Sie sind auf Seite 1von 434

ww

Ulrich Weber / Andreas Mauz /


Martin Stingelin (Hg.)

Dürrenmatt
Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
2. Auflage
Ulrich Weber / Andreas Mauz / Martin Stingelin (Hg.)

Dürrenmatt-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung

Unter Mitarbeit von Simon Morgenthaler, Philip Schimchen, Kathrin Schmid


und Benjamin Thimm

J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Ulrich Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Schweizerischen Literaturarchiv, Bern, am Centre
Dürrenmatt, Neuchâtel, und Betreuer des literarischen
Nachlasses von Friedrich Dürrenmatt.
Andreas Mauz ist Oberassistent am Institut für Hermeneutik
und Religionsphilosophie (IHR) der Universität Zürich und
Koordinator des Netzwerks Hermeneutik
Interpretationstheorie (NHI).
Martin Stingelin ist Professor für Neuere deutsche Literatur
an der Technischen Universität Dortmund.

Die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurde


ermöglicht durch finanzielle Unterstützung der Charlotte
Kerr Dürrenmatt-Stiftung (Bern), der Burgergemeinde
Bern, der Stiftung Pro Scientia et Arte (Bern) und der
Stiftung Dürrenmatt-Mansarde (Bern).

ISBN 978-3-476-02435-0
ISBN 978-3-476-05314-5 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese


Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

J. B. Metzler
© Springer-Verlag GmbH Deutschland,
ein Teil von Springer Nature, 2020 Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon
aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheber- zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt
rechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Heraus-
vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vor- geber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für
herigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.
Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikro- Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen
verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und
elektronischen Systemen. Institutionsadressen neutral.

Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeich- Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
nungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk (Foto: Picture Press/Herbert Peterhofen)
bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt
werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft
auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature
Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers Die Anschrift der Gesellschaft ist:
sind zu beachten. Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhalt

Vorwort  VI 18 Das Versprechen  Oliver Möbert  76


19 Der Pensionierte  Ulrich Weber  80

I Biografie und Kontexte F Tragische Komödien


20 Romulus der Große  Volker Riedel  82
1 Ein unspektakuläres Leben. Biografischer Abriss  21 Die Ehe des Herrn Mississippi  Pierre Bühler  86
Ulrich Weber  3 22 Ein Engel kommt nach Babylon 
2 Selbst- und Fremddarstellung: Mythos Benjamin Thimm  90
Dürrenmatt  Ulrich Weber  19 23 Der Besuch der alten Dame  Peter von Matt  93
3 Politisch-kulturelle Kontexte  Ulrich Weber  21 24 Frank der Fünfte  Moritz Wagner  98
4 Freundschaften  Ulrich Weber  24 25 Die Physiker  Ursula Amrein  101
5 Theater  Ulrich Weber  26 26 Herkules und der Stall des Augias 
6 Verlage  Ulrich Weber  28 Benjamin Thimm  107
7 Dürrenmatt im Literaturbetrieb  27 Der Meteor  Peter Rusterholz / 
Urs Bugmann  30 Pierre Bühler  109

G Dramenbearbeitungen und Regie


II Schriftstellerisches Werk 28 Bearbeitungen eigener Werke 
Simon Aeberhard  112
A Frühe Prosa 29 Shakespeare-Bearbeitungen 
8 Die Stadt  Lukas Gloor  35 Anne-Kathrin Marquardt  116
9 Der Tunnel  Peter Utz  38 30 Play Strindberg  Oliver Winkler  119
31 Dürrenmatt als Regisseur 
B  Frühe Dramatik Dragoş Carasevici  122
10 Es steht geschrieben / Die Wiedertäufer 
Pierre Bühler  40 H Späte (Meta-)Dramatik
11 Der Blinde  Kathrin Schmid  43 32 Porträt eines Planeten  Rudolf Käser  126
33 Der Mitmacher  Ulrich Weber  130
C Kabarett 34 Die Frist  Rudolf Käser  133
12 Kabarett-Texte  Michael Fischer  46 35 Achterloo I–IV  Caspar Battegay  136

D Hörspiele I Späte Prosa


13 Hörspiele  Dieter Lohr  49 36 Der Sturz  Benjamin Thimm  139
37 Abu Chanifa und Anan ben David 
E Kriminalromane und Erzählungen Monika Schmitz-Emans  141
14 Der Richter und sein Henker  Ulrich Weber  62 38 Smithy  Ulrich Weber / Kathrin Schmid  143
15 Der Verdacht  Andreas Mauz  66 39 Das Sterben der Pythia  Rosmarie Zeller  145
16 Grieche sucht Griechin  Monika Obermeier  71 40 Minotaurus  Peter Gasser  147
17 Die Panne  Peter Schnyder  73 41 Justiz  Andrea Bartl  150
VI Inhalt

42 Selbstgespräch  Peter Rusterholz /  IV Motive und Diskurse


Pierre Bühler  154
43 Der Auftrag  Martin Stingelin  157 62 Astronomie  Rudolf Käser  243
44 Durcheinandertal  Andreas Mauz  160 63 Autorschaft  Lucas Marco Gisi  246
45 Midas oder Die schwarze Leinwand  64 Einzelmensch – Institution – Gesellschaft 
Martin Stingelin  164 Patricia Käppeli  249
65 Geld/Ökonomie  Ulrich Weber  251
J Stoffe 66 Geschichte  Jakob Tanner  254
46 Das Stoffe-Projekt  Rudolf Probst /  67 Gnade  Andreas Mauz / Ulrich Weber  258
Ulrich Weber  166 68 Gott  Andreas Mauz  260
69 Katastrophe  Andreas Mauz  263
K Essays und Reden 70 Körper  Christine Weder  268
47 Dürrenmatt als Redner  Peter André Bloch  181 71 Labyrinth  Matthias Hennig  272
48 Theaterprobleme  Bernhard Greiner  184 72 Mutiger Mensch  Marta Famula  276
49 Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit  73 Mythos  Heinz-Günther Nesselrath  279
Rudolf Käser  187 74 Naturwissenschaften  Rudolf Käser  283
50 Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht  75 Philosophie  Rudolf Käser  286
Martin Stingelin / Benjamin Thimm  190 76 Politik  Patricia Käppeli  289
51 Sätze über das Theater  Simon Aeberhard  192 77 Recht und Gerechtigkeit  Martin Stingelin  292
52 Zusammenhänge  Andreas Kilcher  194 78 Religion  Andreas Mauz  295
53 Nachgedanken  Simon Morgenthaler  197 79 Spiel  Regula Bigler  299
54 Der Mitmacher. Ein Komplex  80 Sterben/Tod  Andreas Mauz  303
Ulrich Weber  199 81 System  Patricia Käppeli  306
55 Albert Einstein  Rudolf Käser  202 82 Technik  Rudolf Käser  308
56 Abschied vom Theater / Nachwort zu 83 Tiere  Frederike Middelhoff  311
›Achterloo IV‹  Caspar Battegay  204 84 Zufall  Ján Jambor  315
57 Die Schweiz – ein Gefängnis  Martin Stingelin / 
Benjamin Thimm  207
V Ästhetik und Poetik
L Lyrik
58 Lyrik  Fabian Schwitter  209 85 Dialekt und Standardsprache 
Stefanie Leuenberger  321
M Gespräche 86 Distanz/Gegenwelt  Moritz Wagner  324
59 Dürrenmatt als Gesprächspartner  87 Dramaturgisches Denken  Marta Famula  327
Peter André Bloch  212 88 Einfall  Sandro Zanetti  330
89 Gleichnis  Andreas Mauz  333
N Film und Literatur 90 Humor und Ironie  Pierre Bühler  336
60 Film und Literatur  Ulrich Boss /  91 Intermedialität  Lukas Gloor  339
Elio Pellin  215 92 Intertextualität  Julia Röthinger  342
93 Komödie (tragische)  Bernhard Greiner  345
94 Moderne  Rosmarie Zeller  350
III Bildnerisches Werk 95 Paradox  Lukas Gloor  352
96 Parodie/Satire/Groteske  Philippe Wellnitz  353
61 Bildnerisches Werk  Régine Bonnefoit /  97 Prozessualität  Peter Rusterholz  357
Myriam Minder  223 98 Schlimmstmögliche Wendung 
Andreas Mauz / Philip Schimchen  359
99 Welttheater  Irmgard M. Wirtz  362
Inhalt VII

VI  Rezeption und Wirkung C Gattungen


111 Comic-Adaptionen 
A Generelles Monika Schmitz-Emans  389
100 Nachlass und Institutionen  Ulrich Weber  367 112 Dürrenmatt auf der Bühne 
101 Rezeption: Überblick  Ulrich Weber  371 Beate Schappach  392
113 Dürrenmatt in der Schule  Oliver Ruf  396
B Länderspezifische Rezeption 114 Verfilmungen  Ulrich Boss / Elio Pellin  399
102 Afrika  Burrhus Njanjo  375 115 Literarische Rezeption 
103 Frankreich  Véronique Liard  377 Ulrich Weber  404
104 Italien  Donata Berra  378
105 Japan  Hiroko Masumoto  379
106 Polen  Jan Zieliński  380 Anhang
107 Sowjetunion  Ievgeniia Voloshchuk  381
108 Spanien  Isabel Hernández  383 Chronik zu Leben und Werk  Ulrich Weber  409
109 Tschechien/Slowakei  Siglenverzeichnis  416
Michaela Kuklová  385 Bibliografie  417
110 UK  /  USA  Abbildungsverzeichnis  421
Simon Morgenthaler  387 Autorinnen und Autoren  423
Werkregister  426
Personenregister  430
Vorwort

Das vorliegende Handbuch erscheint zu einem dop- Spielzeiten; er fungiert damit jeweils unter den drei bis
pelten Jubiläum: Am 14.12.2020 jährt sich Friedrich sechs meistgespielten deutschsprachigen Dramati-
Dürrenmatts Todestag zum dreißigsten Mal, am kern des 20. Jahrhunderts.
5.1.2021 feiert er seinen hundertsten Geburtstag. Der Die Daten des Theaterbetriebs belegen, näher be-
gewichtigere Anlass zur Publikation war freilich ein trachtet, freilich auch die starke Kanonisierung, die
anderer. Ein Handbuch stellte, nebst editorischen Pro- den anhaltenden Erfolg begleitet: Dürrenmatt ist in
jekten, das vielleicht größte Desiderat der Dürren- weiten Kreisen in erster Linie der Autor tragischer Ko-
matt-Forschung dar. Seit dem Tod des Autors sind nur mödien, unter denen die Welterfolge Der Besuch der
zwei schmale und eher populäre Gesamtdarstellungen alten Dame und Die Physiker herausragen. Der Dra-
des Werkes erschienen, die den gegenwärtigen For- matiker wird sekundiert vom Krimiautor: Dürren-
schungsstand weder abbilden können noch wollen. matt-Krimis halten sich beharrlich im Kanon gymna-
Die verschiedenen älteren Einführungen, die nach wie sialer Lektüren, sie wurden teils auch nach dem Tod
vor regelmäßig genutzt werden, reflektieren mehr- des Autors neu verfilmt und werden derzeit im Zuge
heitlich den Forschungs- und Werkstand der 1970er des Trends von Prosadramatisierungen ihrerseits auf
Jahre. Entsprechend streifen sie das Spätwerk Dürren- die Bühne gebracht.
matts nur und werden seiner Stellung bedingt gerecht. Ein Handbuch kann von diesen Spurrillen der Re-
Schließlich tragen die genannten Titel auch dem Bild- zeption nicht absehen; es darf sie aber auch nicht
werk nicht oder nur minimal Rechnung. Mit dem vor- schlicht reproduzieren. Das gilt nicht nur im Bereich
liegenden Buch liegt nun erstmals ein Referenzmedi- des Werks, wenn den Beiträgen zu den einschlägigen
um vor, das – der Grundstruktur der Reihe gemäß – Texten, zu deren Wirkung viel zu sagen wäre, nicht
die Trias von Leben, Werk und Wirkung des Autors beliebig großer Umfang zugestanden wurde. Es gilt
umfassend darstellt. auch im Bereich der textübergreifenden Erschlie-
Dabei ist es fast müßig zu sagen, dass ›umfassend‹ ßung. So bieten die Abteilungen IV (Motive und Dis-
ein großes Wort ist. Umfassender geht immer, vor al- kurse) und V (Ästhetik und Poetik) nebst erwartbaren
lem bei einem literarischen Werk, dessen derzeit maß- Lemmata, die bereits im Sprachgebrauch des Autors
gebliche Ausgabe 37 Bände aufweist, zu denen nicht prominent hervortreten (etwa ›Labyrinth‹, ›Grotes-
nur ein umfangreiches Bildwerk hinzu treten, son- ke‹, ›schlimmstmögliche Wendung‹), auch Stichwor-
dern neuerdings auch fünf voluminöse Bände des te, die auf wenig erschlossene Zusammenhänge hin-
nachgelassenen Stoffe-Projekts (Zürich 2020), die ih- weisen (etwa ›Körper‹ oder ›Tiere‹). Diese Beiträge
rerseits von einer vollständigen rund 30.000 Manu- zeigen besonders deutlich, was für das gesamte Buch
skriptseiten starken Online-Edition begleitet werden. gilt: Es möchte nicht nur Grundinformationen zum
Dreißig Jahre nach seinem Tod ist Friedrich Dür- Werk bieten und verdichtet den Stand der Forschung
renmatt noch sehr präsent – in der Literaturwissen- abbilden, sondern nach Möglichkeit auch Hinweise
schaft wie im breiteren Kulturbetrieb, in der Schweiz für die künftige Beschäftigung mit dem Autor geben.
wie international. Der Autor ist nicht nur ein Klassi- Der Abschluss des Projekts unter Corona-Bedin-
ker, sondern ein gegenwärtiger Klassiker. Das belegt gungen hatte es in sich. Wir sind allen Kolleginnen und
neben dem kontinuierlichen Erscheinen von For- Kollegen, die sich nicht nur am Projekt beteiligt, son-
schungsbeiträgen vor allem auch seine Präsenz auf dern dessen fristgerechte Publikation ermöglicht ha-
den Bühnen. Gemäß der Statistik des deutschen Büh- ben, zu größtem Dank verpflichtet. Das gilt zunächst
nenvereins gehört Dürrenmatt konstant zu den meist- für die Autorinnen und Autoren, die bereit waren, ihre
gespielten 25 Autorinnen und Autoren der jeweiligen Dürrenmatt-Kompetenz in den Dienst des Hand-
X Vorwort

buches zu stellen. Unsere Schlussredaktorinnen und Zürich) hat dem Projekt das unverzichtbare institutio-
-redaktoren Kathrin Schmid (Bern), Simon Morgen- nelle Dach geboten. Wir danken insbesondere auch
thaler (Basel), Benjamin Thimm und Philip Schim- Irmgard Thiel für ihre zuverlässige Betreuung der Fi-
chen (Dortmund) haben sämtliche Texte mit großer nanzen. Die Drucklegung und der günstige Ladenpreis
Sorgfalt bearbeitet und auch einige Beiträge beigesteu- wurden ermöglicht durch Beiträge der Burgergemein-
ert. Ein besonderer Dank gilt dem Metzler Verlag und de Bern, der Stiftung Pro Scientia et Arte (Bern) und
vor allem Dr. Oliver Schütze und Dr. Ferdinand Pöhl- der Stiftung Dürrenmatt-Mansarde (Bern). Auch ih-
mann; sie haben die undankbare Aufgabe, den Ab- nen gilt unser Dank.
schluss unter schwierigen Bedingungen zu begleiten, Eigens zu erwähnen ist das große Engagement der
mit Souveränität und Nachsicht gemeistert. Das Charlotte Kerr Dürrenmatt-Stiftung (Bern). Ohne ih-
Schweizerische Literaturarchiv (Leiterin: Madeleine re Finanzierung der mehrjährigen Koordinations-
Betschart) und die Schweizerische Nationalbibliothek und Redaktionsarbeit wäre die Realisierung des
haben ihre Infrastruktur zur Verfügung gestellt, und Handbuchs nicht möglich gewesen.
das Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Leiterin: Irmgard
M. Wirtz) hat freundlicherweise den Abdruck der Bern / Basel / Dortmund, September 2020
Dürrenmatt-Bilder genehmigt. Unser geschätzter Kol- Die Herausgeber
lege Davide Giuriato (Deutsches Seminar, Universität
I Biografie und Kontexte
1 Ein unspektakuläres Leben. ­ immer wieder für Beifall und Ärger gesorgt hatte.
Biografischer Abriss Auch die auf Ulrich Dürrenmatt folgenden Generatio-
nen brachten regional und national bekannte Figuren
hervor: Hugo Dürrenmatt (1876–1957), der ältere
Kindheit im Emmental Bruder Reinholds, war langjähriges Mitglied der Ber-
ner Kantonsregierung, und dessen Sohn Peter (1904–
Friedrich Dürrenmatt pflegte zu sagen, er habe keine 1989), Friedrich Dürrenmatts Vetter, war ebenfalls
Biografie. Sein Leben verlief äußerlich unspektakulär Nationalrat und Chefredakteur der Basler Nachrich-
und undramatisch: Er wurde am 5.1.1921 in Stalden ten; er schrieb eine vielgelesene Geschichte der Schweiz.
(später Konolfingen) am Rand des Emmentals, weni- Während die Mutter Hulda (1886–1975), ihrerseits
ge Kilometer von Bern entfernt, geboren und starb am Tochter des Politikers und Gemeindepräsidenten von
14.12.1990 in Neuchâtel, wo er seit 1952 wohnte, keine Wattenwil, Friedrich Zimmermann, eine resolute und
siebzig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt. dominante Person war, die dem Sohn als packende Er-
Mit 25 Jahren heiratete er die Schauspielerin Lotti zählerin der biblischen Geschichten in Erinnerung
Geissler (1919–1983), mit der er drei Kinder hatte. blieb, war der Vater Reinhold introvertiert, eher ein
Nach ihrem Tod heiratete Dürrenmatt 1984 ein zwei- stiller Gelehrter als ein mitreißender Prediger. Doch
tes Mal und verbrachte die letzten Lebensjahre mit der nahm er seine Aufgabe als Seelsorger in der weitläu-
deutschen Schauspielerin und Filmemacherin Char- figen Gemeinde, in der es viele freikirchliche und sek-
lotte Kerr (1927–2011). tiererische Gruppierungen gab, sehr ernst. Fritz Dür-
Sein Vater Reinhold Dürrenmatt (1881–1965), renmatt (wie Friedrich als Kind und von Familie und
seit 1912 in Stalden/Konolfingen als Pfarrer tätig, war Freunden sein Leben lang genannt wurde) war das ers-
seinerseits der Sohn des streitbaren Zeitungsheraus- te Kind des lange kinderlos gebliebenen Paars, das ein
gebers, -redakteurs und Nationalrats Ulrich Dürren- paar Jahre zuvor eine Pflegetochter, Elisabeth Gori
matt (1849–1908), eines konservativen Querkopfs, (1916–1990), bei sich aufgenommen hatte. Drei Jahre
der um die Jahrhundertwende mit seinen frechen Ge- nach Fritz kam seine Schwester Verena, genannt Vroni
dichten auf der Titelseite seiner Berner Volkszeitung (1924–2018), zur Welt. Fritz besuchte die Primarschu-

Abb.  1.1  Friedrich Dürren­


matt als Kind mit den ­
Eltern und der jüngeren
Schwester Verena in Konol­
fingen, um 1924.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_1
4 I  Biografie und Kontexte

le in Stalden/Konolfingen und die Sekundarschule in zuerst die Matura (= Abitur) bestände. Dürrenmatt
Grosshöchstetten. Der Knabe interessierte sich ebenso besuchte deshalb in der Folge das private ›Maturitäts-
für Astronomie wie für Abenteuerromane und war ein institut‹ Humboldtianum, weiterhin mit wenig Dis-
leidenschaftlicher Zeichner. Im Jahr 1931 erlitt er bei ziplin. Gleichwohl schaffte er mit enormer Willens-
einem Zusammenstoß mit einem Motorrad innere leistung im Sommer 1941 die eidgenössische Matura
Verletzungen (›Blutsturz‹) und durchstand Todesängs- Typus A (Alte Sprachen). In einem Brief an seinen
te. Auch eine ›Kopfgrippe‹ – eine leichte Kinderläh- Vater aus der Zeit nach der Matura brachte er seine
mung – prägte seine Kindheit, sie machte den Sport- Berufsabsichten klar zum Ausdruck: »Es handelt sich
begeisterten schwerfällig. hier nicht darum zu entscheiden[,] ob ich ein aus-
Die Emmentaler Herkunft verbindet Dürrenmatt übender Künstler werde oder nicht, denn da wird
mit dem Lieblingsautor seiner Mutter: Jeremias Gott- nicht entschieden, sondern das wird man aus Not-
helf (1797–1854). Dieser hatte als Pfarrer in Lützelflüh wendigkeit. Und das[s] ich ein Künstler werden kann
in einer stark dialektal gefärbten, sinnlich-reichen und muss, weiss und fühle ich. – Das Problem liegt ja
Sprache die bäuerliche Welt des 19. Jahrhunderts in bei mir ganz anders. Soll ich malen oder schreiben. Es
großen realistischen und moralistischen Romanen drängt mich zu beidem. Aber ich weiss auch[,] dass
beschrieben. Doch gerade Konolfingen passte als Dorf man diese beiden Künste nicht gleichzeitig ausüben
nicht in das Bild der naturwüchsigen Bauerngesell- darf; denn bald wird einer zu einem Zwitter, er
schaft und gottgewollten Ordnung, wie es in Gotthelfs schreibt da, wo er malen sollte, und wo Schreiben am
Romanen beschworen wird: Das Dorf entstand erst Platze gewesen wäre, greift er zum Pinsel« (zit. nach
um die Wende zum 20. Jahrhundert an einer Straßen- Weber 2020, 59).
kreuzung und um die neu gegründete Milchsiederei Die Gymnasialzeit und auch noch das Studium sah
Stalden, die bald zu einem wichtigen Arbeitgeber für Dürrenmatt rückblickend im Zeichen der Rebellion.
die Region wurde. Dürrenmatt wuchs also an einer Von der Welt der Eltern setzte er sich u. a. durch ein
Schnittstelle zwischen moderner Industrie und tradi- pubertäres Sympathisieren mit faschistischen Bewe-
tionellem Bauerntum auf. Auch als Bahnknotenpunkt gungen und Hitler ab. Am Ende seiner Gymnasialzeit
war das Dorf mit der großen Welt verbunden. und zu Beginn seines Studiums war er, wie er in sei-
Dürrenmatt blieb, auch wenn er erklärtermaßen nen autobiografischen Stoffen berichtet, für kurze
Welttheater schrieb, mit seiner Sprache und seinen Zeit Mitglied einer frontistischen Jugendorganisation
Motiven zeitlebens im Regionalen verankert: Anders (vgl. WA 28, 189). Die Haltung scheint sich – nicht
als die Mehrheit der Deutschschweizer Autorinnen zuletzt dank der Bekanntschaft mit jüdischen Auto-
und Autoren seiner Zeit strebte er nicht nach einer ren und Gelehrten, mit Emigranten und Flüchtlingen
von allen dialektalen und regionalen Spuren gereinig- – bald in eine Ablehnung Hitlers gewandelt zu haben,
ten Sprache, vielmehr war für ihn die mundartlich ohne dass der Student große Sympathien für die Alli-
grundierte schriftstellerische Kunstsprache ein Mittel, ierten empfunden hätte, die ihm kulturell fremd wa-
auf Eigenständigkeit zu beharren: »Es gibt Kritiker, ren. Seine Haltung war eher apolitisch: »Es war für
die mir vorwerfen, man spüre in meinem Deutsch das mich unmöglich, im Weltgeschehen einen Kampf
Berndeutsche. Ich hoffe, daß man es spürt. Ich schrei- zwischen ›guten und schlechten Mächten‹ zu sehen,
be ein Deutsch, das auf dem Boden des Berndeut- was damals die meisten taten [...]. Das Zusammen-
schen gewachsen ist« (WA 32, 123). krachen Europas spielte sich für mich wie eine Natur-
katastrophe jenseits aller Moral, aber auch jenseits al-
ler Vernunft ab, für mich trugen alle die Schuld an ei-
Jugend in der Stadt Bern nem Massaker ohnegleichen, die Opfer und die Hen-
ker, der Strudel einer unsinnigen Apokalypse riß alle
1935 zog die Familie nach Bern um, wo der Vater eine hinab. Der Mensch erschien mir als kosmischer
Stelle am Salem-Krankenhaus annahm, das vom Dia- Mißgriff, als Fehlkonstruktion eines offenbar gleich-
konissen-Orden betrieben wurde. In Bern besuchte gültigen, wenn nicht stumpfsinnigen Gottes, für den
Dürrenmatt zunächst das evangelische Freie Gymna- bestenfalls Hitler als Symbol dienen konnte, als Welt-
sium. Nach ein oder zwei Jahren drohte die Relegati- fratze, von der allgemeinen Unvernunft heraufbe­
on wegen seiner Undiszipliniertheit und ungenügen- schworen« (197).
der Noten. Seinen Wunsch, Maler zu werden, akzep- Unentschieden zwischen Malerei und Literatur be-
tierten die Eltern nur unter der Bedingung, dass er gann Dürrenmatt in Bern ein Studium der Literatur-
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 5

Den besten Ausdruck für die wilde, expressive Aus-


druckslust des Studenten Dürrenmatt geben die
Wandmalereien, mit denen er sich in der im Sommer
1942 bezogenen Mansarde in der Berner Laubeggstra-
ße über der Wohnung der Eltern umgab (vgl. Abb. 1.3).
Sie oszillieren in leuchtenden Farben zwischen Rebel-
lion gegen den christlichen Glauben der Eltern, Spiel
mit der griechischen Mythologie, Auseinandersetzung
mit dem Kriegsgeschehen, karikaturistischem Witz
und bedrängenden apokalyptischen Visionen.
Zurück in Bern besuchte Dürrenmatt ab Herbst
1943 vor allem die Vorlesungen und Seminare des
Philosophen Richard Herbertz, bei dem Jahre zuvor
auch Walter Benjamin doktoriert hatte. Im Zentrum
von Dürrenmatts philosophischen Interessen standen
Platon (über dessen Höhlengleichnis er ein Referat
hielt), Kant und Søren Kierkegaard. Über den dä-
nischen Philosophen wollte er auch eine Dissertation
verfassen, deren Titel Kierkegaard und das Tragische
lauten sollte. Doch brach er 1946 das Studium ab, oh-
ne seine Arbeit geschrieben zu haben. Verschiedene
Faktoren spielten dabei wohl eine Rolle: Kurz zuvor
hatte sich Dürrenmatt von Christiane Zufferey ge-
trennt und die Schauspielerin Lotti Geissler kennen-
gelernt, die er noch im gleichen Jahr heiratete. Wäh-
Abb. 1.2  Friedrich Dürrenmatt als Student, um 1944. rend seines Studiums hatte er stets gezeichnet und ge-
schrieben. Waren seine ersten Versuche im Drama
noch epigonal an Büchner orientiert gewesen, so gab
wissenschaft und Kunstgeschichte, zwei Jahre später ihm die Niederschrift des Stücks Es steht geschrieben
wechselte er zur Philosophie. Dazwischen lag eine über den Wiedertäuferstaat in Münster im 16. Jahr-
nach wenigen Wochen abgebrochene Rekrutenschule hundert die Gewissheit, eine eigene schriftstellerische
(Dürrenmatt wurde wegen seiner Kurzsichtigkeit in Sprache gefunden zu haben. Es war wohl nicht zuletzt
den militärischen Hilfsdienst versetzt) und ein Win- das Studium Kierkegaards, dieses fundamentalen Kri-
tersemester in Zürich, wo er kaum die Universität be- tikers aller systematisch-akademischen und existenz-
suchte. Eine französischsprachige Walliser Malerin, fernen Philosophie, das den Entscheid herbeiführte,
Christiane Zufferey, wurde dort seine Freundin, und das Studium abzubrechen. Dürrenmatt stellte auch
er diskutierte mit dem expressionistischen Maler Wal- die Malerei zurück und wagte die Existenz als freier
ter Jonas und seinem Umfeld über Kunst und Litera- Schriftsteller.
tur. Hier begegnete er erstmals dem Namen Kafkas.
Am Schauspielhaus Zürich sah Dürrenmatt die Ur-
aufführung von Brechts Der gute Mensch von Sezuan. Karriereanfänge als religiöser Dramatiker
Mit einer Hepatitisinfektion kehrte er früher als ge-
plant nach Bern zurück, doch sah er diese Monate in Nach der Heirat zog das Paar zunächst nach Basel um,
Zürich im Rückblick als Phase eines intellektuellen wo es in einem leerstehenden ehemaligen ›Greisen-
wie literarisch-künstlerischen Durchbruchs. Neben asyl‹ ein paar Zimmer bezog. Lotti, die als Sechzehn-
einem Kooperationsprojekt mit Jonas (Buch einer jährige im Heimatfilm Ds Vreneli am Thunersee debü-
Nacht) und erzählerischen und dramatischen Ver- tiert hatte und während der Kriegsjahre in Deutsch-
suchen entstand damals – angeregt durch einen Be- land und der Schweiz als Schauspielerin tätig gewesen
such beim Georg Büchner-Gedenkstein – der früheste war, hatte am Basler Theater ein Engagement für kleine
Text, den er später zu seinem Werk zählte: Weihnacht Rollen als Schauspielerin, das jedoch bald mit ihrer
(vgl. WA 28, 278 f.). ersten Schwangerschaft ein Ende nahm. Am 6.8.1947
6 I  Biografie und Kontexte

Abb. 1.3  Die Mansarde, die Dürrenmatt 1942/43 ausmalte. Heutiger Zustand.

Abb.  1.4  Hochzeit mit


Lotti Geissler in Ligerz,
12.10.1946, mit den ­
eigenen Eltern (li.) und
der Schwiegermutter ­
Cécile Falb (re.).
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 7

wurde Sohn Peter geboren. In Basel fand Dürrenmatt einen fixen monatlichen Betrag und das Cabaret Cor-
ein anregendes Umfeld; zu den wichtigsten Diskussi- nichon – das wichtigste Schweizer Kabarettensemble
onspartnern gehörten der protestantische Theologe der damaligen Zeit – engagierte ihn 1948 als Sketch-
Karl Barth, dessen – die dialektische Theologie be- Autor. Diese Zusammenarbeit nahm allerdings ein ra-
gründenden – Römerbrief-Kommentar Dürrenmatt sches Ende, zudem scheiterte Dürrenmatt mit einem
bereits in Bern gelesen hatte, und der Germanist Wal- Stück zum Turmbau zu Babel. Als nach dem Zwi-
ter Muschg, der die Erinnerung an die von der Nazizeit schenerfolg mit Romulus der Große (25.4.1949) das
verschüttete Literatur des Expressionismus wach hielt. Mississippi-Stück abgelehnt wurde, fielen diese regel-
Der Regisseur und Schauspieler Kurt Horwitz, seit mäßigen Einkünfte weg und Dürrenmatt stand vor
kurzem Theaterdirektor in Basel, zeigte von Anfang an dem finanziellen Nichts. Immer wieder bemühte er
großes Interesse für den jungen Dramatiker. Er hatte sich um Unterstützungsbeiträge und versuchte zu-
dessen Erstling Es steht geschrieben bereits 1946 im gleich konsequent, mit dem Schreiben Geld zu verdie-
Manuskript gelesen und war sehr beeindruckt, wenn nen: Er schrieb Theaterkritiken für Die Nation und
er auch an der Möglichkeit zweifelte, ihn auf die Bühne später Die Weltwoche, verfasste für die in der Deutsch-
zu bringen und eher auf das zweite, bereits fertige schweiz viel gelesene Zeitschrift Der Schweizerische
Stück Der Blinde setzte. Das Schauspielhaus Zürich je- Beobachter zwei Kriminalromane in Fortsetzungen –
doch interessierte sich für den Erstling; es kam zum Der Richter und sein Henker und Der Verdacht – und
Streit, schließlich zum Kompromiss: Horwitz brachte fasste zwischen 1951 und 1956 sieben Hörspiele ab.
das Stück Es steht geschrieben am 19.4.1947 am Zür- »Die westdeutschen Rundfunkanstalten waren da-
cher Schauspielhaus zur Uraufführung; das Publikum mals unsere Mäzene« (WA 29, 64), schreibt er – mit
war zwischen Begeisterung und Empörung gespalten, Seitenblick auf den zehn Jahre älteren Max Frisch, mit
es kam zu tumultuösen Szenen. Horwitz und sein dem er sich in dieser Zeit befreundete. Dürrenmatt,
Theaterfreund Ernst Ginsberg, beide aus Deutschland der wohl unter den Schweizer Autoren des 20. Jahr-
emigriert, beide jüdischer Herkunft und zum Katholi- hunderts von Rang am meisten Geld verdient hat, war
zismus konvertiert, wurden zu den wichtigsten För- die ersten zehn Jahre seines Berufslebens auf bedeu-
derern des jungen Dramatikers. Ginsberg inszenierte tende finanzielle Unterstützung aus privater und öf-
das zweite Stück, Der Blinde, am 10.1.1948 in Basel; fentlicher Hand angewiesen.
auch bei Romulus der Große (UA 25.4.1949) übernahm Nicht nur die Regisseure wurden auf Dürrenmatt
er die Regie, während Horwitz die Titelrolle spielte. aufmerksam, auch Brecht, der wichtigste deutschspra-
Horwitz sah in Dürrenmatt eine Art protestantisches chige Dramatiker der Zeit, interessierte sich für das
Pendant zum katholischen Dramatiker Paul Claudel, junge Theatertalent. Obwohl es nur zu einer wirk-
dessen Seidenen Schuh er in Zürich in deutschsprachi- lichen Begegnung kam, verfolgte Brecht bis zu seinem
ger Erstaufführung inszeniert hatte. Die Freundschaft Tod 1956 Dürrenmatts Entwicklung genau. Er wurde
Dürrenmatts zu den beiden kühlte sich ab, als Horwitz zur Theaterinstanz, an der sich Dürrenmatt maß und
die 1949/1950 geschriebene Komödie Die Ehe des an der er ein Leben lang bis zum Überdruss gemessen
Herrn Mississippi ablehnte. Sie kam erst 1952 an den wurde. Stets kritisch stand Dürrenmatt Brechts dog-
Münchner Kammerspielen in der Regie von Hans matischem Bekenntnis zum Marxismus gegenüber.
Schweikart zur Uraufführung und brachte Dürrenmatt Bei aller Sympathie für kommunistische Ideen sah
den Durchbruch in Deutschland. Dürrenmatt im marxistischen Geschichtsverständnis
eine Ersatzreligion, die nichts mit realen historischen
Entwicklungen zu tun hatte. Er kritisierte ebenfalls
Schwierige Jahre des Aufstiegs – ­ Sartres Theater als Illustration einer vorgegebenen
Brotarbeiten existentialistischen Philosophie. Für sich nahm er da-
gegen Eigenständigkeit in Anspruch, wie er in seinem
Trotz der raschen Anerkennung, die die Auszeich- grundlegenden Essay Theaterprobleme (1955) schrieb:
nung seines ersten Stücks mit dem renommierten »Dann möchte ich bitten, in mir nicht einen Vertreter
Welti-Preis für das Drama mit sich brachte, waren die einer bestimmten dramatischen Richtung, einer be-
ersten Jahre von Dürrenmatts Laufbahn als freier stimmten dramatischen Technik zu erblicken oder gar
Schriftsteller und Dramatiker von großen finanziellen zu glauben, ich stehe als ein Handlungsreisender ir-
Schwierigkeiten geprägt. Zwar hatte er für einige Zeit gendeiner der auf den heutigen Theatern gängigen
feste Einkünfte: Der Reiss-Theaterverlag zahlte ihm Weltanschauungen vor der Tür, sei es als Existentialist,
8 I  Biografie und Kontexte

sei es als Nihilist, als Expressionist oder als Ironiker, Hier sollte er den Rest seines Lebens verbringen, gan-
oder wie nun auch immer das in die Kompottgläser ze 38 Jahre. Die Familie bewohnte ein zu Beginn des
der Literaturkritik Eingemachte etikettiert ist« (WA Jahrhunderts am Jurahang erbautes Einfamilienhaus
30, 31 f.). mit Flachdach und acht Zimmern auf drei Stockwer-
Auf der Suche nach einer günstigen Wohngelegen- ken. Es war zwar zu Fuß nur zwanzig Minuten vom
heit zog die junge Familie Dürrenmatt bereits 1948 Bahnhof Neuchâtel entfernt, aber einsam über der
von Basel weg, aber nicht in Richtung des in Trüm- Stadt gelegen, mit viel umliegendem Gelände, das
mern liegenden Deutschland, sondern in eine idyl- Dürrenmatt über die Jahrzehnte zu einem großen
lische Schweizer Landschaft, nach Schernelz bei Lig- Garten gestaltete. Eine Terrasse vor seinem Arbeits-
erz am Bielersee, wo Lottis Mutter wohnte. Die Fami- raum gab den Blick über die Weite des Neuenburger-
lie blieb dort bis 1952; zuletzt wohnte das Paar – in- sees bis zu den Alpen frei.
zwischen mit den drei Kindern Peter (1947), Barbara Dürrenmatt hat sein privates Reich und sein Ver-
(1949) und Ruth (1951) – in der ›Festi‹ Ligerz, einem hältnis zu Neuchâtel und seinen Einwohnern in einem
alten Weinbauernhaus oberhalb des Dorfes, als Mieter Text mit dem Titel Vallon de l’Ermitage dargestellt, der
der ebenfalls im Haus wohnenden Textilkünstlerin El- erstmals 1981 in französischer Übersetzung publiziert
si Giauque, mit der eine Freundschaft entstand. Trotz wurde, als ihm die lokale Universität zum 60. Geburts-
der schriftstellerischen und finanziellen Sorgen waren tag den Ehrendoktor-Titel verlieh. Zwar konnte sich
die Jahre am Bielersee von heiterer Geselligkeit und der Berner Autor, der im Alltag Berner Mundart
familiärem Glück geprägt: »Ich lebte immer, auch in sprach, auf französisch verständigen, er gab gelegent-
schlechten Zeiten, fürstlich« (WA 28, 221), meint lich auch Interviews in dieser Sprache, doch blieben
Dürrenmatt im Rückblick. ihm französische Sprache und Kultur weitgehend
Die Zeit im Winzerdörfchen Ligerz fand ihr Ende, fremd. Neuchâtel bot ihm die nötige Zurückgezogen-
als die Familie nach der Geburt der Tochter Ruth er- heit für sein Schreiben. Er suchte nicht die Anschau-
neut mehr Raum brauchte und im März 1952 zu güns- ung des Großstadtlebens in Paris oder Berlin wie viele
tigen Konditionen ein Haus oberhalb von Neuchâtel andere Schweizer Autorinnen und Autoren: »Man
fand, nur zwanzig Kilometer südwestlich von Ligerz, kann heute die Welt nur noch von Punkten aus be-
aber jenseits der Sprachgrenze. Dürrenmatt musste obachten, die hinter dem Mond liegen, zum Sehen ge-
sich das Geld für die Hypotheken durch Vorschüsse hört Distanz, und wie wollen die Leute denn sehen,
von verschiedenen Verlegern zusammenpumpen. wenn ihnen die Bilder, die sie beschreiben wollen, die

Abb.  1.5  Dürrenmatt


mit seinen Kindern und ­
Eltern im Garten des neu
erworbenen Hauses in
Neuchâtel, 1952.
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 9

Augen verkleben?« (WA 32, 32). Der distanzierte Be- gegenüber verlor, wohl endgültig. Was ich seitdem für
obachter mischte sich nur punktuell in aktuelle Dis- dieses Medium schrieb, verfaßte ich im Gefühl einer
kussionen ein. Er schöpfte primär aus der eigenen ›Bühnenohnmacht‹, im Gefühl, mich in ›Feindesland‹
Fantasie, dem eigenen Denken und der Auseinander- zu befinden« (WA 28, 216 f.). So blieb Dürrenmatts
setzung mit literarischen und dramatischen Traditio- Beziehung zur Bühne stets angespannt; der Weg von
nen; mit der Zeit entwickelte er ein dichtes Geflecht seiner vorsprachlichen Vision durch die Sprachnot der
von Referenzen, Inversionen und Variationen von Ausformulierung, die nie zu eleganter Konversation
Motiven und Figuren innerhalb seines eigenen Werks. führte, sondern zu dicht gefügten Sprachbrocken mit
Damit blieb er trotz zeitweise überwältigender Erfolge Hang zu groteskem, oft kalauerndem, manchmal plat-
ein intellektueller, literarischer und künstlerischer tem Witz, und deren ›Übersetzung‹ des Texts in der
Einzelgänger, der zwar mit wachem Auge die politi- Bühneninszenierung, war ein Prozess voller Fallen
schen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklun- und Unberechenbarkeiten, der erst während der Pro-
gen verfolgte, aber zu den intellektuellen Diskursen ben zur Uraufführung zu einem vorläufigen Ende kam
und Moden betont Distanz hielt. und von allen Seiten viel Geduld und Ausdauer erfor-
derte.
Nach den gesundheitlichen und beruflichen Pro-
Krankheit, Krisen und internationaler Erfolg blemen kam wie aus dem Nichts heraus der Erfolg:
Noch im Jahr 1955 kämpfte Dürrenmatt, dessen Frau
In sechs Jahren hatte sich Dürrenmatt als bedeutender in Bern operiert werden musste und nur knapp dem
Autor etabliert und drei Wochen nach dem Umzug Tod entging, mit nicht endenden finanziellen Sorgen.
mit der Uraufführung von Die Ehe des Herrn Missis- Um ihren Krankenhausaufenthalt überhaupt bezah-
sippi an den Münchner Kammerspielen (26.3.1952) len zu können, erschrieb er sich Vorschüsse von deut-
auch den endgültigen Durchbruch in Deutschland ge- schen Rundfunkanstalten durch Exposés für verschie-
schafft. Doch der finanzielle Druck wurde mit den Hy- dene Hörspiele, die er später nur zum Teil ausführte.
potheken nicht kleiner. Es kamen Krisen persönlicher Und er schrieb mit Der Besuch der alten Dame, jene
und beruflicher Art hinzu: Im Sommer 1952 erlitt am 29.1.1956 in Zürich uraufgeführte tragische Ko-
Dürrenmatt einen physischen Zusammenbruch, die mödie, die ihn berühmt und innerhalb weniger Jahre
Untersuchung ergab den Diabetes mellitus, mit dem zum Weltautor machte.
er nun ein Leben lang umgehen musste. Er klagte
nicht oft, doch wo er über den Diabetes spricht,
kommt Ermüdung und Resignation, wenn nicht Ver- Leben im Wohlstand
zweiflung zum Ausdruck. Immer wieder musste er ins
Krankenhaus und zur Kur, und die Erwartung eines Der finanzielle Umbruch war ungeheuer: War Dür-
frühen Todes begleitete ihn stets. renmatt gerade noch als ›Meisterbettler‹ mit dem
Auch auf dem Theater ergaben sich neue Probleme: Sammeln von Vorschüssen und Unterstützungen be-
Zwar hatte Dürrenmatt bereits im Dezember 1948 das schäftigt, wurden ihm 1957 von seinem Theaterver-
fragmentarische Manuskript zum Stück Der Turmbau leger auf einmal Tantiemen in einer Höhe ausbezahlt,
zu Babel nach einem Jahr Arbeit verbrannt und für Die die bei weitem überstieg, was er sich vorher in all den
Ehe des Herrn Mississippi lange nur Kritik eingesteckt, Jahren an Einkommen erschrieben hatte. Dürrenmatt
bevor er mit Schweikart den Regisseur fand, der es hatte schon früher mit dürftigen Mitteln ein Opti-
zum Erfolg brachte, die Uraufführung des nächsten mum an Lebensqualität und Lebenskunst erreicht,
Stücks, Ein Engel kommt nach Babylon, am 22.12.1953 nun genoss er es, mit dem Geld großzügig umzuge-
in München jedoch führte zu einer radikalen Krise. hen. Legendär war sein Weinkeller, mit exquisitem
Dürrenmatt sah in der Inszenierung ein fundamen- Bordeaux bestückt, darunter Grand-Crus aus dem
tales Missverständnis: Er hatte seiner Ansicht nach ei- 19. Jahrhundert. Dürrenmatt lernte mit 35 Jahren Au-
ne poetische Komödie der Gnade geschrieben, wäh- to fahren und wurde bald Besitzer einer stattlichen
rend »Schweikart im Engel eine Satire sah [...]. Das Chevrolet-Limousine und stolzierte gelegentlich im
Mißverständnis war nicht mehr zu korrigieren. [...] Es Pelzmantel herum. Seine Karriere als Automobilist
wurde ein Achtungserfolg, das Schlimmste, was pas- war von zahlreichen kleineren und größeren Unfällen
sieren konnte, doch nur scheinbar das Schlimmste – gesäumt; sie bilden den realen Hintergrund seiner
schlimmer war, daß ich meine Naivität dem Theater Dramaturgie der Pannen und Unfälle. War schon frü-
10 I  Biografie und Kontexte

Abb.  1.6  Lotti Dürrenmatt


mit den Kindern Peter und
Barbara in Neuchâtel, ca.
1963.

her ein Kindermädchen Teil der Familie, so wurde nicht immer zur vollen Zufriedenheit der Auftrag-
nun eine Sekretärin angestellt, das Haus in Neuchâtel geber ausfielen, hing nicht zuletzt mit Dürrenmatts
umgebaut, später ein zweites errichtet, in dem der Au- Widerstreben zusammen, sich zu wiederholen und
tor in Ruhe arbeiten konnte. Es folgten ein Swim- den Erwartungen des Publikums zu entsprechen; er
mingpool, später ein in den Hang gebauter Atelier- brauchte für sein Schreiben die Lust am Experimen-
und Musikraum: Nach und nach entstand im Vallon tieren: Als Jubiläumsstück für das Schauspielhaus
de l’Ermitage ein feudales Dürrenmatt-Reich, in dem schrieb er mit dem Komponisten Paul Burkhard Frank
der Dichterfürst Hof hielt. der Fünfte. Oper einer Privatbank. Das Stück über eine
Durch den Erfolg mit dem Besuch der alten Dame restlos korrupte Institution, 1959 uraufgeführt, fand
wurde Dürrenmatt ein Star der Nachkriegsliteratur. wenig Anklang, trotz immer neuer Versuche Dürren-
Die Literaturpreise häuften sich, sein Porträt erschien matts, es durch neue Versionen – bis hin zur eigenen
auf der Titelseite des deutschen Magazins Der Spiegel; Inszenierung als Fernsehspiel am Norddeutschen
sein Stück wurde zunächst europaweit, dann weltweit Rundfunk in Hamburg (1966) – zum Erfolg zu brin-
an den großen Theatern aufgeführt. Oft reiste er zu gen. Dürrenmatt war ständig in Zeitnot, bei seiner
den Spielorten, auch nach New York (wenn auch erst Fantasie und Arbeitslust ließ er sich häufig auf Projek-
im Mai 1959, ein Jahr nach der Premiere), wo die te ein, die er nicht oder nur mit Mühe zu Ende führen
leicht amerikanisierte Version The Visit ein drei Jahre konnte. Auch die gesundheitlichen Probleme mit
andauernder Riesenerfolg an einem Broadway-Thea- Krankenhaus- und Kuraufenthalten blieben ständige
ter und auf Tournee in nordamerikanischen Städten Begleiter von Dürrenmatt und seiner Frau Lotti, bei
wurde (es sollte später in den USA als Beweis gelten, der, mitbedingt durch das Leben im Schatten des im-
dass im Zentrum der Unterhaltungsbühnen auch an- mer erfolgreicheren und stärker von der Umwelt ab-
spruchsvolle Stücke mit Erfolg gezeigt werden konn- sorbierten Gatten, Depressionen hinzutraten.
ten). Das Stück war in aller Munde und omnipräsent;
sogar die amerikanische Modezeitschrift Vogue por-
trätierte den Autor. Tonangebende Regisseure wie Pe- Filmarbeit
ter Brook und Giorgio Strehler inszenierten die Alte
Dame. Ingrid Bergman und Anthony Quinn spielten Ein neues Medium beschäftigte den Autor in der zwei-
in der Hollywood-Verfilmung des Stoffs, später gab es ten Hälfte der 1950er Jahre: Zwar war Dürrenmatt
Bearbeitungen bis hin zu einer afrikanischen Verfil- schon früher in Filmprojekte involviert – aus einem,
mung und einer chinesischen Comic-Version. das nicht realisiert wurde, entstand die »Prosakomö-
Dürrenmatt konnte nun die Bedingungen diktie- die« Grieche sucht Griechin (1955) –, doch nun erlebte
ren, unter denen er arbeiten wollte; man riss sich um er die ganzen Produktionsprozesse. Zunächst ent-
Hörspiele, Fernsehspiele und Theaterstücke des Au- stand als erster abendfüllender Spielfilm des deut-
tors. Neue Stücke wurden in Auftrag gegeben. Dass sie schen Fernsehens in Eigenproduktion Der Richter und
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 11

sein Henker (1957), basierend auf einem Drehbuch heute auf eine Wirklichkeit gestoßen sind, die jenseits
unter Mitarbeit von Dürrenmatt. Dann schrieb er im der Sprache liegt, und dies nicht auf dem Wege der
Auftrag der Zürcher Praesens-Film Treatment und Mystik, sondern auf dem Wege der Wissenschaft«
Drehbuch für den Kriminalfilm Es geschah am hellich- (WA 32, 66). Die moderne Philosophie fände man wo-
ten Tag. Die Erfahrungen mit der Entfremdung des möglich »bei Einstein oder Heisenberg [...] und nicht
Stoffs in der Umsetzung, die er bei Theateraufführun- bei Heidegger« (62). Entschieden wandte sich Dür-
gen machte, wiederholte sich hier: Der konventionell- renmatt vor dem Hintergrund einer Wissenschaft, die
positive Schluss des Films mit Heinz Rühmann in der mit mathematisch fundierten Modellen arbeitet, der
Hauptrolle befriedigte ihn nicht. Als Gegenentwurf jede direkte Bildhaftigkeit abgeht, und die durch ihre
schrieb er 1958 den Roman Das Versprechen, der sei- technische Ausbeutung doch entschieden die soziale
nerseits mehrmals verfilmt wurde (u. a. 2003 von Sean und historische Wirklichkeit prägt, gegen jede Ab-
Penn, mit Jack Nicholson in der Rolle des Detektivs). bildästhetik in aristotelischer Tradition. Er entwickel-
Nach diesem erfolg- und spannungsreichen Projekt te sein Konzept der »Eigenwelten«: »Was der Schrift-
unterschrieb Dürrenmatt einen neuen Vertrag mit steller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern
Produzent Lazar Wechsler von der Praesens-Film, ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die
wonach er die Stoffe für fünf weitere Filme liefern soll- dadurch, daß die Materialien zu ihrem Bau in der Ge-
te. Doch bereits am ersten, der Filmerzählung Justiz, genwart liegen, ein Bild der Welt geben« (68).
scheiterte er – erst 25 Jahre später schloss er den Stoff Dürrenmatt traf sich schon in den 1950er Jahren
als Roman ab. Stattdessen entstand eine Filmfassung mit führenden Physikern und Astronomen wie Wolf-
seines älteren Stücks Die Ehe des Herrn Mississippi, die gang Pauli und Fritz Zwicky und setzte sich – etwa in
1961 an Stelle des Justiz-Stoffs realisiert wurde. einer Rezension von Robert Jungks Buch Heller als
tausend Sonnen – auch mit der Geschichte der Atom-
forschung und der Erfindung der Atombombe aus-
Naturwissenschaft und Theater – Höhe- einander.
punkt des Erfolgs Diese Beschäftigung mündete u. a. in die Komödie
Die Physiker, die 1962 ihre Uraufführung erlebte. Mit
Schon seit seiner Kindheit interessierte sich Dürren- diesem Stück konnte Dürrenmatt den Erfolg der Alten
matt für Astronomie; in den 1950er Jahren trat – im Dame wiederholen, ja sogar übertreffen. Das Stück,
Gespräch mit dem Physiker Marc Eichelberg, der ab das mitten in die heißeste Phase des Kalten Kriegs fiel,
1954 in Neuchâtel wohnte – ein dezidiertes Interesse als selbst in der Schweiz eine atomare Bewaffnung auf
für Naturwissenschaften und Mathematik hinzu. Es der politischen Agenda stand, wurde nach der Zürcher
brachte ihn bereits 1956 zur Überzeugung, dass »wir Uraufführung in der Saison 1962/63 allein in Deutsch-

Abb.  1.7  Dürrenmatt, ­


Regisseur Ladislao Vajda
(li.), Darsteller Heinz ­
Rühmann und Verleger ­
Peter Schifferli (re.) an­
lässlich der Dreharbeiten
zum Film Es geschah am
hellichten Tag, 1958.
12 I  Biografie und Kontexte

die Schweiz emigriert waren, waren nach Deutschland


zurückgekehrt und nur noch für gelegentliche Gast-
spiele vor Ort. Neue Talente erschienen, darunter der
junge erfolgreiche Regisseur Werner Düggelin. Er in-
szenierte 1967 Dürrenmatts Stück Die Wiedertäufer
(eine Bearbeitung des Bühnenerstlings). Als Düggelin
bald darauf zum Basler Theaterdirektor berufen wur-
de, lud er Dürrenmatt ein, als Hausautor in der Direk-
tion mitzuwirken. Es wurde Dürrenmatts intensivste,
vielleicht auch forcierteste Theaterarbeit. Das Basler
Theater stellte ihm eine großzügige Dachwohnung am
Barfüßerplatz zur Verfügung, und er arbeitete Tag
und Nacht für das Theater: Zwischen 1968 und 1969
verfasste er die Shakespeare-Adaption König Johann,
bearbeitete Strindbergs Totentanz in praktischer Regie
(mit Co-Regisseur Erich Holliger) und Dramaturgie
im Verlauf der Proben so weit, dass daraus ein eigenes
Drama, Play Strindberg, wurde, schrieb mit Porträt ei-
nes Planeten ein weiteres Stück und stürzte sich in wei-
tere Shakespeare- und Lessing-Adaptionen. Er ent-
wickelte eine ungeheure Produktivität und wollte dem
Basler Theater seinen Stempel aufdrücken. Hinter
dem Ganzen steckte jedoch ein Missverständnis: Düg-
gelin hatte ihn als künstlerischen Mitarbeiter enga-
giert, Dürrenmatt aber schwebte sein eigenes ›BE‹,
sein ›Basler Ensemble‹ analog zu Brechts ›Berliner En-
Abb. 1.8  Dürrenmatt auf der Bühne mit Schauspielern bei semble‹ vor. Entsprechend hatte er den Anspruch, sich
Premiere zu Der Meteor, Zürich 1966. auch in die Regiearbeit anderer einzumischen. So
musste es früher oder später zum Bruch kommen; für
land gleichzeitig auf über fünfzig professionellen Büh- den Eklat sorgte ein Konflikt zwischen dem Ensemble
nen gespielt und auch weltweit inszeniert. Dürrenmatt und dem mit Dürrenmatt befreundeten Schauspieler
stand auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Kurt Beck. Dürrenmatt, der zudem im April 1969 in
Doch wie bereits nach Der Besuch der alten Dame der Situation völliger Überarbeitung einen Herz-
folgte ein Misserfolg: Herkules und der Stall des Au- infarkt erlitt, schied im Herbst 1969 im Streit vom Bas-
gias, aus dem gleichnamigen Hörspiel von 1954 zur ler Theater und von Düggelin.
Komödie und zum parodistischen Festspiel umge-
schrieben, fiel bei der Uraufführung 1963 durch und
wurde mit seinem helvetischen Stoff nur wenig nach- Scheiternde Theaterversuche und Ehrungen
gespielt. Ein Bühnenereignis wurde dann wieder Der
Meteor (1966), nicht zuletzt dank einer herausragen- Bis dahin blieb für Dürrenmatt stets die Theaterarbeit
den Interpretation der Hauptfigur durch Leonard Ste- im Zentrum, er verstand sich zuerst als Dramatiker;
ckel. Es war der letzte große Erfolg Dürrenmatts am andere literarische Arbeiten wie Kriminalromane
Schauspielhaus Zürich. schrieb er insbesondere in Krisensituationen, in den
früheren Jahren als Geld- und Auftragsarbeiten oder
zur Erholung.
Theaterleidenschaft in Basel Nach dem Herzinfarkt, der Dürrenmatt zur Ver-
änderung seiner Lebensgewohnheiten zwang, sollte es
Dort fand Mitte der 1960er Jahre ein Generationen- zwar immer wieder Phasen intensiver Theaterarbeit
wechsel statt. Einige der Schauspieler und Regisseure, geben, wenn er selbst Regie führte, eine kontinuierli-
mit denen Dürrenmatt zusammengearbeitet hatte, che Zusammenarbeit mit einem festen Ensemble,
waren gestorben; andere, die während der Nazizeit in Theater oder Regisseuren aber gab es nicht mehr.
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 13

Abb.  1.9  Dürrenmatt mit


Adolph Spalinger und ­
Mathias Habich bei den
Probenarbeiten zu König
Johann, Basel 1968.

