -sammlungen vor-
siebzehn Laufmeter) und die Korrespondenz (sechs handen, die wichtige Aufschlüsse über die Entwick-
Laufmeter). Hinzu kommen einzelne persönliche Do- lung des Autors geben: Ein Dossier mit Briefen an die
kumente und Objekte: Reisepässe und weitere Aus- Eltern – von der Kindheit bis zur Studienzeit – zeigt
weise, Ehrungsurkunden, aber auch die biografisch etwa Dürrenmatts frühe Hinwendung zur Kunst und
wertvollen Taschenkalender, in welchen Dürrenmatt widerspiegelt den Loslösungsprozess. Der Briefwech-
seit 1947 knapp über die schriftstellerische Arbeit sel mit dem Jugendfreund Eduard Wyss beleuchtet vor
Buch führte. Eine umfangreiche Dokumentation zu allem die Entstehung der frühen Prosa und den plötz-
Dürrenmatts Leben und Werk und zur Rezeption (Fo- lichen Entschluss, Schriftsteller zu werden und – damit
tomaterial, eine Sammlung von Kritiken, Rezensio- zusammenhängend – zu heiraten. Derjenige mit dem
nen und Interviews, Programmhefte, Theaterplakate, Theaterintendanten, Regisseur und Schauspieler Kurt
Ton- und Videobänder usw.) und die Privatbibliothek Horwitz zeigt die dramatischen Anfänge und das

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_100
368 VI  Rezeption und Wirkung – A Generelles

Scheitern am großen Projekt eines Dramas über den Das schwerpunktmäßige Interesse am Nachlass
Turmbau zu Babel, aber auch die Ernsthaftigkeit von liegt einerseits in der biografischen Forschung (vgl.
Dürrenmatts Ringen mit der Religion. Ebenfalls ist die Rüedi 2011; Planta u. a. 2011; Weber 2020), anderer-
spannungsreiche Freundschaft und Rivalität mit Max seits – an das Projekt von Rusterholz und Irmgard
Frisch in einem Bündel Briefen dokumentiert, von Wirtz anschließend – in der Untersuchung der Manu-
dessen erstem Brief nach der Lektüre des Manuskripts skripte unter textgenetischen Gesichtspunkten. So
von Dürrenmatts Erstling Es steht geschrieben (1947) entstanden anhand der Manuskripte verschiedene
bis zum letzten Verständigungsversuch Dürrenmatts Dissertationen, die methodisch der Schreibprozess-
im Jahr 1985 (vgl. Briefwechsel Frisch/Dürrenmatt forschung verpflichtet sind (Auge 2004; Burkard 2004;
1998). Der Briefbestand hat sich mit den Jahren ver- Weber 2007; Probst 2008).
mehrt. So konnten 2013 etwa die wichtigen Briefe Mit der Hybrid-Edition des Stoffe-Projekts, die vom
Dürrenmatts an den israelischen Schriftsteller Tuvia Literaturarchiv und dem Diogenes Verlag in Koope-
Rübner erworben werden, und im gleichen Jahr wur- ration herausgegebenen wird, tritt die Vermittlung in
den dem SLA die lange verschollenen Briefe Dürren- eine neue Phase: Erstmals wird damit ein großer Be-
matts an seine erste Frau Lotti übergeben, die bisher stand an Dürrenmatt-Manuskripten online frei zu-
unbekannte Züge dieser Beziehung aufzeigen. gänglich für die Forschung.
Bestandteil des literarischen Nachlasses ist auch die
Autorenbibliothek im Umfang von knapp 9000 Bü-
chern, die im Rahmen eines Projekts katalogisiert und Das Centre Dürrenmatt Neuchâtel (CDN)
exemplarspezifisch mit dokumentierten Widmungen
und Annotationen erschlossen wurde. Dabei zeigt Ist das SLA das Zentrum der Erforschung von Dür-
sich die vor allem für das Spätwerk enge Verflechtung renmatts literarischem Werk, so ist das Centre Dür-
von Lektüre- und Schreibprozess – beispielsweise bei renmatt Neuchâtel (CDN) das Zentrum der breiten-
den Spuren der Relektüre der Werke Nietzsches 1978 wirksamen öffentlichen Erinnerung und der Aus-
und der Montage von Nietzsche-Zitaten in die zur einandersetzung mit dem Bildwerk. Es hat seine eige-
gleichen Zeit entstehende Stoffe-Erzählung Der Win- ne Entstehungsgeschichte im Zusammenhang mit
terkrieg in Tibet (vgl. die Dokumentation in S 5). Die dem Nachlass Dürrenmatts: Von der Schenkung an
Bibliothek befindet sich physisch nach wie vor an ih- die Eidgenossenschaft, die zur Gründung des SLA
rem originalen Standort in Dürrenmatts Wohnhäu- führte, war das umfangreiche Bildwerk (bis heute sind
sern in Neuchâtel. gegen 1500 Bilder bekannt) ausgenommen, das Dür-
Ein wichtiges Element des Nachlasses sind auch die renmatt zu Lebzeiten trotz einiger Ausstellungen weit-
Sammlungen zur Publikation und Rezeption von Dür- gehend als Privatsache behandelt hatte (s. Kap. 61). Es
renmatts Werk. Sie bestehen aus zahlreichen Film- ging in den Besitz der Friedrich Dürrenmatt-Stiftung
dokumenten (Verfilmungen, TV-Gespräche etc.), ei- ein, die eigens zum Zweck gegründet wurde, für eine
ner umfassenden Pressedokumentation, dazu Theater- permanente Zugänglichkeit dieses Werks zu sorgen.
Programmheften, Theater-Plakaten und nicht zuletzt Zehn Jahre nach Dürrenmatts Tod wurde daher vor
über 2000 Fotografien, die von Familienfotos über pro- allem auf die Initiative von Dürrenmatts zweiter Frau
fessionelle Porträts bis zu Theateraufnahmen von den Charlotte Kerr hin eine weitere Bundesinstitution ge-
meisten Uraufführungen reichen. gründet: das CDN. Die Friedrich Dürrenmatt-Stif-
Das Schweizerische Literaturarchiv beteiligte sich tung löste sich mit der Gründung des CDN und der
von Anfang an aktiv an der Vermittlung von Dürren- damit gegebenen Erfüllung des Stiftungszwecks auf
matts literarischem Nachlass. 1994 stellte es diesen pa- und übergab das Bildwerk an die Schweizerische Eid-
rallel zu einer Ausstellung des Bildwerks im Kunst- genossenschaft. Charlotte Kerr schenkte dieser im
haus Zürich aus – begleitet von einem gemeinsamen gleichen Zug Dürrenmatts 1952 erworbenes Wohn-
Katalog (Schweizerisches Literaturarchiv/Kunsthaus haus. In verschiedenen Etappen ging seither das ge-
Zürich 1994). Ab 1995 lancierte es in Zusammen- samte Anwesen mit Dürrenmatts zweitem Haus (in
arbeit mit der Universität Bern (Leitung: Peter Ruster- dem Charlotte Kerr bis zu ihrem Tod 2011 wohnte) in
holz) und dem Schweizerischen Nationalfonds For- den Besitz der Eidgenossenschaft über. Institutionell
schungsprojekte zum Spätwerk, verbunden mit der wurde das CDN der Nationalbibliothek als Außenstel-
ersten postumen Dürrenmatt-Tagung 1998 (vgl. Rus- le angegliedert. Das CDN präsentiert in einem Muse-
terholz/Wirtz 2000). umsanbau des Tessiner Architekten Mario Botta und
100  Nachlass und Institutionen 369

in Dürrenmatts einstigen Wohnhäusern in Dauer- sorgt, dass dessen Werk integral zugänglich bleibt: Ne-
und Wechselausstellungen das reiche Bildwerk im Zu- ben verschiedenen Auswahlausgaben (Gesammelte
sammenhang mit dem literarischen Werk. Werke in sieben Bänden, Hardcover, hg. von Franz Jo-
Das gesamte bekannte Bildwerk – einschließlich sef Görtz, 1991; Gesammelte Werke in sieben Bänden,
der Bestände in Privatbesitz – wurde ebenfalls in der Taschenbuch, 1996), ist vor allem die Werkausgabe in
Datenbank HelveticArchives erschlossen: Die Einträ- 37 Bänden von 1998 zu nennen, die bis heute die
ge umfassen nebst detaillierten Angaben zum Werk Grundlage für die Auseinandersetzung mit Dürren-
meist auch eine digitale Reproduktion. Das CDN be- matts Werk bleibt. Daneben wurden aus dem Nach-
müht sich zudem, die Sammlung durch Ankäufe und lass verschiedene Texte publiziert: Kants Hoffnung
Schenkungen zu erweitern. (1991); Gedankenfuge (1993), Die Mansarde, hg. von
Das CDN organisiert Kolloquien, Vorträge und Peter Erismann und Ulrich Weber (1994); Der Pensio-
Dichterlesungen, die in thematischer Verbindung zum nierte, hg. von Peter Rüedi (1995), Max Frisch/Fried-
Werk Dürrenmatts stehen. Regelmäßig beleben zu- rich Dürrenmatt: Briefwechsel, hg. von Peter Rüedi
dem Konzerte das Centre. Nicht zuletzt ist es auch ein (1998). Darüber hinaus erschien eine vierbändige
Ort der kritischen Auseinandersetzung mit dem litera- Ausgabe der Gespräche (hg. von Heinz Ludwig Arnold
rischen und bildnerischen Werk. In Zusammenarbeit u. a., 1996), ein Erinnerungsband von Heinz Ludwig
mit dem Schweizerischen Literaturarchiv fanden dort Arnold (Querfahrt mit Dürrenmatt, 1998), der 1984
zwischen 2004 und 2016 sieben Sommerakademien entstandene Film Dürrenmatt: Portrait eines Planeten
statt, deren Akten im Wallstein Verlag publiziert sind. von Charlotte Kerr (DVD, 2007), ein großer Bildband
Das Centre veröffentlicht mit den Cahiers des Centre (Dürrenmatt: Sein Leben und Werk in Bildern, hg. von
Dürrenmatt Neuchâtel eine eigene Schriftenreihe. Die Anna von Planta u. a., 2011) sowie die Biografie von
bisher 23 erschienenen Nummern stellen mehrheitlich Peter Rüedi (2011). 2020 folgt diejenige von Ulrich
Begleitpublikationen zu Ausstellungen und Veranstal- Weber und das fünfbändige Stoffe-Projekt (S), das ne-
tungen dar. Neben Themenheften (u. a. Das große Fest- ben einer Auswahl von Manuskripten zum Stoffe-Pro-
mahl, Phantasie der Wissenschaften, Dürrenmatt 1968, jekt selbst auch zahlreiche frühe Fragmente aus dem
Dürrenmatts Endspiele) präsentieren die Cahiers aber Nachlass wie das erwähnte Turmbau-Fragment ent-
auch persönliche Erinnerungen von Freunden und Be- hält. Der Diogenes Verlag ist aktiv bemüht um die in-
kannten Dürrenmatts (Bernhard Böschenstein, Fran- ternationale Vermittlung von Dürrenmatts Werk in
çois Loeb u. a.). Ein besonderer Akzent liegt zudem bei Übersetzungen und Theateraufführungen.
der Vermittlung Dürrenmatts an ein französischspra-
chiges Publikum.
Dürrenmatts Bildwerk wurde in verschiedenen Pu- Die Dürrenmatt-Mansarde
blikationen präsentiert; aktuell erscheint unter dem
Titel Wege und Umwege eine mehrbändige Edition, die Als Student hatte Friedrich Dürrenmatt 1942/43 in
den Zusammenhang mit dem literarischen Werk an- der Mansarde über der Wohnung seiner Eltern an der
hand thematischer Gruppen präsentiert. Zudem ist im Berner Laubeggstraße 49 die Wände mit großflächi-
Centre Dürrenmatt ein »Tableau synoptique« in Ar- gen, expressiven Bildern ausgemalt. Diese wurden
beit, das die Bezüge zwischen Biografie, literarischem nach dem Auszug der Eltern 1949 übertüncht. 1993
und bildnerischem Werk sowie der Publikation und entdeckten das Schweizerische Literaturarchiv und
Rezeption des Werks in der ganzen Welt präsentiert. die Städtische Denkmalpflege Bern die verschollenen
Wandmalereien. Diese wurden in sorgfältiger Klein-
arbeit von zwei Restauratoren freigelegt. In einer
Der Diogenes Verlag und die Publikationen maßstabgetreuen Rekonstruktion wurden die Bilder
aus dem Nachlass aus der Mansarde im Rahmen der Dürrenmatt-Aus-
stellung Querfahrt 1994 in der Schweizerischen Na-
Der Diogenes Verlag ist aufgrund eines 1986 geschlos- tionalbibliothek erstmals der Öffentlichkeit zugäng-
senen Generalvertrags, der sich auch auf den Nachlass lich gemacht. Zwei Jahre später erwarb die Stiftung
bezieht, weitgehend alleiniger Inhaber der Publikati- Dürrenmatt-Mansarde (mit Stadt und Kanton Bern
onsrechte am literarischen Werk Friedrich Dürren- sowie der Valiant-Bank als Mitgliedern) das Mansar-
matts. Auf dieser Grundlage hat der Verlag seit Dür- dengeschoss der Liegenschaft. Die Mansarde wurde
renmatts Tod mit verschiedenen Ausgaben dafür ge- unter Wahrung des Charakters und der Bilder reno-
370 VI  Rezeption und Wirkung – A Generelles

viert und zum Studio umgebaut. Der ausgebaute Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich
Mansardenraum steht seither Gästen der im Verein Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels. Paderborn
Dürrenmatt-Mansarde versammelten Berner Kultur- 2008.
Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
institutionen als günstige Wohngelegenheit für kür- Biographie. Zürich 2011.
zere Aufenthalte zur Verfügung. Zudem ist die Man- Rusterholz, Peter/Wirtz, Irmgard M. (Hg.): Die Verwand-
sarde im Rahmen von Führungen für das Publikum lung der Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dür-
zugänglich. renmatts Spätwerk. Bielefeld 2000.
Schweizerisches Literaturarchiv Bern/Kunsthaus Zürich
(Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler.
Zürich 1994.
Die Charlotte Kerr Dürrenmatt-Stiftung Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung.
Dürrenmatts Witwe gründete 2007 in Bern die Char- Frankfurt a. M., Basel 2007.
lotte Kerr Dürrenmatt-Stiftung mit dem Zweck der Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Förderung von Projekten, die sich mit dem schriftstel- Zürich 2020.
Weber, Ulrich/Probst, Rudolf (Hg.): Friedrich Dürrenmatt:
lerischen, bildnerischen und wissenschaftlichen Werk Das Stoffe-Projekt. Textgenetische Auswahl-Edition in 5
Friedrich Dürrenmatts befassen. Seit dem Tod von Bänden. Zürich 2020. Online-Präsentation: http://www.
Charlotte Kerr (28.12.2011) fließt der Stiftung als Er- fd-stoffe.ch.
bin der Tantiemen-Anteil Kerrs zu. Diese Mittel wer-
den wiederum in Dürrenmatt-Projekte unterschied- Zum Centre Dürrenmatt
Betschart, Madeleine/Bühler, Pierre (Hg.): Wege und
lichster Art investiert.
Umwege mit Friedrich Dürrenmatt. Das bildnerische und
literarische Werk im Dialog. 3 Bde. Göttingen, Zürich
Literatur
2020–2021.
Zum literarischen Nachlass
Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Cahiers des Centre
Auge, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts Roman Justiz. Ent-
Dürrenmatt Neuchâtel, Nr. 1–23, 2000–2020.
stehungsgeschichte, Problemanalyse, Einordnung ins
Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Friedrich Dürrenmatt,
Gesamtwerk. Münster 2004.
ein Schweizer mit Weltgeltung. Sein Werk und seine Aus-
Burkard, Philipp: Dürrenmatts Stoffe. Zur literarischen
strahlung. Ein synoptischer Blick. Neuchâtel 2016 (Cahier
Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vai-
11).
hingers im Spätwerk. Tübingen, Basel 2004.
Erismann, Peter Edwin (Hg.): Mario Botta. Centre Dürren-
Frisch, Max/Dürrenmatt, Friedrich: Briefwechsel. Hg. von
matt Neuchâtel. Fotos von Thomas Flechtner. Basel 2000.
Peter Rüedi. Zürich 1998.
Schweizerisches Literaturarchiv (Hg.): Sommerakademie
Jäger-Trees, Corinna: Zwanzig Jahre Schweizerisches Litera-
Schweizer Literatur im Centre Dürrenmatt Neuchâtel,
turarchiv. Entwicklungen und Perspektiven. In: Quarto.
Bd. 1–6, Göttingen, Zürich 2009–2018.
Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 33/34
(2011), 137–147.
Matt, Peter von: Vom literarischen Gedächtnis der Schweiz.
Zur Dürrenmatt-Mansarde
Erismann, Peter/Weber, Ulrich (Hg.): Friedrich Dürren-
In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literatur-
matt. Die Mansarde. Zürich 1995.
archivs 33/34 (2011), 20–26.
Planta, Anna von u. a. (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Sein Ulrich Weber
Leben in Bildern. Zürich 2011.
101  Rezeption: Überblick 371

101 Rezeption: Überblick lung und Parodie, aus Konstruktionen, die einen kon-
kreten Bildungshintergrund voraussetzen und bereits
Einführung zu seinen Lebzeiten mit Formzitaten nicht mehr frag-
los funktionierten. Andererseits zeigt die Fülle der in-
Eine umfassende Aufarbeitung der Rezeption Dür- ternationalen Bearbeitungen die Stärke der von ihm
renmatts wurde bislang nicht geleistet. Die vorliegen- geschaffenen Fabeln und Gleichnisse, die über kul-
de Forschung beschränkt sich auf punktuelle und zeit- turelle Grenzen hinweg verständlich bleiben und ein
lich limitierte Untersuchungen zur Theaterrezeption zweites, vom Autor abgelöstes Leben als moderne My-
in einzelnen Ländern (neben den in den folgenden then entwickeln. Das betrifft insbesondere auch seine
Artikeln besprochenen vgl. für Ungarn: Szabo 2000; Kriminalromane.
für Bulgarien: Cohen-Augsburger 2004); zur Auffüh- Dürrenmatt bleibt über seinen Tod hinaus ein schil-
rungsgeschichte einzelner Stücke: Walliser 2012). lerndes, widersprüchliches Phänomen, das die ganze
Die ausführlichste Überblicksdarstellung der Re- Spannweite zwischen E- und U-Kultur umfasst und
zeption hat Gerhard P. Knapp (1993, 167–187) gege- deren Scheidung unterläuft. Auf der einen Seite ist sein
ben. Er bezeichnet den Höhepunkt von Dürrenmatts Werk sehr stark regional in der Sprache und den Stof-
Erfolgen in den 1950er und 1960er Jahren als Folge fen seiner Schweizer Heimat verankert, auf der ande-
und Ausdruck der Übereinstimmung mit dem »his- ren Seite war es schon früh Teil jener globalisierten
torischen und soziopolitischen Hintergrund« (ebd., Kultur, die heute bestimmend ist. Zum einen steht
167) der Nachkriegsgesellschaft, und zeichnet damit ›Dürrenmatt‹ für heftige Satiren und düstere Grotes-
eine Erfolgskurve nach, die im deutschen Sprachraum ken, zum andern, im Fall der Bearbeitungen der Alten
gegen 1970 rasch abebbt, als die neuen Stücke »auf ein Dame, auch für kitschige Mainstream-Stories.
gewandeltes Publikumsinteresse stießen, das einen
klar identifizierbaren Bezug zur historischen bzw. ge-
sellschaftlichen Realität erwartete« (ebd., 168). Paral- Theater
lel zum »Rückgang der Wirkung Dürrenmatts auf ein-
heimischen Bühnen setzt freilich seine Kanonisierung Wie sieht die Rezeptionsbilanz 30 Jahre nach Dürren-
als ›Leseautor‹ ein« (ebd., 169); er erobert sich einen matts Tod und 60 Jahre nach seinen größten Erfolgen
»festen Platz auf den Lehrplänen der Schulen« und aus? Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Dürrenmatt wird
hält sich mit seinen Erfolgsstücken »im Bühnenreper- gespielt. Er hält sich gemäß der Statistik des deutschen
toire der westlichen Länder« (ebd.). Knapp stellt fest, Bühnenvereins hartnäckig unter den 25 meistgespiel-
dass zeitgleich zur nachlassenden Wirkung Dürren- ten Autorinnen und Autoren der jeweiligen Spielzei-
matts im deutschsprachigen Westen ein »Siegeszug ten und rangiert damit jeweils unter den drei bis sechs
der Bühnenstücke in der sozialistischen Welthälfte« meistgespielten deutschsprachigen Dramatikern des
(ebd., 170) einsetzte. Zudem dokumentiert er in den 20. Jahrhunderts. Von diesen wird einzig Brecht regel-
1980er Jahren im deutschen Sprachraum eine »über- mäßig öfter aufgeführt. In der Spielzeit 2009/10 war
raschende Dürrenmatt-Renaissance« (ebd., 175). Ins- Dürrenmatt nach Brecht mit acht Werken in 27 Insze-
besondere mit den Physikern wird er Mitte der 1980er nierungen und 513 Aufführungen der meistgespielte
Jahre aufgrund der Brisanz der Rüstungsdiskussion deutschsprachige Dramatiker des 20. und 21. Jahr-
wieder zum meistgespielten Autor an deutschsprachi- hunderts auf deutschsprachigen Bühnen, und in der
gen Theatern. Auch zur Zeit des Zusammenbruchs Saison 2010/11 war Der Besuch der alten Dame mit 21
des sozialistischen Systems in den mittel- und ost- Inszenierungen und 407 Aufführungen gar das meist-
europäischen Ländern erlebt er große Bühnenerfolge. gespielte Stück auf deutschsprachigen Bühnen.
Wie hat sich die Sichtweise auf Dürrenmatt und Die Alte Dame konnte beispielsweise in Berlin in
sein Werk seit seinem Tod entwickelt? Einerseits ist den letzten zehn Jahren kontinuierlich gesehen wer-
der historische und kulturelle Kontext, in dem Dür- den, zunächst über Jahre in der Inszenierung von Ar-
renmatt geschrieben hat, in weite Ferne gerückt. Sein min Petras am Gorki Theater (2010), dann in jener von
dramatisches Werk entfaltete seinen Witz ursprüng- Bastian Kraft am Deutschen Theater (2014). Ähnlich
lich im prüden, kulturbeflissenen und vom wirtschaft- ist die Situation in Wien, wo neben den Inszenierun-
lichen Aufbruch geprägten Klima der 1950er Jahre gen im Volkstheater (R.: Alexander Kubelka, 2008), im
und in der politischen Konstellation des Kalten Krie- Burgtheater (R.: Frank Hoffmann, 2018) und im Thea-
ges; es schöpft seine Vielschichtigkeit aus der Anspie- ter in der Josefstadt (R.: Stephan Müller, 2018) auch

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_101
372 VI  Rezeption und Wirkung – A Generelles

musikalische Bearbeitungen zu sehen waren: Die Mu- Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Türkei,
sical-Version von Moritz Schneider und Michael Reed der Ukraine, Ungarn, Uruguay, den USA und Weiß-
wurde ab 2014 im Theater Ronacher 124 Mal gespielt. russland gespielt. Auch wenn sich das Interesse stark
2018 kam im Theater an der Wien auch die Opernver- auf Der Besuch der alten Dame und Die Physiker kon-
sion von Gottfried von Einem anlässlich des 100. Ge- zentriert, gab es doch auch einzelne Aufführungen
burtstags des Komponisten wieder auf den Spielplan. von Die Panne, Play Strindberg, Romulus der Große,
Eine besondere Rolle nimmt nach wie vor – oder wie- Abendstunde im Spätherbst, Der Doppelgänger, Nächt-
der – das Schauspielhaus Zürich ein, das sich von den liches Gespräch mit einem verachteten Menschen, Her-
großen Bühnen am intensivsten mit Dürrenmatt aus- kules und der Stall des Augias, Der Mitmacher, Der Pro-
einandergesetzt hat: Besonders aufsehenerregend wa- zeß um des Esels Schatten, Der Meteor, Die Frist, Ein
ren etwa die Inszenierungen Uraufführung: Der Besuch Engel kommt nach Babylon, Porträt eines Planeten, Das
der alten Dame von Rimini Protokoll (2006); Die Phy- Sterben der Pythia und König Johann.
siker von Herbert Fritsch (2013) oder die über fünf- Gewiss, Aufführungen an großen Bühnen sind in
stündige Justiz-Aufführung von Frank Castorf (2019). anderen Sprachräumen eher die Ausnahme, so dass
Kein Zweifel, Dürrenmatt ist auf den deutschspra- man die Dichte der Rezeption nicht mit jener im deut-
chigen Bühnen präsent – neben den ›Klassikern‹ Der schen Sprachraum vergleichen kann. Doch immer
Besuch der alten Dame und Die Physiker wurden in wieder gab es spektakuläre Inszenierungen, so kurz
den letzten Jahren auch Abendstunde im Spätherbst, nach Dürrenmatts Tod Josef Svobodas Bearbeitung
Die Panne, Die Ehe des Herrn Mississippi, Frank der des Minotaurus als Tanztheater in der Laterna Magika
Fünfte, Romulus der Große und Play Strindberg ge- in Prag (1990), die über Jahre gespielt wurde, oder
spielt; häufiger noch – dem Trend entsprechend – Omar Porras’ La Visite de la vieille dame im Stile der
Theaterfassungen von Prosawerken wie Das Verspre- commedia dell’arte im Teatro Malandro aus Genf, das
chen, Der Richter und sein Henker, Der Tunnel, Justiz zwischen 1993 und 2015 in drei verschiedenen Insze-
und Durcheinandertal. Im Laien- und Schultheater er- nierungen spielte und sehr erfolgreich durch Frank-
freut sich sein Werk ohnehin kontinuierlicher Beliebt- reich tourte. Im angelsächsischen Sprachraum ist
heit, was wiederum den großen Bühnen volle Häuser wohl der Titel The Visit in verschiedenen Bearbeitun-
mit Dürrenmatts bekanntesten Stücken garantiert. gen bekannter als sein Autor und hat eine eigene Re-
Allerdings kann dies nicht darüber hinwegtäu- zeptionsgeschichte. Zu ihr trug in jüngerer Zeit etwa
schen, dass sich sowohl die Regisseurinnen und Re- die Musical-Version von John Kander und Fred Ebb
gisseure als auch die Kritik im deutschen Sprachraum (ab 2001) bei, die zwar nicht ganz den angestrebten
nach wie vor schwertun mit Dürrenmatt. Keine der Broadway-Erfolg brachte, aber doch eine längere, viel
unzähligen Dürrenmatt-Inszenierungen wurde seit beachtete Aufführungsgeschichte hatte. In jüngster
seinem Tod zum Berliner Theatertreffen eingeladen, Zeit schloss sich die im großen Rahmen vorbereitete
wo jeweils zehn der interessantesten Inszenierungen und präsentierte neue Adaption des Stoffs von Tony
der Spielzeit aus dem deutschsprachigen Raum ge- Kushner am National Theatre in London an (2020).
zeigt werden. Ähnlich sieht es aus, wenn man die In-
szenierungsbesprechungen in der Zeitschrift Theater
heute durchblättert. Kein aufregendes, aber ein erfolg- Buchverkäufe
reiches Theater, könnte man pauschal resümieren.
Es fällt auf, dass der Trend, Dürrenmatts Romane Nicht nur auf den Bühnen, sondern auch bei den
auf die Bühne zu bringen, nicht in andere Sprachräu- Buchausgaben bleibt Dürrenmatt im Spiel: Die Ver-
me übergegriffen hat. Dort beschränkt sich die Büh- käufe im deutschen Sprachraum gehen in Form von
nenrezeption auf die dramatischen Texte. Doch auch Longsellern nach wie vor in die Millionen. Etwa halb-
dort ist der Autor präsent, wie die Statistik des Dioge- jährlich legt der Diogenes Verlag die für die Schullek-
nes Verlags (der die Rechte vergibt) zeigt: Dürren- türe verwendeten Texte wie Der Besuch der alten Da-
matt-Stücke wurden in den letzten sechs Jahren in me oder Die Physiker in Auflagen von 50.000 Exem-
Brasilien, Bulgarien, China, Dänemark, Estland, plaren auf, so dass von diesen Erfolgsstücken allein
Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, durch Dürrenmatts Hausverlag seit Dürrenmatts Tod
Indien, Italien, Japan, Kanada, Kasachstan, Lettland, je rund 3 Mio. verkauft worden sind. Auch die Krimi-
Litauen, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, nalromane Der Richter und sein Henker, Der Verdacht
Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, der (u. a. mit Taschenbuch-Lizenzausgaben bei Rowohlt)
101  Rezeption: Überblick 373

und Das Versprechen dürften heute je deutschsprachi- Die letzte Generalversammlung der Eidgenössischen
ge Gesamtauflagen von 5 bis 10 Millionen erreicht ha- Bankanstalt (s. Abb. 77.1) auf die Titelseite des Zür-
ben. Und auch in anderen Sprachen bleibt Dürren- cher Tages-Anzeigers, zwölf Tage nach der Atom-Ka-
matt präsent: Obwohl viele der Übersetzungen in ins- tastrophe von Fukushima (2011) organisierte Benja-
gesamt 52 Sprachen auf ältere Zeit zurückgehen, sind min von Stuckrad-Barre eine prominent besetzte Le-
seine Titel auch heute in 28 Sprachen lieferbar. Seit sung aus Dürrenmatts Physikern, die live in einem
Dürrenmatts Tod sind insbesondere mehrbändige Berliner Sender ausgestrahlt wurde. Zur Corona-Kri-
Auswahlausgaben in Bulgarisch, Englisch (USA), Ita- se und den Protesten gegen Rassismus im Zeichen von
lienisch, Polnisch, Russisch, Ungarisch, Chinesisch ›Black Lives Matter‹ erscheint im Zürcher Magazin
und Japanisch erschienen, dazu viele Einzelausgaben, Dürrenmatts nachgelassene Parabel Die Virusepi-
teilweise in Neuübersetzungen, etwa in Arabisch, Chi- demie in Südafrika (2020). Deutschsprachige Politike-
nesisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Niederlän- rinnen und -politiker (in der Schweiz Bundesräte von
dische, Portugiesisch (Brasilien) Türkisch und dem- rechts bis links), Ökonomen und Naturwissenschaft-
nächst Schwedisch. lerinnen führen Dürrenmatt-Zitate im Mund; vor al-
lem die Sentenzen aus Die Physiker und den dazuge-
hörigen 21 Punkten lassen sich für alle Zwecke von
Weitere Medien Präimplantationsdiagnostik bis Schuldenkrise und
ökologischen Katastrophen zitieren. Die Alte Dame
Für die Dürrenmatt-Rezeption spielte immer auch der kommt immer dann als Vergleich zum Zuge, wenn ein
Film eine wesentliche Rolle. Neben den direkten Ver- Gemeinwesen mit einer Einzelperson mit scheinbar
filmungen (s. Kap. 60, 114) und zahlreichen Remakes unerschöpflichen finanziellen Mitteln konfrontiert ist
und Adaptionen insbesondere des Stoffs Es geschah am – etwa wenn die Gemeinde Andermatt am Gotthard-
hellichten Tag/Das Versprechen (u. a. The Pledge in der pass mit einem groß angelegten Wintertourismus-
Regie von Sean Penn mit Jack Nicholson in der Haupt- Projekt des ägyptischen Milliardärs Samih Sawiris auf
rolle, 2003) gibt es immer wieder Anklänge an seine eine blühende Zukunft hofft. Doch auch der französi-
Stoffe in Kriminalfilmen, und auch Schüler-Inszenie- sche Starphilosoph Bernard-Henry Lévy führte die
rungen des Besuchs der alten Dame erscheinen wieder- Alte Dame im Streitgespräch mit Michel Houellebecq
holt als Motiv im deutschen Film (z. B. in Die Welle von ins Feld. – Die Beispiele ließen sich beliebig fortfüh-
Dennis Gansel, 2008). Nichts jedoch verdeutlicht die ren. Sie zeugen letztlich weniger davon, dass Dürren-
Vertrautheit mit seinen Erfolgswerken im deutschen matt tatsächlich gelesen wird, als dass manche Zitate
Sprachraum mehr als die zahlreichen Youtube-Filme Aufnahme in entsprechende Anthologien gefunden
aller Art bis hin zu Playmobil-Clips, aber auch die Prä- haben. Man kann Dürrenmatt zitieren, sein Name ge-
senz von Comics und Graphic Novels (s. Kap. 111). hört nicht nur in den schweizerischen, sondern auch
Nicht nur Filmbearbeitungen, auch Tanztheater in den deutschsprachigen und in eingeschränkterer
und Vertonungen gab es seit Dürrenmatts Tod ver- Form auch in den europäischen Kulturkanon.
schiedene, darunter die erwähnten Musical-Versio- Dennoch besteht eine besondere Situation ohne
nen. Bemerkenswert etwa neben den Opern Die Phy- Zweifel in der Schweiz. Kurz vor seinem Tod hatte
siker von Andreas Pflüger, Prag 2000, oder Der Richter Dürrenmatt mit seiner Rede für Václav Havel für ei-
und sein Henker von Franz Hummel, Erfurt 2008, nen Skandal gesorgt, als er in Anwesenheit von Bun-
Harrison Birtwistles ebenfalls 2008 im Royal Opera desräten den Staatsgast im ›Gefängnis Schweiz‹ be-
House in London uraufgeführte Oper Minotaur, die grüßte (s. Kap. 57). Doch schon kurz nach seinem Tod
von Dürrenmatts Ballade angeregt ist. erfolgte, was man kritisch als seine Vereinnahmung
durch die offizielle Schweiz bezeichnen könnte: 1991
wurde zur 700-Jahr-Feier der Schweizerischen Eidge-
Öffentlichkeit nossenschaft – die von vielen Kulturschaffenden boy-
kottiert wurde – vom Jubiläumskomitee nicht nur eine
Die konditionierten Reflexe funktionieren recht zu- CD mit der Havel-Rede als Geschenk für Prominente
verlässig: Wann immer die Kommentierung einer Ka- produziert, sondern auch Dürrenmatts Komödie Her-
tastrophe ansteht, sei sie ökonomischer oder ökologi- kules und der Stall des Augias im Parlamentssaal des
scher Natur, zitiert man im deutschen Sprachraum Bundeshauses als ›Theater am Tatort‹ inszeniert.
Dürrenmatt: Der Bankencrash brachte 2008 sein Bild Wurde Dürrenmatt, der sich stets gegen religiöse
374 VI  Rezeption und Wirkung – A Generelles

und politische Vereinnahmungen durch Provokatio- Literatur


nen zur Wehr gesetzt hatte, nun staatlich verharmlost Cohen-Augsburger, Lea (Hg.): Dürrenmatt in Bulgarien.
und annektiert? Wird der Hofnarr, als der er zu Leb- Materialien eines Workshops, Mai–November 2004. Sofia,
Neuchâtel 2004. Darin insbesondere: Violeta Dečeva:
zeiten oft gesehen wurde, postum zum Nationalhel- Ideologische und kulturelle Filter. Über die bulgarische
den stilisiert? Dies ist teilweise sicher der Fall, und Rezeption der Stücke von Friedrich Dürrenmatt in den
gerne wird er angesichts seiner anhaltenden Populari- 60er Jahren, 136–143.
tät bis heute auch von Politikerinnen und Politikern Knapp, Gerhard P.: VII. Rezeption, Wirkung und For-
mit seinen pointierten Aussagen in Anspruch genom- schung. In: Ders.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. 2. über-
arb. und erw. Auflage. Stuttgart, Weimar 1993, 167–187.
men. Doch ist die enge Bindung an den Bundesstaat
Szabó, János: »In seinem riesigen Schatten / Wir waren die
mit der Gründung des Schweizerischen Literatur- Dürren und Matten«. In: Ders. (Hg.): Deutschschweizer
archivs und des Centre Dürrenmatt Neuchâtel eher Gegenwartsliteratur in Ungarn 1945–1995. Budapest
der geschickten kulturpolitischen Strategie des Au- 1996, 7–71 (kommentierte Bibliographie zur Dürrenmatt-
tors, seines Verlags und seiner Witwe zuzuschreiben Rezeption in Ungarn, 92–173).
als einem Willen des Bundes, Dürrenmatt postum Walliser, Marie-Pierre: Sammlung Marie-Pierre Walliser.
Dokumentation zu Romulus der Grosse. Schweizerisches
zum eidgenössischen Staatsschreiber zu stilisieren.
Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-E-55 (Schenkung 2012). Mit:
Ohnehin eignet sich sein Werk mit seiner humoristi- Friedrich Dürrenmatts Romulus der Grosse 1949–1980.
schen Unterwanderung des patriotischen Pathos dazu Ein Stück mit hundert Variationen, Dissertationsfragment
nicht wirklich. Doch auch in den aktuellen Vorberei- (1981), sowie einer umfassenden Sammlung zu Auffüh-
tungen auf seinen 100. Geburtstag ist unverkennbar, rungen des Stücks.
dass das Interesse an seinem Werk in der deutschspra- Pressedokumentation zur Rezeption Dürrenmatts bis in die
Gegenwart im Schweizerischen Literaturarchiv.
chigen Schweiz – verglichen mit der internationalen
Rezeption – von den Bühnen bis zum akademischen Ulrich Weber
Kontext weitaus am größten ist.
B Länderspezifische Rezeption

102 Afrika Mosambik, einem der ärmsten Länder, wo kürzlich


Gas und Kohle entdeckt wurden, will die Künstlerin
Eine Darstellung der Rezeption Dürrenmatts in Afrika mit ihrer Inszenierung für die Schattenseiten der
fällt aus mehreren Gründen nicht leicht. Erstens han- Korruption sensibilisieren.
delt es sich um einen ausgesprochen großen und diver- Im Bereich des Films ist es nahezu unmöglich,
sen Kontinent, der grundsächlich schwer zu überbli- den ästhetisch-thematischen Einfluss Dürrenmatts
cken ist. Zweitens genießt Dürrenmatt im Vergleich zu auf die Arbeiten Mambétys auszublenden. Kros/
anderen europäischen Schriftstellerinnen und Schrift- Pfruender (2017, 55) vertreten die These, dass Dür-
stellern keine allzu große Bekanntheit. Drittens ist es renmatt indirekt Einfluss auf die ästhetische Ent-
schwierig, eine Übersicht über diese punktuelle Re- wicklung des subsaharischen Avantgarde-Kinos der
zeption in Kunst und Forschung zu gewinnen, da viele 1990er Jahre genommen hat, ist Mambéty doch ein
akademische Abschluss- oder Diplomarbeiten weder paradigmatischer Pionier dieser Bewegung. Seine
digitalisiert noch veröffentlicht werden. Darum muss Nähe zu Dürrenmatt kommt in zugespitzter Form
sich die Darstellung auf die Rezeption in bestimmten in Hyènes zum Ausdruck, in dem Heinzmann Mam-
Räumen des Kunst- und Wissenschaftsbetriebs be- bétys Assoziationsmontage als Äquivalenzphäno-
schränken. men zu Dürrenmatts Antinaturalismus erkennt (vgl.
Dürrenmatt selbst hatte nur eine lose Beziehung zu 2011, 109; Babou 2014). Diop sieht das Duo als Sym-
Afrika. 1985 nahm er an einer Tagung in Kairo teil, bol einer gelungenen Symbiose von Afrika und Eu-
die mit einer arabischsprachigen Publikation einher- ropa. Mambéty sei gewissermaßen der afrikanische
ging. Im Bereich der literarischen Thematisierung ist Dürrenmatt; er habe dessen Ästhetik durch seinen
die späte Erzählung Die Virusepidemie in Südafrika »viszerale[n] Zugang zu Menschen« aber auch wei-
(1989) zu nennen (vgl. Dürrenmatt 2006; Niekerk/ terentwickelt (Diop 2016, 58). Diese Weiterentwick-
Grové 2017). Indem sie von einem Virus handelt, der lung analysiert Oury Ba in engem Zusammenhang
weiße in schwarze Menschen verwandelt, thematisiert mit dem Grotesken, der Macht-Geld-Beziehung, den
sie die Rassenproblematik – auch im Hinblick auf die Prozessen der Nationsbildung in Afrika und dem
Beziehungen Südafrika–Schweiz. Verhältnis von Zentrum und Peripherie unter post-
Unter manchen afrikanischen Akteurinnen und kolonialem Blickwickel (vgl. Ba 2017, 65), während
Akteuren des westafrikanischen Kunstbetriebs, vor Njanjo (2017, 128) das Augenmerk auf Aspekte der
allem des Theaters, ist Dürrenmatt ein bekannter Na- religiösen Toleranz, des Panafrikanismus und des
me. Der Autor Boubacar Boris Diop konnte in künst- Afrofuturismus richtet.
lerischen Milieus von Ouagadougou (Burkina Faso) Obwohl die Untersuchung von Niekerk/Grové
und Dakar (Senegal) – afrikanischen Städten mit Texte wie A Dry white season des Südafrikaners An-
starker Kulturprägung – selber diese Feststellung ma- dré Brink, die explizit auf die Fragen des Rassismus
chen (vgl. Diop 2016). Dazu hat der senegalesische und der Identität im Apartheid-Kontext fokussiert
Regisseur Djibril Diop Mambéty durch Hyènes sind, nicht in die Diskussion mit einbezieht, kann sie
(1992), seine Verfilmung von Der Besuch der alten dazu beitragen, den minor-Aspekt (im Deleuzeschen
Dame, maßgeblich beigetragen (vgl. Diop 2016, 56). Sinne) von blackness in Bezug auf neuere Ansätze zu
Auch die Bühnen des Goethe-Instituts und des Teatro Afrofuturismus zu erschließen (vgl. Mbembe/Sarr
Avenida in Maputo (Mosambik) können erwähnt 2017). Auf diesem Weg können auch neue Einblicke
werden, die sich 2012 unter der Leitung von Manuela in die Bedeutung Afrikas in Dürrenmatts Schriften
Soiero ebenfalls diesem Hauptwerk zuwendeten. In gewonnen werden. Dürrenmatts Prosa – etwa die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_102
376 VI  Rezeption und Wirkung – B Länderspezifische Rezeption

Kriminalromane – scheinen weder historisch noch Diop, Boubacar Boris: Von Güllen nach Colobane. In: Du.
gegenwärtig eine besondere Rolle bei der Wahrneh- Die Zeitschrift der Kultur 76 (2016), 862, 56–59.
mung des Autors zu spielen. Heinzmann, Jürgen: La Suisse et l’Afrique en miroir. La visite
de la vieille dame (Dürrenmatt) adaptée par le cinéaste
Literatur Diop Mambéty. In: Revue transatlantique d’études suisses
Primärtexte 1 (2011), 109–124.
Die Virusepidemie in Südafrika / L ’ épidemie virale en ­ Kros, Cynthia/Pfruender, Georges: Babel Re-Play. In: Thesis
Afrique du Sud. Hg. von Centre Dürrenmatt Neuchâtel. eleven 141 (2017), 1, 49–66.
Neuchâtel 2006 (Cahier 8). Mbembe, Achille/Sarr, Felwine (Hg.): Ecrire l’Afrique-
Monde. Dakar 2017.
Sekundärliteratur Niekerk, Jacomien van/Grové, Waldo: ›Race‹ and Nation-
Ba, Amadou Oury: Jenseits des Postkolonialismus. Neue hood in Friedrich Dürrenmatt’s Die Virusepidemie in Süd-
Einblicke in die Nord-Süd-Konstellation in Djibril Diop afrika. In: Acta Germanica 45 (2017), 45–58.
Mambétys Film Hyènes (1992). In: GIS. Zeitschrift der Njanjo, Burrhus: Intermedialität, Literaturverfilmung und
Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germa- die Frage der ›Réécriture‹. Untersuchung zu F. Dürren-
nistik 14 (2017), 63–77. matts Der Besuch der Dame, L. Cremers Der Besuch der
Babou, Cheikh Anta: Du texte au film. L ’adaptation cinéma- alten Dame und Diop Mambétys Hyènes. Saarbrücken
tographique de La visite de la vieille dame par Djibril Diop 2017.
Mambéty. Bayreuth 2014. Burrhus Njanjo
103 Frankreich 377

103 Frankreich gers nicht erreicht; er gehe am Wesentlichen vorbei,


und es fehle ihm die Großzügigkeit. Sogar Der Besuch
1947 fand im Pariser Théâtre des Mathurins mit Les der alten Dame wurde als post-brechtsches Stück ein-
Fous de Dieu (Es steht geschrieben) die erste Dürren- gestuft, dem man sein Alter anmerke; die Allegorie sei
matt-Aufführung in einer Fremdsprache statt. Sie zu sichtbar, keine Überraschung erwarte den Zu-
wurde von missbilligenden Tumulten gestört; auch die schauer nach der Pause, die Mechanik des Stückes
Kritiker gaben sich bedeckt. Darauf folgten dennoch, würde makellos, jedoch ohne Genie laufen, so zuver-
manchmal erst einige Jahre nach deren Uraufführung, lässig und präzis wie eine Schweizer Uhr (vgl. Liard
viele andere Stücke (vgl. Liard 2011, 229). Auch Dür- 2011, 238). In den 1980er Jahren wurden andere Be-
renmatts wichtige Prosatexte wurden fast alle ins zugsautoren genannt: Kafka wegen Dürrenmatts hef-
Französische übersetzt. tiger Komik, seiner fratzenhaften Groteske, dem
Von der Kritik wurde Dürrenmatt von Anfang an schwindelerregenden Denken; Simenon, wenn es um
geliebt oder gehasst, je nach Orientierung der Zei- die Kriminalromane ging; Sartre und Camus, was die
tung, wobei sich das Verhältnis mit der zunehmenden existentielle Angst, die Schuld, die Infragestellung al-
weltweiten Anerkennung des Autors im Laufe der Jah- ler etablierten Werte, das Gefühl des Absurden, die
re besserte. Von jeher positiv bewertet wurden sein Entmythisierung der Helden und der Menschen im
Einsatz gegen den Untergang der moralischen Werte, Allgemeinen anbetraf.
sein großer Erfindungsgeist und sein Humor (vgl. Heute bleiben die meistgespielten Stücke Dürren-
ebd., 234). Doch blieb Dürrenmatt in den 1950er Jah- matts Der Besuch der alten Dame, Die Panne (2014,
ren trotz allen Lobes scheinbar ›unfranzösisch‹. Vor- 2015, 2016), Romulus der Große (2016, 2017) sowie Die
geworfen wurden ihm Schwerfälligkeit und mangeln- Physiker (2012). Aber auch Play Strindberg wurde 2017
de Poetik. Dass Dürrenmatt die Genres vermischte, und 2018 in Paris aufgeführt, und sogar Minotaurus
behagte dem französischen Publikum nicht. Der Zu- wurde 2018 zum Theaterstück. Die Regisseure Omar
sammenprall von Tragik und Burleske, von Fantasie Porras, Thomas Poulard oder Christophe Lidon sind in
und Satire kam nicht an. Das triumphierende Böse, diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen.
das die Welt in seiner Hand hält, wollte man auf fran- Dürrenmatt hat sich selbst zur Rezeption seines
zösischen Bühnen nicht sehen. Schadenfreude war Werkes in Frankreich geäußert. Er habe nichts gegen
dort auch nicht angebracht. Dürrenmatts Humor, eine das Pariser Theater; es sei aber ein Boulevardtheater,
Mischung aus Zynismus und Gutmütigkeit, aus Grob- das immer noch zu traditionell sei und sich nicht
heit und Feinheit, aus Philosophie und Plattheit ergab wirklich befreit habe (vgl. ebd., 239). Dies mag teil-
auf Französisch einen schwer zu schluckenden Cock- weise die Zurückhaltung des Publikums gegenüber
tail und unterstrich die unüberbrückbare Differenz manchen Stücken erklären. »Für tragische Komödi-
(vgl. ebd., 237). 1964 wurden Die Physiker von der Co- en, ungeschichtliche historische Komödien, die Ko-
médie de l’Est in Colmar gezeigt, erreichten Paris aber mödie einer Privatbank, Nobelpreisträgerstücke oder
nicht. Dort, so Dürrenmatt später, seien seine Stücke Übungsstücke für Schauspieler war man anfangs
»bestenfalls Achtungserfolge, nicht gerade Durchfäl- nicht bereit, ist es heute teilweise immer noch nicht«
le« gewesen (WA 36, 27). (ebd., 240). Die Franzosen waren Dürrenmatt zu
In den 1970er Jahren veränderte sich das Theater; französisch – er war bzw. bleibt den Franzosen nicht
das französische Publikum und die Kritik folgten. französisch genug.
Dürrenmatts Zynismus wurde nun als eine Form der
Warnung vernommen und die Farce als Mittel, das Literatur
Liard, Véronique: Friedrich Dürrenmatt, Französisch,
Publikum wachzurütteln. Er wurde daher gerne mit
Frankreich und die Franzosen. In: Véronique Liard,
Brecht verglichen. Allerdings fiel das Urteil meist hart Marion George (Hg.): Spiegelungen – Brechungen. Frank-
aus; nur als christliches oder zweitklassiges Brecht- reichbilder in deutschsprachigen Kulturkontexten. Berlin
Theater (›sous-Brecht‹) wurden Dürrenmatts Stücke 2011, 229–241.
eingeordnet. Man warf ihm vor, er hätte Brecht unter-
Véronique Liard
würfig nachgeahmt oder die Schärfe seines Vorgän-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_103
378 VI  Rezeption und Wirkung – B Länderspezifische Rezeption

104 Italien anhaltend präsent auf dem Buchmarkt, veröffentlicht


von Feltrinelli und Einaudi, aber auch von Garzanti,
Die italienische Rezeption Dürrenmatts zeigt eine ei- Marcos y Marcos und anderen. Vor wenigen Jahren
genartige Dichotomie. Während Dürrenmatt bei italie- erwarb Adelphi, heute der meistzitierte Verlag, die
nischen Literaturkritikern, Germanisten und der Kul- Rechte an der Prosa und veröffentlicht sie in neuen
turwelt eine hohe Wertschätzung erfährt, ist er dem Übersetzungen – ein notwendiger Schritt, wenn man
dortigen Lesepublikum eher unbekannt. Um dieses bedenkt, dass diejenigen der drei Krimis noch von
Phänomen zu verstehen, muss man sich die Stellung 1959/60 stammen.
des Literaturbetriebs in Italien vor Augen halten. Die Auch die Rezeption des dramatischen Werks setzte
große Mehrheit der Bevölkerung ist an der Literatur vielversprechend ein: Im Januar 1960 inszenierte
völlig uninteressiert, während ein kleiner Kern ein sehr Giorgio Strehler mit hochkarätigen Schauspielern
hohes Lektüreniveau erreicht – und Dürrenmatt kann (Protagonistin: Sarah Ferrati) La visita della vecchia
dort auf eine Gruppe von Bewunderern zählen, die sein signora am Piccolo Teatro di Milano. Seither ist dies
Werk ausführlich lesen. Erfreulicherweise ist der Stand das meistgespielte Stück des Autors, gefolgt von Ro-
der Übersetzungen dabei mehr als zufriedenstellend. molo il Grande und I fisici. Im Bereich der Prosa sind
Bei Feltrinelli wurde bereits 1959 La promessa ver- die beliebtesten Werke La panne und Giustizia, vor al-
öffentlicht (Übers. Silvano Daniele); 1960 folgten Il giu- lem aber die drei als ›Detektivgeschichten‹ (›gialli‹)
dice e il suo boia und Il sospetto (übersetzt von Enrico bezeichneten Romane – trotz Dürrenmatts Aussage in
Filippini, Feltrinellis literarischem Berater). Dank der der Zeitschrift Panorama (17.7.1988): »Ich schreibe
gemeinsamen Bemühungen von Inge Feltrinelli und keine Krimis, ich schreibe Philosophie.« Besonders
Filippini war Feltrinelli in diesen Jahren der Hauptver- populär ist auch La promessa, ein Roman, der noch
leger der neuen deutschsprachigen Literatur in Italien. heute in den Schulen gelesen wird.
1988 wurde ein Erzählband mit dem Titel Racconti ver- Bekanntheit bei einem breiteren Publikum erlangte
öffentlicht (Übers. Umberto Gandini). Dürrenmatt 1972, als Il sospetto als Fernsehserie adap-
1972 stieg mit Einaudi ein weiterer hochkarätiger tiert wurde, mit Paolo Stoppa, einem der beliebtesten
Verlag ein, der beginnend mit La panne Übersetzun- Schauspieler Italiens, in der Rolle Bärlachs. Unter der
gen von sämtlichen Romanen veröffentlichte. Eben- Regie von Ettore Scola und mit dem bekannten Schau-
falls bei Einaudi erschien 1993 eine Sammlung von spieler Alberto Sordi erschien zugleich eine – von
Erzähltexten (Romanzi e racconti) als Band der re- Dürrenmatt sehr geschätzte – Verfilmung von Die
nommierten Biblioteca della Pléiade, herausgegeben Panne mit dem Titel La più bella serata della mia vita
von Eugenio Bernardi, einem der wichtigsten Ver- (Der schönste Abend meines Lebens).
mittler Dürrenmatts in Italien. Seine Einführung in Zwei weitere Ereignisse brachten Dürrenmatt die
den Band ist maßgeblich; er betont etwa die zentrale Aufmerksamkeit der italienischen Medienöffentlich-
Bedeutung des Labyrinths als vollkommenes Bild der keit: 1986 erhielt er den Mondello-Preis für den von
Verwirrung des modernen Menschen. 2002 erschien Garzanti herausgegebenen Roman Giustizia; in Mon-
in derselben Reihe mit dem Band Teatro auch eine dello wurde er mit Begeisterung empfangen, man wid-
Sammlung von Dürrenmatts Theaterstücken. mete ihm gar einen Wein. Das andere Ereignis war sein
Die Publikationen bei Feltrinelli und Einaudi posi- Tod im Jahr 1990. Alle großen Zeitungen veröffent-
tionierten Dürrenmatt kulturpolitisch links. In den lichten umfangreiche bebilderte Nachrufe. Ein ganz-
Jahren, in denen die Mitte dauerhaft die Regierung seitiger Artikel im Corriere della Sera (15.12.1990)
stellte, stand die Kultur fast ausschließlich links, und nannte ihn »einen der größten Schriftsteller und Dra-
beide Verleger bildeten mit ihren Programmen we- matiker unseres Jahrhunderts«.
sentliche Referenzpunkte. Dürrenmatts Themen ent-
sprachen der kritisch-säkularen Ausrichtung optimal: Literatur
Bernardi, Eugenio: Introduzione. In: Friedrich Dürrenmatt:
die Unmöglichkeit der Institutionen, Gerechtigkeit zu Romanzi e racconti. Hg. von Eugenio Bernardi. Torino
gewährleisten, die Infragestellung des Gerechtigkeits- 1993, IX–LIV.
konzepts selbst, der entgötterte Himmel, in dem der Spedicato, Eugenio: Friedrich Dürrenmatt e l’esperienza
Zufall regiert, und die existentielle und soziologische della paradossalità. Pisa 2004.
Metapher des Labyrinths.
Donata Berra
In den folgenden Jahren war Dürrenmatts Werk

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105 Japan 379

105 Japan heit der Dramen des Autors auch den misslungenen


Inszenierungen in den 1950er und 60er Jahren ge-
In Japan wurde Dürrenmatt bereits frühzeitig rezipiert schuldet ist.
und viel übersetzt, und zwar zuerst von den Theater- So blieb Dürrenmatt dem japanischen Publikum
macherinnen und -machern, dann von den Germanis- sehr lange fast unbekannt, obwohl viele seiner Werke
tinnen und Germanisten. Das erste übersetzte Werk – nicht nur Dramen, sondern bald auch Hörspiele,
war Die Ehe des Herrn Mississippi. Die Übersetzung Kriminalromane und Erzählungen – in Übersetzun-
wurde 1954 veröffentlicht, also zwei Jahre nach der gen zu lesen waren. Wiederentdeckt wurde er im Jahr
Buchpublikation des Originals. Die erste Aufführung 2011, als Japan von einem großen Erdbeben getroffen
eines Theaterstücks in japanischer Sprache fand im Juli wurde. Gleich nach dem Unfall im Kernkraftwerk Fu-
1957 in Tokyo statt: Der Besuch der alten Dame wurde kushima Daiichi brachte der deutsche Regisseur Peter
gespielt (R.: Toshiro Hayano), nur anderthalb Jahre Gössner, der seit 1993 in Japan lebt, Die Physiker in
nach der Zürcher Uraufführung. Beide Übersetzungen Tokyo als Lesedrama auf die Bühne und fand positive
stammten vom Übersetzer und Regisseur Mamoru Resonanz. Denn die moralische Verantwortung des
Kato. Bis Anfang der 1970er Jahre beschäftigte er sich Wissenschaftlers, vor allem des Kernphysikers, war
ausgiebig mit den Stücken Dürrenmatts. Die Überset- erneut ein höchstaktuelles Thema. 2012 wurden dann
zung von Die Physiker publizierte er schon 1962, als vier Erzählungen (Der Tunnel, Der Sturz, Die Panne
das Stück gerade in Zürich uraufgeführt wurde. und Das Sterben der Pythia) ins Japanische übersetzt
Die schnelle Rezeption hatte aber auch einen Nach- und als Band in einer populären Taschenbuchserie
teil: Kato übersetzte die Texte, ohne Dürrenmatts Dra- veröffentlicht. Das Buch verkaufte sich gut, und da-
maturgie richtig zu kennen, so dass die japanischen durch wurde Dürrenmatt dem breiten Publikum
Regisseure die Pointe der Stücke nicht unbedingt ver- schließlich bekannt. Im gleichen Jahr erschien auch
stehen konnten. Die Aufführung von Der Besuch der die Neuübersetzung des Kriminalromans Der Richter
alten Dame fand vielleicht deshalb kein lebhaftes und sein Henker, 2013 dann Der Verdacht und 2016
Echo. Erst acht Jahre später, 1965, folgte die Auffüh- Das Versprechen. In dieser Zeit begann eine Germa-
rung des zweiten Stücks Die Physiker (R.: Jiro Izumi), nistengruppe, gemeinsam eine dreibändige Überset-
die auch erfolglos blieb. Die japanischen Regisseure zung sämtlicher Theaterstücke mit ausführlichen
und Schauspieler konnten wohl auch die Komik des Kommentaren zu publizieren (2012, 2013, 2015). Ge-
Theaterstücks nicht anschaulich genug auf der Bühne genwärtig gehören die Stücke Dürrenmatts (u. a. Der
darstellen. Für diese Vermutung spricht, wie unter- Besuch der alten Dame) zum Repertoire mehrerer ja-
schiedlich die Aufführung des Stückes Romulus der panischer Theater.
Große im März 1970 (R.: Hiroko Watanabe) gegen-
über der Aufführung von Der Meteor im September Literatur
Primärtexte
desselben Jahres unter der Regie von Leopold Lindt- Theaterstücke [3 Bde.]. Übers. von Kazunori Hayanagi,
berg aufgenommen wurde. Die Kritiker klagten, Ro- Akira Ichikawa, Eri Katsuki, Eiji Kimura, Hiroko Masu-
mulus sei nicht ironisch-komisch genug dargestellt, moto und Yoshiki Yamamoto. Suwa 2012–2015.
während sie das Thema und die Komik des Meteor gut
verstehen konnten. Lindtberg war der Regisseur, der Sekundärliteratur
Masumoto, Hiroko: Die Rezeption der deutschschweizeri-
das Stück 1966 in Zürich mit Erfolg uraufgeführt hat-
schen Literatur im gegenwärtigen Japan. In: Asiatische
te, und es gelang ihm, diese Komödie auch in einer an- Studien. Zeitschrift der Schweizerischen Asiengesellschaft
deren kulturellen Umgebung erfolgreich aufzuführen. 58 (2004), 2, 467–478.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass japanische Zu- Terashima, Masako: Nihon ni okeru Friedrich Dürrenmatt
schauer durchaus die Voraussetzungen mitbringen, kenkyu [Die Dürrenmatt-Forschung in Japan]. In: Doitsu
das Theater Dürrenmatts zu verstehen und zu genie- Bungaku [Die Deutsche Literatur] 105 (2000), 237–252.
ßen. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Unbeliebt- Hiroko Masumoto

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380 VI  Rezeption und Wirkung – B Länderspezifische Rezeption

106 Polen len. Außer Warschau und Krakau besuchten sie auch


die Vernichtungslager von Auschwitz und Birkenau.
Die außerordentliche Popularität Dürrenmatts in Po- In verschiedenen Phasen seines Lebens pflegte
len fällt mit dem ›Tauwetter‹ Mitte der 1950er Jahren Dürrenmatt private und berufliche Kontakte mit aus
zusammen. Polen wirkte damals auch als eine Dreh- Polen stammenden Personen. Seit 1957 arbeitete Dür-
scheibe für die Verbreitung seiner Dramen in anderen renmatt eng mit dem in Polen geborenen Filmprodu-
mittel- und osteuropäischen Ländern. Die ironische zenten Lazar Wechsler zusammen (Es geschah am hel-
Gelassenheit des Schriftstellers entsprach dem Ge- lichten Tag, 1958; Die Ehe des Herrn Mississippi, 1961).
schmack der Kritiker und des Publikums nach der 1967 lernte er den Theaterintendanten Stanisław Sie-
Fastenzeit des sozialistischen Realismus. Besonders kierko kennen; er vermittelte ihm eine Anstellung am
das Warschauer Teatr Dramatyczny hat sich als Dür- Schauspielhaus Zürich und ermöglichte ihm so die
renmatts Hochburg profiliert. Die Saison 1969/70 bil- Emigration. Ein Beispiel der erfolgreichen Zusam-
dete den Höhepunkt seiner Popularität: fünf Stücke, menarbeit stellt der polnische Regisseur Erwin Axer
1765 Vorstellungen, 752.000 Zuschauer. Die polnische dar, der 1970 in Düsseldorf das Porträt eines Planeten
Übersetzung des Besuchs der alten Dame von Andrzej aufführte. Die Zusammenarbeit mit dem Filmregis-
Wirth und Marcel Reich-Ranicki erschien 1957, ande- seur Andrzej Wajda am Mitmacher in Zürich (1973)
re folgten. Ein Schweizer beobachtete 1962 in Polen: misslang hingegen.
»[V]on Dürrenmatt hörte man mehr als einmal sagen, Anfang der 1960er Jahre sprach man in Polen oft
er sei ein polnischer Nationaldichter geworden« (Von vom »Warten auf den polnischen Dürrenmatt« (Sugie-
Salis 1989, 209). Der Triumphmarsch des Autors auf ra 1998, 101). Dürrenmatt übte einen Einfluss nicht
den polnischen Bühnen wurde 1972 durch einen 727 nur auf einige polnische Dramatiker (Jerzy Broszkie-
Seiten starken Band Teatr (Wybór) mit fünf Dramen wicz, Sławomir Mrożek), sondern auch auf bildende
und vier Hörspielen begleitet. Künstler (hervorragende Plakate zu polnischen Auf-
Mehrere Werke Dürrenmatts wurden ausgeprägt führungen) und sogar auf Musiker aus (Omaggio a
politisch rezipiert. Dazu der Schriftsteller: »Ich habe Friedrich Dürrenmatt von Krzysztof Penderecki, 1994).
zum Beispiel in Polen mein Stück Ein Engel kommt
nach Babylon gesehen: […] die Szene, wo Akki ge- Literatur
Quellen
henkt werden soll. […] Akki erwidert, sein Traum wä- Über Polen. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-
re es, an der Laterne vor dem Regierungspalast zu A-m249_XVI.
hängen. Das gehe nicht, sagt der Henker, die Laterne
sei für die Mitglieder der Regierung bestimmt. An Sekundärliteratur
dieser Stelle jubelt das Publikum« (G 2, 180). Koprowski, Jan: Ludzie i książki [Männer und Bücher]. Łódź
1965.
Dürrenmatt beabsichtigte schon im Herbst 1958 ge-
Orłowski, Hubert: Dürrenmatt in Polen. Artikel, Rezensio-
meinsam mit Max Frisch eine Reise nach Polen, dann nen und Aufführungen einzelner Stücke in Warschau
im November 1959. Er schrieb eine kurze unveröffent- (1956–1978). In: Hans Bänziger (Hg.): Frisch und Dür-
lichte Rede Über Polen (SLA-FD-A-m249_XVI), in der renmatt. Materialien und Kommentare. Tübingen 1987,
er sich mit der damals aktuellen Thematik der Oder- 172–180.
Neiße-Grenze auseinandersetzte. Der erste Besuch des Sugiera, Małgorzata: Dialektische Verfahren in Dramen von
Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch. Wirkungen in der
Landes kam aber erst im Herbst 1962 zustande; eine
polnischen Dramatik nach 1956. In: Hans-Peter Bayer-
zweite Reise fand im Juni 1967 statt. Während der Dis- dörfer, Małgorzata Leyko, Małgorzata Sugiera (Hg.): Pol-
kussionen mit Fachleuten war ein Vergleich zwischen nisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten
den beiden Ländern besonders beliebt: Polen habe zu Weltkrieg. Tübingen 1998, 98–112.
viele Helden, die Schweiz dagegen zu wenige; beide Von Salis, Jean Rudolf: Kriege und Frieden in Europa. Politi-
bräuchten deshalb einen Antihelden wie Romulus sche Reden und Schriften 1938–1988. Zürich 1989.
den Großen (vgl. Koprowski 1965, 13). 1990 war der Jan Zieliński
Schriftsteller mit Charlotte Kerr zum letzten Mal in Po-

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107 Sowjetunion 381

107 Sowjetunion der Roman Grieche sucht Griechin und das Stück Der
Meteor (1967) publiziert. 1969 wurden Dürrenmatts
Die Rezeption von Friedrich Dürrenmatts Werk in Komödien in einem gleichnamigen Band veröffent-
der Sowjetunion wurde vor allem durch das politische licht (Kommentar von E. Krasnovskaja, Vorwort von
und kulturelle Klima geprägt, das auch für die ideo- Jurij Archipov). Zwischen 1962 und 1971 fanden die
logische Selektion und Reglementierung der Rezepti- Stücke Der Besuch der alten Dame (Ordžonikidze
on ›westlicher‹ Autoren tonangebend war. Gleichzei- 1962; Moskau 1966), Die Physiker (Moskau 1965,
tig spielte Dürrenmatts politisches Denken eine große Leningrad 1967), Romulus der Große und Frank der
Rolle für die Verbreitung und Vermittlung seiner Fünfte (1968–1971 in baltischen Republiken) ihren
Werke im sowjetischen Kulturraum. Einerseits wurde Weg auf sowjetische Theaterbühnen.
er von der sowjetischen Zensur als ein unerbittlicher In den 1960er Jahren etablierte sich eine sowjeti-
Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft und ein um sche literaturwissenschaftliche Dürrenmatt-Rezepti-
globale Bedrohungen besorgter Humanist gesehen, on mit ihren charakteristischen Themenfeldern, Kon-
der in die Schablone des erlaubten Autors hineinpass- texten, theoretisch-methodischen Ansätzen und Dis-
te. Hinzu kam auch sein reges Interesse am sowjeti- kussionsfragen. Grundlegend hierfür waren die Un-
schen Kulturleben, das ihn zu drei Russland-Reisen tersuchungen von Boris Zingerman, Dmitrij Zatonskij
(1964, 1967, 1987) anregte. Andererseits waren seine und Jurij Archipov. Einen hohen Stellenwert genießen
kritische Haltung gegenüber der kommunistischen auch die einschlägigen Veröffentlichungen von Nina
Doktrin oder seine Protestaktion gegen den sowjeti- Pavlova und Vladimir Sedel’nik. In der sogenannten
schen Einmarsch in Prag (1968) inkompatibel mit Ära der Stagnation unter Leonid Brežnev (1964–
dem Bild eines ›zuverlässigen Freundes‹ der Sowjet- 1986) wurde Dürrenmatt als eine problematische Fi-
union. Aus diesem Grunde konfrontierte die sowjeti- gur stärker in die Peripherie des kulturellen Lebens
sche Rezeption Dürrenmatt stets mit der von oben gerückt. Nichtsdestotrotz wurden Stücke von ihm
verordneten Eindämmungsstrategie. weiterhin inszeniert, etwa Der Besuch der alten Dame
Den Anfang der Dürrenmatt-Rezeption markieren (1966, Moskovskij Dramatičeskij Teatr na Maloj Bron-
die in der Tauwetterperiode (1953–1964) publizierten noj, R.: Andrej Gončarov), Romulus der Große (1980,
Übersetzungen. Als Erstes kam Der Besuch der alten Tbiliskij akademičeskij teatr imeni Mardžanišwili, mit
Dame (1958) heraus – die Tragikomödie, die sich in Otar Megvinetuchucesi in der Rolle von Romulus)
der Sowjetunion großer Beliebtheit erfreute. 1960 oder Die Physiker (1977, Tbilisskij gosudarstvennyj
folgten die estnischen Übersetzungen der Prosafas- dramatičeskij teatr im. A. S. Gribojedova, R.: Alexan-
sung von Die Panne und des Hörspiels Abendstunde der Tovstonogov).
im Spätherbst (Tallin). In russischer Übersetzung er- Eine Renaissance erlebte die Rezeption Dürren-
schien die Prosafassung der Panne erstmals 1961 in matts während Gorbatschows Perestroika (1986–
der Zeitschrift Inostrannaja literatura und wurde ein 1991). Neben den Inszenierungen seiner in der UdSSR
Jahr später in der populär orientierten Reihe Bibliote- wohl bekanntesten Stücke Der Besuch der alten Dame
ka Ogon’ka in einer Auflage von insgesamt 150.000 und Die Physiker entstanden Ende der 1980er Jahre
Exemplaren abgedruckt. Die Panne war das am häu- einige originelle Verfilmungen, die in den Kanon des
figsten herausgegebene Werk Dürrenmatts in der spätsowjetischen Kinos eingingen. Eine intensive Ar-
Sowjetunion. Der Erfolg des Werkes ist wohl, so beit mehrerer Übersetzer und Übersetzerinnen er-
Adrian Schnetzer (1992), auf die Kritik an ökonomi- möglichte die Herausgabe von Dürrenmatts Werken
schen Verhältnissen des Kapitalismus, auf das ›krimi- in fünf Bänden (Charkiv/Moskau 1997), die nach dem
nalistische Schema‹, den philosophischen Kern sowie Zusammenbruch der Sowjetunion erfolgte (Hg. von
das Potential subversiver Anspielungen auf Stalinsche Evgenija Kaceva, Vorwort von Vladimir Sedel’nik).
Schauprozesse zurückzuführen. Später wurden Über- Die postsowjetische Kanonisierung von Dürrenmatts
setzungen ausgewählter Kurzprosa (u. a. Der Tunnel, Œuvre fand nicht nur in zahlreichen Lehrbüchern
Die Stadt, 1964), das Stück Die Physiker (Tallinn 1964, der deutschsprachigen Literatur für Germanistik-Stu-
Vilnius 1965, Moskau 1969), die Kriminalromane Der dierende ihren Niederschlag. Auch ins ukrainische
Richter und sein Henker, Der Verdacht, Das Verspre- Schulcurriculum von 2001 wurde Der Besuch der alten
chen, das Hörspiel Das Unternehmen der Wega (1966), Dame als obligatorischer Text eingeführt.