Zu Beginn der 1970er Jahre knüpfte er wieder enge


Kontakte zum Zürcher Schauspielhaus; er inszenierte
dort sein neues Stück Porträt eines Planeten 1970,
kurz nach der Düsseldorfer Uraufführung. Er wurde
Mitglied des Verwaltungsrats und stand gar als Direk-
tor zur Diskussion, doch fehlten Erfolg und Rückhalt.
Dürrenmatt befand sich in einer lang anhaltenden
Krise: In den Jahren 1959–1971 hatte er neun Thea-
terstücke verfasst, daneben häufig bei Produktionen
seiner Stücke mitgearbeitet, aber keinen einzigen er-
zählerischen Text veröffentlicht, neben dem Theater
nur ein paar Reden publiziert. Umso bitterer war für
ihn die Erfahrung, dass nach Play Strindberg keines
seiner Stücke auch nur annähernd den Erfolg der frü-
heren Komödien erreichte: Mit dem Mitmacher, den
er für eines seiner besten Stücke hielt, erlebte er bei
der Uraufführung in Zürich am 3.3.1973 ein eigentli-
ches Debakel.
Von da an war Dürrenmatt als Theaterautor abge-
schrieben, es wurden fast nur noch seine alten Erfolgs-
stücke als Kassenfüller gespielt. Die Gleichgültigkeit
der Theaterwelt ging einher mit zahlreichen Ehrun-
gen – Ehrendoktorate in Philadelphia, Nizza, Jerusa-
lem, Neuchâtel und Zürich, zwei Berner Literaturprei-
se, drei Schillerpreise, Jean-Paul-Preis, Grillparzer-
Abb. 1.10  Dürrenmatt mit Regisseur Andrzej Wajda Preis, Österreichischer Staatspreis für Europäische Li-
bei den Proben zu Der Mitmacher, Zürich 1973. teratur, Georg Büchner-Preis, um nur die wichtigsten
14 I  Biografie und Kontexte

zu nennen. Auch für den Nobelpreis wurde Dürren- runter einen Militärdienstverweigerer und Zivil-
matt wiederholt als Kandidat gehandelt. dienst-Aktivisten. Von 1969–1971 war Dürrenmatt
Mitherausgeber des neu gegründeten linksliberalen
Sonntags-Journals, für das er auch zahlreiche Texte
Politische Publizistik schrieb. 1968 erlebte er im März den ›Prager Früh-
ling‹ vor Ort, als er anlässlich des Besuchs einer Insze-
Die späten 1960er Jahre waren eine Zeit des politi- nierung seiner Wiedertäufer dort weilte. Nach dem
schen Aufbruchs. Auch bei Dürrenmatt manifestierte Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag organi-
sich dies in literarischen und publizistischen Tätig- sierte er in Basel eine Protestveranstaltung mit Max
keiten. Er war kein weltfremder Autor. Zwar hatte er Frisch, Günter Grass und Peter Bichsel als Rednern,
große Vorbehalte gegenüber dem modischen Dekret Heinrich Böll schrieb einen Text für die Veranstal-
der politisch engagierten Literatur und lachte über tung. Reisen nach Polen (1960), in die Sowjetunion
die Vorstellungen von der Veränderbarkeit der Ge- (1964, 1967) und in die Tschechoslowakei (1964,
sellschaft durch Literatur und Theater. Dennoch be- 1968) gaben ihm Anschauungen vom real existieren-
gann er ab Mitte der 1960er Jahre, sich in politische den Sozialismus, die sich auch in der satirischen Er-
Debatten einzumischen. Er nahm in Interviews Stel- zählung Der Sturz (1971) niederschlugen. Reisen in
lung zu aktuellen Fragen der Schweizer Politik und die USA (1959, 1969, 1973, 1981), wo er mit Ulrich
nutzte Gelegenheiten wie den Berner Literaturpreis Geissler, dem Bruder seiner Frau Lotti, und später mit
1969 für politische Manifestationen: Er reichte die seiner eigenen Tochter Ruth auch familiäre Bande
Preissumme an drei engagierte Figuren weiter, da- hatte, führten dazu, dass er sich vermehrt und kon-
kreter mit dem Kapitalismus und dem technischen
Fortschritt beschäftigte.
1967 und 1974, zur Zeit des Sechstage- und Yom-
Kippur-Krieges, bekannte sich Dürrenmatt öffentlich
zu Israel, einem Staat, dessen unbedingte Notwendig-
keit er im jahrhundertealten europäischen Antisemi-
tismus und dem Holocaust begründet sah. Vor allem
das Engagement für Israel in einer Zeit, als es in West-
europa bereits linker Commonsense war, für die Pa-
lästinenser Partei zu ergreifen und Israel als Vorpos-
ten des US-amerikanischen Imperialismus zu kritisie-
ren, nahm tiefere Züge an. Dürrenmatt wurde im
Herbst 1974 vom israelischen Staat zu einem Besuch
eingeladen, er wurde vom Staatspräsidenten empfan-
gen und hielt an mehreren Universitäten einen Vor-
trag über seine Sicht des Gastlandes. Nach der Rück-
kehr in die Schweiz erweiterte er den Vortrag zu ei-
nem umfassenden Essay (mit eingeflochtener Erzäh-
lung) mit dem Titel Zusammenhänge, worin er die
aktuelle Situation der Israeli und der Palästinenser aus
der religiösen und politischen Geschichte heraus zu
verstehen suchte. Die Sympathie hielt ihn jedoch nicht
davon ab, die israelische Politik gegenüber den Paläs-
tinensern wiederholt und dezidiert zu kritisieren.
Dürrenmatt, den man von seinen konkreten poli-
tischen Positionen her am ehesten als linksliberal si-
tuieren konnte, geriet mit seinen Stellungnahmen zu-
nehmend ins Abseits des linksintellektuellen Main-
streams. Ironisch bezeichnete er sich in seiner Rede
Abb. 1.11  Dürrenmatt bei der Dankesrede für das Ehren­ für den Berner Literaturpreis 1979 als politisch weder
doktorat der jüdischen Universität Jerusalem, 1977. links noch rechts stehend, sondern quer liegend. Ge-
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 15

radezu störrisch beharrte er auf seinem Selbstver- buch, sondern auch als Darsteller der Schriftstellerfi-
ständnis als Einzelner, der sich in einem eigenständi- gur beteiligte.
gen Denkprozess abseits von Parteimitgliedschaft und
-parolen seine eigenen philosophisch-politischen Po-
sitionen erarbeitete. Das Bildwerk

Während der Dreharbeiten an diesem Film in seinem


Das Langzeitprojekt der Stoffe Wohnhaus in Neuchâtel lernte Dürrenmatt den Em-
mentaler Wirt und Kunstsammler Hans Liechti ken-
Aus dem Debakel der Mitmacher-Uraufführung von nen, der in der Nähe ein Restaurant führte. Zwar hatte
1973 schrieb sich Dürrenmatt in jahrelanger Arbeit Dürrenmatt nach seiner Entscheidung für den Beruf
frei, indem er dem Stück für die Buchpublikation ein des Schriftstellers im Jahr 1946 mit Ausnahme der sati-
Nachwort mit eingeflochtenen Erzählungen und auto- rischen Serie Die Heimat als Plakat (1964) nur gele-
biografischen Passagen nachschickte, das doppelt so gentlich Illustrationen zu seinen Werken und verein-
lang wie der eigentliche Dramentext ist und mit die- zelte Karikaturen publiziert, das Zeichnen und Malen
sem den 1976 publizierten Mitmacher-Komplex bildet. somit weitgehend als Privatangelegenheit betrieben.
Dieser entstand im Zeichen eines größeren Projekts: Bilder begleiteten seine dramatischen Inventionen
Die auf intensiven Lektüren basierende Auseinander- dennoch sein Leben lang. Als ihm die Umsetzung sei-
setzung mit den Komplexen Recht und Politik, Phi- ner Visionen auf dem Theater immer schwerer fiel, ge-
losophie, Naturwissenschaft und Religion in Dürren- wann das Zeichnen und Malen erneut an Dringlich-
matts ›dramaturgischem Denken‹ der 1970er Jahre keit und Spielraum. Die neue Freundschaft mit Liechti
ging einher mit einer zunehmenden Thematisierung spornte ihn an. Dieser organisierte 1975 die erste öf-
der eigenen Biografie. Seit seinem Herzinfarkt 1969 fentliche Ausstellung von Dürrenmatts Bildern in sei-
und mit zunehmender Intensität, parallel zum Schei- nem Restaurant, es folgten weitere in der Galerie Da-
tern neuer Anläufe auf dem Theater, setzte Dürren- niel Keel 1978 und 1983 im Musée d’Art et d’histoire in
matt zum Projekt einer »Geschichte [s]einer Schrift- Neuchâtel. Trotzdem verstand sich der Autodidakt
stellerei« (WA 32, 13) oder »Geschichte [s]einer Stof- Dürrenmatt nie als professioneller Zeichner und Ma-
fe« (ebd.; WA 28, 13; WA 29, 11) an – ein Projekt, das ler, wodurch er sich einerseits diesen künstlerischen
ihn bis zu seinem Tod 1990 begleiten sollte. Es ent- Ausdruck als privaten Schonraum und andererseits die
stand eine neuartige, vielschichtige Prosa aus dem Freiheit bewahrte, sich nicht mit zeitgenössischen
Gestus der Rückbesinnung auf die eigenen Anfänge Tendenzen und den Meinungen der Kritik auseinan-
und auf nicht realisierte literarische Projekte. dersetzen zu müssen.
Dass sich Dürrenmatt in dieses Langzeitprojekt
einschrieb, war auch Ausdruck der veränderten Le-
bensumstände. War sein Leben als Erfolgsdramatiker Einsamkeit in Neuchâtel und ein Verlags-
bis in die frühen 1970er Jahre von einer atemlosen wechsel
Hektik und ständiger Zeitnot geprägt, so stand er nun
mit der Abwendung der Theater und Regisseure zu- Dürrenmatt machte nach seinem Herzinfarkt von
nehmend allein. Es wurde still um ihn, und auch im 1969 immer wieder gesundheitliche Krisen durch.
Privaten wurde es einsam; die Kinder waren erwach- 1973 musste er eine USA-Reise infolge seiner Dia-
sen und lebten andernorts, Lotti zog sich zunehmend betes-Erkrankung frühzeitig abbrechen; im Herbst
in ihr Schlafzimmer zurück. Zwar hatte Dürrenmatt 1975 erlitt er eine weitere Herzattacke und musste wo-
finanziell keine großen Sorgen – nach wie vor flossen chenlang in ein Berner Krankenhaus. Er lebte in der
Tantiemen von den Aufführungen seiner Erfolgsstü- Folge weitgehend zurückgezogen und zunehmend
cke Der Besuch der alten Dame und Die Physiker, die einsam in Neuchâtel, auch bedingt durch den eben-
inzwischen auch zum Schulstoff geworden waren –, falls prekären Gesundheitszustand seiner Frau, die
die Öffentlichkeit zeigte jedoch nur noch sporadisch unter Depressionen litt und mit Alkohol- und Medi-
Interesse an ihm. Umso empfänglicher war er für kamentensucht kämpfte. Seine Kontakte konzentrier-
neue Impulse wie ab Herbst 1974 die Verfilmung des ten sich vermehrt auf einzelne Freundschaften.
Romans Der Richter und sein Henker durch Maximi- Im Herbst 1977 scheiterte auch ein neuer Anlauf
lian Schell, an der er sich nicht nur mit dem Dreh- auf der Bühne mit der Komödie Die Frist kläglich;
16 I  Biografie und Kontexte

Abb.  1.12  Dürrenmatt mit


seinem Verleger Daniel
Keel (Diogenes), 1986.

Dürrenmatt wurde von Regisseuren und Kritik gera-


dezu vorgeführt und lächerlich gemacht. Seine neuen
Werke wurden kaum mehr gespielt und verkauft, und
er machte sich doch zunehmend Existenzsorgen. So
wechselte er 1979 von Peter Schifferlis Kleinverlag
Die Arche, bei dem er seit 1952 fast alle Werke publi-
ziert hatte, zu Daniel Keels aufstrebendem Diogenes
Verlag. Keel war schon immer ein begeisterter Dür-
renmatt-Leser gewesen. Dieser Verlagswechsel brach-
te neuen Schwung, der Ende 1980 rechtzeitig vor dem
60. Geburtstag in einer 30-bändigen Werkausgabe
Ausdruck fand und im Herbst darauf in der Publikati-
on der Stoffe I–III. Erstmals nach langen Jahren fand
Dürrenmatt wieder größere Aufmerksamkeit als Pro-
saautor.

Aufbruch ins Spätwerk

Im Januar 1983 starb Lotti im Alter von 64 Jahren. Ihr


Tod stürzte Dürrenmatt in tiefe Verzweiflung und
Hilflosigkeit. Freunde holten ihn allmählich aus die-
sem trostlosen Zustand heraus. Mit Maximilian Schell
arbeitete er am Filmprojekt Midas; über ihn lernte er
Charlotte Kerr kennen, die von ihm ein einfühlsames
vierstündiges Filmporträt drehte, das Portrait eines
Planeten. Am Ende der Dreharbeiten, im Mai 1984,
Abb. 1.13  Dürrenmatt mit seiner zweiten Frau Charlotte heirateten die beiden. Die Ehe mit der streitbaren und
Kerr, um 1985. ungeduldigen Filmerin und Schauspielerin war kei-
1  Ein unspektakuläres Leben. ­Biografischer Abriss 17

neswegs konfliktfrei, doch zugleich gab sie Dürren- schließlich im Jahre 1990 doch noch zu Ende geführt,
matt die Energie, angefangene Arbeiten wieder auf- wenn auch in ganz anderer Form, als es in den frühen
zunehmen und neue Texte zu schreiben. 1985 ent- 1970er Jahren angelegt worden war. Dürrenmatts spä-
stand die von Tuschezeichnungen begleitete Ballade te Texte sind von einer eigenwilligen denkerischen
Minotaurus – ein Text, der wie kaum ein anderer eine Spiellust geprägt: Zum einen hatte er in den 1970er
nicht ironisch gebrochene Tragik des einsamen Tier- Jahren eine Art Wiederholung seines Philosophiestu-
Menschen zeigt. Im gleichen Jahr wurde das um 1960 diums vollzogen, indem er von Platon über Spinoza
abgebrochene Kriminalromanfragment Justiz abge- und Kant bis zu Schopenhauer, Marx, Kierkegaard
schlossen und publiziert. Ein Jahr darauf entwickelte und Nietzsche für ihn wichtige Denker wieder oder
sich die Novelle Der Auftrag aus einem geplanten neu las; hinzu kam das Studium zeitgenössischer Wer-
Filmprojekt von Kerr. Das Stück Achterloo, 1983 mit ke zu Mathematik, Physik, Astronomie, Kosmologie
bescheidenem Erfolg in Zürich uraufgeführt, wurde und Hirnforschung, dazu wissenschaftstheoretische
im Dialog mit Kerr mehrfach überarbeitet und zuneh- Abhandlungen von Karl Popper bis Gerhard Vollmer.
mend zum vielfach-reflektierten Metatheater getrie- Zum andern gab die gute Betreuung und Vermark-
ben. Die Stoffe, die mit dem 1981 publizierten ersten tung seines Werks durch den Diogenes Verlag Dür-
Band bei weitem nicht abgeschlossen waren, führten renmatt eine finanzielle Sicherheit, die ihm auch als
Dürrenmatt in immer verwickeltere Erinnerungs- aus der Mode gekommenem Dramatiker erlaubte, in
fluchten und Textzusammenhänge. 1989 verselbstän- der Prosa jenseits aller Konventionen zu schreiben,
digte sich daraus der Roman Durcheinandertal, in was und wie es ihm zusagte. So entstanden essayisti-
dem Dürrenmatt noch einmal zentrale Denkmotive sche Gedankenfluchten und waghalsige erzählerische
verdichtet und aus ironisch-distanzierter Perspektive Konstruktionen, die bei der Kritik eine gemischte
religiöse Motive inszeniert. Das Stoffe-Projekt wurde Aufnahme fanden, aber Ausdruck einer atemberau-
benden kreativen Spielfreude und gedanklichen
Spannweite sind.
Auch Dürrenmatts Alltag änderte sich, obwohl er
weiterhin in seinem Privatreich in Neuchâtel wohnte,
das ihm allein die konzentrierte Schreibarbeit erlaub-
te. Er reiste wieder mehr: Abgesehen von den Nach-
barländern der Schweiz, in denen er regelmäßig un-
terwegs war, besuchte er in den letzten sieben Lebens-
jahren in Begleitung seiner Gattin Griechenland,
Ecuador, Peru, Ägypten, England, Schweden, Polen
und die Sowjetunion.
Dürrenmatt war auch in den Medien präsent, nahm
in der Endphase des Kalten Krieges an Fernsehdiskus-
sionen mit prominenten Politikern und Forschern teil
– etwa dem bundesdeutschen Verteidigungsminister
Manfred Wörner, dem Abgeordneten Egon Bahr oder
dem Miterfinder der Neutronenbombe Edward Teller
– und reiste 1987 nach Moskau zum internationalen
Friedensforum von Michail Gorbatschow.

Das Ende

Nicht zufällig steht im Zentrum des zweiten Stoffe-


Bandes, Turmbau, die Auseinandersetzung mit dem
Tod in all seinen Facetten – eine Auseinandersetzung,
die auch in der intensivierten Malerei der letzten Le-
Abb. 1.14  Dürrenmatt mit Václav Havel in Rüschlikon, bensjahre ihren Ausdruck findet. Nach dem Ab-
14.11.1990. schluss des über mehr als zwanzig Jahre hinweg be-
18 I  Biografie und Kontexte

triebenen Großprojekts schien Dürrenmatt zutiefst Literatur


erschöpft. Bei seinem letzten Auftritt in der Schweiz Grimm, Gunter E.: Friedrich Dürrenmatt. Marburg 2013,
im November 1990, als er in einer Preisrede für den 15–35.
Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
tschechoslowakischen Staatspräsidenten und Berufs- Biographie. Zürich 2011.
kollegen Václav Havel die Schweiz mit einem selbst- Rusterholz, Peter: Nachkrieg – Frisch – Dürrenmatt – Zür-
gewählten Gefängnis verglich, provozierte er zwar cher Literaturstreit – Eine neue Generation (1945–1970).
noch einmal einen Skandal, doch war er physisch ge- In: Ders., Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literatur-
zeichnet. Einen Monat später, am 14.12.1990, starb geschichte. Stuttgart 2007, 241–344, v. a. 280–311.
Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Dürrenmatt in Neuchâtel an Herzversagen. Um ihn
Zürich 2020.
her waren die Vorbereitungen für die Feier seines
70. Geburtstags im Gang, der er sich mit Kerr durch Ulrich Weber
eine Weltreise hatte entziehen wollen.
2  Selbst- und Fremddarstellung: Mythos Dürrenmatt 19

2 Selbst- und Fremddarstellung: bemängelt hatte, schrieb er in einem Brief, jener kön-
Mythos Dürrenmatt ne sein Deutsch »wie ein Pudel, der seine Kunststücke
macht. Für Sie, lieber Weber, wird Sprache ewig etwas
sein, das nachzuahmen ist, doch belästigen Sie bitte
Friedrich Dürrenmatt war mit 40 Jahren ein welt- nicht jene, die Sprache erzeugen, hervorbringen. Blei-
berühmter Dramatiker und mit 60 Jahren ein von der ben Sie in Ihrem sprachlichen Museum, aber verbren-
Kritik mehrheitlich abgeschriebener Autor, dessen nen Sie sich die Hände nicht bei Naturvorgängen« (zit.
Schaffenskraft erschöpft sei. So kursierten bereits früh nach Weber 2020, 268).
Bilder und Klischees von ihm, zu denen er einerseits Dürrenmatt war ein lustvoller Selbstinszenierer.
beitrug und die ihn zugleich befremdeten und verletz- Über ihn kursierten und kursieren zahlreiche Anek-
ten. Insbesondere sein Spätwerk ist auch als Dialog doten, von denen er selbst viele erzählt und in die Welt
mit solchen Bildern zu verstehen. »Wir wurden mit gesetzt hatte. Er liebte es, Witze zu reißen, zu blödeln,
dezidiertem Wohlwollen empfangen. Frisch als Intel- sich in Clown-Posen fotografieren zu lassen: Bereits
lektueller, ich als Naturbursche« (WA 29, 64 f.), am 25.3.1963 erschien auf dem Titelblatt der Schwei-
schreibt Dürrenmatt in Turmbau. Stoffe IV–IX über zer Illustrierten ein Porträt mit seinem Nymphensit-
eine Tagung des Bayerischen Rundfunks in München tich Shakespeare, der auf seiner Glatze thronte; er po-
1956. Damit evoziert er nur eines von vielen Bildern, sierte für professionelle Fotografen mit Weinglas auf
die sich die Öffentlichkeit schon früh von den beiden dem Kopf oder im eigenen Swimming-Pool (vgl. Co-
Protagonisten der Schweizer Literatur der 1950er Jah- ver-Foto). Humor, Satire und Groteske verstand er als
re machte. ›Frisch und Dürrenmatt‹ war eine fixe For- seine Mittel zur Distanzierung gegenüber dem Pathos,
mel. 1956 nannte sie Manuel Gasser in der Weltwoche mit dem er sich immer schwer tat.
(10.2.1956), einem alten literaturgeschichtlichen und Doch hinter seiner vordergründig ruhigen Biogra-
mythischen Muster folgend, »unsere dramatischen fie und dem stets zum Spaßen aufgelegten, geselligen
Dioskuren«. Dürrenmatt greift das Bild in Turmbau Menschen steckte Dürrenmatts Selbstverständnis zu-
auf: »Wir stellten einmal am schweizerischen Schrift- folge ein Leben voller innerer Abenteuer. In der Tat
stellerhimmel ein Doppelgestirn dar, Kastor und Pol- stellt er dieses vor allem in seinen Briefen als ein Dra-
lux, wobei es unklar ist, wer von uns beiden Kastor ma mit Peripetien und Katastrophen dar. Und hinter
und wer Pollux darstellt, sind doch die beiden nur der Ausstrahlung gemütlicher Lebenslust, die er auch
scheinbar ein Doppelgestirn« (WA 29, 75). Kunstvoll gerne öffentlich zelebrierte, steckte ein hohes Ethos
demontiert er in der Folge das Bild als perspektivische der schriftstellerischen Arbeit; er bewies immer wie-
Täuschung und bestätigt dadurch doch zugleich seine der große Selbstdisziplin und arbeitete konzentriert
Gültigkeit, indem er Max Frisch zu seinem dialekti- an seinem Werk.
schen Gegensatz stilisiert. Das Doppelbild Frisch und Als 22-Jähriger schrieb er seinen Eltern im Herbst
Dürrenmatt wurde etwa auch auf den Gegensatz zwi- 1943, als er die Studienrichtung von Literatur und
schen dem Erzähler und dem Dramatiker, dem Politi- Kunstgeschichte zu Philosophie wechselte: »Ich freue
schen und dem Unpolitischen, dem Liberalen und mich aufs Studium, es wird mir gut tun. Es bedeutet
dem Konservativen, dem sauren Moralisten und dem nach der ›Schlacht um die Kunst‹, die ich geführt ha-
lebenslustigen Humoristen, dem ernsthaften Denker be, für mich eine geistige Erfrischung. Ich kann sagen,
und dem Clown zugespitzt. Zugleich wurden die bei- dass ich diese Schlacht gewonnen habe. Es bedeutet
den Autoren häufig verwechselt, was sie in verschiede- dies für mich das entscheidende Ereignis. Mit der Ko-
nen Werken thematisierten, z. B. Frisch in Montauk, mödie, die ich hier oben geschrieben habe, ist der ers-
Dürrenmatt im Nachwort des Herausgebers zu Justiz te Zykel meiner Werke geschlossen, den ich mit Chaos
(vgl. WA 25, 200). überschreiben möchte« (zit. nach ebd., 72).
Wenn sich Dürrenmatt als Opfer simplifizierender Als der vierzehnjährige Dürrenmatt nach Bern
Fremdbilder versteht, so steht dem gegenüber, dass er kam, fühlte sich der Pfarrerssohn – so zumindest die
selbst intensiv an diesen Bildern mitarbeitete, nicht rückblickende Darstellung – bereits als Einzelgänger
erst, seit er in den Stoffen sein Selbstbild prägte. Auch und Außenseiter. Damit nahmen ein Selbstverständ-
wenn er sich etwa gegen das Bild des »Naturburschen« nis und später eine Selbstdarstellung ihren Ausgangs-
wehrte, trug er zugleich zu diesem bei: Dem Kritiker punkt, die, unter dem Einfluss des von ihm hoch-
Werner Weber, der in seiner Besprechung der Erzäh- geschätzten Existenzphilosophen Søren Kierkegaard,
lung Die Panne gewisse sprachliche Nachlässigkeiten sehr stark auf die Kategorie des ›Einzelnen‹ ausgerich-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_2
20 I  Biografie und Kontexte

tet war. Dieses Selbstverständnis verband sich mit der renmatt im Schlussteil von Turmbau ein letztes Mal
labyrinthischen Weltsicht zum indirekten Selbstpor- indirekt als »metaphysischen Mumpitz-Gott« dar
trät als Minotaurus. Darin liegt auch der Ausdruck für (WA 29, 260). Hintergrund für dieses ironisch-indi-
ein geradezu autistisches Element seines künstleri- rekte Selbstporträt als »zuckerkranke[r] Gott ohne
schen Temperaments. Im Herbst 1942 schreibt er an Bart« (259) ist ein literarisches Selbstverständnis des
seinen Mentor Wilhelm Stein: »Mein Schicksal, mein Schriftstellers und Künstlers als eines Schöpfers von
Unglück und Glück, meine Stärke und meine Schwä- Figuren und Welten, der, ein Alter Deus, aus Nichts
che ist es, dass ich immer nur aus mir schaffen kann, etwas schafft.
dass mir die Verbindung mit der Aussenwelt von ir- Steht dieses Bild für die Allmacht über die eigenen
gendeinem Teufel stets durchschnitten wird, mit Erzählwelten, so taucht im Spätwerk auch wiederholt
einem Wort, dass ich eine Brille trage, die stets an- das Selbstbild des Scheiternden auf – auch dies als Re-
läuft« (zit. nach ebd., 71). aktion auf Kritiken, die ab den frühen 1970er Jahren
Er galt als eher unpolitischer Komödienschreiber, gehäuft befanden, Dürrenmatt sei erstarrt in seinen
insbesondere in den 1970er Jahren, als ›politisch‹ im Bildern und Klischees, wiederhole sich nur noch und
Kulturbereich geradezu synonym für ›linksintellek- schreibe seine Werke um. Die Präsentation des zwei-
tuell und engagiert‹ war. Als er 1979 zum wiederhol- ten Stoffe-Bandes Turmbau als Trümmer eines Er-
ten Male einen Berner Literaturpreis bekam, legte er innerungsgebäudes, das der Autor ursprünglich in-
in der Dankesrede – wohl zur Abgrenzung von Auto- tendierte, ist jedoch kaum einfach als Resignation,
ren wie Grass und Frisch – das Geständnis ab, er habe sondern zumindest auch als ästhetische Aufwertung
»zwar Freunde [...], aber keine Genossen« (WA 34, des Unabgeschlossenen, Unharmonischen zu verste-
169), und stellte sich selbst politisch weder als Rechten hen, das Dürrenmatt seinen so formal geschlossenen
oder Linken, sondern als einen »Queren« (173) dar. Werken wie Der Besuch der alten Dame oder Die Phy-
Die Meinung, »es sei in der letzten Zeit still um [ihn] siker entgegenstellte. So überarbeitete er auch seine
geworden« (167), quittierte er mit der Bemerkung: Komödie Achterloo (1983) von Fassung zu Fassung in
»hoffentlich. Wer nicht beizeiten dafür sorgt, daß er Richtung auf die Auflösung fester Strukturen und
aus dem Kulturgerede kommt, kommt nicht mehr Handlungszusammenhänge; in Achterloo IV (1988)
zum Arbeiten, und damit nicht mehr zu sich selber« tritt Georg Büchner als Alter Ego des Autors auf, der
(ebd.). auf der Bühne sein Werk zu schreiben versucht, wäh-
Weiter erzählte Dürrenmatt in seiner Dankesrede, rend seine Figuren bereits spielen und sich nicht an
er habe unlängst in einer Radio- und TV-Zeitschrift den Text halten.
einen Beitrag über den »Alten vom Berge« angekün-
digt gesehen und, interessiert am so bezeichneten Literatur
Matt, Peter von: Der Liberale, der Konservative und das
Scheich al-Djebal, dem Führer der persischen Sekte
Dynamit. Zur politischen Differenz zwischen Max Frisch
der Assassinen, näher hingeschaut und erkannt, dass und Friedrich Dürrenmatt. In: Ders.: Das Kalb vor der
mit dem Epitheton er selbst gemeint sei (vgl. 168). Das Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz.
Bild vom ›Großen Alten‹ entwickelte er später weiter. München 2012, 191–207.
Nachdem der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Reich-Ranicki, Marcel: Lieber, verehrter Herr Dürrenmatt.
sich in einem Gratulationsbrief zu Dürrenmatts Ein Brief von 1981, kommentiert von Heinz Ludwig
Arnold. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 161–166.
60. Geburtstag ausgemalt hatte, wie der Autor, kon- Stingelin, Martin: Der Fluch der Dioskuren. Die mythische
frontiert mit Postsäcken voller Gratulationsbriefe und ›Arbeitskameradschaft‹ von Friedrich Dürrenmatt und
-telegramme, seinem Sekretär in Frack befiehlt, diese Max Frisch. In: CH-Lit. Mitteilungen zur deutschsprachi-
ungelesen verbrennen zu lassen, griff dieser das Bild gen Literatur der Schweiz 13 (2005), 5–7.
im Roman Durcheinandertal auf in der Figur des Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt ermordet einen Papp-
kameraden. Striche und Streiche im Spätwerk Dürren-
Gangsterchefs, des »Großen Alten«, der aussah wie
matts. In: Lucas Marco Gisi, Hubert Thüring, Irmgard M.
»der Gott des Alten Testaments ohne Bart« (WA 27, Wirtz (Hg.): Schreiben und Streichen. Zu einem Moment
11), der an seinem Pool liegend, säckeweise Briefe un- produktiver Negativität. Göttingen 2011, 305–323.
gelesen in den Pool kippen lässt (vgl. 91 f.). Und nach- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
dem Reich-Ranicki in seiner Zeit-Kritik vom Zürich 2020, 13–16, 557 f.
10.11.1989 diesen Roman wiederum als »metaphysi- Ulrich Weber
schen Mumpitz« abqualifiziert hatte, stellte sich Dür-
3  Politisch-kulturelle Kontexte 21

3 Politisch-kulturelle Kontexte schontseins – das unserem Lande in der Folge mehr


Schaden zufügen sollte, als damals noch zu ahnen war
Als Friedrich Dürrenmatt 1921 in Konolfingen gebo- – stellte mich endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die
ren wurde, war gerade die Weimarer Republik ge- ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erden-
gründet worden. 1935 – die Familie zog nach Bern – ken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die
herrschte in Deutschland bereits der NS-Staat. Wäh- mich nicht fanden, zu erfinden« (WA 28, 67).
rend Dürrenmatt seine Maturität machte, war über Damit war eine Tonlage gefunden, die sich von An-
Europa der Zweite Weltkrieg hereingebrochen. Die fang an von der ›Geistigen Landesverteidigung‹ ab-
Schweiz blieb eine von wenigen Friedensinseln, ge- setzte: Für den selbstgerechten Patriotismus der
prägt von der patriotischen Kultur der ›Geistigen Lan- Schweiz im und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte
desverteidigung‹, die lange über das Kriegsende hi- Dürrenmatt zeitlebens bloß Spott übrig, angefangen
naus wirksam blieb. Als Dürrenmatt sich 1945/1946 bei den bissigen Kabarettnummern von 1948, etwa
für den Beruf des Schriftstellers entschied, endete zur Flüchtlingspolitik, über das heimatliche Umfeld
nach dem Atombombenabwurf auf Japan der Zweite des Kommissärs Bärlach und die Darlegung, dass Ver-
Weltkrieg. In Europa etablierte sich eine neue Ord- schontsein kein Verdienst sei, bis zu Essays wie Zur
nung im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges Dramaturgie der Schweiz (1968/70): »Unser Davon-
zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. kommen war nicht vorbildlich, auch eine erfolgreiche
Als Dürrenmatt 1956 mit Der Besuch der alten Dame Politik hat ihre bitterbösen Seiten. Wir ließen unsere
den ersten Welterfolg lancierte, sorgte in Deutschland Opfer nicht ins Land oder schoben sie wieder über
das sogenannte Wirtschaftswunder für zunehmenden die Grenze und damit aus unserem Bewußtsein. [...]
Wohlstand und eine neue Konsumkultur nach US- [W]ir hielten an unseren Idealen fest, ohne sie unbe-
amerikanischem Vorbild. Dürrenmatts Erfolgshöhe- dingt anzuwenden [...]. Tell spannte zwar die Arm-
punkt im Jahr 1962 nach der Uraufführung der Ko- brust, doch grüßte er den Hut ein wenig – beinahe fast
mödie Die Physiker, er war gut 40-jährig, fiel in eine nicht –, und das Heldentum blieb uns erspart« (WA
der brisantesten Phasen des Kalten Krieges mit dem 34, 63 f.). Und weiter: »Zu unserem Davonkommen
Bau der Berliner Mauer, der Kuba-Krise und der US- gehört die Schuld; gerade hier erweist sich die Schweiz
amerikanischen Drohung, einen Atomkrieg zu begin- als klein, kleiner noch als auf der Landkarte. Sie sieht
nen. Als Dürrenmatt 1968/69 in Basel sein intensivs- ihre Vergangenheit nur heldisch und human, sie will
tes Theaterengagement erlebte, stand der Westen im schuldlos davongekommen sein« (69 f.).
Zeichen der Popkultur, der Studentenrevolte und neo- Dürrenmatts literarischer Aufbruch nach dem
marxistischer Utopien. Als Dürrenmatt 1973 mit Der Zweiten Weltkrieg steht im Zeichen großer Skepsis ge-
Mitmacher sein größtes Theaterdebakel erlebte und genüber allem Kollektiven und der patriotisch bis tota-
als Dramatiker abgeschrieben wurde, stand die Welt litär eingeschworenen Gemeinschaft. Mit seiner Ori-
im Zeichen der Erdölkrise; der Bericht Die Grenzen entierung am Individuum, an der Erfahrung von Frei-
des Wachstums des Club of Rome führte zur Entwick- heit in einer Situation metaphysisch-religiöser Haltlo-
lung neuer Umweltbewegungen, zur Kritik von Um- sigkeit und seiner Darstellung von Individuen, die
weltzerstörung, Mobilitätswahn und der Risiken der plötzlich aus ihrem Alltag hinausgeworfen und in eine
Atomenergie. Während der Feierlichkeiten Dürren- Grenzsituation geraten (z. B. Der Tunnel, Die Panne),
matts 60. Geburtstag 1981 am Schauspielhaus Zürich steht Dürrenmatt im Kontext markanter Zeitströmun-
fanden rund um das Theater Demonstrationen der gen wie der des Existentialismus und – etwas später –
bewegten Jugend im Zeichen einer neuen konsumkri- des absurden Theaters. Obwohl er mit Martin Heideg-
tischen Alternativkultur statt. Und als Dürrenmatt ger nichts anfangen konnte, steht er mit seiner Re-
1990 seine letzten öffentlichen Auftritte hatte, bezogen zeption der Philosophie Søren Kierkegaards und der
sich diese auf das Ende des Kalten Krieges. dialektischen Theologie Karl Barths ebenfalls in einer
Dürrenmatts Werk stand in einer ständigen Span- Traditionslinie der Existenzphilosophie. Doch hielt er
nung zwischen Bezugnahmen auf diese Strömungen sich auf Distanz zum Existentialismus. Die Werke von
und Ereignisse und einer betonten monolithischen Ei- Sartre und Albert Camus standen in seiner Bibliothek.
genständigkeit. Als initiale Erlebnisse beschreibt er in Sartres Schauspiel Der Teufel und der liebe Gott kriti-
den Stoffen die Erkenntnis der eigenen grotesk-ko- sierte er anlässlich einer Aufführung in Zürich aber als
mischen, ja lächerlichen Situation in der verschonten den »nie ganz erquickliche[n] Fall [...], daß ein Philo-
Schweiz im Januar 1945: »[D]iese Groteske des Ver- soph in steigendem Maße Theaterstücke verfertigt«

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_3
22 I  Biografie und Kontexte

(WA 31, 52). Von Sartres späterem Konzept einer ›litté- rung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen
rature engagée‹ und seiner Wendung zum Marxismus durch die USA und die Sowjetunion, die die jewei-
distanzierte sich Dürrenmatt ebenso klar wie von der ligen Hauptstädte der Gegnermacht direkt hätten er-
brechtschen Lehrstück-Dramatik. Näher musste ihm reichen können. Das Stück Die Physiker, das die – un-
Camus liegen. Obwohl Dürrenmatt den Begriff als vermeidliche – zerstörerische Ausbeutung der natur-
Verneinung der Möglichkeit von Sinn für sich ablehn- wissenschaftlichen Erkenntnisse durch die Macht ver-
te, besteht doch eine Affinität zwischen Camus’ Begriff handelt, hatte seinen überwältigenden Erfolg auch
des Absurden (verstanden als einer Disproportion seiner brisanten Aktualität zu verdanken. Die atomare
zwischen menschlichem Ordnungsbedürfnis und ei- Bedrohung war das politische Thema; in der Schweiz
ner Welt, die sich menschlichen Deutungsversuchen fand wenige Wochen vor der Uraufführung des Stücks
entzieht) und Dürrenmatts Bild einer labyrinthischen eine Volksabstimmung darüber statt, ob eine atomare
Welt. Zudem gibt es auch eine gewisse Nähe zwischen Aufrüstung verboten werden sollte. Trotz des Engage-
Camus’ Mythos des Sisyphus mit seiner Betonung der ments Dürrenmatts und anderer Intellektueller
individuellen Rebellion und Dürrenmatts labyrinthi- stimmte das Volk gegen die Vorlage. Neben dem Risi-
schem Weltverständnis mit seiner Konzeption des ko der Eskalation der Stellvertreterkriege in der zwei-
›mutigen Menschen‹ (vgl. Burkard 1991). ten und dritten Welt zu einem atomaren Weltkrieg be-
Auf weltpolitischer Ebene war das Ende des Zwei- stand dasjenige eines atomaren Infernos durch Zufall
ten Weltkriegs zugleich der Beginn des Kalten Krie- oder Unfall. Es gab während der Phase des Kalten
ges. War der Bau der Atombombe von den USA aus Kriegs rund 1200 schwere Atomunfälle, was Dürren-
Furcht vor einer deutschen Atombombe forciert wor- matts Dramaturgie des Unfalls (vgl. WA 30, 203–205)
den, so stand deren Realität am Ausgangspunkt der und der Panne (vgl. WA 21, 37–39) in einen konkreten
Konfrontation zwischen zwei politischen Systemen: historischen Kontext stellt. Das ›Gleichgewicht des
einem grundsätzlich liberalen Kapitalismus unter der Schreckens‹, die angeblich friedenssichernde Dimen-
Schirmherrschaft der USA und einem totalitären So- sion der riesigen Waffenarsenale, hing wiederholt an
zialismus, dominiert von der UdSSR. Diese Bipolari- seidenem Faden.
tät bestimmte die ganze Epoche, in der Dürrenmatt Auch wenn Dürrenmatt die Einhaltung der Men-
schrieb, und prägte auch maßgeblich die politische schenrechte und Gedankenfreiheit als Grundvoraus-
Dimension seines Werks. setzungen jeder politischen Ordnung und diese nur
Der Kalte Krieg war durch eine unvorstellbare Auf- in demokratischen Strukturen gewährleistet sah, auch
rüstungsdynamik der konkurrierenden Supermächte wenn er, im Gegensatz zu vielen anderen europäi-
geprägt, die den technischen Fortschritt beflügelte. schen Intellektuellen seiner Zeit, den Marxismus nie
Schon im März 1946 prägte Winston Churchill das als ein taugliches politisch-wissenschaftliches Ge-
Wort des ›Eisernen Vorhangs‹, der sich quer durch schichtsmodell verstand, sondern als Religion be-
Europa ziehe. Die oberste politische Maxime der USA zeichnete, nahm er in seinem Werk mehrheitlich die
war die Eindämmung der weltweiten Ausbreitung des Position eines Diagnostikers und Beobachters der Dy-
Kommunismus. Immer wieder kam es zu Stellvertre- namiken der beiden Systeme und ihrer Konfrontation
terkriegen mit riesigen Verlusten – der größte 1953 in ein. In Der Besuch der alten Dame schrieb er ein
Korea, bei dem mehrere Millionen Menschen dem Gleichnis auf die Dominanz des Geldes, das im Osten
Machtkampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus teilweise als ›Totentanz des Kapitalismus‹ begrüßt
zum Opfer fielen. Bereits dieser Krieg drohte zum wurde; in Der Sturz stellte er auf der andern Seite den
neuen Weltkrieg zu eskalieren. Dürrenmatt schrieb selbstbezogenen politischen Leerlauf eines totalitären
vor diesem Hintergrund sein Hörspiel Der Prozeß um Herrschaftskollektivs dar, was zum Verbot des Textes
des Esels Schatten, bei dem die Stadt Abdera – stellver- in den sozialistischen Ländern führte; im Monster-
tretend für die Welt – einem zunächst lächerlichen vortrag über Gerechtigkeit und Recht schließlich ana-
Streit zwischen einem Eselvermieter und -mieter zum lysierte er aus distanzierter Perspektive die politischen
Opfer fällt und schließlich von den Bewohnern in Systeme zwischen den Polen Freiheit und Gerechtig-
Brand gesetzt wird. keit als ›bürgerliches Wolfs-‹ und sozialistisches ›Gu-
1956 und 1962 drohte der Kalte Krieg erneut zu es- te-Hirte-Spiel‹.
kalieren, 1956 mit dem (von der Sowjetunion und ih- Der Rüstungswettkampf stand auch im Hinter-
ren Verbündeten brutal niedergeschlagenen) Ungarn- grund des Wettlaufs um die Eroberung des Welt-
aufstand und der Suezkrise, 1962 mit der Stationie- raums, der Dürrenmatt ebenso faszinierte, wie er ihn
3  Politisch-kulturelle Kontexte 23

– gerade angesichts der weltweiten Bevölkerungs- Sowjetunion in Prag 1968 zwanzig Jahre lang gewei-
explosion – als neue »Verführung des Menschen« gert hatte, nach Russland zu reisen. Er starb ein Jahr
skeptisch stimmte: »Daß der Papst im gleichen Jahre, nach dem Fall der Berliner Mauer, keineswegs eupho-
da er vor dem Bildschirm die Mondlandung segnete, risch das Ende der Geschichte erwartend wie der da-
die Pille verbot, symbolisiert die Katastrophe, der wir, malige Trend-Philosoph Francis Fukuyama: Dürren-
schneller als den Sternen, entgegeneilen« (WA 33, matt machte sich Sorgen über das explosive Potential
31 f.). Der Himmel verführte, »ihn zu erobern, statt der deutschen Wiedervereinigung, wies auf die Ge-
das, was uns allein gehört, vernünftig zu gestalten: un- fahren des religiösen Fundamentalismus hin, war
sere Erde. Es gibt keine andere Heimat, und jeder skeptisch gegenüber der Euphorie des Triumphs des
Fluchtversuch ist eine Utopie. Der Weltraumflug hat liberalen Westens angesichts der ökologischen Risi-
nur dann einen Sinn, wenn wir durch ihn die Erde ken. Er glaubte auch jetzt nicht an einen kontinuierli-
entdecken und damit uns selber. Am 20. Juli 1969 bin chen Fortschritt der politischen Aufklärung. Gab es
ich wieder ein Ptolemäer geworden« (32). für ihn in Technik und Naturwissenschaft eine un-
Dürrenmatt machte sich zunehmend Sorgen um umkehrbare und unaufhaltsame Entwicklungsdyna-
die Ressourcenverschwendung und Umweltzerstö- mik – »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr
rung in einer ›Risikogesellschaft‹ (Ulrich Beck). Plas- zurückgenommen werden« (WA 7, 85) –, so blieb für
tisch schildert er etwa die Leerung eines Tankwagens ihn das politische Geschehen eher von Zyklen wech-
in der idyllisch gelegenen Deponie in einem Stein- selnder Machtkonstellationen geprägt, die mehr oder
bruch am Jurahang oberhalb seines Hauses: »Es war, weniger große Oasen der friedlichen Koexistenz und
als ob ein Dinosaurier an Durchfall litte: Die Scheiße Lebensorganisation ermöglichten. Auch in seiner
prasselte in einen schwarzen öligen See, besät mit Plas- letzten Rede, einen Monat vor seinem Tod gehalten,
tikflaschen. [...] Was die Straßenarbeiter aus der Kana- blieb sein Grundton apokalyptisch: »[W]ie das Weltall
lisation oder aus den Senklöchern pumpten, kam in expandiert auch die Menschheit, in absehbarer Zeit
dieses anrüchige Riesenloch hinein, [...] früher auch wird sie zehn Millarden [sic] Menschen zählen. Wir
die Heizölrückstände, die noch jetzt nicht versickert bauen uns eine technische und ökologische Katastro-
waren. Langsam sinterte diese dunkle Dreckbrühe phenwelt auf. Die Galaxis der Armut droht die unsere
zwischen den Felsschichten hinab, auf denen weiter des Wohlstands zu durchdringen, die freie Marktwirt-
unten mein Wohn- und Arbeitshaus standen, und fraß schaft beschwört Krisen herauf [...]. Aber eine furcht-
sich dem See entgegen, an dessen Steinhängen und lose Vernunft ist das einzige, was uns in der Zukunft
aufgeschütteten Ufern die Stadt liegt« (WA 36, 53). zur Verfügung steht, diese möglicherweise zu beste-
Die bipolare Konstellation des Kalten Krieges steht hen, uns [...] am eigenen Schopfe aus dem Untergang
auch noch im Hintergrund von Dürrenmatts letztem zu ziehen« (WA 36, 208 f.).
Stück, Achterloo, wo er angesichts der polnischen
Konflikte 1981 um die Gewerkschaft Solidarnóscz Literatur
Burkard, Martin: Dürrenmatt und das Absurde. Gestalt und
und der Ausrufung des Kriegsrechts die Frage nach Wandlung des Labyrinthischen in seinem Werk. Bern u. a.
dem richtigen politischen Handeln stellt. Er verfolgte 1991.
das weltpolitische Geschehen aufmerksam und nahm Centre Dürrenmatt Neûchatel (Hg.): Phantasie der Wissen-
im Kontext der in den Weltraum führenden US-ame- schaften. L ’ imaginaire des sciences. Neuchâtel 2017
rikanischen Rüstungsprogramme der 1980er Jahre an (Cahier 15).
Fischer, Michael: »Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das
Fernsehdiskussionen über deren Risiken teil. Die
Rauchen nicht verboten ist.« Friedrich Dürrenmatts poli-
Konstellation der Supermächte löste sich gegen Ende tisches Denken im Kalten Krieg. Diss. Universität Lau-
der 1980er Jahre auf. Dürrenmatt begrüßte die Ent- sanne 2020.
wicklungen in der Sowjetunion unter Michail Gorbat-
schow, nachdem er sich nach dem Einmarsch der Ulrich Weber
24 I  Biografie und Kontexte