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382 VI  Rezeption und Wirkung – B Länderspezifische Rezeption

Literatur Weber, Ulrich/Voloshchuk, Ievgeniia/Chertenko, Alexander


Primärtexte (Hg.): Minotavr u labirynti: tvorchist’ Fridrikha Diurren-
Sobranie sochinenij [v 5 tt.]. Sost. Evgenija Kaceva. Char’kov matta mizh tradycijeju ta subversijeju [Minotaurus im
1997–1998. Labyrinth: Friedrich Dürrenmatts Œuvre zwischen Tradi-
tion und Subversion]. Kiew 2015.
Sekundärliteratur
Schnetzer, Adrian: Groteske und Ideologie. Die Rezeption Ievgeniia Voloshchuk
von Friedrich Dürrenmatts Komödie Der Besuch der alten
Damen in Russland (1956–1991). Lizentiatsarbeit. Univ.
Zürich 1992.
108 Spanien 383

108 Spanien Noch vor Francos Tod wurden mehrere Werke in-


szeniert: 1973 El matrimonio del señor Mississippi im
Von einer ausgeprägten Aufnahme Dürrenmatts in Madrider Teatro Arniches; Hércules y el estercolero,
weiten Kreisen der spanischen Gesellschaft kann man und in der Sala Amics de les Arts de Terrasa die katala-
nicht sprechen. Das hat nicht nur mit der Eigenart sei- nische Fassung von Frank V, opereta d’una banca pri-
ner Werke zu tun, sondern vor allem mit der sozialen vada. In verschiedenen Verlagen erschienen weiterhin
und politischen Lage Spaniens während der Franco- sowohl erzählerische als auch dramatische Werke:
Zeit. Während des Kalten Krieges, der das Land mit- 1970 die Romane El juez y su verdugo (Der Richter und
ten im Prozess des Wiederaufbaus in eine isolierte Po- sein Henker) und El desperfecto (Die Panne), 1973 Hér-
sition versetzte, herrschte dagegen eine gewisse Libe- cules y el establo de Augías (Herkules und der Stall des
ralität, so dass Studierende und Intellektuelle mittels Augias). Vieles änderte sich in Spanien nach Francos
Übersetzungen aus Lateinamerika Zugang zu vielen Tod 1975, darunter auch die Rahmenbedingungen des
der vom Regime verbotenen Texte erlangten. Die ers- Literaturmarktes. Das Ende der Diktatur brachte eine
ten Annäherungen an Dürrenmatt kamen deswegen große Öffnung auf Verlagsebene mit sich, und Dür-
zunächst über den Atlantik, vor allem aus Argenti- renmatts Werk erlebte in den 1980er Jahren eine ver-
nien, wo der Verlag General Fabril zwischen 1960 und stärkte Aufnahme: Neben Neuinszenierungen von
1962 sieben Werke Dürrenmatts auf den Markt ge- schon aufgeführten Stücken kamen die Theaterfas-
bracht hatte. Äußerst positive Reaktionen kamen auch sung des Hörspiels El héroe nacional (1980) sowie Ró-
aus Mexiko, wo in den 1960er Jahren drei Stücke ur- mulo el Grande (1986) auf die Bühne – ein Stück, das
aufgeführt wurden: La visita de la vieja dama, Los físi- erst 2005 einen Riesenerfolg am Festival de Teatro
cos und Rómulo Magno. Dürrenmatt wurde auf diese Clásico der Stadt Mérida erleben sollte. Drei Romane
Weise schnell zu einem Autor für Intellektuelle und wurden neu veröffentlicht: Justicia und El encargo
bürgerliche Minderheiten. Bemerkenswert ist jedoch, (Der Auftrag) auf Spanisch und Katalanisch, und Grie-
dass er in Spanien nicht durch ein Theaterstück be- go busca griega. Damit erfuhr auch Dürrenmatts Pro-
kannt wurde, sondern erst durch Ladislao Vajdas Film sawerk unter den Kritikern erstmals eine positive Auf-
El cebo / Es geschah am hellichten Tag (1958). Vajda nahme. Der Verlag Tusquets begann mit einer syste-
war im Franco-Spanien ein erfolgreicher Regisseur, matischen Übersetzung des Werks durch den aus-
was vielleicht einen gewissen Einfluss darauf hatte, gezeichneten Übersetzer Juan José del Solar. Einige
dass schon 1959 das Teatro Español in Madrid das Kurztexte erschienen sogar in Sammlungen von Som-
Stück La visita de la vieja dama auf die Bühne brachte. merlektüren, die 1988 und 1989 zusammen mit den
Das Publikum war eher geteilter Meinung. Trotzdem Tageszeitungen El Mundo und El País verkauft wur-
war die katalanische Fassung dieses Stücks der erste in den. Die Verleger versuchten unter den neuen sozio-
Spanien veröffentlichte Text Dürrenmatts (1962). Ein politischen Verhältnissen, Dürrenmatt zu einem Klas-
Jahr später erschien die spanische Fassung im Verlag siker zu machen, und gegen Ende des Jahrhunderts,
Aguilar in einem Schweizer Autoren gewidmeten 1999, wird El juez y su verdugo in die Reihe Clásicos
Band der Reihe Teatro Contemporáneo. 1964 erschie- contemporáneos internacionales im Verlag Planeta auf-
nen katalanische Übersetzungen von Das Versprechen genommen. Das Interesse an Dürrenmatts Werken ist
(La promesa) und Der Richter und sein Henker (El jut- heutzutage noch lebendig, und langsam werden noch
ge i el seu botxi), ein Jahr später Frank V und 1966 unübersetzte Texte auf den Markt gebracht: El coope-
Grieche sucht Griechin (Greg busca grega). Los físicos, rador (Der Mitmacher) erschien 2000, die galizische
1965 uraufgeführt, erfuhr eine bessere Aufnahme und Fassung 2002 unter dem Titel O colaborador; 2010 er-
wurde in diesem Jahr bis zu 150 Mal gespielt. Die ge- schien Minotauro auf Katalanisch, 2012 El túnel. 2011
druckte Fassung erschien erst 1968 im Verlag Esceli- wurde im Palacio de Festivales de Cantabria La avería
cer. 1966 wurde im Madrider Teatro Beatriz das Stück (Die Panne) uraufgeführt und vom Publikum und der
Der Prozeß um des Esels Schatten (Proceso por la som- Kritik sehr positiv aufgenommen. 2018 kam eine erste
bra de un burro) inszeniert und mit großem Erfolg ge- Übersetzung auf Baskisch heraus: Epailea eta haren
feiert. Trotz seiner damals nicht gern gesehenen star- borreroa (Der Richter und sein Henker). Trotz allen
ken Gesellschaftskritik und seiner Beschreibung einer Versuchen bleibt Dürrenmatt vom großen Publikum
an Gleichgewicht mangelnden neurotischen Gesell- aber immer noch weitgehend unbeachtet und findet,
schaft wurde es sofort zu einem der beliebtesten Stü- wie die meisten deutschsprachigen Autoren, seine Le-
cke Dürrenmatts. ser nur in intellektuellen und bürgerlichen Kreisen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
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384 VI  Rezeption und Wirkung – B Länderspezifische Rezeption

Literatur Palacios León, Fernando J.: Atlas de un éxito interminable.


Fortea, Carlos: Un cebo. Friedrich Dürrenmatt en España... Dürrenmatt en los escenarios españoles. In: Turia. Revista
sobre papel. In: Turia. Revista cultural 125–126 (2018), cultural 125–126 (2018), 187–198.
182–186.
Isabel Hernández
109 Tschechien/Slowakei 385

109 Tschechien/Slowakei Kriminalromane (beides tsch., slow.). Im Rundfunk


wurde Herkules und der Stall des Augias (Bratislava
Nach den ersten Aufführungen gehörten Dürrenmatts 1964) und Nächtliches Gespräch (Prag 1964/66) pro-
Dramen in tschechischen und slowakischen Theatern duziert.
zum festen Repertoire. Die Präsenz seines Werks wi- Die Inszenierung von Die Wiedertäufer mit Josef
derspiegelt deutlich die gesellschaftspolitischen Um- Svobodas bekanntem Bühnenbild von 1968 (R.: Mi-
brüche in der damaligen Tschechoslowakei. Insgesamt roslav Macháček, Nationaltheater Prag, 3.3.1968) ge-
verlief die Rezeption Dürrenmatts im tschechischen wann im Kontext des ›Prager Frühlings‹ höchstaktuel-
und slowakischen Sprach- und Kulturraum (bis Ende le Bedeutung. In der Slowakei wurde diese erste Re-
1992 Tschechoslowakei) mit Blick auf die jeweils eige- zeptionsphase mit dem erfolgreich inszenierten Stück
ne Theatertradition jedoch unterschiedlich. An den Play Strindberg (R.: Jaroslav Chundela, Theater Jozef
tschechischen Bühnen war seine Wahrnehmung auch Gregor Tajovskýs, Zvolen, 31.10.1969) beendet.
deutlich intensiver als in der Slowakei. Die sogenannte Normalisierung in den 1970er
Das erste aufgeführte Stück war Der Besuch der al- Jahren brachte strenge kulturpolitische Maßnahmen
ten Dame (R.: Miroslav Horníček, Theater ABC, Prag, mit sich. Nach dem Auftreten der Bürgerrechtsinitia-
16.10.1959), wobei die Poetik des Autors völlig miss- tive Charta 77 wurden Dürrenmatt-Inszenierungen
verstanden wurde. Erfolgreich war erst Karel Nováks aufgrund seiner Kritik an den undemokratischen
Inszenierung von Frank der Fünfte im Theater E. F. Praktiken in der Tschechoslowakei (Basel 1968) ganz
Burians (Prag, 28.9.1961), die von der damals do- verboten.
minierenden Darstellungsweise – dem psychologisie- Im Wendejahr 1989 wurde Herkules und der Stall
renden und realistischen Theater – abwich. Im Gegen- des Augias im Nationaltheater in Prag (R.: Václav Hu-
satz dazu wurden Die Physiker (R.: Ladislav Vymětal, deček, 2.3.1989) aufgeführt und als Parabel der da-
Städtische Bühnen Prag, 8.5.1963) traditionell mit ei- maligen gesellschaftlichen ›Reinigung‹ wahrgenom-
nem Schwerpunkt auf der Schauspielkunst präsen- men. Ferner erfolgte die slowakische Aufführung von
tiert. Mit ähnlichen Schwierigkeiten (falsche Auffas- Der Besuch der alten Dame in Martin (R.: Roman Po­
sung von Dürrenmatts Stil und Chargieren der Schau- lák, Theater des Slowakischen Nationalaufstandes,
spieler) kämpften auch die slowakischen Theater. 18.11.1989). Kurz darauf fielen die ideologischen
Trotzdem stieß die Inszenierung von Die Physiker im Vorbehalte gegen den Autor.
Slowakischen Nationaltheater (R.: Ivan Lichard, Brati- Dürrenmatts Stücke werden bis heute gelegentlich
slava, 9.3.1963) durch das Thema auf große Resonanz aufgeführt. Von den tschechischen Produktionen wä-
(im Programm bis 1966, 90 Vorstellungen). re etwa zu nennen: die multimediale Minotaurus-Be-
In den 1960er Jahren emanzipierte sich das Theater arbeitung von Josef Svoboda (Laterna Magika, Prag,
zunehmend von den Dogmen des sozialistischen Rea- 15.2.1990), die Erstaufführung von Achterloo (R.: Mi-
lismus und fand, beeinflusst von der westlichen Kul- loš Horanský, Städtische Bühnen Prag, 5.1.1991) und
tur, zu stilistischer und formaler Vielfalt zurück. Erst von Der Mitmacher im Theater am Gelände (R.: David
jetzt setzte man sich gründlich mit dem epischen Czesany, Prag, 18.3.2008), die wiederum als Kritik der
Theater auseinander und entdeckte das absurde Dra- aktuellen politischen Verhältnisse interpretiert wur-
ma. Neben klassischen westlichen Autoren setzten den. Die slowakischen Inszenierungen nach 1989 ent-
sich auch tschechoslowakische Dramatiker durch halten sich nicht der psychologisierenden Tendenzen
(Václav Havel, Josef Topol, Peter Karvaš). Nun wurden und setzen den Akzent auf die Schauspielkunst, wie
Dürrenmatts Stücke in diesem Kontext wahrgenom- die Aufführung von Play Strindberg (R.: Pavol Haspra,
men und nicht mehr ideologisch als Kritik einer kapi- Slowakisches Nationaltheater, Bratislava, 30.1.1993)
talistischen Gesellschaft interpretiert. Er wurde zu ei- belegt. Von Interesse sind des Weiteren Der Besuch
nem eigentlichen Modeautor. Seine Stücke wurden [sic] (R.: Karol Rédli, Hochschule für darstellende
parallel auf verschiedenen Bühnen gespielt, was ins- Künste, Bratislava, 4.12.2017) und Die Physiker (R.:
besondere durch das dichte Netz von Stadttheatern Jan Klata, Slowakisches Nationaltheater, Bratislava,
möglich wurde. In der Slowakei verlief dieser Prozess 1.6.2019).
langsamer, denn hier bestand keine ähnlich kon- Für den tschechischen Rundfunk wurde Dürren-
tinuierliche Theatertradition. matt Anfang der 1990er Jahre durch die Produktionen
Bedeutend waren Editionen seiner Theaterstücke von Josef Henke (tsch.) wiederentdeckt. Das auf die
und Hörspiele (tsch.), der Theatertheorie sowie der Kriminalromane reduzierte Prosawerk Dürrenmatts

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386 VI  Rezeption und Wirkung – B Länderspezifische Rezeption

erschien Anfang der 1990er Jahre in neuen Überset- Literatur


zungen (tsch., slow.). Erst nach 2000 wurde Dürren- Dürrenmatt-Ausgabe der Zeitschrift Divadlo [Theater], 5,
matts letzter Roman Durcheinandertal in beide Spra- 1964.
Hořínek, Zdeněk: Doslov [Nachwort]. In: Friedrich Dürren-
chen übersetzt. Ediert wurden auch zehn Theaterstü- matt. Hry [Theaterstücke]. Prag 2006, 581–596.
cke (tsch.). Positiv aufgenommen wurde die Laudatio Weber, Ulrich: Dürrenmatt und der Prager Frühling. In:
des Autors anlässlich der Verleihung des Gottlieb- Dora, Cornel (Hg.): Prager Frühling 1968. Erinnerungs-
Duttweiler-Preises an den damaligen tschechoslowa- stücke aus der Sammlung Felix Philipp Ingold. St. Gallen
kischen Präsidenten Václav Havel (1990; vgl. WA 36, 2008, 13–17.
175–188). Sie stellt, da unmittelbar vor seinem Tod ge- Michaela Kuklová
halten, generell ein intellektuelles Vermächtnis Dür-
renmatts dar.
110 UK/USA 387

110 UK/USA für seine Texte. BBC produzierte 1969 das Hörspiel


Conversation at Night With a Despised Character mit
Dürrenmatt ist im englischsprachigen Raum primär John Gielgud und Alec Guinness; Gottfried von Ei-
als Dramatiker bekannt. Nach dem Broadway-Erfolg nems Opernfassung von Der Besuch der alten Dame
von The Visit sorgten seine Stücke vor allem in den wurde 1972 – inszeniert von Francis Ford Coppola –
1950er und 1960er Jahren für Aufsehen. Dieser Fo- auch in San Francisco aufgeführt. An musikalischen
kus auf das dramatische Werk bleibt bis heute be- Bearbeitungen im angelsächsischen Raum sind wei-
stimmend. ter das Musical The Visit (2001) von John Kander und
Nachdem 1954 die erste englische Übersetzung von Fred Ebb sowie die Oper The Minotaur (2008) von
The Judge and His Hangman in England positiv auf- Harrison Birtwistle zu erwähnen.
genommen wurde, fand dieser Text in einer neuen 1969 erhielt Dürrenmatt von der Temple University
Übersetzung 1955 bei der US-amerikanischen Presse Philadelphia den Ehrendoktortitel. Am dortigen Uni-
wenig Anklang. Erst mit der Lancierung des in Europa versitätstheater wohnte er der US-amerikanischen
bereits erfolgreichen Stücks The Visit (Der Besuch der Premiere von The Meteor bei.
alten Dame) am Broadway setzte im angelsächsischen 1981 war Dürrenmatt Writer in Residence an der
Raum eine breitere Rezeption ein (vgl. Loeffler 1976). University of Southern California in Los Angeles, was
Für dieses von langer Hand geplante Projekt konnten auch Anlass des ersten wissenschaftlichen Symposi-
die Produzenten 1957 den Regisseur Peter Brook ge- ums im englischsprachigen Raum wurde (Play Dür-
winnen. Maurice Valency übertrug den Text in Zusam- renmatt, organisiert von Moshe Lazar; vgl. Lazar
menarbeit mit Dürrenmatt und Brook ins Englische. 1983). Auf den britischen Inseln wurde der Autor
Nach einer Tryout-Tournee auf den britischen Inseln 1975 mit dem Welsh Arts Council International Wri-
und in den USA feierte diese Adaption, die zugunsten ters Price ausgezeichnet.
eines broadwaytypischen Realismus einige Anpassun- Obwohl einzelne Prosatexte und Essays Dürren-
gen gegenüber der deutschen Originalfassung auf- matts schon früher übersetzt worden sind, wird dieser
weist, am 5.5.1958 am Lunt-Fontanne-Theater Premie- Werkteil erst in jüngster Zeit stärker rezipiert. Dies
re und wurde mehrere Monate gespielt. Der Großerfolg zeigt sich auch in der englischsprachigen Forschungs-
war auch der geschickten Werbekampagne und dem literatur, die hauptsächlich auf das dramatische Werk
bekannten Schauspieler-Paar Alfred Lunt und Lynn ausgerichtet ist (z. B. Whitton 1980). Neben Arbeiten,
Fontanne in den Titelrollen zu verdanken. Es folgte ei- die sich mit philosophisch-theologischen Aspekten
ne Gastspielreise durch die USA und Kanada, später von Dürrenmatts Werk auseinandersetzen, wird die-
auch eine Station in London. 1958/59 wurde das Stück ses insbesondere im Kontext der deutschsprachigen
mit dem New York Critics Award als ›best foreign play‹ Nachkriegsliteratur und der europäischen Tradition
ausgezeichnet. In Australien wurde The Visit 1963 in ei- des Absurden diskutiert. 2006 ist bei der Chicago Uni-
ner anderen Produktion am Independent Theatre in versity Press eine dreibändige Werkausgabe (übers.
Sydney erfolgreich gespielt. Auch Fools Are Passing von Joel Agee) erschienen, die neben Neuübersetzun-
Through (Die Ehe des Herrn Mississippi) wurde bereits gen auch erstmals größere Teile aus den Stoffen auf
1958 in New York aufgeführt, rezeptionsbestimmend Englisch zugänglich macht.
blieb aber die Erfolgsgeschichte von The Visit.
Dürrenmatt fand infolgedessen primär als Drama- Literatur
Primärtexte
tiker Beachtung: 1962 wurde mit geringem Erfolg Ro- Selected Writings [3 Vols.]. Übers. von Joel Agee, hg. von
mulus in einer Broadway-Bearbeitung von Gore Vi- Kenneth J. Northcott und Theodore Ziolkowski. Chicago
dal aufgeführt. 1963 feierte das Stück The Physicists 2006.
unter Beifall der Kritik und in Anwesenheit Dürren-
matts am Aldwych Theatre in London Premiere, wie- Sekundärliteratur
Crockett, Roger A.: Understanding Friedrich Dürrenmatt.
derum unter der Regie von Brook. Im selben Jahr
Columbia 1998.
wurde The Physicists in Melbourne inszeniert; ein Dokumentation zu Gore Vidals Bearbeitung von Romulus
Jahr später reüssierte das Stück am Broadway. 1964 der Große. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-
erschien ein erster Sammelband mit vier Dramen, der E-55-3-c-3.
zusätzlich Dürrenmatts Vortrag Problems of Theatre Lazar, Moshe (Hg.): Play Dürrenmatt. Malibu 1983.
enthielt. Die Popularität des Autors zeigte sich auch Loeffler, Michael Peter: Friedrich Dürrenmatts Der Besuch
der alten Dame in New York. Basel 1976.
im Interesse der Filmbranche und weiterer Medien

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388 VI  Rezeption und Wirkung – B Länderspezifische Rezeption

Materialien zur Rezeption in den USA und Großbritannien. 1997 (mit ausführlicher Bibliografie der engl. Primär- und
Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-D-23-04. Sekundärliteratur).
Materialien zur Rezeption von The Visit. Schweizerisches Whitton, Kenneth S.: The Theatre of Friedrich Dürrenmatt.
Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-D-10-b-AD-5. London 1980.
The Swiss Institute, Schweizerisches Literaturarchiv (Hg.):
Friedrich Dürrenmatt – The Happy Pessimist. New York Simon Morgenthaler
C Gattungen

111 Comic-Adaptionen Beispiele

Literaturcomics Felix Loser widmet mit Der Besuch der alten Dame
(Olten 1998) Dürrenmatts Stück eine ausführliche
Basieren Comics und Graphic Novels auf literarischen grafische Nacherzählung. Seine oft knollennasigen
Texten, so können damit unterschiedliche Vorausset- und auf den ersten Blick komisch-grotesk wirkenden
zungen, Intentionen und Effekte verbunden sein. So Figuren werden gern aus kurzer Distanz gezeigt und
kann die grafische Erzählung sich primär der Vermitt- rücken dem Betrachter schon darum unbehaglich na-
lung von Inhaltswissen über ihren Ausgangstext wid- he. Das eingangs gezeichnete Spielzeugstädtchen Gül-
men; sie kann ihn aber auch parodieren oder aber zur len erweist sich sukzessiv als beklemmend. Viel Raum
Basis eines freien Umgangs mit Motiven, Figuren und nimmt die Darstellung von Reden und Gesprächen
Handlungselementen machen. Häufig beziehen sich ein – und zwar sowohl innerhalb der Einzelpanels als
kürzere wie längere Bildergeschichten im Comicstil auch mit Blick auf deren Kombinationen. Dadurch
auf Werke, die als Bestandteile eines Literaturkanons bleibt die Comic-Erzählung dem Drama recht nahe.
gelten. (Hierbei kann ein Vorwissen der Leser über den Wie Dürrenmatts Stück durch diverse Szenenanwei-
Text unterstellt werden, das die spezifische Transfor- sungen strukturiert wird (und die eigene Spielhand-
mationsleistung der Comic-Szenaristen und -Zeich- lung dabei implizit interpretiert), so fungieren bei Lo-
ner deutlicher wahrnehmen lässt.) Der literaturbasier- ser Textfelder (Captures) gliedernd und deutend.
te Comic weist ein breites Spektrum an Formaten auf, Als Graphic Novels in Buchformat präsentieren
das von buchförmigen Graphic Novels bis zu kurzen sich auch Nacherzählungen zu Der Richter und sein
Strips aus wenigen Panels oder narrativen Einzelbil- Henker (Bern 1988) und Der Verdacht (Luzern 1993).
dern reicht. Hinzu kommen Mischformate aus Texten Beide wurden als schulische Teamarbeit von Kursen
und Comics. an derselben Schule realisiert und nennen Dürren-
Von Dürrenmatt wurden sowohl Schauspiele als matt auf dem Cover als Autor. Die vom Stil der ›ligne
auch Erzählungen in diversen Gestaltungsformen claire‹ beeinflussten Graphiken des Richter-Comics
grafisch-narrativ umgesetzt. Manche zielen stark auf verorten die Handlung um den Kriminalisten Bärlach
eine plastisch-realistische Vermittlung der dargestell- in einer detailliert und präzise gezeichneten Berner
ten Welt; andere arbeiten mit ausgeprägten Stilisie- Kulisse. Der Text wird zwar den Bedürfnissen der Co-
rungen; manche wirken wie psychedelische Szenen micerzählung nach Knappheit angepasst; in Captures,
aus textbasierten Motiven. Die Comic-Versionen der Sprech- und Denkblasen findet sich der gekürzte Aus-
Stücke und Erzählungen stützen sich weitestgehend gangstext aber in gut wiedererkennbarer Weise insze-
auf die Schulklassiker des Autors; demgegenüber rü- niert. Die Bilderfolge nutzt filmische Mittel wie Se-
cken mit den buchgestalterisch freieren Publikationen quenzen aus gegenläufigen Perspektiven, Wechsel
unter Beteiligung von Zeichnern auch einige weniger zwischen Totale und Ausschnitt und Zoomeffekte.
breit bekannte Texte in den Blick. Auch die Graphic Novel Der Verdacht stellt die
Bezüge der Handlung zum Berner Umfeld heraus.
Stilisierend-charakterisierende Darstellungen der Fi-
guren wie insbesondere des maskenhaften Gulliver
wirken interpretationslenkend. Insgesamt verbinden
sich überpointierende Realistik der Darstellung und
motivliche Symbolik zu visuell dichten Szenen. Aus-

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390 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

geprägte Schwarz-Weiß-Kontraste verleihen den Bil- chendeckend aus den Gedächtnissen zu tilgen, und
dern Dramatik und verweisen zudem, vermittelt über werden dann als letzte Erinnerungsträger selbst be-
das schwarzweiße Streifenmuster von Häftlingsklei- handelt. Die grafische Inszenierung des Besuchs ar-
dung, auf das inhaltlich wichtige Bildfeld um gefange- rangiert parallele Paare von Panels. Eines davon impli-
ne KZ-Opfer. Fotorealistische Zeichnungen repräsen- ziert jeweils ein über Ill gesprochenes Urteil, das ande-
tieren Erinnerungsprozesse, kahle Schädel verweisen re zeigt die Konsequenzen für das Opfer; hier wird ru-
auf das Häftlingsdasein, aber auch auf Alter und Tod. dimentär eine Geschichte in drei Stationen erzählt, die
Durch recht ausführliche narrative Passagen bleibt die mit dem Tod Ills endet.
Bilderzählung der Textvorlage nah. Der Band Alice im Comicland. Comiczeichner prä-
Im Rahmen diverser parodistischer Sammelpubli- sentieren Werke der Weltliteratur (1993) bietet eine
kationen mit Beiträgen verschiedener Zeichner er- grafische Kurzversion zur Erzählung Der Tunnel, ge-
schienen kurze, inhaltlich stark komprimierte und zeichnet von M. S. Bastian (Mahrer-Strich 1993, 9).
ostentativ reduzierte Comic Strips zu bunt gemischten Captures und Sprechblasen ergänzen die zunehmend
literarischen Kanon-Texten verschiedener Sprachräu- deformierter wirkenden Bildmotive. In den sechs
me. Konzeptuell analog, reduzieren die Beiträger meh- schwarzweißen Panels, die stilistisch an Lithografien
rerer solcher Comic-Sammlungen ihre Bezugstexte auf erinnern, wird der Reisende im Zug immer näher an
einseitige Darstellungen. In Moga Mobos 100 Meister- den Betrachter herangezoomt; das letzte Capture
werke der Weltliteratur (2001) finden sich Dürrenmatts spricht vom unaufhaltsamen Rasen des Zugs in die
Besuch einer [!] alten Dame, gezeichnet von Anja Nolte Erdmitte; der Reisende, mit sich auflösenden Ge-
(Moga Mobo 2001, 16), sowie Die Physiker, gezeichnet sichtszügen, hat auch auf bildkompositorischer Ebene
von Ralf Bohde (ebd., 101), persifliert, jeweils in indivi- jede Haltung verloren.
duellem Stil und schwarzweiß. Nolte zeichnet acht Beispiele für die Comic-Rezeption von Dürren-
gleich große und ordentlich zu zwei Kolumnen an- matt-Texten finden sich auch in bebilderten Textaus-
geordnete Panels, doch mit dieser (dem Design des gaben, deren Zeichner sich stilistisch am Comic ori-
Bandes entsprechenden) Ordnung kontrastiert ein In- entieren oder sogar Panelsequenzen gestalten, die den
szenierungseinfall, der gegen Comic-Konventionen Text begleiten. Die Erzählung Abu Chanifa und Anan
verstößt: Übergroß erstreckt sich die ›alte Dame‹ über ben David hat Sergio Toppi 2003 für eine deutsch-ita-
sieben der acht Panels, in ihrer Macht auch visuell om- lienische Textausgabe zeichnerisch interpretiert. Sei-
nipräsent. Alle anderen Figuren sind zwergenhafte Sta- ne schwarzweißen Graphiken in Comicoptik wech-
tisten; eine kollektive Exekution findet statt; makabre seln sich mit Textabsätzen ab. Dialoge und labyrinthi-
Motive überwiegen die Komik. Komisch-grotesk neh- sche Wege stehen im Mittelpunkt.
men sich demgegenüber die acht Panels von Bodes Hannes Binder illustrierte durch schwarzweiße
Physikern aus; Bode baut aus Strichfiguren und physi- Schabzeichnungen das gestalterisch ambitionierte
kalischen Formeln eine kuriose Geschichte. Buch Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler. Ein
In der zweibändigen kanonparodistischen Comic- Fragment (2007). Das Schachbrettmuster inspirierte
Sammlung Literatur gezeichnet bietet der zweite Band die mise-en-page der Text- und Bildblöcke. Die Bilder
(2004) schwarzweiße Kurzcomics zu denselben Stü- inszenieren Dürrenmatts Geschichte als Geschichte
cken wie in den 100 Meisterwerken der Weltliteratur. von Schachfiguren und nehmen die Basismetapher
Die Physiker sind von Florian Satzinger gezeichnet der Erzählung insofern beim Wort. Die Erzählung
(Alber/Wolf 2004, Nr. 77), Der Besuch der alten Dame wurde zunächst als Zeitungsbeitrag publiziert (FAZ,
von Muromi Frühling (ebd., Nr. 97). Begleitet werden 5.9.1998). Binders Illustrationen sind Schabzeichnun-
die Ein-Seiten-Comics jeweils durch verulkende In- gen, düster durch ihre Schwarzgrundigkeit, dabei aus-
haltsdarstellungen von Robert ›Jazze‹ Niederle. Die nehmend detailliert und plastisch. Auf dem Buch-
Physiker-Handlung präsentiert sich als Fortsetzung umschlag präsentiert sich ein naturalistisch porträ-
der Handlung von Dürrenmatts Schauspiel nach dem tierter Dürrenmatt als Schachspieler.
Entkommen der als groteske Hybridfiguren aus Anja Nolte hat für ihre Graphic Novel zu Der Besuch
Mensch und Tier, Marsmännchen und Kuscheltier ge- der alten Dame (in DU, 75, 2015) ebenfalls eine auffäl-
zeichneten Physiker aus dem Irrenhaus; auf den Mond lige Bildsprache eingesetzt: Figuren, Objekte und
geflohen, zerstören sie alles Erinnerungsvermögen auf Schauplätze sind in einem lebhaft farbigen und for-
der Erde mit einem »Gehirnbruzzler«, um die von der menreichen Collagestil zu teils ganzseitigen Bildern
Irrenärztin gestohlene Einsteinsche Weltformel flä- montiert, ohne ordnende Panelsequenzen, aber mit
111 Comic-Adaptionen 391

Sprechblasen, die allerdings ebenfalls in vielen Varian- Dürrenmatts eigenes zeichnerisches Werk weist
ten erscheinen: ein Durcheinander, das an Dürren- zwar Berührungspunkte zum Comic auf – durch seine
matts Vorliebe für Labyrinthisches erinnert. Benjamin Tendenz zum Karikaturistischen und zur prägnanten
Gottwalds Graphic Novel zu Die Physiker ist durch die zeichnerischen Abbreviatur, aber auch durch eine
Akzentuierung der Bühnenhaftigkeit des gezeichneten Vorliebe für groteske, monströse und zugleich ko-
Handlungsraums charakterisiert (Gottwald/Dürren- mische Gestalten –, es spielt als Ausgangsbasis für
matt 2018). Wie ein auf den Spielbeginn wartender Zu- Dürrenmatt-Comics aber keine tragende Rolle. Im-
schauer im Theater sitzt der Betrachter der Graphic merhin wird in der Graphic Novel zu Der Verdacht mit
Novel nach der Angabe »Akt Eins« anfangs vor einem Bildzitaten gearbeitet, die dem grafischen und maleri-
menschenleeren, mit spärlichen, aber prägnanten Re- schen Werk Dürrenmatts entstammen, seinen Dar-
quisiten ausgestatteten Spielort, bevor zunächst eine stellungen labyrinthisch-verwirrender Räume und
Stimme (repräsentiert durch eine Sprechblase) ver- katastrophaler Ereignisse.
nehmbar wird und dann eine Figur auftaucht (S. 5).
Die Linienführung der Zeichnungen ist dynamisch, Literatur
Primärtexte
manchmal explosiv. Rezensent Andreas Platthaus Alber, Wolfgang/Wolf, Heinz (Hg.): Literatur gezeichnet,
spricht von einem »Geschehen in einem Bühnenkas- Bd. 2. Wien 2004.
ten mit heftig fluchtenden Linien« (Platthaus, 2019, Binder, Hannes: Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler.
unpag.) und betont die Abstimmung des grafischen Ein Fragment. Großhansdorf 2007.
Inszenierungsmodus auf den Kammerspielcharakter Dürrenmatt, Friedrich: Der Richter und sein Henker. Comic
auf der Grundlage des Romans. Zeichnungen: Kernfach
des Stücks. Auch dass der Zeichenstil an »Konstrukti-
Zeichnen. Städt. Literaturgymnasium Bern-Neufeld. Bern
onszeichnungen« (Platthaus, 2019, unpag.) erinnert, 2003.
passt zur Welt der »Physiker«. Durch Streichung er- Dürrenmatt, Friedrich: Der Verdacht. Comic auf der
heblicher Teile der Handlung nimmt Gottwald eine Grundlage des Romans. Textbearbeitungen und Zeich-
Konzentration des Stücks vor und unterwirft die ge- nungen: Kernfächer Deutsch und Zeichnen. Städt. Litera-
zeichnete Bühne selbst permanenten Transformatio- turgymnasium Bern-Neufeld. Luzern 1993.
Dürrenmatt, Friedrich/Loser, Felix: Der Besuch der alten
nen. Der Abdruck des Dürrenmatt-Stücks im An-
Dame. Comic, auf der Grundlage der dramatischen
hangsteil der Graphic Novel lädt zum Vergleich zwi- Komödie vollends überarbeitete Zweitfassung. Olten
schen Textvorlage und Graphic Novel ein. Dabei er- 1998.
scheinen Farben und Formen der zum Piktografischen Dürrenmatt, Friedrich/Gottwald, Benjamin: Die Physiker.
tendierenden Bilderfolge als die zentralen Protagonis- Frankfurt a. M. 2018.
ten der Gottwaldschen Inszenierung. Mahrer-Strich, Irene (Hg.): Alice im Comicland. Comic-
zeichner präsentieren Werke der Weltliteratur. Zürich
1993.
Moga Mobo [Künstlergruppe]: 100 Meisterwerke der Welt-
Aspekte und Deutungsansätze literatur. Berlin 2001.
Nolte, Anja: Der Besuch der alten Dame. Illustrationen mit
Die Graphic Novels, zeichenstilistisch different, arbei- Zitaten aus dem Werk. In: Friedrich Dürrenmatt: Denker
– Maler – Weltautor, DU 75 (2015), 862.
ten mit vielen Details und akzentuieren vor allem das
Platthaus, Andreas: Schlimmstmögliche Wendung – best-
(Schweizer) Lokalkolorit der jeweiligen Geschichten. mögliche Zeichnung. [= Besprechung zu Die Physiker von
Die Kurzcomics setzen, genrebedingt, Abstraktionen Dürrenmatt/Gottwald, 8. März 2019]. In: https://blogs.faz.
und Reduktionen ein – sowohl auf der Ebene der er- net/comic/2019/03/08/schlimmstmoegliche-wendung-
zählten (dabei manchmal minimalisierten) Geschich- bestmoegliche-zeichnung-1409/ (25.7.2020).
ten als auch auf der der Bildersprache. Wird hier auch Sergio Toppi illustra Friedrich Dürrenmatt. Abu Chanifa e
Anan ben David. Milano 2003.
parodistisch mit den Textvorlagen verfahren, so im-
pliziert dies doch keine Verspottung dieser Vorlage Sekundärliteratur
selbst (deren kanonischer Rang augenzwinkernd be- Schmitz-Emans, Monika: Friedrich Dürrenmatt im Comic
stätigt wird), sondern bildet vielmehr den Versuch, – Friedrich Dürrenmatt und der Comic. In: Ulrich Weber
groteske Motive und Einfälle Dürrenmatts mit ande- u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie. Dürrenmatt
intertextuell und intermedial. Göttingen 2014, 271–301.
ren Gestaltungsmitteln herauszupräparieren. Dabei
kommt es gelegentlich zu Hybridisierungen mit ande- Monika Schmitz-Emans
ren Bildsprachen und Motivressourcen aus den Berei-
chen Horror, Science Fiction und Strichzeichnung.
392 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

112 Dürrenmatt auf der Bühne spielte Autor an Schweizer Theatern. Anlässlich seines
90. Geburtstags war Der Besuch der alten Dame das
In den Spielplänen der deutschsprachigen Theater am zweithäufigsten inszenierte Stück an deutschen
nimmt Dürrenmatt einen der vorderen Plätze im Ran- Theatern. Bei der Aufführungszahl lag es gar auf Platz
king der meistgespielten Autorinnen und Autoren ein. eins. Die Physiker belegte in der Schweiz in der Saison
Der Besuch der alten Dame und Die Physiker sind seine 2013/14 den ersten Platz in allen Kategorien des Ran-
weltweit erfolgreichsten Dramen. Regisseurinnen und kings: Anzahl der Inszenierungen, Aufführungen und
Regisseure schreiben sich in bestehende Inszenie- Zuschauende. Auch Bühnenfassungen der Kriminal-
rungstraditionen ein, suchen neue Interpretationen romane wie Der Richter und sein Henker und Das Ver-
und arbeiten sich immer wieder an Dürrenmatts Tex- sprechen erfreuen sich anhaltend großer Beliebtheit
ten ab. In höchst unterschiedlichen kulturellen und (vgl. Lizenzverträge Diogenes Verlag). Bei der Kano-
historischen Kontexten setzen sich Theaterschaffende nisierung der Erfolgsstücke Der Besuch der alten Da-
weltweit auf vielfältigste Weise mit seinem Werk aus- me und Die Physiker sowie der Kriminalromane spiel-
einander. Gegenwärtig entdecken Theaterschaffende ten auch die Verfilmungen (s. Kap. 60, 114) eine zen-
das weniger beachtete Spätwerk wieder; Bühnenadap- trale Rolle sowohl als Multiplikatoren wie auch im
tionen seiner späten Prosa setzen Impulse für die Hinblick auf die Interpretation der Texte.
Neulektüre. Der folgende Beitrag bietet eine Typolo- Die qualitative Untersuchung führt zu fünf Insze-
gie an, die grundlegende Herangehensweisen an Dür- nierungstypen. Jeder Typus ist durch ein bestimmtes
renmatts Texte charakterisiert und anhand exemplari- Verhältnis zwischen Text und Inszenierung charakte-
scher Inszenierungen veranschaulicht. risiert, wobei die drei erstgenannten Inszenierungs-
Die Rezeption von Dürrenmatts Werk im Theater typen den Kanon der Aufführungstradition von Dür-
kann einerseits quantitativ, andererseits qualitativ be- renmatts Texten bilden. Die Mehrheit der Inszenie-
schrieben werden. Die quantitative Dimension lässt rungen weist Eigenschaften eines oder mehrerer die-
sich in einem Kontinuum fassen: Am einen Ende des ser Typen auf.
quantitativen Spektrums befinden sich Texte, die erst
nach und nach für die Bühne entdeckt wurden, etwa
die späte Prosa wie Der Auftrag, Durcheinandertal Umsetzung
und die Stoffe. Am anderen Ende dieses Spektrums
stehen die zu Klassikern avancierten Texte, welche Der Text wird als Werk verstanden, die Inszenierung
über Jahrzehnte hinweg in einer Vielzahl von Kul- transferiert ihn auf die Bühne. – In Hans Gauglers In-
turen und Theaterformen immer wieder auf die Büh- szenierung Der Besuch der alten Dame an der Emmen-
ne gebracht wurden und werden. Sie bilden den Ka- taler Liebhaberbühne (1973) wird der Werkaspekt be-
non. Die am häufigsten und in zahlreichen Ländern tont. Das heißt, der Akzent der Inszenierung liegt auf
gespielten Stücke sind Die Physiker und Der Besuch der Entfaltung der Fabel und der Charakterisierung
der alten Dame: von Argentinien bis China, von Ka- der Figuren. Der innere Zusammenhang der streng
sachstan bis Kanada, von Finnland bis Südafrika (vgl. komponierten Fabel bzw. der einzelnen Szenen steht
unpublizierte Übersicht Lizenzverträge Diogenes im Vordergrund. Auch Nebentexte wie Regieanwei-
Verlag). Die Inszenierungen verteilen sich über die sungen des Autors werden in der Inszenierung be-
gesamte Breite der Theaterformen: Stadttheater, freies rücksichtigt. Die Sprache ist das dominante Zeichen-
Theater, Amateurtheater vom Schultheater bis zum system. Die Diktion der Schauspielerinnen und Schau-
Theaterverein sowie Privattheater und kommerzielles spieler betont die Bedeutungsdimension der sprach-
Tourneetheater. Der Schwerpunkt liegt beim Sprech- lichen Äußerungen. Alle szenischen Mittel werden so
theater, aber auch andere Sparten wie Oper und Tanz eingesetzt, dass sie diese illustrieren. U. a. sind Büh-
haben Dürrenmatts Texte adaptiert. (Eine Auswahl nenbild und Requisiten aus dem Text abgeleitet. Mar-
der Adaptionen ist Bestandteil der Chronik im An- kant an der Inszenierung ist, dass es sich um eine Fas-
hang des Handbuchs.) sung des Dramas in Schweizer Dialekt handelt: Die Be-
In der Statistik des Deutschen Bühnenverbands wohnerinnen und Bewohner Güllens sprechen Em-
rangieren die beiden oben genannten Stücke in Bezug mentaler Dialekt, wodurch Figuren und Handlung
auf die Anzahl der Inszenierungen und Aufführungen lokal verortet werden. Claire Zachanassian spricht als
sowie die Zuschauerzahlen oft in den Top Ten. Im Ju- einzige Figur zwei Sprachen: Schweizerdeutsch und
biläumsjahr 2011 war Dürrenmatt der am meisten ge- Hochdeutsch mit Schweizer Akzent. Diese Sprachver-

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112  Dürrenmatt auf der Bühne 393

wendung übersetzt die beiden Pole der Figur, die im hervortritt. Die Spielweise unterstreicht dies: Ulrich
Stück durch die Namen Klara und Claire symbolisiert Matthes spielt Alfred Ill emotional realistisch, wäh-
werden, auf die Bühne. rend die vier Darstellerinnen und der Darsteller der
Ein solches Verhältnis von Text und Inszenierung Claire und der Güllenerinnen und Güllener eine eher
geht zurück auf Interpretationen der hegelschen Äs- exaltierte Spielweise zeigen. Dass Letztere von densel-
thetik im 19. Jahrhundert, wonach der Schauspieler ben Schauspielerinnen und demselben Schauspieler
sich »ganz in die gegebene Rolle hineindenke und sie wie Claire gespielt werden, kompromittiert sie von
so ausführe, wie der Dichter sie konzipiert und poe- Beginn an. Durch diese Besetzung fokussiert die In-
tisch ausgestaltet hat. Der Schauspieler soll gleichsam szenierung vollkommen auf den Konflikt zwischen
[nur] das Instrument sein, auf welchem der Autor Claire und Alfred. Die Inszenierung bietet eine Lesart
spielt, ein Schwamm, der alle Farben aufnimmt und des Dramas an, nach welcher der Ausgang des Stückes
unverändert wiedergibt« (Hegel 1835/1976, 541 f.). bereits in den Beginn eingeschrieben ist.
Diese Herangehensweise war maßgeblich für Insze- Inszenierungen, die einen Text interpretieren, ver-
nierungen Richard Wagners und des international tä- halten sich zu einem gesellschaftlichen Konsens über
tigen Meininger Theaters. Bis in die Gegenwart findet den Text wie auch zu dessen Aufführungstradition.
diese Inszenierungspraxis einen Nachhall im Begriff Dieser Inszenierungstyp bietet mit einer Akzentset-
der Werktreue. Bei den bereits kanonisierten Texten zung eine von zahlreichen, gleichwertigen Möglich-
Dürrenmatts stabilisiert dieser Inszenierungstypus keiten an, einem Text zu folgen und stellt so eine Er-
den Literaturkanon, was eine mögliche Wirkungswei- weiterung kanonisierter Lesarten dar.
se von Theater in der Gesellschaft beschreibt. Dieser
Zugriff auf die Dramen Dürrenmatts findet sich zum
einen häufig bei Uraufführungsinszenierungen (vgl. Versetzung
Chronik im Anhang des Handbuchs). Zum anderen
zeigen das kommerzielle Tourneetheater und teilweise Bei diesem Inszenierungstyp wird der Text als Mate-
das Amateurtheater bis in die Gegenwart eine Vorlie- rial verwendet und durch außertextuelle Bezüge in ei-
be für diesen Inszenierungsstil. nen anderen historischen, geografischen und/oder
kulturellen Kontext versetzt. Diese Neukontextuali-
sierung findet sich u. a. bei drei Inszenierungen von
Setzung Der Besuch der alten Dame in Lodz, Krakau und War-
schau in der Saison 1957/58. Sie entwickeln Lesarten
In diesem Fall bietet der Text Bedeutungen an, aus de- des Stückes vor dem Hintergrund der zeitgeschicht-
nen die Inszenierung interpretierend auswählt. Der lichen polnischen Verhältnisse. Die Inszenierung von
Text wird als genuin polyvalent verstanden, d. h. ihm Ludwik René im Teatr Dramatyczny wurde als eine
wohnen zahlreiche Form- und Sinnangebote inne. der herausragendsten polnischen Theateraufführun-
Die Inszenierung arbeitet eine wesentliche im Text an- gen der Nachkriegszeit gewürdigt.
gelegte Bedeutungsebene heraus und bietet diese dem Viktor Bodós Inszenierung des Stücks am Schau-
Publikum mit szenischen Mitteln dar. Diese Heran- spielhaus Zürich (2015) entfernt dieses durch das
gehensweise kennzeichnet u. a. das Regietheater; die Bühnenbild aus seiner schweizerischen Aufführungs-
Regie akzentuiert hierbei ihre Autorschaft (vgl. Wei- tradition: Eine heruntergekommene Bahnhofshalle
ler/Roselt 2017, 278). mit geschlossenen Fahrkartenschaltern sowie die
Bastian Krafts Inszenierung Der Besuch der alten Kostüme stellen Referenzen zu Ungarn nach dem
Dame am Deutschen Theater in Berlin (2014) wählt Systemwechsel von 1989 her. Eine weitere Referenz-
aus den Bedeutungsangeboten eine Lesart aus. In der ebene betrifft den aktuellen Diskurs um Cyborgs, in-
Inszenierung verkörpert ein Schauspieler Alfred Ill, dem das Motiv von Claire Zachanassians Prothesen
während Claire Zachanassian von vier Schauspiele- inszenierungsleitend eingesetzt wird. Die im Text er-
rinnen und einem Schauspieler gespielt wird. Sie tre- wähnten Veränderungen an ihrem Körper werden
ten zugleich auch als Einwohnerinnen und Einwoh- auf der Bühne materialisiert: Claire klappert beim
ner von Güllen auf. Dass Ill in der Inszenierung von Gehen, ihre Gliedmaßen werden entfernt und wieder
Anfang an mit einer Gruppe alter Damen konfrontiert installiert. Fehlfunktionen erzeugen komische Effek-
ist, betont seine Vereinzelung und Claires Übermacht, te. Die starke Betonung der Materialhaftigkeit und
während diese Konstellation im Text erst allmählich Lautlichkeit dieses Prothesenleibs verleiht ihm sze-
394 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

nischen Eigenwert. Claires Entfernung vom Mensch- 159). Die Inszenierung ist dann zu verstehen als Über-
sein charakterisiert die Figur. setzung einer dem Stück immanenten Logik ins Moto-
risch-Körperliche. Dürrenmatts Drama stellt ein Sys-
tem dar, dessen Funktionsweise Fritsch in eine Cho-
Freisetzung reografie übersetzt.
Den Gedanken der Darstellung eines Systems ab-
Bei diesem Typ wird der Text als fremd verstanden, wandelnd, bietet die Inszenierung eine Engführung
die Inszenierung löst ihn aus Deutungstraditionen. mit Dürrenmatts letztem Theaterstück Achterloo IV
Diese Inszenierungen kritisieren, dass bestimmte Tex- an. Darin treten historische und literarische Figuren
te ihre Polyvalenz und damit ihr ästhetisches Potential auf, gespielt von einer Gruppe Insassen eines Irren-
verloren haben, indem sie durch ihre Inszenierungs- hauses. Eine ähnliche Wirkung erzeugt Fritsch, indem
traditionen kanonisiert worden sind. Ihre bisherigen Spielweise, Kostüme und Masken die Grenzen zwi-
Deutungen werden ostentativ zurückgewiesen, um schen Insassen, Angestellten und Gästen, Gesunden
das ästhetische Potential des Textes in einer Alteritäts- und Irrsinnigen, echtem und gespieltem Wahn nivel-
erfahrung freizusetzen. lieren. So wirkt das Sanatorium ›Les Cerisiers‹ bei
So bricht Herbert Fritschs Inszenierung von Die Fritsch, als hätte es kein Außen. Wie in Achterloo IV ist
Physiker am Schauspielhaus Zürich (2013) mit einer es eine Metapher für die Welt: die Welt als Irrenhaus.
Aufführungstradition, die 1962 mit der Uraufführung Anders als die Fabel des Stückes weist das Zusam-
dieses Stückes auf dieser Bühne ihren Anfang nahm. menspiel der szenischen Mittel in der Inszenierung
Seine markante Regiehandschrift ist gekennzeichnet keine deutlichen Umschlagpunkte auf. Dies lässt die
durch artistische Spielweise, stilisierte Diktion, far- Deutung zu, dass die Inszenierung Zeit anders ordnet:
benfrohes und einprägsames Bühnen- und Kostüm- Während sich im Drama die Fabel sukzessiv entfaltet,
bild sowie einen leichtfüßigen Umgang mit dem Text ist die Inszenierung zeitlich nach der schlimmstmög-
(zur Kontextualisierung vgl. Englhart 2016, 154–158). lichen Wendung angesiedelt. Fritsch zeigt die Ereig-
Der Inszenierung liegt Dürrenmatts Fassung des Stü- nisse, nachdem die Katastrophe eingetreten ist.
ckes für die Werkausgabe von 1980 zugrunde. Der Die freie Entfaltung der szenischen Mittel befreit
Text wird nahezu unverändert und ungestrichen ge- das Drama. Indem Rhythmus, Spielweise, Bühnen-
spielt. Die szenischen Mittel Bühnenbild, Kostüme und Kostümbild den Text weitgehend unberührt las-
und Maske folgen einer eigenen, vom Stück (schein- sen, akzentuieren sie seine Eigenwertigkeit und eröff-
bar) unabhängigen Logik. Die stark stilisierte Spiel- nen ihm neue Räume. Weder dominiert der Text die
weise ist geprägt durch exaltierten Körpergebrauch. Inszenierung noch umgekehrt. Weder illustrieren die
Das Bühnenbild wird dominiert von drei grell-gelben Theatermittel den Text noch interpretieren sie ihn.
Wänden, die die Schauspielerinnen und Schauspieler Der Einsatz der Theatermittel lässt Die Physiker als
auf immer wieder neue Weise bei ihren Auftritten und unvertraut und fremd erscheinen.
Abgängen überspringen oder anders überwinden
müssen (zur komischen Wirkung vgl. Hochholdin-
ger-Reiterer 2016). Rhythmus und Dynamik entste- Neuentdeckung
hen aus dem akrobatischen Spiel, das die Vertikale be-
tont. Alle Figuren präsentieren sich während des ge- Schließlich kann Theater auch ein Mittel sein, um In-
samten Verlaufs in ähnlichem Gestus. Spielweise, Kos- teresse an weniger beachteten Texten zu wecken. Mit
tüme und Schminkmasken illustrieren weder die der Haltung des Entdeckers nähern sich Regisseurin-
Figurenkonstellation noch den Handlungsablauf. nen und Regisseure diesen an und präsentieren sie als
Andreas Englhart liest Fritschs Inszenierung vor Trouvaillen.
»der Folie des aus dem 19. Jahrhundert stammenden Inspiriert von der Publikation der Stoffe inszeniert
ersten Hauptsatzes des [sic] Thermodynamik, dass in Volker Hesse so am Theater Neumarkt in Zürich Fritz.
einem geschlossenen System keine Energie verloren- Szenische Annäherung an Friedrich Dürrenmatt (1994)
geht« (Englhart 2016, 162) und gelangt zu dem Schluss: als eine Text-Collage. Autobiografische Passagen, Er-
»Offensichtlich geht es hier weniger um die einzelnen zählungen und Reflexionen werden zu einem neuen
Kugeln [die Handelnden], sondern um die Energien, Bühnentext zusammengestellt. Brüche, Spannungen
die über den Energieerhaltungssatz im Zusammenstoß und Widersprüche betonend, wird das Polyphone
bzw. dramatischen Konflikt übertragen werden« (ebd., und Dialektische in Dürrenmatts Denken und Schrei-
112  Dürrenmatt auf der Bühne 395

ben zum Kompositionsprinzip der Inszenierung er- Texten um wie der Autor selbst: Sie behandeln sie als
hoben. Dem entspricht auf der Ebene der Figuren das Material.
Prinzip der Vervielfältigung: Zwei Schauspieler, eine
Schauspielerin und eine lebensgroße Puppe stellen Literatur
Zitierte Inszenierungen
Versionen des Autors dar. Die große Dürrenmatt- Der Besuch der alten Dame. R.: Hans Gaugler, Emmentaler
Puppe hält eine kleinere Dürrenmatt-Puppe im Arm. Liebhaberbühne, 17.3.1973.
In einer Szene spielt ein Dürrenmatt-Darsteller ein Der Besuch der alten Dame. R.: Bastian Kraft, Deutsches
imaginäres Brettspiel mit vielen kleinen Dürrenmatt- Theater, Berlin, 17.4.2014.
Figurinen, die an Zeichnungen aus der Feder Dürren- Der Besuch der alten Dame. R.: Viktor Bodó, Schauspiel-
haus Zürich, Pfauen, 11.12.2015.
matts erinnern. Das Lichtdesign vervielfältigt diese
Durcheinandertal. Dramatisierung und Regie: Martin Pfaff,
Figuren nochmals in Schattenrissen an den Wänden. Theater St. Gallen, 6.1.2017.
Die Darstellenden akzentuieren die Differenzen in der Fritz. Szenische Annäherung an Friedrich Dürrenmatt. R.:
Rhetorik, Diktion und inneren Bewegung der Texte; Volker Hesse, Theater Neumarkt Zürich, 21.2.1994.
die Textteile werden in ihrer Verschiedenartigkeit ze- Fritz. Szenische Annäherung an Friedrich Dürrenmatt. R.:
lebriert. Das Ensemble präsentiert sie auf Schweizer- Volker Hesse, Theater Neumarkt Zürich, Probenaufzeich-
nung.
deutsch, Schriftdeutsch mit dem Dürrenmatt eigenen
Fritz. Szenische Annäherung an Friedrich Dürrenmatt.
starken Schweizer Akzent und Hochdeutsch (vgl. Fernsehfassung 3sat/ZDF, SF DRS, Fernsehregie: Ernst
Glarner 1996; vgl. Bachmann 1996). Buchmüller, Volker Hesse, 1994.
In dieser Inszenierungsweise dienen das Schauspiel Die Physiker. R.: Herbert Fritsch, Schauspielhaus Zürich,
sowie die anderen szenischen Mittel dem Text. Indem Pfauen, 19.10.2013.
die Inszenierung die Stoffe als Steinbruch nutzte, konn-
Sekundärliteratur
te sie bei den Zuschauenden Neugier auf die Neuer- Bachmann, Guido: Der multiplizierte Fritz. In: Luis Bolliger,
scheinung wecken und die Lust, sich einen eigenen Ernst Buchmüller (Hg.): Play Dürrenmatt. Ein Lese- und
Weg durch das Textkorpus zu bahnen. Bilderbuch. Zürich 1996, 311–315.
Heute zeigt das deutschsprachige Stadttheater er- Englhart, Andreas: Dürrenmatt im Theater der Gegenwart.
neut Interesse an Dürrenmatts weniger beachtetem Herbert Fritsch inszeniert Die Physiker in Zürich. In:
Dragoş Carasevici, Alexandra Chiriac (Hg.): Friedrich
Spätwerk und erprobt die sperrigen Prosatexte in
Dürrenmatts Rezeption im Lichte der Interdisziplinarität.
postdramatischen Inszenierungen auf der Bühne. Iaşi, Konstanz 2016, 153–166.
2017 brachte das Theater St. Gallen eine Bühnenfas- Glarner, Johannes: Eine szenische Annäherung an den spä-
sung seines letzten Romans Durcheinandertal zur Ur- ten Dürrenmatt. In: Luis Bolliger, Ernst Buchmüller (Hg.):
aufführung. Erschienen 1989, ein Jahr vor Dürren- Play Dürrenmatt. Ein Lese- und Bilderbuch. Zürich 1996,
matts Tod, polarisierte der Roman zuerst die Litera- 308–310.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik, Bd. 2 Die äußere
turkritik und geriet bald darauf in Vergessenheit. Exekution dramatischen Kunstwerks [1835]. Berlin 1976.
Martin Pfaffs Fassung und Inszenierung präsentiert Hochholdinger-Reiterer, Beate: Out of Order? Zur Wider-
den Roman zwischen Klamauk und abgründigem An- ständigkeit komödiantischer Abgänge. In: Franziska Berg-
ti-Märchen. Die Besprechung der Inszenierung durch mann, Lily Tonger-Erk (Hg.): Ein starker Abgang. Insze-
die SDA gelangt zum Schluss: »Empfehlen lässt sich nierungen des Abtretens in Drama und Theater. Würz-
burg 2016, 61–80.
beides: Die Inszenierung in St. Gallen – oder das
N. N., Durcheinandertal als Dürrenmatt-Potpurri am Thea-
(Wieder-)Lesen des letzten Romans des grossen ter St. Gallen. In: https://www.swissinfo.ch/ger/durch
Schriftstellers« (N. N. 2020). einandertal--als-duerrenmatt-potpurri-am-theater-st--
Dürrenmatts spätes Prosawerk ist anschlussfähig gallen/42817678 (5.2.2020).
für postdramatische Ästhetiken seit den 1990er Jah- Weiler, Christel/Roselt, Jens: Aufführungsanalyse. Eine Ein-
ren, die nicht auf dem Primat der Handlung und der führung. Tübingen 2017.
Figuren beruhen. In dieser Hinsicht gehen diese Art Beate Schappach
Inszenierungen auf ähnliche Weise mit Dürrenmatts
396 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

113 Dürrenmatt in der Schule dessen populäres kriminalliterarisches Werk – zumal


angesichts von Verfilmungen etwa durch Ladislao
Wirkungsdimensionen Vajda 1958 oder Sean Penn 2001 (vgl. Möbert 2011;
Schwarz 2006) – stattdessen die Freizeit begleitet? Die
Die Wirkungsgeschichte Dürrenmatts, wie sie inner- zitierten Äußerungen legen zumindest nahe, dass
halb und außerhalb des Schulunterrichts bzw. retro- Dürrenmatt in der Schule zwar intensiv gelesen wor-
spektiv erfahren wird, ist fast identisch mit dem Er- den ist (und weiterhin gelesen wird), dass seinem ge-
scheinen der jeweiligen Arbeiten. Das heißt, sie setzt nerellen ›Einsatz‹ hier allerdings durch diesen Ver-
mit dem Publikumserfolg seines Œuvres im deutsch- wendungskontext und den damit verbundenen (und
sprachigen Raum um 1950 unter den Vorzeichen der mit Prüfungssituationen einhergehenden) Lerneffek-
Nachkriegszeit und des deutschen Wirtschaftswun- ten nicht zwangsläufig eine positive Resonanz zu-
ders ein und korreliert damit auch mit einer Neustruk- gesprochen werden kann. Vor allem Dürrenmatts Kri-
turierung des Bildungssystems der Bundesrepublik. mis und Erzählungen (allen voran: Der Tunnel von
Dürrenmatts früh einsetzende Schul-Rezeption und 1952) haben dabei jedoch einen anderen Wirkungs-
ebenfalls die dort sehr selektive Kanonisierung ist an grad, der bei den einzelnen Altersgruppen je unter-
drei Faktoren ablesbar: 1. an der subjektiven Begeg- schiedlich ausgeprägt ist. Denn in der Regel erfolgt
nung und dem vermittelten sowie aufgenommenen der Lektüreeinstieg bei jungen Leserinnen und Lesern
Wert, den diese Lektüren für einen selbst bedeuten; 2. mit Dürrenmatts Kriminalliteratur, wogegen die Dra-
an der zur Verfügung stehenden Vielfalt an Unter- men – bedingt durch die schulische Kanonisierung –
richtsmaterialien, Lernhilfen und Handreichungen, erst in einem höheren Alter und unter schulischen Be-
die auf curriculare Vorgaben reagieren und diese Re- dingungen gelesen werden.
zeption – derzeit vor allem kompetenzorientiert – fest- Ad 2.: Kaum überschaubar sind die Reaktionen, die
schreiben; 3. an der inhaltlichen Fokussierung, die be- die deutschsprachigen Schulbuchverlage Dürren-
stimmte Richtungen, Schwerpunkte und Deutungen matts Werk und Person entgegenbringen und in im-
des Verstehens für die schulische Lektüre nahe legen. mer neuen Zuspitzungen, Arbeitsanregungen und
Ad 1.: Die Schwierigkeit, eine individuelle Reakti- Überblicksdarstellungen ›Zugänge‹ für Schülerinnen
on auf die Begegnung mit Dürrenmatt in der Schule und Schüler sowie für Lehrerinnen und Lehrer glei-
zu erfassen, liegt auf der Hand. Anhaltspunkte bieten chermaßen anbieten. Diese reichen, um nur die ein-
jedoch Erinnerungsäußerungen, wie sie meist anläss- schlägigsten zu nennen, von Schroedel Interpretatio-
lich eines Jubiläums vorliegen und veröffentlicht wer- nen (Martin 2010; Winkler 2009), über Klett-Lektüre-
den, so geschehen etwa in einem Beitrag für die Tages- hilfen (Wahl 2017; Kaltenbach 2015; Eisenbeis 2013)
zeitung Die Welt am 14.12.2010 zum zwanzigsten To- bis hin zu Königs Erläuterungen (Matzkowski 2016;
destag des »Lieblingsautor[s] unserer Deutschlehrer« 2015a; 2015b; 2014a; 2014b) und hören bei Reclams
(Kämmerlings u. a. 2010). Darin erinnert man sich Lektüreschlüssel (Payrhuber 2012; 2001; Pelster 2006)
vor allem an die Dramen Romulus der Große, Die Phy- noch lange nicht auf. Darin heißt es im Übrigen pro-
siker und Der Besuch der alten Dame, womit der Ka- grammatisch, dass wiederum Der Besuch der alten
non als ›Dauerbrenner‹ insbesondere der gymnasia- Dame und Die Physiker »seit mehr als zwei Jahrzehn-
len Oberstufe benannt ist: »Dürrenmatt, das war zu- ten als Schullektüre kanonisiert« seien und »mittler-
erst der Klassensatz des ›Meteor‹ im Schrank des Leh- weile ihren festen Platz in den Lehrplänen« hätten
rerzimmers. Von der vergilbten Styropordecke bis (ebd., 5). Ablesbar wird an dieser großen Menge an
zum ausgeblichenen Teppichboden füllte der Schrank Handreichungen auch, wie sehr Dürrenmatt als so-
eine ganze Wand[:] [...] die Folterinstrumente des Ka- genannter ›moderner Autor‹ im Gegensatz zu denje-
nons der 70er- und 80er-Jahre« (ebd.). nigen ›klassischer‹ Provenienz wahrgenommen wird.
Nicht unerwähnt bleibt in den einzelnen Stellung- Er ist Teil eines »Gegenkanon[s] der Schülerschaft«
nahmen jedoch auch Es geschah am hellichten Tag, ei- (Fend 2008, 82), was trotz der erwähnten negativen
ner jener Texte, durch die »der Krimi-Schreiber D.« Empfindungen auch einer Beliebtheit Dürrenmatts
einem »nicht Dramentheorie, sondern das Fürchten Ausdruck verleiht.
lehrte« (ebd.). Heißt dies, dass die dramatischen Texte Ad 3.: Im Lehrplan Deutsch für die Einführungs-
Dürrenmatts, die in der Regel auch den Weg auf die phase der gymnasialen Oberstufe des Ministeriums für
Schulbühnen finden, aus Schülerperspektive eher zu Bildung, Kultur und Wissenschaft Saarland vom Fe-
deren sprichwörtlicher ›Folter‹ eingesetzt werden und bruar 2006 wird Dürrenmatts dramatisches Werk vor

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_113
113  Dürrenmatt in der Schule 397

diesem Hintergrund als ›erprobte‹ und ›geeignete‹ Le- sollen u. a. die Machart von Theaterstücken ebenso er-
seempfehlung wiederum explizit genannt, das nach weisen wie Kulturdebatten anregen. Mit Dürrenmatt
wie vor auch deshalb auf den großen Theaterbühnen scheint in der Schule fast alles erklärbar – als drama-
inszeniert wird (vgl. Greiner 2015). Die thematischen turgischer Prototyp und zugleich pädagogischer Stich-
Anschlussmöglichkeiten im Deutschunterricht be- wortgeber.
treffen aber nur am Rande solche theaterpraktischen Ulrich Greiner hat in einem Beitrag für die Die Zeit
Fragestellungen. Vielmehr geht es, wie es etwa in den festgestellt, dass dessen Werke zwar festgeschriebene
Richtlinien und Lehrplänen für die Sekundarstufe II – und damit geradezu unausweichliche Schullektüren,
Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen aber zugleich »keineswegs verstaubt« und damit »[g]e­
Deutsch (1999, 57) heißt, als »Halbjahresthema für 11/ spenstisch aktuell« sind (Greiner 2015). Auffallend
II« um den »subjektorientierte[n] Ansatz der Iden- sind aber auch jene populärkulturellen Bezugnah-
titätsproblematik«. Dieser soll erweitert werden, »in- men, für die Dürrenmatt schließlich die Referenz ei-
dem nach der gesellschaftlichen Mitverantwortung nes Bildungskanons ist, dem man wenigstens in der
des Einzelnen gefragt wird«, für die in »der wissen- Schule kaum entkommen kann. Das eindrücklichste
schaftlich-technischen Lebenswelt von heute« die Beispiel für diese Beobachtung ist ein Video, das in
»Haltung des Wissenschaftlers [...] besondere Auf- den sozialen Medien als eine Art werbetechnische Zu-
merksamkeit« erfahre (ebd.). Auch in mehreren Thea- gabe zur Kino-Komödie Fack ju Göhte (2013) verbrei-
terstücken der Nachkriegszeit, namentlich in Die Phy- tet worden ist. Darin erklärt die als bildungsfern ge-
siker, stehe der Wissenschaftler und seine gesellschaft- zeigte Figur Chantal Schulklassiker, darunter in Epi-
liche Verantwortung im Mittelpunkt. Für dieses Stück sode 4 Der Besuch der alten Dame: »Und was ich halt
lasse sich in der Verknüpfung von Deutsch und natur- nicht so gut fand, ist dass, wenn das dann halt so Ju-
wissenschaftlichen Fächern der Komplex »Die Ver- gendliche lesen ne und so Schüler, die ja so ein biss-
antwortung der Wissenschaftlerin und des Wissen- chen dumm sind, dass sie dann halt vielleicht denken,
schaftlers in der Gesellschaft« behandeln (ebd.). Aus dass Gewalt eine Lösung ist. [...] Deshalb also wenn
der Perspektive des Faches Deutsch erscheine hier ich Lehrer wäre, ich würd’s aus dem Lehrerplaner
»die Mitverantwortung des Einzelnen in der wissen- rausstreichen« (0:26:0:47).
schaftlich-technischen Lebenswelt von heute aber Und auch in einer Sonderfolge des TV- und Inter-
auch als Sprachproblem, weshalb Aspekte der Sprach- net-Formats Neo Magazin Royale wird Dürrenmatt als
reflexion zum Schwerpunkt des 2. Unterrichtsvor- schulischer ›Dauerbrenner‹ die Folie einer Mini-Ver-
habens gemacht werden« sollen (ebd.). filmung. Das Team um Moderator Jan Böhmermann
macht dabei aus Die Physiker etwas, was hierfür immer
schon vorgesehen ist: Das Stück wird vergegenwärtigt
Wirkungszwecke – allerdings nicht ohne ironische Überspitzung und sa-
tirische Brechung. Ob diese Zwangsläufigkeit der Re-
In diesen und ähnlich formulierten Vorgaben ist einer- ferenzierung vor dem Hintergrund der ursprünglich
seits die didaktische Idee enthalten, Verpflichtungen schulischen Begegnung Dürrenmatts Rezeption gut
der Ethik, Verständlichkeit und Transparenz gegen- tut oder nicht, ist eine Frage, welche sich die Wir-
über der Öffentlichkeit zu reflektieren; Dürrenmatts kungsforschung stellen muss. Dürrenmatt selbst hätte
Komödie wird damit zu einem Unterrichtsgegenstand, sich mutmaßlich gefreut. Offen bleibt zudem die Fra-
anhand dessen Sprechen über Wissenschaft und das ge, welche nationalen Spezifika Dürrenmatts Wirkung
moralische Handeln in jener diskutiert wird. Zudem in der Schule aufweist. Ist sie in Deutschland anders als
dient er zur alltagsweltlichen Reflexion der potentiel- in Österreich und in der Schweiz? Wie verhält es sich
len Gefahr wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie der in internationaler Hinsicht, d. h. etwa in deutschspra-
Rolle des Wissenschaftlers in der Bewährung gegen- chigen Auslandsschulen? Und welche Rolle spielt hier
über Fortschrittsverheißungen. Andererseits legen es die Auslandsgermanistik?
die Curricula der verantwortlichen ministerialen Ab-
teilungen (etwa der Lehrplan Deutsch Gymnasialer Bil- Literatur
Eisenbeis, Manfred: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker
dungsgang Jahrgangsstufen 5 bis 13 des hessischen Kul- [1994]. Stuttgart 2013.
tusministeriums; 2010, 38 f.) nahe, mit dieser »be- Fend, Helmut: Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulent-
währten Lektüre« den grundsätzlichen Umgang mit li- wicklung und Unterrichtsqualität. Wiesbaden 2008.
terarischen Texten zu vermitteln. Dürrenmatts Werke FACK JU GÖHTE Chantals Klassiker 4 – Besuch der alten
398 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

Dame. In: https://www.youtube.com/ Möbert, Oliver: Intertextualität und Variation im Werk


watch?v=xMVzmw39hl8 (22.3.2019). Friedrich Dürrenmatts. Zur Textgenese des Kriminal-
Greiner, Ulrich: Gespenstisch aktuell. In: Die Zeit, romans Das Versprechen (1957/58) unter besonderer
14.5.2015. Berücksichtigung des Spielfilms Es geschah am hellichten
Kämmerlings, Richard u. a.: Friedrich Dürrenmatt muss in Tag (CH/D/E 1958). Frankfurt a. M. u. a. 2011.
die Nachprüfung. In: Die Welt, 14.12.2010. NEO MAGAZIN ROYALE mit Jan Böhmermann – Letzte
Kaltenbach, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt. Der Richter Stunde vor den Ferien: Die Physiker. In: https://www.
und sein Henker. Stuttgart 2015. youtube.com/watch?v=jRl3dCa7uPk (22.3.2019).
Lehrplan Deutsch Gymnasialer Bildungsgang Jahrgangsstu- Payrhuber, Franz-Josef: Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch
fen 5 bis 13 (Hessisches Kultusministerium 2010). In: der alten Dame [2007]. Ditzingen 2012.
https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/ Payrhuber, Franz-Josef: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker.
media/g9-deutsch.pdf (27.2.2020). Ditzingen 2001.
Martin, Dieter: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Braun- Pelster, Theodor: Friedrich Dürrenmatt. Der Richter und
schweig 2010. sein Henker. Ditzingen 2006.
Matzkowski, Bernd: Friedrich Dürrenmatt. Das Verspre- Schwarz, Florian: Der Roman Das Versprechen von Fried-
chen [2012]. Hollfeld 2016. rich Dürrenmatt und die Filme Es geschah am hellichten
Matzkowski, Bernd: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker Tag (1958) und The Pledge (2001). Münster 2006.
[2011]. Hollfeld 2015a. Wahl, Johannes: Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der
Matzkowski, Bernd: Friedrich Dürrenmatt. Der Richter und alten Dame. Stuttgart 2017.
sein Henker [2011]. Hollfeld 2015b. Winkler, Werner: Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der
Matzkowski, Bernd: Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame. Braunschweig 2009.
alten Dame [2011]. Hollfeld 2014a.
Matzkowski, Bernd: Friedrich Dürrenmatt. Der Verdacht. Oliver Ruf
Hollfeld 2014b.
114 Verfilmungen 399