4 Freundschaften spielern und Regisseuren (s. Kap. 5), doch war er –


sieht man von der Freundschaft mit Max Frisch ab –
Dürrenmatt war ein sehr geselliger Mensch, der mit nicht sonderlich erpicht auf Freundschaften mit Auto-
seinem Humor, seiner Gemütlichkeit, seinem Charis- renkollegen. Es blieb mehrheitlich bei sporadischen
ma und seiner Erzählfreude ein gern gesehener Gast freundschaftlichen Kontakten (Paul Celan, Eugène
und ein großzügiger Gastgeber war. Zu seinen Ge- Ionesco, Carlos Fuentes, Arthur Miller oder Günter
burtstagen und zum Schweizer Nationalfeiertag am Grass) oder eher distanzierten Gelegenheitsbegeg-
1.  August pflegte er stets Gäste um sich zu scharen. nungen (Bertolt Brecht, Samuel Beckett oder Jean-
Doch auch der Alltag in Neuchâtel mit Frau und drei Paul Sartre). Auch wenn er einzelne Freundschaften
Kindern war in den 1950er und 1960er Jahren kaum je zu Schweizer Autoren pflegte (s. Kap. 7), Ludwig Hohl
von Kleinfamilienatmosphäre geprägt: Ständig waren und Paul Nizon finanziell unterstütze und ein paar
Gäste da, Schauspielerinnen und Schauspieler, Regis- Jahre in intensivem Kontakt mit dem israelischen Au-
seure, Komponisten, Übersetzerinnen und Übersetzer, tor Tuvia Rübner stand (vgl. ebd., 428–433), blieb
Journalistinnen und Journalisten. Dürrenmatt war Dürrenmatt im Literaturbereich ein Einzelgänger. Die
stets offen dafür, die beruflich bedingten Begegnungen Gründe, weshalb er keine weitläufigen Dichterfreund-
in gesellige Abende mit nächtelangen Diskussionen schaften pflegte, sind leicht am Charakter seiner (sel-
ausufern zu lassen. Auch wenn es in den 1970er und tenen) Briefe abzulesen: Er war zu sehr in seinen eige-
1980er Jahren ruhiger um ihn wurde und Gefühle von nen Kosmos verstrickt, zu sehr auf sein eigenes Schaf-
Einsamkeit aufkamen, gab es immer noch solche fen bezogen, um sich gedanklich wirklich auf einen
Abende. Der Publizist Heinz Ludwig Arnold erinnert Dialog mit anderen zeitgenössischen Autoren ein-
sich etwa, wie er mühsam, mit Verzögerung und Hart- zulassen.
näckigkeit am 7.3.1973 um 15 Uhr zu einem ersten In- Etwas anders sah die Sache bei bildenden Künst-
terviewtermin kam. Kaum hatte er jedoch diese hohe lerinnen und Künstlern aus. Die Begegnung mit dem
Hürde überwunden, war Dürrenmatt sehr offen: Die Maler Walter Jonas war 1942/43 ein entscheidender
beiden kamen spontan ins Gespräch, Dürrenmatt ins Impuls für seine Entwicklung. Eng war die Freund-
Erzählen, ohne Rücksicht auf das Tonband. »In diesem schaft mit der Textilkünstlerin Elsi Giauque, als die
Gespräch erlebte ich Dürrenmatt zum ersten Male, Familie von 1949–1952 bei ihr auf der ›Festi‹ Ligerz
und gleich so unverstellt, ohne eine Rolle nach außen, wohnte. Dürrenmatt, der selbst eine Vielzahl von kari-
dem Interviewer gegenüber [...]. Als es draußen schon katuristischen Zeichnungen herstellte, war ein Lieb-
dämmerte, begannen wir endlich, auf Band zu spre- haber von Cartoons, und so schrieb er auch Geleit-
chen, um wenigstens noch etwas zu ›arbeiten‹ [...]. texte zu Cartoon-Büchern im Diogenes Verlag und
Aber die Pflicht allein trieb mich nicht mehr sonder- freundete sich dabei – vermittelt durch Verleger Da-
lich an« (Arnold 1998, 10–13). Das Gespräch wurde niel Keel – mit Paul Flora und Tomi Ungerer an. Er
gegen Abend durch einen Termin mit Dürrenmatts verkehrte mit dem Bildhauer Hans Aeschbacher und
Anwalt Horace Mastronardi unterbrochen, man traf schrieb auf der Grundlage von persönlichen Begeg-
sich anschließend zu dritt wieder im Restaurant zum nungen über Künstler wie Hans Falk, Eric Fischer und
Abendessen. Nachdem sich Mastronardi verabschie- Jef Verheyen. Geradezu eine Wahlverwandtschaft ver-
det hatte, wurde das Gespräch bei altem Wein bei Dür- band ihn mit dem Maler Varlin (Willy Guggenheim,
renmatt zuhause weitergeführt bis in die frühen Mor- 1900–1977), den er 1962 kennenlernte. Er sammelte
genstunden hinein. »Immer mehr erscheint mir vieles dessen Bilder – allen voran die Heilsarmee, ein monu-
an Dürrenmatt als das, was landläufig ›barock‹ heißt: mentales Bild von sieben Metern Breite, das zwanzig
die Figur, die Freude am Essen und Trinken; wie sich Jahre lang die Wand neben Dürrenmatts Schreibtisch
herausstellen wird: an ausschweifenden Gesprächen; einnahm. Er fühlte sich Varlins Werk, in dem er ein
überhaupt am Auskosten, Zur-Neige-Trinken« (zit. ebenso humorvolles wie ungeschöntes individualisti-
nach Weber 2020, 413). Zahlreiche Zeugnisse anderer sches Existenzverständnis verkörpert sah, zutiefst ver-
passen zu dieser Schilderung; auch die erste Begeg- bunden und flocht es wiederholt in eigene Fiktionen
nung Dürrenmatts mit seiner zweiten Frau Charlotte ein (Der Winterkrieg in Tibet, Der Auftrag). Er ließ sich
Kerr in der Wohnung von Maximilian Schell verlief auch wiederholt von Varlin porträtieren, schrieb meh-
ähnlich endlos (vgl. ebd., 490 f.). rere Aufsätze für Ausstellungskataloge und Werk-
Dürrenmatt hatte von seinen ersten Bühnenerfah- monografien und ließ sich die kleinen, sarkastischen
rungen 1947 bis ca. 1970 viele Freunde unter Schau- Bosheiten Varlins gefallen.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_4
4 Freundschaften 25

Waren die Kontakte zu seinen Berufskollegen eher ehrung diese einfachsten Leute, Zeitungsverkäufer
die Ausnahme, so war der Berufskreis der – mehrheit- und Straßenhändler, über Dürrenmatt reden. Sie
lich männlichen, in der Schweiz ansässigen – Per- scheinen ihn alle zu kennen und grüßen ihn mit Freu-
sonen, mit denen Dürrenmatt phasenweise oder län- de, wenn er mit seinem Hund durch die Straßen
gerfristig lockeren oder intensiven freundschaftlichen walzt« (zit. nach Weber 2020, 104).
Umgang pflegte, umso weiter: Angefangen mit frühen Die Kehrseite der intensiven Freundschaftspflege
Freundschaften zum Altphilologen Eduard Wyss, den und Geselligkeit war, dass sie oft Kränkungen und
Germanisten Bernhard Böschenstein und Walter Verletzungen hinterließ, wenn Dürrenmatt – stets
Muschg, der Musikerin Antoinette Vischer, dem His- sein Werk als wichtigste Lebensaufgabe vor Augen –
toriker Markus Kutter und dem Biochemiker Hans schwieg oder sich zurückzog. Der Komponist Gott-
Noll sowie dessen Bruder, dem Rechtswissenschaftler fried von Einem beispielsweise, mit dem Dürrenmatt
Peter Noll, ergibt sich ein breiter gesellschaftlicher Fä- für die Oper Der Besuch der alten Dame zusammen-
cher; es folgen der Physiker Marc Eichelberg und der arbeitete und von dem über 70 Briefe im Nachlass zu
Astronom Fritz Zwicky, Regisseure wie Hubert Gi- finden sind, beklagt, dass Dürrenmatt nie schriftlich
gnoux und Erich Holliger sowie dessen Bruder, der geantwortet und nur selten zum Telefon gegriffen habe.
Musiker und Komponist Heinz Holliger, weiter der Und bei Umbrüchen in seinem Leben – etwa nach
Rocker ›Tino‹ (Martin Schipper), Filmemacher wie Abbruch des Studiums 1946 und der Wiederheirat
Erwin Leiser, Maximilian Schell und Ludy Kessler, der 1984 – ließ Dürrenmatt ganze Freundeskreise hinter
Wirt und Kunstsammler Hans Liechti, der Historiker sich. Trotzdem hielten sich einige Freundschaften
Jean Rudolf von Salis, der Kunstkritiker Manuel Gas- über die Jahrzehnte: Seine letzte geplante Weltreise
ser, die eigenen Anwälte Horace Mastronardi und Pe- sollte auch zu Hans Noll nach Hawaii führen, mit dem
ter Nobel, der Jurist Veit Wyler, die Verleger Peter er seit der Studienzeit verbunden war. Und noch den
Schifferli und Daniel Keel, Dürrenmatts Vertrauens- letzten Abend am 13.12.1990 verbrachte Dürrenmatt
arzt Fred Schertenleib, der Unternehmer François in schier endlosen Gesprächen mit seinem alten Phy-
Loeb, der Psychiater Otto Riggenbach und der Philo- sikerfreund Marc Eichelberg, den er 1954 kennenlern-
soph Samuel Gagnebin – und viele nicht näher be- te (vgl. ebd., 573–576).
zeugte Freundschaften lassen sich erahnen, wenn wie-
der ein Manuskript oder eine Zeichnung aus Privat- Literatur
Arnold, Heinz Ludwig: Querfahrt mit Friedrich Dürren-
besitz auftaucht, die Dürrenmatt einst verschenkt hat-
matt. Aufsätze und Vorträge. Zürich 1998.
te. Die schmale Korrespondenz steht in keinem Loetscher, Hugo: Friedrich Dürrenmatt – labyrinthische
Verhältnis zu seinem schier unüberblickbaren Freun- Erinnerungen. In: Ders.: Lesen statt klettern. Aufsätze zur
deskreis; er schrieb ungern Briefe, die ihm keineswegs literarischen Schweiz. Zürich 2003, 282–375.
leicht aus der Feder flossen. Sein Medium der Freund- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
schaft war das Gespräch. Wenn die hier skizzierte Pa- Biographie. Zürich 2011, 293–307, 355–360, 437–443,
628–630.
lette sich auf akademisch ausgebildete Personen kon- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
zentriert, so hatte Dürrenmatt als Kneipengänger vor Zürich 2020.
allem in den frühen Jahren auch stets einen guten
Draht zu Handwerkern und Bauern. Und Hans Noll Ulrich Weber
beschreibt 1948 in Basel, »mit welcher Liebe und Ver-
26 I  Biografie und Kontexte

5 Theater »An ihre Stelle muß die Intensität treten« (ebd.). War
die Arbeit am Schauspielhaus Zürich stets von gro-
Zu Beginn seiner Karriere wechselte Dürrenmatt zwi- ßem Zeitdruck und viel Improvisation geprägt, so er-
schen den Theatern in Basel und Zürich hin und her, lebte Dürrenmatt mit der Inszenierung von The Visit,
die einerseits personell eng verflochten waren, ande- der englischsprachigen Bearbeitung des Besuchs der
rerseits in einem Konkurrenzverhältnis standen. alten Dame, in der Inszenierung von Peter Brook ein
Wichtiger war die Tatsache, dass Kurt Horwitz, der ganz anderes Modell: einen Perfektionismus des ab-
nach Jahren am Zürcher Schauspielhaus seit 1946 das gesicherten Publikumserfolgs, wie er im deutschen
Theater Basel leitete, die Förderung des jungen Dra- Sprachraum zu dieser Zeit nicht existierte. Eine Pro-
matikers zu seiner persönlichen Sache machte. Nach- duktionsfirma leitete das Unternehmen, ganze Tour-
dem die Ablehnung seines vierten Stücks, Die Ehe des neen durch den angelsächsischen Sprachraum fanden
Herrn Mississippi, zu einer Krise zwischen Horwitz statt, bevor das Stück am Broadway in New York Pre-
und Dürrenmatt führte, fand der Autor – vermittelt miere hatte.
durch den Bühnenbildner Teo Otto – 1952 mit dem Theaterstücke zu schreiben, war für Dürrenmatt
Intendanten Hans Schweikart an den Münchner nicht eine rein literarische Tätigkeit, sondern ein
Kammerspielen einen Regisseur, der über anderthalb kollektiver Prozess: »Malt ein Maler für die Farbe?
Jahrzehnte jedes neue Stück selbst inszenierte, als Ur- Er malt, weil es Farben gibt. Die Farben sind seine
aufführung oder deutsche Erstaufführung. Trotzdem Möglichkeit, sich auszudrücken. Ich schreibe, weil es
blieb Dürrenmatt gegenüber Schweikart auf Distanz, Schauspieler gibt, weil die Schauspieler meine Mög-
zumal er sich bereits durch dessen zweite Inszenie- lichkeit sind, mich auszudrücken. [...] Ein Schauspie-
rung, Ein Engel kommt nach Babylon, völlig missver- ler ist mehr als ein Rollenträger, er ist ein Mensch auf
standen fühlte. Spätestens mit Der Besuch der alten der Bühne. [...] Die Bühne ist durch den Schauspieler
Dame fand Dürrenmatt am Schauspielhaus Zürich ei- mehr als Literatur« (WA 30, 141 f.). Diese Worte
ne feste Theaterheimat. Die Arbeit mit Schauspiele- schrieb Dürrenmatt 1967, in einer Zeit, als ihm die
rinnen und Schauspielern wie Therese Giehse, Maria Heimat am Schauspielhaus Zürich allmählich abhan-
Becker, Ernst Schröder oder Gustav Knuth, die Dis- den gekommen war.
kussion mit Schauspieler-Regisseuren wie Horwitz Nach der kontinuierlichen Auflösung des alten En-
(der später als Gastregisseur und -schauspieler nach sembles am Schauspielhaus Zürich erlebte Dürrenmatt
Zürich zurückkehrte), Ernst Ginsberg und Leonard 1968/69 noch einmal ein Jahr intensivster Theater-
Steckel, mit dem Bühnenbildner Teo Otto und im arbeit am Basler Theater in Co-Direktion mit Werner
Hintergrund mit dem Chefdramaturgen und späte- Düggelin. »Wenn man älter wird, sucht man ein Zu-
ren Direktor Kurt Hirschfeld waren für ihn ein ele- hause, und ein Theater ist eben ein Zuhausesein« (zit.
mentarer Bestandteil seiner kreativen Arbeit. Für nach Weber 2020, 323), erklärte er in einem Interview.
Dürrenmatt war dieser enge Kontakt, der ihm bei der Es waren für ihn glückliche Monate. War bereits König
Realisierung viel Spielraum und Mitsprachemöglich- Johann das Resultat enger Zusammenarbeit mit Regis-
keit bot, existentiell. Er konnte, wie er immer wieder seur Düggelin und seinem Team, so entstand die To-
erklärte, ein Stück nicht in eine gültige Form bringen, tentanz-Bearbeitung Play Strindberg – Dürrenmatts
ohne es auf der Bühne zu sehen. In der Regel gab er letzter großer Theatererfolg – gar ohne festen Text. Aus
vor Probenbeginn eine erste provisorische Fassung ab einer geplanten Strindberg-Inszenierung wurde im di-
und erschrieb sich die gültige Version – insbesondere rekten Austausch mit der Darstellerin und den zwei
den Schluss seiner Stücke – erst im Verlauf der Pro- Darstellern und dem Co-Regisseur zugleich Inszenie-
benarbeit. Die Arbeit an den jeweiligen Stoffen ging rung und Stücktext erarbeitet (vgl. Holliger 1996).
jedoch über die Uraufführung hinaus, er reagierte auf Nach dem Eklat in Basel (s. Kap. 1) hatte Dürren-
die Wirkung der aufgeführten Fassung und bearbei- matt zwar bald darauf wieder eine Art ›Heimbühne‹
tete sie oft erneut für die Buchpublikation und weitere am Schauspielhaus Zürich (bis 1983 mit Achterloo),
Aufführungen (für die wiederum das Schauspielhaus inszenierte dort mehrfach und stand gar als Direktor
Zürich Hand bot). Insofern war die Inszenierung in zur Diskussion, doch fehlte ihm dort die feste ›Fami-
den Entstehungsprozess der Stücke einbezogen. Das lie‹ mit Regisseuren und Schauspielern, die sich kon-
Schauspielhaus Zürich verstand er – mit seinen zwan- tinuierlich auf seine neuen Werke einließen. Es war je-
zig Premieren pro Saison – als »schnell atmende Büh- doch nicht nur das Fehlen eines eigenen Ensembles,
ne« (WA 30, 19), bei der Perfektion unmöglich sei. das ihm nun den Zugang zur Bühne und die Ausarbei-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_5
5 Theater 27

tung seiner Stücke erschwerte: Die Theaterszene hatte Theater [s]einer Einbildungskraft« (WA 15, 14) oder
sich in den 1960er Jahren so grundsätzlich weiterent- tingelte, wie im Fall der Komödienfassung von Die
wickelt und verwandelt, dass Dürrenmatt trotz aller Panne (1979), mit einem Tourneetheater durchaus er-
Experimente mit neuen Stücken nicht mehr den An- folgreich durch die Provinz.
schluss fand.
Mit dem Dokumentartheater und einer Politisie- Literatur
Amrein, Ursula: Irritation Theater. Max Frisch und das
rung in revolutionärem Geist entfernte sich das Schauspielhaus Zürich. Zürich 2013.
deutschsprachige Theater schon um 1968 von Dür- Holliger, Erich: Wie viele Runden hat ein Boxkampf? Erich
renmatts Parabeln. Als Theaterautor, der sich mit sei- Holliger im Gespräch mit Ernst Buchmüller. In: Play Dür-
nen Stücken in kritisch-parodistischer Abgrenzung renmatt. Zürich 1996, 228–230.
von dramatischer Komposition und Fabel leiten ließ, Kröger, Ute/Exinger, Peter: »In welchen Zeiten leben wir?«
Das Schauspielhaus Zürich 1938–1998. Zürich 1998.
hatte er in den Entwicklungen des postdramatischen
Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
und regiezentrierten Theaters, die ab Ende der 1960er Biographie. Zürich 2011, 682–707.
Jahre zunehmend das Theaterleben im deutschen Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Sprachraum prägten, keinen Platz mehr. So schrieb er Zürich 2020, 181 f., 329–344, 447–451.
seine Stücke, wie er in der Einleitung zu Die Frist
Ulrich Weber
(1977) notiert, »für eine imaginäre Bühne«, »für das
28 I  Biografie und Kontexte

6 Verlage die beiden Bärlach-Kriminalromane, nicht bei Arche.


Als Taschenbücher wurden sie ab 1959 bei Rowohlt zu
Dürrenmatts literarische Karriere als Buchautor wur- millionenfach verkauften Longsellern. Die übrigen
de weitgehend durch Schweizer Verlage geprägt: Die Werke erschienen bis 1978 hingegen praktisch aus-
ersten sieben Buchpublikationen bis 1952 erschienen nahmslos bei Arche.
in sieben verschiedenen Kleinverlagen. Dazu brachte Bei allen Mängeln wie dem Fehlen eines Lektorats
der Basler Theaterverlag Reiss (bzw. in Deutschland und der Unerfahrenheit des Verlegers war der Arche
Bloch Erben) von Anfang an sämtliche Theatertexte Verlag in den frühen 1950er Jahren eine gute Wahl.
für den Bühnengebrauch in Umlauf. Schifferli wurde zu einem der innovativsten Verleger
Ab 1952 wurde der Arche Verlag zu Dürrenmatts im deutschen Sprachraum, er brachte mit Neueditio-
Hausverlag, 1979 wechselte er zum Diogenes Verlag. nen und Anthologien die Dada-Bewegung und Ex-
Dürrenmatt wurde zwar immer wieder von deutschen pressionisten wie Jakob van Hoddis oder Walter Meh-
Verlegern umworben, doch war ihm die räumliche ring wieder ins Gespräch. Neben den Theaterwerken
und menschliche Nähe wichtig; er gewichtete sie hö- und Romanen Dürrenmatts druckte er in schmucken
her als den Nachteil des teilweise erschwerten Zu- Bänden der Reihe Die kleinen Bücher der Arche – oft il-
gangs zum deutschen Markt. lustriert – auch Dürrenmatts Hörspiele, Erzählungen
Der Arche Verlag war 1944 vom Studenten Peter und Reden.
Schifferli in Zürich gegründet worden und verstand Die 1960er Jahre waren für Dürrenmatt eine der-
sich durchaus als Rettungsboot für deutsche Autoren art intensive Theaterzeit, dass er sich nur am Rande um
zur Zeit des Zusammenbruchs des Nationalsozialis- Fragen der Buchpublikationen, geschweige denn ih-
mus und des Neubeginns des Verlagswesens: Er profi- res Lektorats und Vertriebs, kümmerte. Doch in den
lierte sich rasch mit der Publikation von Autoren der 1970er Jahren, als er als Dramatiker aus der Mode kam,
sogenannten inneren Emigration wie Werner Bergen- mit Aufführungen kaum mehr Aufmerksamkeit er-
gruen, Ernst Wiechert und Gottfried Benn. Dem Logo zeugte und die Aufführungstantiemen weniger reich-
des Verlags entsprechend – ein Schiff, dessen Mast ein lich flossen, spitzte sich die Situation zu: Dürrenmatt
Doppelkreuz bildet – wies das Programm in den ers- konstatierte im Dezember 1973: »Ich lebe zum größten
ten Jahren eine starke religiöse Tendenz auf; so er- Teil von meinen alten Arbeiten. [...] Was meine Bücher
schienen auch theologische Texte von Hans Urs von betrifft, bin ich noch nie offiziell auf einer deutschen
Balthasar, Thomas von Aquin und Kardinal John Hen- Bestsellerliste gewesen. Daher erstaunt es mich eigent-
ry Newman. lich, was ich mit meinen Büchern verdiene, besonders
Der Erzählband Die Stadt, der 1952 als Dürren- wenn ich bedenke, wie wenig meine letzten Werke [...]
matts erstes Buch beim Arche Verlag erschien, passt in besprochen worden sind« (ebd., 105).
weitem Sinn in dieses religiöse Umfeld. Die Erzählun- Es war gewiss nicht zuletzt die Passivität Schifferlis
gen Weihnacht und Pilatus bilden dessen Anfangs- bei der Promotion im Buchhandel, die dazu beitrug,
und Endtext. Allerdings war Dürrenmatts Entschei- dass auch für Dürrenmatt so kapitale Werke wie die
dung für diesen Verlag nicht dem religiösen Kontext, Zusammenhänge (1975) und der Mitmacher-Komplex
sondern freundschaftlichen Kontakten geschuldet: (1976) fast unbemerkt von der Öffentlichkeit erschie-
Kurt Horwitz, der selbst bei Arche eine Anthologie nen. In der Arche-Abrechnung für die erste Jahreshälf-
von Georg Trakl-Gedichten herausgab, wies Schifferli te 1978 vom 1.9.1978 figurieren zwar beispielsweise
auf seinen Protegé Dürrenmatt hin. Dieser erzählte 25.058 verkaufte Exemplare von Der Besuch der alten
1973 im Rückblick: Schifferli »war ein Anfänger, und Dame und 29.395 von Die Physiker, die in der Zwi-
ich war einer. Ich erinnere mich noch an einen Nach- schenzeit zum Lektürekanon der Mittelschulen gehör-
mittag in einem Gartenrestaurant. Er besaß die Mittel ten, aber nur 855 vom jüngsten Stück Die Frist (1977)
nicht, mir einen Vorschuß zu geben, den ich dringend und 487 vom Mitmacher-Komplex. Der keine drei Jah-
benötigte. Deshalb beschlossen wir, meine Kriminal- re zuvor publizierte große Israel-Essay Zusammenhän-
romane bei Benziger herauszugeben. Danach bin ich ge verkaufte sich in dieser Periode gerade 172 Mal (vgl.
endgültig beim Arche Verlag geblieben. Peter Schiffer- Weber 2015, 118, Anm. 32). Der Arche Verlag ent-
li hat immer alles gedruckt, was ich schrieb, manch- wickelte kaum Aktivitäten in Marketing und Verkauf
mal vielleicht etwas voreilig. Probleme gab es zwi- in Deutschland; es fehlte an Vertretern und weit-
schen uns nie« (G 2, 104). So erschienen ausgerechnet gehend auch an Werbung für den Autor. Dürrenmatt
zwei der erfolgreichsten Publikationen Dürrenmatts, musste zunehmend den Eindruck gewinnen, dass sich

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_6
6 Verlage 29

der Verlag mit den alten Erfolgsstücken auf seine Kos- stieg: 1981 wurden von rund 50 Mitarbeitenden 169
ten über Wasser hielt. (Als Regina Vitali und Elisabeth neue Titel produziert. Beim Arche Verlag waren es in
Raabe den Arche Verlag wenige Jahre nach Dürren- den Jahren um 1980 jeweils gut zwanzig Titel.
matts Abgang übernahmen, konnten sie in kurzer Zeit 1980 unterzeichnete Dürrenmatt einen General-
die Präsenz im deutschen Buchhandel um 80 Prozent vertrag, der Diogenes die ausschließlichen Rechte an
erhöhen.) seinem neu entstehenden Werk gegen eine höhere
Zwischen 1978 und 1980 wechselte Dürrenmatt Tantieme einräumte, die zum Teil, einer Festanstel-
daher in mehreren Etappen zum Diogenes Verlag. Der lung gleichend, monatlich als fixer Vorschuss in der
Kontakt war nicht neu: Schon 1952 hatte der Jungver- Höhe eines gut mittelständischen Lohnes ausbezahlt
leger Daniel Keel Dürrenmatt um ein Vorwort zum wurde. Der Vertrag war auf zehn Jahre angesetzt, der
ersten Diogenes-Buch überhaupt gebeten, Ronald Se- Autor hatte in dieser Zeit nur die Möglichkeit, bei Ein-
arles Cartoon-Band Wem noch das Lämpchen glüht. stellung der Zahlungen den Vertrag zu kündigen, der
Seither war Keel ein Bewunderer Dürrenmatts, hatte Verlag verpflichtete sich seinerseits, alles zu drucken,
1963 den satirischen Bildband Die Heimat im Plakat was Dürrenmatt zu publizieren wünschte.
in bibliophiler Aufmachung publiziert und 1978 – pa- Schon der Start der neuen Bindung war aufsehen-
rallel zu einer Ausstellung in seiner Zürcher Galerie – erregend: Rechtzeitig zu Dürrenmatts 60. Geburtstag
den ersten großen Bildband zum künstlerischem erschien Ende 1980 eine neue Werkausgabe in 30 Bän-
Werk. Dazu druckte Diogenes 1978 Lizenzausgaben den, die formell eine Kooperation von Arche und Dio-
der Kriminalromane Der Richter und sein Henker und genes war, de facto aber vom Diogenes Verlag produ-
Der Verdacht, die Dürrenmatt das Potential dieses ziert wurde. Im Herbst 1981 folgte der erste Band der
Verlags zeigten. So kam es an einem Sonntag im Janu- Stoffe in einer Startauflage von 16.000 Exemplaren, die
ar 1979 zum folgenreichen Telefonanruf bei Keel: rasch verkauft war. Schon vor Jahresende wurde eine
»Wotsch du mi?« (»Willst du mich?«), fragte ihn Dür- zweite Auflage von 6000 Exemplaren gedruckt. Der
renmatt, wie sich Keel erinnert, fast wie bei einem Verlag brachte Dürrenmatt, der in den 1970er Jahren
Heiratsantrag (Kampa 2003, 349). fast vollständig vom deutschsprachigen Buchmarkt
Der Diogenes Verlag war zunächst als Einmann- verschwunden war, wieder ins Gespräch und in die
Unternehmen des Buchhändlers Keel mit vergleich- Buchhandlungen.
barem Improvisationsgeist wie der Arche Verlag in Die exklusive Bindung wurde Schritt für Schritt
Zürich entstanden, entwickelte sich allerdings ganz konsolidiert: 1985 gingen sämtliche älteren Buchrech-
anders. Im beengenden Bildungsklima der 1950er te an Diogenes über. 1986 wurde der alte Generalver-
Jahre prägte Keel seiner Galionsfigur entsprechend ei- trag durch einen neuen ersetzt, der sich auch auf den
ne im wahrsten Sinne kynische Gegenkultur im Ver- Nachlass bezog. Und 1987 übernahm Diogenes den
lag, die sich nicht um den sogenannten guten Ge- Reiss Verlag und damit auch die Bühnenrechte an
schmack und um den Bildungskanon, geschweige Dürrenmatts Werk (vgl. ebd., 352).
denn um Genre-Vorurteile kümmerte. Keel fing mit
Cartoon-Büchern und von Zeitgenossen illustrierten Literatur
Kampa, Daniel: Diogenes. Eine illustrierte Verlagschronik
Klassikern an. Zu ihm gesellte sich bald sein gleichalt-
1952–2002. Zürich 2003.
riger Jugendfreund Rudolf C. Bettschart als pekuniä- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
res Gewissen und Mitverleger. Dieser entwickelte in Biographie. Zürich 2011, 444–453.
den 1960er Jahren genuin marktbezogene Ideen: Die Weber, Ulrich: Von der Arche ins Fass des Diogenes. Dür-
Diogenes Sonderbände fanden Absatz zu Hundert- renmatts Verlagswechsel. In: Irmgard M. Wirtz, Ulrich
tausenden. 1971 wurde mit der Lancierung der Dioge- Weber, Magnus Wieland (Hg.): Literatur – Verlag –
Archiv. Göttingen, Zürich 2015, 109–131.
nes Taschenbücher (detebe) der Grundstein für ein
enormes Wachstum gelegt. Seine maximale Größe er- Ulrich Weber
reichte der Verlag just zur Zeit von Dürrenmatts Ein-
30 I  Biografie und Kontexte

7 Dürrenmatt im Literaturbetrieb Die Verbindung zu Muschg, die sich über die Jahre
freundschaftlich hielt, bedeutete für Friedrich Dürren-
Frühe Jahre und erste Erfolge matt vollends das Ankommen im Literaturbetrieb. Da-
vor waren ihm literarische Kreise verschlossen. Er fand
Meteorhaft tauchte Friedrich Dürrenmatt 1946 in der Gleichgesinnte in kleinen Zirkeln von Studierenden,
Schweizer Literaturszene auf. Erfolglos hatte sich da- so in den Anfängen seines Studiums in Bern um den
vor sein Freund und Mentor, der Altphilologe und Kunsthistoriker und Stefan-George-Verehrer Wilhelm
Gymnasiallehrer Eduard Wyss, ein Patensohn seines Stein oder in seinem Zürcher Studienjahr 1942/43 um
Vaters Reinhold Dürrenmatt, in Zürich um einen Ver- den Maler Walter Jonas. Hier lernte er den ihm noch
lag für seine Prosa bemüht: »Ich stieß an eine Wand, unbekannten Expressionismus kennen und Werke von
das Nein zu dieser Kunst war deutlich« (Rüedi 2011, Georg Heym, Georg Trakl und Franz Kafka.
213). Aber auf dem Intendantenpult von Kurt Horwitz, 1948 zog Dürrenmatt von Basel nach Ligerz in eine
Direktor das Stadttheaters Basel, entdeckte Peter Lotar, kleine Wohnung im Haus seiner Schwiegermutter, ein
Dramaturg im Kurt Reiss Verlag, nach Dürrenmatts Jahr später nach Schernelz. Die geringen Einkünfte
Umzug nach Basel dessen Stück Es steht geschrieben. aus den Theatern ließen ihn Auftragsarbeiten anneh-
Mit diesem ersten Theaterstück kam Dürrenmatt men. Er schrieb (mit wenig Erfolg) Chansons für das
zu seinem Theaterverlag. Für das eigene Haus lehnte Cabaret Cornichon und Theaterkritiken für die Zür-
Horwitz das Stück über die Wiedertäufer im westfäli- cher Wochenzeitung Die Weltwoche. Als einträglich
schen Münster ab, doch er inszenierte im April 1947 erwiesen sich Hörspiele, die er für deutsche Rund-
die Uraufführung am Schauspielhaus Zürich. Sie wur- funkanstalten verfasste: »Mein erster wirklicher Mä-
de zum Skandal. Publikum wie Kritik teilten sich in zen waren die deutschen Rundfunkanstalten, die mir
die zwei Lager der Ablehnung und der Zustimmung. für Hörspiele Preise offerierten, mit denen der Schwei-
Doch Einigkeit herrschte, dass sich hier ein Talent mit zerische Rundfunk nicht konkurrieren konnte« (WA
Wucht und Sprachmacht zu Wort gemeldet habe. 34, 57), erklärte er 1969 in seiner Dankesrede für den
Über das Basler Theater und Horwitz wurde Dür- Berner Literaturpreis.
renmatt mit dem Basler Literaturhistoriker Walter Die beiden Kriminalromane Der Richter und sein
Muschg bekannt, der in jener Zeit an seiner Tragi- Henker und Der Verdacht entstanden 1950 und 1951
schen Literaturgeschichte arbeitete. In einem Brief vom als Fortsetzungsromane für die Zeitschrift Der Schwei-
7.1.1947 stellte sich der Dramatiker vor ihrer ersten zerische Beobachter. Ihr Chefredaktor Max Ras lan-
persönlichen Begegnung als »Sohn eines Landpfar- cierte unter den Abonnenten und Abonnentinnen ei-
rers« vor: »Ich schreibe seit 1942, vorher beschäftigte ne ›Fünfliber-Aktion‹: 112 Beiträger zahlten während
ich mich mit der Malerei. Entscheidend war für mich dreier Jahre monatlich fünf Franken ein, was Dürren-
die Auseinandersetzung mit dem Glauben meines Va- matt zu monatlich 600 Franken verhalf. – Geld, das er
ters, sie bestimmte mich, Philosophie zu studieren. So wie die Honorare für die Kriminalromane dringend
ist meine Bildung eigentlich nicht eine literaturhis- benötigte. Erst mit dem weltweiten Erfolg des Theater-
torische. Ich habe nach drei unglücklichen germanis- stücks Der Besuch der alten Dame von 1956 kam er zu
tischen Semestern bei Strich, Ermatinger und Staiger, Reichtum.
[sic] sieben Semester fast ausschließlich Philosophie
studiert. Nach zehn Semestern verließ ich die Univer-
sität. Dies war 1946. Im gleichen Jahr habe ich auch Dürrenmatt und Frisch
geheiratet und lebe mit meiner Frau in Basel als
Schriftsteller. Es mag an der Richtung meiner Bildung Das erste Stück von 1946, die Komödie Es steht ge-
liegen, dass ich mit der neusten Literatur keinen Kon- schrieben, setzte auch den Anfang der Beziehung zwi-
takt habe. Sie ist mir fremd, und was ich gelesen habe, schen Dürrenmatt und Max Frisch. Frisch, damals be-
ist mir gleichgültig geblieben. Dies soll aber kein reits Autor des Reiss Verlags, las das Stück und schrieb
Werturteil sein, sondern nur eine Angabe der Positi- an Dürrenmatt: »Da ist so vieles, worum ich Sie auf-
on. Jünger hat mich nicht gleichgültig gelassen, doch richtig beneide, und ich hoffe, dass Sie meinen Brief
lehne ich ihn ab. Mit Mann, Wiechert und Bergen- nicht als väterlichen Zuspruch empfinden, als ein
gruen, um ganz verschiedenartige zu nennen, konnte Klopfen auf die Schultern; ich möchte Sie nur wissen
ich nie etwas anfangen. Frisch verstehe ich nicht« lassen, wie sehr ich begeistert bin und überzeugt, dass
(ebd., 297 f.). in Ihnen ein wirklicher Dichter angetreten ist, und ich

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_7
7  Dürrenmatt im Literaturbetrieb 31

beglückwünsche Sie zu Ihrem ersten Stück« (Frisch/ Beziehung zu bedeutenden Schriftstellern ist eigen-
Dürrenmatt 1998, 96). artig, es sind Blitzbeziehungen. So habe ich Thomas
Die Voraussetzungen der beiden waren allerdings Mann nur einmal für einen Moment, für eine Sekunde
gänzlich unterschiedlich. Frisch, zehn Jahre älter als gesehen – er hatte ein Stück von mir besucht, den En-
Dürrenmatt, konnte nach dem Zweiten Weltkrieg – gel, glaube ich. Fast ebenso erging es mir mit Benn, mit
inzwischen hatte er Architektur studiert und mit dem dem ich einmal in einer Lifttür zusammenstieß. Auf
Projekt des Freibads Letzigrund in Zürich ein eigenes einer Reise nach Hamburg habe ich Hans Henny
Büro eröffnet – an seine Anfänge als Schriftsteller und Jahnn einmal flüchtig kennengelernt. Er machte auf
seine journalistischen Arbeiten aus den 1930er Jahren mich einen sehr merkwürdigen, wie soll ich sagen:
anknüpfen und war durch seine drei Romane Jürg froschartigen Eindruck. Zweimal habe ich Brecht ge-
Reinhart (1934), Antwort aus der Stille (1937) und sehen; mit ihm sprach ich sehr ausführlich – über Zi-
J’adore ce qui me brûle (1943), die Blätter aus dem garren« (ebd., 193).
Brotsack (1940) und die Erzählung Bin oder die Reise
nach Peking (1945) bereits bekannt. Dürrenmatt kam
aus dem Nichts. Beziehungen zu weiteren Schriftsteller­
Die Beziehung zwischen Frisch und Dürrenmatt kollegen
kannte ihre Höhen und Tiefen. In einem Entwurf zu
den Stoffen schreibt Dürrenmatt: »Ich muß hier geste- Seit 1952 lebte Dürrenmatt im eigenen Haus hoch
hen, daß ich nie einen getreueren Kollegen gefunden über der Stadt Neuchâtel. Das kam seinem Einzelgän-
habe als Max Frisch, ja, daß ich seitdem es zum Bruch gertum zugute, er lebte in seinem eigenen Kosmos.
gekommen ist – aus Gründen, die ich nie gänzlich be- »Ich bin kein vereinsamter Mensch«, sagte er 1976 zu
griffen habe – ich glaube, es sind in Wirklichkeit unbe- Heinz Ludwig Arnold vor einer Kamera des Nord-
greifbare Gründe, Müdigkeit, Unwille, ständig gegen- deutschen Rundfunks. »Ich bin ein zurückgezogener
einander ausgespielt zu werden, Gründe, die im Klein- Mensch, das ist etwas ganz anderes. Ich bin sehr froh
staatlichen liegen – sei es wie es sei [sic] – daß ich mich über Besuche, ich habe Freude, wenn man mich be-
seitdem in einer vollkommenen Einsamkeit befinde, sucht. Ich könnte nicht in Zürich leben. Ich hätte da
genauer, in einer vollkommenen Vereinzelung, denn zu viele Literaten um mich, ich hätte auch zu viele
einsam kam ich mir immer schon vor« (ebd., 73). Menschen, die ich schätze. Ich sehe sie lieber einmal
In einem letzten Brief, 1986 zu Frischs 75. Geburts- im Jahr als jeden Tag. Es ist viel fruchtbarer« (Arnold
tag geschrieben und vom Empfänger nicht mehr be- 1998, 33).
antwortet, zieht Dürrenmatt Bilanz: »Ich habe dich in Zu den Besuchern in seinem Haus über Neuchâtel
Vielem bewundert, Du hast mich in Vielem verwun- zählten auch Paul Celan oder der Verleger Heinrich
dert und verwundet haben wir uns auch gegenseitig. Maria Ledig-Rowohlt, der sich – erfolglos – um Dür-
Jedem seine Narben. Diese Zeilen schreibe ich nicht renmatts Werk bemühte. Beharrlich hielt Dürrenmatt
ohne Nostalgie. Ich habe mich nie sonderlich um die an Peter Schifferli und seinem Arche Verlag fest, auch
Schriftstellerei unserer Zeit gekümmert, du bist seiner wenn der ihm wenig, vor allem kaum Präsenz auf dem
Zeit einer der wenigen gewesen, die mich beschäftigt deutschen Buchmarkt, nur bescheidene Werbung und
haben – ernsthaft beschäftigt wohl der Einzige. Als ei- nicht einmal ein Lektorat bieten konnte. Seit 1976
ner, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt übernahm es Arnold, dem Autor als freundschaftlich
macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu verbundener Lektor zur Seite zu stehen. 1979 wurde
seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schrei- dann Daniel Keel von Diogenes Dürrenmatts Verleger.
bens vorgekommen« (ebd., 166). Anders als Frisch war Dürrenmatt keiner, der Au-
Auf Dieter Fringelis Frage nach seinem Verhältnis torenkollegen um sich versammelte, auch keiner, der
zu Kollegen und Schriftstellerfreunden antwortete als väterlicher Freund und Förderer mit der nachfol-
Dürrenmatt 1977: »[I]ch war sehr lange mit Frisch in genden Generation im Austausch stand. Hugo Loet-
engem Kontakt. Natürlich kenne ich auch andere scher, der unter den zeitgenössischen Schriftstellern
Schweizer Schriftsteller. Aber ich bin eigentlich ein Dürrenmatt als Freund wohl am nächsten stand, for-
Mensch, der persönlich mehr mit Menschen verkehrt, mulierte es so: »Frisch suchte Jünger, Dürrenmatt hielt
die nichts mit Literatur zu tun haben, mit einigen Phy- Hof« (2003, 321).
sikern etwa, mit Malern auch, mit Ärzten« (G 2, 194). Dürrenmatt verschloss sich nicht, wenn es galt,
Im selben Gespräch erklärte er: »Meine persönliche Kollegen zu unterstützen. So etwa Paul Nizon: »Ein
32 I  Biografie und Kontexte

Jahr lang hatte mich Dürrenmatt unterstützt, was ich spiegeln auch die Preise und Auszeichnungen: Schon
einem Freund verdankte, der meine Mittellosigkeit sein erstes Stück, Es steht geschrieben, wurde mit dem
gesehen und ihn um Hilfe für mich gebeten hatte« Welti-Preis für das Drama ausgezeichnet, doch den
(Nizon 2017, 33). Über Jahre bezahlte Dürrenmatt die wichtigen Büchner Preis erhielt Dürrenmatt erst vier-
Telefonrechnungen von Ludwig Hohl. Solche Gesten zig Jahre später (1986). Das machten all die kleineren
geschahen im Verborgenen, und wenig Aufheben Preise, die Ehrendoktorate dazwischen nicht wett. Die
machte Dürrenmatt auch von seinen ideellen Unter- Anerkennung war nie selbstverständlich, und in die
stützungen, der Teilnahme an Aufrufen und Unter- Zustimmung mischte sich immer auch Kritik und Ab-
schriftensammlungen. 1968 organisierte er nach der lehnung.
Niederschlagung des Prager Frühlings durch die In den 1970er Jahren geriet Dürrenmatt zuneh-
Truppen des Warschauer Pakts eine Protestveranstal- mend ins Abseits des Literaturbetriebs und stellte sich
tung mit Max Frisch, Peter Bichsel, Günter Grass und mit seinem öffentlichen Bekenntnis zu Israel trotzig
Kurt Marti am Theater Basel. 1969 äußerte er sich zu gegen den linksintellektuellen Zeitgeist. Nach einigen
den Globus-Krawallen und reichte im selben Jahr den blamablen Theatermisserfolgen (v. a. Der Mitmacher,
Berner Literaturpreis als kulturpolitisches Statement 1973; Die Frist, 1977) wurde er von Theaterkritik und
an den Schriftsteller Sergius Golowin, den Journalis- -regie insbesondere in Deutschland kaum mehr ernst
ten Ignaz Vogel und den Dienstverweigerer und Poli- genommen.
tiker Arthur Villard weiter: »[D]ie Preise kommen, Dem Literaturbetrieb blieb Dürrenmatt im Grunde
wenn man sie nicht mehr braucht. Ich vermag mich sein Leben und Schreiben lang fern und fremd. Er ließ
längst aus eigener Kraft zu ernähren« (WA 34, 57). Die sich nicht eingliedern und kümmerte sich nicht um
Gelegenheit, anstelle des Malers Varlin (Willy Gug- Umkreis und Erwartungen, er blieb der große Einzel-
genheim) 1967 die Dankesrede für den Zürcher ne auf dem Berg. »Ich kann schreiben was ich will«,
Kunstpreis zu halten, nutzte Dürrenmatt zu einer Ant- sagte er in einem seiner letzten Gespräche, »[i]ch spie-
wort auf den Preisträger des Vorjahres, den Germa- le heute in der deutschen Literatur keine große Rolle
nisten und Goethe-Exegeten Emil Staiger, der mit sei- mehr« (G 4, 184).
ner Rede gegen die zeitgenössische Literatur aus der
Kloake und dem Geist des Nihilismus den Zürcher Li- Literatur
Primärtexte
teraturstreit provoziert hatte. Jeder bemühe sich seit
Frisch, Max/Dürrenmatt, Friedrich: Briefwechsel. Hg. von
jener Rede, der unsittlichste Dichter zu sein, dabei ha- Peter Rüedi. Zürich 1998.
be Staiger, dessen Name nicht fällt, niemand anderen
als ihn, Dürrenmatt gemeint. »Die Entfremdung unter Sekundärliteratur
den Dichtern nahm denn auch zu. Die Rede demorali- Arnold, Heinz Ludwig: Querfahrt mit Friedrich Dürren-
sierte sie. Freundschaften gingen in Brüche. Frisch matt. Aufsätze und Vorträge. Zürich 1998.
Loetscher, Hugo: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literari-
und ich verkehren nur noch über unsere Rechtsanwäl- schen Schweiz. Zürich 2003.
te. Wie Diggelmann mit mir verfährt, kann man in der Nizon, Paul: Die Republik Nizon. Eine Biographie in
›neuen presse‹ lesen. Hugo Loetscher behandelt mich Gesprächen, geführt mit Philippe Derivière. Innsbruck,
merklich kühler, vorher standen wir herzlich zueinan- Wien 2017.
der« (WA 32, 165). Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Biographie. Zürich 2011.