114 Verfilmungen ›Pioniere‹ des Fernsehspiels« (Netenjakob 1994, 399).


Er sollte auch Die Physiker noch als solches drehen
In den 1950er Jahren begann sich Dürrenmatt einer- (1964) und wurde für seine »Fähigkeit« »bewundert«,
seits als Autor für den Film zu interessieren (s. Kap. 60), »die Schwierigkeiten der Studio-Regie bei maximalem
andererseits waren seine Stoffe schon damals interes- Aufwand zu bewältigen« (ebd., 400). Die zahlreichen
sant für die Umsetzung in bewegte Bilder. Vor allem Rezensionen der Erstausstrahlung fielen fast durch-
das noch relativ junge Medium des Fernsehens brauch- gängig positiv bis enthusiastisch aus (vgl. SLA-FD-D-
te Material. Die Anzahl der kostengünstigen und teil- 10-b-PAN-2.5), sprachen von einem Programmhöhe-
weise live gespielten TV-Adaptionen von Dürrenmatt- punkt und Umgelters bisher bester Regiearbeit, von
Stoffen ist denn auch kaum zu überblicken. Schon in einer »virtuos perfekte[n] Fernsehfassung«, die viel
der zweiten Hälfte der 1950er Jahre setzten namhafte mehr sei als nur »[a]bfotografiertes Theater« (Frank-
angelsächsische Fernsehsender wie CBS, NBC, BBC furter Rundschau). Und sie nahmen auch bereits zur
und ITV Der Richter und sein Henker und Die Panne in Kenntnis, dass die Fernsehfassung größtenteils der
erfolgreichen Sendereihen um. Das erste deutschspra- Vorlage des seinerseits vom BR produzierten Hörspiels
chige Fernsehspiel nach einer Vorlage Dürrenmatts folgt. Tatsächlich weicht die Fernsehinszenierung nur
war ebenfalls eine Bearbeitung der Panne (R.: Fritz derart geringfügig von dieser Fassung ab – die Sequenz
Umgelter, BRD, 1957). einiger Sätze am Schluss und vor allem zu Beginn ist
Mit The Visit (R.: Bernhard Wicki, D/I/F) folgte geändert und wenige Stellen wurden gekürzt –, dass
schon 1964 ein Hollywood-Spielfilm mit Starbeset- zweifelhaft erscheint, ob Dürrenmatt an einem Dreh-
zung. Bis zur Jahrtausendwende erschienen darauf buch überhaupt noch hatte mitwirken müssen (vgl.
über zwanzig weitere Produktionen, vor allem in Eu- dagegen Möbert 2011, 73, Anm. 78).
ropa, aber auch in den USA, in der Sowjetunion, in La più bella serata della mia vita (R.: Ettore Scola,
Argentinien und im Senegal. IT/F, 1972): In Scolas Bearbeitung der Panne wird
Im neuen Jahrtausend nahm die Frequenz der Ver- Trapp, dem schon Dürrenmatt den Vornamen Alfre-
filmungen deutlich ab. 2001 kam mit The Pledge (R.: do gab, zu einem italienischen Geschäftsmann mit
Sean Penn) noch einmal eine große US-Produktion ins dem Allerweltsnachnamen Rossi (Alberto Sordi).
Kino. (Lars von Triers Dogville, 2003, ist nur indirekt Schauplatz der Handlung bleibt aber die Schweiz (ge-
über eine Verwandtschaft des Stoffs, der über Kafka zu dreht wurde in Chiasso, Lugano und auf Schloss Tau-
Kierkegaard führt, mit Ein Engel kommt nach Babylon fers in Südtirol). Denn der schmierige Aufsteiger Ros-
verbunden; vgl. Pellin 2020a.) Mit einer Fernsehfassung si, den Scola als Repräsentanten der damaligen »men-
des Besuchs der alten Dame (R.: Nikolaus Leytner, A/D, talitätsgeschichtlichen Realität« verstanden wissen
2008) adaptierte der derzeit letzte Langspielfilm einen wollte (Scola, zit. nach Spedicato 2007, 181), ist kapi-
Dramen- oder Erzähltext Dürrenmatts. 2019 setzte talflüchtig und will im Tessin hundert Millionen Lire
Hannah Dörr mit Midas oder Die schwarze Leinwand in Sicherheit bringen. Er kommt jedoch drei Minuten
einen späten Dürrenmatt-Stoff in einem Kurzspielfilm zu spät: Die Bank hat bereits geschlossen. Zurück in
um. Insgesamt lässt sich in den Dürrenmatt-Verfilmun- seinem Maserati verfolgt er eine Motorradfahrerin
gen eine erstaunliche Vielfalt inhaltlicher Umdeutun- (Janet Ågren), einen Lockvogel im tief dekolletierten
gen feststellen. Eine umfassende Analyse der filmi- Lederdress, ins alpine Hinterland und bleibt dort
schen Rezeption, die nicht zuletzt auch die schwer zu- mit einer Panne liegen. Ein Fuhrwerk bringt ihn ins
gänglichen Verfilmungen aus Osteuropa und Südame- Schloss des Grafen de la Brunetière (Pierre Brasseur),
rika berücksichtigte, steht aber noch aus. Angesichts wo ihm ausgerechnet im Land seiner Steuerflucht und
der Menge an Adaptionen (vgl. Boss/Pellin 2019) kön- des Bankgeheimnisses der Prozess gemacht und am
nen hier nur Schlaglichter auf einige der gewichtigsten nächsten Morgen nicht nur sein Todesurteil überge-
und bemerkenswertesten geworfen werden. ben, sondern auch eine saftige Rechnung präsentiert
wird: Das Schloss des Grafen erweist sich als luxuriö-
ses Erlebnishotel.
Die Panne Anders als der Trapp der Erzählung entwickelt
Rossi keinerlei »moralisches Bewusstsein« und kann
Die Panne (R.: Fritz Umgelter, BRD, 1957): Umgelter, daher nur »infolge einer Nemesis« ums Leben kom-
dessen Live-Inszenierung der Panne der Bayrische men (Scola, zit. nach Spedicato 2007, 181). Am Ende
Rundfunk am 11.4.1957 ausstrahlte, war einer »der des Films lotst ihn die Motorradfahrerin als eine Art

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_114
400 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

»moderne Hadesführerin« (Spedicato 2007, 184) auf Prothesen und ist deutlich jünger als im Drama, son-
eine in Bau befindliche Brücke. Das in einem Etui auf- dern hat und wechselt auch keine Ehemänner. Den-
bewahrte Todesurteil verfängt sich unter dem Brems- noch ist sie durchaus nicht zu einer »Frigide[n] ge-
pedal, blockiert die Bremse und Rossi stürzt laut la- macht«, wie Dürrenmatt 1965 in einem Interview be-
chend in die Tiefe – der Zeitlupensturz dauert rund hauptete (obwohl er den Film nach eigener Aussage
zweieinhalb Minuten. Für Scola war dieses Lachen nicht gesehen hatte, weshalb er auch Max Frischs Ca-
selbst im Moment des Todes ein für den egozentri- meo-Auftritt verpasst haben dürfte). Aber sie liebt
schen Kapitalisten charakteristisches »Zeichen des Serge Miller, wie Ill nun heißt, noch immer; das zeigt
Selbstvertrauens«: »Einer wie er kann nicht ausster- u. a. eine leidenschaftliche Kussszene am Abend vor
ben. Er wird nur physisch tot sein; deshalb nimmt das der Gerichtsverhandlung. Zudem erhält Karla eine
Fallen des Wagens auch kein Ende« (Scola, zit. nach Parallelfigur, Anya, die sie an ihre eigene Geschichte
Spedicato 2007, 189). als junge Frau erinnert und derer sie sich mütterlich
annimmt.
Den Schluss als »läppisch-versöhnliches Ende« zu
Der Besuch der alten Dame kritisieren (Knapp 1993, 86), greift indes zu kurz. Auch
wenn Miller hier am Leben bleiben darf, wie der Stu-
Der Besuch der alten Dame war – unter Mitarbeit Dür- diomagnat Zanuck es verlangt hatte (vgl. Rüedi 2011,
renmatts und der Regie Ludwig Cremers – bereits 1958 597–601), ist die Schlusspointe »viel eher eine Zuspit-
als Fernsehspiel gesendet worden, das sich »[a]uch äs- zung ganz im Sinne von Dürrenmatts schlimmstmög-
thetisch« »stark unter das Paradigma des Theaters« licher Wendung« (Weber 2020, 221): »If you killed
stellte (van Laak 2018, 121). Kurz vor Filmende distan- him, in a few weeks you might begin to forget. I want
ziert sich diese Fernsehfassung durch eine Überblen- Serge Miller alive. [...] Live among these people who
dung der tanzenden Konsumgesellschaft Güllens mit were ready to shed your blood«.
Bar- oder Kino-Leuchtreklamen denn auch von der Hyènes (R.: Djibril Diop Mambéty, SEN/CH/F,
Unterhaltungsindustrie (vgl. ebd.). 1992): Knapp dreißig Jahre später, in Hyenas des sene-
The Visit (R.: Bernhard Wicki, D/I/F, 1964): Die galesischen Regisseurs Mambéty, bleibt von der
prominent besetzte Hollywood-Verfilmung Wickis männlichen Hauptfigur, Dramaan Drameh (Mansour
von 1964 – die beiden Hauptdarsteller Ingrid Bergman Diouf), am Ende nur noch das Jackett übrig. Als die
und Anthony Quinn besaßen neben dem Produzenten Männergruppe, die ihn eingekreist hat, auseinander-
Darryl F. Zanuck auch die Filmrechte – nahm sich bei geht, ist er vom Erdboden verschwunden – das beste
der Umsetzung von Dürrenmatts »böse[m] Stück« Beispiel für den magischen Realismus des Films (vgl.
(WA 5, 144) erwartungsgemäß größere Freiheiten. Al- Uraizee 2006, 316–318). Mambéty war über Wickis
lerdings sind manche der Abweichungen bereits auf The Visit allererst auf das Stück aufmerksam gewor-
die Übersetzung und Adaption des Dramas zurück- den. Während Wicki die Handlung in den Osten aus-
zuführen, die Maurice Valency für Peter Brooks erfolg- lagerte, versetzt Mambéty sie in ein postkoloniales,
reiche Broadway-Inszenierung vorgenommen hatte. aber noch vormodernes Städtchen, das den Namen
Stärker noch als Valencys Bearbeitung reduziert der seines Geburtsorts Colobane trägt (eines Stadtteils
aufwendig fotografierte Film die ironischen Reminis- von Dakar; gedreht wurde an wechselnden Orten in
zenzen an die Gattungstradition der Tragödie, den der näheren Umgebung Dakars). Gesprochen wird in
grotesken Charakter und die gesuchte Artifizialität von der wichtigsten Umgangssprache Senegals, in Wolof.
Dürrenmatts Vorlage und verleiht dem Stoff dafür eine Und die nicht umzubringende, stets aus Untersicht ge-
melodramatische Note (vgl. Brock 1976, 65). filmte Protagonistin Linguère Ramatou (Ami Diakha-
Verfremdet, nämlich in Distanz zum Hollywood- te) führt – in Szene gesetzt als eine Art mutterrecht-
Publikum gerückt, erscheint in The Visit primär der liche Rachegöttin – nicht Manhattener Gangster mit
Schauplatz der Handlung. Das rückständige, korrupte sich, sondern größtenteils weibliches Personal, auch
»Guellen« liegt zwar auch hier »in Europe«, aber in drei Amazonen.
Osteuropa: Bahnhof wie Geschäfte sind auch in kyril- Im Ganzen bleiben die Dialoge aber erstaunlich
lischer Schrift beschriftet; Karla Zachanassian – wie nahe an Dürrenmatts Prätext, auf dessen dramatische
Claire hier heißt – reist mit dem als »Diplomat Ex- Herkunft die Verfilmung mitunter auch verweist.
press« bezeichneten Orient-Express an. Dramaans Laden- und Ausschanklokal zum Beispiel
Von Bergman gespielt, hat Karla nicht nur keine fehlt eine vierte Wand und erinnert dadurch an einen
114 Verfilmungen 401

Bühnenraum. Kostüme und Requisiten wollen kei- an die Diktion Dürrenmatts. Der Film zeigt Heinz
nen Realitätseffekt erzeugen, sondern erfüllen oft ei- Rühmann als spießigen Unterbuchhalter Arnolph
ne emblematische Funktion (vgl. Paravy 1999, 547). Archilochos, der von seinem unerwarteten Glück
Teil daran haben auch etliche der zahlreichen Remi- überfordert ist, in einer seiner Musterrollen. In einer
niszenzen an den Western, die von Colobanes »Wes- Umkehrung der Chronologie beginnt die Verfilmung
ternization« zeugen (Oscherwitz 2008, 232). Dabei mit einer Orgie, in die Archilochos platzt; sie bietet
verbindet Hyenas die Westernmotive mit der Kolo- einen ersten visuellen Höhepunkt einer übermütigen
nialismusthematik. Während sich der Bürgermeister Komödie, deren Bandbreite von philosophischem
bald nach Ramatous Ankunft mit Cowboyhut und Sarkasmus bis zum Slapstick reicht. Der Film ist
Bolotie dekoriert, tragen auf einmal nahezu alle Gäs- hochkarätig besetzt und zeigt eine bis in die Details
te in Dramaans Schenke groteske Hüte in der Form sorgfältige Ausstattung. Die Kamerafahrt außen am
von Tropenhelmen. Beide Zeichenträger markieren Geschäftshochhaus der »Petit-Paysan« und mit den
die Kontinuität des Abhängigkeitsverhältnisses vom wechselnden Blicken in die Abteilungen des Kon-
Westen und stehen somit in Bezug zur Assoziation zerns, in denen witzige Binnengeschichten angedeu-
Ramatous mit der Weltbank, die der Film von An- tet werden, ist filmisch anspruchsvoll und unter-
fang an herstellt. Anhand der Ramatou-Figur, die die streicht die Vertikale (den Aufstieg).
ganze Stadt in den Bankrott getrieben hat – »Vous
avez des dettes à rembourser«, »il faudra respecter les
règles« –, übt Hyenas auch Kritik an der westlichen Der Richter und sein Henker
Wirtschaftspolitik und gewinnt dem Drama als poli-
tische Allegorie »neues Sinnpotenzial« ab (Heizmann Le Juge et son bourreau (R.: Daniel le Comte, F, 1973):
2010, 217): Die Kühlschränke und anderen Haus- Le Comtes Bearbeitung von Der Richter und sein
haltsgegenstände, die in einer auf The Visit anspielen- Henker übernahm mit den Drehorten dessen Ori-
den Szene beworben und auf Kredit verteilt werden, ginalschauplätze. Le Comte versetzte die Handlung,
stammen alle aus dem Ausland. die weitgehend dem Roman folgt, aber in die dama-
Die Verfilmung ist aber nicht nur als »an assault on lige Gegenwart. Und er transponiert die Figurenna-
ongoing economic imperalism« zu verstehen, sondern men ins Französische: Aus Bärlach wird Bairelard,
ebenso als »a mournful commentary on the current aus Tschanz Terence, aus Schmied Schmitt. Bairelard
state of African communalism« (Porton 1995, 96). (Charles Vanel) hält eine Schildkröte als Haustier und
Das titelgebende Leitmotiv der Hyänen, die in Asso- spielt alleine Schach. Augenfällig werden im Verlauf
ziationsmontagen wiederholt eingespielt werden, ist des Films seine Spielzüge mit seinen Zügen gegen
auch auf die korrumpierte einheimische Elite ge- Gastmann (Michel Vitold) verbunden. Anders als der
münzt. Der unmittelbare Schluss des Films verdeut- Schriftsteller in der zwei Jahre später entstandenen
licht nochmals, »welche Art von Fortschritt die Be- Adaption von Maximilian Schell spielt Bairelard also
wohner sich eingehandelt haben« (Heizmann 2010, nicht gegen sich selbst, sondern gegen den abwesen-
224): Bulldozer fahren auf und scheinen bis auf einen den Gastmann. Schmitt hat einen roten Sportwagen
vereinzelten Affenbrotbaum alles niedergewalzt zu gefahren. Terence (Gilles Segal) fährt einen roten Kä-
haben; im Hintergrund erscheint die Silhouette der fer. Damit ist er nicht nur eine unbeholfene Kopie des
Großstadt. Das alte Colobane ist Geschichte. talentierten Schmitt; mit seiner Bekleidung – Regen-
mantel, Hut und unpassende Krawatten – ist er auch
eine Karikatur des coolen Filmdetektivs. Schmitts
Grieche sucht Griechin Freundin Anna (Marika Green) ist Mannequin und
Fotomodell und gehört zur Entourage von Gast-
Grieche sucht Griechin (R.: Rolf Thiele, BRD, 1966): mann. Die massivste Umdeutung des Stoffes nimmt
1954/55 als Filmstoff für den Bayerischen Rundfunk die Adaption an der Figur Gastmann vor: Das aus-
entstanden (zunächst unter dem Titel Ich heiratete ei- lösende Moment der Geschichte ist nicht die Wette
ne Kurtisane), erschien Grieche sucht Griechin 1955 zwischen ihm und dem Kommissär. Gastmann ist
als ›Prosakomödie‹. Erst zehn Jahre später wurde der nicht der Nihilist, der sich die Freiheit nimmt, Gutes
Stoff ohne Mitarbeit Dürrenmatts verfilmt. Thieles wie Böses zu tun; vielmehr ist er ein ehemaliger SS-
Adaption macht den Bezug zum Autor aber über- Mann, der nach wie vor davon überzeugt ist, das rich-
deutlich: Die Erzählstimme zu Beginn erinnert stark tige Ideal verfolgt zu haben.
402 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

Es geschah am hellichten Tag / die Rahmenhandlung des Romans verzichtet. Penns


Das Versprechen Film ist also kein »Requiem auf den Kriminalroman«,
sondern das Drama um die Pensionierung des Polizis-
Dürrenmatts populärster Filmstoff wurde in einer ten Jerry Black (Jack Nicholson). Ohne die Rahmen-
Reihe von Remakes und Neuformungen wieder auf- konstruktion hat der Film allerdings ein strukturelles
gegriffen. Zwei Filme, die kaum unterschiedlicher sein Problem: Er kann den Zufall – den für die Geschichte
könnten, heben sich deutlich von den weniger ge- wichtigen Tod des Mörders – erzählerisch nicht recht-
glückten Umsetzungen ab (vgl. Pellin 2020b). fertigen (vgl. Bettinson 2004, 72).
Szürkület (Dämmerung/Twilight) (R.: György Fe- In einer Prolepse, einer reduzierten Variante der
hér, U, 1990): Für seine Adaption des Versprechens Rahmenhandlung, wird in der ersten Szene ein ver-
versetzte Fehér den Stoff in das Ungarn der Zwischen- wahrloster, vor sich hin brabbelnder Ex-Fahnder vor
kriegszeit. Er wollte explizit den Roman umsetzen einer heruntergekommenen Tankstelle gezeigt. Mit
(vgl. SLA-FD-B-4-d-6-VERS, 5.9.1986), um dessen einem harten Schnitt wechseln Setting und Stim-
Filmrechte er sich lang erfolglos bemüht hatte. Die mung: Winterlandschaft, Schnee, auf einem zugefro-
Rahmenhandlung übernahm Fehér nicht, und die renen See ein einsamer Verschlag fürs Eisfischen.
Kriminalgeschichte interessierte ihn nur am Rand. Ins Black, Fahnder der Mordkommission in Reno, ist
Zentrum stellte er zwei Ermittlerfiguren, von denen passionierter Fischer. The Pledge nimmt das Motiv
eine an Kommissar Matthäi und die andere an den des Fischens aus dem Roman auf (Matthäi ›fischt‹ in
Kommandanten der Kantonspolizei Zürich, Dr. H., seiner Tankstelle nach dem Kindermörder, vgl. WA
angelehnt ist. Auf die »inneren psychologischen Be- 23, 110 u. 114) und macht es zum Leitmotiv. Sein Plan
wegungen« zwischen diesen Figuren, schrieb Fehér an mit dem Mädchen als Köder spiegelt sowohl seine
Dürrenmatt, wolle er den Hauptakzent legen (ebd.). ehemalige Profession als Ermittler als auch seine Pas-
Zeichnete er die Dr. H.-Figur (Felügyelõ/Inspektor: sion als Fischer.
Péter Haumann) als Beobachter und Vertreter kon- Als Kontrast zu den Szenen mit dem irren Jerry am
ventioneller Polizeiarbeit, kommt der Matthäi-Figur Anfang und am Schluss bettet The Pledge die Szenen
(K-Rolle: János Derzsi) der Part des emotionalen und rund um den ersten Kindermord in tief verschneite
persönlich Involvierten zu. Szürkület ist aber mehr als Landschaften – Spuren werden nicht wie im Roman
ein Film über zwei Männer in einem psychologischen vom Regen weggespült, sondern zugeschneit. Das
Spannungsfeld. Die Szenen mit K und der Mutter oder Nummernschild ›Nevada‹ an Jerrys Wagen und die
mit dem Inspektor und dem Mädchen sind emotional riesige Menge weißer Mast-Truten, aus denen die El-
heftig und roh und lassen keinen Raum für Versöh- tern Larsen die toten Tiere zusammenklauben, als Jer-
nung oder Sentimentalitäten. Wie im Roman ver- ry ihnen die Nachricht vom Tod ihrer Tochter über-
unfallt auch hier der Kindermörder, bevor er in die bringt, unterstreichen das Motiv. Damit nimmt der
Falle gehen kann. Anders als in der Vorlage überlebt er Film das »triste[...] Schneegestöber« vom Anfang des
aber den Autounfall und flieht. Die Kamera schwenkt Romans auf (WA 23, 11; »dazu war alles vereist«: Jerry
vom Inneren des Wagens nach draußen in die Hügel- ist nicht nur Eisfischer, in seiner Tankstelle schaut er
landschaft, in die der Mörder geflüchtet sein muss, sich mitten im Sommer auch ein Eishockeymatch an).
und zeigt so den ganzen Raum der Bedrohung. Mit dem Schneepflugfahrer und Prediger Gary
Szürkület ist durchgehend in Schwarzweiß gehal- Jackson (Tom Noonan) baut The Pledge eine der alter-
ten. In wenigen, teils quälend langen, minutiös insze- nativen Wendungen, die der ehemalige Polizeikom-
nierten Passagen gestattet die Kamera den Blick auf- mandant im Versprechen dem Schriftsteller vorschlägt,
fallend häufig nur durch Fenster und verglaste Türen. als falsche Fährte ein (vgl. WA 23, 144). Vom Tod des
Die Kamera biete, wie Gergely Bikácsy konstatiert, Kindermörders erfahren weder Jerry noch sein ehe-
Objekten und Bildern kein Zentrum. Die Dinge in maliger Vorgesetzter (Sam Shepard); nur das Publi-
dieser Welt hätten sich verschoben, nichts sei an sei- kum sieht den Unfall, der in einer Parallelmontage
nem Platz: »It is a cruel and slow film, providing no zum vergeblichen Warten von Black besonders dras-
consolation, no ease whatever. The crime rests as hea- tisch gezeigt wird. Der qualvolle Tod, den die Szene
vily on the audience as it does on the investigators.« vermuten lässt, ist nicht wie bei Dürrenmatt eine Folge
(Bikácsy 1991, 165 f.) des Zufalls, der die brillante detektivische Arbeit sinn-
The Pledge (R.: Sean Penn, USA, 2001): The Pledge los macht, sondern wirkt wie eine Strafe, die den Mör-
ist eine Adaption des Versprechens, die gleichfalls auf der doch noch ereilt.
114 Verfilmungen 403

Literatur cinéma. L ’adaptation cinématographique de La visite de la


Bettinson, Gary: Penning Dramatic Chance. Adaptation, vieille dame de F. Dürrenmatt par D. Diop Mambéty. In:
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404 VI  Rezeption und Wirkung – C Gattungen

115 Literarische Rezeption oder Christian Kracht, der in seinem Roman Ich werde
hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008)
Wirkung und Nachfolge Dürrenmatts sind schwierig Grundkonzeption und Setting des Winterkriegs in Ti-
einzuschätzen und noch in keiner Weise systematisch bet in wesentlichen Punkten aufgreift. Die Anthologie
aufgearbeitet. In der Frage seines Einflusses auf die Dunkelkammern (2020) ist als Versuchsanordnung
jüngere Literatur weist Gerhard P. Knapp (vgl. 1993, den umgekehrten Weg zur üblichen Suche nach litera-
176) darauf hin, dass sich im Theater wenig direkte rischen Wirkungen gegangen: Autorinnen und Auto-
Anknüpfungspunkte in Motiven und Themen finden. ren aus der Schweiz schreiben darin, angeregt durch
Dürrenmatt sei mit seiner Ästhetik des Grotesken Dürrenmatts Stoffe, über ihre »Dunkelkammern der
aber umso stärker zum Wegbereiter für deutschspra- Imagination« (Klappentext).
chige Dramatiker der Nachfolgegeneration wie Peter Bis heute geht die Rezeption weit über die Schweiz
Weiss, Tankred Dorst, Heiner Müller, Peter Hacks, hinaus: Wolfgang Herrndorf spielt beispielsweise im
Franz Xaver Kroetz, Thomas Bernhard oder Herbert Roman Sand mit Motiven aus Dürrenmatts Der Auf-
Meier geworden. Aber auch bei französisch- und eng- trag (vgl. Nusser 2015, 117). Motivanklänge kann man
lischsprachigen Dramatikerinnen und Dramatikern etwa bei Daniel Kehlmann erkennen. In einem Ge-
beobachtet Knapp, dass »[g]roteske Ästhetik und ko- spräch erzählt er: »Mit Anfang zwanzig habe ich fast
mödiantische Formen [...] vielfach mehr oder minder alles von Dürrenmatt gelesen. Ich habe auch sein wis-
offensichtlich von Dürrenmatts Stücken entlehnt« sei- senschaftliches Interesse elektrisierend gefunden. Es
en (ebd., 177). Er nennt als Beispiele Roger Planchon, ist bezeichnend, dass er nicht mehr gespielt wird, aber
John Ardon, Howard Brenton/David Hare, Joan Litt- ich fange jetzt keine neue Polemik an.« (Kehlmann
lewood und Edward Bond. Autoren wie Marcel Aymé, 2019, 126)
Marcel Reich-Ranicki, Gore Vidal und Imre Kertesz Fehlt es schon für den deutschsprachigen Raum an
haben seine Stücke übersetzt oder bearbeitet. Bis heu- Untersuchungen, so ist es noch viel schwieriger, Ein-
te stellen sich kaum Theaterautorinnen und -autoren flüsse über den deutschen Sprachraum hinaus auf-
explizit in Dürrenmatts Tradition, doch wirkt das Re- zuzeigen. Der Nachweis muss sich auf subjektive und
gister des Grotesk-Komischen, das er maßgeblich mit- zufällige Lektürebekanntschaften und -funde be-
geprägt hat, gerade auch bei Schweizer Dramatikern schränken: Der chilenische Kultautor Roberto Bolaño
wie Hansjörg Schneider (Sennentuntschi), Urs Wid- wählt in Das dritte Reich etwa ein Dürrenmatt-Zitat
mer (mit seiner Vorliebe für ökonomische Motive) aus Die Panne als Motto, das auf die Doppelstruktur
oder Lukas Bärfuss nach – bei Letzterem gewiss am von titelgebendem Strategie-Spiel und Lebenskampf
deutlichsten im gemeinsam mit Regisseur Samuel vorausweist. Der argentinische Schriftsteller und Lite-
Schwarz im Kollektiv 400asa erarbeiteten Affentheater raturkritiker Alberto Manguel würdigt Dürrenmatt
als Anti-Festspiel an der Schweizerischen Landesaus- anlässlich der US-amerikanischen Auswahlausgabe als
stellung expo02 (2002). »one of the most important writers of the 20th centu-
Im Bereich der Erzählprosa ist Dürrenmatts Wir- ry« (The Spectator, 16.12.2006), dessen Lektüre den
kung konkreter: Knapp weist vielfältige Einflüsse auf Eindruck vermittle, der Geburt und Explosion einer
deutschsprachige Schweizer Erzähler wie Otto F. Wal- kleinen Galaxie beigewohnt zu haben. Der brasilia-
ter, Beat Brechbühl oder Beat Sterchi nach (vgl. Knapp nische Erfolgsautor Paolo Coelho hat im Roman Der
1993, 178) und sieht eine besondere Nähe bei Walter Dämon und Fräulein Prym eine etwas naive Variation
Vogt (Besuch in Neuenburg, 1976) – auch bei seinem von Der Besuch der alten Dame geschrieben. Interes-
dramatischen Werk – und dem deutschen Autor Gert santer ist das intertextuelle Spiel, das der tschechische
Hofmann (vgl. ebd., 179–181), die beide auch explizit Autor Jiři Kratochvil im Roman Das Versprechen des
auf Dürrenmatt Bezug nahmen. Die Reihe ließe sich Architekten inszeniert. Wörtlich übersetzt lautet der
fortführen. Bei Schweizer Prosa-Autorinnen und -Au- Titel Das Versprechen. Requiem auf die fünfziger Jahre.
toren begegnet man immer wieder kleinen und größe- Dieser im tschechischen Brünn der 1950er Jahre spie-
ren Reverenzen und Reminiszenzen, beispielsweise in lende Roman handelt davon, wie ein Architekt einen
E. Y. Meyers Venezianischem Zwischenspiel (1996) Geheimdienstmann aus Rache für die Ermordung sei-
oder Urs Widmers Erzählung Nach Istanbul (in Stille ner Schwester in einem katakombenartigen Gewölbe
Post, 2011), bei Monique Schwitter, die sich ausdrück- einsperrt und lebenslang gefangen hält – inspiriert
lich als Erbin Dürrenmatts präsentiert (vgl. u. a. Din- wird er zu dieser Rache durch einen Text von Vladimir
ner mit Dürrenmatt, in Goldfischgedächtnis, 2011), Nabokov. Dürrenmatt wird im Roman nirgends er-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_115
115  Literarische Rezeption 405

wähnt, doch weist der Titel (offenbar für das tschechi- nehmende Heimkehrer so selbstverständlich ins Re-
sche Publikum erkennbar) auf intertextuelle Bezüge pertoire von Kriminalroman und -film eingebrannt,
hin, die unschwer zu identifizieren sind: Der Architekt dass es meist müßig ist, zu fragen, ob sie direkt oder
muss immer mehr Leute einsperren, die das Gefängnis indirekt von Dürrenmatt inspiriert sind. Der öster-
zufällig entdecken, so dass im Gewölbekeller eine ge- reichische Krimiautor Heinrich Steinfels bezeichnet
heime Gemeinde entsteht, die der Architekt bewachen den ›göttlichen Dürrenmatt‹ unumwunden als literari-
und versorgen muss. Die Leute leben im Bewusstsein, sches Vorbild. Aber auch anderssprachige Krimiauto-
dass sie erst dann frei werden, wenn jemand den Ge- ren haben ihn rezipiert. Der Katalane Manuel Vázquez
heimdienst-Mann umbringt. Als dies geschieht, tritt Montalbán fühlte sich Dürrenmatt verwandt dank
die schlimmstmögliche Wendung ein: Nach dem Tod dessen kulturellem »Zwitterwesen, das ihn so leicht
des Geheimdienstmannes erfahren Leserinnen und von scheinbar edlen Genres zur Strassenmischung der
Leser, dass dieser keineswegs die Schuld am Tod der Kriminalerzählung [...] wechseln ließ« (1991, 39). In
Schwester des Architekten trug, er sich vielmehr für sie Italien wird Dürrenmatt oft mit Leonardo Sciascia in
eingesetzt hatte. Die Rache, die zum Lebensinhalt des Verbindung gebracht, der ihn auch zitiert; dessen sizi-
Architekten wurde, traf mithin den Falschen. lianischer Landsmann Andrea Camilleri (Der Hund
Eine eigene Untersuchung wert wäre der Einfluss aus Terracotta) nimmt ebenfalls gelegentlich Bezug auf
Dürrenmatts auf die Entwicklung des Kriminalromans Dürrenmatt.
– wiederum am stärksten ausgeprägt in der Schweiz.
Neben den Romanen von Paul Lascaux (Mordswein, Literatur
Kehlmann, Daniel: Der unsichtbare Drache. Ein Gespräch
2011) und Claude Darbellay (L ’affaire, 2012), die das mit Heinrich Detering. Zürich 2019.
Centre Dürrenmatt in Neuchâtel zum Tatort machen, Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
schließt etwa Alexander Heimann 1996 mit seinem Weimar 1993.
Roman Dezemberföhn deutlich an Dürrenmatts Ver- Manguel, Alberto: Swiss master of madness. In: The Specta-
sprechen an. Der Basler Autor Pierre Chiquet nimmt in tor, 16.12.2006.
Mettler, Michel/Sorg, Reto (Hg.): Dunkelkammern.
seinem Roman Der Springer (2010) das Motiv des ›Be-
Geschichten vom Entstehen und Verschwinden. Berlin
obachtens des Beobachters der Beobachter‹ aus Dür- 2020.
renmatts Novelle Der Auftrag auf (vgl. Stingelin 2014), Nusser, Tanja: Transnational Politics in Friedrich Dürren-
und auch Elio Pellin würzt sein Risotto für Krissy Kraut matt’s Der Auftrag and Wolfgang Herrndorf ’s Sand. In:
(2014) mit ironischen Reminiszenzen an Dürrenmatt Carrie Smith-Prei, Elisabeth Herrmann, Stuart Taberner
und andere Schweizer Krimiautoren. Blickt man über (Hg.): Transnationalism in Contemporary German-
Language Literature. Rochester 2015, 247–263.
die Schweizer Literatur hinaus, so werden die Spuren
Stingelin, Martin: 28. Zum Widerstreit von Wort und Blick,
spärlicher. In deutschen Krimis finden sich immer Text und Bild im Spätwerk von Friedrich Dürrenmatt. In:
wieder Anklänge und Motive wie der Kriminalist, der Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie.
einen Verbrecher für ein nicht begangenes Verbrechen Dürrenmatt intertextuell und intermedial. Göttingen
hinter Gitter bringt, weil es ihm nicht gelingt, die tat- 2014, 261–270.
sächlich begangenen Verbrechen nachzuweisen. Eben- Vázquez Montalbán, Manuel: Das doppelt geschätzte Recht
auf Ironie. In: Das Magazin (Zürich), Nr. 50, 1991, 39.
so haben sich der geniale, aber vergeblich auf das Zu-
schnappen der Falle wartende Detektiv und der Rache Ulrich Weber
Anhang
Chronik zu Leben und Werk

1921  5.1.: Geburt in Stalden (ab 1933 Konolfingen) Gesamtbewertung ›befriedigend‹, Bestnote in Ge-
im Emmental, Kanton Bern, als ältester Sohn des schichte. Bei Maturitätsfeier Aufführung der (nicht
protestantischen Pfarrers Reinhold Dürrenmatt erhaltenen) humoristischen ›Faust‹-Adaption Die
(20.1.1881–8.2.1964) und dessen Frau Hulda, geb. Wandlung. 27.9.: Brief an den Vater: Entscheidung
Zimmermann (24.11.1886–12.8.1975). In der Fa- für künstlerische Tätigkeit, Unentschiedenheit
milie ist bereits die fünfjährige Pflegetochter Elisa- zwischen Malerei und Schriftstellerei. Immatriku-
beth Gori. Die Eltern heirateten 1909 und blieben lation an der Philosophisch-historischen Fakultät
lange kinderlos. der Universität Bern: Neuere Deutsche Literatur
1922  6.9.: Geburt der Schwester Marianna, die nach (bei Fritz Strich), Germanistik (bei Helmut de
drei Tagen stirbt. Boor), Kunstgeschichte (bei Max Huggler und
1924  9.5.: Geburt der Schwester Verena. Wilhelm Stein, einem wichtigen Förderer). Lektüre
1928–1932  Primarschule in Stalden. u. a. von Christoph Martin Wieland, E. T. A. Hoff-
1932–1935  Sekundarschule im Nachbardorf Gross- mann, Georg Büchner, Christian Dietrich Grabbe.
höchstetten. Eine ›Kopfgrippe‹ (leichte Kinder­ 1942  6.–30.7.: Rekrutenschule; frühzeitige Entlas-
lähmung) beeinträchtigt die Beweglichkeit des sung und Versetzung in den militärischen Hilfs-
Jungen. dienst wegen Kurzsichtigkeit. Bezug einer Mansar-
1934  Juli: Auf dem Fahrrad Kollision mit einem Mo- de über der neuen Wohnung der Eltern in der Lau-
torrad, Empfindung von Todesangst. beggstraße 49 in Bern, wo er die Wände mit myth-
1935  Okt.: Umzug der Familie nach Bern (Alten- logischen, religiösen und zeitgeschichtlichen
bergstraße 29), wo der Vater Pfarrer am Salem-Spi- Motiven bemalt.
tal und bei den das Krankenhaus betreibenden 1942/43  Okt.: Fortsetzung des Studiums in Zürich.
Diakonissen wird. Bis 1939 Besuch des Freien Erste Freundin, die Walliser Kunststudentin
Gymnasiums, anschließend des Maturitätsinstituts Christiane Zufferey. Zugehörigkeit zum Kreis um
Humboldtianum. den Maler Walter Jonas; über diesen Erstkontakt
1936  Sept.: Umzug in die Nydeggasse 13. zum Werk Franz Kafkas; gemeinsam mit Jonas:
1937  Juli/Aug.: Fahrradtour mit einem Onkel und Buch einer Nacht. 24.12.: Entstehung der Prosa-
einem Freund nach Deutschland: München (Be- miniatur Weihnacht, der älteste Text, der ins pu-
such der Ausstellung Entartete Kunst), Regens- blizierte Werk eingeht. Weitere Kurzprosa und Ar-
burg, Nürnberg, Weimar (Besuch des Goethe- beit an einem Drama. 24.2.1943: Besuch der Ur-
Hauses), Frankfurt a. M. aufführung von Bertolt Brechts Der gute Mensch
1938  Zur Aufbesserung der Französischkenntnisse von Sezuan am Schauspielhaus Zürich. Frühjahr:
Fahrradreise während der Sommerferien zu einer Nach Hepatitiserkrankung frühzeitige Rückkehr
Pfarrersfamilie in Straßburg. Besuch in Sessen- nach Bern.
heim. Erwerb von Hitlers Mein Kampf. 1943  22.8.–5.10.: Aufenthalt im Walliser Dorf Eison
1939  Besuch der großen Prado-Ausstellung in Genf. mit Christiane Zufferey und deren Eltern. Jean
In den Sommerferien Sprachaufenthalt in La ­ Paul-Lektüre, Fertigstellung des (nie publizierten
Tourne im Neuenburger Jura. oder aufgeführten) Stücks Eine Komödie.
1941  Stellungnahme für Hitler und Mitgliedschaft 1943–1946  Fortsetzung des Studiums in Bern: Psy-
bei einer frontistischen Jugendorganisation. Sept.: chologie, Nationalökonomie, Philosophie
Umzug in die Jubiläumsstraße 31. (Schwerpunktfach) bei Richard Herbertz; Semi-
29.8.–13.9.: Maturitätsprüfung (Alte Sprachen); nararbeit über Platons Staat, prägende Lektüre von
410 Anhang

Platon, Kant und Kierkegaard, Planung der nie 1949  Innerhalb weniger Wochen Niederschrift der
realisierten Dissertation Kierkegaard und das Tra- Komödie Romulus der Große; Uraufführung: 25.4.
gische. Weiterhin bildkünstlerische und schriftstel- in Basel (R.: Ernst Ginsberg; Titelrolle: Kurt Hor-
lerische Versuche. witz). Apr./Mai: Begegnungen mit Bertolt Brecht.
1944  17.7.–17.8.: Militärischer Hilfsdienst in Interla- Erzählung Pilatus erscheint als Buchausgabe. 19.9.:
ken. Lektüre von Goethes Dichtung und Wahrheit. Geburt der Tochter Barbara. Dez.: Umzug von
1944/45  22.12.–18.1.: Militärischer Hilfsdienst in Schernelz in die ›Festi‹ Ligerz, ins Haus der Textil-
La Plaine (bei Genf). Beschluss, Schriftsteller zu künstlerin Elsi Giauque. Schweizerpsalm I entsteht.
werden. 1950  Das Stück Die Ehe des Herrn Mississippi wird
1945  25.3.: Erste literarische Publikation: Der Alte von Kurt Horwitz und Ernst Ginsberg abgelehnt.
(Erzählung) in der Berner Tageszeitung Der Bund. Erscheinen der Erzählung Der Nihilist als Buch-
1945/1946  Weitere Erzählungen (Das Bild des Sisy- ausgabe. 26.–30.6.: Teilnahme am Kongress für
phos, Der Theaterdirektor, Der Hund, Die Stadt, Pi- Kulturelle Freiheit in Westberlin (gemeinsam mit
latus), dazu Arbeit an Bildern, u. a. Pilatus und Si- Frisch). 31.8.: Besuch beim Philosophen Rudolf
syphos. Kassner in Sierre (Wallis). 15.12.–31.3.1951: Ab-
1946  2.3.: Fertigstellung des Stücks Die Wiedertäufer druck des seit 1949 entstandenen Kriminalromans
(später umbenannt in Es steht geschrieben). Das Der Richter und sein Henker als Fortsetzungs-
Hörspiel Der Doppelgänger wird von Radio Bern roman in der Zeitschrift Der Schweizerische Be-
abgelehnt. Mai: Exmatrikulation von der Univer- obachter.
sität Bern ohne Abschluss. Umsetzung des Be- 1951  Theaterkritiken für Die Weltwoche (bis 1953).
schlusses, Schriftsteller zu werden. Trennung von Hörspiele Der Prozeß um des Esels Schatten (Erst-
Christiane Zufferey. 12.10.: Heirat mit der Schau- sendung 5.4.) und Nächtliches Gespräch mit einem
spielerin Lotti Geissler (geb. 1919), die F. D. im verachteten Menschen. Die Hörspiele, vor allem
Frühling kennengelernt hatte. Umzug des Paars Auftragsarbeiten für deutsche Rundfunkanstalten,
nach Basel (St. Alban-Vorstadt 30). sind in der ersten Hälfte der 1950er Jahre F. D.s
1947  Jan.: Beginn der Arbeit am Stück Der Blinde. wichtigste Einnahmequelle (neben finanzieller
Theaterkritiken für die Berner Zeitschrift Die Nati- Unterstützung aus privaten und öffentlichen Quel-
on. 24.1.: Brief von Max Frisch (geb. 1911), der sich len). 6.10.: Geburt der Tochter Ruth. Gesundheitli-
nach der Lektüre des Manuskripts begeistert zum cher Zusammenbruch, Diagnose Diabetes. Im
Stück Es steht geschrieben äußert; mit F. D.s Ant- Okt. Krankenhausaufenthalt, finanzielle Probleme.
wort am nächsten Tag Beginn einer langjährigen Unter großem Druck Abfassung des zweiten Kri-
Freundschaft und wechselseitigen kritischen Aus- minalromans Der Verdacht, der vom 15.9.–
einandersetzung. 19.4.: Uraufführung Es steht ge- 29.2.1952 als Fortsetzungsroman im Schweizeri-
schrieben am Schauspielhaus Zürich (R.: Kurt Hor- schen Beobachter erscheint.
witz; Hauptrollen: Heinrich Gretler und Gustav 1952  14.3.: Umzug nach Neuchâtel ins Haus am
Knuth), Theaterskandal; Bühnenbild wie bei fast Chemin du Pertuis-du-Sault, wo er bis ans Lebens-
allen zukünftigen Uraufführungen von Teo Otto, ende bleibt. Der befreundete Schriftsteller Ludwig
mit dem sich F. D. befreundet. Buchausgabe des Hohl ist wochenlang zu Gast. 26.3.: Uraufführung
Stücks bei Schwabe. Preis der Welti-Stiftung für das Die Ehe des Herrn Mississippi an den Münchner
Drama. Juli: Umzug nach St. Alban-Vorstadt 10. Kammerspielen (R.: Hans Schweikart; Titelrolle:
6.8.: Geburt des Sohnes Peter. Friedrich Domin); die Komödie bedeutet den
1948  10.1.: Uraufführung Der Blinde am Stadtthea- Durchbruch in Deutschland. Erste Dürrenmatt-
ter Basel (R.: Ernst Ginsberg; Titelrolle: Heinz Aufführung in fremder Sprache: Les Fous de Dieu
Woester). Begegnung mit Karl Barth. Arbeit am (Es steht geschrieben) in Paris. Hörspiel Stranitzky
Drama Der Turmbau zu Babel; am 13.12. Abbruch und der Nationalheld. Federzeichnung Turmbau I.
und Verbrennung des Manuskripts. Mehrere Sket- Bis 1978 weitere 5 Darstellungen des Turmbau-
che für das Zürcher Kabarett Cornichon, u. a. Der Motivs. Der Richter und sein Henker erscheint in
Erfinder und Der Gerettete (Uraufführung: 30.4.). Buchform bei Benziger. Erscheinen der neuen Er-
Juni: Umzug mit Frau und Sohn nach Schernelz zählung Der Tunnel gemeinsam mit früheren Pro-
bei Ligerz am Bielersee ins Haus der Schwieger- satexten im Sammelband Die Stadt im Verlag Die
mutter Cécile Falb (Obergasse 9). Arche, der bis 1978 F. D.s Werke herausgibt.
Chronik zu Leben und Werk 411

1953  März: Mit Frisch an Rundfunktagung in Felda- Begegnung mit Eugène Ionesco. März: Hörspiel-
fing über das Fernsehspiel. Arbeit an der Filmstory preis der Kriegsblinden für Die Panne. 26.3.: Tref-
Gotthardexpress; Abbruch nach einem Streit mit fen mit dem Filmproduzenten Lazar Wechsler in
dem Auftraggeber Max Haufler. 22.12.: Urauffüh- Zürich; in der Folge Treatment und Drehbuch zum
rung Ein Engel kommt nach Babylon an den Film Es geschah am hellichten Tag. 11.4.: Erstaus-
Münchner Kammerspielen (R.: Hans Schweikart; strahlung Fernsehspiel Die Panne (R.: Fritz Umgel-
Erich Ponto als Akki); F. D. fühlt sich vom Regis- ter, Bayerischer Rundfunk). 11.–13.5.: Bespre-
seur völlig missverstanden; in der Folge gesund- chung der geplanten englischsprachigen Inszenie-
heitliche Probleme und tiefe Krise. rung der Alten Dame mit Peter Brook in Paris. Be-
1954  Erste eigene Regieerfahrung am Stadttheater such bei Samuel Beckett. 11.–28.6.:
Bern mit Die Ehe des Herrn Mississippi (Premiere Krankenhausaufenthalt in Zürich.
4.2.). Hörspiele Herkules und der Stall des Augias 1958  März: Einsetzen der intensiven Rezeption in
und Das Unternehmen der Wega. Literaturpreis der den sozialistischen Ländern mit der polnischen
Stadt Bern. F. D. hält an verschiedenen Orten den Erstaufführung von Der Besuch der alten Dame im
Vortrag, der 1955 als Theaterprobleme in Buch- Warschauer Teatr Dramatyczny (R.: Ludwik René).
form erscheint. 5.5.: Maurice Valencys Bearbeitung The Visit (R.:
1955  Jan.: Anstellung einer Sekretärin. Lotti muss Peter Brook) wird in New York ein Großerfolg.
wegen einer Gebärmuttersenkung operiert wer- 29.7.: In Berlin zur Erstaufführung von Es geschah
den; es kommt zu Komplikationen, in der Folge am hellichten Tag im Rahmen der Berliner Film-
große finanzielle Sorgen. Umwandlung der frag- festspiele (R.: Ladislao Vajda; mit Heinz Rühmann,
mentarischen Novelle Mondfinsternis in den dra- Gert Fröbe, Michel Simon u. a.). Der Roman Das
matischen Stoff Der Besuch der alten Dame. Arbeit Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman er-
an Hörspiel und Erzählung Die Panne (erscheint scheint als Weiterentwicklung des Filmstoffs im
1956). Teilnahme am Theatergespräch in Baden- Arche Verlag. Okt.: Prix Italia für Abendstunde im
Baden und an den Darmstädter Gesprächen zum Spätherbst. Zehn Jahre Israel, Beitrag für die Zeit-
Theater. Beginn der Freundschaft mit dem Physi- schrift Das neue Israel, erster in einer Reihe von
ker Marc Eichelberg. Aus gescheitertem Filmpro- Texten und Vorträgen (u. a. im Kontext des Sechs-
jekt entsteht die ›Prosakomödie‹ Grieche sucht tagekriegs und des Yom-Kippur-Kriegs) für den
Griechin. Staat Israel.
1956  1.1.: F. D. malt sein erstes Porträt: Es zeigt Wal- 1959  19.2.: Erstausstrahlung des Fernsehspiels Der
ter Mehring. 29.1.: Uraufführung Der Besuch der Besuch der alten Dame (R.: Ludwig Cremer; Titel-
alten Dame am Schauspielhaus Zürich (R.: Oskar rolle: Elisabeth Flickenschildt, ARD/Südwestfunk)
Wälterlin; Titelrolle: Therese Giehse); F. D. insze- erreicht eine Einschaltquote von 81 %. 19.3.: Ur-
niert das Stück im Herbst am Stadttheater Basel. aufführung Frank der Fünfte. Oper einer Privat-
Hörspiel Die Panne. Mit Frisch Plan zu einer ge- bank am Schauspielhaus Zürich (R.: Oskar Wälter-
meinsamen Fortsetzung von Biedermann und die lin; Hauptrollen: Kurt Horwitz und Therese Gieh-
Brandstifter. Schriftstellertagung in Boldern (Kan- se; Musik: Paul Burkhard), ein Misserfolg. 27.4.–
ton Zürich), Vortrag Schriftstellerei als Beruf. Mit 25.5.: Reise nach New York (Preis der New Yorker
Produzent Hans Gottschalk Drehbuch für den Theaterkritiker für The Visit als ›best foreign
Fernsehfilm Der Richter und sein Henker (erste play‹); dort erste Begegnung mit dem Astrophysi-
Spielfilm-Eigenproduktion des deutschen Fernse- ker Fritz Zwicky. 19.8.–10.9.: Kuraufenthalt in Vul-
hens; F. D. ist bei den Dreharbeiten dabei; Erstsen- pera (Unterengadin), Einfälle zu verschiedenen
dung 1957). Sept.: Tagung der Evangelischen Aka- später ausgeführten Stoffen (Die Physiker, Der Me-
demie für Rundfunk und Fernsehen in Bad Boll teor, Durcheinandertal), anschließend Kranken-
zum Thema ›Das Wort im Zeitalter der Bilder‹. hausaufenthalt in Winterthur. 9.11.: Schillerpreis
Vortrag Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit, in Mannheim. 25.11.: Der Besuch der alten Dame
F. D. betont erstmals die fundamentale Bedeutung in F. D.s Neufassung und Inszenierung am Berner
der Naturwissenschaften für das zeitgenössische Atelier-Theater.
Schreiben. 1960  Reisen nach London, Mailand, Paris, Stock-
1957  Febr.: Aufenthalt in Paris zur französischen holm und München zu Aufführungen seiner Stü-
Erstaufführung von Der Besuch der alten Dame. cke: u. a. Besuch der italienischen Premiere der Al-
412 Anhang

ten Dame am Teatro popolare di Milano (R.: Gior- 1965  8.2.: Tod des Vaters. Arbeit am Meteor. Bau ei-
gio Strehler) und Aufenthalt in London zur Pre- nes zweiten Wohn- und Arbeitshauses auf dem
miere von The Visit am Royalty Theatre. Großer Grundstück am Pertuis-du-Sault in Neuchâtel.
Preis der Schweizerischen Schillerstiftung. Arbeit 1966  20.1.: Uraufführung Der Meteor am Schau-
am Filmstoff Justiz, die nicht fristgerecht abge- spielhaus Zürich (R.: Leopold Lindtberg, mit Leo-
schlossen wird; als Ersatz in kurzer Zeit Erarbei- nard Steckel). Erstaufführung der Verfilmung von
tung eines Drehbuchs zu einer Filmfassung von Grieche sucht Griechin. Italienreise (Florenz, Nea-
Die Ehe des Herrn Mississippi (R.: Kurt Hoffmann). pel, Paestum, Maratea, Rom) auf den Spuren der
Lernt den Maler Varlin (Willy Guggenheim) ken- Kunst der Antike und der Renaissance; die Eindrü-
nen, der zu seinem Freund und Lieblingsmaler cke führen zur Entstehung des Bildes Katastrophe.
wird und ihn mehrfach porträtiert. Weitere Ölbilder, u. a. Letzte Generalversammlung
1961  Arbeit an Die Physiker. Jan.: Reise nach Berlin der Eidgenössischen Bankanstalt, im Zusammen-
zu den Dreharbeiten zu Die Ehe des Herrn Mississip- hang mit F. D.s Inszenierung seiner TV-Fassung
pi; Begegnungen mit Günter Grass und Henry Mil- des Stücks Frank der Fünfte (25.10.–17.12. in Ham-
ler. 23.–25.6.: Erneuter Berlin-Aufenthalt zur Prä- burg, NDR-Studio).
sentation des Films im Rahmen der Filmfestspiele. 1967  16.2.: Erstausstrahlung des Fernsehspiels Frank
Juli: Präsident der Jury bei den Filmfestspielen von der Fünfte. 6.3.: Uraufführung Die Wiedertäufer
Locarno. 2.11.: Premiere von Frischs Andorra; F. D.s (Komödienfassung von Es steht geschrieben; R.:
kritische Bemerkungen zum Stück gegenüber der Werner Düggelin, mit Ernst Schröder und Gustav
Presse tragen zur Abkühlung der Freundschaft zwi- Knuth) am Schauspielhaus Zürich. 21.5.–7.6.: Rei-
schen den beiden Dramatikern bei. se nach Moskau zum vierten Sowjetischen Schrift-
1962  20.2.: Uraufführung Die Physiker am Schau- stellerkongress und zur Inszenierung der Alten Da-
spielhaus Zürich (R.: Kurt Horwitz; mit Therese me; F. D.s Beobachtungen des versammelten Polit-
Giehse und Hans Christian Blech), in der Saison büros geben die Inspiration zur Erzählung Der
1962/63 das meistgespielte Stück auf deutschspra- Sturz (publiziert 1971). 17.6.: Rede Israels Lebens-
chigen Bühnen (so auch wieder in der Saison recht anlässlich einer Kundgebung im Zürcher
1982/83). Mitarbeit bei den Proben zur französi- Schauspielhaus (zum Sechstagekrieg). 13.–20.10.:
schen Erstaufführung von Frank der Fünfte in Pa- Reise mit Frisch nach Verona und Venedig. 15.–
ris. In Paris Begegnung und Freundschaft mit Paul 19.12.: Reise nach Wien zu Gottfried von Einem,
Celan. der eine Opernfassung von Der Besuch der alten
1963 Uraufführung Herkules und der Stall des Augias Dame plant.
am Schauspielhaus Zürich (R.: Leonard Steckel), 1968  24.1.: Vortrag über Gerechtigkeit und Recht in
ein Misserfolg. Beginn der Arbeit am Stück Der Mainz, der später für die Buchfassung zum Mons-
Meteor. Der Band Die Heimat im Plakat mit satiri- tervortrag ausgearbeitet wird. 13.–25.3.: Anlässlich
schen Zeichnungen über die Schweiz erscheint bei der tschechischen Erstaufführung von Die Wieder-
Diogenes. täufer mitten im Prager Frühling Reise nach Prag.
1964  Jan./Febr.: Reise nach Marokko und Teneriffa, Mai: Franz Grillparzer-Preis in Wien. Aug.: Ein-
wo die ersten erhaltenen Manuskripte zu den Stof- ladung zur künstlerischen Mitarbeit in der Direkti-
fen entstehen. Juni: Reise in die UdSSR (Kiew, Le- on Basler Theater durch Werner Düggelin; F. D.
ningrad, Moskau, Tiflis, Eriwan) und nach Prag, bezieht für die Arbeit eine Wohnung in Basel. 8.9.:
u. a. zu Aufführungen der Physiker. 6.5.: Präsenta- Organisation einer Protestveranstaltung im Thea-
tion des Hollywood-Films The Visit (R.: Bernhard ter Basel gegen Niederschlagung des Prager Früh-
Wicki; mit Ingrid Bergman und Anthony Quinn) lings, u. a. mit Frisch und Grass; Rede Tschechoslo-
in Cannes, F. D. reist nicht hin. Okt.: Besuch der wakei 1968. 18.9.: Premiere Shakespeare-Adaption
Landesausstellung Expo 64 in Lausanne; später König Johann (R.: Werner Düggelin; mit Horst
Kauf des für diesen Anlass gemalten Varlin-Bilds Christian Beckmann).
Die Heilsarmee. Okt./Nov.: Regiearbeit mit Neufas- 1969  8.2.: Uraufführung Play Strindberg in der Bas-
sung Frank der Fünfte in Bochum, wird nach Aus- ler Komödie (R.: F. D./Erich Holliger; u. a. mit Re-
einandersetzungen mit dem Intendanten Hans gine Lutz; Erstausstrahlung der Fernsehaufzeich-
Schalla abgebrochen. 5.11.: Erstausstrahlung der nung: 14.9.1971, SDR). Apr.: F. D. wird (bis 1971)
Fernsehfassung von Die Physiker (SDR). Mitherausgeber der neugegründeten Zürcher Wo-
Chronik zu Leben und Werk 413

chenzeitung Sonntags-Journal (mit Rolf Bigler, ter Israel. Beginn der Arbeit am Nachwort zum
Markus Kutter und Jean Rudolf von Salis); für die- Mitmacher (erst 1976 mit dem Stück im Buch Der
ses in den folgenden Jahren verschiedene größere Mitmacher. Ein Komplex publiziert).
Beiträge. 8./9.4.: Herzinfarkt. Während eines Kur- 1974  21.–23.2.: Erste öffentliche Lesung aus den
aufenthalts in Schuls (Engadin) Beginn der Arbeit Stoffen in Genf. Besuch des Europäischen Nuklear-
an Stoffe. Geschichte meiner Schriftstellerei. Nach forschungszentrums CERN. 5.6.: Inszenierung von
Streit mit Düggelin verlässt F. D. die Basler Theater. Lessings Emilia Galotti am Schauspielhaus Zürich.
25.10.: Großer Literaturpreis des Kantons Bern; Drehbuch Der Richter und sein Henker für die
Weitergabe des Preisgelds an drei Nonkonformis- gleichnamige Verfilmung von Maximilian Schell
ten. Nov.–Jan. 1970: Reise in die USA (Ehrendok- (F. D. in der Rolle des Schriftstellers); während der
tor der Temple University, Philadelphia), nach Me- Dreharbeiten in Neuchâtel (27.11.–5.12.) Begeg-
xiko und in die Karibik; Essay Sätze aus Amerika. nung mit dem Emmentaler Kunstsammler und
Arbeitsbeginn am (Fragment gebliebenen) Krimi- Wirt Hans Liechti im Restaurant ›du Rocher‹, die-
nalroman Der Pensionierte. ser wird zu einem engen Vertrauten und Freund;
1970  Berufung in den Verwaltungsrat des Zürcher regt F. D. zu intensiver Zeichen- und Maltätigkeit
Schauspielhauses. Regie bei der eigenen Bearbei- an, u. a. zum Minotaurus-Motiv. 27.10.–24.11.:
tung von Goethes Urfaust am Schauspielhaus Zü- Reise nach Israel auf Einladung der israelischen
rich (22.10.). Uraufführungen Porträt eines Plane- Regierung; Vortrag einer immer wieder überarbei-
ten (10.11.; R.: Erwin Axer) und der Shakespeare- teten Rede an den Universitäten Jerusalem, Haifa
Bearbeitung Titus Andronicus (12.12.; R.: Karl- und Beerschewa (wo F. D. Ehrenmitglied der Ben-
Heinz Stroux) am Schauspielhaus Düsseldorf. Gurion-Universität wird).
1971  17.1.: Matinee zum 50. Geburtstag im Schau- 1975  7.–9.3.: Großes Interview mit Heinz Ludwig
spielhaus Zürich. Inszenierung der Neufassung Arnold, der ein Freund F. D.s wird und beim Arche
von Porträt eines Planeten am Schauspielhaus Zü- Verlag das Lektorat der neuen Dürrenmatt-Werke
rich (Premiere: 25.3.; Erstausstrahlung der Fern- übernimmt. Ausarbeitung der Israel-Rede aus dem
sehaufzeichnung: 14.9., SDR). Beginn der Arbeit Vorjahr zum Buch Zusammenhänge (erscheint
an der Komödie Der Mitmacher. 23.5.: Urauffüh- 1976). 12.8.: Tod der Mutter. 12.10.: Angina Pecto-
rung der Oper Der Besuch der alten Dame von ris, längere Aufenthalte im Berner Engeried-Spital,
Gottfried von Einem in der Wiener Staatsoper. Mit ›Atlas‹-Zeichnungen. F. D.s größtes Bild entsteht:
Der Sturz erscheint nach langer Phase der Konzen- Die Welt der Atlasse, bis 1978 immer wieder über-
tration auf die Dramatik wieder ein Band mit er- arbeitet. 16.–22.11.: Aufenthalt in Wien; Rede ge-
zählerischer Prosa. F. D. liebäugelt damit, Direktor gen die antiisraelische Resolution der UNO auf
des Zürcher Schauspielhauses zu werden, 1973 dem vierten internationalen PEN-Kongress. Ab
Rückzug der Kandidatur. Dez.: Idee zu und Arbeit am Stück Die Frist; ge-
1972  17.2.: Inszenierung von Büchners Woyzeck am sundheitlicher Rückfall, neuerlicher Krankenhaus-
Zürcher Schauspielhaus. Italienische Verfilmung aufenthalt in Bern.
von Die Panne: La più bella serata della mia vita 1976  Niederschrift der Erzählung Das Sterben der
(R.: Ettore Scola). Arbeit an den Stoffen. Pythia (erscheint im Herbst als Teil von Der Mit-
1973  Inszenierung von Die Physiker mit dem macher. Ein Komplex). 27.10.–15.12.: Erstmals Prä-
Schweizer Tournee-Theater (Premiere: 8.1.). 8.3.: sentation einer größeren Auswahl seiner Bilder in
Uraufführung Der Mitmacher am Schauspielhaus einer Ausstellung in Liechtis Restaurant ›du Ro-
Zürich (Titelrolle: Peter Arens); kurzfristige Regie- cher‹ in Neuchâtel. Nov.: Reise nach Wales, Aus-
übernahme F. D.s nach Streit mit Regisseur zeichnung mit dem Welsh Arts Council Interna-
Andrzej Wajda; das Stück fällt bei Kritik und Pu- tional Writer’s Prize.
blikum durch. 15.6.: Teilnahme am Militär- 1977  Buber-Rosenzweig-Medaille in Frankfurt a. M.
gerichtsprozess seines Sohns Peter wegen Dienst- (Rede Über Toleranz). 5.6.: Uraufführung der Oper
verweigerung. 31.10.: Der Mitmacher in Neufas- Ein Engel kommt nach Babylon von Rudolf Kelter-
sung in Mannheim (R.: F. D.; Erstausstrahlung der born mit F. D.s Libretto. 6.10.: Uraufführung Die
Fernsehaufzeichnung: 2.1.1975, SDR); während Frist am Zürcher Schauspielhaus (R.: Kazimierz
der Proben Ausbruch des Yom-Kippur-Kriegs in Dejmek). März und Okt.: Letzte Besuche beim
Israel. Abfassung des Plädoyers Ich stelle mich hin- Maler Varlin in Bondo, der am 30.10. stirbt; Toten-
414 Anhang

rede von F.D, später wiederholt Zeichnungen des Planeten von Charlotte Kerr (Erstsendung: 26.12.).
toten Malers aus der Erinnerung. Ehrendoktorate 8.5.: Heirat mit der Filmemacherin, Schauspielerin
der Hebräischen Universität Jerusalem (1.–8.7.: und Journalistin Charlotte Kerr. Nov.: Weinpreis
Reise nach Jerusalem) und der Universität Nizza für Literatur. 16.11.: Poetikvorlesung Kunst und
(17.10.). Wissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt
1978  Arbeit am autobiografischen Spätwerk der a. M.
Stoffe. 28.9.–4.11.: Ausstellung von Bildern und 1985  Apr.: Niederschrift der Novelle Der Auftrag.
Zeichnungen F. D.s in der Galerie Daniel Keel in Mai: Minotaurus. Eine Ballade (mit Zeichnungen
Zürich. Gleichzeitig Bildband Bilder und Zeich- des Autors) erscheint. Wiederaufnahme des frag-
nungen im Diogenes Verlag. Nov.: Inszenierung mentarischen Romans Justiz (neuer Schluss, Vor-
des Meteors in einer neuen Fassung durch F. D. am abdruck in Fortsetzungen in der Zeitschrift Stern,
Wiener Theater in der Josefstadt (Premiere: Buchausgabe im Okt.). 17.9.–19.1.1986: Ausstel-
23.11.). lung des zeichnerischen Werks in Neuchâtel (Mu-
1979  24.2.: Vortrag Albert Einstein an der ETH Zü- sée d’Art et d’Histoire). 4.10.: Bayerischer Litera-
rich anlässlich der Feier zum 100. Geburtstag des turpreis (Jean-Paul-Preis) in München. Fernseh-
Physikers. 19.6.: Großer Literaturpreis der Stadt diskussionen um Atomrüstung u. a. mit Manfred
Bern. 13.9.: Uraufführung der Komödienfassung Wörner (26.2.) und Edward Teller (27.8.). 18.11.–
Die Panne in Wilhelmsbad/Hanau (R.: F. D.). Nach 7.12.: Reise nach Ägypten. 11./12.12.: Nieder-
27 Jahren beim Arche Verlag etappenweise Wech- schrift Selbstgespräch. Ab Dez.: Gemeinsam in Ge-
sel zum Diogenes Verlag. Nov.–Jan. 1980: Arbeit sprächen mit Charlotte Kerr Entwicklung von Pro-
an der (Fragment gebliebenen) Komödie Die Se- tokoll einer fiktiven Inszenierung und der Neufas-
kretärin. Eine Friedhofskomödie. sung von Achterloo III (Rollenspiele).
1980 Werkausgabe in 29 Bänden erscheint gebunden 1986  8.–24.9.: Italienreise; Premio Letterario Inter-
im Arche Verlag, als Taschenbuch im Diogenes nazionale Mondello in Palermo. 10.10.: In Darm-
Verlag. Neufassungen der meisten Stücke. Okt.: stadt Verleihung des Georg-Büchner-Preises der
Besuch von Maximilian Schell: Entwurf zum Film- Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Treatment Midas. (Rede Georg Büchner oder Der Satz vom Grunde).
1981  5.1.: Ehrendoktor der Universität Neuchâtel 10.11.: Schiller-Gedächtnispreis des Landes Ba-
zum 60. Geburtstag. 10.1.: Feier im Schauspielhaus den-Württemberg (Rede Das Theater als mora-
Zürich. 30.3.–9.7.: Aufenthalt in Los Angeles, lische Anstalt heute). Rollenspiele und Der Auftrag
›Writer in Residence‹ an der University of Sou- erscheinen.
thern California. Sept.: Stoffe I–III erscheint im 1987  11.–18.2.: Teilnahme am Moskauer Friedens-
Diogenes Verlag (Neuauflage 1990 unter dem Titel forum im Zeichen von Michail Gorbatschows Ent-
Labyrinth. Stoffe I–III). spannungspolitik. 10.9.: Fernsehdiskussion mit
1982  15.7.: Vortrag/Diskussion (mit Paul Feyera- Egon Bahr und Joseph Rovan anlässlich des Be-
bend) an der ETH Zürich. Arbeit an den Stoffen suchs des DDR-Staatschefs Erich Honecker in
und Achterloo. Saarland. Arbeit an den Stoffen. Reisen in die Tür-
1983  16.1.: Tod von Ehefrau Lotti. 29.4.: Ehrendok- kei, nach Italien und Spanien. Dez.–Jan. 1988: Rei-
torat der Universität Zürich. 6.10.: Uraufführung se nach Rom, Barcelona, Sevilla.
Achterloo am Schauspielhaus Zürich (R.: Gerd 1988  20.–27.1.: Entstehung der Lithografie Die
Heinz; mit Helmuth Lohner). Verschiedene Auf- Hochzeit zu Kana in der Galerie Erker in St. Gallen.
enthalte in München zur Arbeit am Filmprojekt Verschiedene Gouachen entstehen. 17.6.: Urauf-
Midas mit Maximilian Schell. 27.10.–16.11.: Reise führung Achterloo IV im Rokoko-Theater Schwet-
mit Charlotte Kerr und Schell nach Griechenland. zingen (Erstausstrahlung der Fernsehaufzeich-
27.12.–24.1.1984: Reise mit Charlotte Kerr und nung: 14.1.1989, SDR). Prix Alexeï Tolstoï der As-
dem Arzt Fred Schertenleib nach Ecuador (Gala- sociation Internationale des Écrivains de Romans
pagos-Inseln) und Peru. Policiers. 28.6.: Zweiter Besuch im Forschungszen-
1984  28.2.: Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes trum CERN. Arbeit an den Stoffen und am Roman
Rheinland-Pfalz. 20.3.: Österreichischer Staats- Durcheinandertal.
preis für Europäische Literatur. 24.4.–7.5.: Dreh- 1989  23.–29.1.: Aufenthalt in Madrid anlässlich In-
arbeiten in Neuchâtel für den Film Portrait eines szenierung von Frank V. 27.4.: Ernst-Robert-Cur-
Chronik zu Leben und Werk 415

tius-Preis für Essayistik, Bonn (Rede Über das va- Kreuzigung I–IV, Minotaurus. 22.11.: Letzter öf-
terländische Gefühl). 27.6.: F. D. vermacht seinen fentlicher Auftritt in der Schweiz; die Rede auf Vá-
gesamten literarischen Nachlass der Schweizeri- clav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-
schen Eidgenossenschaft (Bedingung: Einrichtung Preises (Die Schweiz – ein Gefängnis) in Anwesen-
eines Schweizerischen Literaturarchivs). Aug.: heit von Regierungsmitgliedern provoziert einen
Durcheinandertal erscheint. 4.–14.9.: Reise nach Skandal. 23.–26.11.: Rede auf Michail Gorbat-
Schweden und Dänemark. 6.–15.10.: Reise nach schow (Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus
Norditalien. Arbeit an den Stoffen. dem Untergang zu ziehen) in Berlin. 14.12.: Tod in
1990  Jan.–Mai: Fertigstellung des Bandes Turmbau. Neuchâtel (Herzversagen) kurz vor dem 70. Ge-
Stoffe IV–IX (erscheint im Okt.). 8.–14.5.: Reise burtstag.
nach Polen, Besuch von Auschwitz und Birkenau.
Ulrich Weber
Juli: Lithografien in der Galerie Erker, St. Gallen:
Siglenverzeichnis

WA  Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Zürich S  Das Stoffe-Projekt. Textgenetische Edition in fünf Bän-
1998. den, verbunden mit einer erweiterten Online-Version.
G  Gespräche 1961–1990 in vier Bänden. Hg. von Heinz Hg. von Ulrich Weber und Rudolf Probst. Mit einem ein-
Ludwig Arnold u. a. Zürich 1996. leitenden Essay von Daniel Kehlmann. Zürich 2020.
Bibliografie

Vorbemerkungen Dürrenmatt dessine. Préface de Paul Nizon, textes de Fried-


Die folgende Bibliografie erfasst gegenwärtig relevante Pri- rich Dürrenmatt et de Valère Bertrand. Paris 2006.
märtexte von und Sekundärtexte zu Friedrich Dürrenmatt. Dürrenmatt und die Mythen. Zeichnungen und Original-
Zugleich kann aus Umfangsgründen nur eine Auswahl- manuskripte. Collection Charlotte Kerr Dürrenmatt. Mai-
bibliografie geboten werden. Das betrifft im Bereich der Pri- land 2005.
märliteratur vor allem die Nennung von Einzelausgaben. Friedrich Dürrenmatt. Œuvre graphique / Das zeichneri-
Diese werden prinzipiell in den Werkartikeln genannt. Eine sche Werk. Neuchâtel 1985.
detaillierte Zusammenstellung der Primärliteratur findet Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Ausstel-
sich in der Bibliografie von Cavigelli/Hönes 1998 (s. u.), lungskatalog zu den Ausstellungen in Bern und Zürich,
472–482. Im Bereich der Sekundärliteratur ist es weder mit Beiträgen von Hugo Loetscher, Peter Rüedi, Beat
möglich noch sinnvoll, die unzähligen Einzelpublikationen Sterchi u. a. Hg. vom Schweizerischen Literaturarchiv,
zu erfassen, die durch die einschlägigen elektronischen Bundesamt für Kultur und Kunsthaus Zürich. Zürich
Hilfsmittel leicht zugänglich sind. Das Verzeichnis be- 1994.
schränkt sich daher ausschließlich auf biografische Darstel- Friedrich Dürrenmatt. Skizzenbuch. Engel, Teufel und so
lungen, Dokumentarfilme, einführende Gesamtdarstellun- weiter. Sonderausgabe zur ersten Gesamtausstellung des
gen, Bibliografien, Sammelbände und Monografien. Eine bildnerischen und zeichnerischen Werkes von Friedrich
umfassende, periodisch aktualisierte Bibliografie der For- Dürrenmatt im Kunsthaus Zürich vom 18. März bis
schungsliteratur seit 1987 sowie schulischer Kommentar- 23. Mai 1994. Hg. von Charlotte Kerr und Ted Scapa. Bern
literatur, unpublizierter Qualifikationsarbeiten, aber auch 1994.
Übersetzungen ist online zugänglich auf den Web-Seiten Die Heimat im Plakat. Ein Buch für Schweizer Kinder
des Schweizerischen Literaturarchivs. [1963]. Zürich 2005.
Die Mansarde. Die Wandmalereien aus der Berner Laubegg-
Ausgaben strasse. Hg. vom Schweizerischen Literaturarchiv. Zürich
Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Zürich 1998. 1995.
Sigle: WA. Das Nashorn schreibt der Tigerin. Bild-Geschichten von
Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. von Franz Josef Friedrich Dürrenmatt. Hg. und kommentiert von Char-
Görtz. Zürich 1988 (Hardcover). lotte Kerr. Berlin 2002.
Gesammelte Werke in sieben Bänden. Zürich 1992 (TB- Varlin – Dürrenmatt. Horizontal. Katalog zur Ausstellung
Ausgabe in anderer Komposition). im Centre Dürrenmatt Neuchâtel, 2005 und im Museum
Werkausgabe in dreißig Bänden. Hg. in Zusammenarbeit Liner Appenzell, 2005. Hg. vom Centre Dürrenmatt Neu-
mit dem Autor. Zürich 1980 (Hardcover Arche, Taschen- châtel. Zürich 2005.
buchausgabe Diogenes). Wege und Umwege mit Friedrich Dürrenmatt. Das bildneri-
Gespräche 1961–1990 in vier Bänden. Hg. von Heinz Lud- sche und literarische Werk im Dialog. Hg. von Madeleine
wig Arnold u. a. Zürich 1996. Sigle: G. Betschart und Pierre Bühler. 3 Bde. Göttingen, Zürich
Das Stoffe-Projekt. Textgenetische Edition in fünf Bänden, 2020–2021.
verbunden mit einer erweiterten Online-Version. Hg. von
Ulrich Weber und Rudolf Probst. Mit einem einleitenden Einführungen und Gesamtdarstellungen
Essay von Daniel Kehlmann. Zürich 2020. Sigle: S. Bolliger, Luis/Buchmüller, Ernst (Hg.): Play Dürrenmatt.
Max Frisch – Friedrich Dürrenmatt. Briefwechsel. Hg. von Ein Lese- und Bilderbuch. Zürich 1996.
Peter Rüedi. Zürich 1998. Brock-Sulzer, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt. Stationen
Das Mögliche ist ungeheuer. Ausgewählte Gedichte. Mit seines Werkes [1960]. Zürich 1986.
einem Nachwort von Peter Rüedi. Zürich 1993. Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Hg.): Friedrich Dürrenmatt,
ein Schweizer mit Weltgeltung. Sein Werk und seine Aus-
Bildwerk strahlung. Ein synoptischer Blick. Neuchâtel 2016 (Cahier
Dürrenmatt. Bilder und Zeichnungen. Hg. von Christian 11).
Strich. Mit einer Einleitung von Manuel Gasser und Kom- DU. Die Zeitschrift für Kultur. 1991. H. 1: Friedrich Dürren-
mentaren von Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1978. matt (70). Havel, Kunst, Kosmos, Kollaps, die Schweiz.
418 Anhang