Urs Bugmann
Zwischen Annäherung und Ablehnung

Dürrenmatts Verhältnis zum Literaturbetrieb war ei-


ne wechselvolle Abfolge von Annäherung, Teilnahme,
wachsendem Missverständnis und Ablehnung. Das
II Schriftstellerisches Werk
A Frühe Prosa

8 Die Stadt matt ist in jener Zeit die Auseinandersetzung mit dem
Protestantismus von großer Bedeutung: »Ich bin ein
Entstehungs- und Publikationsgeschichte Protestant und protestiere. Ich verzweifle nicht, aber
ich stelle die Verzweiflung dar«, schreibt er im Er-
Die Stadt. Prosa I–IV (1952) ist Dürrenmatts vierte scheinungsjahr 1952 (WA 32, 32; s. Kap. 78).
Buchpublikation und die erste einer langen Reihe Den Auftakt des Bandes bildet der knapp halbseiti-
beim Arche Verlag (Zürich). Die neun Texte entstan- ge Text Weihnacht (verfasst 1942), ein nihilistischer
den zwischen 1942 und 1952. Das Bild des Sisyphos er- Abgesang auf das Christentum, der eine ebenso sinn-
schien zuerst in der Wochenpresse (Dürrenmatt wie wirkungslose Eucharistie erzählt (vgl. Diller
1947), Die Falle in einer kleinen illustrierten Ausgabe 1971). Das Ich geht an Weihnachten über die »weite
unter dem Titel Der Nihilist (Dürrenmatt 1950) und Ebene«, findet das »Christkind« erfroren im Schnee,
Pilatus als limitierter Einzeldruck (Dürrenmatt 1949). isst dessen Heiligenschein, der »wie altes Brot«
Alle anderen Texte wurden 1952 erstmals publiziert. schmeckt, und beißt »ihm den Kopf ab«: »[a]lter Mar-
In den Werkausgaben wurden die Erzählungen in ver- zipan« (WA 19, 11). Mit dem im ähnlichen Duktus
schiedenen Bänden mit anderen frühen Erzählungen kurzer Hauptsätze verfassten Der Folterknecht (ver-
publiziert (WA 19; WA 21); Dürrenmatts Auswahl im fasst 1943), der in Umkehrung des toten Christuskin-
Band Die Stadt wird in der WA nicht wiedergegeben. des aus Weihnacht einen folternden Gott ins Zentrum
stellt, sind es die einzigen Texte, die Dürrenmatt unbe-
arbeitet in den Band aufgenommen hat (vgl. Rüedi
Inhalt und Analyse 2011, 264). Werkgeschichtlich gehören auch Die
Wurst und Der Sohn in diesen Zusammenhang, die
Die neun Erzählungen sind in vier Einheiten geglie- erst 1978 publiziert wurden (vgl. Dürrenmatt 1978).
dert: I. Weihnacht, Der Folterknecht; II. Der Hund, Das Im Fokus der zweiten Gruppierung steht die zum
Bild des Sisyphos, Der Theaterdirektor, Die Falle; III. Scheitern verurteilte Produktion von Kunst. Das Bild
Die Stadt; IV. Der Tunnel, Pilatus. Im knappen Nach- des Sisyphos (verfasst 1945) ist eine düstere Kunst-
wort des Bandes stellt Dürrenmatt die Texte als »Vor- parabel über den Versuch, »aus Nichts Etwas [zu] ma-
feld« der Dramen dar und distanziert sich implizit chen« (WA 19, 55). Die grotesk zugespitzte Geschich-
von diesem Stil, indem er ihn als überwunden dar- te handelt vom Aufstieg und Fall eines Kunstmalers,
stellt (WA 19, 197). Dies mag zur eher stiefmütterli- der durch die Fälschung und den Verkauf eines Ge-
chen Behandlung der Erzählungen beigetragen ha- mäldes von Hieronymus Bosch unermesslich reich
ben, obwohl die Entstehungsdaten nicht in allen Fäl- geworden war und im Versuch, das Gemälde wieder
len vor den Dramen anzusiedeln sind, sondern sich zu erlangen, seinen Reichtum und Verstand verliert.
mit den Bühnenerfolgen überlagern (vgl. Weber Der Theaterdirektor (verfasst 1945) handelt von der
1980, 24–26). Zentrale Motive und Verfahren werden Macht des Theaters sowie der Korrumpierbarkeit der
fortgeführt und sind insbesondere in der späten Pro- Masse und des Einzelnen. Die Falle (verfasst 1946) er-
sa wichtig (vgl. Rüedi 2011, 245; Knapp 1993, 24; Mel- zählt die Geschichte eines gescheiterten Selbstmör-
ton 1973, 26). ders, der zum Mörder wird; erst nachdem er den
Auffällig ist die theologisch-christologische Rah- Mord dem Ich-Erzähler berichtet, den er verfolgt und
mung des Bandes: Er beginnt mit der Erzählung Weih- minutiös »studiert« (WA 19, 75) hat, vollzieht er den
nacht und endet mit Pilatus, ist also nicht chronolo- Suizid. Die die Textgruppe eröffnende Erzählung Der
gisch geordnet (vgl. Weber 1970, 38–42). Für Dürren- Hund (verfasst 1951) stellt einen Prediger ins Zen-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_8
36 II Schriftstellerisches Werk – A Frühe Prosa

trum, der von einem furchterregenden Hund beglei- keit des Protagonisten zur Handlung verstehen,
tet wird; sie zeichnet ebenfalls das Bild des kompro- schließlich ist die Befreiung aus dem Gefängnis nicht
misslosen Künstlers, der seiner ihn gefährdenden mit Denken zu bewerkstelligen, sondern nur mit dem
›Sendung‹ hartnäckig nachgeht bis in das Verbrechen, Versuch hinauszugehen, dem Kierkegaardschen
den Wahnsinn und den Tod. ›Sprung‹ zur Handlung (vgl. Weber 1980, 200–205).
Die Stadt ist die umfangreichste Erzählung der In dieser Betonung der Handlung spiegelt sich auch
Sammlung und bildet die dritte Abteilung. Sie hat die biografische Situation des jungen Autors Dürren-
auch dadurch, dass sie dem Band seinen Titel gibt, ei- matt, der sein theoretisches Denken in die Praxis der
nen besonderen Status und wird zudem im Nachwort Kunst übersetzt.
hervorgehoben. Dürrenmatt hat die Erzählung bis zur In Der Tunnel (verfasst 1952), der bekanntesten Er-
Publikation 1952 und darüber hinaus immer wieder zählung Dürrenmatts, stürzt ein Zug in einem plötz-
bearbeitet; im Band jedoch ist »im Großen jene [Fas- lich endlos gewordenen Tunnel in den Abgrund; der
sung] des Jahres 1947« (Dürrenmatt 1952, 183; vgl. Protagonist, ein Student, ist dazu verdammt, den Ein-
WA 19, 200) wiedergegeben. Nach einem Teilabdruck bruch des Absurden zu akzeptieren. Kompositorisch
1954 nimmt er sie unter dem Titel Aus den Papieren nimmt die Erzählung eine Sonderstellung ein, weil sie
eines Wärters in die Werkausgabe von 1980 auf (vgl. mehrere Jahre nach den anderen Texten entstanden ist
WA 19, 149–193). Den Stoff dieser »labyrinthische[n] und als einzige Erzählung über ein zunächst realisti-
Geschichte«, dieser »Wucherungen« (G 3, 186), hat sches Setting verfügt, das in einer Groteske endet.
Dürrenmatt nach eigener Aussage erst mit dem Win- In der Pilatus-Erzählung (verfasst 1946), die dem
terkrieg in Tibet abgeschlossen (vgl. G 3, 56; WA 19, Prozess und der Kreuzigung Jesu gewidmet ist, erlebt
198; WA 28, 68). Pilatus eine Epiphanie. Obwohl er in Jesus Gott er-
Die Erzählung wird mittels Herausgeberfiktion kennt, ist er »gezwungen, eine Grausamkeit um die
ausgegeben als »Anfang eines [...] fünfzehnbändigen andere an Gott zu begehen, weil er die Wahrheit wuß-
Werkes«, das den Titel Versuch zu einem Grundriß te, ohne sie zu verstehen« (WA 19, 112). In dieser letz-
trägt und, abgesehen vom vorliegenden Text, in einem ten Abteilung ist die Kategorie des Einzelnen zentral:
Brand verloren gegangen sei (WA 19, 118). Der na- Beide Protagonisten – der Student wie Pilatus – neh-
menlose Ich-Erzähler erinnert sein Leben in der men eine Sonderstellung ein, weil sie Gott und die Ab-
von einer omnipotenten »Verwaltung« beherrschten surdität der Welt wahrzunehmen vermögen.
Stadt; seine Zeit verbrachte er mit dem Bemalen seines
Zimmers und dem Verfassen von »sinnlose[n] Pam-
phlete[n] gegen die Stadt« (121 f.). Nach einem ge- Rezeption und Forschung
scheiterten Aufstand der Bevölkerung trat der Pro-
tagonist als Wärter in einem unterirdischen Kerker in In der frühen Rezeption des Bandes wurden durch-
den »Dienst der Stadt« (132). In der Dunkelheit ver- gängig die Bezüge zum dramatischen Werk sowie die
sucht er, den »Grundriß« (140) der Stollen zu begrei- religiösen Aspekte betont. Die Stadt wurde als bedeu-
fen; drohend ist die Ungewissheit, »ob ich nicht selbst tende Publikation wahrgenommen, gar als »das wich-
ein Gefangener sei und meine Stellung als Wärter nur tigste Buch eines Schweizers seit Jahren« (Gerster
eine Fiktion, mit der mich die Verwaltung täuschte« 1952). Der Bezug zu Kafka wurde oft erwähnt, derje-
(141 f.) – eine Thematik, die in zahlreichen späteren nige zu Camus und Sartre positiv hervorgehoben (vgl.
Texten zentral wird, besonders in der Rede Die Weber 1952); die »transzendente Wahrheit« der Texte
Schweiz – ein Gefängnis (1990; vgl. WA 36, 175–188). betonte Walter Muschg (1952). Die Erzählungen wur-
Die Absurdität der Lage, in der der Protagonist sich den aber auch kritisiert als »dumpfe Angstliteratur«
befindet, öffnet mehrere Deutungsperspektiven: Exis- und »Tiefengerede« (Dach 1953). Die Stadt ist kaum
tentialistische Lektüren betonen die Absurdität des Gegenstand neuerer Forschungsarbeiten; eine genaue
Daseins angesichts der Macht des Irrsinns; die Schil- Untersuchung vor dem Hintergrund zeitgenössischer
derung des Regimes sowie der Entstehungskontext la- Ansätze fehlt. Die Verbindung der frühen Prosa mit
den dazu ein, in ihr eine Kritik an jeglicher Form von den gleichzeitig entstandenen Stücken wurde bisher
Totalitarismus zu sehen. Die erkenntniskritische Lek- gleichfalls erst kursorisch herausgearbeitet (vgl. Mel-
türe wird vom Nachwort gestärkt; hier findet sich ein ton 1973). Lohnenswert wäre schließlich eine Studie,
Hinweis auf die Bedeutung von Platons Höhlengleich- die den motivischen und strukturellen Bezügen des
nis. Dieses lässt sich auch als Ausdruck der Unfähig- Frühwerks im Spätwerk der Stoffe nachgeht.
8  Die Stadt 37

Literatur Pilatus. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 169–194.
Primärtexte Pilatus. Erzählung. Zürich 1952.
Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952. Pilatus. Erzählung. Zürich 1963.
Weihnacht. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 9–12. Pilatus. In: WA 19, 97–116.
Weihnacht. In: Friedrich Dürrenmatt Lesebuch. Zürich Dürrenmatt-Lesebuch. Zürich 1978.
1978, 11–14.
Weihnacht. In: WA 19, 9–12. Sekundärliteratur
Der Folterknecht. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, Dach, Charlotte von: Blick in ein Zwischenreich. Zur Prosa
13–20. von Friedrich Dürrenmatt. In: Der Bund, 12.2.1953.
Der Folterknecht. In: WA 19, 13–20. Diller, Edward: Friedrich Dürrenmatt’s Weihnachten. A
Der Hund. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 23–34. Short, Short Revealing Story. In: Studies in Short Fiction 3
Der Hund. Eine Erzählung. In: WA 21, 9–18. (1966), 138–140.
Das Bild des Sysiphos. In: Sonntagsblatt der Basler Nach- Gerster, Georg: Dürrenmatt: Prosa I–IV. In: Die Weltwoche,
richten, 12.1.1947. 19.12.1952.
Das Bild des Sysiphos. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
1952, 35–56. Weimar 1993.
Das Bild des Sisyphos. Erzählung. Zürich 1968. Melton, Judith Mary: Friedrich Dürrenmatt’s Die Stadt.
Das Bild des Sisyphos. In: WA 19, 41–56. Analysis and Significance of Dürrenmatt’s Early Prose.
Der Theaterdirektor. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, Ann Arbor 1973.
55–68. Muschg, Walter: Erzählungen von Friedrich Dürrenmatt. In:
Der Theaterdirektor. In: WA 19, 57–69. Basler Nachrichten, 21.12.1952.
Der Nihilist [= Die Falle]. Illustrationen von Teo Otto. Hor- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen.
gen-Zürich 1950. Biographie. Zürich 2011.
Die Falle. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 73–104. Spycher, Peter: Friedrich Dürrenmatt. Das erzählerische
Die Falle. In: WA 19, 71–96. Werk. Frauenfeld, Stuttgart 1972.
Die Stadt. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 107–146. Weber, Emil: Friedrich Dürrenmatt und die Frage nach
Die Stadt. In: WA 19, 117–148. Gott. Zur theologischen Relevanz der frühen Prosa eines
Der Tunnel. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 149–168. merkwürdigen Protestanten. Zürich 1980.
Der Tunnel. In: Friedrich Dürrenmatt Lesebuch. Zürich Weber, Werner: Dichter oder Kritiker? Zur Prosa von Fried-
1978, 25–39. rich Dürrenmatt. In: Neue Zürcher Zeitung, 6.12.1952.
Der Tunnel. Eine Erzählung. In: WA 21, 19–34.
Pilatus. Olten 1949. Lukas Gloor
38 II Schriftstellerisches Werk – A Frühe Prosa

9 Der Tunnel Tunnel nimmt kein Ende, und der Zug bricht aus die-
ser horizontalen Raum- und Zeitordnung aus und
Entstehung stürzt in beschleunigter Fahrt dem Abgrund im Erd-
innern zu. Nur der Student scheint dies jedoch wahr-
Die vierzehnseitige Erzählung Der Tunnel wird 1951 zunehmen, während die übrigen Passagiere unbetei-
geschrieben und erstmals in der Prosasammlung Die ligt bleiben; im Speisewagen werden weiter Wiener
Stadt (1952) publiziert. Der Band vereinigt kürzere Schnitzel serviert. Der Student hingegen erwartet das
Prosatexte, die düstere, krude Gewalt provokativ in Verhängnis, den »Aufprall des rasenden Zuges am
biblisch getönten Gleichnisformen präsentieren, vom Fels«, »dieses Zerschmettern und Ineinanderschach-
Eingangstext Weihnacht bis zum abschließenden Pila- teln der Wagen« (ebd., 29). Eigentlich hatte er fast da-
tus. Ein zentrales Leitmotiv dieser literarischen Höl- rauf hingelebt, wie die Erzählstimme in Klammern er-
lenmaschinen ist der ›Abgrund‹. Der Tunnel teilt zwar gänzt, »auf diesen Augenblick des Einbruchs, auf die-
Motivik und parabolische Erzählform mit den Texten ses plötzliche Nachlassen der Erdoberfläche, auf den
der Sammlung. Seine Höllenfahrt hat jedoch einen viel abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere« (ebd., 30). Er ar-
konkreteren Ausgangspunkt in der schweizerischen beitet sich mit dem Zugführer, der die Gefahr eben-
Realität und ist mit einer ironischen Brechung der Per- falls erkennt, in den Führerstand der dahindonnern-
spektive erzählt, an der Walter Muschg schon 1952 ei- den Lokomotive vor. Doch dieser ist leer; der Lokfüh-
nen vielversprechenden, »aristophanischen« Ton he- rer ist längst abgesprungen. Auch der Griff zur Not-
raushört (Muschg 1998, 276). Seither hat die For- bremse bleibt wirkungslos. Als Zuschauer an der
schung die »neue Qualität« des Tunnels in Dürren- Frontscheibe der Lokomotive klebend, sieht sich der
matts Schreiben öfter bestätigt (Rüedi 2011, 445; vgl. Student selbst in einem »tödlichen Schauspiel« (WA
Knapp 1993, 35–38). Entsprechend wird die Erzählung 21, 98) gefangen, dem er nun mit geweiteten Sinnen
später vielfach separat publiziert oder neuen Antho- entgegenstarrt. Auf die Frage des Zugführers: »Was
logien einverleibt: ein Lesebuchtext, der als universelle sollen wir tun?« antwortet er mit dem letzten Satz des
Parabel zum wohl bekanntesten und am meisten über- Textes: »Nichts. Gott ließ uns fallen und so stürzen wir
setzten Kurzprosatext Dürrenmatts geworden ist. denn auf ihn zu« (ebd.).
Diesen Schluss überarbeitet Dürrenmatt für eine
Neupublikation im Friedrich Dürrenmatt Lesebuch
Inhalt (1978), die später auch in die WA übernommen wird.
Sie wirkt wie ein Widerruf der Erstfassung, indem die
Die Hauptfigur der Erzählung, der 24-jährige ver- Überarbeitung die Antwort des Studenten auf ein
bummelte Student, der an seinem Wohnort den Zug nacktes: »Nichts« (WA 21, 34) verkürzt. »Gott«, der in
nach seinem Studienort besteigt, trägt konkrete bio- der Erstfassung im dialektischen letzten Satz als ulti-
grafische Züge des Autors. Doch schon im ersten Satz mative Instanz erscheint und dessen Gravitation gera-
meldet sich hinter der Figur auch eine Erzählstimme, de diejenigen anzieht, die von ihm abfallen, ver-
welche gelegentlich mit ergänzenden Klammerbe- schwindet. Das »Nichts«, so isoliert, bezeichnet nun
merkungen das Geschehen kommentiert: »Ein Vier- nicht nur die fehlenden Handlungsmöglichkeiten vor
undzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hin- dem Untergang, sondern es ist der eigentliche Flucht-
ter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähig- punkt einer Welt, aus der Gott getilgt wurde.
keit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn Entsprechend verschwindet zuvor auch ein bib-
herankomme« (WA 21, 21). So erhält der Leser von lischer Verweis auf den Höllensturz der »Rotte Korah«
Anfang an eine ironisch getönte Distanz zur Haupt- (ebd., 97). Dafür wird die theatrale Metaphorik akzen-
figur, anders als in den anderen, unerbittlich dunklen tuiert, welche den Text einklammert, vom Blick hinter
Erzählungen der Sammlung Die Stadt. Im Tunnel wird die »Kulissen« am Anfang bis zum Absturz als einem
das Schwarz-Sehen in der Figur des Studenten mit »Schauspiel« (Knopf 2004, 137), das in der Zweitfas-
dunkler Sonnenbrille selbst zum Thema, als der Zug sung nicht mehr als »tödlich« qualifiziert wird. Ihm
aus der abendlich vergoldeten Schweizerlandschaft in begegnet der Student mit einer »gespensterhaften
den Tunnel eintaucht. Zwar tickt bis in die Hälfte der Heiterkeit« (WA 21, 34), die in der zweiten Fassung
Erzählung noch die normale Fahrplanzeit weiter, und schon fast nach einer Komödie klingt. So holt die
scheinbar fährt der Zug auch an realen Ortschaften an Überarbeitung den frühen Text in den Horizont von
der Strecke von Bern nach Zürich vorbei. Doch der Dürrenmatts späteren Kardinalkategorien hinein:

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_9
9  Der Tunnel 39

Dem »Nichts« kommt höchstens noch die »gespens- Katastrophenkultur weiter (vgl. Utz 2019). Auch im
terhafte Heiterkeit« der Komödie bei. Bild Die Katastrophe (1966) setzt Dürrenmatt bei
der Eisenbahn, dieser identitätsstiftenden Ikone der
Schweiz, an, um die helvetische Alpenidylle mit ihren
Deutungsaspekte Brücken und Tunneln in sich zusammenstürzen zu
lassen. Der Tunnel ist so ein frühes, dunkel funkeln-
Der Tunnel ist zunächst als existentialistisches Gleich- des, vieldeutiges Meisterstück von Dürrenmatts apo-
nis im Kontext der Sinnkrise der Nachkriegszeit ver- kalyptischer Fantasie.
stehbar (vgl. Freund 1996): Wenn der Einzelne aus sei-
nem Alltag stürzt, wenn er gezwungen ist, dem Tod Literatur
Primärtexte
ins Auge zu blicken, dann erst kann er sich individua- Der Tunnel. In: Die Stadt. Prosa I–IV. Zürich 1952, 151–167.
lisieren. Dann kann er allenfalls auch – so religiöse Der Tunnel [Neufassung]. In: Friedrich Dürrenmatt Lese-
Deutungen des Schlusses in Anlehnung an Kierke- buch. Zürich 1978, 25–39.
gaard und Karl Barths Römerbrief-Auslegung – Gott Der Tunnel [Fassung 1978]. In: WA 21, 19–34 (Schluss der
selbst als den »verborgenen Abgrund« erkennen Erstfassung: ebd., 97 f.).
(Barth 1922, 23; vgl. Zobel 1995, 95). Gott bestimmt
Sekundärliteratur
eine vertikal-geistige Wertorientierung, die von der Barth, Karl: Der Römerbrief [1918]. 2. Aufl. München 1922.
horizontal-weltlichen her nicht einsehbar ist (Barth Bühler, Pierre: Le paradoxe chrétien et ses potentialités créa-
1922, 7 f.; vgl. Rusterholz 2017; Bühler 2000). Zwi- tives. In: Jürgen Söring/Annette Mingels (Hg.): Dürren-
schen diesen Achsen verläuft die parabolische Ver- matt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger Kollo-
laufskurve des Tunnels: Er bricht aus der Horizontalen quium 2000. Frankfurt a. M. 2004, 237–258.
Freund, Winfried: Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. Vor-
aus und nähert sich der Vertikalen an. So wird Der
lauf in den Tod. In: Interpretationen. Deutsche Erzählun-
Tunnel gewissermaßen zur Parabel einer Parabel; er fi- gen des 20. Jahrhunderts, Bd. 2. Stuttgart 1996, 153–166.
guriert damit, poetologisch gelesen, jene Gleichnis- Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. In: Werner
form, die für Dürrenmatts Schreiben zeitlebens Bellmann (Hg.): Klassische deutsche Kurzgeschichten.
grundlegend ist. In dieser reflexiven Selbstbezüglich- Interpretationen. Stuttgart 2004, 135–145.
keit kann die Lektüre, wie der Tunnel selbst, an kein Muschg, Walter: Die Stadt [1952]. In: Keel, Daniel (Hg.):
Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1998, 273–276.
Ende kommen (vgl. Renken 2009). Renken, Arno: Comment tomber dans un livre? Le Tunnel
Zum Ausbruch aus der helvetischen Realität nutzt de Dürrenmatt en bilingue et en biface. In: Figurationen
Der Tunnel die Möglichkeiten des fantastischen Er- 10 (2009), 1–2, 149–157.
zählens (vgl. Freund 1996). Er unterminiert damit Rusterholz, Peter: Christliches Paradox als Skandalon und
auch das Bild und Selbstbild einer vom Weltkrieg ver- Korrektiv der Nachkriegskultur nach 1945: Friedrich
Dürrenmatt und Karl Barth. In: Ders.: Chaos und Renais-
schonten Idyllenschweiz. Was sie und »unsere Zeit«
sance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg. von Hen-
an »Hölle« und »Abgrund« birgt, das kann man nur riette Herwig und Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017,
durch die Fantasie anschaulich machen, so Dürren- 15–34.
matt in einem Brief an Eduard Wyss vom 14.5.1946 Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
(zit. bei Rüedi 2011, 215–217, 216). Gleichzeitig wi- gangsszenarien aus der Schweiz. München 2013.
derspricht Der Tunnel damit jenem Katastrophenkon- Utz, Peter: Der steckengebliebene Gotthardexpress. Ein
unbekanntes frühes Filmtreatment von Friedrich Dürren-
sens, mit dem sich die Schweiz als Schicksalsgemein- matt. In: Ewa Wojno-Owczarska (Hg.): Literarische Kata-
schaft im Angesicht der Weltkatastrophen glorifiziert strophendiskurse im 20. und 21. Jahrhundert. Frankfurt
(vgl. Utz 2013). Im Eisenbahnzug des Tunnels, der in a. M., Bern 2019, 149–166.
den Abgrund rast, entsteht gerade keine Solidar- Zobel, Klaus: Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. In: Chris-
gemeinschaft. Im Fragment gebliebenen Script zu ei- tian Eschweiler, Klaus Zobel: Vergleichende Analysen zu
literarischer Kurzprosa. Northeim 1997, 67–122.
nem Film über den verschütteten Gotthardexpress
(1953), das thematisch an den Tunnel anschließt, Peter Utz
treibt Dürrenmatt diese Subversion der helvetischen
B Frühe Dramatik

10 Es steht geschrieben / Die Wieder- Nach Anfragen verschiedener Theater (u. a. des
täufer Schauspielhauses Zürich), das gesperrte Stück wieder
spielen zu dürfen, unternahm Dürrenmatt 1966 eine
Neubearbeitung, nun wieder unter dem Titel Die Wie-
Entstehungs-, Publikations- und Auf- dertäufer (s. Kap. 28). Das Drama wurde um ein Vier-
führungsgeschichte tel gekürzt und von der Grundkonzeption her zu einer
Komödie umgestaltet. Zugleich wurde die opulente
Nach verschiedenen unvollendet gebliebenen Theater- Sprache des Bühnenerstlings abgeschwächt. Zwanzig
versuchen (Der Knopf, Untergang und neues Leben, Jahre nach Es steht geschrieben wurde das Stück am
Thogarma) schrieb Dürrenmatt zwischen Juli 1945 16.3.1967 erneut im Schauspielhaus uraufgeführt (R.:
und März 1946 in Bern sein erstes zur Aufführung ge- Werner Düggelin). Im selben Jahr erschien im Arche
langendes Bühnenstück, zunächst unter dem Arbeits- Verlag die Buchausgabe, versehen mit dramaturgi-
titel Die Wiedertäufer, später mit dem Titel Es steht ge- schen Überlegungen zur Neubearbeitung. Es folgten
schrieben (wohl in Anspielung auf die täuferische Pra- verschiedene Aufführungen in Deutschland, Polen
xis des Bibelzitats). Das Drama wurde am 19.3.1947 und Frankreich. Zu einem großen Erfolg kam es 1968
unter der Regie von Kurt Horwitz im Zürcher Schau- in Prag, im Kontext des Prager Frühlings. 1973 wurde
spielhaus uraufgeführt. Es kam zu einem Theaterskan- im Zweiten Deutschen Fernsehen eine Fernsehinsze-
dal, über den sich der Autor hinter den Kulissen freute nierung unter der Regie von Heinrich Koch produ-
(vgl. G 1, 52–59). Die Länge des Stücks, die vielen bib- ziert. In die Werkausgaben von 1980 und 1998 wur-
lischen Anspielungen, Kirchenlieder und dichteri- den sowohl Es steht geschrieben als auch Die Wieder-
schen Texte, die drastischen Sprachbilder, die Wechsel täufer nach dem Text ihrer jeweiligen Urfassung über-
zwischen barock-erhabenem und zotenhaftem Stil, die nommen.
als blasphemisch empfundene Behandlung religiöser
Motive führten dazu, dass die Zuschauer zu randalie-
ren begannen und das Theater vorzeitig verließen. Das Inhalt und Analyse
Stück löste auch in der Presse eine heftige Debatte aus,
mit teils scharfen Verurteilungen. Zugleich wurde es Inspiriert durch eine 1896 von Georg Tumbült ver-
bereits 1948 mit dem wichtigen Welti-Preis für das öffentlichte Monografie, die Dürrenmatt in der väter-
Drama ausgezeichnet. Die Aufführungen in Wiesba- lichen Bibliothek entdeckt hatte, wählte er für sein
den (1950) und in Paris (1952, hier unter dem Titel Les Stück ein tragisches Kapitel der deutschen Reformati-
Fous de Dieu – die erste Dürrenmatt-Aufführung au- onsgeschichte, das bereits öfter als literarischer Stoff
ßerhalb des deutschen Sprachraums) waren allerdings bearbeitet worden war: den Aufstieg und Fall des
eher Misserfolge. Das trug wohl dazu bei, dass Dürren- Täuferreichs im westfälischen Münster in den Jahren
matt, sich von zu unmittelbar christlicher Vereinnah- 1534–1536. Im Zeichen apokalyptischer Naherwar-
mung distanzierend, dieses Stück wie auch Der Blinde tung erklärt eine radikale Gruppe der Täuferbewe-
für weitere Aufführungen sperren ließ. gung Münster zum himmlischen Jerusalem und in-
Als Buch erschien das Stück 1947 mit Zeichnungen stalliert eine tyrannische Theokratie. So erzählt das
des Autors im Basler Schwabe Verlag. 1959 wurde es Stück zunächst, wie die Täufer progressiv die Macht
im Zürcher Arche Verlag neu aufgelegt und 1964 in erobern, den Bischof und sein Gefolge sowie die An-
den Sammelband Komödien II und Frühe Stücke auf- hänger Luthers aus der Stadt vertreiben und strenge
genommen. Sitten- und Glaubensregeln nach biblischen Vor-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_10
10  Es steht geschrieben / Die Wiedertäufer 41

schriften einführen. Der Machtkampf innerhalb der deutscher Übersetzung uraufgeführt hatte (vgl. Wys-
Führergruppe fällt zugunsten des Hochstaplers Jo- ling 1996).
hannes Bockelson aus, der sich zum alleinigen König Natürlich spielte bei der Stoffwahl auch der zeit-
krönen lässt. Während er die Bevölkerung mit Stra- geschichtliche Kontext eine Rolle. Das Täuferreich
fen, Gerichten und Hinrichtungen terrorisiert, pflegt ließ sich als Gleichnis für zeitgenössische Ereignisse
er selbst einen erotisch wie gastronomisch über- verstehen: »Daß sich mir dieser Stoff 1945 aufdrängte,
schwänglichen Lebensstil. Bockelsons Gegenfigur ist erscheint mir nachträglich selbstverständlich: das ir-
der ehrbare Bernhard Knipperdollinck, der dem De- rationale Phänomen des Dritten Reichs, sein Unter-
magogen gottergeben seinen Reichtum und seine gang spiegeln sich [...] in diesem Stoff wider« (WA 1,
Frau überlässt und, gefolgt von seiner Tochter, den 250). Zugleich betonte Dürrenmatt aber, das Stück sei
Weg der Armut wählt. nicht einfach auf diese Facette zu reduzieren; die Stadt
Mit Hilfe des Kaisers Karl V. und des Landgrafen Münster sei für ihn auch eine Vision gewesen, »in mir,
Philipp von Hessen belagert der Bischof die Stadt und nicht außer mir, und so gestaltete ich das Drama aus
hungert sie aus. Im zweiten Teil beschreibt das Stück der Phantasie« (ebd.). Man wird also die Grundper-
die sich ausbreitende Not und das Gemetzel bei der spektive breiter auffassen müssen: Es geht dem Autor
Einnahme der Stadt: »Deine Mauern sinken dahin, darum zu erproben, was passiert, wenn der ideologi-
deine Türme zerbrechen! Blutige Nacht! Blutiger sche ›Größenwahn‹, das Reich Gottes auf Erden zu
Mond! Du schreckliche Fackel des Sieges! [...] Bleiches verwirklichen, zu einem ›Massenwahn‹ wird, der es
Antlitz voll Verwesung und Mord! O Schwärme pfei- manipulierenden Führern erlaubt, aus dem blinden
fender Ratten! O Schweigen des Doms, tot aufgereckt Vertrauen der Menschen Profit zu schlagen (vgl.
in das Leere! Wie ist dir nicht alles anheimgegeben, Zeindler 2011). In diesem Sinne wird hier bereits
ewige Qual, wie ist dir nicht alles verfallen, unend- Dürrenmatts späteres Grundmotiv des ›Mitmachens‹
licher Abgrund!« (WA 1, 142). Wie viele andere enden vorbereitet.
Bockelson und Knipperdollinck auf dem Rad. Diese kritische Sicht auf den Zynismus der Macht
In seiner Bearbeitung des historischen Stoffs voll- wird in der Fassung von 1967 dadurch verschärft,
zieht Dürrenmatt eine doppelte Kontrastierung: ei- dass Bockelson als Schauspieler und der Bischof als
nerseits zwischen dem in der Stadt herrschenden fa- Theaterliebhaber präsentiert werden. So wird denn
natischen Rausch, der zu allen möglichen Exzessen Bockelson am Schluss nicht, wie in Es steht geschrie-
führt, und einem besonnenen Bischof, der dem Schre- ben, aufs Rad geflochten, sondern wegen seines ko-
cken gegenüber um seine Ohnmacht weiß; anderer- mödiantischen Talents in die bischöfliche Theater-
seits, innerhalb der Stadt, zwischen dem demagogi- truppe aufgenommen. Die Mächtigen erkennen, dass
schen Verführer Bockelson und dem einfältigen Glau- er sie perfekt ›spielt‹. Deshalb ist Bockelson »ein The-
benseiferer Knipperdollinck, der nach Jesu Armuts- ma jeder Macht: Ihre Begründung durch Theatralik«
regeln lebt, um für das Übel zu büßen. (WA 10, 135).
Die spätere Komödie entschärft somit die religiöse
Konfrontation zwischen Bockelson und Knipperdol-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung linck, die 1947 im Zentrum stand. In der Gestalt Knip-
perdollincks vollzog sich Dürrenmatts Auseinander-
Dem Stück kommt in Dürrenmatts Gesamtwerk eine setzung mit dem vom Elternhaus geprägten Glauben,
wichtige Bedeutung zu; nicht so sehr, weil ihn – wie er hatte er doch einer anderen Gestalt im Stück die fol-
öfter scherzhaft betonte – der Skandal im Schauspiel- gende Selbstdarstellung in den Mund gelegt: Er sei »ein
haus berühmt gemacht hatte, sondern vielmehr weil im weitesten Sinne entwurzelter Protestant, behaftet
ihm »Es steht geschrieben die Zunge löste« (WA 1, mit der Beule des Zweifels, mißtrauisch gegen den
250). Das Drama wirkte wie eine Befreiung, die Dür- Glauben, den er bewundert, weil er ihn verloren« (WA
renmatt neue Sprachmöglichkeiten eröffnete und ihm 1, 58). So schließt das Stück in der frühen Fassung mit
so einen fulminanten Start auf der Theaterbühne ge- einem Gebet des geräderten Knipperdollinck, das die
währte. Wie Hans Wysling ausführlich gezeigt hat, paradoxe Spannung von Gericht und Gnade aus-
spielten dabei vielfältige literarische Einflüsse und Re- drückt: »Die Tiefe meiner Verzweiflung ist nur ein
miniszenzen eine wichtige Rolle, vor allem Paul Clau- Gleichnis Deiner Gerechtigkeit, und wie in einer Scha-
dels Stück Der seidene Schuh, das Horwitz im Juni le liegt mein Leib in diesem Rad, welche Du jetzt mit
1944 am Schauspielhaus in Hans Urs von Balthasars Deiner Gnade bis zum Rande füllst!« (148).
42 II Schriftstellerisches Werk – B Frühe Dramatik

Literatur Centre Dürrenmatt Neûchatel (Hg.): Les Fous de Dieu. Got-


Primärtexte tes Narren. Neuchâtel 2017 (Cahier 16).
Es steht geschrieben. Mit sechs Zeichnungen vom Autor. Wyrsch, Peter: Die Dürrenmatt-Story. In: G 1, 25–97, bes.
Basel 1947. 52–59.
Die Wiedertäufer. Eine Komödie in zwei Teilen. Zürich Wysling, Hans: Friedrich Dürrenmatt: Es steht geschrieben
1967. (1947). Protestantismus und Narzissmus [1982]. In: Hans-
Es steht geschrieben. Ein Drama. In: WA 1, 9–148. Rudolf Schärer, Jean-Pierre Bünter (Hg.): Streifzüge. Lite-
Die Wiedertäufer. Komödie. WA 10. ratur aus der deutschen Schweiz 1945–1991. Zürich 1996,
15–37.
Sekundärliteratur Zeindler, Matthias: Wider das Reich Gottes auf Erden. Reli-
Bühler, Pierre: Es steht geschrieben/Les fous de Dieu (1947). gionskritik und Ideologiekritik bei Friedrich Dürrenmatt.
Le jeune Dürrenmatt se confronte aux anabaptistes de In: David Plüss u. a. (Hg.): Imagination in der Praktischen
Münster. In: Mennonitica Helvetica 41 (2018), 7–26. Theologie. Zürich 2011, 159–169.

Pierre Bühler
11  Der Blinde 43

11 Der Blinde 13.1.1948). Diese Tendenz wurde damals von den


meisten öffentlichen Stimmen begrüßt und dem Au-
Entstehungs- und Wirkungsgeschichte tor außerordentliches Potential in dieser Richtung at-
testiert. Kritisiert wurde dagegen, dass das Stück als
Friedrich Dürrenmatt begann die Arbeit an seinem Drama noch unausgereift sei, kaum eine Handlungs-
zweiten Theaterstück Der Blinde noch vor der Urauf- entwicklung zeige und daher mit drei Stunden Auf-
führung von Es steht geschrieben – eine erste Fassung führungszeit zu lang dauere.
schrieb er im Januar 1947 innerhalb eines Monats nie- Dürrenmatt ließ den Blinden nach weiteren Auffüh-
der. Sie ist als Typoskript überliefert und wird mit wei- rungen in Zürich (1948) und Münster (1951) für das
teren Vorfassungen und Fragmenten im Schweizer Li- Theater sperren, vermutlich aufgrund der Kritik an der
teraturarchiv in Bern aufbewahrt. Die Erstfassung dramatischen Durchführung und weil er den Ruf des
steigt mit vier großen Monologen ein, die in der end- christlichen Tendenzdichters ablegen wollte. Erst 1960
gültigen Fassung, die Dürrenmatt im Winter 1947/48 publizierte er das Drama in leicht veränderter Fassung
fertigstellte, durch Dialoge ersetzt sind (vgl. Rusterholz in Buchform; 1980 und 1998 wurde diese Fassung oh-
2017, 23–25). Offenbar überarbeitete Dürrenmatt das ne weitere Überarbeitungen in die Werkausgaben
Stück zum Verdruss der Theatertruppe noch während übernommen. Die neuere Literaturkritik folgt der zeit-
der letzten Proben weiter. Die Uraufführung fand am genössischen darin, dass das Stück »undramatisch« sei
10.1.1948 unter der Regie von Ernst Ginsberg am (so Knopf 1988, 34), hebt demgegenüber aber hervor,
Stadttheater Basel statt, mit hochkarätiger Besetzung dass hier bereits mehrere charakteristische Aspekte
der Hauptrollen: Heinz Woester brillierte als der blin- von Dürrenmatts späterer Dramentheorie praktisch
de Herzog, Kurt Horwitz spielte dessen Widersacher umgesetzt seien (so Ringel 2002, bes. 347 u. 362).
Negro da Ponte, Bernhard Wicki den Herzogssohn Pa-
lamedes und Maria Becker die Tochter Octavia.
Das Stück des jungen »Stürmers und Drängers« Inhalt und Analyse
(Tages-Anzeiger vom 17.1.1948) wurde nach dem
Theaterskandal des vorigen Jahres mit angeregtem In- Das Drama Der Blinde spielt im Dreißigjährigen Krieg.
teresse erwartet. Am Mittwoch vor der Uraufführung Ein Herzog sitzt in den Trümmern seines Schlosses in-
hielt der Journalist und Redakteur Dr. Walter All- mitten seines verwüsteten Landes, von dessen Zerstö-
göwer im Rahmen einer fünfteiligen Vortragsreihe rung er nichts weiß, da er zum Zeitpunkt des Angriffs
zum modernen Dramenschaffen im überfüllten Uni- schwer erkrankt war und sein Augenlicht verlor (vgl.
onssaal der Basler Kunsthalle einen ausführlichen WA 1, 160). Sein schwermütiger Sohn Palamedes ver-
Vortrag über die geistige Situation im Allgemeinen sucht aus Mitleid die Illusion aufrechtzuerhalten, dass
und Dürrenmatts Stück im Besonderen, der am fol- Land und Schloss von den Kriegswirren verschont ge-
genden Wochenende im Sonntagsblatt der Basler blieben seien; das gelingt ihm, bis eines Tages Negro
Nachrichten in voller Länge publiziert wurde. da Ponte, Hauptmann der gegnerischen Armee Wal-
Anders als die Uraufführung von Es steht ge- lensteins, zufällig an der Ruine vorbeigeht und vom
schrieben endete diejenige des Blinden mit regem Ap- Herzog unversehens zu dessen Statthalter ernannt
plaus. Der überwiegende Teil der über vierzig Schwei- wird (vgl. 156). Negro da Ponte, irritiert von der Gut-
zer Pressestimmen würdigte sowohl die ausgezeich- gläubigkeit des Herzogs, nimmt das Amt an und be-
nete Aufführung als auch die »tiefe Frömmigkeit« schließt, dem Herzog mithilfe seines Gesindels die
der »gleichnishaften Predigt« (Basler Nachrichten, Zerstörung des Schlosses und des Reiches vorzuspie-
Abendblatt vom 12.1.1948; Solothurner Zeitung vom len und ihm so die vermeintliche Grundlage seines in-
13.1.1948). Während in der späteren Rezeption die neren Friedens zu nehmen. Der blinde Herzog schenkt
Darstellung des Glaubens im Stück zunehmend pro- dem Spiel Glauben und nimmt dafür in Kauf, sowohl
blematisiert wurde (s. u.), war in der zeitgenössischen seinen Sohn Palamedes als scheinbaren Verräter hin-
Meinung unter kirchenkritischen wie kirchennahen richten zu lassen (vgl. 208–216), sich einem Wallen-
Organen durchweg anerkannt, Dürrenmatt verkünde stein spielenden »Neger« zu unterwerfen (221–227),
»die Botschaft des Glaubens« (die sozialistische Zei- seinen Hofdichter Gnadenbrot Suppe eigenhändig zu
tung Vorwärts vom 15.1.1948), dass »der Glaube Ber- erwürgen (vgl. 228–230) und den Selbstmord seiner
ge versetzen und heldische Menschen im besten Sinne Tochter Octavia, die sich da Ponte als Gespielin hinge-
des Wortes erzeugen kann« (Solothurner Zeitung vom geben hatte, hinzunehmen (vgl. 236–241). Negro da

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_11
44 II Schriftstellerisches Werk – B Frühe Dramatik

Ponte kapituliert vor der unbeirrbaren Glaubens- von Dirnen und Gaunern verkörpert, und Negro da
bereitschaft des Herzogs und verlässt ihn, »tappend Ponte deckt bis zum Schluss seine wahre Identität
wie ein Blinder« (242). nicht auf.
Die Handlung des Stückes rekurriert auf mehrere
Traditionen, die unterschiedlich eingesetzt oder ver-
fremdet werden. Die Funktion des Dreißigjährigen Deutungsaspekte
Krieges als Hintergrund ist es, in der Parallelität zu
den Schrecken des Nationalsozialismus sowohl die Der Fokus zeitgenössischer und späterer Interpretatio-
Aktualität als auch die Zeitlosigkeit des Geschehens nen liegt auf der Einschätzung des Glaubens des Her-
zu betonen. Es geht um den Menschen ›an sich‹ (vgl. zogs im Zusammenhang mit dessen Blindheit. Die Li-
Welskop 2014, 74). Das macht die Handlungsträger zu teratur nach dem Zweiten Weltkrieg hat eine auffällige
Typen: Gleich zu Beginn des Stückes werden durch Fülle von blinden Protagonisten hervorgebracht (vgl.
biblische Referenzen der Herzog als gottesfürchtiger Hinweise bei Welskop 2014). Die Blindheit literari-
Hiob und sein nihilistischer Widersacher Negro da scher Figuren weist stets über sich hinaus; sie verkör-
Ponte als dessen teuflischer Versucher stilisiert; auch pert entweder Hellsichtigkeit oder – und in der Nach-
auf sprachlicher Ebene wird durch eine Fülle alttesta- kriegszeit vermehrt – ein Gefühl der Vereinsamung.
mentlicher Bilder und Sprachmuster auf die biblische Dass die Blindheit des Herzogs neben dem ›höheren
Tradition Bezug genommen (vgl. ausführlich Grose- Wissen‹ auch eine egoistische Indifferenz mit sich
close 1974). Palamedes und Octavia stehen für zwei bringt, die an mutwillige Verblendung grenzt und ihn
glaubenslose Haltungen, prinzipientreue Melancholie von allen Mitmenschen entfremdet, ist erst in neue-
und opportunistischen Hedonismus; sie parodieren ren Interpretationen verstärkt hervorgehoben worden
mythische und historische Namensvettern aus der (vgl. etwa ebd., 66 f.). Dürrenmatt bedient sich einer
homerischen Ilias und der römischen Antike, indem primitiven Blindenpsychologie und ignoriert die Frage
sie eine »irritierende Gleichzeitigkeit« (Ringel 2002, nach der sinnlichen Kompensation (vgl. ebd., 61 f.; Die
353) der in den ursprünglichen Geschichten gegebe- Weltwoche vom 16.1.1948). Zwar behauptet der Her-
nen Ordnung und dem im Stück dargestellten Ord- zog: »Ich bin blind. Ich muß dem Menschen vertrauen,
nungsverlust evozieren (vgl. ebd., 353–358). um zu sehen« (WA 1, 156) – aber müsste er nicht tas-
Darüber hinaus werden im Stück zusätzliche Dop- tend begreifen, dass sein Schloss in Trümmern liegt?
pelbödigkeiten über die Sprache hergestellt; einerseits Einen Hinweis darauf, dass er sich womöglich ent-
durch die Diskrepanz zwischen der Sprache und der gegen seiner Worte wissentlich der Wirklichkeit ver-
bildlich dargestellten Realität, andererseits durch sich schließt, gibt der vieldiskutierte Mord am Hofdichter
widersprechende Sprachspiele (vgl. ebd., 355). Dür- Suppe, den der Herzog erwürgt, als dieser ihm die
renmatt reflektierte 1954 in Theaterprobleme, der ›Wahrheit‹ aufdecken will (vgl. die unterschiedlichen
grundlegende Einfall des Stückes sei gewesen, das Deutungen bei Ringel 2002, 358–361; Welskop 2014,
Wort gegen das Bild zu stellen: »Der dramatische Ort 67 f.; Groseclose 1974, 69 f.; Luzerner Neueste Nach-
ist der gleiche, aber durch das Spiel, das man dem richten vom 12.1.1948).
Blinden vorspielt, wird er ein Doppeltes, ein Ort, den Die Frage, ob der blinde Herzog glauben muss und
der Zuschauer sieht, und ein Ort, an welchem sich der dementsprechend die unausweichliche Erfordernis
Blinde glaubt« (WA 30, 45; vgl. selbstkritisch WA 30, des Glaubens mutig bejahe, oder ob er nicht glauben
142; vgl. Frisch 1998, 573 f.). Tatsächlich bleibt der müsste und die willentliche Entscheidung zum Glau-
Schauplatz das ganze Stück hindurch, das ursprüng- ben daher als feige und gewissenlos zu betrachten wä-
lich als Vierakter aufgeführt, für die Buchform aber als re, ist nicht letztgültig zu klären. Evident ist dagegen,
Einakter umgestaltet wurde, die Schlossruine, deren dass die »elementare Kraft« (WA 31, 142) dieser völlig
Realität von zwei gegenläufigen Schauspielen paro- entschränkten Glaubensbereitschaft den Herzog für
diert wird: zuerst von der heilen Welt, die Palamedes die Sehenden »schrecklich und auf eine gespenstische
seinem Vater vorgaukelt, dann von deren Zerstörung, Art unmenschlich« macht (WA 1, 256), indem der
die da Ponte inszeniert. Auch das zweite Schauspiel Herzog jedem Menschen alles glaubt und so »sein
steht der bildlich dargestellten Wirklichkeit entgegen, Land von einem Augenblick auf den andern einem
denn die vermeintliche ›Flucht‹ vor den Truppen Wal- bösartigen, ja teuflischen Abenteurer« überlässt und
lensteins führt den Herzog in seiner Ruine im Kreis demselben Sohn und Tochter in die Hände und in den
herum, die Würdenträger aus dessen Armee werden Tod spielt (Brock 1948, 746). Dürrenmatt selber will
11  Der Blinde 45

diesen grotesken Zug erst später bemerkt haben und Literatur


weist im Nachwort der Werkausgabe darauf hin, das Primärtexte, Quellen
Stück sei nur als Experiment, nicht als Allegorie zu ver- Der Blinde. Ein Drama. Zürich 1960.
Der Blinde. In: WA 1, 149–243, 255–257.
stehen (vgl. WA 1, 256). Ebenfalls erst viel später äu- Der Blinde: 1.–3. Fassung und Fragmente. Typoskripte.
ßerte er gar den Gedanken, das Stück sei »von der Fra- Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m10.
ge angeregt, wie wohl Hitler und damit der Glaube an Agendaeinträge vom 1. und 27.1.1947. Schweizerisches Lite-
ihn möglich geworden war« (WA 31, 142). Der Theo- raturarchiv, Sig. SLA-FD-C-1-d-1947.
loge Karl Barth, der der Premiere des Stückes beige- Brief an Maria Becker [1967]. In: WA 30, 140–142.
Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. [1980]. In: WA 31,
wohnt hatte, sah dagegen im Blinden eine christliche
139–167, bes. 142.
»Theologie wie etwa die des ›Römerbriefs von 1921‹«, Theaterprobleme [1954]. In: WA 30, 31–72, bes. 45 u. 63.
seiner einflussreichen Frühschrift (zit. bei Rüedi 2011, Vinter [1970–1990]. In: WA 29, 189–231, bes. 192.
313, vgl. 312 f.; vgl. WA 29, 192). Während sicher ist,
dass Dürrenmatt sich zur Entstehungszeit des Blinden Sekundärliteratur
und lange darüber hinaus intensiv mit Barths Theo- Brock, Erich: Friedrich Dürrenmatt: Der Blinde. In: Schwei-
zer Monatshefte 27 (1948), 11, 745–748.
logie auseinandergesetzt hatte (vgl. Rusterholz 2017),
Frisch, Max: Tagebuch 1946–1949. In: Gesammelte Werke
scheint es problematisch, das Stück für den christli- in zeitlicher Folge, Bd. 2. Hg. von Hans Mayer u. a. Frank-
chen Glauben in Anspruch zu nehmen, da der Glaube furt a. M. 1998, bes. 573 f.
des Herzogs in der experimentellen Anlage des Stückes Groseclose, Sidney: The Murder of Gnadenbrot Suppe.
nicht auf den verborgenen Gott, sondern die verborge- Language and Levels of Reality in Friedrich Dürrenmatt’s
ne Welt gerichtet ist (vgl. ebd., 28). Die Problematik Der Blinde. In: German Life & Letters 28 (1974), 64–71.
Pressedokumentation zu den Aufführungen des Blinden in
dieser Ersetzung und der von Dürrenmatt hergestellte Basel und Münster [enthält alle im Text zitierten Presse-
Bezug zum Glauben an Hitler sind in den bisherigen stimmen]. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-
Interpretationsversuchen noch wenig berücksichtigt D-10-b-BLI.
worden und würden ebenso eine vertiefte Beschäfti- Ringel, Stefan: Der stumme Hiob. Parodie in Dürrenmatts
gung verdienen wie die abschließende Frage, ob der Dramentheorie und in seinem frühen Stück Der Blinde.
In: Monatshefte für Deutschsprachige Literatur und Kul-
Herzog als Sieger über den geschlagenen Negro da
tur 94 (2002), 3, 346–367.
Ponte zu bezeichnen sei, weil er in seinem Glauben Rusterholz, Peter: Christliches Paradox als Skandalon und
letztlich recht behalte (so etwa Welskop 2014, 56). Da Korrektiv der Nachkriegskultur nach 1945. Friedrich
der Herzog im Laufe des Stückes alle menschlichen Be- Dürrenmatt und Karl Barth. In: Ders.: Chaos und Renais-
ziehungen verspielt, ist mit Rusterholz (2017, 26) zu sance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg. von Hen-
erwägen, dass einem solchen Glauben, auch wenn er riette Herwig und Robin-M. Aust. Würzburg 2017, 15–34.
Welskop, Nena: Der Blinde. Konstruktionen eines Motivs in
alle Schläge unerschüttert übersteht, eine unangeneh- der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Würzburg
me Fragwürdigkeit anhaftet. 2014, bes. 55–76.