Du (Magazin) 862 (2015): Friedrich Dürrenmatt. Denker Reihen


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420 Anhang

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Tag (CH/D/E, 1958). Frankfurt a. M. u. a. 2011. matts dramentheoretischen Konzeptionen unter besonde-
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Interpretation der Prosakomödie Grieche sucht Griechin matts Dramen und Prosa. Baden-Baden 2013.
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des Gesamtwerkes. Hamburg 2015. und die Schweiz. »La Suisse n’existe pas« oder »Zur Frei-
Paganini, Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich heit verurteilt«? Hamburg 2009.
Dürrenmatt. »Ich bin verschont geblieben, aber ich Wassmann, Elena: Die Novelle als Gegenwartsliteratur.
beschreibe den Untergang«. Hamburg 2004. Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität
Park, Gun-Yong: Intertextuelle Analyse zweier Werke von bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind
Friedrich Dürrenmatt: Mondfinsternis und Der Besuch der und Günter Grass. St. Ingbert 2009, 191–258.
alten Dame. Univ. Bochum 2000.  Whitton, Kenneth S.: The Theatre of Friedrich Dürrenmatt.
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Dürrenmatt. Der Mensch im Zwang gesellschaftlicher Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
Kontrolle. Saarbrücken 2008. der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung.
Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich Frankfurt a. M. 2007. 
Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels. Paderborn Zurbriggen, Eveline: Uns kommt nur noch die Komödie bei.
2008. Friedrich Dürrenmatts Verständnis der modernen Komö-
Profitlich, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Komödienbegriff die. Dargestellt an den Dramen Romulus der Grosse, Der
und Komödienstruktur. Eine Einführung. Stuttgart 1973. Besuch der alten Dame, Die Physiker, Der Meteor und
Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung. Friedrich Dichterdämmerung. Hamburg 2014.
Abbildungsverzeichnis

Abb. 1.1  Friedrich Dürrenmatt als Kind mit den Eltern und unbekannt, Privatsammlung, SLA-FD-A-Bi-2-PS-81.
der jüngeren Schwester Verena in Konolfingen, um 1924. © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
Fotograf: unbekannt. Abb. 61.3  Friedrich Dürrenmatt, Turmbau III: Der ame-
Abb. 1.2  Friedrich Dürrenmatt als Student, um 1944. Foto- rikanische Turmbau, 1968, Tusche auf Papier, 44,9 cm ×
graf: Gaston Zufferey. 30 cm, CDN, SLA-FD-A-Bi-1-56. © CDN/Schweizerische
Abb. 1.3  Die Mansarde, die Dürrenmatt 1942/43 ausmalte. Eidgenossenschaft.
Heutiger Zustand. © Simon Schmid/NB. Abb. 61.4  Friedrich Dürrenmatt, Schlacht zwischen Künst-
Abb. 1.4  Hochzeit mit Lotti Geissler in Ligerz, 12.10.1946, lern und Kritikern, 1963, Tusche auf Papier, 35,4 cm ×
mit den eigenen Eltern (li) und der Schwiegermutter 26,8 cm, CDN, SLA-FD-A-Bi-1-48-6. © CDN/Schweizeri-
Cécile Falb (re). Fotograf: unbekannt. sche Eidgenossenschaft.
Abb. 1.5  Dürrenmatt mit seinen Kindern und Eltern im Abb. 61.5  Friedrich Dürrenmatt, Beim Bau eines Riesen,
Garten des neu erworbenen Hauses in Neuchâtel, 1952. 1952, Tusche auf Papier, 36 cm × 25 cm, CDN, SLA-FD-A-
Fotografin: Lotti Dürrenmatt. Bi-1-18. © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
Abb. 1.6  Lotti Dürrenmatt mit den Kindern Peter und Bar- Abb. 61.6  Paul Klee, Grenzen des Verstandes, 1927, Öl, Was-
bara in Neuchâtel, ca. 1963. © Comet. serfarbe und Bleistift auf weiß grundierter Leinwand,
Abb. 1.7  Dürrenmatt Regisseur Ladislao Vajda (li), Darstel- 56,2 cm × 41,4 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlun-
ler Heinz Rühmann und Verleger Peter Schifferli (re) gen, München. © bpk.
anlässlich der Dreharbeiten zum Film Es geschah am hel- Abb. 61.7  Rembrandt, Die drei Kreuze, 4. Zustand, um
lichten Tag, 1958. Fotograf: Jakob Tuggener. © Fotostif- 1661, Kaltnadel und Grabstichel, 38,5 cm × 45 cm, Wall-
tung Schweiz. raf-Richartz-Museum, Köln, Inv.-Nr. 1938/64. © akg-
Abb. 1.8  Dürrenmatt auf der Bühne mit Schauspielern bei images.
Premiere zu Der Meteor, Zürich 1966. Fotograf: Klaus Abb. 61.8  Friedrich Dürrenmatt, Kreuzigung III, 1976,
Hennch. © Klaus Hennch/SLA. Tusche auf Papier, 35,7 cm × 25,1 cm, CDN, SLA-FD-A-
Abb. 1.9  Dürrenmatt mit Adolph Spalinger und Mathias Bi-1-102. © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
Habich bei den Probenarbeiten zu König Johann, Basel Abb. 61.9  Picasso, Weinende Frau, 1937, National Gallery
1968. Fotograf: Rolf Schäfer. © Rolf Schäfer. of Scotland, Edinburgh. © akg-images / Succession
Abb. 1.10  Dürrenmatt mit Regisseur Andrzej Wajda bei Picasso / 2020, ProLitteris, Zurich.
den Proben zu Der Mitmacher, Zürich 1973. Fotograf: Abb. 61.10  Friedrich Dürrenmatt, Papst III, Filzstift, 20 cm
Klaus Hennch. © Klaus Hennch/SLA. × 14 cm, Sammlung Liechti, SLA-FD-A-Bi-2-SL-54/03.
Abb. 1.11  Dürrenmatt bei der Dankesrede für das Ehren- © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
doktorat der jüdischen Universität Jerusalem, 1977. Foto- Abb. 61.11  Friedrich Dürrenmatt, Die beiden Tiere, 1975,
graf: Ernst Vogt. © Ernst Vogt. Tusche auf Papier, 35,9 cm × 50,6 cm, CDN, SLA-FD-A-
Abb. 1.12  Dürrenmatt mit seinem Verleger Daniel Keel Bi-2-PS-242. © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
(Diogenes), um 1986. Fotograf: Niklaus Stauss. © Niklaus Abb. 61.12  Friedrich Dürrenmatt, Kreuzigung I, 1942,
Stauss. Tusche auf Papier, 48,5 cm × 36,2 cm, CDN, SLA-FD-A-
Abb. 1.13  Dürrenmatt mit seiner zweiten Frau Charlotte Bi-1-6. © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
Kerr, um 1985. Fotograf: Laslo Irmes/RBD. Abb. 61.13  Friedrich Dürrenmatt, Die Wiedertäufer, 1966,
Abb. 1.14  Dürrenmatt mit Václav Havel in Rüschlikon, Öl auf Leinwand, 60 cm × 81 cm, CDN, SLA-FD-A-
14.11.1990. Fotograf: Niklaus Stauss. © Keystone. Bi-1-50. © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
Abb. 46.1  Arbeitsfassung der Erzählung Der Winterkrieg in Abb. 61.14  Friedrich Dürrenmatt, Porträt eines Planeten I:
Tibet (Signatur SLA-FD-A-a40ix, S. 60/fol. 175), Mai 1978. Der Weltmetzger, 1965, Gouache auf Karton, 101,8 cm ×
© SLA/Diogenes Verlag. 72,5 cm, CDN, SLA-FD-A-Bi-1-43. © CDN/Schweizeri-
Abb. 61.1  Friedrich Dürrenmatt, Selbstporträt, 1982, Gou- sche Eidgenossenschaft.
ache, 102 cm × 72 cm, CDN, SLA-FD-A-Bi-1-130. Abb. 61.15  Friedrich Dürrenmatt, Porträt eines Planeten II,
© CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft. 1970, Mischtechnik auf Leinwand, 92 cm × 73 cm, CDN,
Abb. 61.2  Friedrich Dürrenmatt, Schweizerknabe, Schwei- SLA-FD-A-Bi-1-75. © CDN/Schweizerische Eidgenossen-
zerknabe, vor 1940, Tinte und Lavis auf Papier, Maße schaft.
Abb. 61.16  Friedrich Dürrenmatt, Illustration zur Ballade
422 Anhang

Minotaurus I, 1984, Tuschelavis auf Papier, 30 cm × 40 cm, Abb. 77.1  Letzte Generalversammlung der Eidgenössi-
CDN, SLA-FD-A-Bi-1-376-1. © CDN/Schweizerische schen Bankanstalt, 1966, Öl auf Leinwand, 72 cm × 60 cm,
Eidgenossenschaft. CDN, SLA-FD-A-Bi-1-206. © CDN/Schweizerische Eid-
Abb. 71.1  Friedrich Dürrenmatt, Weltstier, 1975, Tusche genossenschaft.
(Feder) auf Papier, 31,6 cm × 46,5 cm, CDN, SLA-FD-A-
Bi-1-88. © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft.
Autorinnen und Autoren

Aeberhard, Simon, Dr. phil., stellvertretender Leiter II.I.42 Selbstgespräch, zus. mit P. Rusterholz; V.90
Hochschulen, Erziehungsdepartement Basel-Stadt Humor und Ironie).
(II.G.28 Bearbeitungen eigener Werke; II.K.51 Sät- Carasevici, Dragoş, Dr. phil., Assistenzprofessor für
ze über das Theater). deutsche Literatur an der Universität Iaşi, Rumä-
Amrein, Ursula, Prof. Dr., Professorin für Neuere nien (II.G.31 Dürrenmatt als Regisseur).
deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Famula, Marta, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbei-
Zürich (II.F.25 Die Physiker). terin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur
Bartl, Andrea, Prof. Dr., Professorin für Neuere deut- an der Universität Paderborn (IV.72 Mutiger
sche Literaturwissenschaft an der Universität Bam- Mensch; V.87 Dramaturgisches Denken).
berg (II.I.41 Justiz). Fischer, Michael, Dr. phil., ehemaliger wissenschaftli-
Battegay, Caspar, PD Dr. phil., Dozent an der Fach- cher Mitarbeiter am Centre Dürrenmatt Neuchâtel
hochschule Nordwestschweiz sowie PD am Deut- (II.C.12 Kabarett-Texte).
schen Seminar der Universität Basel (II.H.35 Ach- Gasser, Peter, Dr. phil., em. Lehrbeauftragter für
terloo I–IV; II.K.56 Abschied vom Theater/Nach- deutschsprachige Literatur der Schweiz an der
wort Achterloo IV). Universität Neuchâtel (II.I.40 Minotaurus).
Berra, Donata, Dr. phil., Lyrikerin und literarische Gisi, Lucas Marco, Dr. phil., Co-Leiter Dienst For-
Übersetzerin, Bern (VI.A.104 Italien). schung und Vermittlung im Schweizerischen Lite-
Bigler, Regula, Dr. phil., Lehrerin für deutsche Spra- raturarchiv und Chargé d’enseignement an der
che und Literatur an Schulen im Raum Bern sowie Universität Neuchâtel (IV.63 Autorschaft).
punktuelle Mitarbeit am Centre Dürrenmatt Neu- Gloor, Lukas, Dr. phil., Leiter des Robert Walser-Ar-
châtel (IV.79 Spiel). chivs in Bern (II.A.8 Die Stadt; V.91 Intermedia-
Bloch, Peter André, Prof. Dr., em. Professor für deut- lität; V.97 Paradoxie).
sche Sprache und Literatur an der Universität Mul- Greiner, Bernhard, Prof. Dr., em. Professor für Neue-
house (II.K.47 Dürrenmatt als Redner; II.M.59 re deutsche Literatur an der Universität Tübingen
Dürrenmatt als Gesprächspartner). (II.K.48 Theaterprobleme; V.93 Komödie (tragi-
Bonnefoit, Régine, Prof. Dr., Professorin für Kunst- sche)).
geschichte und Museologie an der Universität Hennig, Matthias, Dr. phil., Literaturwissenschaftler,
Neuchâtel (III.61 Bildnerisches Werk, zus. mit M. Autor und Journalist, Berlin (IV.71 Labyrinth).
Minder). Hernández, Isabel, Prof. Dr., Professorin für Deut-
Boss, Ulrich, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter sche Literatur an der Universität Complutense Ma-
für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der drid (VI.B.108 Spanien).
Universität Bern (II.N.60 Film und Literatur, zus. Jambor, Ján, Dr. phil. habil., assoziierter Professor für
mit E. Pellin; VI.C.114 Verfilmungen, zus. mit E. Deutsche Literatur an der Universität Prešov, Slo-
Pellin). wakei (IV.84 Zufall).
Bugmann, Urs, Dr. phil., Kulturjournalist und Litera- Käppeli, Patricia, Dr. phil., Lektorin, Zürich (IV.64
turkritiker, Luzern (I.7 Dürrenmatt im Literatur- Einzelmensch – Institution – Gesellschaft; IV.76
betrieb). Politik; IV.81 System).
Bühler, Pierre, Prof. Dr., em. Professor für Systemati- Käser, Rudolf, Prof. Dr., em. Titularprofessor für
sche Theologie an der Universität Zürich (II.B.10 Neuere deutsche Literatur an der Universität Zü-
Es steht geschrieben; II.F.21 Die Ehe des Herrn Mis- rich sowie em. Professor für Literaturwissenschaft
sissippi; II.F.27 Der Meteor zus. mit P. Rusterholz; und Deutschdidaktik an der Pädagogischen Hoch-
424 Anhang

schule der Fachhochschule Nordwestschweiz (SLA), Bern (II.K.53 Nachgedanken; VI.B.112 UK/
(II.H.32 Porträt eines Planeten; II.H.34 Die Frist; USA).
II.K.49 Vom Sinn der Dichtung; II.K.55 Albert Ein- Nesselrath, Heinz-Günther, Prof. Dr., Professor für
stein; IV.62 Astronomie; IV.74 Naturwissenschaf- Klassische Philologie an der Universität Göttingen
ten; IV.75 Philosophie; IV.82 Technik). (IV.73 Mythos).
Kilcher, Andreas, Prof. Dr., Professor für Literatur- Njanjo, Burrhus, M. A., Promotionsstipendiat an der
und Kulturwissenschaft an der Eidgenössischen a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities der
Technischen Hochschule Zürich (II.K.52 Zusam- Universität zu Köln (VI.B.102 Afrika).
menhänge). Obermeier, Monika, Dr. phil., Studienberaterin am
Kuklova, Michaela, Dr. phil., Universitätslektorin am Philosophischen Seminar an der Universität Hei-
Institut für Translationswissenschaft an der Uni- delberg (II.E.16 Grieche sucht Griechin).
versität Wien (VI.B.109 Tschechien/Slowakei). Pellin, Elio, Dr. phil., Verantwortlicher für Öffentlich-
Leuenberger, Stefanie, PD Dr., Privatdozentin für keits- und Kulturarbeit der Universitätsbibliothek
Literatur- und Kulturwissenschaft an der Eidge- Bern (II.N.60 Film und Literatur, zus. mit U. Boss;
nössischen Technischen Hochschule Zürich (V.85 VI.C.114 Verfilmungen, zus. mit U. Boss).
Dialekt und Standardsprache). Probst, Rudolf, Dr. phil., Leiter Dienst Erschließung
Liard, Véronique, Prof. Dr., Professorin für Germanis- und Nutzung am Schweizerischen Literaturarchiv
tik an der Universität Dijon (VI. B.103 Frank- Bern (II.J.46 Das Stoffe-Projekt, zus. mit U. Weber).
reich). Riedel, Volker, Prof. Dr., em. Professor für Klassische
Lohr, Dieter, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter Philologie an der Universität Jena (II.F.20 Romulus
am Lehrstuhl für Medienwissenschaft der Univer- der Große).
sität Regensburg sowie Schriftsteller, Hörspiel-Re- Röthinger, Julia, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbei-
gisseur und Hörbuch-Verleger (II.D.13 Hörspiele). terin am Centre Dürrenmatt Neuchâtel (V.92 In-
Marquardt, Anne-Kathrin, M. A., Dozentin für eng- tertextualität).
lische Sprache und Literatur in Classes Préparatoi- Ruf, Oliver, Prof. Dr., Professor für Kommunikations-
res aux Grandes Ecoles in Paris (II.G.29 Shake- wissenschaft und Medienpraxis an der Hochschule
speare-Bearbeitungen). Bonn-Rhein-Sieg (VI.C.113 Dürrenmatt in der
Masumoto, Hiroko, Prof. Dr., Professorin für Deut- Schule).
sche Literatur an der Universität Kobe (VI.B.105 Rusterholz, Peter, Prof. Dr., em. Professor für Neuere
Japan). deutsche Literatur an der Universität Bern (II. F.27
Mauz, Andreas, Dr. theol., lic. phil., Oberassistent am Der Meteor, zus. mit P. Bühler; II.I.42 Selbst-
Institut für Hermeneutik und Religionsphiloso- gespräch, zus. mit P. Bühler; V.97 Prozessualität).
phie an der Universität Zürich (II.E.15 Der Ver- Schappach, Beate, Dr. phil., Oberassistentin am Insti-
dacht; II.I.44 Durcheinandertal; IV.67 Gnade, zus. tut für Theaterwissenschaft der Universität Bern
mit U. Weber; IV.68 Gott; IV.69 Katastrophe; IV.78 (VI.C.112 Dürrenmatt auf der Bühne).
Religion; IV.80 Sterben/Tod; V.89 Gleichnis; V.98 Schimchen, Philip, B. A., wissenschaftliche Hilfskraft
Schlimmstmögliche Wendung, zus. mit P. Schim- am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur an der
chen). Technischen Universität Dortmund (V.98
Middelhoff, Frederike, Prof. Dr., Professorin für Schlimmstmögliche Wendung, zus. mit A. Mauz).
Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Schmid, Kathrin, Dr. phil., wissenschaftliche Mit-
Romantikforschung an der Goethe-Universität arbeiterin am Institut für Germanistik an der Uni-
Frankfurt (IV.83 Tiere). versität Zürich (II.B.11 Der Blinde; II.I.38 Smithy,
Minder, Myriam, M. A., Doktorandin am Institut für zus. mit U. Weber).
Kunstgeschichte und Museologie an der Univer- Schmitz-Emans, Monika, Prof. Dr., Professorin für
sität Neuchâtel und stellvertretende Konservatorin Allgemeine und Vergleichende Literaturwissen-
am Historischen Museum La Chaux-de-Fonds schaft an der Ruhr-Universität Bochum (II.I.37
(III.61 Bildnerisches Werk, zus. mit R. Bonnefoit). Abu Chanifa und Anan ben David; VI.C.111 Co-
Möbert, Oliver, Dr. phil., Gymnasiallehrer, Hamburg mic-Adaptionen).
(II.E.18 Das Versprechen). Schnyder, Peter, Prof. Dr., Professor für Neuere deut-
Morgenthaler, Simon, Dr. phil., wissenschaftlicher sche Literaturwissenschaft an der Universität Neu-
Mitarbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv châtel (II.E.17 Die Panne).
Autorinnen und Autoren 425

Stingelin, Martin, Prof. Dr., Professor für Neuere ter am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA),
deutsche Literatur an der Technischen Universität Bern (I.1 Ein unspektakuläres Leben: biografischer
Dortmund (II.I.43 Der Auftrag; II.I45 Midas oder Abriss; I.2 Selbst- und Fremddarstellungen: My-
Die schwarze Leinwand; II.K.50 Monstervortrag thos Dürrenmatt; I.3 Politisch-kulturelle Kontexte;
über Gerechtigkeit und Recht, zus. mit B. Thimm; I.4 Freundschaften; I.5 Theater; I.6 Verlage; II.E.14
II.K.57 Die Schweiz – ein Gefängnis, zus. mit B. Der Richter und sein Henker; II.E.19 Der Pensio-
Thimm; IV.77 Recht und Gerechtigkeit). nierte; II.H.33 Der Mitmacher; II.I.38 Smithy, zus.
Schwitter, Fabian, Dr. phil., freier Schriftsteller, Leip- mit K. Schmid; II.J.46 Das Stoffe-Projekt, zus. mit
zig und Zürich (II.L.58 Lyrik). R. Probst; II.K.54 Der Mitmacher. Ein Komplex;
Tanner, Jakob, Prof. Dr., em. Professor für Geschichte IV.65 Geld/Ökonomie; IV.67 Gnade, zus. mit A.
der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Uni- Mauz; VI.A.100 Nachlass und Institutionen;
versität Zürich (IV.66 Geschichte). VI.A.101 Rezeption: Überblick; VI.C.115 Literari-
Thimm, Benjamin, M. Ed., wissenschaftlicher Mit- sche Rezeption; Anhang: Chronik zu Leben und
arbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Litera- Werk).
turwissenschaft an der Technischen Universität Weder, Christine, Prof. Dr., Professorin für Neuere
Dortmund (II.F.22 Ein Engel kommt nach Babylon; deutsche Literatur an der Universität Genf (IV.70
II.F.26 Herkules und der Stall des Augias; II.I.36 Der Körper).
Sturz; II.K.50 Monstervortrag über Gerechtigkeit Wellnitz, Philippe, Dr. habil., Maître de conférences
und Recht, zus. mit M. Stingelin; II.K.57 Die für deutsche Literatur an der Universität Paul Valé-
Schweiz – ein Gefängnis, zus. mit M. Stingelin). ry Montpellier (V.96 Parodie/Satire/Groteske).
Utz, Peter, Prof. Dr., em. Professor für Neuere deut- Winkler, Oliver, Dr. phil., Dozent am Departement
sche Literatur an der Universität Lausanne (II.A.9 Angewandte Linguistik der Zürcher Hochschule
Der Tunnel). für Angewandte Wissenschaften (II.G.30 Play
Voloshchuk, Ievgeniia, Prof. Dr., Projektmitarbeiterin Strindberg).
am Axel Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Wirtz, Irmgard M., PD Dr., Leiterin des Schweizer Li-
Literatur-und Kulturgeschichte, Exil und Migrati- teraturarchivs, Bern (V.99 Welttheater).
on der Europa-Universität Viadrina Frankfurt Zanetti, Sandro, Prof. Dr., Professor für Allgemeine
(Oder) (VI.B.107 Sowjetunion). und Vergleichende Literaturwissenschaft an der
von Matt, Peter, Prof. Dr., em. Professor für Neuere Universität Zürich (V.88 Einfall).
deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zeller, Rosmarie, Prof. Dr., em. Professorin für Neue-
Zürich (II.F.23 Der Besuch der alten Dame). re Deutsche Literatur an der Universität Basel
Wagner, Moritz, Dr. phil., wissenschaftlicher Mit- (II.I.39 Das Sterben der Pythia; V.94 Moderne).
arbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv Zieliński, Jan, Prof. Dr., Professor für Weltliteratur an
(SLA), Bern (II.F.24 Frank der Fünfte; V.86 Dis- der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität War-
tanz/Gegenwelt). schau (VI.B.106 Polen).
Weber, Ulrich, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbei-
Werkregister

In Klammern steht jeweils der Nachweis des Textes in der B


Werkausgabe (WA). Die kursive Ziffer gibt den Band an, Begegnungen (29/13–22)  133, 167, 171, 178
danach folgen die Seitenzahlen. Vereinzelte Texte, die nicht Bekenntnisse eines Plagiators (3/211–217)  86
in der Werkausgabe enthalten sind, werden nach einer ande- Bericht über ›Play Strindberg‹ (12/193f.)  119–121
ren Buchausgabe nachgewiesen. Die Einordnung der Werk- Der Besuch der alten Dame (5/9–134)  IX, 9–12, 15, 20–22,
titel erfolgt alphabetisch nach dem ersten Wort (ohne Be- 25–26, 28, 30, 50, 60, 84, 93–97, 101, 122, 130, 134, 168–
rücksichtigung der Artikel). Die Titel sind teilweise gekürzt, 169, 179, 185, 236, 250–252, 256, 258, 266, 269, 290, 292,
Gattungsbezeichnungen stehen nur, wo es mehrere Fassun- 299, 308, 317, 330–331, 340, 342–343, 346–347, 353–355,
gen gibt. Titel anderer Autorinnen und Autoren stehen in 358, 362–363, 371–373, 375, 377, 379–381, 385, 387, 389–
einfachen Anführungszeichen (v. a. in Kritiken), dahinter 390, 392–393, 396–397, 399–400, 404, 411–413
folgt in Klammern der Name der Autorinnen und Autoren. Das Bild des Sisyphos (19/41–56)  35, 272, 280–281, 315,
Nicht berücksichtigt ist das Bildwerk. 410
Der Blinde (1/149–243)  7, 40, 43–46, 54, 88, 187, 286, 296,
A 352, 410
Abendstunde im Spätherbst (9/169–196)  50, 53, 59–60, Der Brandstifter zweiter Teil (29/68–74)  170–171, 246, 342,
112, 114, 247, 265, 372, 381, 411 411
Abschied vom Theater (18/571–589)  122, 155, 204–205, Die Brücke (29/85–111)  157, 167, 172, 179, 243, 247, 317,
362 340
Abu Chanifa und Anan ben David (24/65–86)  141–142, Der Brudermord im Hause Kyburg (29/58–62)  170–171
195, 296, 312, 390
Achterloo I (18/9–120)  17, 20, 23, 26, 136–138, 213, 233, D
279, 311–312, 339, 342–343, 348, 362–363, 385, 414 Der Tod des Sokrates [in: Das Haus. Stoffe VII]
Achterloo III (18/275–414)  136–138, 213, 309, 343, 351, (29/144–156)  170, 172, 246, 303, 305, 321
362–363, 414 Dichterdämmerung (9/97–156)  112, 114, 247, 265–266,
Achterloo IV (18/415–539)  20, 122, 124, 136–138, 204, 261, 355, 360
307, 309, 343, 351, 353, 362–363, 394, 414 Dies ist die Geschichte vom großen Turm (4/141)  90
Albert Einstein (33/150–172)  197, 202–203, 243, 261, 300, Die Virusepidemie in Südafrika, in: Das Stoffe-Projekt,
309, 327–328, 414 Bd.  3  373
Der Alte (19/31–39)  311, 410 Die Dinosaurier und das Gesetz (37/59–68)  176, 311, 356
An die Kritiker ›Franks des Fünften‹ (6/160–165)  181, 306 Dokument (32/13–20)  166
Anmerkung zu einem Themenkomplex (4/128–133)  258 Der Doppelgänger (1/295–324)  52–55, 59, 247, 340, 372, 410
Anmerkung zur Komödie (30/20–25)  83, 104, 188, 276, Dramaturgie der Vorstellungskraft (37/91–109)  173, 176,
324, 331, 345, 355 231
Anmerkungen zu ›Albert Einstein‹ (33/175–185)  202 Dramaturgische Überlegungen zu den ›Wiedertäufern‹
Ansprache anläßlich der Verleihung des Kriegsblinden-­ (10/127–137)  113, 303, 359
Preises (16/177–180)  52, 74 ›Die Dritte Walpurgisnacht‹ (32/38–41)  234
Antares (33/34)  210 Durcheinandertal (27/9–136)  17, 20, 145, 160–163, 167,
An Varlin (32/183f.)  210 175, 227, 251, 260, 266, 268, 280, 296, 298, 311, 322, 336,
Aspekte des dramaturgischen Denkens (30/104–120)  192, 351, 353, 372, 386, 392, 395, 411, 415
327
Aufenthalt in einer kleinen Stadt (23/166–200)  316 E
Der Auftrag (26/33–130)  17, 24, 157–158, 164, 191, 218– Die Ehe des Herrn Mississippi. Drehbuch (3/115–205)  11,
219, 269–270, 280, 287, 316, 330, 340, 342–343, 351, 383, 86–88, 412
392, 404–405, 414 Die Ehe des Herrn Mississippi. Komödie (3/9–114)  7, 9, 26,
Aus den Papieren eines Wärters [Erzählung] 72, 86–88, 122, 185, 217, 250, 350, 357, 372, 379–380, 387,
(19/149–193)  36, 246, 272, 280 410–411
Auto- und Eisenbahnstaaten (29/131–144)  170, 172, 334 21 Punkte zu den ›Physikern‹ (7/91–93)  101, 104–105, 140,
203, 263, 281, 284, 315, 355, 359–360, 373
Werkregister 427

Ein Engel kommt nach Babylon (4/9–123)  9, 26, 31, 50, 71, J
90–92, 144, 184, 243, 247, 252, 258–259, 262, 268, 296– Justiz (25/9–231)  11, 17, 19, 86, 150–153, 163, 217, 219, 246,
297, 312, 352–353, 357, 372, 380, 399, 411, 413 251, 266, 277, 292, 299–300, 328, 353–354, 356, 372, 412,
Entwurf zum Hörspiel ›Herkules und der Stall des Augias‹ 414
(8/175–178)  57, 107
Der Erfinder (17/136–151)  46–47, 410 K
Erzählung vom CERN (34/143–150)  199, 201 Kabbala der Physik (37/136–144)  175, 287, 340, 352
Essay über Tomi Ungerer (32/222–230)  269 Kaiser und Eunuch (2/153–165)  85
Es steht geschrieben (1/9–148)  5, 7, 30, 32, 40–41, 43, 46, Der Knopf, unv. Dramenfragment (1942/43)  40
54, 88, 112–113, 187, 225, 234, 255, 269, 286, 296, 312, König Johann (11/9–113)  12–13, 26, 116–117, 123, 299,
352, 354, 368, 377, 410, 412 342, 372, 412
Etwas über ›Die Ehe des Herrn Mississippi‹ Kronenhalle (32/217f.)  210
(3/217–219)  337 Kunst und Wissenschaft (36/72–97)  175, 284, 308, 414
Etwas über die Kunst, Theaterstücke zu schreiben
(30/11–15)  131 L
Labyrinth. Stoffe I–III (28/9–322)  167, 228, 272, 306–307,
F 328, 414
Die Falle (19/71–95)  35, 272, 280, 315 Lieblingsgedichte (32/33–37)  209
Der Folterknecht (19/13–19)  35, 261, 342 Literatur nicht aus Literatur (30/84–92)  246
Frank der Fünfte (6/9–130)  10, 98–100, 122, 171, 209, 217,
250–252, 255, 306–307, 325, 330, 334, 340, 342, 353–354, M
363, 372, 381, 383, 385, 411–412, 414 Meere (32/21)  210
Die Frist (15/9–131)  15, 27–28, 32, 133–134, 304, 342, 354– Der Meteor (9/9–95)  12, 109–111, 124, 131, 167, 171, 192,
356, 372, 413 247, 258–259, 296, 298, 304, 347, 352, 355, 358, 363, 372,
›Der fröhliche Weinberg‹ (Zuckmayer) (31/80–82)  362 379, 381, 387, 396, 411–412, 414
Für Willy Birgel (30/250–252)  210 Midas (Ballade) (›Das Mögliche ist ungeheuer‹/38–61)  164,
209–210, 252
G Midas oder Die schwarze Leinwand (26/131–192)  157–158,
Gedankenfuge (37/47–90)  167, 173, 175–176, 280, 369 164–165, 210, 215, 218–219, 226, 247, 252, 270, 340, 342,
Gedichtband bei einer Mittagszigarre (32/22–24)  209–210 399
Das gemästete Kreuz (29/76–84)  170–171, 300 Minotaurus (26/9–32)  17, 142, 147–148, 209–210, 235, 268,
Georg Büchner und der Satz vom Grunde (36/59–71)  414 272–274, 280–281, 311, 372–373, 377, 385, 414
Der Gerettete (17/127–135)  46–47, 410 Mister X macht Ferien (22/163–184)  261
Gespräche über den Turm (4/134–136)  90 Der Mitmacher] (14/95–221): 15, 131, 143–145, 199–201,
Gibt es einen spezifisch schweizerischen Stoff, der verfilmt 243, 247, 250, 261, 284, 286, 306, 343, 351, 359, 413
werden müßte? (32/72f.)  215 Der Mitmacher. Ein Komplex (14/9–328)  15, 28, 130, 143–
Gott und Péguy (33/17–21)  210, 262 145, 175, 177, 199–201, 250, 280, 296–297, 316–317, 336–
Grieche sucht Griechin (22/9–162)  10, 57, 71–72, 215, 258, 337, 340, 351, 358, 413
264, 381, 383, 401, 412 Der Mitmacher (Komödie) (14/11–93)  13, 15, 21, 32, 72,
93, 123–124, 130–132, 139, 143–145, 199–201, 217, 233,
D 247, 250, 252, 266, 270, 276–277, 286, 290, 296, 304, 306–
Das Haus (Erzählung) (29/176–187)  170, 172, 317 307, 316, 337, 342, 350, 355, 358, 372, 380, 383, 385, 413
Das Haus [Stoffe VII] (29/113–187)  167, 170, 172, 286 Mond (33/33)  210
›Heller als tausend Sonnen‹ (Jungk) (34/20–24)  11, 103, Mondfinsternis [Stoffe II] (28/171–269)  95, 167–169, 317
308 Mondfinsternis [Erzählung] (28/223–269)  81, 167–170,
Herkules und der Stall des Augias (Hörspiel) 175, 178–179, 255, 269–270, 297, 317, 322, 343, 358, 411
(8/179–226)  47, 50, 53, 56–57, 59, 107, 279, 385, 411 Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht
Herkules und der Stall des Augias (Komödie) (8/9–117)  12, (33/36–107)  22, 140, 190–191, 249, 251, 255, 289, 292,
47, 53, 57, 84, 107–108, 279, 311, 353, 372–373, 385, 412 300, 308, 327, 412
Das Hirn [Stoffe IX] (29/233–263)  59, 138, 162, 167, 170,
173, 178–179, 248, 259–260, 270, 303, 332, 340, 352 N
»Die Hoffnung, uns am eigenen Schopfe aus dem Untergang Nachgedanken (35/163–219)  197–198, 244, 262, 280–281
zu ziehen«. Laudatio auf Michail Gorbatschow Nächtliches Gespräch (17/9–32)  55–56, 59, 305, 312, 372,
(36/189–209)  182–183, 189, 287, 308, 415 385, 410
Der Hund (27/9–18)  35, 311, 405, 410 Nachwort zu ›Achterloo IV‹ (18/543–570)  133, 136, 204–
205, 362
I Nachwort zu ›Das Versprechen‹ (23/203)  78
Ich stelle mich hinter Israel (34/123–125)  194, 413 Nachwort zu ›Porträt eines Planeten‹ (12/195–201)  126,
Israels Lebensrecht (34/29–34)  194, 296, 412 128, 263–264, 355
Ist der Film eine Schule für Schriftsteller? (32/125–137)  215 Notizen zu Hans Falk (32/185–200)  24
428 Anhang