Kathrin Schmid
C Kabarett

12 Kabarett-Texte ihm mit, dass ihm auf der Arche aufgrund der Über-
bevölkerung und des schützenswerten großen Tier-
1933 emigrierte das von Erika Mann in München mit- bestandes kein menschenwürdiges Leben ermöglicht
begründete Kabarett Die Pfeffermühle in die Schweiz werden könne. Er könne lediglich in einem »sichern
und legte den Grundstein für die Entstehung des ers- Winkel« dankbar verharren (133). Darauf springt der
ten schweizerischen Kabaretts: Am 30.12.1933 grün- Schiffbrüchige zurück ins Meer. Dürrenmatt verband
den Walter Lesch, Otto Weissert, Emil Hegetschweiler im Sketch das Programmthema der ›Arche‹ mit der
und Alois Carigiet in Zürich das Cabaret Cornichon. seit 1942 allgemein bekannten Metapher vom ›vollen
Das Cornichon war ein Unterhaltungskabarett, das Boot‹, das für eine Schweiz stand, die keine Flüchtlin-
von 1934 bis 1954 insgesamt 64 Programme aufführte ge mehr aufnehmen konnte, da sie sonst selber unter-
und in dieser Zeit zum wichtigsten Kleinkunstensem- gehen würde. Entgegen dem durch die Propaganda
ble der Schweiz avancierte. Innenpolitisch verstand es gepflegten Selbstbild einer humanitären Schweiz stell-
sich als eine Stütze der ›Geistigen Landesverteidi- te er dem Flüchtling eine kaltherzige und unmensch-
gung‹, außenpolitisch wandte es sich gegen den Natio- liche Bürokratie gegenüber. Dass sich der Sketch kri-
nalsozialismus und den Faschismus. tisch auf die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz
1948 schrieb Friedrich Dürrenmatt für das Corni- bezieht, geht etwa auch aus der Namensgebung her-
chon einige Kabarett-Texte. Walter Lesch hatte im vor: Mit Dr. Matthias Blauhals spielte Dürrenmatt of-
Sommer 1947 mit Max Werner Lenz seinen wichtigs- fensichtlich auf Heinrich Rothmund an, den dama-
ten Autor verloren. Auf der Suche nach einem Ersatz ligen Chef der Fremdenpolizei im Eidgenössischen
wurde er auf Dürrenmatt aufmerksam, der am Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Dieser galt als
19.4.1947 mit seinem ersten Theaterstück Es steht ge- zentrale Figur der schweizerischen Flüchtlingspolitik
schrieben am Schauspielhaus Zürich erstmals für Fu- der Kriegszeit. Im August 1942 hatte er gestützt auf ei-
rore gesorgt hatte. Nachdem am 10.1.1948 das zweite nen Bundesratsbeschluss die Weisung erlassen, dass
Theaterstück Der Blinde am Theater Basel uraufge- Flüchtlinge aus Rassegründen grundsätzlich abzuwei-
führt wurde, schickte Lesch seinen Co-Leiter Peter sen seien. Rothmund reagierte prompt auf die von
Wyrsch nach Basel, um den jungen Dramatiker für die Dürrenmatt an ihn adressierte, satirische Kritik und
Mitarbeit zu gewinnen und machte ihm das Angebot beschwerte sich in einem Brief bei seinem ehemaligen
von monatlich 500 Franken für jeweils drei Sketche Studienfreund Walter Lesch über die »Verleumdung«
pro Programm. Für Dürrenmatt war die Mitarbeit (Rothmund 1948).
beim Cornichon primär ein Broterwerb, gleichzeitig Der zweite Sketch im Arche-Programm trug den
bot ihm das Kabarett aber auch die Möglichkeit, einige Titel Apokalypschen oder Der Erfinder (WA 17, 136–
seiner frühen dramatischen Ideen auf der Kleinkunst- 151). Er thematisiert die Bedrohung durch die Atom-
bühne erstmals zu erproben. bombe im Kontext des beginnenden Kalten Krieges.
Im Mai 1948 wurden im Programm Arche Noah die Der Sketch spielt in einem bürgerlichen Salon auf der
ersten beiden Dürrenmatt-Nummern aufgeführt. Der Arche: An der Wand hängen Ferdinand Hodlers Wil-
Sketch Der Gerettete (WA 17, 127–135) spielt im Büro helm Tell und Die Toteninsel von Arnold Böcklin. Der
von Dr. Matthias Blauhals, dem Chef des Amtes für aus einem Irrenhaus geflohene »Professor Zweistein«
Schiffbrüchige, auf der »Arche« (127). Der Schiffbrü- tritt als Erfinder der Atombombe auf (137). Er führt
chige Armin Schlucker erklärt, er sei ins Meer ge- einen Koffer mit Miniatur-Atombomben bei sich, mit
sprungen, nachdem der Abschaum der Menschheit denen er zu experimentellen Zwecken die Arche in die
sich seines Bootes bemächtigt habe. Der Beamte teilt Luft sprengen will. Der Archenpräsident zieht jedoch

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_12
12 Kabarett-Texte 47

einen Revolver und erklärt dem Professor, er befinde Macht dient. In seinen Hoffnungen enttäuscht, wen-
sich auf einer Arche, deren Nationalheld auch nicht det sich der besorgte Kleinbürger resigniert von der
vor einem Mord zurückgeschreckt sei. Nachdem der Politik ab. Der Sketch Gib Gas! nahm ein aktuelles Er-
Präsident den verrückten Professor von seinem Vor- eignis aus dem Motorsport zum Anlass. Nach einigen
haben abbringen kann und dieser das Schiff verlässt, schweren Unfällen wurden 1948 Stimmen laut, die
entdeckt der Archenpräsident im Dekolleté seiner den Grand Prix Bern verbieten wollten. Im Sketch
Frau eine kleine Atombombe, die Zweistein dort überfährt ein Autorennfahrer in einem makabren
heimlich versteckt hat. Der Präsident steht am Ende Running Gag nacheinander ein Kaninchen, eine Zie-
alleine auf der Bühne und hält die Bombe in seinen ge, einen Briefträger und einen Kegelclub. Während
zitternden Händen, während im Hintergrund Böck- der Tachometer des Rennfahrers immer höher steigt,
lins Gemälde von der untergehenden Sonne beschie- erreicht der Sketch am Ende seine Klimax in einem
nen wird. Das Motiv des Untergangs der Menschheit abrupten Stopp.
durch die Atombombe behandelte Dürrenmatt auch Die Erwerbsarbeit für das Cornichon wurde für
in seiner ersten Komödie Der Knopf (1943/1951), im Dürrenmatt allerdings mehr und mehr zu einer lästi-
Hörspiel Das Unternehmen der Wega (1954) und spä- gen Nebenbeschäftigung. Er ärgerte sich über die Kür-
ter in der Tragikomödie Die Physiker (1962). Für das zungen und Streichungen seiner Sketche durch die
Cornichon-Programm hatte er zudem ein Chanson Leitung. Als ihm im Sommer 1948 das Honorar von
geschrieben, das den Titel Der Mister oder Das Lied 500 auf 300 Franken gekürzt wurde, kam es endgültig
vom Pflanzer auf dem hintersten Planet trug (unpubli- zum Bruch. 1963 schrieb er noch die Kabarettnum-
ziert; im SLA Bern als Typoskript zugänglich). Im mer Die Hochzeit der Helvetia mit Merkur, die von Ti-
Chanson kontrastiert Dürrenmatt das Motiv einer bor Kasics als Kantate für Voli Geiler und Walter Mo-
atomaren Katastrophe mit dem idyllischen Bild eines rath vertont wurde. Die ersten beiden Cornichon-
gepflegten Gemüsegartens im Weltall. Die Erde wurde Nummern Der Gerettete und Der Erfinder nahm Dür-
durch einen Atomkrieg zerstört, die letzten Menschen renmatt in die Werkausgabe von 1980 auf; die anderen
sind auf den hintersten Planeten geflüchtet. Dort Kabarett-Texte blieben unveröffentlicht.
pflügt ein ›Mister‹ Planetenmist um und pflanzt Boh- Die Kabarett-Texte von 1948 sind auch deshalb von
nenstangen, Kopfsalat sowie rote und gelbe Rüben. Im Interesse, weil sie zentrale Themen vorwegnehmen,
Hörspiel und in der Komödie Herkules und der Stall mit denen sich Dürrenmatt auch später in seinen po-
des Augias (1954/1962) griff Dürrenmatt den ›Mist‹ litischen Reden, Essays und Theaterstücken auseinan-
als komödiantisches Leitmotiv wieder auf. Die Welt- dergesetzt hat. Mit seiner Art Kabarett, das weder Lö-
all-Phantasie erinnert zudem an den Psalm Salomos sungen noch Versöhnung anbot, stieß er bei der Cor-
aus den Physikern, mit welchem Möbius seinen Wahn- nichon-Leitung, aber auch beim Publikum und der
sinn zu demonstrieren versucht, sowie an eine ähn- Kritik auf Unverständnis. »Ihre Sketche scheinen den
liche lyrische Szene in der Komödienfassung der Pan- Rahmen des Cabaret zu sprengen. Es sind keine Sket-
ne (1979), wo die Pensionäre kurz vor dem tragischen che mehr, sondern gefährliche und unbequeme Dro-
Ende ebenfalls ein wildes, blasphemisches Lied auf die hungen. Dahinter ist eine Art Gericht, das man bei
Planeten anstimmen. Bier, Wein und Café nicht gerne hat. Selbst die erns-
Für das Cornichon-Programm Es liit i dr Luft vom testen Dinge von Lenz sind harmlos gegen Ihre Dyna-
Herbst 1948 schrieb Dürrenmatt dann die Sketche mik-Attentate«, schrieb ihm damals Kurt Horwitz,
Die Amtssprache, Hochschule der Politik und Gib Gas! der Schauspieldirektor des Stadttheaters Basel (Hor-
(ebenfalls alle unpubliziert und zugänglich im SLA witz 1948).
Bern). Der Sketch Die Amtssprache ist eine politische Als Theaterautor wurde Dürrenmatt später wieder-
Satire, in der sich Hitler, Mussolini und Franco zu- holt der Hang zum ›Kabarettistischen‹ zum Vorwurf
sammen mit den Sowjets, den USA, dem Vatikan, den gemacht, da manche Kritiker den Klamauk als unnö-
Arabern, Charles de Gaulle und den Schweizer Politi- tiges Anhängsel verstanden. Die Komik erfüllt in Dür-
kern in der Hölle versammeln, wobei sämtliche ideo- renmatts Theaterstücken jedoch eine wichtige drama-
logische Feindbilder ad absurdum geführt werden. turgische Funktion, da sie dem tragischen Ernst der
Im Sketch Hochschule der Politik konfrontiert der Au- von ihm behandelten Stoffe entgegenwirkt. Erst aus
tor einen Velohändler mit einem Professor, der ein dem Kontrast von Komischem und Tragischem ergibt
machiavellistisches Politikverständnis propagiert, in sich die für ihn charakteristische Form der Tragiko-
dem die Politik allein dem eigenen Streben nach mödie: »Das Komische gilt als das Minderwertige,
48 II Schriftstellerisches Werk – C Kabarett

Dubiose, Unschickliche, man läßt es nur gelten, wo ei- skript. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-
nem so kannibalisch wohl wird als wie fünfhundert A-r220.
Säuen. Doch in dem Moment, wo das Komische als Die Hochzeit der Helvetia mit Merkur. Typoskript. Schwei-
zerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m252_XII.
das Gefährliche, Aufdeckende, Fordernde, Moralische Brief von Kurt Horwitz an Friedrich Dürrenmatt vom
erkannt wird, läßt man es fahren wie ein heißes Eisen, 1.5.1948. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-B-
denn die Kunst darf alles sein, was sie will, wenn sie 2-HOR.
nur gemütlich bleibt«, schrieb Dürrenmatt im Essay Brief von Heinrich Rothmund an Walter Lesch vom
Theaterprobleme (1954; WA 30, 69). 11.5.1948. Cabaret-Archiv, Gwatt, L 4.1.

Literatur Sekundärliteratur
Primärtexte, Quellen Keller, Peter Michael: Friedrich Dürrenmatt im Nachkriegs-
Der Gerettete. In: WA 17, 127–135. Cornichon. In: Cabaret Cornichon. Geschichte einer
Der Erfinder. In: WA 17, 136–151. nationalen Bühne. Zürich 2011, 341–361.
Hochschule für Politik. Typoskript. Schweizerisches Litera- Kreis, Georg: Die Schweizerische Flüchtlingspolitik der
turarchiv, Sig. SLA-FD-A-r220. Jahre 1933–1945. In: Schweizerische Zeitschrift für
Die Amtssprache. Typoskript. Schweizerisches Literatur- Geschichte 47 (1997), 552–579.
archiv, Sig. SLA-FD-A-r220. Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Gib Gas! Typoskript. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. Biographie. Zürich 2011, 338–341, 492–493.
SLA-FD-A-r220. Wyrsch, Peter: Die Dürrenmatt-Story. In: G1, 25–97.
Das Lied vom Pflanzer auf dem hintersten Planet. Typo-
Michael Fischer
D Hörspiele

13 Hörspiele der Lektüre der Forschungsliteratur der Eindruck,


als handle es sich bei Dürrenmatts Hörspielen aus-
Einführung schließlich um Auftragsarbeiten, die seinem ansons-
ten selbstbestimmten Œuvre nicht zuzurechnen sei-
Das Hörspiel als Stiefkind in der Forschung
en, ohne dessen Wert zu schmälern.
Das Hörspiel als Forschungsgegenstand fristet in der Ebenso wie seine Kriminalromane schrieb Dürren-
Literaturwissenschaft gemeinhin ein Schattendasein. matt seine Hörspiele durchaus auch aus Gründen des
Zu sehr bewegt es sich an den Grenzen zu Literatur- Broterwerbs, zumal er mit seinen Theaterarbeiten zu-
fernem: zu Klangcollagen, zur Unterhaltungsliteratur, nächst wenig erfolgreich war. Im Gespräch mit Heinz
zu reiner Zweitverwertung. Stirnrunzelnd ordnet die Ludwig Arnold sagt er: »Da muss ich dem deutschen
deutschsprachige Literaturwissenschaft das Hörspiel Rundfunk sehr dankbar sein, denn der wurde so etwas
dem Gebiet der Medienwissenschaft zu. Tatsächlich wie mein Mäzen« (Arnold 1990, 313). Deutsche Sen-
ist zwar der Rundfunk und alles, was damit zusam- der hatten eine große Reichweite, und sie zahlten gut.
menhängt, Domäne der Medienwissenschaft. Da der
Anteil von Hörspielen am Gesamtprogramm der
Brotberuf als schriftstellerisches Stimulans
Rundfunksender selbst in den Blütephasen der 1920er
und 1950er Jahre nie über drei Prozent lag, ist aller- Das Hörspiel hatte im Deutschland der Nachkriegszeit
dings auch in der Medienwissenschaft das (literari- Hochkonjunktur; zahlreiche namhafte Schriftstellerin-
sche) Hörspiel eine Forschungsnische. nen und Schriftsteller haben solche geschrieben (u. a.
Entsprechend sind die Analysen der Hörspiele Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll,
Friedrich Dürrenmatts, von denen er zwischen 1951 Günter Eich, Wolfgang Hildesheimer). Diese immense
und 1960 immerhin acht geschrieben hat, eher spär- schriftstellerische Betätigung in Sachen Hörspiel mit
lich. Das ist umso befremdlicher, als sich gerade in den Honoraren allein zu begründen, greift allerdings zu
Deutschland, wo seine Hörspiele überwiegend produ- kurz. Ein weiterer Aspekt war, dass man über den Laut-
ziert und gesendet wurden, das Medium als literari- sprecher schlicht mehr Rezipienten erreichte als über
sche Gattung bei Publikum und Autorenschaft weit Druckseiten oder Theaterbühnen. Die Radio-Affinität
größerer Beliebtheit erfreut als in anderen Ländern war in Deutschland seit jeher hoch. Schon im Dritten
und Literaturen. Reich war der Rundfunk massiv propagiert worden. In
der Nachkriegszeit bauten die Alliierten innerhalb kür-
zester Zeit ein flächendeckendes Sendenetz auf, da der
Hörspiel-Schreiben als Brotberuf
Rundfunk das verlässlichste Medium war. Die mediale
Wenn man sich nun von literaturwissenschaftlicher Infrastruktur lag danieder; Druckereien, Theater und
Seite über zahlreiche Monografien hinweg mit einem Kinos waren großteils zerstört, Papier war knapp. Auch
Autor auseinandersetzt und dabei einen umfangrei- war Radiohören schlicht kostengünstiger, als Bücher zu
chen Bereich seines Schaffens ausklammert, ergibt erstehen. Und nicht zuletzt gab es in Deutschland
sich ein gewisser Erklärungsdruck. In der Regel wird 11.000 erblindete Kriegsheimkehrer, die mit Literatur
auf die wirtschaftliche Notsituation verwiesen, die versorgt sein wollten und ein forderndes Publikum dar-
Dürrenmatt zum Schreiben von Hörspielen geradezu stellten. So gründete der Bund der Kriegsblinden
gezwungen habe. Hörspiele seien, schreibt beispiels- Deutschlands e. V. 1950 den Hörspielpreis der Kriegs-
weise Wolfgang Pasche, sein »finanzieller Rettungs- blinden, der binnen kurzem zu einer weithin anerkann-
anker« gewesen (1997, 109). Zuweilen entsteht bei ten literarischen Auszeichnung avancierte.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_13
50 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

Ob aus Gründen des Broterwerbs oder doch aus deren Umsetzung Dürrenmatt allerdings nicht beteiligt
Überzeugung, Dürrenmatt hat sich intensiv mit der war. So wirkte er etwa bei der Hörspielversion von Das
Gattung auseinandergesetzt und die Notwendigkeit Sterben der Pythia (1981) lediglich als Sprecher mit.
des Hörspielschreibens sogar als positiv empfunden: Die nachfolgend zu analysierenden acht Hörspiele
Ȇberhaupt tut es dem Schriftsteller gut, sich nach sind dagegen keine Zweitverwertungen anderer Texte,
dem Markte zu richten. Er lernt so schreiben, listig sondern Originale dieser Gattung: Herkules und der
schreiben, das Seine unter auferlegten Bedingungen Stall des Augias bearbeitete Dürrenmatt erst 1962 für
zu treiben. Geldverdienen ist ein schriftstellerisches die Bühne, neun Jahre nach der Ursendung im Nord-
Stimulans« (WA 32, 59). westdeutschen Rundfunk (NWDR), und Die Panne
Immerhin trug die Beschäftigung mit dem Hör- wurde als Hörspiel am 17.1.1956 vom Bayerischen
spiel nicht ›nur‹ finanzielle Früchte: 1957 erhielt Dür- (BR) und Süddeutschen Rundfunk (SDR) urgesendet,
renmatt den Preis der Kriegsblinden für Die Panne, erst später im Jahr erschien sie als Erzählung; als Büh-
ein Jahr später den Prix Italia für Abendstunde im nenstück wurde Die Panne 1979 aufgeführt. Diese Be-
Spätherbst. Und auch seitens der Literaturwissen- arbeitungen sind natürlich für eine Analyse der Hör-
schaft werden seine Hörspiele nicht durchgängig ab- spiele wichtig, da sich anhand der jeweiligen Unter-
getan. So gehört für Birgit Lermen Die Panne »zu den schiede einerseits Einblicke in den Produktionsprozess
gültigsten Leistungen der deutschen Hörspielproduk- gewinnen lassen (da Bühne, Papier und Lautsprecher
tion« (1975, 87); Gerhard P. Knapp überzeugt im Fall unterschiedliche Herangehensweisen an einen Stoff
von Herkules und der Stall des Augias (1954) oder der nötig machen). Andererseits werden dadurch Weiter-
Abendstunde im Spätherbst (1957) »der Hörspielent- entwicklungen im Stoff selbst erkennbar, die womög-
wurf auf lange Strecken mehr als die Bühnen- bezie- lich das Hörspiel als Vorläufer- und Testversion der
hungsweise Filmrealisierung, gerade weil die Be- späteren Bühnenrealisierungen erweisen. Bearbeitun-
schränkung auf das Wort eine (sprachliche) Konzen- gen in die Gegenrichtung, also Umwandlungen eines
tration erzwingt, die die Bühne nicht leistet« (1993, dramatisch konzipierten Textes in ein Hörspiel, finden
72). Und Murray B. Peppard meint, dass Dürrenmatt sich in Dürrenmatts Werk nirgendwo.
in den Hörspielen Inhalt und Form so meisterhaft auf-
einander abgestimmt habe, dass sie als Bearbeitungen
Hörspielgeschichte als Provokation
für die Bühne alle gleichermaßen erfolglos waren (vgl.
1969, 90). Die Untersuchung von Dürrenmatts Hörspielen hin-
Dürrenmatt selbst empfand das Ignorieren des sichtlich ihrer Stellung im Gesamtwerk oder im Kon-
Hörspiels seitens der Kritik sogar als Vorteil: »Nach ei- text der entsprechenden Bühnenwerke wurde in der
nem Theaterstück tut es gut, einen Roman zu schrei- Forschung bisher zwar durchaus geleistet, allerdings
ben, nach dem Roman erwacht die Lust auf ein Hör- fast ausschließlich den reinen Text betreffend. Die Ge-
spiel, nach dem Hörspiel wagt man sich wieder an ein schichtlichkeit und Funktionsweisen der Gattung sind
Theaterstück: Blutkreislauf. [...] Und dann noch das indes bisher in Bezug auf die Analyse der Hörspiele
Beste: mit deinen Hörspielen tauchst du wieder unter Dürrenmatts nicht zur Kenntnis genommen worden –
(falls du nicht gar zu offensichtlich in ihnen dichtest, und das, obwohl eine Einordnung nicht nur wichtig
reines Wort, Raumlosigkeiten usw.), kein ernsthafter ist, um die Stücke an sich besser verstehen zu können.
Kritiker nimmt sie wahr, liest sie, er schaut sie ja nur Dieses Bezugsfeld ist auch zentral, um zu verstehen,
als reine Gelegenheitsarbeit an, und so läßt sich gera- worin die Sonderrolle des Schweizers Dürrenmatt im
de in ihnen ungestört oft das Wesentlichste tun oder bundesdeutschen Hörspielschaffen der Nachkriegs-
doch vorbereiten« (WA 17, 157). zeit besteht, das dem Schweizer Umgang mit der Gat-
tung in geradezu diametraler Weise gegenübersteht.
Das Nichteinordnen in den Hörspielkontext der
Hörspieladaptionen
Zeit kann zu Fehlinterpretationen führen. Beispiels-
Dürrenmatt war ein Meister der Zweitverwertung: Von weise schreibt Hansueli Beusch, dass Dürrenmatt die
den meisten seiner Romane und Bühnenstücke existie- Möglichkeiten, die Gattung und Medium bieten, nicht
ren mehrere Fassungen (s. Kap. 28, 63). Noch in den ausschöpfe, sie geradezu missachte (vgl. Beusch 1979,
1950er Jahren wurden Hörspieladaptionen der Büh- 153 u. 202 f.), da in seinen Hörspielen Hintergrund-
nenstücke Romulus der Große, Ein Engel kommt nach geräusche kaum eine Rolle spielen würden. Die Be-
Babylon und Der Besuch der alten Dame gesendet, an obachtung an sich ist durchaus richtig. Daraus zu
13 Hörspiele 51

schließen, Dürrenmatt habe sein Handwerkszeug dau um Kasperl, 1932), pazifistisch bei Edlef Köppen
»nicht im Griff« gehabt (Kuckhoff 2007, 197) oder (Wir standen vor Verdun, 1931) und Ernst Johannsen
aber die spartanische akustische Untermalung sei in- (Brigadevermittlung, 1929). Aber auch die nationalso-
dividuelle Handschrift (Brock-Sulzer 1980, 210; Mit- zialistische Art des Hörspiels zeichnete sich mit Eber-
rache 1999, 62), ist entschieden zu kurz gegriffen. Die- hard Wolfgang Möllers Douaumont (1932) bereits so-
ser sparsame Umgang mit Geräuschkulissen trifft für wohl formal als auch inhaltlich ab.
die meisten Hörspiele der 1950er Jahre zu; er war In der Schweiz wurden ebenfalls 1923 die ersten
schlichtweg − und das, wie sich noch zeigen wird, aus Rundfunkstationen eingerichtet, die ein regelmäßiges
gutem Grund − allgemeines Programm dieser Zeit. Programm ausstrahlten, zunächst in Lausanne und
Bern. Der Zuspruch der Bevölkerung der neuen Tech-
nik gegenüber hielt sich jedoch in Grenzen. Die Zu-
Die Entwicklung des Hörspiels in Deutschland
wachsraten der Hörerschaft waren weit weniger
und der Schweiz
sprunghaft als in Deutschland: Bis Ende 1924 zählte
Die Art und Weise, wie sich das Hörspiel in den man in der Schweiz lediglich 16.964 registrierte Hörer.
1950er Jahren darstellte, ist das Resultat einer über Auch an die neue Kunstform ›Hörspiel‹ tastete man
30-jährigen Entwicklung. In Deutschland begann am sich sehr vorsichtig heran: Experimentelles Hörspiel
29.10.1923 die Funk-Stunde AG Berlin mit der Aus- wurde im Schweizer Rundfunk nicht praktiziert, und
strahlung eines regelmäßigen Programms. Das neue inhaltlich beschränkte man sich von vornherein auf
Medium wurde begeistert aufgenommen; die Zahl der Adaptionen bewährter Klassiker. Das erste Schweizer
gemeldeten Rundfunkgeräte nahm innerhalb kurzer Hörspiel wurde am 3.1.1925 auf Radio Zürich gesen-
Zeit ungeahnte Ausmaße an: Im März 1924 waren es det: die Bearbeitung eines der ältesten literarischen
etwas mehr als 2500, im Mai 11.000, im Juni 70.000, Denkmäler der Schweiz überhaupt, das um 1511 von
und bis Ende des Jahres hatten bereits über eine halbe einem unbekannten Autor verfasste Urner Spiel von
Million Deutsche ein Radio angemeldet. Die deut- Wilhelm Tell. Es folgten zwei geistliche Dramen, ein
schen Hörspielmacher entwickelten eine ungemeine Teil eines Osterspiels aus dem 15. Jahrhundert und
Liebe zum Experiment. Bereits das erste Hörspiel Calderóns Großes Welttheater. 1926 folgte dann das
Zauberei auf dem Sender, ausgestrahlt am 24.10.1924, Spiel vom verlorenen Sohn von Johannes Salat aus dem
ist alles andere als ein langsames Herantasten an die Jahr 1537. Im gleichen Jahr wurde auch erstmals ein
neue Technik und die neue Gattung, sondern ein Spiel Hörspiel eines Zeitgenossen gesendet, das Schützen-
mit dem Hörer, dessen voraussichtliche Erwartungen festspiel Die Schweizer von Cäsar von Arx, das sich in
von vornherein auf ein Karussell gesetzt werden. Inhalt und Form allerdings ebenfalls in ausgespro-
Schon früh machten sich Schriftsteller von Rang chen traditionellem Rahmen bewegte. Die Hörspiel-
ausführliche Gedanken darüber, was ein Sendespiel, produktion von Radio Bern wurde 1926 mit Anton
Funkspiel, Funkdrama – der Begriff ›Hörspiel‹ etab- Tschechows Lustspiel Heiratsantrag (1888) eröffnet,
lierte sich erst nach und nach − leisten kann, darf oder einem ebenfalls höchst bewährten Klassiker (vgl.
muss und welche Möglichkeiten und Grenzen es hat, Schwitzke 1963; Leonhardt 2001; Krug 2003; Strzolka
so etwa Alfred Döblin in seinem Vortrag auf der Ta- 2004; Schweiss u. a. 2008).
gung Dichtung und Rundfunk der Preußischen Aka-
demie der Künste in Kassel (1929) oder Bertolt Brecht
Das Hörspiel nach 1933
in verschiedenen zwischen 1927 und 1932 veröffent-
lichten Arbeiten, die später zu einer ›Radiotheorie‹ Die Zeit des radiofonen Experimentierens und Aus-
zusammengefasst wurden. lotens des Möglichen und Machbaren in Deutschland
In Fritz Walter Bischoffs Hörspiel Hallo! Hier Welle war mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten
Erdball! (1928) wird collageartig das Stakkato der schlagartig vorbei: Die prominentesten Radiomacher
Großstadt wiedergegeben; Weekend von Walter Rutt- wurden noch im Frühjahr 1933 zugunsten linien-
mann vom Juni 1930 besteht ausschließlich aus Ge- treuer Nazis ihrer Ämter enthoben und mit Berufs-
räuschen und kommt vollkommen ohne Text aus. In- verbot belegt. Statt experimenteller und sozialkriti-
haltlich wurde das Hörspiel schon bald für politische scher Hörspiele wurden nunmehr bei sinkenden Pro-
Botschaften genutzt – links bis sozialistisch geprägt duktionszahlen ausschließlich leicht verständliche
bei Brecht (Der Lindberghflug, 1929), Erich Kästner Stücke präsentiert, die in erster Linie Propagandazwe-
(Leben in dieser Zeit, 1929) und Walter Benjamin (Ra- cken dienten.
52 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

In der Schweiz war mit der zunehmenden faschisti- setzten, auf Dialoge und innere Monologe. Eines der
schen Bedrohung aus Italien die Bewegung der so- ersten deutschen Original-Hörspiele nach dem Krieg,
genannten ›Geistigen Landesverteidigung‹ entstan- Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür aus dem Jahr
den. Spätestens mit dem Beginn des Dritten Reichs 1947, gab die Richtung vor, an der man sich allgemein
wurde sie zum kulturpolitischen Programm und do- orientierte.
minierte mithin auch das Schweizer Hörspielgesche- Für den Rundfunk der Schweiz bedeutete das Jahr
hen. Neben militärischer und wirtschaftlicher Selbst- 1945 ebenso wenig eine Zäsur wie das Jahr 1933: Der
behauptung sollten auch die geistigen Kräfte für die öffentliche Zuspruch war gleichbleibend zögerlich,
Stärkung des Nationalbewusstseins eingesetzt werden. die Sender waren weniger zahlreich, die Programme
Für den Rundfunk bedeutete das, wie Kurt Schen- dünner, und nach wie vor legte man Wert darauf, sich
ker, der Chef der Sektion Radio im Stab Bundesrat Ab- vom nördlichen Nachbarland abzuheben. Man blieb
teilung Presse und Funkspruch, im April 1938 formu- der ›Geistigen Landesverteidigung‹ weiterhin verhaf-
lierte: »Wir senden weiter Bilder unserer Heimat, Lie- tet, Klassiker, leichte Krimis und harmlose Mundart-
der unseres Volkes, die Sprache unserer Altvorderen. komödien dominierten das Hörspielprogramm.
Was bodenständig und echt, gehört neben den Arbei- Dass Dürrenmatts Hörspiel-Erstling Der Doppel-
ten unserer geistigen Elite ans Mikrophon. [...] Wir gänger 1946 von Radio Bern abgelehnt wurde, er-
sind aber auch verpflichtet zu zeigen, dass unser Volk scheint vor diesem Hintergrund in keiner Weise ver-
ebenfalls seine Feste und Freuden, die Frau ihren wunderlich. Das Stück war weder im Dialekt noch
Kuchen und der Mann seinen Stumpen hat. Kurz ge- hielt es ›Schweizer Grundwerte‹ hoch noch war es so-
sagt: Wir müssen in die Schweizer Schädel hinein- zial und politisch leichte Kost. Dass sich Dürrenmatt
hämmern, dass es uns gar nicht schlecht, zum min- fürderhin an deutsche Rundfunkanstalten hielt, war
desten besser als den uns umgebenden Ländern nur konsequent.
geht« (Schenker, zit. nach Wüthrich 2003, 339). Ge- Dürrenmatt macht Hörspiele für ein deutsches Pu-
sellschaftskritisch, was die nationalen Verhältnisse be- blikum, er kennt die deutschen Hörspiel-Gepflogen-
traf, durfte man also beim Rundfunk nicht sein; auf heiten, und er versteht diese so gut in sein Schaffen zu
der anderen Seite war die Schweizerische Rund- integrieren, dass man ihm hohe Auszeichnungen zu-
spruchgesellschaft gehalten, stets die schweizerische spricht (vgl. Dedner 1971; Döhl 1979; Bloom 1985;
Neutralität zu wahren und »sich daher mit auslän- Friedrich 1991; Dussel 2010).
dischen politischen Verhältnissen besser überhaupt
nicht zu befassen« (Radio-Zeitung [1938], zit. nach
Dürrenmatts Hörspiel-Sonderweg
Weber 1995, 64). Für das Hörspielprogramm blieben
mithin fast nur Mundartkomödien übrig. Nichts an- Aber schrieb Dürrenmatt seine Hörspiele als Schwei-
deres ist aus dieser Zeit überliefert (vgl. Jorio 2006; zer? In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung
Döhl 1992; Weber 1995; Tribelhorn 2013). des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 2.4.1957
geht er humorvoll lapidar auf diese Frage ein: »Ich bin
Schweizer, wenn auch mein Fall insofern etwas ge-
Das Hörspiel nach 1945
mildert wird, als ich aus Neuchâtel komme, einer Stadt,
Nach dem Ende des Dritten Reichs konnten oder die bis vor etwas mehr als hundert Jahren zu Preußen
wollten die deutschen Hörspielmacher an die beiden gehörte« (WA 16, 177). Tatsächlich ist dies, was die
Hörspieltraditionen der Vergangenheit nicht anknüp- Inhalte seiner Hörspiele betrifft, einer der springenden
fen: Die Freude am Experiment wollte so gar nicht zur Punkte: Die thematischen Vorgaben, die ein bundes-
deutschen Nachkriegsliteratur passen, und es waren ja republikanisches (oder auch DDR-)Nachkriegshör-
zunächst die Literaten, die in der neu entstehenden spiel seinem bundesrepublikanischen (oder deutsch-
Hörspielszene den Ton angaben. Die propagandis- demokratischen) Autor fast schon diktiert, gelten für
tische und auf Allgemeinverständlichkeit ausgerichte- Dürrenmatt nur bedingt. Die beiden großen deut-
te Tradition der nationalsozialistischen Produktionen schen Traumata, die Bewältigung des Dritten Reichs
wollte/konnte man ebenfalls nicht fortführen. Die einerseits, die deutsche Teilung andererseits, betreffen
Konsequenz waren unaufgeregte Hörspiele, die auf ihn nicht, bzw. aus einem anderen Blickwinkel heraus.
ausladende Geräuschkulissen weitgehend verzichte- Auch das Wiederaufrüsten und der Kalte Krieg spie-
ten und stattdessen auf das reine Wort mit einer über- len für Schweizer eine andere Rolle als für Deutsche,
schaubaren Anzahl an Sprecherinnen und Sprechern resp. als für deutsche Schriftstellerinnen und Schrift-
13 Hörspiele 53

steller, die sich ihres dichterischen Auftrags sehr wohl rer knappen und konzentrierten Form ein deutliche-
bewusst sind. Dürrenmatt weiß natürlich um den Un- res Bild dieser Entwicklung liefern, als es aus den
terschied: »[E]s ist ein menschliches Problem, um das Bühnenstücken zu gewinnen ist« (1976, 127). Ein-
es geht, ein Problem, das sich hinter der Feststellung gedenk dessen sollen die Hörspiele im Folgenden in
verbirgt, die ein Schweizer oft zu hören bekommt, der chronologischen Reihe ihrer Entstehung dar-
nämlich, er habe nichts durchgemacht. Präziser, er ha- gestellt werden.
be keinen Krieg durchgemacht« (ebd.).
Als Nicht-Deutscher kann sich Dürrenmatt größe-
re Freiheiten erlauben. Und er erlaubt sie sich. Dort, Die Hörspiele
wo deutsche Hörspiele zum überwiegenden Teil posi-
Der Doppelgänger
tiv enden, einen Weg aufzeigen, zumindest eine Per-
spektive, weg vom Faschismus, hin zu neuen politi- Das Stück gehört zu Dürrenmatts frühesten Werken;
schen und gesellschaftlichen Formen, folgen seine es entstand 1946 noch während seiner Studienzeit in
Hörspiele dem Diktum, dass eine Geschichte erst Bern. Erst vierzehn Jahre nachdem es von Radio Bern
»dann zu Ende gedacht [sei], wenn sie ihre schlimmst- abgelehnt worden war, erschien es 1960 bei Dürren-
mögliche Wendung genommen« habe (WA 7, 91). matts ›Stammverlag‹ Arche in Buchform. Im Dezem-
Diese schlimmstmögliche Wendung kann gerade ber desselben Jahres wurde es in einer Gemeinschafts-
auch darin bestehen, dass es eben keine Entwicklung produktion des BR und Norddeutschen Rundfunks
gibt, dass die Geschichten im Kreis verlaufen – am (NDR) gesendet. Ob Dürrenmatt das Stück bereits
deutlichsten ausgeführt in Die Panne und Abendstun- vorher einem deutschen Sender angeboten hatte, ist
de im Spätherbst, die jeweils mit der Wiederholung der nicht bekannt. Im Jahr 1946 wäre es dafür definitiv zu
Anfangsszene enden. Zwar machen die Protagonisten früh gewesen; in den unmittelbaren Nachkriegsjahren
eine Entwicklung durch, begreifen sogar etwas; die wurden überwiegend amerikanische, französische
höhere Einsicht oder gar eine Läuterung, die dem und britische Hörspiele gesendet sowie Hörspielbear-
Lernprozess folgen sollte, bleibt jedoch aus. beitungen von Exilliteraten. Der von den Briten ein-
Wessen Hörspiele vorwiegend auf bundesrepubli- gerichtete NWDR startete sein Hörspielprogramm im
kanischen Sendern gespielt werden, der wird haupt- September 1945 mit Carl Zuckmayers Hauptmann von
sächlich von bundesrepublikanischem Publikum emp- Köpenick. Auch Original-Hörspiele deutscher Autoren
fangen; inwiefern Dürrenmatt dieses nun allerdings wurden bereits früh gesendet – im Januar 1946 Der
auch anspricht, muss am Einzelfall geprüft werden. Held von Volker Starke und im Februar 1947 das pro-
Immerhin sagt er, es falle ihm »gar nicht ein, mich in minenteste Beispiel des neu entstehenden Nachkriegs-
erster Linie an die Deutschen zu wenden, sondern ich hörspiels, Borcherts Draußen vor der Tür. Doch war
wende mich vor allem an die Schweizer« (Dürrenmatt, hier die Thematik mehr oder weniger vorgegeben: Die
zit. nach Döhl 1978). Beschäftigung mit den konkret benennbaren Proble-
men nach dem Zweiten Weltkrieg. Dürrenmatts Moti-
ve hätten sich in dieses Schema kaum einpassen lassen.
Die Hörspiele im Kontext des Gesamtwerks
Im Doppelgänger wird innerhalb eines Rahmen-
Dürrenmatts Hörspiele zu interpretieren, ohne deren dialogs zwischen dem Regisseur und dem Autor (ge-
Stellenwert im Gesamtwerk und die Bezüge zu seinem sprochen von Dürrenmatt selbst), die das Geschehen
restlichen Schaffen zu berücksichtigen, wäre ebenso kommentierend begleiten, der zunächst namenlose
unzulänglich wie das Außer-Acht-Lassen der deut- Protagonist von seinem Doppelgänger aus dem Schlaf
schen und schweizerischen Hörspielhistorie. Herkules geschreckt. Dieser eröffnet ihm, er sei zum Tode ver-
und der Stall des Augias und Die Panne gibt es zusätz- urteilt, aufgrund eines Mordes, den nicht er selbst be-
lich zur Hörspiel- auch als Theater- bzw. Prosafassung; gangen habe, sondern eben sein Doppelgänger. Als
ein Vergleich dieser Doppelfassungen drängt sich ge- Folge der ungerechtfertigten Verurteilung wird der
radezu auf. Andererseits bietet es sich an, die Hörspie- Protagonist im Laufe des Stücks allerdings tatsächlich
le im Zusammenhang mit den thematisch verwandten zum Mörder − am Doppelgänger und an seiner Frau
Bühnen- und Prosawerken zu betrachten. Anhand –, wird schuldig und stellt sich in Erwartung einer ge-
dieses Vorgehens lässt sich die künstlerische Entwick- rechten Strafe dem »hohen Gericht« (WA 1, 321). Der
lung Dürrenmatts in ihrer Gesamtheit erkennen, zu- Hörspielregisseur will sich diesem Paradox nicht beu-
mal die Hörspiele, wie Renate Usmiani meint, »in ih- gen, mischt sich in die Handlung ein und versucht
54 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

den Protagonisten davon abzuhalten, das Urteil an- Auch wenn man im Produktionsjahr 1960 bereits
zunehmen: neue Hörspielwege beschritt, die sich vom Nach-
»DER MANN Ich war ein Mörder, ohne zu töten, kriegshörspiel wegbewegten, ist Der Doppelgänger
ich war des Todes schuldig, ohne ein Verbrechen be- von der Machart ein Worthörspiel der unmittelbaren
gangen zu haben. / REGISSEUR Das ist ungerecht. Nachkriegszeit par excellence: Sieben Stimmen, zum
Vom Menschen aus gesehen, ist das ungerecht. / DER Schluss hin ein wenig Hall, an einigen Stellen werden
MANN Ich habe es aufgegeben, vom Menschen aus Szenen sporadisch mit Musik unterlegt; Hintergrund-
zu sehen. / REGISSEUR Was von Ihnen in jener geräusche fehlen bis auf einen merkwürdig deplatzier-
nächtlichen Stunde im Gefängnis verlangt wurde, ten Schuss komplett.
kann von keinem Menschen verlangt werden. / DER
MANN Wurde von mir mehr verlangt als Glaube? /
Der Prozeß um des Esels Schatten
REGISSEUR verwundert Glaube? / DER MANN
Glaube an die Gerechtigkeit des hohen Gerichts. / RE- Dürrenmatts zweitem Hörspiel wurde mehr Erfolg
GISSEUR Wenn Sie jetzt glauben, das hohe Gericht zuteil. Es wurde mehrfach gesendet: zunächst am
habe recht, müssen Sie sich aufgegeben haben. / DER 5.4.1951 auf Radio Bern, ein Jahr später folgten Neuin-
MANN Ich habe mich aufgegeben. / [...] / Nur wer sei- szenierungen des Südwestfunks (SWF) und des BR,
ne [des hohen Gerichts, D. L.] Ungerechtigkeit an- dann des NWDR, des NDR, des Österreichischen
nimmt, findet seine Gerechtigkeit, und nur wer ihm (ORF), des SDR und Saarländischen Rundfunks (SR),
erliegt, findet seine Gnade« (321 f.). des Rundfunks der DDR und zuletzt 1990 der Deut-
Die Thematisierung von Glaubensproblemen und schen Welle. Gedruckt erschien das Hörspiel 1958
den Widersprüchlichkeiten des religiösen Lebens, bei Arche.
aber auch die Auflehnung des Pastorensohns gegen Der Umstand, dass das Stück in der Schweiz des
das Christentum ziehen sich durch Dürrenmatts kom- Jahres 1951 gesendet wurde, scheint den bisherigen
plettes Frühwerk: Im Doppelgänger geht es um eines Ausführungen zu widersprechen, thematisch scheint
der Urthemen der christlichen Lehre, die Prädestina- es eher an den bundesrepublikanischen Hörspiel-
tion, das Schuldigwerden des Menschen, die Gerech- gepflogenheiten der Zeit orientiert: Eingebettet in sei-
tigkeit Gottes und die Unterwerfung des Menschen ne literarische Vorlage – das vierte Buch des Romans
unter Gottes Urteil. Indem der Mensch Mensch ist, ist Die Abderiten von Christoph Martin Wieland – wird
er auch schon der Sünde schuldig (Röm 5, 12). die westeuropäische Nachkriegsgesellschaft satirisch
Als zusätzliches Paradoxon kommt hinzu, dass, wie überzeichnet, die Gefahr eines Atomkriegs und die
Regisseur und Autor am Ende feststellen, das hohe Gier der Kriegsgewinnler dargestellt. In diesem Sinn
Gericht – und somit wohl auch Gott – überhaupt nicht und mit der Anleihe aus Brechts Ballade von den See-
existieren. Der Sitz des Gerichts wird in Form eines räubern (Publikationsjahr 1927) passte das Stück frei-
Rokokoschlösschens beschrieben, die schwarzen Au- lich auch in den DDR-Rundfunk. Dabei bleibt es aber,
tomobile der Richter sind im Schatten der Bäume da- wie Renate Usmiani anmerkt, »durchaus im Rahmen
vor geparkt; der Gerichtssaal selbst jedoch ist öde und des Gemütlichen«, bleibt »spöttisch überlegen« und
leer, nur eine längst verwitterte Statue der Justitia deu- kompatibel zum Hörspiel schweizerischen Zuschnitts,
tet auf seine ursprüngliche Funktion hin. obwohl der Stoff an sich durchaus brisant war (1976,
Das Motiv der paradoxen Gerechtigkeit prägt Dür- 133). Auch trägt das »lausige thrazische Nest Abdera«
renmatts gesamtes Frühwerk. Der Doppelgänger ist (WA 8, 121), in dem Der Prozeß um des Esels Schatten
damit seiner frühen Prosa, aber auch seinen ersten spielt, deutlich schweizerische Züge.
beiden Bühnenwerken Es steht geschrieben (1945/46) Der Zahnarzt Struthion aus Abdera mietet für eine
und Der Blinde (1947) verwandt. Geschäftsreise einen Esel. Unterwegs lässt er sich in
Die Unterwerfung des Menschen unter eine höchs- dessen Schatten nieder, worauf es mit dem Eselstrei-
te Autorität, seine Schuld, die Frage nach seiner Eigen- ber Anthrax zum Streit über die Frage kommt, ob
verantwortlichkeit wären zwar vor dem Hintergrund Struthion zusammen mit dem Esel auch dessen Schat-
des gerade zu Ende gegangenen ›Tausendjährigen ten gemietet habe. Da sich die beiden Kontrahenten
Reichs‹ auch aus bundesrepublikanischer Sicht eine nicht einigen können, ziehen sie vor Gericht. Der
interessante Themenstellung gewesen. Im Jahr 1946 Streit um die Eselsmiete eskaliert schnell zu einem
war die Zeit dafür allerdings noch nicht reif, zu meta- Streit um Prinzipien, um Götterglaube, Menschlich-
physisch war die Geschichte, zu wenig konkret. keit, das Wohl des Proletariats und schließlich die
13 Hörspiele 55

Freiheit, die verteidigt werden muss. Beziehungen, nicht dazu bringt, von seinem Auftrag Abstand zu
Bestechung und Propaganda spielen plötzlich eine nehmen. Ihm ist es einerlei, ob seine Delinquenten
Rolle. Die Prozesskosten bringen die Kontrahenten schuldig oder unschuldig sind. Er berichtet aus sei-
buchstäblich um Weib und Kind, um Zahnarztpraxis nem Berufsleben, von den Erfahrungen, die er mit sei-
und Esel. Staats- und Volksversammlung schalten sich nen Opfern gemacht hat. Es ist ein großer Monolog
ein, der Fremdenverkehrsverein, der Tierschutz, die über die Kunst des Sterbens, die Kunst, seinen Tod in
Zünfte und schließlich die Waffenindustrie. Nachdem Demut anzunehmen. Was der Schriftsteller schließ-
letztendlich die ganze Stadt in Flammen aufgegangen lich auch tut.
ist, sucht man nach einem Schuldigen, an dem man Das Nächtliche Gespräch weist einige Reminiszen-
seine Wut auslassen kann, und findet − den Esel. zen an den Doppelgänger auf: Auch hier steht die mo-
Wie im Doppelgänger geht es um das Paradoxon der ralische Komponente im Vordergrund. Der Lehrcha-
Gerechtigkeit, und diesmal gibt es auch ein Gericht, rakter wird bereits im Untertitel Ein Kurs für Zeitge-
das allerdings korrupt und ineffektiv ist. Dabei ist das nossen angedeutet, und tatsächlich ähnelt der Mono-
Hörspiel frei von Moralpredigten, dafür voller Humor, log des Henkers in weiten Teilen einer Predigt. In
locker im Ton, reich an Übertreibungen und Wort- deren Zentrum steht wiederum ein christliches Motiv,
spielen, was zu unterschiedlichen Bewertungen führt: die Demut: Das sinnvolle Sterben, vielmehr Hinge-
So ist es für Peppard aus diesem Grund eines von Dür- richtetwerden nach einem Verbrechen oder als Rebell
renmatts besten, leichtesten und komischsten Stü- im Kampf für seine Ideale, gebe es – so der Henker −
cken (1969, 92 f.). Usmiani hingegen hält es, gerade nicht mehr in einer Gesellschaft, die keine mensch-
deswegen und weil er »zu viel im Stil widersprüchli- lichen Werte mehr kenne. Der einzig ›gute Tod‹, den
ches Fremdmaterial aufgenommen hat«, für »das am man heute noch sterben könne, sei der in Demut:
wenigsten gelungene Hörspiel Dürrenmatts« (1976, »Dies ist, was ich, ein Henker, ein verachteter Mensch,
133). von den Unschuldigen lernte, die mein Beil fällte und
die sich nicht wehrten: Daß einer in der Stunde seines
ungerechten Todes den Stolz und die Angst, ja auch
Nächtliches Gespräch mit einem verachteten
sein Recht ablegt, um zu sterben, wie Kinder sterben,
Menschen
ohne die Welt zu verfluchen, ist ein Sieg, der größer ist,
Die Uraufführung von Dürrenmatts drittem Hörspiel als je ein Sieg eines Mächtigen war« (WA 17, 29).
fand am 25.6.1952 als szenische Lesung an den Wie im Doppelgänger haben wir eine höchste In-
Münchner Kammerspielen statt, drei Tage später wur- stanz, wieder ist sie ungerecht, wieder hat man sich ihr
de es vom BR gesendet. Diese Produktion wurde im zu fügen. Der Unterschied und das doppelt Paradoxe
folgenden Jahr von Radio Bern übernommen, in ist aber, dass nicht nur sie selbst um ihre Ungerechtig-
Buchform erschien das Stück 1957. Weitere Produk- keit weiß, sondern auch ihre ausführende Gewalt, der
tionen folgten 1958 (ORF), 1959 (Hessischer Rund- Henker, der indes subversiv genug ist, dem Delin-
funk; HR) und 1961 (DRS). Jiří Smutný vertonte die quenten zu verraten, wie man diese Instanz besiegt,
Geschichte 1968 als Kurzoper unter dem Titel Nächt- nämlich indem man sich ihrem Urteil in Demut fügt.
liches Gespräch. Wieder handelt es sich um ein Hörspiel, das auf
Mitten in der Nacht taucht in der Wohnung des bundesdeutsche Hörergewohnheiten zugeschnitten
Schriftstellers der Henker auf; der Schriftsteller hat scheint: Im vorgestellten Staat werden Bücher ver-
ihn bereits erwartet: Er war vom Ministerpräsidenten boten, gebildete Menschen leben gefährlich, offen Op-
des Landes verbal angegriffen worden, und solche An- position zu bekunden, kommt einem Todesurteil
griffe ziehen in der Regel eine Verurteilung zum Tod gleich. Soweit könnte es sich auch um eines der auto-
und die rasche Vollstreckung des Urteils nach sich. ritären Systeme im ›Osten‹ handeln, und als ein sol-
Man lebt in einem nicht benannten, aber eindringlich ches ist der Handlungsort des Nächtlichen Gesprächs
genug beschriebenen totalitären Staat. Der Schriftstel- von den Zeitgenossen auch oft verstanden worden.
ler ist seinem Henker gegenüber zwar höflich, macht Dürrenmatt selbst wollte sein Stück als Allegorie ver-
aber aus seiner Verachtung keinen Hehl. Es entwickelt standen wissen, als Bild des totalitären Staats an sich,
sich ein Dialog, in dem der Schriftsteller anfangs ver- nicht nur in Hinsicht auf Vergangenes oder Gegen-
sucht, den Henker von seiner Unschuld und der Un- wärtiges. Dennoch wird Dürrenmatt an zwei Stellen
gerechtigkeit dieses Urteils zu überzeugen, wofür die- konkret, indem eine »schimmelnde Stelle oben an
ser durchaus Verständnis aufbringt, was ihn jedoch der Decke, die fast wie Europa aussieht« (18), erwähnt
56 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

wird und der Sohn des Schriftstellers sich »in irgend- beinlose Invalide Adolf Josef Stranitzky und sein
einem Konzentrationslager« befindet (12). Der Begriff kriegsblinder Freund Anton hegen nun die Hoffnung,
›Konzentrationslager‹ wurde im Nachkriegsdeutsch- man könne den Nationalhelden, der ja nun ebenfalls
land des Jahres 1952 auf die spezifisch deutsche Ver- Invalide sei, von der Notwendigkeit der Solidarität al-
gangenheit bezogen und hatte entsprechend allzu pro- ler Invaliden überzeugen, von einer großen Solidar-
vokatorisches Potential, als dass man ihn leichtfertig gemeinschaft, davon, »daß man sich zusammentun
für Verallgemeinerungen hätte verwenden können. muß, die Oberen und die Unteren, die Reichen und
Insofern lässt sich das Nächtliche Gespräch als Beitrag die Armen« (61). Stranitzky und Anton leben diesen
zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus verstehen. Zusammenhalt vor, indem sie die Beeinträchtigung
Im Hinblick auf die Machart, das fast vollständige des je anderen kompensieren: Stranitzky leiht Anton
Fehlen von Geräuschkulissen und die Konzentration sein Augenlicht, indem er ihm die Richtung weist, und
auf das gesprochene Wort ist es gleichzeitig ein typi- Anton trägt Stranitzky auf seinen Schultern oder zieht
sches Hörspiel der Innerlichkeit. ihn in einem Wägelchen.
Tatsächlich bekommen die beiden eine persönliche
Audienz beim Nationalhelden gewährt und träumen
Stranitzky und der Nationalheld
bereits vom »Wendepunkt der Weltgeschichte« (65).
In Dürrenmatts nächstem Hörspiel wird diese Dar- Bei der abendlichen Rundfunkübertragung des Tref-
stellung der Ohnmacht gesellschaftlicher Randfiguren fens müssen sie aber feststellen, dass die Rede Stranitz-
auf ein konkretes Dilemma der deutschen Gegenwart kys komplett gestrichen wurde, dass Anton und er nur
der 1950er Jahre bezogen, die in dieser Zeit so virulen- als Statisten benutzt wurden, um die Großherzigkeit
te Kriegsheimkehrerproblematik. Bezeichnenderwei- des Nationalhelden zu unterstreichen, der in einem
se wurde keine der deutschen Produktionen (NWDR Akt der Nächstenliebe zwei einfache Leute empfangen
und SDR 1952, BR 1954, Radio DDR 1965) im Schwei- habe. Als sich die Hoffnung der beiden Invaliden der-
zer Rundfunk übernommen. Erst 1989 produzierte gestalt in Nichts auflöst, lenkt Stranitzky seinen blin-
das Schweizer Radio DRS eine eigene Fassung. Die den Träger in einen Kanal und damit in den gemein-
Buchausgabe erschien 1959. samen Ertrinkungstod. Mit in seiner spezifisch deut-
Die Problematik der invaliden Kriegsheimkehrer, schen Problematik und dem Anklang an das Dritte
die in der Gesellschaft des aufkommenden westdeut- Reich im Namen des Protagonisten ist Stranitzky und
schen Wirtschaftswunders keinen Platz finden, wird der Nationalheld vielleicht Dürrenmatts am meisten
mit der Kritik an den ›Massenmenschen‹ verbunden, auf das deutsche Publikum zugeschnittene Hörspiel.
die sich von den Medien dergestalt manipulieren las-
sen, dass sie über den Ereignissen in der ›großen wei-
Herkules und der Stall des Augias
ten Welt‹ die Probleme vor ihrer eigenen Haustüre
nicht mehr als relevant empfinden bzw. gar nicht mehr Nach diesem ›deutschen Hörspiel‹ hält sich Dürren-
wahrnehmen. Darüber hinaus lässt sich das Hörspiel matt in seinem nächsten Radiostück wieder, wie im
auch als Satire auf sein eigenes Massenmedium verste- Prozeß um des Esels Schatten, an ›schweizerischere‹
hen, den Rundfunk, der den Hörern suggeriert, sie Hörspielwerte. Herkules und der Stall des Augias ist
seien persönlich angesprochen, der sie aber einzeln abermals im antiken Griechenland angesiedelt, wie-
nur als Vertreter einer anonymen Masse versteht. Mit- der steht das Humoristische bis Slapstickhafte stark
hin ist es ein dezidiert deutsches Hörspiel, was sich im Vordergrund; es herrscht bis kurz vor Ende ein
auch im Namen des Nationalhelden Baldur von Moe- spöttisch-amüsanter Tonfall vor. Wo im Prozeß um
ve zeigt: unverkennbar eine Anspielung auf den Füh- des Esels Schatten der Handlungsort Abdera milde an
rer der Hitlerjugend Baldur von Schirach. Schweizer Verhältnisse erinnert, repräsentiert das
Die Geschichte handelt vom »Nationalhelden Bal- Land Elis, in dem der Stall des Augias steht, unver-
dur von Moeve, den alle Welt kennt und von dem die kennbar die Schweiz: Die Elier tragen Namen wie
ganze Welt spricht, und von einem Invaliden, den nie- Pentheus vom Säuliboden oder Kadmos von Käsin-
mand kennt« (WA 17, 35). Der Nationalheld, Staats- gen. Mit zahlreichen Seitenhieben und Anspielungen
oberhaupt eines nicht namentlich bezeichneten und wird gegen die schweizerische Biederkeit und den
durch etliche Widersprüche verrätselten und nicht Amtsschimmel polemisiert, Dürrenmatt geht mit sei-
eindeutig identifizierbaren Landes, ist an der großen nen Landsleuten nicht zimperlich um: »Die Elier sind
Zehe des linken Fußes »aussätzig geworden« (38). Der ein Bauernvolk. Fleißig, einfach, ohne Kultur. Sie ver-
13 Hörspiele 57

mögen nur bis drei zu zählen. Geistig eben zurück- Augias, und den Briefträger Lichas; dafür streicht er
geblieben« (WA 8, 191). zwei Figuren der Hörspielfassung, den Volksschulleh-
Wie im Stranitzky haben wir es mit einem Natio- rer Schmied und den Redaktor Xenophon.
nalhelden zu tun, diesmal jedoch nicht mit einem se- Herkules und der Stall des Augias dürfte Dürren-
nilen Popanz, sondern mit einem echten griechischen matts am wenigsten bekanntes Hörspiel sein, zumin-
Nationalhelden von Format, der Großes zu leisten im- dest ist es das von der Forschung am wenigsten beach-
stande war und nach wie vor wäre, wenn man ihn nur tete. Thematisch und inhaltlich weist es deutliche Pa-
ließe. Allerdings ist auch Herkules ein Produkt, hier rallelen zu Dürrenmatts ›Prosakomödie‹ Grieche sucht
nicht der Medien, sondern der zwanzig bestallten Griechin auf, die unmittelbar im Anschluss an das
Schriftsteller, die ihn des lieben Geldes wegen dem Hörspiel entstanden ist.
Volk der Elier gegenüber heroisch und erhaben dar-
stellen, wobei er selber aber bemerkt: »Ich kann es mir
Das Unternehmen der Wega
einfach nicht leisten, nicht nach dem Wunsche des
Volkes zu leben, ich muß schließlich darauf achten, Das Hörspiel entstand 1954 und wurde in zwei Pro-
daß ich Aufträge bekomme, und geschäftlich geht es duktionen im Januar 1955 im BR und NWDR gesen-
mir gar nicht etwa besonders« (202 f.). det, vom SWF im Juli 1955; die Buchausgabe erschien
Herkules wird von den Eliern für die Ausmistung 1958. Radio DRS sendete erst im Jahr 1968 eine vom
des mythischen Stalls engagiert, scheitert schließlich Autor um zwei Szenen ergänzte eigene Produktion.
aber an der allmächtigen Bürokratie des verdreckten Bereits an dieser zeitlichen Verzögerung ist ersicht-
und vermisteten Landes und beschließt zuletzt, zu- lich, dass es sich beim Unternehmen der Wega wieder
sammen mit seiner Geliebten Deianeira das Land un- um ein Stück handeln muss, das am bundesdeutschen
ausgemistet zu verlassen. Markt orientiert war: Es geht um den Kalten Krieg
Ausgeschmückt wird das Stück durch humoristi- und die atomare Aufrüstung der Supermächte, mithin
sche Episoden, durch Anspielungen auf die Schweiz ein konkretes in der Zeit verortbares Thema, das na-
und Spiele mit mythologischen Referenzen; verschie- türlich auch in der Schweiz von Interesse gewesen wä-
dene Versatzstücke der griechischen Mythologie wer- re, allerdings im Schweizer Rundfunk nur unter Wah-
den aufgenommen und neu – und in der Regel nur be- rung eines ›neutralen‹ Standpunktes. Und vor allem
dingt sinnvoll – kombiniert. Form und Inhalt entspre- nicht im Hörspiel, insbesondere nicht, wenn die poli-
chen einander: Die Schriftsteller, allen voran Polybios, tische Sonderlage der Schweiz direkt thematisiert
der Erzähler des Stücks, erschaffen die Welt so, wie sie wird: »BONSTETTEN Du wirst dich erholen müssen,
es wollen, bzw. so, wie es das Lese- resp. Hörpublikum wenn du zurückkehrst. Geh in die Schweiz. Ins Enga-
von ihnen verlangt. Und die meisten von ihnen sind din. Ich war einmal dort im letzten Sommer vor fünf-
darin nicht sonderlich virtuos. zehn Jahren. Ich vergesse nie die Bläue dieses Him-
Dürrenmatt hat sich des Stücks immer wieder und mels. / WOOD Ich fürchte − die politische Lage − /
von verschiedenen Seiten angenommen: 1953 schrieb BONSTETTEN Natürlich. Eure politische Lage. Da-
er einen Entwurf zu Herkules und der Stall des Augias, ran habe ich gar nicht gedacht« (WA 17, 118).
1954 erschien das Hörspiel in Buchform; im Dezem- Das Unternehmen der Wega ist ein Science-Fiction-
ber desselben Jahres wurde es vom NWDR und dem Hörspiel, es spielt im Jahr 2255 − und der Kalte Krieg
SDR gesendet und 1955 von Radio Bern übernom- dauert immer noch an. Eine Delegation der ›Vereinig-
men. Eine weitere Produktion wurde 1956 vom BR ge- ten, freien Staaten Europas und Amerikas‹ macht sich
sendet. Das Stück wurde in Deutschland also ver- mit dem Raumschiff Wega auf den Weg zum Planeten
gleichsweise spärlich gesendet; offenbar fehlte der Be- Venus, der beiden irdischen Machtblöcken als Straf-
zug zu Deutschland und die Verortbarkeit in der kolonie für Kriminelle und Oppositionelle dient. Man
Tradition des deutschen Nachkriegshörspiels. 1962 möchte die Bewohnerschaft zur Zusammenarbeit mit
schrieb Dürrenmatt eine Bühnenfassung, die 1963 im dem Westen bewegen, da der Kalte Krieg gegen die
Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt wurde und kra- östliche Koalition auf der Erde (bestehend aus Russ-
chend durchfiel. Daraufhin überarbeitete er den Text; land, Asien, Afrika und Australien) unmittelbar davor
diese Fassung erschien 1963. Eine weitere Neufassung steht, in einen heißen Krieg umzuschlagen. Für den
des Theaterstücks schrieb Dürrenmatt schließlich Fall, dass die Mission nicht den gewünschten Erfolg
1980 für die Werkausgabe. Er fügt in den Bühnenfas- zeitigen sollte, hat man vorsichtshalber einige Atom-
sungen zwei neue Figuren ein: Iole, die Tochter des bomben an Bord.
58 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

Die Bewohner und Bewohnerinnen der Venus sind Geschichte um Alfredo Traps ihren Ruhm dem Hör-
aber im Kampf mit den Elementen dergestalt aus- spiel verdankt: Es wurde 1956 vom DRS, BR/SDR und
gelastet, dass sie auf Schiffen leben, da die pausenlosen dem NDR produziert, mithin innerhalb eines Jahres
Erdbeben und Vulkane die Landmasse unbewohnbar von drei deutschen und einem Schweizer Sender, fand
machen. Daher gibt es keine Städte auf der Venus und also in beiden Ländern sein Publikum und wurde
auch keine Regierung. Man hat noch nicht einmal 1957 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden aus-
ständige Unterhändler, die sich mit der irdischen De- gezeichnet. Die Buchausgabe erschien diesmal nicht
legation beschäftigen können oder wollen. Das Inte- Jahre nach der Erstsendung, sondern noch im glei-
resse, sich in einen kriegerischen Konflikt auf der Erde chen Jahr, 1956. Peter André Bloch wertet – ohne nä-
hineinziehen zu lassen, ist entsprechend gering: »Die here Erklärung oder Begründung – das Hörspiel als
Venus ist groß, und wir sind klein. Sie ist grausam. Wir ›Entwurf‹ (1980, 208), Beusch geradezu als Verfeh-
müssen kämpfen, wenn wir leben wollen. Wir können lung (1979, 149 u. 153).
uns Politik nicht leisten« (95). Nachdem Alfredo Traps im Anschluss an den
Nachdem die Versuche, mit den Venus-Bewohnern feuchtfröhlichen Herrenabend für den Mord an sei-
und -Bewohnerinnen übereinzukommen, allesamt nem Chef verurteilt und auf sein Zimmer gebracht
scheitern, macht sich die Delegation mit ihrem Raum- wird, weichen die verschiedenen Versionen der Panne
schiff auf den Rückweg zur Erde – nicht jedoch, ohne voneinander ab: In der Erzählung erhängt sich Traps
vorher die Venus zu bombardieren und das Leben in der Nacht, im Theaterstück erschießt er sich. Im
dort zu vernichten, um zu verunmöglichen, dass sich Hörspiel (und in der Verfilmung von Fritz Umgelter,
die Venusianer und Venusianerinnen mit den ›Rus- 1957) hat er am nächsten Morgen seinen Rausch aus-
sen‹ verbünden können. geschlafen und alles vergessen, er setzt sich unbehel-
Verglichen mit den bisherigen (und auch den wei- ligt in seinen mittlerweile reparierten Wagen und
teren) Hörspielen Dürrenmatts fällt – uns liegt die fährt seiner Wege.
Produktion des SWF vor − bereits in der ersten Szene In der Erzählung wird also eine Figur, die sich
die relativ opulente Hintergrundgeräuschkulisse auf: schuldlos wähnt, eines Verbrechens überführt; sie er-
ein ›Science-Fiction-mäßiger‹ elektronischer Ton, die kennt ihre Schuld und richtet sich selbst. Im Hörspiel
Abspieltasten des Tonbandgeräts, Schritte, verfremde- findet zwar ein Erkenntnisgewinn statt, der indes am
te Stimmen, das Einströmen von Sauerstoff und Heli- nächsten Morgen vergessen ist. Der Schluss ist die nur
um, das Starten des Raumschiffs. Und das, obwohl in unwesentlich variierte Eingangsszene: Man hört die
Dürrenmatts Regieanweisungen lediglich ein »[l]eiser gleiche Musik aus dem Autoradio, Traps verwendet in
Summton« und ein »leises Zischen« vorgegeben wird seinem Monolog die gleichen Formulierungen, hat
(81). Die Regie dürfte sich hier weniger an der Hör- die gleichen hinterhältigen Gedanken hinsichtlich sei-
spiel-Mode der Zeit orientiert haben, zumal Science- nes beruflichen Fortkommens. In den Regieanwei-
Fiction im deutschsprachigen Hörspiel der 1950er sungen wird am Anfang »[l]eichte Schlagermusik«,
Jahre etwas ausgesprochen Ungewöhnliches darstell- zum Schluss »[l]eise Schlagermusik« vorgegeben (WA
te, sondern vielmehr an den zahlreichen SciFi-Filmen, 16, 11 u. 55), in der uns vorliegenden Realisierung des
die in den 1950er Jahren im großen Stil die Kinos er- NDR werden Autogeräusche und dasselbe Musik-
oberten. stück zu Beginn ein-, zum Schluss ausgeblendet.
Die Erzählung hat also einen Anfang und ein Ende.
Das Hörspiel hingegen verläuft im Kreis; es hört auf,
Die Panne
wie es begonnen hat, und in dieser Kreisstruktur setzt
Angesichts des Umstands, dass es von der Panne eine es sich vom bundesrepublikanischen Hörspiel-Typus
Hörspiel- und eine Prosafassung gibt, die in etwa der 1950er Jahre ab, in dem zumindest ein Appell zu
gleichzeitig entstanden sind (die Bühnenfassung folg- einer inneren Umkehr ein wesentliches Element war.
te erst im Jahr 1979), liegt es nahe, diese beiden Texte Formal entspricht das Hörspiel durchaus den ›Vorga­
miteinander zu vergleichen, was zwar in der For- ben‹ des bundesrepublikanischen Worthörspiels: spar-
schung durchaus unternommen wird, allerdings sam eingesetzte Geräusche, Konzentration auf das ge-
durchaus seltener, als dass die Erzählung ohne Rekurs sprochene Wort. Während die Erzählung Die Panne
auf das Hörspiel analysiert wird. Wo dieser Vergleich ein Einzelschicksal darstellt, hebt das Hörspiel dieses
angestellt wird, zeitigt er größerenteils ein umso er- Einzelschicksal auf eine metaphorische Ebene: Nichts
staunlicheres Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die ändert sich, Läuterung ist nicht möglich; die Welt
13 Hörspiele 59

dreht sich im Kreis. Insofern wäre die ›schlimmstmög- Welt der Boulevard-Presse, sowohl Produzenten als
liche Wendung‹ im Hörspiel erreicht. Die Handlung ist auch Rezipienten, wüssten genau, dass er seine litera-
in der Schweiz verortet, wenngleich sehr dezent ange- rischen Morde auch in der Realität begehe; man wür-
deutet: Pilet, der Henker, war »einer der vortrefflichs- de es ihm nicht nur nicht verübeln, sondern verlange
ten, tüchtigsten im Nachbarlande« (27). es geradezu von ihm, da man wisse, dass er diese Mor-
Die 1979 von Dürrenmatt zum Bühnenstück um- de nach begangener Tat literarisch verewige: »Damen
gearbeitete Panne scheint eine Kombination der bei- der höchsten Gesellschaft, Bürgersfrauen, Dienst-
den Vorgängerversionen zu sein: Auch hier bringt sich mädchen bieten sich [...] an, sich von mir ermorden zu
Traps um, allerdings wird das Ende vorweggenom- lassen« (191). Und wie zum Beweis für die Hörer und
men, indem zu Beginn des Stücks die übrigen Figuren Fürchtegott Hofer, und auch, weil die Welt ohnehin
um seinen Sarg herumstehen und das Geschehen aus ein neues Buch mit einem neuen Mord erwartet,
der Retrospektive kommentieren (s. Kap. 28). stürzt er Hofer vom Balkon. Dieser ruft zwar um Hilfe,
worum sich aber, wie von Korbes vorhergesagt, nie-
mand kümmert.
Abendstunde im Spätherbst
Abendstunde im Spätherbst vereinigt eine Reihe
Dürrenmatts letztes Hörspiel, geschrieben 1956, wur- Dürrenmattscher Motive und Stilmittel: Ebenso wie
de in Deutschland (NDR 1957), Österreich (ORF Die Panne endet das Stück mit den gleichen Worten,
1957), der Schweiz (DRS 1958 unter dem Titel Herr mit denen es begonnen hat. Allerdings fügt Dürren-
Korbes empfängt) und der DDR (1969) gesendet; die matt ein Paradoxon hinzu, indem er die Kreisstruktur
österreichische Produktion wurde 1958 mit dem Prix mit einer geraden Linie verbindet, einer Krimihand-
Italia ausgezeichnet. lung mit Opfer, Mörder und Motiv und im Resultat
Einerseits geht es in dem Stück wieder um den gro- wohl einer Publikation, einer zielgerichteten Entwick-
ßen Themenkomplex ›Verbrechen – Schuld – Strafe‹, lung also. Indem sich Korbes’ Morde aber alle auf ähn-
andererseits wird die Sensationsgier der Menschen liche Weise abspielen, haben wir es doch mit einer
dargestellt und mit einer Kritik des Literaturbetriebs Wiederholung zu tun. Und aus dieser paradoxen
verknüpft. Die Hörspielhandlung ist auf kein spezifi- Schleife heraus erzeugt sich der Text aus sich selbst:
sches Land oder Ereignis beschränkt, trotzdem »Ich diktiere: Meine Damen, meine Herren. Zu Be-
kommt der Schweiz aber eine Sonderrolle zu. Ort der ginn halte ich es für meine Pflicht, Ihnen den Ort die-
Handlung ist ein Grandhotel in der fiktiven Stadt Isel- ser vielleicht etwas seltsamen, aber − ich schwöre es −
höhebad, der Beschreibung nach an einem der ober- wahren Geschichte zu beschreiben« (195; vgl. 171).
italienischen Seen gelegen. Hier residiert der Erfolgs- In dieser Figur deuten sich die großen Gleichnisse
schriftsteller Maximilian Korbes, ein Kriminalautor, von Dürrenmatts Spätwerk an, wo in Selbstgespräch
wie er im Buche steht, »dick, braungebrannt, unra- (WA 36, 115–118) Gott in einem Monolog seine eige-
siert, kahler Riesenschädel. Meine Eigenschaften: bru- ne Existenz von der menschlichen Rede abhängig
tal, gehe aufs Ganze, versoffen« (WA 9, 172 f.), immer macht, oder wo Das Hirn (WA 29, 233–263) sich die
mit einem Glas Whisky in der Hand und ständig un- Welt erdenkt und am Ende auf den Autor stößt, der
terwegs. Er bekommt Besuch von Herrn Fürchtegott sich das Hirn erdenkt, das sich die Welt erdenkt. In
Hofer, seines Zeichens Schweizer und in seinem ge- dieses Paradoxon ist auch die Figur des Schriftstellers
samten Auftreten ein Biedermann, der sich seit seiner gedacht: Im Doppelgänger erschafft er eine Welt, die er
Pensionierung als Detektiv in Sachen Literatur be- von außen betrachten und mit dem Regisseur dis-
tätigt. Hofer stellt fest, dass sämtliche 22 Morde in kutieren kann, die er indes nicht vollständig in der
Korbes’ 22 Romanen keineswegs fiktiv, sondern real Hand hat; zuweilen entgleitet ihm die Handlung, er
passiert sind, und zwar an Orten, an denen sich der kann sie nicht beeinflussen, nur zur Kenntnis neh-
Autor just zur jeweiligen Tatzeit eben aufhielt. Und men: »REGISSEUR wütend Und damit soll ich mich
nun möchte er, Hofer, von Korbes ein »kleines Ta- zufriedengeben? / SCHRIFTSTELLER Damit m ü s -
schengeld [...], so sechshundert oder siebenhundert s e n wir uns zufriedengeben« (WA 1, 324). In Nächt-
Schweizerfranken im Monat« (187), um weiterhin die liches Gespräch mit einem verachteten Menschen mag
Möglichkeit zu haben, seinem Idol nachreisen zu kön- die Figur des Schriftstellers eine Parallelwelt schaffen,
nen. Korbes gesteht die Morde, zeigt aber weder Reue in der Realität bewirkt er nichts und ist zum Scheitern
noch Furcht vor Aufdeckung oder Strafe. Dass er ein verurteilt. In Herkules und der Stall des Augias wird die
Mörder sei, sei alles andere als ein Geheimnis: Die Welt des Protagonisten von Schriftstellern erschaffen,
60 II Schriftstellerisches Werk – D Hörspiele

denen allerdings die Welt selbst diktiert, wie sie aus- sagt er im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold, »wie
zusehen hat. In der Abendstunde im Spätherbst haben die Novelle das Hörspiel weiterführe, denke die Ko-
wir einen Schriftsteller, der die Welt erschafft, deren mödie die Novelle weiter« (Dürrenmatt, zit. nach Pa-
Teil er selbst ist. Mit diesem fortwährenden Schaffen sche 1997, 109). Wenngleich wir den Hörspielskepti-
und Selbsterschaffen ist ein immer stärkerer Schaf- kern an dieser Stelle keineswegs das Wort reden wol-
fensdruck verbunden: Ebenso wie Herkules von len, muss − und damit wären wir wieder am Aus-
Abenteuer zu Abenteuer hastet, um zu überleben, has- gangspunkt − der Vollständigkeit halber ein weiterer
tet Korbes von Mord zu Mord. möglicher Punkt erwähnt werden, vorstellbar immer-
hin wäre es: Dürrenmatt hörte auf, Hörspiele zu
schreiben, weil er es finanziell nicht mehr nötig hatte.
Abschied vom Hörspiel
Literatur
Primärtexte
Abendstunde im Spätherbst wurde in allen vier seiner- Abendstunde im Spätherbst. In: Akzente, 3, 1957, 194–216.
zeitigen deutschsprachigen Ländern ausgestrahlt und Abendstunde im Spätherbst. In: WA 9, 169–196.
mit dem renommiertesten internationalen Hörspiel- Der Doppelgänger. Ein Spiel. Zürich 1960.
preis ausgezeichnet − ein größerer Erfolg ist kaum Der Doppelgänger. In: WA 1, 295–324.
vorstellbar. Es stellt die Quintessenz von Dürrenmatts Herkules und der Stall des Augias. Mit Randnotizen eines
Kugelschreibers. Zürich 1954.
bisherigen Hörstücken dar und setzt insofern einen
Herkules und der Stall des Augias. In: WA 8, 179–226.
Schlusspunkt. Sollte das der Grund sein, warum Dür- Hörspielerisches. In: WA 17, 155–157.
renmatt nach Abendstunde im Spätherbst keine weite- Nächtliches Gespräch. In: Das Lot, Bd. 6, Juni 1952.
ren Hörspiele mehr geschrieben hat? Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. Ein
Auch andere Gründe sind vorstellbar. – Das ständi- Kurs für Zeitgenossen. Zürich 1957.
ge Schaffen, Sich-selbst-Erschaffen, Sich-selbst-neu- Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. In:
WA 17, 9–32.
Erschaffen mag nicht nur für Maximilian Korbes gel-
Die Panne. Ein Hörspiel. Zürich 1960.
ten, sondern auch für das Genre ›Krimi‹ und die Gat- Die Panne. In: WA 16, 9–56.
tung ›Hörspiel‹. Mit zunehmender Popularität wächst Die Panne [Rundfunkproduktion 1956] und eine kurze
auch der Druck, diese zu bedienen, dem Publikum Rede des Autors. Audio-CD. Basel 2010.
immer weiter entgegenzukommen, bis im Extremfall Die Physiker. In: WA 7.
der Publikumsgeschmack irgendwann einmal zum Der Prozeß um des Esels Schatten. Ein Hörspiel (nach Wie-
land, aber nicht sehr). Zürich 1956.
Gesetz wird. Krimi und Hörspiel feierten in den Der Prozeß um des Esels Schatten. In: WA 8, 119–174.
1950er Jahren Hochkonjunktur; die vom BR produ- Schriftstellerei als Beruf. In: WA 32, 54–59.
zierte Hörspiel-Krimiserie Dickie Dick Dickens prägte Stranitzky und der Nationalheld. Hörspiel. In: Hörspielbuch
1957 den Begriff ›Straßenfeger‹. Damit hatte das Hör- 1953. Frankfurt 1953, 151–185.
spiel einen nicht mehr zu überbietenden Gipfelpunkt Stranitzky und der Nationalheld. In: WA 17, 33–76.
Das Unternehmen der Wega. Hörspiel. In: Hörspielbuch
erreicht, der indessen zwar inhaltlich witzig gemachte,
1955, Frankfurt a. M. 1955, 43–80.
aber eher oberflächliche Unterhaltungsliteratur war. Das Unternehmen der Wega. In: WA 17, 77–124.
Tatsächlich zogen sich ab 1960 viele der eingangs er- Vier Hörspiele mit schlimmstmöglicher Wendung: Die
wähnten Schriftsteller aus dem Hörspielgeschehen zu- Panne und eine kurze Rede des Autors. Herr Korbes emp-
rück. Neue Autorinnen und Autoren betraten die fängt oder Abendstunde im Spätherbst. Nächtliches
Rundfunkstudios: Ernst Jandl und Friederike Mayrö- Gespräch mit einem verachteten Menschen. Das Unter-
nehmen Wega. Audio-CD/Hörbuch, Basel 2005.
cker, Wolf Wondratschek, Paul Wühr oder Ludwig
Harig. Dem ›Hörspiel der Innerlichkeit‹ folgte das Sekundärliteratur
›Neue Hörspiel‹; es dominierte wieder das Experi- Arnold, Heinz Ludwig: Schriftsteller im Gespräch mit Heinz
ment, in dem Wörter nicht ausschließlich als Träger Ludwig Arnold. Zürich 1990.
von Inhalten, sondern auch als Klangelemente ver- Beusch, Hansueli: Die Hörspiele Friedrich Dürrenmatts.
Zürich 1979.
standen wurden.
Bloch, Peter André: Die Panne. In: Daniel Keel (Hg.): Über
Auch Dürrenmatt konnte oder wollte sich dem Friedrich Dürrenmatt. Essays und Zeugnisse von Gott-
neuen Hörspieltrend nicht anpassen. Womöglich hat fried Benn bis Saul Bellow. Zürich 1980, 194–208.
er sich während der Arbeit an Der Besuch der alten Bloom, Margret: Die westdeutsche Nachkriegszeit im litera-
Dame und Die Panne endgültig für die ›bestmögliche‹ rischen Original-Hörspiel. Frankfurt a. M. u. a. 1985.
Plattform entschieden: Bühne statt Radio. Immerhin Brock-Sulzer, Elisabeth: Die Hörspiele. In: Daniel Keel
13 Hörspiele 61

(Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. Essays und Zeugnisse Lermen, Birgit H.: Das traditionelle und neue Hörspiel im
von Gottfried Benn bis Saul Bellow. Zürich 1980, 209– Deutschunterricht. Paderborn 1975.
230. Mayer, Hans: Dürrenmatt und Frisch. Anmerkungen. Pful-
Camp, George Selvidge: Fixed sensory images of characters lingen 1963.
and settings in Friedrich Dürrenmatts ›Hörspiele‹. Rice Mitrache, Liliana: Intertextualität und Phraseologie in den
1982. drei Versionen der Panne von Friedrich Dürrenmatt.
Dedner, Burghard: Das Hörspiel der fünfziger Jahre und die Uppsala 1999.
Entwicklung des Sprechspiels seit 1965. In: Manfred Dur- Pasche, Wolfgang: Interpretationshilfen. Friedrich Dürren-
zak (Hg.): Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte matts Kriminalromane. Stuttgart 1997.
und Tendenzen. Stuttgart 1971, 128–147. Peppard, Murray B.: Friedrich Dürrenmatt. New York 1969.
Döhl, Reinhard: Zu Friedrich Dürrenmatts Nächtliches Schröder, Christoph: Wer ist hier der Esel? In: Spiegel-
Gespräch mit einem verachteten Menschen (WDR III, Online, 3.1.2011, http://www.spiegel.de/kultur/literatur/
5.6.1978). In: https://www.reinhard-doehl.de/forschung/ duerrenmatt-hoerspiele-wer-ist-hier-der-esel-a-737149.
duerrenmatt2.htm (31.1.2019). html (31.1.2019).
Döhl, Reinhard: Das Hörspiel der 50er Jahre (WDR Schweiss, Christoph A. u.a.: Die Geschichte des Radios in
12.3.1979). In: https://www.reinhard-doehl.de/forschung/ der Schweiz von 1911–2008. Zürich 2008.
hspl50.htm (31.1.2019). Schwitzke, Heinz: Das Hörspiel. Dramaturgie und
Döhl, Reinhard: Das Hörspiel zur NS-Zeit. Darmstadt 1992. Geschichte. Köln 1963.
Dussel, Konrad: Deutsche Rundfunkgeschichte. Konstanz Strzolka, Rainer: Abriss zur Geschichte des Hörspiels in der
2010. Weimarer Republik. Hannover 2004.
Friedrich, Sabine: Rundfunk und Besatzungsmacht. Organi- Tribelhorn, Marc: Geistige Landesverteidigung. Ein Volk
sation, Programm und Hörer des Südwestfunks 1945 bis von Murmeltieren. In: Neue Zürcher Zeitung, 7.12.2013.
1949. Baden-Baden 1991. Usmiani, Renate E.: Die Hörspiele Friedrich Dürrenmatts:
Jorio, Marco: Geistige Landesverteidigung (2006). In: His- unerkannte Meisterwerke. In: Gerhard P. Knapp (Hg.):
torisches Lexikon der Schweiz, https://hls-dhs-dss.ch/de/ Friedrich Dürrenmatt. Studien zu seinem Werk. Heidel-
articles/017426/2006-11-23 (31.1.2019). berg 1976, 125−144.
Krug, Hans-Jürgen: Kleine Geschichte des Hörspiels. Kon- Weber, Paul: Das Deutschschweizer Hörspiel. Geschichte
stanz 2003. – Dramaturgie – Typologie. Bern 1995.
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart, Würffel, Stefan Bodo: »Jeder Esel kann da Regie führen.«
Weimar 1993. Friedrich Dürrenmatts Rundfunkarbeiten. In: Jürgen
Kuckhoff, Armin-Gerd: Friedrich Dürrenmatt. In: Klaus Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum.
Pezold (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Die deutsch- Frankfurt a. M. u. a. 2004, 61–78.
sprachige Literatur im 20. Jahrhundert. Leipzig 2007, 187– Wüthrich, Werner: Bertolt Brecht und die Schweiz. Zürich
217. 2003.
Leonhardt, Joachim-Felix u. a. (Hg.): Medienwissenschaft.
Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kom- Dieter Lohr
munikationsformen. Berlin, New York 2001.
E Kriminalromane und Erzählungen

14 Der Richter und sein Henker struieren« (Vogt 2011, 215), und trug maßgeblich da-
zu bei, dass Kriminalromane heute als literarische
Entstehungs-, Publikations- und Wirkungs- Gattung ernster genommen werden als damals; er
geschichte wird auch als einziger deutschsprachiger Krimiautor
in angloamerikanischen Standard- und Nachschlage-
Dürrenmatt schrieb seinen ersten Kriminalroman in werken genannt (vgl. ebd., 217).
verschiedenen Phasen von Ende 1948 bis Herbst 1950
als Auftragsarbeit für die Zeitschrift Der Schweizerische
Beobachter. Er erschien in acht Folgen zwischen dem Inhalt und Analyse
15.12.1950 und dem 6.3.1951. Nachdem der Autor den
Text im Frühjahr 1952 noch einmal intensiv überarbei- Dürrenmatt präsentiert seinen Stoff in 21 Kapiteln.
tet hatte, erschien die Buchfassung im Herbst 1952 im Das Geschehen, das sich zwischen dem 3. und 7. No-
Benziger Verlag in einer Auflage von 5000 Exemplaren vember 1948 abspielt, wird von einem allwissenden
(Fassungsvergleich Müller/Thiel 2016, 217 f.). In späte- Erzähler, der allerdings oft hinter seine Figuren zu-
ren Neuausgaben (ab 1979 im Diogenes Verlag) erfolg- rücktritt, in ironisch grundiertem Ton in chronologi-
ten nur noch geringfügige Textänderungen. scher Abfolge vermittelt – wobei es in den Dialogen
Dem Genre entsprechend gab es keine großen Re- Rückblenden auf frühere Lebensphasen der Protago-
zensionen. Der Roman wurde jedoch über die Jahr- nisten gibt. Die meist antagonistisch geführten Dia-
zehnte mit zahlreichen Neuauflagen, Lizenzausgaben loge nehmen viel Raum ein. Mit ihren dialektalen und
und Übersetzungen millionenfach verkauft. Dazu französischen Einsprengseln widerspiegeln sie typi-
trug insbesondere seine Aufnahme in den Lektüreka- sche schweizerische Sprachhybridizität. Dürrenmatt
non von deutschsprachigen Mittelschulen bei (vgl. greift für die Schauplätze auf eine ihm vertraute Um-
Vogt 2011, 217; Ladenthin 2016), die sich u. a. in einer gebung zurück: Er lässt den handlungseröffnenden
breiten Palette von Unterrichts- und Lektürehilfen Mord wenige hundert Meter von seinem damaligen
manifestiert (z. B. Knapp 1983). Wohnort Ligerz am Bielersee geschehen und bringt
1957 wurde der Stoff als erste abendfüllende Spiel- sich selbst in der Figur des Schriftstellers ins Spiel ein.
film-Eigenproduktion des deutschen Fernsehens rea- Der zweite Schauplatz ist die Stadt Bern, in der Dür-
lisiert (R.: Franz-Peter Wirth). An dieser wie am Kino- renmatt elf Jugendjahre verbrachte.
film von Maximilian Schell (1978) war Dürrenmatt als Die Handlung: Der Berner Kriminalpolizist
Mitautor des Drehbuchs beteiligt. Daneben existieren Schmied ist in seinem Wagen auf dem Rückweg nach
mehrere fremdsprachige TV-Verfilmungen und eine Bern von einer Abendgesellschaft beim dubiosen und
Version als Graphic Novel. In jüngerer Zeit wurde der reichen Herrn Gastmann erschossen worden. Der
Stoff auch mehrfach für die Theaterbühne adaptiert. magenkranke, alternde Kommissär Bärlach über-
Dürrenmatt hatte eine ambivalente Haltung zu Kri- nimmt zusammen mit dem jungen Polizisten Tschanz
minalromanen; er schrieb solche nur auf äußeren An- die Untersuchung. Der Verdacht richtet sich zunächst
lass hin. Zugleich sah er darin eine Chance: »Wie be- auf Gastmann und sein Umfeld. Die Leserinnen und
steht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Al- Leser erfahren, dass Gastmann ein Verbrecher im
phabeten? [...] Vielleicht am besten, indem er Krimi- großen Stil und als einstiger Jugendfreund Bärlachs
nalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand dessen mörderischer Gegenspieler ist: Der Ermordete
vermutet« (WA 30, 71 f.). Dürrenmatt schrieb Werke, hatte für Bärlach heimlich gegen Gastmann ermittelt.
die »die Regeln des Genres zugleich erfüllen und de- Trotzdem lässt Bärlach durchblicken, dass er Gast-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_14
14  Der Richter und sein Henker 63

mann nicht für den Täter hält. Gastmann erweist sich derpolizisten Tschanz als berechenbare Spielfigur im
als scheinbar allmächtig, doch Bärlachs junger, ehr- Kampf gegen Gastmann. Bärlachs Dämonie offenbart
geiziger Mitarbeiter Tschanz, der dem verstorbenen sich in der Ambivalenz und Paradoxie dieser eigen-
Schmied nacheifert, begibt sich auf eigene Faust zu mächtigen Wiederherstellung einer höheren Gerech-
Gastmann und erschießt diesen nebst seinen Leib- tigkeit: Er realisiert in seiner Selbstjustiz jenes perfekte
wächtern. Der Fall scheint nach außen gelöst, zumal Verbrechen, dessen Möglichkeit er in der Wette aus-
sich bei Gastmann Unterlagen finden, die nicht nur geschlossen hatte; er treibt Tschanz in den Selbst-
seine Verbrechen belegen, sondern auch, dass er mord, womit sich der einzige Mitwisser und das In-
Schmied durchschaut hatte. Doch am Schluss hält strument seiner Selbstjustiz selbst liquidiert. Die Wie-
Bärlach über seinen Mitarbeiter Tschanz bei einem derherstellung der Gerechtigkeit jenseits mensch-
opulenten Mahl Gericht. Tschanz, der Schmied aus licher Justiz manifestiert sich in einem perfekten, mit
Eifersucht und mit Kalkül umgebracht hatte, muss er- der Eleganz des Schachspielers delegierten, indirekten
kennen, dass er von Bärlach schon lange als Mörder Doppelmord des Kriminalisten. In dieser Selbst-
identifiziert und gewissermaßen als Henker gegen ermächtigung wird Bärlach zugleich zur »tragischen
Gastmann instrumentalisiert wurde; er nimmt sich in Figur«, die »Unrecht tun muss, um Gerechtigkeit zu
der Folge das Leben. schaffen« (Ladenthin 2016, 405).
Der Roman spielt mithin auf einer doppelten Ebe-
ne: Vordergründig geht es um die Aufklärung des
Mordes an Schmied, doch diese steht im Zeichen des Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Zweikampfs zwischen Bärlach und Gastmann. Aus-
gangspunkt dazu war eine »trotzig in den Himmel In der Forschungsliteratur lassen sich verschiedene
hinein« gehängte »Wette«, verlockend wie ein »fürch- Diskussionsschwerpunkte herauskristallisieren:
terliche[r] Witz«, die Bärlach und Gastmann in ihrer
Jugend abschlossen (WA 20, 69). Dabei ging es um die 1. Die Einordnung in die Tradition und die Rolle des Zu-
Frage, ob menschliche Unvollkommenheit, Unvor- falls: Dürrenmatts Roman wird gedeutet als »Variati-
hersagbarkeit des Handelns und Zufall »die meisten on und Parodie, Verfremdung, Subversion oder De-
Verbrechen zwangsläufig zutage fördern« (Bärlachs konstruktion, Demontage oder Destruktion des De-
These) oder ob vielmehr »die Verworrenheit der tektivschemas« (Gasser 2009, 55 f.). Formal wird die
menschlichen Beziehungen es möglich mache, Ver- Nähe des Romans zum traditionellen Rätselroman
brechen zu begehen, die nicht erkannt werden könn- mit fixen Spielregeln betont (Jambor 2007, 151), wobei
ten« (Gastmanns These; 68). Der junge Bärlach be- die entscheidende Differenz in der bedeutenden Rolle
gründete damals seine Auffassung damit, dass »es un- des Zufalls liege, angefangen mit dem Kugelfund beim
möglich sei, mit Menschen wie mit Schachfiguren zu Tatort. Die Figur des ehrgeizigen Polizisten Tschanz
operieren« (ebd.). Durch die mörderische Wette ma- erscheint geradezu als »Allegorisierung des Zufalls«
chen die beiden ihren Zweikampf im Umgang mit den (ebd., 170). Sein Mord bedeutet für Bärlach zunächst
Mitmenschen zur Schachpartie – ein Moment, das einen unglücklichen Zufall, doch erkennt er darin die
Detektiv und Mörder, die sich »auf den ersten Blick« Chance, den Mörder zu seiner Waffe gegen Gastmann
(67) liebten, auf eine gleiche Ebene bringt. Bärlach er- zu machen.
scheint geradezu als Alter Ego von Gastmann. Es wurde auf die Verwandtschaft des Ermittlers
Gastmann ist Bärlach stets einen Zug voraus. Als Bärlach mit Georges Simenons Inspektor Maigret und
auch noch Schmied ermordet wird und Gastmann auf Stoff-Analogien hingewiesen, insbesondere zu
dessen Unterlagen in seinen Besitz bringt, scheint die Maigrets erste Untersuchung (vgl. Arnold 1981, 158–
Partie für Bärlach verloren. Nach der Konfrontation 163). Eine Szene mit Gastmanns Hund, der Bärlach
mit Gastmann überfällt ihn der Schmerz; er wälzt sich angreift, erscheint andererseits als Reminiszenz an
in Verzweiflung am Boden: »›Was ist der Mensch?‹ Arthur Conan Doyles Der Hund der Baskervilles (vgl.
stöhnte er leise, ›was ist der Mensch?‹« (73). Doch Ladenthin 2016, 398). Am offensichtlichsten scheint
Bärlach rafft sich nach diesem Schachmatt wieder auf: jedoch der Bezug zu Friedrich Glauser, wobei wohl
Er gibt das Spiel nach gesetzlichen Regeln (es sind zu- nicht dessen Romane, deren damalige Kenntnis Dür-
gleich die des ›klassischen‹ Detektivromans) auf und renmatt dezidiert in Abrede stellte, sondern die Ver-
spielt die Partie mit andern Mitteln und mit anderer filmungen von Leopold Lindtberg bei Dürrenmatt
Zielsetzung zu Ende: Er instrumentalisiert den Mör- früh Eindrücke hinterließen (v. a. Wachtmeister Stu-
64 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

der, 1939; vgl. G 2, 195). Neben den gemeinsamen auch mit Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus
Berner Schauplätzen ist auf den ersten Blick eine gro- gelesen werden (vgl. Przytocka/Sośnicka 2014).
ße Nähe Bärlachs zum Berner Wachtmeister Studer Es geht um Grundsatzfragen von Gerechtigkeit
evident. Bei aller vordergründigen Verwandtschaft und Recht. Zum einen entwickelt der Roman eine
der beiden brummigen Ermittler, die es mehr mit den übermenschliche Dimension, indem Bärlach jenseits
einfachen Leuten als mit ihren Vorgesetzen bei der des Gesetzes gottähnlich seinen Richterspruch fällt:
Kantonspolizei und den wirtschaftlichen und politi- Gastmann hat er »zum Tode verurteilt« und schickt
schen Führungsfiguren halten und nicht vor Kom- ihm seinen Henker »in Gottes Namen« (WA 20, 100).
petenzüberschreitungen zurückschrecken, darf man Tschanz verbannt er, nachdem er ihn überführt hat,
die Unterschiede nicht übersehen: Bärlach – wie Stu- aus seinen Weltenrichteraugen. Damit steht Der Rich-
der als sympathische, väterliche Figur eingeführt – er- ter und sein Henker in der von Edgar Allan Poe be-
weist sich am Schluss zugleich als rücksichtslose Ver- gründeten Tradition des Kriminalromans als einer
körperung menschlicher Hybris. »erzählten Theorie des Absoluten nach dem Tod des
absoluten Gottes« (Ladenthin 2016, 407). Bei Bärlach
2. Werkzusammenhang: Die Relation zwischen den kommt eine geradezu archaische Dimension des Ver-
ersten beiden Kriminalromanen Dürrenmatts, die zehrens hinzu. Seine Magenerkrankung spiegelt »sei-
Held und Schauplatz teilen und eine unmittelbare ne moralisch fragwürdigen Entscheidungen [...] wi-
zeitliche Abfolge Ende 1948 darstellen, beschränkt der« (Nelles 2018, 142). Ein gegenläufiger Höhepunkt
sich nicht auf den seriellen Aspekt (vgl. dazu Müller/ ist am Schluss die »doppelte Henkersmahlzeit: erstens
Thiel 2016). Sie bilden »eine Art kontrastiv und kom- für Tschanz, der sich vom Kommissar durchschaut
plementär angelegten Ditpychons [sic]« (Jambor findet, aber zweitens auch für den todkranken Kom-
2007, 13). Dieses entstand nachträglich, als Der Ver- missar [...]. Seine Souveränität, seine Ruhe und Stärke
dacht bereits in Fortsetzungen erschienen war und sind nur gespielt, inszeniert in einer Orgie der Einver-
Dürrenmatt den ersten Kriminalroman einer starken leibung« (Battegay 2019, 243).
Überarbeitung für die Buchfassung unterzog. Die bei- Zum andern steht Bärlach in einer konkreten
den Romane boten ihm Gelegenheit zur Entfaltung ei- Rechtstradition. Sein Vorgesetzter Lucius Lutz vertritt
ner Typologie des Bösen, wie aus dem neu eingeführ- eine aus den nordamerikanischen Großstädten her-
ten Gespräch zwischen dem Schriftsteller und Bärlach gebrachte »wissenschaftliche[...] Kriminalistik« (WA
(WA 20, 81–83) indirekt hervorgeht: Gastmann im 20, 18) mit Anspruch auf lückenlosen Beweis. Bär-
Richter und Emmenberger in Der Verdacht erscheinen lach dagegen orientiert sich kriminalpsychologisch
als spiegelbildliche Typen moralischer Nihilisten, am einzelnen Menschen, am Verdacht gegenüber
während die Nebenfiguren der beiden Romane ver- Tschanz, der ihm selbst die Beweise für seine Tat lie-
schiedene Formen des Bösen aus psychologischen fert. Damit steht Bärlach in der Folge des österreichi-
Deformationen heraus zeigen. Tschanz erscheint ent- schen Hochschullehrers und Kriminalisten Hans
sprechend als Verbrecher aus Eifersucht und krank- Gross, der schon Wachtmeister Studers (und Franz
haftem, streberischem Ehrgeiz. Beide Bärlach-Roma- Kafkas) Lehrmeister war (vgl. Bergengruen 2014, 57).
ne legen die Grundlage für die Fundamentalkritik am
Genre, die im Requiem auf den Kriminalroman – so 4. Intertextualität und ironische Narration: Der Richter
der Untertitel – Das Versprechen (1958) folgt. und sein Henker ist gespickt mit literarisch-künstleri-
schen Reminiszenzen. Die Wette zwischen Bärlach
3. Gesellschaftskritik, Rechtstradition und -verständnis: und Gastmann, eine »teuflische Versuchung des Geis-
Der Roman zeigt eine zeit- und gesellschaftskritische tes durch den Geist« (WA 20, 69), erinnert an die Wet-
Dimension in der Tradition Glausers. Bezeichnend te zwischen Gott und Mephistopheles in Goethes
dafür sind die Hindernisse, die Bärlach über den ein- Faust – korrespondierend mit dem Gespräch zwi-
flussreichen Anwalt und Nationalrat von Schwendi in schen Bärlach und Emmenberger im zweiten Bärlach-
den Weg gelegt werden. Dieser repräsentiert eine ge- Roman Der Verdacht, das an die Versuchung Christi
sellschaftliche Elite, die Recht mit der Bestätigung der in der Wüste erinnert. Bärlachs Ausruf nach seinem
bestehenden Machtverhältnisse gleichsetzt. Nicht nur Zusammenbruch: »Was ist der Mensch?« ist eine an-
die Nachkriegsgesellschaft steht dabei im Fokus; der thropologische Leitfrage Immanuel Kants, die im Ver-
Opportunismus und das Hofieren gegenüber dem dacht wieder aufgegriffen wird (vgl. WA 20, 250). Der
skrupellos-kriminellen Gastmann kann durchaus Name Bärlach scheint schließlich auch auf Ernst Bar-
14  Der Richter und sein Henker 65

lach anzuspielen, dessen Drama Die Sündflut Dürren- Sekundärliteratur


matt 1948 las (vgl. Rüedi 2011, 338) und dessen Dar- Arnold, Armin: Die Quellen von Dürrenmatts Kriminal-
stellung des Kampfs eines Nihilisten gegen Gott auch romanen. In: Gerhard P. Knapp, Gerd Labroisse (Hg.):
Facetten. Studien zum 60. Geburtstag Friedrich Dürren-
Dürrenmatts damalige Dramatik prägte. Die Nihilis- matts. Bern u. a. 1981, 153–174.
mus-Thematik, verbunden mit der Frage nach dem Battegay, Caspar: Fressen. Gericht und Gedächtnis bei
Menschen und der Freiheit zum Verbrechen, lässt den Friedrich Dürrenmatt. In: Ders., Lena Henningsen, Kai
Existentialismus Jean-Paul Sartres anklingen (vgl. Wiegandt (Hg.): Gegessen? Essen und Erinnerung in den
Knapp 1983, 42 f.) Literaturen der Welt. Berlin 2019, 235–252.
Bergengruen, Maximilian: »Vergessen Sie jedoch nicht, daß
Die Nennung von Arnold Böcklins Toteninsel (vgl.
die Zeit auch vor dem berühmtesten Kriminalisten nicht
WA 20, 15) ordnet sich in eine Reihe von Todessym- haltmacht.« Paradigmen der Kriminalistik in Friedrich
bolen ein. Die Erwähnung der Bilder des Schweizer Dürrenmatts Der Richter und sein Henker. In: Ulrich
Malers Friedrich Traffelet im Büro des Vorgesetzten Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der Phantasie, Göttingen
Lutz (vgl. 17) hingegen stellt diesem apokalyptischen 2014, 41–60.
(»finster wie der Letzte Tag«, 12) oder mythischen Ge- Gasser, Peter: »... unsere Kunst setzt sich aus etwas Mathe-
matik zusammen und aus sehr viel Phantasie.« Zu Fried-
schehen (›der blaue Charon‹, vgl. 30) wiederum die
rich Dürrenmatts Kriminalromanen. In: Ders., Elio Pellin,
patriotisch-positive Stimmungslage der Nachkriegs- Ulrich Weber (Hg.): »Es gibt kein größeres Verbrechen als
jahre in der Schweiz entgegen. die Unschuld«. Zu den Kriminalromanen von Glauser,
Dürrenmatt hat auch einen kleinen Hinweis auf Dürrenmatt, Highsmith und Schneider. Göttingen,
Theodor Fontane platziert (vgl. 99) und nennt im Zürich 2009, 53–75.
Rückblick dessen Stechlin als sprachliches Vorbild für Jambor, Ján: Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klas-
sischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach-Roma-
den Roman (vgl. G 2, 195). Das mag im Hinblick auf nen Friedrich Dürrenmatts. Prešov 2007.
seine damals für ihn neue Hinwendung zum von Dia- Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Der Richter und
logen dominierten, realistischen Erzählen gelesen sein Henker. Frankfurt a. M. u. a. 1983.
werden, das im Roman zugleich ironisiert wird. Im Ladenthin, Volker: Warum man heute Friedrich Dürren-
Gespräch mit Bärlach vergleicht sich der Schriftsteller matts Roman Der Richter und sein Henker lesen sollte. In:
Stefan Neuhaus, Uta Schaffers (Hg.): Was wir lesen sollen.
mit dem Kriminalisten (»es sei auch sein Beruf, den
Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahr-
Menschen auf die Finger zu sehen«, WA 20, 81). Ana- hunderts. Würzburg 2016, 387–413.
log zur Autonomie und Willkür des Spielers Bärlach Müller, Ralph/Thiel, Franziska: Roman und Serialität in der
»treibt der Erzähler auch mit dem Leser sein insze- Zeitschrift. Dürrenmatts Der Richter und sein Henker und
niertes Sprachspiel« (Ladenthin 2016, 403). Damit Der Verdacht im Schweizerischen Beobachter. In: Stefanie
geht die Erzählhaltung über ein dem Genre entspre- Leuenberger u. a. (Hg.): Literatur und Zeitung. Fallstudien
aus der deutschsprachigen Schweiz von Jeremias Gotthelf
chendes realistisches Erzählen hinaus, als ein Spiel mit bis Dieter Bachmann. Zürich 2016, 205–223.
»inszenierten Requisiten« (ebd., 394) realistischen Er- Nelles, Jürgen: Friedrich Dürrenmatt. In: Susanne Düwell
zählens und symbolischer Bedeutsamkeit. Aus diesem u. a. (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien –
Spiel entwickelt sich die spezifische Qualität des Ro- Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 141–146.
mans als »(postmoderne) Literarisierung des Trivia- Przytocka, Małgorzata/Sośnicka, Dorota: Die Schweiz – ein
Gefängnis? Zeit- und Gesellschaftskritik in den Kriminal-
len« (ebd., 403), die wegweisend für die Aufwertung
romanen Wachtmeister Studer von Friedrich Glauser und
des Genres wird, wie sie bei Umberto Eco und ande- Der Richter und sein Henker von Friedrich Dürrenmatt.
ren fortgeführt wird. In: Colloquia Germanica Stetinensia 23 (2014), 73–99.
Vogt, Jochen: Krimis, Antikrimis, ›Gedanken‹-Krimis. Wie
Literatur Friedrich Dürrenmatt sich in ein gering geschätztes Genre
Primärtexte einschrieb. In: Véronique Liard, Marion George (Hg.):
Der Richter und sein Henker. In: Der Schweizerische Beob- Dürrenmatt und die Weltliteratur. Dürrenmatt in der
achter, 15.12.1950 (24. Jg., Nr. 23) bis 6. März 1951 (25. Jg., Weltliteratur. München 2011, 215–235.
Nr. 6) (8 Folgen).
Der Richter und sein Henker. Einsiedeln 1952. Ulrich Weber
Der Richter und sein Henker. In: WA 20, 9–117.
66 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