P Siriusbegleiter (33/35)  210, 243


Die Panne (Hörspiel) (16/9–56)  50, 53, 58–59, 73–75, 112– Skizze zu einem Nachwort [zu: Albert Einstein]
113, 264, 292, 299–300, 313, 343, 350, 411 (33/186–201)  202
Die Panne (Komödie) (16/57–173)  27, 47, 50, 53, 58–60, 73, Smithy (24/87–115)  130, 143–144, 199–200, 252, 259
75, 112–114, 124, 145, 264, 292, 299–300, 313, 339, 343, Der Sohn (19/27–30)  35
350, 352, 372, 377, 414 Die Stadt (Erzählung) (19/117–147)  35–36, 207, 272, 280,
Die Panne (Erzählung) (21/35–94)  19, 21, 53, 58, 73–75, 93, 286, 288, 342, 352, 381, 410
112–113, 144, 187–188, 264, 268–269, 292, 299–300, 313, Standortbestimmung (6/155–160)  99, 284, 325
316, 342–343, 378–379, 381, 383, 399, 404, 411, 413 Das Sterben der Pythia (24/117–158)  50, 143, 145–146, 175,
Der Pensionierte (37/145–208)  80–81, 173, 247, 369 178, 199–200, 279, 281, 316, 342, 351, 372, 379, 413
Persönliche Anmerkung zu meinen Bildern und Zeichnun- Stranitzky und der Nationalheld (17/33–75)  56–57, 410
gen (32/201–216)  147, 223, 336 Der Sturz (24/9–64)  14, 22, 139–140, 299, 307, 379, 412–
Persönliches über Sprache (32/120–124)  321 413
Die Physiker (7/9–87)  IX, 11, 15, 20–22, 28, 47, 78, 101–
106, 124, 131, 136, 146, 167, 185, 193, 201, 236, 243–244, T
276–277, 280–281, 283–284, 309, 317, 345, 347, 350–351, ›Der Teufel und der liebe Gott‹ (Sartre) (31/52–54)  21
353, 358–360, 362–363, 371–373, 377, 379, 381, 383, 385, Das Theater als moralische Anstalt heute (36/98–108)  414
390–392, 394, 396–397, 399, 411–413 Der Theaterdirektor (19/57–69)  35, 315, 410
Pilatus (19/97–115)  28, 35–36, 38, 260, 265, 354, 410 Theaterprobleme (30/31–72)  7, 44, 48, 70, 72–74, 84, 89, 92,
Play Strindberg (12/9–93)  12–13, 26, 119–121, 123, 139, 104, 122, 131–132, 152, 184, 186–187, 249, 276, 296, 308,
342, 355, 372, 377, 385, 412 315, 324, 326, 331, 336, 345–346, 348, 353, 355, 357, 411
Porträt eines Planeten (12/95–189)  12–13, 123, 126–128, Thogarma, teilw. unv. Dramenfragment (1940er Jahre)
139, 235, 243, 261, 264, 269–270, 358, 362–363, 372, 380, – Henkerszene (1/251–254)  40
413 Titus Andronicus (11/115–197)  85, 98, 117–118, 342, 413
Prometheus (37/11–46)  173, 175, 262, 266, 279, 281, 317 Tschechoslowakei 1968 (34/35–42)  182, 249, 256, 412
Der Prozeß um des Esels Schatten (8/119–172)  22, 54–56, Der Tunnel (21/19–34)  21, 35–36, 38–39, 144, 261, 264–
292, 311, 313, 342–343, 372, 383, 410 266, 268, 270, 300, 315, 330, 372, 379, 381, 390, 396, 410
Der Turmbau zu Babel [Dramenfragment] (Stoffe-Projekt,
Q Bd. 4)  7, 9, 88, 90, 170, 368
Querfahrt [Stoffe V] (29/23–84)  160, 167, 171, 175, 178, Turmbau. Stoffe IV–IX (29/9–263)  17, 19–20, 78, 87–88,
281, 369 90–91, 167, 170–172, 177–178, 296, 300, 303, 317, 321,
339, 356, 369, 415
R
Randnotizen, alphabetisch geordnet (5/137–141)  331 U
Der Rebell [Stoffe III] (28/271–322)  167, 169–170, 272 Über Jef Verheyen (36/131–138)  24
Der Rebell [Erzählung] (28/305–322)  167, 169–170, 178, Über Kulturpolitik (34/46–59)  182, 321
272–274, 280, 307, 342 Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl
Rede zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Bern (34/ (33/108–124)  249, 289–290, 317
167–176)  14, 20, 30, 182, 322 Über Ronald Searle (32/151f.)  29
»Der Rest ist Dank« (32/109–112)  181 Über Toleranz (33/125–149)  141, 182, 196–197, 287–288,
Der Richter und sein Henker (20/9–117)  7, 11, 15, 29–30, 307, 311, 413
62–66, 80, 152, 215–218, 247, 269, 292, 299, 311, 316, 322, Der Uhrenmacher (4/137–140)  90, 258
328, 342, 354, 372–373, 379, 381, 383, 389, 392, 399, 401, Untergang und neues Leben (1/259–292)  40, 362
410–411, 413 Das Unternehmen der Wega (17/77–124)  47, 57–58, 215–
Rollenspiele (18/121–414)  136, 138, 213, 246, 414 216, 265, 381, 411
Romulus der Große (2/9–115)  7, 50, 82–84, 88, 112, 118, Untersuchung über den Film ›Das Wunder des Malachias‹
131, 187, 250–251, 255, 265, 276, 311, 316, 342, 346, 350, (32/103–108)  215
353–354, 362–363, 372, 377, 379, 381, 387, 396, 410 Urfaust (Goethe) (13/9–130)  123–124, 342, 413

S V
Sätze aus Amerika (34/77–114)  80, 140, 244, 413 Vallon de l’Ermitage (36/11–58)  8, 167, 175, 284, 309
Sätze über das Theater (30/176–211)  128, 192–193, 202, Varlin [1969] (32/174–182)  230–231, 337
279, 287, 315, 327, 360 Der Verdacht (20/119–265)  7, 29–30, 64, 66–70, 80, 133,
Schriftstellerei als Beruf (32/54–59)  246, 411 152, 247, 256, 268–269, 280, 296–297, 299, 312, 316, 322,
Die Schweiz – ein Gefängnis (36/175–188)  36, 103, 207– 340, 354, 372, 379, 381, 389, 391, 410
208, 256, 292, 373, 386, 415 Die verhinderte Rede von Kiew (34/26–28)  181
Schweizerpsalm I (34/177f.)  209–210, 410 Das Versprechen (23/9–163)  11, 64, 76–79, 151–152, 216,
Schweizerpsalm II (34/179–182)  209–210 247, 277, 292, 300, 316, 328, 330, 340, 372–373, 379, 381,
Schweizerpsalm III (34/183–185)  80, 209–210 383, 392, 402, 404–405, 411
Selbstgespräch (36/115–118)  59, 154, 260, 414 Der Versuch (37/110–135)  133, 176, 288, 309
Werkregister 429

Die vier Verführungen des Menschen durch den Himmel Wie ›Die Frist‹ entstand (15/135–147)  133
(33/26–32)  243, 309 Der Winterkrieg in Tibet [Erzählung] (28/86–161)  24, 36,
Vinter [Stoffe VIII] (29/189–231)  167, 170, 172, 261, 313, 142, 147, 167–168, 170, 178–179, 243–244, 248, 254, 264,
357 266, 269, 272–275, 279–280, 286, 290, 305, 309, 325, 333–
Vinter [Erzählung] (29/208–224)  170, 172, 178, 261, 312, 334, 342, 352, 358, 368, 404
317 Woyzeck (Büchner) (13/131–189)  123–124, 137, 342, 413
Vom Schreiben (32/74–81)  246 Die Wurst (19/21–25)  35, 330
Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit (32/60–69)  108,
187–188, 246, 249, 276, 287, 289, 306, 308, 411 Z
Vorwort zum Buch von Bernhard Wicki ›Zwei Gramm Zu den Zürcher Globus-Krawallen (34/43–45)  32
Licht‹ (32/154–159)  308 Zu meinem Prozeß gegen Habe (30/212–216)  292
Zur Dramaturgie der Schweiz (34/60–76)  21, 255
W Zusammenhänge (35/9–162)  14, 28, 141, 175, 194–195,
Weihnacht (19/9–11)  5, 28, 35, 38, 160, 162, 169, 296, 354, 197, 201, 244, 261, 280, 296, 311, 327, 338, 413
409 Zwanzig Punkte zum ›Meteor‹ (9/159–162)  109, 111
Die Wiedertäufer (10/9–122)  12, 14, 40, 112–113, 347, 354, Zwischenwort [zu: Protokoll einer fiktiven Inszenierung
385, 410, 412 und Achterloo III] (18/269–274)  136
Personenregister

A Beck, Kurt  12 Bosch, Hieronymus  35, 104, 227–228,


Adams, Dale  188, 202, 287, 317 Beck, Ulrich  23 270
Aeschbacher, Hans  24 Becker, Maria  26, 43, 205 Böschenstein, Bernhard  25, 369
Agee, Joel  387 Beckett, Samuel  24, 93, 192, 303, 362, Botta, Mario  236, 368
Ågren, Janet  399 411 Brasseur, Pierre  399
Aichinger, Ilse  49 Beckmann, Horst Christian  412 Brechbühl, Beat  404
Alami, Marita  243, 334 Beethoven, Ludwig van  212 Brecht, Bertolt  5, 7, 12, 24, 31, 51, 54,
Allemann, Beda  137 Beil, Hermann  119 96, 100, 104–106, 111, 118, 122–123,
Allgöwer, Walter  43 Bellwinkel, Hans Wolfgang  285 137, 167, 169–170, 184–185, 188,
Amrein, Ursula  324 Benjamin, Walter  5, 51 193, 199–200, 204, 209, 270, 276,
Antoine, Patrick  107 Benn, Gottfried  28, 31, 184 303, 324, 326, 340, 342, 350, 360, 371,
Archipov, Jurij  381 Bergengruen, Werner  28, 30 377, 409–410
Ardon, John  404 Bergman, Ingrid  10, 400, 412 Brenton, Howard  404
Arens, Peter  413 Bermann Fischer, Gottfried  367 Brežnev, Leonid  381
Ariès, Philippe  134 Bernardi, Eugenio  378 Brink, André  375
Aristophanes  83, 89, 172, 188, 204, Berndt, Frauke  343 Brock-Sulzer, Elisabeth  110, 237
246, 331, 336, 342, 346 Bernhard, Thomas  362, 404 Brodmann, Roman  124
Aristoteles  104, 121, 184–185, 192, Bernoulli, Jakob I.  289 Broich, Ulrich  342
254, 263, 315, 327, 359 Berthold, Will  150 Brook, Peter  10, 26, 98, 117, 123, 367,
Arnold, Heinz Ludwig  24, 31, 49, 60, Bettschart, Rudolf C.  29 387, 400, 411
160, 163, 176, 210, 212–213, 230, Beusch, Hansueli  50, 58 Broszkiewicz, Jerzy  380
244, 247, 367, 369, 413 Bichsel, Peter  14, 32, 182 Büchner, Georg  5, 123, 169, 296, 342,
Arnold, Pierre  207 Bigler, Regula  235, 237 409, 413
Arx, Cäsar von  51 Bigler, Rolf  413 Buckwitz, Harry  123
Augustin  177 Bikácsy, Gergely  402 Bühler, Philipp  79
Averroes  205 Bill, Max  231 Bühler, Pierre  228, 237
Axer, Erwin  123, 380, 413 Binder, Hannes  299, 390 Burkard, Philipp  189, 326, 333–334
Aymé, Marcel  404 Birtwistle, Harrison  373, 387 Burkhard, Paul  10, 98, 340, 411
Bischoff, Fritz Walter  51 Butor, Michel  149
B Bisset, Jacqueline  218
Ba, Oury  375 Blake, William  94 C
Bach, Johann Sebastian  218, 340 Blech, Hans Christian  104, 412 Caillois, Roger  301
Bachmann, Dieter  213 Bloch, Ernst  297 Calderón de la Barca, Pedro  51, 362
Bachmann, Ingeborg  49, 157–158, Bloch, Peter André  58, 213 Calderoni, Rita  218
218, 342 Boccaccio, Giovanni  142 Camilleri, Andrea  405
Bachtin, Michail  270 Böcklin, Arnold  46–47, 65 Camus, Albert  21–22, 36, 148, 152,
Bahr, Egon  17, 414 Bodó, Viktor  393 377
Balthasar, Hans Urs von  28, 41 Bohde, Ralf  390 Carigiet, Alois  46
Balzac, Honoré de  251 Böhler, Michael  322 Carson, Rachel  283
Bärfuss, Lukas  404 Böhmermann, Jan  397 Castorf, Frank  372
Barlach, Ernst  65 Boileau, Nicolas  184 Celan, Paul  24, 31, 167, 209, 367,
Barnard, Christiaan N.  133 Bolaño, Roberto  404 412
Barner, Wilfried  334 Böll, Heinrich  14, 49, 182 Cella, Ettore  109
Barth, Karl  7, 21, 39, 45, 162, 167, 172, Bond, Edward  404 Cervantes, Miguel de  87, 342, 358
258, 260–261, 286, 295–297, 357, Bonnefoit, Régine  237 Chandler, Raymond  151
410 Borchert, Wolfgang  52–53 Chiquet, Pierre  405
Barthes, Roland  247 Borges, Jorge Luis  149, 205, 273 Chundela, Jaroslav  385
Bastian, M. S.  390 Bornemann, Ernest  134 Churchill, Winston  22
Personenregister 431

Claudel, Paul  7, 41 Dürrenmatt, Verena (Schwester)  3, G


Claudius, Matthias  209 409 Gagnebin, Samuel  25
Coelho, Paolo  404 Durzak, Manfred  100 Galilei, Galileo  244, 345
Condillac, Étienne Bonnot de  273 Gandini, Umberto  378
Coppola, Francis Ford  387 E Gansel, Dennis  373
Corneille  306 Ebb, Fred  93, 372, 387 García Lorca, Federico  342
Crăciun, Ioana  235 Eccles, J. C.  283 Gasser, Manuel  19, 25, 237
Cremer, Ludwig  400, 411 Eco, Umberto  65, 149–150, 275 Gaugler, Hans  392
Crockett, Roger Alan  134 Eddington, Arthur  188, 283, 287, 297, Geiler, Emilio  215
Cuonz, Daniel  363 317 Geiler, Voli  47
Eich, Günter  49 Geiser, Christoph  139
D Eichelberg, Gustav  283, 308 Geißendörfer, Hans Wilhelm  150, 219,
da Vinci, Leonardo  228 Eichelberg, Marc  11, 25, 187–188, 283, 292
d’Anza, Daniele  66 285, 308, 411 Geissler, Lotti  3, 5–6, 8, 10, 14–16, 71,
Daniele, Silvana  378 Eichendorff, Joseph von  362 167–168, 171, 259, 303, 368, 410–
Däniken, Erich von  198 Einem, Gottfried von  25, 93, 340, 372, 411, 414
Darbellay, Claude  405 387, 412–413 Geissler, Ulrich  14
Daumier, Honoré  227 Einstein, Albert  11, 187, 197, 202–203, George, Stefan  172, 209
de Boor, Helmut  409 243, 287, 300, 309, 327 Gerber, Marion  66
de Gaulle, Charles  47 Eliot, T.  S.  93 Geßner, Salomon  72
Dedner, Ulrike  137, 363 Emter, Elisabeth  188, 285, 287, 317 Giauque, Elsi  8, 24, 410
Dehrmann, Mark-Georg  146 Englhart, Andreas  394 Gide, André  149
Dejmek, Kazimierz  133, 413 Erismann, Peter  369 Giehse, Therese  26, 96, 98, 101, 104,
del Solar, Juan José  383 Ermatinger, Emil  30 205, 411–412
Deleuze, Gilles  375 Euripides  95, 279 Gielgud, John  387
Demosthenes  181 Gignoux, Hubert  25
Derzsi, János  402 F Ginsberg, Ernst  7, 26, 43, 86, 96, 205,
Descartes, René  260 Falb, Cécile  410 410
Descourvières, Benedikt  137 Falk, Hans  24 Ginzburg, Carlo  256
Diakhate, Ami  400 Farner, Konrad  182 Glauser, Friedrich  63–64, 77, 151, 321,
Dieterle, William  90 Federico, Joseph  137 342
Diggelmann, Walter Matthias  32 Fehér, György  77, 402 Gloria Fürstin von Thurn und ­
Dilthey, Wilhelm  254 Fellini, Federico  367 Taxis  219
Diop, Boubacar Boris  375 Felmy, Hansjörg  217 Glücksmann, Joseph  90
Diouf, Mansour  400 Feltrinelli, Giangiacomo  132, 378 Goessner, Peter  379
Ditfurth, Hoimar von  283 Feltrinelli, Inge  378 Goethe, Johann Wolfgang von  32, 64,
Dix, Otto  227 Ferrati, Sarah  378 99, 123, 134, 167, 172, 177, 187, 192,
Döblin, Alfred  51, 325 Feyerabend, Paul  414 209, 342, 410, 413
Domin, Friedrich  410 Filippini, Enrico  378 Golowin, Sergius  32, 322
Dörr, Hannah  399 Fischer, Eric  24 Goltschnigg, Dietmar  137
Dorst, Tankred  404 Fischer, Michael  88, 237 Gončarov, Andrej  381
Doyle, Arthur Conan  63 Fisner, Jan  107 Gorbatschow, Michail  17, 23, 182–
Droste-Hülshoff, Annette von  69 Flickenschildt, Elisabeth  411 183, 189, 287, 381, 414
Düggelin, Werner  12, 26, 40, 116–117, Flora, Paul  24, 227, 237, 367 Gori, Elisabeth  3, 409
119, 122, 412–413 Fontane, Theodor  65, 82 Görtz, Franz Josef  369
Dürer, Albrecht  94, 227 Fontanne, Lynn  387 Gotthelf, Jeremias  4, 93, 172, 321–322
Dürrenmatt, Barbara (Tochter)  8, 227, Foucault, Michel  247 Gottschalk, Hans  216, 411
410 Franco, Francisco  47, 133, 304, 383 Gottwald, Benjamin  391
Dürrenmatt, Fritz (Bruder)  3 Freud, Sigmund  202, 286 Gould, Glenn  157
Dürrenmatt, Hugo (Onkel)  3 Fringeli, Dieter  31 Goya, Francisco de  227
Dürrenmatt, Hulda (Mutter)  3, 409 Frisch, Max  7, 14, 19–20, 24, 30–32, Grabbe, Christian Dietrich  192, 409
Dürrenmatt, Peter (Sohn)  7–8, 227, 96, 104–105, 110, 142, 146, 158, 167, Graf von Baudissin  117
410, 413 171, 182, 188, 192, 244, 246, 256, 342, Grass, Günter  14, 20, 24, 32, 181–182,
Dürrenmatt, Peter (Vetter)  3 367–368, 380, 400, 410–412 412
Dürrenmatt, Reinhold (Vater)  3, 30, Fritsch, Herbert  106, 372, 394 Green, Marika  401
409 Fröbe, Gert  411 Greenblatt, Stephen  295
Dürrenmatt, Ruth (Tochter)  8, 14, 227, Frühling, Muromi  390 Greiner, Bernhard  348
410 Fuentes, Carlos  24 Greiner, Ulrich  397
Dürrenmatt, Ulrich (Großvater väterli- Fukuyama, Francis  23 Gretler, Heinrich  410
cherseits)  3 Furgler, Kurt  207 Greyerz, Otto von  103
432 Anhang

Grillparzer, Franz  95 Hölderlin, Friedrich  209 Kato, Mamoru  379


Grimm, Gunter E.  348 Höllerer, Walter  367 Käutner, Helmut  82
Grimm, Reinhold  326 Holliger, Erich  12, 25, 98, 119, 123, 412 Kayser, Wolfgang  355
Gross, Hans  64 Holliger, Heinz  25 Keel, Daniel  16, 24–25, 29, 31, 80, 150,
Grosz, George  227, 229 Hollmann, Hans  117 154, 233, 236
Grové, Waldo  375 Honecker, Erich  414 Kehlmann, Daniel  404
Grünewald, Matthias  227 Horanský, Miloš  385 Keller, Gottfried  168
Guinness, Alec  387 Horníček, Miroslav  385 Kelterborn, Rudolf  90, 413
Guthke, Karl S.  348 Horváth, Ödön von  96 Kepler, Johannes  244
Horwitz, Kurt  7, 26, 28, 30, 40–41, 43, Kerr, Charlotte  3, 16–18, 24, 130, 136–
H 47, 86, 101, 205, 367, 410–412 137, 147, 157, 212–213, 215, 218–
Habermann, Britta  88 Houellebecq, Michel  373 219, 227, 236, 246, 363, 368–370,
Habermas, Jürgen  188, 284 Hoyle, Fred  128, 243, 283 380, 414
Hacks, Peter  404 Hubacher, Eduard (Edy)  218 Kertesz, Imre  404
Hammet, Dashiell  151 Hudeček, Václav  385 Kessler, Ludy  25
Handke, Peter  192 Huggler, Max  409 Kierkegaard, Søren  5, 17, 19, 21, 36,
Hare, David  404 Huizinga, Johan  206, 301 39, 71–72, 87–88, 131, 148, 167, 172,
Harig, Ludwig  60 Hummel, Franz  373 176–177, 186, 198, 200–201, 237,
Haspra, Pavol  385 Hunger, Herbert  279 249, 258, 261, 277, 285–286, 295–
Hasse, O. E.  217 Hunsperger, Rudolf (Ruedi)  218 297, 306, 315, 317, 336–338, 350,
Haufler, Max  215, 411 Huth, Jochen  76 352, 357–358, 399, 410
Haumann, Péter  402 Kipphardt, Heinar  105
Hausmann, Hans  145 I Kishon, Ephraim  367
Havel, Václav  17–18, 103, 183, 207, Illich, Ivan  134 Klata, Jan  385
373, 385–386, 415 Ionesco, Eugène  24, 93, 353, 362, 411 Klee, Paul  227
Hayano, Hisao  379 Izumi, Jiro  379 Kleist, Heinrich von  192, 204
Hebbel, Friedrich  137 Klimant, Tom  137
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  286, J Knapp, Gerhard P.  50, 111, 177, 371,
288, 297, 393 Jacoby, Hans  76, 78, 216 404
Hegetschweiler, Emil  46 Jahnn, Hans Henny  31 Knopf, Jan  110, 177, 186, 348
Heidegger, Martin  11, 21, 155, 287 Jakobson, Roman  158 Knuth, Gustav  26, 104, 205, 410, 412
Heimann, Alexander  405 Jambor, Ján  317 Koch, Heinrich  40
Heinz, Gerd  414 Jandl, Ernst  60 Koestler, Arthur  244, 283
Heinze, Thomas  219 Jaruzelski, Wojciech  136, 363 Köppen, Edlef  51
Heinzmann, Jürgen  375 Jean Paul  171, 303, 409 Korte, Hans  66, 98
Heisenberg, Werner  11, 287 Jenny, Urs  139 Koschorke, Albrecht  188
Held, Martin  76 Johannsen, Ernst  51 Kracht, Christian  404
Henke, Josef  385 Jonas, Walter  5, 24, 30, 169, 209, 223, Kraft, Bastian  371, 393
Hennig, Matthias  334 409 Kratochvil, Jiři  404
Herbertz, Richard  5, 172, 286, 409 Jung, Carl Gustav  233 Kraus, Karl  126, 234
Herrndorf, Wolfgang  404 Jünger, Ernst  30, 172 Kreuzer, Franz  147
Hesse, Volker  394 Jungk, Robert  11, 103, 105, 308 Kroetz, Franz Xaver  404
Heym, Georg  30, 209 Kros, Cynthia  375
Heym, Stefan  367 K Kubelka, Alexander  371
Hildesheimer, Wolfgang  49, 367 Kaceva, Evgenija  381 Kundert, Mathias  145
Hinz, Dina  205 Kafka, Franz  5, 30, 36, 64, 74, 149, 169, Künzi, Katrin  237
Hirschfeld, Kurt  26, 105 258, 342, 350, 377, 399, 409 Kushner, Tony  372
Hirt, August  66, 68 Kalser, Erwin  205 Kutter, Markus  25, 413
Hitler, Adolf  4, 45, 47, 112, 195, 234, Kander, John  93, 372, 387 Kyburz, Jules  207
315, 409 Kant, Immanuel  5, 17, 64, 167, 172, Kyd, Thomas  117
Hochhuth, Rolf  133, 367 179, 183, 187, 189, 275, 277, 286, 288,
Hodler, Ferninand  46 300, 315, 326, 328, 410 L
Hoesterey, Ingeborg  237 Käppeli, Patricia  128, 284, 288, 334 Lascaux, Paul  405
Hoffmann, E. T. A.  178, 409 Karasek, Hellmuth  227 Lazar, Moshe  387
Hoffmann, Frank  371 Karter, Egon  124 le Comte, Daniel  401
Hoffmann, Kurt  86, 158, 217, 412 Karvaš, Peter  385 Ledig-Rowohlt, Heinrich Maria  31
Hofmann, Gert  404 Käser, Rudolf  229, 237, 244, 291 Lehmann, Rolf  73
Hofmann, Nico  77 Kasics, Tobir  47 Leiser, Erwin  25
Hofmannsthal, Hugo von  362 Kassner, Rudolf  167, 169, 307, 410 Lenz, Max Werner  46–47
Hohl, Ludwig  24, 32, 410 Kästner, Erich  51 Lermen, Birgit  50
Personenregister 433

Lesch, Walter  46 Minder, Myriam  237 Petron  83


Lessing, Gotthold Ephraim  12, 87, Mingels, Annette  198, 286 Pfaff, Martin  395
123–124, 142, 182, 184, 204, 234, Mixner, Manfred  66 Pfister, Manfred  128, 342
342, 413 Möbert, Oliver  215 Pflüger, Andreas  373
Leuenberger, Lukas  107 Möller, Eberhard Wolfgang  51 Pfruender, Georges  375
Lévinas, Emmanuel  142 Morath, Walter  47 Picasso, Pablo  149, 227, 229
Lévy, Bernard-Henry  373 Mörike, Eduard  99 Pirandello, Luigi  165, 353
Leytner, Nikolaus  399 Mozart, Wolfgang Amadeus  212 Piranesi, Giovanni Battista  227
Lichard, Ivan  385 Mrożek, Sławomir  380 Planchon, Roger  404
Lidon, Christophe  377 Müller, Heiner  118, 404 Planta, Anna von  369
Liechti, Hans  15, 25, 232–233, 236, 413 Müller, Stephan  371 Platon  5, 17, 36, 148, 167–168, 172,
Lindtberg, Leopold  63, 86, 109–110, Müller, Werner Y.  209 246, 286, 288, 303, 342, 409–410
379, 412 Munch, Edvard  228 Platthaus, Andreas  391
Lingen, Theo  104, 205 Muschg, Walter  7, 25, 30, 36, 38, 69 Poe, Edgar Allan  64, 69, 273
Littlewood, Joan  404 Musil, Robert  173 Polák, Roman  385
Loeb, François  25, 369 Mussolini, Benito  47 Ponto, Erich  411
Loebe, Horst  90 Popper, Karl  17, 132, 197, 283–288,
Loetscher, Hugo  31–32, 100, 199, 322 N 290–291, 297, 315
Lohner, Helmuth  414 Nabokov, Vladimir  404 Porras, Omar  372, 377
Losch, Bernhard  191 Negrin, Alberto  77 Poulard, Thomas  377
Loser, Felix  389 Nestroy, Johann  137 Probst, Rudolf  313
Lotar, Peter  30 Neuenfels, Hans  133 Profitlich, Ulrich  316–317
Lovecraft, H. P.  273 Newman, John Henry  28 Proud, Frederick  107
Luft, Friedrich  110 Newton, Isaac  289, 325 Proust, Marcel  169, 173, 178
Luhmann, Niklas  157 Nicholson, Jack  11, 373, 402
Lühr, Peter  205 Niederle, Robert ›Jazze‹  390 Q
Lunt, Alfred  387 Niekerk, Jacomien van  375 Quinn, Anthony  10, 400, 412
Luther, Martin  321 Nietzsche, Friedrich  17, 158, 275, 286,
Lutz, Regine  412 325, 342, 368 R
Niggl, Günter  348 Raabe, Elisabeth  29
M Nizon, Paul  24, 31, 367 Rabelais, François  342
Maertens, Willy  98 Njanjo, Burrhus  375 Rabin, Yizhak  195
Magnaguagno, Guido  237 Nobel, Peter  25 Racine, Jean Baptiste  306
Maharens, Gerwin  88 Noll, Hans  25 Raddatz, Fritz J.  289, 367
Mambéty, Djibril Diop  375, 400 Noll, Peter  25, 190 Raffaëlli, Michel  123
Manguel, Alberto  404 Nolte, Anja  390 Ranke-Graves, Robert von  279
Mann, Erika  46 Noonan, Tom  402 Ras, Max  30
Mann, Thomas  30–31 Novák, Karel  385 Raynal, Maurice  229
Marti, Kurt  32, 182 Nüchtern, Klaus  213 Rédli, Karol  385
Marx, Karl  17, 202, 251, 286, 288 Nünning, Ansgar  188 Reed, Michael  93, 372
Mastronardi, Horace  24–25 Nusser, Peter  152 Regnier, Charles  205
Matt, Peter von  66, 207, 210, 256, 291 Reich-Ranicki, Marcel  20, 150, 160,
Matthes, Ulrich  393 O 213, 227, 367, 380, 404
Maupassant, Guy de  73 Obermüller, Klara  160, 212, 227 Rembrandt  227
Mayer, Hans  73–74, 256, 367 Ohm, Walter  215 René, Ludwik  393, 411
Mayröcker, Friederike  60 O’Neill, Eugene  93 Richter, Hans Werner  367
Megvinetuchucesi, Otar  381 Otto, Teo  26, 410 Riedlinger, Stefan  70
Mehring, Walter  28, 367, 411 Ovid  226, 252, 342 Riggenbach, Otto  25
Meier, Herbert  404 Özelt, Clemens  244 Ritt, Martin  218
Meier, Thomas Markus  317 Ritzel, Ulrich  66
Menander  331 P Rothmund, Heinrich  46
Mercouri, Melina  218 Pasche, Wolfgang  49 Rousseau, Jean-Jacques  177
Meyer, Conrad Ferdinand  136 Pauli, Wolfgang  11 Rovan, Joseph  414
Meyer, E. Y.  404 Pavlova, Nina  381 Rübner, Tuvia  24, 194–195, 367–368
Meyer, Jürgen  163, 336 Pellin, Elio  405 Rüedi, Peter  79–80, 88, 186, 213, 348,
Meyerink, Hubert von  98 Penderecki, Krzysztof  380 360, 369
Meyn, Robert  216 Penn, Sean  11, 77, 373, 396, 399, 402 Rühmann, Heinz  11, 76, 216, 401, 411
Michelangelo  227–229, 234 Peppard, Murray B.  50, 55 Rusterholz, Peter  45, 128, 160, 163,
Miller, Arthur  24, 93 Perec, Georges  149 177, 234, 237, 286, 342, 368
Miller, Henry  412 Petras, Armin  371 Ruttmann, Walter  51
434 Anhang

S Shaw, Bernard  137 Tschechow, Anton  51, 103


Sacharow, Andrei Dmitrijewitsch  134 Shaw, Robert  218 Tumbült, Georg  40
Saebisch, Karl-Georg  216 Shepard, Sam  402 Turel, Adrien  283, 308–309
Salat, Johannes  51 Siekierko, Stanisław  380
Salis, Jean Rudolf von  25, 413 Simenon, Georges  63, 77, 151, 377 U
Sammern-Frankenegg, Fritz  120 Simon, Michel  411 Umgelter, Fritz  58, 73, 399, 411
Sartre, Jean-Paul  7, 21–22, 24, 36, 65, Sinowjew, Alexander  367 Ungerer, Tomi  24, 269, 367
93, 195, 377 Smutný, Jiří  55 Unseld, Siegfried  367
Satzinger, Florian  390 Snow, C. P.  254, 284 Usmiani, Renate  53–55
Sawiris, Samih  373 Soiero, Manuela  375 Utz, Peter  266, 334
Schaefer, George  73 Sokrates  172, 203, 246, 277, 336–337
Schalla, Hans  98, 122, 412 Sophokles  82, 104–105, 279, 281, 331, V
Schell, Maximilian  15–16, 24–25, 62, 342, 347 Vachtova, Ludmila  237
164, 212, 215, 217–219, 247, 401, Sordi, Alberto  378, 399 Vaihinger, Hans  179, 188–189, 193,
413–414 Spedicato, Eugenio  146, 317 197, 261, 275, 287, 292, 315, 329
Schenker, Kurt  52 Spinoza, Baruch de  17, 202–203, 261, Vajda, Ladislao  76–77, 383, 396, 411
Schertenleib, Fred  25, 414 286, 300 Valency, Maurice  387, 400, 411
Schewtschenko, Taras  181–182 Staiger, Emil  30, 32 van den Berg, Rudolf  77
Schifferli, Peter  11, 16, 25, 28, 31, 71, Stalin, Josef  139–140, 315 van Doesburg, Theo  231
76–77, 101 Starke, Volker  53 van Hoddis, Jakob  28
Schiller, Friedrich von  69, 84, 95, 97, Staudte, Wolfgang  76 Vanel, Charles  401
137, 185, 204, 255, 315, 324, 346 Steckel, Leonard  12, 26, 96, 107, 109– Varlin (Willy Guggenheim)  24, 32,
Schipper, Martin (›Tino‹)  25 110, 412 167, 171, 230, 303, 337–338, 412–413
Schirach, Baldur von  56 Stein, Wilhelm  20, 30, 172, 409 Vázquez Montalbán, Manuel  405
Schlegel, Friedrich  116, 137 Steinberg, Saul  227, 237 Verheyen, Jef  24, 367
Schlichenmeier, Beate  237 Steinfels, Heinrich  405 Vidal, Gore  387, 404
Schmied, Daniel  160 Sterchi, Beat  404 Villard, Arthur  32
Schmitz-Emans, Monika  233, 236– Stocker, Peter  342 Violand-Hobi, Heidi E.  237
237 Stoppa, Paolo  66, 378 Vischer, Antoinette  25
Schneider, Hansjörg  404 Strauß, Botho  118 Vitali, Regina  29
Schneider, Moritz  93, 372 Strehler, Giorgio  10, 378, 412 Vitold, Michel  401
Schneider, Peter  190 Strich, Fritz  30, 409 Vivaldi, Antonio  212
Schneider, Rolf  107 Strindberg, August  12, 26, 82, 119– Vlasak, Marty  76
Schnetzer, Adrian  381 121, 123, 342 Vogel, Ignaz  32
Scholem, Gershom  367 Stroux, Karl-Heinz  117, 413 Vogt, Walter  404
Schopenhauer, Arthur  17, 286 Stuckrad-Barre, Benjamin von  373 Vollmer, Gerhard  17, 283
Schröder, Ernst  26, 219, 412 Sutherland, Donald  218 Voltaire  108
Schroeter, Renate  205 Svoboda, Josef  124, 372, 385 Vymětal, Ladislav  385
Schu, Sabine  360 Swift, Jonathan  89, 325, 342
Schubert, Franz  127 Szeemann, Harald  236 W
Schwab, Gustav  279 Wagner, Richard  393
Schwaiger, Fritz  216 T Wajda, Andrzej  123, 130, 380, 413
Schwarz, Samuel  404 Tanner, Fred  104 Wałęsa, Lech  136
Schweikart, Hans  7, 9, 26, 86, 90, 184, Taymor, Julie  118 Walser, Martin  367
410–411 Teilhard de Chardin  283 Walser, Robert  149, 321
Schweizer, Richard  76 Tell, Wilhelm  182, 231–232 Walter, Otto F.  404
Schwitter, Monique  404 Teller, Edward  17, 414 Wälterlin, Oskar  90, 98, 122, 411
Schwitzke, Heinz  217 Thalbach, Anna  219 Watanabe, Hiroko  379
Sciascia, Leonardo  405 Thelen, Albert Vigoleis  201 Weber, Ulrich  92, 134, 186, 200, 226,
Scola, Ettore  73, 378, 399–400, 413 Thiele, Rolf  71, 215, 401 228, 237, 267, 281, 286, 288, 298, 337,
Scott, Robert F.  359 Thomas von Aquin  28 342–343, 360, 369
Searle, Ronald  29 Tiede, Herbert  216 Weber, Werner  19, 73
Sedel’nik, Vladimir  381 Tinguely, Jean  225 Wechsler, Lazar  11, 76–78, 86, 216–
Segal, Gilles  401 Tonger-Erk, Lily  343 217, 367, 380, 411
Seneca  117 Topol, Josef  385 Wedekind, Frank  86–87, 89, 342
Serres, Michel  128 Toppi, Sergio  390 Wedekind, Tilly  86
Shakespeare, William  12, 82, 85, 89, Tovstonogov, Alexander  381 Weiss, Peter  111, 137, 404
97–100, 116–118, 123, 137, 185, 192, Traffelet, Friedrich  65 Weissert, Otto  46
246, 255, 299, 303, 342, 359, 362 Trakl, Georg  28, 30, 209 Wertmüller, Lina  367
Sharp, Sister C.  120 Trier, Lars von  399 Westphal, Gert  107
Personenregister 435

Wicki, Bernhard  43, 399–400, 412 Wollenberger, Werner  123 Z


Widmer, Urs  81, 404 Wondratschek, Wolf  60 Zanuck, Darryl F.  400
Wiechert, Ernst  28, 30 Wörner, Manfred  17, 414 Zatonskij, Dmitrij  381
Wieland, Christoph Martin  54, 342– Wühr, Paul  60 Zeller, Rosmarie  137
343, 409 Wünsche, Thomas  285, 288 Zimmermann, Friedrich (Großvater
Wilder, Thornton  96, 105 Wyler, Veit  25 mütterlicherseits)  3
Williams, Tennessee  93 Wyrsch, Peter  46, 330 Zingerman, Boris  381
Wirth, Andrzej  380 Wysling, Hans  41 Ziolkowski, Theodore  237
Wirth, Franz Peter  62, 216 Wyss, Eduard  25, 30, 39, 333, 367 Zuckmayer, Carl  53, 96, 105, 362, 367
Wirtz, Irmgard  177, 368 Zufferey, Christiane  5, 223, 409–410
Wittenberg, Alexander  187–188 Y Zwicky, Fritz  11, 25, 229, 243–244,
Wittgenstein, Ludwig  261 Yaffe, James  73 283, 309, 411
Woester, Heinz  43, 410

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