15 Der Verdacht im Juni 1945 das Leben. Die Beisetzung auf dem
Friedhof Grafenhausen muss in aller Stille erfolgt sein;
Entstehungs- und Publikationsgeschichte, sein Name erscheint noch Jahre später auf Fahndungs-
Rezeption listen, und 1953 wird er aufgrund seiner Verbrechen
in absentia zum Tod verurteilt. Diese Analogie und
Der Verdacht ist Dürrenmatts zweiter (Bärlach-)Kri- insbesondere die Spezifik des lebensrettenden Ein-
minalroman, und er folgt auch punkto Rezeptions- griffs durch einen Kriegsverbrecher lässt Ritzel ver-
intensität dem klassischen Erstling Der Richter und muten, dass Dürrenmatt von dem Ereignis in einem
sein Henker (Buchausgabe 1952). Wie dieser erschien kleinen Schwarzwalddorf vernommen haben muss –
der Roman zunächst wöchentlich in Fortsetzungen in eine These, die auch aufgrund der Nähe zu seinem da-
Der Schweizerische Beobachter (September 1951–Fe- maligen Wohnort (Basel) plausibel scheint.
bruar 1952), als Buchausgabe dann 1953 im Benziger 1993 wurde der Roman als Comic umgesetzt (Dür-
Verlag, Einsiedeln. Letztere ist seither in verschiede- renmatt/Städtisches Literargymnasium Bern-Neufeld
nen Lizenzausgaben wie in Übersetzungen erschie- 1993), 1999 vom Schweizerischen Radio SRF als Hör-
nen. Die Differenzen zwischen der Erstpublikation spiel produziert (R.: Manfred Mixner) und 2008 vom
und der Buchfassung wurden, obwohl erheblich, Diogenes Verlag als Hörbuch eingespielt (Sprecher:
noch nicht Gegenstand einer umfassenden Unter- Hans Korte). Im Gegensatz zu anderen Dürrenmatt-
suchung. Die unveröffentlichte Seminararbeit Mari- Krimis gibt es nur eine einzige (italienischsprachige)
on Gerbers (Deutsches Seminar, Univ. Bern, 2009) TV-Verfilmung des Romans: Il sospetto (1972) (R.:
gibt jedoch erste Aufschlüsse; nach ihrer Beobach- Daniele d’Anza, Paolo Stoppa in der Rolle Bärlachs).
tung zielt die Bearbeitung vor allem auf eine Straffung Wie der Dichte der schulischen Sekundärliteratur zu
und stilistische Glättung. Dürrenmatts »Arbeits- entnehmen ist (vgl. u. a. Matzkowski 2014), gehört der
exemplar« (SLA, Sig. A-m125_I) nimmt textgene- Roman, wie Der Richter und sein Henker, nach wie vor
tisch eine Mittelstellung zwischen Zeitschriften- und zum gymnasialen Lektürekanon. Dies dürfte vor al-
Buchfassung ein. Chronologisch wohl vor der Be- lem in Deutschland auch dem Stoff geschuldet sein:
obachter-Fassung anzusiedeln, erlaubt es näherungs- Der Verdacht bietet eine frühe und anspruchsvolle li-
weise die Eingriffe seitens der Redaktion von jenen terarische Thematisierung der NS-Medizin (vgl. Bat-
des Autors zu unterscheiden. tegay 2015). In Hinsicht auf das Genre liegt die Bedeu-
Ergänzend zu den Auskünften der Forschung lässt tung, wie die der anderen kriminalliterarischen Texte
sich hinsichtlich des Stoffs, der um die Identifikation Dürrenmatts, in ihrer Poetologie: im Umstand, dass
und Ergreifung eines sadistischen Naziarztes kreist, sie »Anti-« oder »Metakrimis« darstellen (Vogt 2014;
erstmals eine wahrscheinliche historische Quelle be- Genç 2018).
nennen: Wie der Journalist und Krimiautor Ulrich
Ritzel in einem Briefwechsel mit Peter von Matt (ver-
fügbar im Schweizerischen Literaturarchiv Bern) Inhalt und Analyse
plausibel vermutet, könnte Dürrenmatt bei der Figur
des Arztes Nehle/Emmenberger der deutsch-schwei- Der Roman ist in achtzehn unnummerierte, aber mit
zerische Anatom August Hirt (1898–1945) vor Augen Titeln versehene Kapitel gegliedert, die in zwei in etwa
gestanden haben (zu Hirt vgl. Benzenhöfer 2010). Der gleich umfangreiche Teile verfallen. Die erzählte Zeit
SS-Mann war im elsässischen KZ Natzweiler-Struthof umfasst nur wenige Tage (27.12.1948–6.1.1949), die
für eine Gaskammer verantwortlich und an Men- grundsätzlich chronologisch zur Darstellung kom-
schenversuchen beteiligt. Im Herbst 1944 kam er auf men. Die Erzählinstanz ist nicht Teil der erzählten
der Flucht vor anrückenden französischen Truppen Welt (Heterodiegese), und sie verfügt prinzipiell über
auf einem Einödhof in der Nähe von Schönenbach Einsicht in die Psyche der Ermittlerfigur Bärlach (in-
unter; laut der dörflichen Überlieferung wurde er terne Fokalisierung). In dokumentarischem Modus
dort geduldet, weil er der Tochter des Bauern, die an wiedergegebene Dialog-Szenen mit langen Redese-
einem Abszess im Hals zu ersticken drohte, durch die quenzen dominieren den Roman, was zu einem stark
Notoperation einer Koniotomie (umgangssprachlich variierenden Erzähltempo führt.
fälschlich auch ›Luftröhrenschnitt‹ genannt) das Le-
ben rettete. Genau diesen Eingriff nimmt in einer Not- 1. Teil (Kap. 1–7): Die Handlung setzt mit dem titel-
situation auch Dürrenmatts Figur vor. Hirt nahm sich gebenden ›Verdacht‹ ein: Kommissär Hans Bärlach

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_15
15  Der Verdacht 67

wird wenige Tage nach seiner Pensionierung einer man zum Teufel« (WA 20, 160). Auf Bärlachs Frage,
Operation unterzogen. Sie bestätigt die Vermutung: Er »was ein Massenmörder wohl für ein Mensch ist«
leidet an einem Magenkrebs in fortgeschrittenem Sta- (152), entgegnet er: »Alle Menschen sind gleich. Nehle
dium; man rechnet mit seinem baldigen Tod. Über- war ein Mensch. Also war Nehle wie alle Menschen.
raschend stabilisiert sich aber Bärlachs Zustand. Er ist Das ist ein perfider Syllogismus, doch kann niemand
in der Lage, mit seinem Arzt und Freund Samuel Hun- gegen ihn aufkommen« (153). Wie Hungertobel geht
gertobel einen Artikel aus einer alten Nummer der auch Gulliver davon aus, dass sich Nehle nach der Ver-
Zeitschrift Life zu diskutieren: »Sieh dir dieses Bild aus öffentlichung des Life-Artikels das Leben nahm. Die
dem Konzentrationslager Stutthof an! Der Lagerarzt Analyse der (Un-)Ähnlichkeiten zwischen Nehle und
Nehle führt an einem Häftling eine Bauchoperation Emmenberger führen Bärlach und Hungertobel vor al-
ohne Narkose durch« (WA 20, 123). Als Hungertobel lem durch das körperliche Merkmal der Narbe und
angesichts der Fotografie erbleicht, erwacht im Mori- durch stilistische Untersuchungen von Nehles Fach-
bunden sofort der Ermittler. Hungertobel wird durch publikationen zu einem vorläufigen Ergebnis: Es sei
das Bild des Arztes in Schutzmaske an seinen Studien- wahrscheinlich, dass Emmenberger als Nehle im Stutt-
kollegen Fritz Emmenberger erinnert, der mittlerweile hof Menschen zu Tode operiert habe, während es Neh-
am Zürichberg die Privatklinik Sonnenstein betreibt. le als Emmenberger gewesen sei, der in Chile tätig war.
Damit ist der Verdacht erregt: Bärlach will herausfin- Als zweites besucht der verkrachte Berner Schriftsteller
den, ob Emmenberger mit dem Naziarzt Nehle iden- Fortschig den Ermittler. Er soll, so Bärlachs Plan, durch
tisch ist, der 1945 Selbstmord begangen haben soll. einen Enthüllungsartikel in seinem antibürgerlichen
Aus dem Spitalbett ermittelnd verdichten sich die Hin- Protestblatt den Arzt aus der Reserve locken. – Damit
weise für und gegen die Hypothese eines Namens- sind die Fäden eingeführt, die im zweiten Teil weiter
und/oder Identitätstauschs. Für Hungertobel ist der verflochten und schließlich in bestimmter Weise auch
Verdacht zunächst »ein lächerlicher Irrtum« (126); er wieder gelöst werden. Der Übergang beider Textteile
verweist dafür auf die durch Publikationen belegte me- korrespondiert mit dem Ortswechsel von Bern nach
dizinische Forschungspraxis Nehles in Chile während Zürich: Bärlach hatte Hungertobel gebeten, ihn »unter
der Kriegsjahre. Zugleich erkennt er aber auf dem Bild dem Namen Blaise Kramer als frischoperierten [...] Pa-
eine Operationsnarbe über der Schläfe wieder, hatte er tienten« in der Klinik Sonnenstein anzumelden (166).
Emmenberger doch selbst operiert. Ebenso entschei- Und Hungertobel ist es auch, der ihn am Silvester-
dend ist aber eine zweite Erinnerung: »Ich war einmal abend 1948 nach Zürich fährt und auf dieser, so Bär-
dabei, [...] als Emmenberger einen Eingriff ohne Nar- lach, »Fahrt nach der Realität« (193) begleitet.
kose ausführte« (140). Während einer Bergtour sei ei-
ner der Teilnehmer unglücklich gestürzt und drohte zu 2. Teil (Kap. 8–18): Bärlachs prekärer Zustand wird
ersticken. Emmenberger habe den Verunfallten mittels nun bestimmend für den weiteren Gang der Erzäh-
einer »Coniotomie«, einem chirurgischen Schnitt lung. Er pendelt zwischen moribunder Ohnmacht und
»über dem Kehlkopf, zwischen dem Adamsapfel und fatalistischer Selbstüberschätzung. So lässt sich Em-
dem Ringknorpel«, gerettet, dabei sei aus dessen Au- menberger durch das offensive Auftreten des inkogni-
gen aber »etwas Teuflisches, eine Art übermäßiger to Ermittelnden und dessen allgemeiner Thematisie-
Freude, zu quälen« (144), hervorgebrochen. rung seiner Investigation in Analogie zur medizini-
Am Krankenbett erhält Bärlach mehrfach Besuch. schen Tätigkeit – »Sie spüren Krankheiten auf und ich
Der erste (und heimliche) Besucher ist der hühnenhaf- Kriegsverbrecher« (202) – keineswegs irritieren; Bär-
te Jude Gulliver, der im KZ Stutthof interniert war, und lach selbst muss sich fragen: »Wer verhört wen?« (203).
berichtet, dass er als einziger Nehles Operationspraktik Im Gespräch geben die Analogien von medizinischer
überlebt hat; er war es auch, der Life die Fotografie zu- und kriminalistischer Praxis aber auch Anlass zu allge­
gespielt hatte. Ebenfalls entdeckt er Bärlach, dass Nehle meinsten anthropologischen Schlüssen: Wenn Krebs-
seine Operationen ohne Narkose »mit der Zustim- erkrankungen und Kriegsverbrechen in jedem Land
mung seiner Opfer ausführte« (159). Allein die Hoff- möglich sind, so könne, was »in Deutschland ge-
nung auf die von Nehle versprochene Freiheit habe schah«, »in jedem Land« geschehen (ebd.). Bärlach
Hunderte dazu bewogen, sich ihm auszuliefern: »Die macht auch Bekanntschaft mit Dr. Marlok, Emmen-
Liebe und der Glaube, die gingen in Stutthof zum Teu- bergers rechter Hand. Sie ist eine ehemalige Kom-
fel, aber die Hoffnung«, die anders als bei Paulus (vgl. 1. munistin jüdischer Abstammung, die das Lager über-
Kor. 13) größte Kardinaltugend, »die blieb, mit der ging lebt hat, indem sie Emmenbergers Geliebte wurde.
68 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

Wie im ausführlich dokumentierten Gespräch mit der als einzelne die Welt nicht retten [...]. Wir können nur
Morphiumabhängigen deutlich wird, ist ihre Loyalität im einzelnen helfen [...]. So sollen wir die Welt nicht
keinem situativ verständlichen Opportunismus ge- zu retten suchen, sondern zu bestehen, das einzige
schuldet; sie ist die Konsequenz einer ganz und gar wahrhafte Abenteuer, das uns in dieser späten Zeit
schwarzen Anthropologie. Bärlach wird sediert und in noch bleibt« (264).
ein anders Zimmer verlegt, das sich als das jeweils be-
wusst zur psychischen Destablisierung individuell an-
gepasste »Sterbezimmer« (210) der Klinik erweist. Der Deutungsaspekte
Versuch, die ihn betreuende Emmentalerin Schwester
Kläri auf seine Seite zu ziehen, scheitert an ihrer per- Wie anhand der bisherigen Paraphrase zu erahnen
vertierten Frömmigkeit, die mit den praktischen Kon- und der vorliegenden Forschung im Einzelnen zu ent-
kretionen von Emmenbergers Weltanschauung kom- nehmen ist, sind es wenigstens vier Aspekte, die in ih-
patibel ist. Auch das Manöver mit Fortschigs Zeitungs- rer Kombinatorik und ihren Querbezügen das Profil
artikel scheitert: Da dieser nach der Publikation nicht des Romans ausmachen.
– wie mit Bärlach vereinbart – untertaucht, wird er
zum Opfer des ›Zwergs‹, eines weiteren von Emmen- 1. Bezugsdiskurs NS/Shoa: Der Verdacht ist offensicht-
berger im Stutthof auf perfide Weise instrumentalisier- lich ein Kriminalroman nach der Shoa. Während die
ten Schergen. erwähnte Beziehung der Figur Emmenberger/Nehle
Die finale Konfrontation zwischen Täter und Er- auf den historischen August Hirt wohl hypothetisch
mittler ist allerdings nicht der Showdown eines krimi- bleiben muss, hat Dürrenmatt mit dem KZ Stutthof
nalistischen und rechtsstaatlichen Whodunit, sondern klar einen faktualen Schauplatz gewählt: Es gab un-
vielmehr die weltanschauliche Disputation der Tat- weit von Danzig ein Vernichtungslager dieses Na-
motivation bzw. ihrer Sanktionierung, die in eine De- mens, in dem auch Menschversuche durchgeführt
batte um die Opposition von Nihilismus und Glauben wurden. Dieses Lager ist innerfiktional auch der bio-
mündet. Bärlachs Urteil über Emmenberger, er sei grafische Schnittpunkt zentraler Figuren: Emmenber-
»Nihilist« (247), kontert dieser mit der Gegenfrage ger, Marlok, Gulliver und der Zwerg kennen sich von
nach dessen Glaube. Emmenberger selbst bekennt dort. Entsprechend zeichnet sich Der Verdacht gegen-
sich offensiv zu einem Materialismus, der gänzlich frei über dem ersten Bärlach-Roman durch einen deutlich
ist von humanistischen Idealen: »Es gibt keine Ge- stärkeren zeitgeschichtlichen Bezug aus. Dieser geht
rechtigkeit – wie könnte die Materie gerecht sein –, es aber zugleich, in signifikanter ›antirealistischer‹ Ge-
gibt nur die Freiheit [...], die man sich nehmen muß. genläufigkeit, einher mit einer genuin literarischen
Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie Dimension. Durch die Anreicherung des Figurenarse-
selbst ein Verbrechen ist« (252). Habe Bärlach ein nals um Gulliver und den Zwerg – und die offene The-
stärkeres Credo, verspreche er ihm, der zu Tode ope- matisierung der betreffenden literarischen Traditio-
riert werden soll, die Freiheit: »Der Glaube an das Gu- nen (vgl. 138 f.) – weist der Roman zugleich »mär-
te wird doch wenigstens im Menschen gleich stark chenhafte Züge« (Weber 2020, 149) auf und wird auch
sein wie der Glaube an das Schlechte! [...] [Z]eigen Sie in diesem Sinn zu einem Meta-Kriminalroman. Diese
mir Ihren Glauben!« (255). Im Hintergrund nimmt Anlage gibt dem Roman, als Werk eines Schweizer Re-
Bärlach das Ticken einer Uhr wahr: Es wird zum formierten, eine literaturgeschichtliche Sonderstel-
Countdown des angekündigten Operationstermins lung: »Möglicherweise ist Der Verdacht die erste fikti-
und grundiert das finale Kapitel: Bärlach wartet auf ve Holocaust-Erzählung eines nicht persönlich betrof-
den Tod (vgl. 256), seine Zeit läuft ab – manifestiert im fenen (und nicht-jüdischen) Autors, der sich in die
Artefakt der tickenden Uhr –, schließlich wird er Gedanken von Mörder oder Täter versetzt« (Battegay
selbst zur »lebende[n] Uhr« (258), zählt das Springen 2015, 174, Anm. 3). Diese Konstellation verweist im
des Zeigers, bis sich die Tür öffnet. Doch nicht Em- Blick auf den Autor ebenso auf dessen intensive Be-
menberger tritt ein, sondern Gulliver, der als Deus ex schäftigung mit der Schweiz als ›verschonter‹ Nation,
machina Emmenberger gezwungen hat, eine Giftkap- wie auf sein Interesse am Judentum, der Shoa und der
sel zu schlucken (wie dieser den echten Nehle). Gul- politischen Bedeutung Israels. Mit Bezug auf die poe-
liver ist es auch vorbehalten, das schonungslose tologische Dimension ist darüber hinaus von Belang,
Schlusswort zu sprechen: »Die Nazis haben Stutthof dass mit der Figur Gullivers ein Opfer – ein geflohener
gewollt, die Millionäre diesen Spittel [...]. Wir können KZ-Häftling – zur Instanz wird, die den Täter nicht
15  Der Verdacht 69

nur in physischer Hinsicht zu überwinden vermag: vollen ihres ›Bestehens‹ (vgl. ebd.). Angesichts dieser
»Gerechtigkeit lässt sich nicht wieder herstellen. Nur fundamentalen Diagnose wirkt die anlässlich der Klä-
Gulliver, der als Opfer spiegelverkehrt die Erfahrung ri-Figur beiläufig eingespielte Kritik an der unbeirr-
des Täters teilt und zum Untoten geworden ist, kann baren und darin latent gewaltbereiten Frömmlerei des
den Souverän aushebeln, derweil er durch seine Er- schweizerischen ›Bible Belts‹ des Emmentals fast tri-
fahrung für immer aus der ›Menschenordnung‹ aus- vial (vgl. 228).
geschieden ist, die auch Emmenberger in andere Rich-
tung überschritten hat« (ebd., 194). 3. Bezugsdiskurs Schweiz: Die Hintergrundthematik
der verschonten Nation und die Frömmigkeitskritik
2. Bezugsdiskurs Religion: Die Handlungs- und Figu- erschöpfen längst nicht das Spektrum der Schweiz-
renentwicklung geht von Anfang an mit einem reli- Bezüge: Dass Bärlach ein Berner ist, spielt ebenso in
giösen Deutungs- und Sprachregister einher: Em- seiner Beziehung zu Kläri wie zum Berner Emmen-
menberger wird etwa als »Teufel« (WA 20, 153 u. 157 berger eine (auch ermittlungsrelevante) Rolle. Ein
u. 224) oder »Höllenfürst[...]« (226) bezeichnet und pointiertes ›Bern-Bashing‹ betreibt der Schriftsteller
das KZ wie sein Zürcher Pendant als »Hölle« (159 u. Fortschig (vgl. 179 f.). Vergleichbare Vorbehalte be-
220). Diese religiöse Perspektivierung des Verbre- gleiten Bärlach bei seiner Ankunft in der ihm unsym-
chens wird ausdifferenziert durch den Antagonismus pathischen Stadt Zürich: »[V]ierhunderttausend
von Judentum und Christentum (bzw. auch durch die Schweizer auf einem Fleck fand er etwas übertrieben«
Opposition zur Heilslehre des Kommunismus, wie er (193). Die gewichtigste Pointe des Schweiz-Bezugs
durch die frühere Kommunistin Marlok repräsentiert liegt aber gerade in dessen universalisierender Über-
wird). Es scheint bezeichnend, dass die zentrale jü- schreitung: Was in den Lagern geschah und in der
dische Figur – Gulliver – zumindest teilweise ›aus ei- Zürcher »Hölle der Reichen« geschieht, kann überall
ner anderen Welt‹ zu kommen scheint. Auch abge- geschehen. Dürrenmatt vollzog damit 1952 die skan-
sehen von seinem Namen ist er mit literarischen Ei- dalöse ›Nestbeschmutzung‹, derer Jahrzehnte später
genschaften und philosemitischen Stereotypen aus- Adolf Muschg für seinen Essay Wenn Auschwitz in der
gestattet und erweitert so, wie der Zwerg, das Schweiz liegt (1997) bezichtigt wurde. Charakteris-
textimmanente Realitätssystem. Dass es Gulliver ge- tisch für Dürrenmatts narrative durchgeführte These
lingt, die Operation zu überleben, akzentuiert gerade, ist einerseits ihre theologisch-anthropologische Fun-
wie fatal die Hoffnung ist, die seine Glaubensgenossen dierung, andererseits die damit verbundene interna-
veranlasste, sich Emmenbergers ärztlichen Praktiken tionalistische Pointierung: Gulliver schärft, existen-
auszuliefern. In Marloks Auslegung wird dieser tiell bezeugt, ein, dass der Unterschied zwischen »Pei-
Schritt ausdrücklich als Konversion zu einem »neuen niger und Gepeinigten« tiefer liege als der »zwischen
Gott« charakterisiert (224). Der Jude Gulliver ist auf- den Völkern«, den »guten und schlechten Nationen«
grund der genannten Disposition besser in der Lage, (WA 20, 157 f.).
die Zeichen der Zeit zu verstehen als der ›Christ‹ Bär-
lach, der von ihm als »ein Mann der sittlichen Welt- 4. Bezugsdiskurs Kriminalliteratur/Rechtssystem (vgl.
ordnung« (159) angesprochen wird. Diese massiv de- Nelles 2018, 142 f.; Vogt 2011; Weber 2006): »Das liest
stabilisierte Weltordnung wird aber mehrfach direkt sich wie ein Kriminalroman« (WA 20, 135), meint
auf die theologische Ordnung bezogen. Gullivers sar- Bärlach angesichts der medizinischen Fachartikel, die
kastische Theodizee – »Jehova war fern, mit anderen den Verdacht gegen Emmenberger erhärten. Dieser
Welten beschäftigt, oder er studierte an einem theo- Satz kann gleichsam emblematisch für den genrerefle-
logischen Problem herum, das gerade seinen erhabe- xiven Grundzug des Romans stehen. Dürrenmatt ar-
nen Geist in Anspruch nahm« (158) – korrespondiert beitet mit offenkundigen (nicht aber markierten) in-
insofern aber auch mit Bärlachs Unwilligkeit/Un- tertextuellen Verweisen. So realisiert die Ermordung
fähigkeit zu einem Credo gegenüber Emmenberger. Fortschigs das Motiv des ›Locked-Room Mystery‹, das
Das letzte Wort hat der »ahasverische[...] Rächer« seit Poes The Murders in the Rue Morgue (1841) ein ei-
(Battegay 2015, 175) Gulliver, der von der »Begren- gentliches Subgenre der Verbrechensliteratur bildet.
zung des armen Juden« auf die »Begrenzung aller Ähnlich verbreitet, nicht nur kriminalliterarisch (u. a.
Menschen« (WA 20, 264) schließt und defensiv plä- Schiller, Droste-Hülshoff), ist das Motiv der Narbe als
diert für eine Umstellung vom aussichtslosen Versuch Erkennungsmerkmal. Aber auch diese Bezüge schei-
einer ›Rettung‹ der Welt auf den seinerseits anspruchs- nen sekundär gegenüber der Entschiedenheit, mit
70 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

welcher der Roman das faktisch investigierte Verbre- Literaturverzeichnis


chen als Indiz einer generell gestörten Ordnung zur Primärtexte, Quellen
Darstellung bringt. Wie im ersten Bärlach-Roman Der Verdacht (Fortsetzungsdruck). In: Der Schweizerische
Beobachter 25 (15.9.1951), 7 – 26 (29.2.1952), 4.
kann der Täter auch hier nicht durch professionelle Der Verdacht. Einsiedeln 1953.
Ermittlungsarbeit innerhalb der regulären rechts- Der Verdacht. In: WA 20, 119–265.
staatlichen Ordnung gefasst werden. Emmenberger Handexemplar, Schweizerisches Literaturarchiv, Sig.
wird, wie viele Verbrecher des NS-Regimes, von dieser A-m125_I.
Seite weder verfolgt noch belangt. Die ›Lösung‹ des Der Verdacht. Hörbuch, gelesen von Hans Korte. Zürich
2008.
Falls sowie die Rettung des unprofessionell agieren-
Dürrenmatt, Friedrich/Germann, Brigitte/Städtisches Lite-
den Ermittlers sind nur möglich durch die illegale rargymnasium Bern: Der Verdacht. Comic auf der
Selbstjustiz eines Opfers. Diese verschiedenen Be- Grundlage des Romans. Luzern 1993.
zugsdiskurse werden in Gullivers Schlussvotum noch
einmal äußerst prägnant eng geführt: »Man kann heu- Sekundärliteratur
te nicht mehr das Böse allein bekämpfen, wie die Rit- Battegay, Caspar: »Wahnsinn als Methode«. Friedrich Dür-
renmatts Der Verdacht als Kriminalroman nach der
ter einst allein gegen irgendeinen Drachen ins Feld zo-
Shoah. In: Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.): Krimi-
gen. Die Zeiten sind vorüber, wo es genügt, etwas nalliteratur und Wissensgeschichte. Genres – Medien –
scharfsinnig zu sein, um die Verbrecher, mit denen Techniken. Bielefeld 2015, 173–196.
wir es heute zu tun haben, zu stellen. Du Narr von ei- Benzenhöfer, Udo: August Hirt. Verbrecherische Menschen-
nem Detektiv; die Zeit selbst hat dich ad absurdum ge- versuche mit Giftgas und »terminale« Anthropologie. In:
führt!« (WA 20, 260). In diesem Sinn lässt sich auf die Ders. (Hg.): Mengele, Hirt, Holfelder, Berner, von Ver-
schuer, Kranz. Frankfurter Universitätsmediziner der NS-
gelegentliche Kritik des Romans als Kriminalroman Zeit. Münster 2010, 21–42.
erwidern, dass vor allem das Finale nicht als ›unglaub- Genç, Metin: Gattungsreflexion. In: Susanne Düwell u. a.
würdig‹ oder ›Fehler‹ zu sehen ist, sondern als eine (Hg.): Handbuch der Kriminalliteratur. Theorien –
Demontage des konventionellen Genre-Modells, das Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 3–13.
der Wirklichkeit nicht mehr beikommt (Weber 2006). Gerber, Marion: Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht. Ein
Bericht über den Vergleich verschiedener Fassungen. Unv.
Seminararbeit Univ. Bern 2009.
Keller, Otto: Dürrenmatts Gangster. Von den Kriminal-
Zur Forschung romanen der 1950er zum Justizroman der 1980er Jahre.
Bern 2014, 23–42.
Die genannten Aspekte werden durch die verfügbare Matzkowski, Bernd: Textanalyse und Interpretation zu
Forschung im Einzelnen gut erschlossen. Ihr komple- Friedrich Dürrenmatt Der Verdacht. Hollfeld 2014.
Nelles, Jürgen: Friedrich Dürrenmatt. In: Susanne Düwell
xes Zusammenspiel scheint aber noch nicht hinrei- u. a. (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien –
chend erfasst, nicht anders als die angedeuteten text- Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 141–146.
genetischen Zusammenhänge und die narratologi- Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung. Friedrich
schen Charakteristika des Romans. Neben dieser ein- Dürrenmatt und der klassische Detektivroman. Marburg
zeltextbezogenen Desiderate scheint auch die Stellung 2000, 165–189.
Spedicato, Eugenio: Das Böse im Land des Paradoxes. Über-
des Verdachts innerhalb des kriminalliterarischen
legungen zu Friedrich Dürrenmatts Erzählwerk. In: Ders.
Werks Dürrenmatts (bzw. der Bärlach-Minireihe) (Hg.): Das Böse. Fragmente aus einem Archiv der Kultur-
noch weiterer Beschäftigung wert (trotz Keller 2014). geschichte. Bielefeld 2001, 121–141.
Im Anschluss an den Impuls Riedlingers (2000, 173 f.) Vogt, Jochen: Krimis, Antikrimis, »Gedanken«-Krimis. Wie
wäre es mit Blick auf das Gesamtwerk schließlich auch Friedrich Dürrenmatt sich in ein gering geschätztes Genre
reizvoll, die Beziehung zwischen der Ermittlerfigur einschrieb. In: Véronique Liard, Marion George (Hg.):
Dürrenmatt und die Weltliteratur, Dürrenmatt in der
und Dürrenmatts ›mutigem Menschen‹ genauer aus-
Weltliteratur. München 2011, 215–235.
zuloten. Dürrenmatt sieht, wie er in Theaterprobleme Weber, Ulrich: Starke und weniger starke Abgänge. Zerfalls-
(1955) ausführt, in der Darstellung dieses Typus eines erscheinungen der Detektivfigur bei Dürrenmatt und
seiner zentralen Anliegen, und in dessen Entfaltung Highsmith. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen
bezieht er sich ausdrücklich auf die (swiftsche) Gul- Literaturarchivs 21/22 (2006), 80–98.
liver-Gestalt und den »Entschluß [...], die Welt zu be- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Zürich 2020.
stehen« (WA 30, 63).
Andreas Mauz
16  Grieche sucht Griechin 71

16 Grieche sucht Griechin ten im kapitalistischen System, und Chloé, von ihm
verstoßen, ist verschwunden.
Entstehungs- und Wirkungsgeschichte »ENDE I« schreibt der Erzähler unter diesen
Schluss, und: »Es folgt das Ende für Leihbibliotheken«
Die Umstände, unter denen der Roman Grieche sucht (ebd., 154): Archilochos macht sich auf die Suche nach
Griechin entstand, waren unglücklich: Der Achtungs- Chloé, findet sie schließlich, und sie gehen zusammen
erfolg von Ein Engel kommt nach Babylon (1953) ihrem Glück entgegen: »ENDE II« (ebd., 162).
brachte Dürrenmatt endgültig zur Überzeugung: »Als In der Prosakomödie treffen Ordnung und Zufall
Dramatiker bin ich ein unvermeidliches Mißver- als Prinzipien aufeinander: Archilochos versucht, die
ständnis« (WA 28, 217). Als seine Frau Lotti schwer Welt in eine Ordnung zu bringen, in der alles be-
erkrankte und er für die Operation bezahlen musste, stimmt und nichts zufällig sein soll. Er will Sicherheit
spitzte sich die finanzielle Situation weiter zu und er bis über den Tod hinaus, glaubt er als »Altneupres-
begann, eine nur vage im Geist entwickelte Filmidee byteraner« (22) doch unerschütterlich an die Ewigkeit
tatsächlich niederzuschreiben: »Der Vorschuß mußte der Höllenstrafen. Diesen Halt gibt ihm seine sittliche
her, ich schrieb das Buch voll böser Ahnungen in we- Weltordnung, die aus sieben Personen des öffent-
nigen Tagen zu Ende« (ebd., 219). Am 21.1.1955 wird lichen Lebens besteht – und seinem kriminellen Bru-
der Vertrag zwischen Dürrenmatt und dem Arche der Bibi, von dessen gutem Kern er jedoch überzeugt
Verlag unter Peter Schifferli geschlossen und aus dem ist. Die im Verlauf der Handlung sichtbar werdenden
Arbeitstitel Ich heiratete eine Kurtisane wird Grieche Widersprüche zwischen der Vorstellung, die er sich
sucht Griechin – Eine Prosakomödie. Obwohl sie typi- von seinen Vorbildern gemacht hat, und der Wirk-
sche Mittel Dürrenmattschen Erzählens ebenso ent- lichkeit integriert er kreativ in sein Weltbild, und
hält wie zentrale Themen bzw. Motive seines Schrei- Chloé macht er aus innerer Notwendigkeit zu einer
bens (z. B. Gerechtigkeit, Gnade, Moral, Ideologiekri- Heiligen. Als er schließlich die Wahrheit über Chloé
tik) und die Mehrdeutigkeit des Textes deutlich auf und die Gründe für seinen märchenhaften Aufstieg
deren Gleichnisgehalt verweist, wurde sie fast einhel- nicht mehr ignorieren kann, ist er dem Chaos schutz-
lig als Unterhaltungsliteratur bzw. als Spiel mit ihr ge- los ausgeliefert und droht, an ihm zu scheitern. Der
lesen und spielte beim Lesepublikum wie in der For- Staatspräsident – eine der christologischen Figuren
schung kaum eine Rolle (vgl. Obermeier 2015, 91). im Werk Dürrenmatts – fungiert jedoch als Geburts-
Zur Verfilmung kam es 1966 unter der Regie von Rolf helfer und kann Archilochos schließlich zur Wahrheit
Thiele. Der Text der WA ist nach der gegenüber der verhelfen: zur Geburt zu sich selbst. Das Motiv der
Erstausgabe leicht redigierten Fassung der Werkaus- Geburt ist in Grieche sucht Griechin von Beginn an an-
gabe 1980 wiedergegeben. gelegt: Als milchtrinkender Mitarbeiter in der Ge-
burtszangenabteilung seines Vorbildes Petit-Paysan
muss ihn seine Pensionswirtin neun Monate lang be-
Inhalt und Analyse arbeiten, bevor Archilochos sich endlich überreden
lässt zu heiraten. Dass der Grieche nun in der Lage ist,
»Grieche sucht Griechin!« (WA 22, 23), so lautet der sich die nötige Distanz zur Welt zu schaffen und sie als
übersichtliche Text der Kontaktanzeige, mit der Ar- Chaos innerhalb der Ordnung anzunehmen, ermög-
nolph Archilochos, kurzsichtiger Abstinenzler mit licht es ihm, sich in der Welt als ›Einzelner‹ im Sinne
sittlicher Weltordnung und Unterbuchhalter einer Kierkegaards zu positionieren (vgl. Mingels 2003).
Maschinenfabrik (Abteilung Geburtszangen), tat- Trotz objektiv demonstrierter Sinnlosigkeit mensch-
sächlich die bezaubernde Griechin Chloé Saloniki lichen Handelns – nach einem Regierungssturz ver-
nicht nur ansprechen, sondern sie bereits bei ihrem ändern sich die (Macht-)Verhältnisse und trotzdem
ersten Treffen zur Heirat bewegen kann. In diesem bleibt alles, wie es war – setzt eine Gegenbewegung
märchenhaften Tempo geht es weiter: Archilochos ein: Die Suche des Helden geht weiter, aber sie behält
steigt kometenhaft auf, um sogleich umso tiefer zu fal- ihren subjektiven Charakter, indem sie nicht-objekti-
len, als er während der Hochzeitsfeier erkennt, dass vierter Teil der Geschichte ist. Was beschrieben wird,
Chloé die berühmteste Kurtisane der Stadt gewesen ist die ›Suche nach der Liebesgöttin‹; was sich dahinter
ist, und er Nutznießer der Abschiedsgeschenke ihrer verbirgt, bleibt die Sache des Einzelnen.
einflussreichen Kunden. Seine Ordnung entpuppt sich Der Einzelne, der ›mutige Mensch‹, das ist der Held
als Chaos, die ehrwürdigen Vorbilder sind Marionet- Dürrenmatts, der nicht einfach zu charakterisieren ist

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_16
72 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

und für den Leser oder Zuschauer kaum eine Identifi- den Leser, durch den Zuschauer, und das nur, wenn er
kationsfläche bietet (s. Kap. 72). Er ist gebrochen, aber vom Gleichnis betroffen ist, sonst bleibt für ihn das
er verzweifelt nicht an der Sinnlosigkeit der Welt, son- Gleichnis nur eine belanglose, verrückte Geschichte,
dern übt sich im ›dennoch‹ und sucht den Sinn hinter und viele glauben, ich hätte nur solche geschrieben«
allem Unsinn. Archilochos ist die einzige Figur Dür- (WA 29, 131).
renmatts, die in Bezug auf die Gnade – in diesem Fall Bringt man die offensichtlichen Griechenland-Be-
die Liebe zu sich selbst und die Liebe zu Chloé – eine züge in Grieche sucht Griechin (vgl. Obermeier 2015,
zweite Chance erhält. Als mutiger Mensch nimmt er 182) mit den Idyllen von Salomon Geßner in Verbin-
das Wagnis der Liebe auf sich und im Gegensatz zu dung, dann kann Dürrenmatt durch den Bezug auf
Doc aus dem Mitmacher und Übelohe aus Die Ehe des diese Gedankenwelt die idyllischen Verhältnisse der
Herrn Mississippi überwindet er die Furcht vor ihr, Schweiz parodieren und demontieren, die ihr von Au-
weil er keine Angst mehr hat, sich selbst zu verlieren. ßenstehenden auch dadurch zugeschrieben werden,
dass Geßners Werke als Annäherung zwischen Arka-
dien und der Schweiz rezipiert wurden. Außerdem
Deutungsaspekte schicken sich sowohl Geßner als auch Dürrenmatt an,
mit Literatur zur Überwindung gesellschaftlicher Hie-
Dürrenmatt bezeichnet in Theaterprobleme die Ko- rarchien und zur Herausbildung einer öffentlichen
mödie als eine »Mausefalle, in die das Publikum im- Kommunikation beizutragen, und teilen die Einschät-
mer wieder gerät und immer noch geraten wird« (WA zung darüber, wie gesellschaftliche Veränderungen
30, 64). In Grieche sucht Griechin versteckt sich die vonstatten gehen können: Das Veränderungspotential
›Mausefalle‹ im Anmerkungssatz »Es folgt das Ende wird beim Einzelnen gesehen. Wo aber die Idylle
für Leihbibliotheken«, den die meisten Leser aber Glückseligkeit in der Flucht vor der Gesellschaft sieht,
wohl nicht als Falle, sondern als Bestätigung ihrer Le- kann bei Dürrenmatt die Reise nach Griechenland
seerwartung rezipieren. Dieser Satz – ein ›Zeichen des zum einen als politische Option für den Einzelnen ge-
Widerspruchs‹ im Sinne Kierkegaards – ist nur deutet werden und zum anderen wird der Prozesscha-
scheinbar paratextueller Art: Er gehört zum eigentli- rakter der Sehnsucht betont, denn die eigentliche Reise
chen Text und ist durch seine ironische Form das endet eben nicht beim Erreichen des Sehnsuchtsorts.
stärkste Mittel, auf das Prinzip der indirekten Mittei-
lung hinzuweisen, das dem ganzen Text zugrunde Literatur
Primärtexte
liegt. Er ist der Ort für Dürrenmatt, indirekt aus- Grieche sucht Griechin. Eine Prosakomödie. Zürich 1955.
zudrücken, dass er sich indirekt ausdrückt. Gerade in Grieche sucht Griechin. In: WA 22, 9–162.
diesem Satz, wo er unterschiedlichen Lesarten zufolge
als Autor in Erscheinung tritt (vgl. Obermeier 2015, Sekundärliteratur
197–219), ist er als solcher am wenigsten zu fassen. An Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln
dieser Stelle wird der ›Einzelne‹ angesprochen, auf in-
2003.
direktem Weg, denn über das Allgemeine ist er nicht Obermeier, Monika: Nur eine belanglose Geschichte? Eine
zu erreichen. Hier entscheidet sich, ob es Dürrenmatt Interpretation der Prosakomödie Grieche sucht Griechin
gelingt, sich dem Leser als Individuum mitzuteilen von Friedrich Dürrenmatt und ihre Verortung innerhalb
und ihm sein eigenes Verständnis des Gleichnisses zu des Gesamtwerkes. Hamburg 2015.
überlassen, denn »Gleichnisse sind an sich mehrdeu- Monika Obermeier
tig, eindeutig werden sie nur durch den Deuter, durch
17  Die Panne 73

17 Die Panne Inhalt und Struktur

Entstehungs- und Wirkungsgeschichte Im kurzen ersten Teil der Erzählung wird die Frage er-
örtert, ob es noch »Geschichten für Schriftsteller« ge-
Am 17.1.1956 wurde Dürrenmatts Hörspiel Die Pan- be, und der Erzähler gibt sich als einer zu erkennen,
ne zum ersten Mal ausgestrahlt. Im Herbst desselben der nicht »von sich erzählen« will (WA 21, 37). Doch
Jahres erschien die gleichnamige Erzählung mit dem wie ist so der Welt erzählend noch beizukommen?
Untertitel Eine noch mögliche Geschichte. Diese Chro- »Die Ahnung steigt auf, es gebe nichts mehr zu erzäh-
nologie mag dazu beigetragen haben, dass manche len« (ebd., 38). Denn die moderne Welt sei – und da-
glaubten, das Hörspiel sei vor der Erzählung entstan- mit wird ein Gedanke aus den Theaterproblemen
den (z. B. Mayer [1967] 1998, 300). Tatsächlich aber (1955) wieder aufgenommen – unübersichtlich ge-
hat Dürrenmatt zuerst an der Erzählung gearbeitet. worden. Was der Einzelne erlebe, sei »ohne Zusam-
Später schrieb er parallel dazu auch am Hörspiel, wo- menhang mit dem Weltganzen« (ebd.). Das »Schick-
bei sich komplexe Wechselwirkungen ergaben. Das sal« habe »die Bühne verlassen« und zurückgeblieben
geht aus einem Brief des Autors vom 17.12.1956 an sei eine »Welt der Pannen«, in der »kein Gott mehr«
Werner Weber hervor: »Die Panne [gemeint ist die drohe, »keine Gerechtigkeit, kein Fatum« (ebd., 39).
Erzählung] existiert in fünf Fassungen [...], zwischen Alle Ereignisse seien nur noch Zufälle, Unfälle und
der Prosafassung Drei und Vier liegen noch drei Fas- kontingente Fehlleistungen, und nur ganz selten wür-
sungen des Hörspiels Die Panne, Fassungen, die den sich »noch einige mögliche Geschichten ergeben,
wieder die späteren Prosafassungen stark veränder- indem aus einem Dutzendgesicht die Menschheit
ten« (zit. nach Rüedi 2011, 419). Auf der Grundlage blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet,
der ausgestrahlten Hörspielfassung verfasste Dürren- Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht
matt dann das Drehbuch zum Fernsehspiel Die Pan- auch Gnade, zufällig aufgefangen, widergespiegelt
ne (1957), in dem Fritz Umgelter Regie führte. Und vom Monokel eines Betrunkenen« (ebd.).
über zwanzig Jahre später hat er den Pannen-Stoff Nach diesem Satz, der in seiner ungeschmeidigen
schließlich noch einmal aufgenommen und für die Struktur, wie auch andere Passagen, gleichsam syntak-
Bühne bearbeitet: Die Panne. Eine Komödie wurde am tischer Ausdruck der Zusammenhanglosigkeit der
13.9.1979 unter seiner eigenen Regie in Wilhelmsbad/­ Pannen-Welt ist (vgl. Weber 1956), setzt der zweite
Hanau uraufgeführt. Teil des Textes ein, in dem exemplarisch die Geschich-
Sowohl die Erzählung als auch das Hörspiel waren te des Textilkaufmanns Alfredo Traps erzählt wird.
große Erfolge. Für Letzteres erhielt Dürrenmatt 1957 Dieser hat in ländlicher Gegend eine Autopanne, fin-
den wichtigen Hörspielpreis der Kriegsblinden, und det in der Villa eines pensionierten Richters Unter-
die Erzählung – versehen mit in heutigen Ausgaben kunft und beteiligt sich bei einem lukullischen Gelage
kommentarlos weggelassenen Illustrationen des da- an einem Gesellschaftsspiel, das sein namenloser
mals noch ganz jungen Rolf Lehmann – erlebte zahl- Gastgeber (im Hörspiel heißt er Werge, in der Komö-
reiche Auflagen, in denen der Text wiederholt leicht die Wucht) zusammen mit dem ehemaligen Staats-
redigiert wurde (der Wortlaut in WA 21 entspricht anwalt Zorn, dem früheren Strafverteidiger Kummer
dem der Werkausgabe von 1980). Der Erfolg der Er- und dem pensionierten Henker Pilet entwickelt hat.
zählung zeigt sich auch daran, dass sie 1960 unter dem Dabei schlüpfen die vier Greise in die Rollen ihrer frü-
Titel The Deadly Game in einer Theateradaption von heren Berufe und halten Gericht – ein Motiv, zu dem
James Yaffe am Broadway aufgeführt wurde (die wie- Dürrenmatt zum einen durch eine Anekdote über
derum George Schaefer zu seinem gleichnamigen zwei entlassene Beamte inspiriert wurde, die alte Ak-
Film von 1982 anregte) und dass Ettore Scola sie 1972 ten aufkauften, um ihren Beruf als Spiel weiter aus-
in einer freien Bearbeitung unter dem Titel La più bel- üben zu können (vgl. Dürrenmatt 1996, 115), zum an-
la serata della mia vita verfilmte. Dürrenmatts Komö- dern durch eine Erzählung Maupassants, wahrschein-
die Die Panne konnte nicht mehr an die Erfolge des lich Le Voleur (1882; vgl. Spycher 1972, 231, Anm.
Hörspiels und der Erzählung anknüpfen. 4). Die Rolle des Angeklagten besetzen die Pensio-
nierten oft mit einer historischen Persönlichkeit, doch
wenn möglich vergnügen sie sich »am lebenden Mate-
rial« (WA 21, 46). So wird Traps gebeten, den Part des
Angeklagten zu übernehmen, und das Spiel besteht

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_17
74 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

nun darin, dem nach herkömmlichen juristischen so dass Zorns (Re-)Konstruktion der Traps-Vita in ei-
Kriterien unbescholtenen Gast ein Verbrechen nach- nem positiven Sinne als die im Untertitel angekündig-
zuweisen und ihn zu verurteilen – ein Motiv, das vage te noch mögliche Geschichte erscheint. Aber hat der
an Kafkas Prozess (1925) erinnert. Staatsanwalt tatsächlich das letzte Wort? Oder besteht
Im Laufe des Tischgesprächs, das zugleich immer die noch mögliche Geschichte in der Panne insgesamt,
schon Verhör ist (vgl. Hess-Lüttich 2008), erfährt der in deren Rahmen Zorns (Re-)Konstruktion vom Er-
Staatsanwalt von Traps’ steilem beruflichen Aufstieg. zähler zwar als Deutungsangebot präsentiert, zugleich
Sogleich wittert er Zweifelhaftes, und als deutlich aber auch kritisch perspektiviert wird?
wird, dass Traps bei seiner Karriere vom Tod seines Für die erste Lesart spricht, dass im theoretischen
einstigen Chefs Gygax profitiert hat, ist zur Freude der Vorspann davon die Rede ist, dass die hie und da noch
Alten auch schon eine Leiche gefunden. Als sich dann möglichen Geschichten »vom Monokel eines Betrun-
aber auch noch erweist, dass Traps vor dem Ableben kenen« widergespiegelt würden (39). Dieses Monokel
seines Vorgesetzten ein Verhältnis mit dessen Ehefrau steht metonymisch für den Staatsanwalt, der, wie man
unterhalten und dafür gesorgt hatte, dass der herz- später erfährt, Monokelträger ist (vgl. ebd., 45). Nur
kranke Gygax davon erfuhr, ist für den Staatsanwalt aus dessen Perspektive ergäbe sich demnach noch eine
klar: Traps ist für dessen Tod verantwortlich und muss mögliche Geschichte im Zeichen von »Gericht und
deshalb zum Tode verurteilt werden. Zwar weist der Gerechtigkeit« (ebd., 39). Eine solche Lektüre könnte
Verteidiger diese Anklage als absurd zurück, weil auch gestützt werden durch Dürrenmatts Ansprache
überhaupt kein zwingender Kausalnexus zwischen anläßlich der Verleihung des Kriegsblinden-Preises
Traps’ Handlungen und dem Tod von Gygax bestehe. (1957). Denn dort meint er, die »Welt als ganze« sei
Doch der hoffnungslos betrunkene Traps will nichts zwar »in Verwirrung«, doch die »Welt des Einzelnen«
davon hören. Denn in der Version seiner Biografie, die sei »noch zu bewältigen«; hier gebe es, wie in seiner
der Staatsanwalt rekonstruiert hat, sieht er sich end- Panne, »noch Schuld und Sühne« (WA 16, 179). Und
lich – und sei es durch ein genial geplantes Verbrechen weiter könnte noch angeführt werden, dass es wohl
– aus seiner nichtssagenden Durchschnittsexistenz kaum ein Zufall ist, dass Dürrenmatt den Staatsanwalt
gleichsam in den Adelsstand des Außergewöhnlichen nach einer Emotion benannte, die er in den unmittel-
erhoben. Er bekennt sich deshalb mit Begeisterung bar zuvor niedergeschriebenen Theaterproblemen als
schuldig und wird vom Richter unter allgemeinem zentral für seine eigene Gegenwartskritik nennt:
Gejohle zum Tode verurteilt – freilich nicht, weil der »[V]or allem der Zorn reiß[t] seinen [des Schriftstel-
Richter die Argumentation des Staatsanwalts teilen lers] Mund auf« (WA 30, 70).
würde, sondern »juristisch nur darauf gestützt, daß Gegen diese Lesart spricht allerdings, dass Zorns
der Verurteilte sich selbst als schuldig« bekennt (WA Sicht der Dinge in der Erzählung nicht unwiderspro-
21, 91). Danach torkelt Traps beglückt in sein Zimmer, chen bleibt. Der Verteidiger weist sie als absurd zu-
wo er sich – zum Schrecken seiner Mitspieler – tat- rück, und auch der Richter sieht sie kritisch. Daran
sächlich erhängt, jedenfalls in der Erzählfassung. Im zeigt sich übrigens, dass die Greise keineswegs, wie
Hörspiel schläft er seinen Rausch aus und geht am Hans Mayer meint, alle »strenge Anhänger der in der
nächsten Tag seinen Geschäften nach, als wäre nichts Strafrechtslehre längst abgeschafften ›Bedingungs-
gewesen. In der Komödie wiederum erschießt er sich. theorie‹ [sind], wonach einem Täter, der irgendeine
Bedingung gesetzt hat, die zu einer strafbaren Hand-
lung führte, diese Straftat juristisch zugerechnet wird«
Deutungsaspekte (Mayer 1967/1990, 294). Ihre Argumentationen diffe-
rieren entscheidend (vgl. Büttner 2009). Eine weitere
In Traps’ Name kann das englische trap mitgehört Relativierung der Position des Staatsanwalts – und
werden, und tatsächlich geht der Textilkaufmann in überhaupt des ganzen ›Gerichts‹ – ergibt sich durch
eine Falle. Er wird im geschickt gewobenen Text des das groteske Setting der Verhandlung. Und zu denken
Tischgesprächs und vor allem in der Anklage des geben muss auch der Umstand, dass die vom Staats-
Staatsanwalts Zorn gefangen. Nicht nur Traps steht anwalt (re-)konstruierte Geschichte ausgerechnet vom
freilich im Bann von Zorns Worten, sondern auch das zweifelhaften Traps in den höchsten Tönen gelobt wird
Lesepublikum der Panne. Denn unversehens gerät (vgl. WA 21, 83). Sie kommt deshalb kaum in einem
auch es in den Deutungssog der Anklage – die auch affirmativen Sinne als ›noch mögliche Geschichte‹ in
eine Abrechnung mit dem Geist der 1950er Jahre ist –, Frage. Vielmehr besteht die noch mögliche Geschichte
17  Die Panne 75

darin, erzählend vorzuführen, wie nach dem Strick- Die Panne. Ein Hörspiel. Zürich 1961.
muster des Staatsanwalts gearbeitete Geschichten Die Panne. Eine Komödie. Zürich 1979.
letztlich eben gerade nicht mehr möglich sind. Die Panne. Hörspiel und Komödie. WA 16.
Die Panne. In: Der Hund. Der Tunnel. Die Panne. Erzählun-
Die Panne thematisiert mithin die für Dürrenmatts gen. WA 21, 35–94.
»Dramaturgie der Panne« insgesamt typischen »nie Die Entstehung der Panne. In: Luis Bolliger, Ernst Buchmül-
lösbaren Auseinandersetzungen zwischen Sinn- ler (Hg.): Play Dürrenmatt. Ein Lese- und Bilderbuch.
gebung und Sinntilgung« (Neumann 1969, 32). Sie er- Zürich 1996, 115–118.
zählt eine noch mögliche Geschichte von der Sinn-
Sekundärliteratur
gebung und Sinntilgung durch Erzählen und führt
Büttner, Urs: Urteilen als Paradigma des Erzählens: Dürren-
vor, wie prekär Sinnstrukturen in der Moderne gewor- matts Narratologie der Gerechtigkeit in seiner Geschichte
den sind. Die Labilität dieser Strukturen zeigt sich Die Panne (1955/56). In: Monatshefte 101 (2009), 4, 499–
nicht nur daran, dass sie – wie im Spiel der Alten – 513.
bloß noch unter dem Vorbehalt des ›Als-ob‹ sichtbar Cuonz, Daniel: Über den Rahmen des Möglichen. Übertra-
werden, sondern auch daran, dass sie sich in ihrer gung, Inszenierung, Spiel – Zu Friedrich Dürrenmatts
Panne. In: Daniel Müller-Nielaba (Hg.): Rhetorik der
Scheinhaftigkeit nur zufällig ergeben. Sie sind so kon- Übertragung. Würzburg 2013, 181–192.
tingent wie alles andere in der »Welt der Pannen« (WA Hess-Lüttich, Ernest W. B.: Pannen vor Gericht. Sprache,
21, 39). So kommt es nur zur ›Gerichtsverhandlung‹, Literatur und Recht in einem frühen Hörspiel von Fried-
weil Traps eine Autopanne hatte, und als Angeklagter rich Dürrenmatt. In: Elke Gilson u. a. (Hg.): Literatur im
macht sich dieser die Perspektive des Staatsanwalts Jahrhundert des Totalitarismus. Hildesheim 2008, 149–
169.
keineswegs aus einer gleichsam inneren Notwendig-
Mayer, Hans: Die Panne [1967]. In: Daniel Keel (Hg.): Über
keit heraus zu eigen, sondern bloß, weil er, wie sein Friedrich Dürrenmatt [1988]. 6. Aufl. Zürich 1998, 292–
Verteidiger bemerkt, eine »geistige Panne« (88) erlit- 308.
ten hat. Und auch sein Selbstmord erfolgt nicht aus ei- Mitrache, Liliana: Intertextualität und Phraseologie in den
ner tieferen Einsicht heraus – ein Umstand, den Dür- drei Versionen der Panne von Friedrich Dürrenmatt.
renmatt nicht zuletzt dadurch unterstrichen hat, dass Aspekte von Groteske und Ironie. Uppsala 1999.
Neumann, Gerhard: Friedrich Dürrenmatt. Dramaturgie
er Traps in der Hörspielfassung konsequenzenlos
der Panne. In: Ders., Jürgen Schröder, Manfred Karnick:
überleben lässt. Die Entscheidung dieses »Durch- Dürrenmatt. Frisch. Weiss. Drei Entwürfe zum Drama der
schnittsmenschen« (ebd., 91) fällt einmal so aus, ein- Gegenwart. München 1969, 27–59.
mal anders. Sie ist vom Zufall abhängig. Es ist deshalb Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
auch problematisch, den Schluss der Erzählung als Biographie. Zürich 2011.
»folgerichtiger[...]« (Mayer 1990, 303) als den des Schnyder, Peter: Pannenpoetik. Dürrenmatt als Nachfahr
Schillers? In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der
Hörspiels zu bezeichnen, denn gerade die Kategorie Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und intermedial. Göt-
der Folgerichtigkeit steht hier ja im eigentlichen Sinn tingen, Zürich 2014, 61–76.
auf dem Spiel. Spycher, Peter: Die Panne. In: Ders.: Friedrich Dürrenmatt.
Das erzählerische Werk. Frauenfeld 1972, 231–271.
Literatur Weber, Werner: Dürrenmatts Panne. In: Neue Zürcher Zei-
Primärtexte tung, 15.12.1956, Blatt 1.
Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. [Mit Illustratio-
nen von Rolf Lehmann]. Zürich 1956. Peter Schnyder
76 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

18 Das Versprechen Mitte Dezember 1957 Zeit, die »Novelle so zu schrei-


ben, wie Sie sie verantworten können« (zit. nach ebd.,
Entstehungs-, Publikations- und Auf- 60). Gleichzeitig sieht er mit dieser weiteren Verzöge-
führungsgeschichte rung aber auch die Existenz der Praesens gefährdet
und appelliert an das Gewissen des Autors. Vielleicht
Im Frühjahr 1957 beauftragt Lazar Wechsler, der Pro- beginnt Dürrenmatt deshalb Mitte Oktober 1957 nun
duzent der Praesens-Film (Zürich), Dürrenmatt da- doch mit der Arbeit am Drehbuch. Auch knüpft der
mit, für ihn einen Film über »Sittlichkeitsverbrechen« neu verpflichtete Regisseur Vajda seine Mitarbeit an
(Dürrenmatt 1957a, 1) an Kindern zu konzipieren. Der die Bedingung, dass »der Autor auch die Filmfassung
Autor verfasst am 27.3.1957 ein Exposé von zwei Seiten schreiben müsse« (zit. nach ebd., 153).
und soll laut Vertrag ab Mitte Mai 1957 für die Dauer Diese erste Drehbuch-Fassung ist Anfang Januar
von drei bis vier Monaten ausschließlich der Praesens- 1958 beendet. Es folgen bis zum Februar 1958 unter
Film zur Verfügung stehen und zunächst Treatment der Mitarbeit von Dürrenmatt, Vajda, Wechsler und
und Dialoge entwickeln, wobei sämtliche Arbeits- möglicherweise auch Richard Schweizer (vgl. Dumont
schritte Wechsler zur Diskussion und Genehmigung 1987, 490), dem ›Haus-Drehbuchautor‹ der Praesens,
vorzulegen sind. Möglicherweise mit Blick auf die von drei weitere Fassungen. Der Filmtitel Es geschah am
Anfang an geplante Buchpublikation des Stoffes bei Pe- hellichten Tag stammt von Staudte. Dürrenmatt möch-
ter Schifferli im Arche Verlag (Zürich) schreibt der mit te den Film lieber Schrott geht bummern [sic] oder Gott
dem Medium Film noch sehr unerfahrene Dürrenmatt schlief am Vormittag nennen (vgl. Möbert 2011, 148 f.).
nun allerdings statt eines Treatments eine Filmerzäh- Auch Der Köder ist offenbar zwischenzeitlich als Titel
lung, die er noch vor ihrer Beendigung in mehreren im Gespräch (vgl. ebd., 149 f.).
Schritten überarbeitet. Weder die erste noch die zweite Heinz Rühmann wird erst spät für die Rolle des
Fassung der Filmerzählung – beide bereits mit Das Ver- Kommissärs verpflichtet. Vertraglich wird ihm zuge-
sprechen betitelt – besitzen einen Schlussteil. Die zweite sichert, dass sein eigener Drehbuchautor, Hans Jacoby,
Fassung bricht unvermittelt nach Kapitel 36 ab und ist als Berater hinzugezogen werde. Diesem kommt nun
vermutlich im Juli 1957 beendet. die Aufgabe zu, Dürrenmatts Stoff dem Image Rüh-
Unter dem Druck Wechslers beginnt Dürrenmatt manns anzupassen, der damals ein gefeierter Star ist.
in der zweiten Augusthälfte die Arbeit am Schlussteil Mit Datum vom 11.3.1958 legt Jacoby die aus 21 Blät-
der Filmerzählung. Anfang September 1957 liegt diese tern bestehenden Aenderungen am Drehbuch ›Es ge-
schließlich vollständig vor. Wechsler urteilt, sie sei schah am hellichten Tag‹ vor, welche insbesondere
»gut und stark«, doch sei sie »unfertig und es wird Dürrenmatts Schluss der vierten Drehbuchfassung –
noch sehr viel Arbeit brauchen, bis man einen Film der Grundlage für die Dreharbeiten – entscheidend
daraus machen kann« (zit. nach Möbert 2011, 55). Um verändern. Am 18.2.1958 fällt die definitive Entschei-
die Produktion voranzubringen, wird zwischen dem dung über die Realisierung des Films, bereits zwei Ta-
23.9. und dem 5.10.1957 ein Arbeitstreffen zwischen ge später beginnen die Dreharbeiten. Laut den Skript-
dem erfahrenen Drehbuchautor Jochen Huth und büchern des Skriptgirls Marty Vlasak enden die Dreh-
Dürrenmatt arrangiert. Der von Huth verfasste Hand- arbeiten Anfang Mai 1958. Am 4.7.1958 wird der Film
lungsablauf eines Films nach der Novelle von Friedrich im Rahmen der VIII. Internationalen Filmfestspiele
Dürrenmatt ›Das Versprechen‹ entspricht zwar endlich Berlin in Anwesenheit von Dürrenmatt uraufgeführt.
einem Treatment, doch möchte Dürrenmatt sich nun Im Vorspann werden lediglich Dürrenmatt, Jacoby
wieder der Filmerzählung zuwenden. und Vajda als Urheber des Drehbuchs genannt. Irre-
Damit ist Wechslers Zeitplan endgültig geplatzt: führend ist zudem der Hinweis »nach dem Roman
Der Film sollte im Januar 1958 in die Kinos kommen; ›Das Versprechen‹ von Friedrich Dürrenmatt« auf den
als Regisseur war bereits Wolfgang Staudte und für die Filmplakaten (zit. nach Möbert 2011, 206 f.), während
Rolle des Kommissärs Matthäi Martin Held verpflich- die Kinobetreiber von der Praesens-Film für die Inse-
tet worden. Nach wiederholten Verschiebungen der rate um die zutreffendere Formulierung »Nach einer
Dreharbeiten standen aber beide nicht mehr zur Ver- Original Filmstory von Friedrich Dürrenmatt« gebe-
fügung. Im Oktober 1957 wird nun erstmals Ladislao ten werden (zit. nach ebd., 169).
Vajda, der in seinen Filmen großes Geschick bei der Von März bis Juli 1958 arbeitet Dürrenmatt die
Arbeit mit Kindern bewiesen hatte, als Regisseur ge- Filmerzählung zum Roman Das Versprechen mit dem
nannt. Der Produzent gibt Dürrenmatt jedenfalls bis Untertitel Requiem auf den Kriminalroman um. Ver-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_18
18  Das Versprechen 77

leger Schifferli, der im Juni 1957 noch eine ›Novelle‹ einem einsamen Tal. Er hat einen tiefgreifenden Ent-
erwartet hatte, sprach einen Monat später bereits von schluss gefasst, und er wartet auf etwas. Es folgt ein
einem ›Roman‹: »Ich habe den Umfang des Romans in Perspektivwechsel zu dem Hausierer von Gunten, der
unserem Herbstprogramm mit ca. 240 Seiten angege- nach einer üppigen Mahlzeit am Waldrand döst: »So
ben« (zit. nach ebd., 366). Doch dieser erscheint erst sah er denn Schrott nicht, der mächtig und entschlos-
1958, zunächst als Vorabdruck in der Neuen Zürcher sen aus dem Wald trat, wie ein böser Gott, [...] und
Zeitung (5.–28.8.1958) und in der Illustrierten Con- auch nicht das Mädchen, das [...] die Strasse von Mä-
stanze (ab Nr. 17/58 vom 17.8.1958). Noch im selben gendorf heranhüpfte, herantanzte« (ebd., 6 f.). Von
Jahr erfolgt die Buchpublikation im Arche Verlag mit Gunten wird durch einen Schrei geweckt, bricht über-
einem Nachwort des Autors. Die – später weggelasse- stürzt auf und findet im Wald die Mädchenleiche. Vol-
ne – Widmung »an Lazar Wechsler / den Chef / und ler Panik flüchtet er nach Mägendorf und verständigt
Ladislao Vajda / den Regisseur« (Dürrenmatt 1958b, von dort aus die Kantonspolizei. Kommissär Matthäi
5) verrät, dass das Verhältnis zwischen dem Schrift- übernimmt die Ermittlungen, doch steht sein Wechsel
steller und dem Produzenten durchaus nicht ohne nach Jordanien kurz bevor. Der Mutter des ermorde-
Spannung war. ten Gritli Moser verspricht er »bei meiner Seligkeit«
Am 3.9.1959 wird die britische Verleihfassung in (ebd., 21), den Täter zu finden. Matthäi tritt seinen
London unter dem Titel It Happened in Broad Day- Flug nicht an und ermittelt auf eigene Faust weiter: Er
light erstaufgeführt; die Szenen des Polizeikomman- zieht mit der alleinerziehenden Frau Heller und deren
danten und des Psychiaters waren mit englischen Dar- Tochter Annemarie in ein verkommenes Haus, das er
stellern nachgedreht worden. Diese Fassung muss sich als »Benzinverkaufstelle« (ebd., 111) hat einrich-
heute als verschollen gelten. ten lassen. Mit Annemarie als Lockvogel möchte Mat-
Auf der Grundlage des Spielfilms von 1958 gibt es thäi den Mörder fassen. Dieser geht ihm auch tatsäch-
mehrere Neuverfilmungen: Szürkület/Crépuscule/ lich in die Falle; im Zweikampf mit dem Kommissär
Twilight/Dämmerung (H/CH, 1990), R.: György Fe- wird Schrott tödlich verwundet. Die Filmerzählung
hér; The Cold Light of Day/Tod im kalten Morgenlicht endet damit, dass Matthäi Gritlis Mutter mitteilt, er
(GB/NL/D, 1994), R.: Rudolf van den Berg; Es geschah habe sein Versprechen gehalten, doch diese antwortet
am hellichten Tag (D, 1997), R.: Nico Hofmann (TV- ihm nicht mehr: »Ihre Augen waren leer, ihr Gesicht
Produktion). Auch der Roman wird verfilmt: La pro- tot, nur die Zugluft spielte manchmal mit ihrem Haar,
messa/Das Versprechen (I/CH/D, 1978), R.: Alberto die eiskalt aus der dunklen Höhle der Türe drang;
Negrin; The Pledge (USA, 2001), R.: Sean Penn. das war das einzige Leben an ihr. Matthäi wurde von
Der Roman Das Versprechen wird seit 2005 zudem Grauen erfüllt« (Dürrenmatt 1957c, 139).
– wie es für das Gegenwartstheater bezeichnend ist – In dieser Frühphase der Stofffindung im Sommer
regelmäßig für die Bühne adaptiert. Namhafte Häuser 1957 können die intertextuellen Bezüge dieses Stoffes
nahmen das Stück in ihren Spielplan auf, darunter: am deutlichsten an der Filmerzählung aufgezeigt wer-
Thalia Theater, Hamburg (2005); Schauspielhaus Zü- den. Dürrenmatt übernimmt aus den Kriminalroma-
rich (2012); Theater Basel (2018). nen Wachtmeister Studer (1936) und Matto regiert
(1937) von Friedrich Glauser und aus verschiedenen
Erzählungen Glausers zentrale Motive, die er verfrem-
Inhalt und Analyse det und neu arrangiert. Die Kurzgeschichte Der alte
Zauberer (1932/33) etwa handelt von dem Bauern
Die zweite Fassung der Filmerzählung beginnt mit der Leuenberger, der seine sehr viel jüngeren Ehefrauen in
Einführung der Figur Schrott: »Er hatte sich noch zu der Überzeugung ermordet hat, nach der siebenten
rasieren. Er stand vor dem Lavabo im Badzimmer. toten Ehefrau bekomme man die Gewalt, da könne
Aus dem Spiegel blickten ihm über dem Schaum eher man fliegen. Dürrenmatt übernimmt das titelgebende
gutmütige Augen entgegen. [...] Was da allmählich aus Motiv und lässt den ebenfalls wahnsinnigen Schrott
dem Seifenmeer auftauchte, strahlte in dumpfer Treu- für Annemarie zu einem ganz realen ›Zauberer‹ wer-
herzigkeit, zu der nur der Umstand nachdenklich den (vgl. Dürrenmatt 1957c, 125). Der ganze Plot wie-
stimmen musste, dass Schrott nach beendigter Proze- derum ist sehr stark an den Roman Maigret stellt eine
dur das Rasiermesser nicht zu den übrigen Utensilien Falle (frz. 1955) von Georges Simenon angelehnt, und
legte« (Dürrenmatt 1957b, 1). Schrott fährt mit sei- auch aus weiteren Kriminalromanen Simenons wer-
nem Buick aus der Stadt hinaus, hält schließlich bei den Motive übernommen. Bereits im Exposé hatte
78 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

Dürrenmatt den Gedanken geäußert, für den ›Detek- schehen um Matthäi nun retrospektiv entwickelt. Die
tiv‹ die Figur des ›Wachtmeisters Studer‹ zu überneh- lineare Struktur der Erzählweise wird im Roman auf-
men (vgl. Dürrenmatt 1957a, 1). gegeben, sämtliche Szenen mit dem Mörder Schrott
Dürrenmatts Vorstellung einer grotesken Welt wird werden gestrichen. Der Schluss ist völlig neu gestaltet:
u. a. an der Figur des Psychiaters Professor Locher Der Kommissär wartet nun vergeblich, durch das
deutlich. Dieser wird als schwerer Alkoholiker ge- Einwirken des Zufalls ist der Mörder längst ums Le-
zeichnet, der zudem morphiumabhängig ist, in voll- ben gekommen (vgl. WA 23, 14–16 u. 153–161). Auch
trunkenem Zustand das Tatmotiv des Mörders er- der Roman weist zahlreiche intertextuelle Bezüge auf.
schließt und sich fürchtet, selbst wahnsinnig zu wer- Dürrenmatts apokalyptische und groteske Welt er-
den (vgl. Dürrenmatt 1957b, 100–103). Bei der »beim fährt hier zumindest teilweise ihre feierliche Wieder-
Dorfe Maringen« (ebd., 80) gelegenen Privatklinik auferstehung.
orientiert sich Dürrenmatt an der psychiatrischen Kli-
nik Préfargier in Marin bei Neuchâtel. Die in der Film-
erzählung beschriebene Villa nebst den in ihr unter- Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
gebrachten Patienten (vgl. ebd., 93–95) wiederum
stellt eine Präfiguration der Villa des privaten Sanato- In Turmbau. Stoffe IV–IX erweckt Dürrenmatt den
riums ›Les Cerisiers‹ des späteren Stücks Die Physiker Eindruck, dass er bereits im Sommer 1957 die Idee
(1962) dar. Schon sehr filmisch gestaltet ist der bum- des scheiternden Detektivs der späteren Romanfas-
melnde, andächtig eine Schaufensterauslage betrach- sung hatte: »Wollte Wechsler eine logische, berechen-
tende Schrott: »[e]in Kindersarg mit Silber verziert, bare Handlung, faszinierte mich die Möglichkeit, eine
Engelchen drauf, umflossen von Schrottens geister- grundsätzlich unberechenbare Welt aufzuzeigen, an
haftem Spiegelbild« (Dürrenmatt 1957b, 40). der eine grundsätzlich richtige Überlegung scheitert«
Insbesondere die zahllosen Märchen-Motive wie (WA 29, 41). Im Nachwort zum Roman weist Dürren-
auch die biblischen und mythologischen Motive, wel- matt darauf hin, dass er »Kritik an einer der typischs-
che die große Vielfalt und den besonderen Reichtum ten Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts« (WA
der Filmerzählung ausmachen, werden in den nach- 23, 203), dem Detektiv, habe üben wollen. Und im
folgenden Textstufen wieder sukzessive aus dem Stoff Untertitel nennt er seinen Roman nun Requiem auf
eliminiert. Im Film sind sie nicht mehr, im Roman nur den Kriminalroman – mit seiner Genreverletzung
noch ansatzweise enthalten. Die Gründe dafür sind strebt Dürrenmatt die Dekonstruktion dieser Gat-
vielfältig. tung an.
Die Interessen Wechslers und seines Autors diver- Die Annahme, Dürrenmatt habe mit dieser Neu-
gieren von Anfang an. Dürrenmatt möchte seinen konzeption den Stoff lediglich »jenseits des Pädagogi-
Stoff in eine unheilvolle Märchenwelt einbetten; ihm schen« (ebd.) weiterdenken wollen, greift aber zu
sind seine thematischen Leitmotive wie Glaube und kurz. Tatsächlich übt er mit dem Roman massive Kri-
Gerechtigkeit wichtig, er schafft eine absurde und tik an dem Film, wenn er den Kommandanten am
apokalyptische Welt voller grotesker Elemente. Dür- Schluss ausführen lässt, wie eine solche Geschichte
renmatt will Gesellschaftskritik üben. Dabei schreckt nun für den Film aufbereitet werden könne, worauf
er auch vor Tabubrüchen nicht zurück, wenn er Frau die Schlussszene des Films ziemlich genau wieder-
Heller eine ehemalige Prostituierte sein lässt. Wechs- gegeben wird (vgl. ebd., 142 f.). Durch diesen ge-
ler hingegen verfolgt gänzlich andere Intentionen: schickten Dreh muss der Leser annehmen, dass der
Ihm schwebt ein Aufklärungsfilm mit unterhalten- Film tatsächlich auf der Grundlage dieser Darstellung
dem Charakter vor. Die Handlung soll in der Realität im Roman entstanden sei – was aber nicht zutrifft.
angesiedelt sein; der Mörder soll am Ende gefasst und Film und Roman bleiben als zwei voneinander ab-
auf die Sehgewohnheiten und Moralvorstellungen der weichende Fassungen desselben Stoffes nebeneinan-
1950er Jahre soll Rücksicht genommen werden. der bestehen. Leser und Zuschauer reagieren verstört.
Als Jacoby ohne Dürrenmatts Einverständnis den Es handelt sich hier weder um eine ›Literaturverfil-
Schluss der vierten Drehbuchfassung abändert, arbei- mung‹ (was der Vorspann des Films und der Roman
tet der Autor die Filmerzählung im Sinne der späte- nahelegen) noch um eine ›Verbuchung‹ (was man
ren Roman-Konzeption vollständig um: Er schafft ei- wiederum vermuten könnte, da der Roman ja erst
nen doppelten Erzählrahmen mit zwei langen Rück- nach der Aufführung des Films publiziert wird). Der
blenden, in denen der Polizeikommandant das Ge- Roman stellt trotz seines abweichenden Inhalts auch
18  Das Versprechen 79

kein ›Buch zum Film‹ dar, vielmehr handelt es sich um Das Versprechen. Schlussteil der Filmerzählung. Typoskript.
einen ›Gegenentwurf‹. 18 Seiten. 16./18.8.1957 bis 2.9.1957 (1957c). Archiv der
Philipp Bühler konstatiert, dass »die fast unerträg- Praesens-Film, Zürich.
Drehbuch zum Film Es geschah am hellichten Tag. Erste Fas-
liche atmosphärische Spannung [...] Es geschah am sung. Typoskript mit handschriftlichen Änderungen und
hellichten Tag zum besten deutschen Nachkriegsfilm« Collagen. 210 Seiten. 15.10.1957 bis 8.1.1958 (1958a).
(2014, 429) mache. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m104_V.
Peter Rüedi erkennt im Roman »die in ihrer Form Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Zürich
vollkommenste und vielschichtigste aller Detektiv- 1958 (1958b).
Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. WA 23,
geschichten Dürrenmatts [...]: eine virtuose Parabel
11–163 u. 203.
über das prekäre Verhältnis von Verbrechen und Stra- Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29, 37–41.
fe, Kunst und Wirklichkeit, der ästhetischen Folge- Huth, Jochen: Handlungsablauf eines Films nach der
richtigkeit und der dem Zufall unterworfenen Wirk- Novelle von Friedrich Dürrenmatt Das Versprechen.
lichkeit. Über das Scheitern eines Aufklärers als Typoskript. 17 Seiten. 23.9. bis 5.10.1957. Schweizerisches
Gleichnis für das Scheitern der Aufklärung« (2011, Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m104_IV.
Jacoby, Hans: Aenderungen am Drehbuch Es geschah am
608 f.). hellichten Tag. 21 Blätter. 11.3.1958. DFF – Deutsches
Verbindendes Glied zwischen Film und Roman Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt a. M.
aber ist die bildgewaltige Filmerzählung. Nur mit ih- Vajda, Ladislao (Regie): Es geschah am hellichten Tag. CH/
rer Kenntnis lässt sich das erste realisierte, genuin fil- D/E, 1958. Spielfilm. 99 Min.
mische Projekt Dürrenmatts wirklich verstehen.
Sekundärliteratur
Literatur Bühler, Philipp: Es geschah am hellichten Tag. In: Paul Dun-
Primärtexte, Quellen can, Jürgen Müller (Hg.): Film Noir. 100 All-Time Favo­
Exposé zum Film. Typoskript mit handschriftlichen Ände- rites. Köln 2014, 424–429.
rungen. 2 Seiten. 27.3.1957 (1957a). In: Oliver Möbert: Dumont, Hervé: Geschichte des Schweizer Films: Spielfilme
Intertextualität und Variation im Werk Friedrich Dürren- 1896–1965. Lausanne 1987, 490–494.
matts. Zur Textgenese des Kriminalromans Das Verspre- Möbert, Oliver: Intertextualität und Variation im Werk
chen (1957/58) unter besonderer Berücksichtigung des Friedrich Dürrenmatts. Zur Textgenese des Kriminal-
Spielfilms Es geschah am hellichten Tag (CH/D/E, 1958). romans Das Versprechen (1957/58) unter besonderer
Frankfurt a. M. 2011, 39 f. Berücksichtigung des Spielfilms Es geschah am hellichten
Das Versprechen. Filmerzählung. Zweite Fassung, ohne Tag (CH/D/E, 1958). Frankfurt a. M. 2011.
Schlussteil. Typoskript. 122 Seiten. 14.7.1957 (1957b). Rüedi, Peter: Das verhüllte Gericht oder Requiem auf die
Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-A-m131_ Gerechtigkeit. In: Ders.: Dürrenmatt oder Die Ahnung
III. vom Ganzen. Biographie. Zürich 2011, 607–618.

Oliver Möbert
80 II Schriftstellerisches Werk – E Kriminalromane und Erzählungen

19 Der Pensionierte Inhalt und Analyse

Entstehung Das Fragment besteht nur aus der Exposition zu ei-


nem Kriminalroman: Höchstettler wird als 60-Jähri-
In Dürrenmatts Nachlass fand sich das Fragment ei- ger anlässlich eines Führungswechsels frühzeitig pen-
nes Kriminalromans, das in mehreren Arbeitsfassun- sioniert. Den Würdigungen durch die Vorgesetzten
gen zwischen Ende 1969 und 1979 entstanden war. am letzten Arbeitstag entzieht er sich, stattdessen geht
Einen Hinweis auf dessen Existenz hatte der Autor in er seinen ›unerledigten Fällen‹ nach, konkret einem
seinen um die Jahreswende 1969/70 entstandenen Autofriedhofbetreiber und Einbrecher sowie einem
Sätzen aus Amerika gegeben: »In San Juan [...] Wirtepaar, das Versicherungsbetrug begangen hatte.
schrieb ich [...] an einem neuen Roman, Der Pensio- Auch ein Bilderfälscher taucht auf, dem Höchstettler
nierte. Der Roman handelt davon, wie nach den ers- für seine Kunstfertigkeit Anerkennung zollt. In jedem
ten Tagen nach seiner Pensionierung ein bernischer zehnten Fall hatte er die Delinquenten laufen lassen.
Polizeikommissär alle seine Verbrecher aufsucht, die Nun demonstriert er den Kriminellen, dass er durch-
er im Verlauf seiner langen Tätigkeit aus Humanität aus in der Lage gewesen wäre, sie zu überführen, gibt
und Wissen um das Ungenügen menschlicher Ge- sich aber versöhnlich, ja freundschaftlich und wird
rechtigkeit hatte entkommen lassen« (WA 34, 91). gar mit einer Liebesnacht durch eine frühere Pros-
Das Fragment wurde 1995 als Text letzter Hand in der tituierte belohnt, die er einst vor Strafverfolgung ver-
Reinschrift von Juni 1979 mit Faksimiles der ur- schont hatte.
sprünglichen Handschrift von 1969/70 und einer Ar- Es wird also ein geradezu idyllisches Szenario ent-
beitsfassung von Mai 1979 mit textgenetischem Kom- wickelt, das allerdings nur den Vordergrund zu einem
mentar publiziert. Selbstmord und einem Mord bilden sollte, wie Dür-
Der Pensionierte knüpft deutlich an die Bärlach- renmatt in den Sätzen aus Amerika schreibt (vgl. WA
Romane Der Richter und sein Henker und Der Ver- 34, 92), ohne Konkreteres über den Handlungsverlauf
dacht an: Kommissär Gottlieb Höchstettler von der zu verraten. Der Suizid wird in der letzten ausgeführ-
Berner Kantonspolizei zeigt ähnlich eigenbrötlerische ten Szene angedeutet: Es ist jener des ehemaligen Re-
Züge wie sein Vorgänger. Die Romanhandlung wird gierungsrats von Rubigen, der durch eine politische
jedoch in der Entstehungszeit des Textes angesiedelt. Intrige einschließlich der Drohung, den verheirateten
Wie bereits die früheren Kriminalromane, so Peter Mann als Homosexuellen zu outen, zum Rücktritt ge-
Rüedi im Nachwort, entsprang der Beginn der Nie- zwungen und in seinem Amt vom Intriganten Gümm-
derschrift dem »Versuch, sich aus einer Krise zu be- liger beerbt wurde. Im Zentrum des Interesses sollten
freien« (Dürrenmatt 1995, 184). Dürrenmatt hatte also »vermutlich [...] vor allem gesellschaftskritische
1969 einen Herzinfarkt erlitten, und die Mitarbeit in und politisch brisante Aspekte stehen« (Spedicato
der Direktion des Basler Theaters war in einem gro- 2005, 146). Zur gleichen Zeit als Dürrenmatt im
ßen Krach zu Ende gegangen. Dass Dürrenmatt ei- Schweizerpsalm III über ein Land wetterte, in »wel-
nen Roman unvollendet liegen ließ, war eher die chem es langsam genierlich« werde, einem »Bundesrat
Regel als die Ausnahme – ihm fehlte oft die Geduld, die Hand zu reichen« (WA 34, 185), ließ er also seinen
begonnene Texte zum Abschluss zu bringen, was er menschlichen Kommissär Höchstettler wörtlich mit
teilweise in seinem Stoffe-Projekt nachholte. Dass er der Kleinkriminalität auf Einbruch und ins Bett gehen.
1979 noch einmal am Romanfragment arbeitete, Es besteht kaum Zweifel, dass Dürrenmatt mit die-
hing vermutlich mit dem soeben vollzogenen Ver- ser idyllischen Note als »Mausefalle« (wie er es einst
lagswechsel und dem Wunsch des Diogenes-Ver- mit Bezug auf die Komödie umschrieb) die Leserin-
legers Daniel Keel zusammen, einen neuen Kriminal- nen und Leser auf Gemütlichkeit einstimmen wollte,
roman zu präsentieren. Doch die Handlung wurde um sie dazu zu bringen, »sich Dinge anzuhören, die
auch bei der Wiederaufnahme kaum weitergeführt, sie sich sonst nicht so leicht anhören würde[n]« (WA
vielmehr arbeitete Dürrenmatt vor allem den be- 30, 64), und sie in menschliche Abgründe eines ver-
stehenden Teil aus. So ist die Handlung trotz ins- kommenen Politsystems, wenn nicht einer ganzen so-
gesamt 330 überlieferten Manuskriptseiten nicht we- zialen Elite, zu führen. Doch ist es müßig, hier über
sentlich über den 1969/70 auf 50 handschriftlichen den weiteren Handlungsverlauf zu spekulieren.
Seiten entworfenen Anfang hinaus entwickelt (vgl. Im Prozess der Überarbeitung zwischen 1971 und
ebd., 195). 1979 lassen sich zwei Tendenzen erkennen: Die eine

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_19
19  Der Pensionierte 81

ist ein Zug ins Maßlose, der vor allem in einer Essens- tionellem Sinne zu Ende zu schreiben, obwohl ihm,
szene zwischen Höchstettler und dem Gerichtsprä- wie die ausgearbeiteten Kapitel zeigen, die erzähleri-
sidenten Ellenberger ins Auge fällt (WA 37, 151–158): schen Mittel dazu keineswegs abhanden gekommen
Während der Gerichtspräsident, ein Berg von einem waren. Vor diesem Hintergrund, verbunden mit der
Menschen, bei Essen und Trinken keine Grenzen Tatsache, dass Höchstettler überraschend erfährt, dass
kennt, ist der Kommissär (wie einst Claire Zachanas- er von seiner ersten Frau einen erwachsenen Sohn hat,
sian) maßlos in Bezug auf Ehen, kommen die beiden liegt doch eine Vermutung über die geplante Fortset-
doch gerade vom Gerichtstermin zu Höchstettlers sie- zung am nächsten: »Vielleicht wäre Der Pensionierte
benter Scheidung. Dieser Zug verstärkt die Komik des [...] zur Selbstprüfung eines Mannes geworden, der
Romans, die sich auch in der Dialogführung zeigt, hinter seinen ungeklärten Fällen, man könnte auch sa-
und übersteigert sie ins Groteske. gen: seinen nicht bewältigten Stoffen, die Wahrheit
Die andere Tendenz zeigt sich in der Folgeszene über sich selbst sucht« (Krättli 1996, 36).
(159–164): Höchstettler steigt nach dem Essen in sei- An Dürrenmatts Stelle hat der Schweizer Schrift-
nen Chevrolet Impala – ein Wagenmodell, das auch steller Urs Widmer einen Schluss des Fragments ge-
Dürrenmatt selbst fuhr. Diese Fahrt gehört zu den schrieben, der in der Taschenbuchausgabe abgedruckt
stärksten Teilen des Fragments: Er fährt angetrunken ist (Dürrenmatt 1997). Widmer war allerdings ver-
im zunehmenden Schneegestöber ohne Ziel los und ständnisvoll genug, Dürrenmatts selbstbezügliche
landet schließlich, ohne bewusst darauf zugesteuert zu Ironie aufzunehmen: Die Fortsetzung ist eine Art Epi-
sein, bei seinen ›unerledigten Fällen‹. Diese Schnee- log mit humoristischen Zügen, der nichts über die
fahrt durch das Vergessen und das unverhoffte Ent- Weiterentwicklung des Kriminalfalls verrät. Der pen-
decken des Unerledigten als Ziel kann als Sinnbild für sionierte Polizeibeamte geht – zehn Jahre nach dem
die literarische Hauptarbeit der späten 1970er Jahre Hauptgeschehen – erneut mit den bekannten Klein-
gelesen werden: das Erinnerungsprojekt der Stoffe kriminellen auf Einbruch, diesmal beim Schriftsteller
(vgl. Rüedi 1995, 188 f.). Die selbstreflexive Dimensi- in Neuchâtel, der in Zürich gerade seine Skandal-Rede
on wird durch die Tatsache unterstrichen, dass der über die Schweiz als Gefängnis hält. Dieser kehrt aller-
Kommissär während seiner Fahrt am Autoradio eine dings wegen Unwohlseins frühzeitig zurück und
Kultursendung über einen Schriftsteller hört, »dessen überrascht die Einbrecher, lädt sie jedoch gastfreund-
Untergang längst unaufhaltsam geworden sei« (WA lich zu einer Flasche Wein ein.
37, 160). Genussvoll entfaltet Dürrenmatt doppelspu-
rig zum einen die Schneefahrt, zum andern in der Ra- Literatur
Primärtexte
diosendung die vorweggenommene Kritik am Krimi-
Friedrich Dürrenmatt: Der Pensionierte. Fragment eines
nalroman, den er gerade schreibt, der dem Sprecher Kriminalromans. Text der Fassung letzter Hand. Faksi-
als Ausdruck der Unverbindlichkeit und der Krise er- mile des Manuskripts. Faksimile des Typoskripts mit
scheint: »Der Schneesturm ist das Gleichnis einer er- handschriftlichen Änderungen. Zürich 1995.
starrten Schöpferkraft, und die Rückkehr zum Krimi- Friedrich Dürrenmatt: Der Pensionierte. Fragment eines
nalroman ein verzweifelter Versuch, sie wiederzuer- Kriminalromans. Mit einem möglichen Schluß von Urs
Widmer und einem Nachwort von Peter Rüedi. Zürich
langen. Jazz wäre jetzt das Richtige [...], dachte der 1997.
Kommissär« (163). Friedrich Dürrenmatt: Der Pensionierte. Fragment eines
In dieser Szene (die ihre Parallele in der Schnee- Kriminalromans. In: WA 37, 145–216.
fahrt Lotchers in der Stoffe-Erzählung Mondfinsternis
hat, vgl. WA 28, 223–225) kann man auch den poeto- Sekundärliteratur
Krättli, Anton: Angefangenes von Dürrenmatts Werkplatz.
logischen Grund vermuten, der Dürrenmatt an der
Der Pensionierte – Fragment eines Kriminalromans. In:
Weiterführung und Vollendung des Fragments hin- Schweizer Monatshefte 76 (1996), 4, 34–36.
derte: Sein Schreiben hatte sich im Verlauf der 1970er Spedicato, Eugenio: Schweizer, wie sie sein sollten. Zu Fried-
Jahre so sehr in eine selbstreferentielle Wiederholung, rich Dürrenmatts Der Pensionierte im Kontext seiner
Variation und Reflexion seines früheren Werks hinein Detektivromane. In: Sandro M. Moraldo (Hg.): Mord als
entwickelt, dass er offensichtlich keine Lust hatte oder kreativer Prozess. Heidelberg 2005, 145–153.
nicht mehr in der Lage war, eine Handlung in konven- Ulrich Weber
F Tragische Komödien

20 Romulus der Große wie die umfassende Dokumentation im Schweizeri-


schen Literaturarchiv, Bern).
Entstehungs-, Publikations- und Auf-
führungsgeschichte
Stoff und Quellen
Mit der im Winter 1948/49 in Ligerz am Bielersee ent-
standenen, am 23.4.1949 im Stadttheater Basel urauf- Dürrenmatt bezeichnet sein Stück im Untertitel mit
geführten und am 16.10. desselben Jahres im Theater dem Oxymoron Eine ungeschichtliche historische Ko-
der Stadt Göttingen erstmals in Deutschland insze- mödie (nur in der dritten Fassung ist, wohl versehent-
nierten Komödie Romulus der Große hat Dürrenmatt lich, »historische« entfallen) und deutet damit an, dass
seinen literarischen Durchbruch erzielt. Weitere Auf- er zwar auf einzelne Fakten und Personen Bezug
führungen fanden in Zürich (Dezember 1949), Darm- nimmt, aber äußerst frei mit ihnen verfährt. Im Jahre
stadt (1950) und Wien (1951) statt. 476 hatte der Germane Odoaker als Offizier in der kai-
Von dem Stück existieren – neben verschiedenen serlichen Leibgarde einen Militärputsch organisiert,
Rollenbüchern für den Theatergebrauch – fünf Fas- wurde am 23.8. zum König der germanischen Trup-
sungen. Insbesondere hat Dürrenmatt für die Wieder­ pen in Italien ausgerufen und hat am 4.9. den letzten
aufführung im Zürcher Schauspielhaus am 24.10.1957 weströmischen Kaiser Romulus (mit dem spöttischen
eine grundlegende, das Sujet teilweise anders ak- Beinamen Augustulus) abgesetzt (grundlegend für die
zentuierende Neubearbeitung vorgenommen. Sie er- politische Geschichte in der zweiten Hälfte des 5. Jahr-
lebte am 23.5.1958 in den Kammerspielen München hunderts: Henning 1999).
ihre Erstaufführung in Deutschland, wurde zwischen Die Handlung des Stückes ist erfunden. Die von
1958 und 1961 auch in Frankreich, Polen, Argenti- dem Dichter selbst angeführten Quellen – August
nien und den USA gespielt und ist 1957 als ›Zweite Strindbergs Novelle Attila und die Gestalt des alten
Fassung‹ erstmals in Buchform veröffentlicht worden. Dubslav in Fontanes Roman Der Stechlin (vgl. WA 2,
Alle späteren Fassungen haben nur noch weniger gra- 122 f.) – haben allenfalls als stoffliche Anregungen ge-
vierende Änderungen. 1961 erschien eine dritte Fas- dient oder einige Parallelen in der Lebensführung ge-
sung, 1964 eine vierte – angefertigt anlässlich der liefert (vgl. Profitlich 1981, 254). Das Motiv des Hüh-
Aufführung des Stückes in Paris, diente sie auch als ner züchtenden Herrschers geht auf eine Anekdote
Basis für die am 6.6.1965 in der ARD und im Schwei- zurück, die Prokop von Kaisareia über den weströmi-
zer Fernsehen erstausgestrahlte Fernsehinszenierung schen Kaiser Honorius anlässlich der Eroberung
Helmut Käutners. 1980 entstand schließlich die in Roms durch den westgotischen König Alarich im Jah-
den Werkausgaben von 1980 und 1998 abgedruckte re 410 berichtet (Bellum Vandalicum 3, 2, 25 f.; vgl.
fünfte Fassung (am 31.12.1980 in Zürich aufgeführt). Bossard 1998; Engels 2009).
Das Stück wurde auch im Bayerischen Rundfunk Ähnlichkeiten mit Motiven und Handlungszügen
(1951, 1968) sowie im Süddeutschen Rundfunk bei weiteren Autoren und Werken sind festzustellen
(1956) als Hörspiel gesendet und nochmals 1971 in (vgl. Wagener 1985, 25 f.; Knapp 1985, 17; Delbrück
einer französischen Fernsehfassung vom Sender TFI 1993), bleiben aber peripher. Auffallend sind Ansätze
ausgestrahlt. – Die Erstfassung des vierten Aktes ist einer Sophokles- und einer Shakespeare-Parodie – ins-
im Anhang zu WA 2 abgedruckt (grundlegend besondere bei dem missglückten Attentat auf den Kai-
Scholdt 1978; zur Aufführungs-, Druck- und Fas- ser als Persiflage auf Julius Caesar (vgl. Durzak 1972,
sungsgeschichte vgl. den Nachweis in WA 2, 166 f. so- 66 f.; Wagener 1985, 19 u. 26). Einzelne Motive er-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_20
20  Romulus der Große 83

innern auch an Petrons Satyricon (vgl. Bursch 2006, Deutungsaspekte und Positionen der
28–43). Schließlich steht Dürrenmatt mit seinem Forschung
Stück und seinen theoretischen Überlegungen – na-
mentlich in der Anmerkung über die Komödie von 1952 Wie sich namentlich im dritten Akt in den Dialogen
(WA 30, 20–25) – in einer auf Aristophanes zurückrei- mit seiner Frau Julia und seiner Tochter Rea sowie in
chenden Tradition (vgl. Nesselrath 2004, 113–119). seiner Ansprache an die Attentäter zeigt, ist Romulus
skeptisch gegenüber dem an der griechischen Tragö-
die geschulten Heldenethos und dem Patriotismus
Inhalt und Analyse seiner Umgebung (vgl. 77 f. u. 80 f. u. 91 u. 93). Die
Vergangenheit des römischen Staates erscheint ihm
Zu Beginn des Stückes wird die komische Diskrepanz als verbrecherisch, und er selbst hat jeglicher Macht-
zwischen dem aufreizenden Müßiggang des Kaisers politik abgeschworen. So übergibt er in der ersten
und der panischen Stimmung am Hofe angesichts des Fassung des Stückes im vierten Akt das Reich den
drohenden Untergangs (eine teils erstarrte, teils in Auf- Germanen, damit diese es mit »Menschlichkeit« re-
lösung begriffene Verwaltung, Korruption und Intri- gieren. Er überredet Odoaker, ihn zu pensionieren,
gantentum) vorgeführt. Romulus wird von seiner Frau und wird als »Romulus der Große« gepriesen (ebd.,
Julia, dem oströmischen Kaiser Zeno sowie seinen 140–142).
Freunden und Ministern vergebens bedrängt, den Vor- Hierin schlägt sich deutlich die Polemik des Autors
marsch der Germanen aufzuhalten. Sie verschwören gegen nationalistische Parolen seiner Gegenwart nie-
sich gegen ihn und versuchen, ihn zu ermorden. Als ihr der. In Anmerkungen zu dem Stück aus dem Jahre
Plan scheitert, fliehen sie. Nach der Ankunft Odoakers 1949 hat er den »Landesverräter«, der »einem Welt-
wird der Kaiser pensioniert: »Damit [...] hat das rö- reich den Todesstoß« gibt, gerechtfertigt und betont,
mische Imperium aufgehört zu existieren« (WA 2, 115). dass er »einen Helden nicht an der Zeit, sondern eine
Charakteristisch ist der Einfall, dass Romulus zwei Zeit an einem Helden zugrunde gehen« lasse. Sein
Jahrzehnte lang Rom durch konsequentes Nichtstun Stück richte sich gegen den »Großstaat«, den »Staat
und Nichtregieren systematisch geschwächt und des- [...], der unrecht hat«: »Der Verfasser ist von Natur aus
sen Untergang planmäßig herbeigeführt hat. Zu die- gegen die Weltreiche« (ebd., 121–124). Dabei war er
sem Zweck hat Dürrenmatt aus dem Minderjährigen, sich zwar des spielerisch-utopischen Charakters sei-
der erst am 31.10.475 in Ravenna zum Kaiser erhoben ner Konzeption bewusst, ließ aber eine vage Hoffnung
worden war, während sein Vater Orestes als Reichs- auf einen Sieg der Humanität durchblicken. Später hat
feldherr faktisch die Regierungsgeschäfte führte, ei- Dürrenmatt diese in der Situation der unmittelbaren
nen Mann von »über fünfzig« gemacht (ebd., 16; vgl. Nachkriegszeit wurzelnde Zuversicht zunächst an-
ebd., 120 f.). satzweise relativiert und schließlich durch eine radi-
Weitere Änderungen betreffen die historischen Per- kale Skepsis ersetzt. Bereits die Ende 1949 in Göttin-
sonen, die auftreten oder erwähnt werden, sowie den gen und Zürich gespielte Version hat auf manche ko-
Ort und vor allem die Zeit der Handlung. Dürrenmatt mischen Episoden verzichtet und enthält stattdessen
führt den oströmischen Kaiser als Verbannten ein, der ernstere Züge. Der utopische Schluss aber bleibt erhal-
Feldherr Orestes ist bei ihm nicht Romulus’ Vater, der ten (vgl. Scholdt 1978, 276–279).
ostgotische König Theoderich ist der Neffe Odoakers Die grundlegende Neufassung der Komödie von
(den er tatsächlich ab 486 im Auftrag Zenos bekämpft 1957 betrifft vor allem den vierten Akt. Odoaker er-
und 493 besiegt und eigenhändig ermordet hat), und weist sich jetzt als ein ebenso der Macht überdrüssiger
das Stück spielt nicht in Ravenna, sondern in der Villa Herrscher wie Romulus. Sein Wunsch, »den Krieg hu-
des Romulus in Campanien, also bereits in der Nähe man zu führen« (WA 2, 107), hatte sich nicht erfüllt.
der Villa des Lucullus, des Ortes seiner späteren Ver- Romulus, der eigentlich bereit ist zu sterben, muss den
bannung. Insbesondere aber hat Dürrenmatt, um die Widerstrebenden regelrecht überreden, sein Erbe an-
grundsätzliche Untergangsstimmung, aber auch den zutreten – und im Hintergrund wartet bereits Theo-
Kontrast zu einer heroischen Vergangenheit zu ver- derich, der Odoaker einst ermorden, das Römerreich
stärken, ab der zweiten Fassung die Vorgänge vom wiederherstellen und dessen alte Machtpolitik weiter
September auf den Morgen des 15. bis zum Morgen betreiben wird (vgl. ebd., 107–110). Die Geschichte
des 16.3.476 – also auf die Iden des März – verlegt, den erweist sich als ein verhängnisvoller und sinnloser
Jahrestag von Caesars Ermordung im Jahre 44 v. Chr. Kreislauf. Das Einzige, was Romulus und Odoaker zu
84 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

erreichen vermögen, ist ein Aufschub von einigen Jah- nicht mehr möglich an, nicht aber das Tragische (vgl.
ren (vgl. ebd., 112 f.). WA 30, 62 f.). Die Angehörigen des Kaisers, von de-
Dürrenmatts Stück endet zwar auch in der neuen nen in der ersten Fassung nur gesagt wird, dass sie ge-
Fassung mit denselben Worten wie in der ursprüng- flohen seien, kommen jetzt auf der Flucht um, und
lichen – aber die Pensionierung wird nicht mehr von Romulus bedenkt, wie viel Leid seine Politik des
Romulus selbst, sondern von Odoaker initiiert, und Nichtregierens über die Menschen gebracht hat, und
seine Lobpreisung als ›Romulus der Große‹ ist entfal- will dafür mit dem Tod sühnen (vgl. WA 2, 108 f.). Die
len. Er ist aus einer überlegenen zu einer lächerlichen Pensionierung ist jetzt für ihn »das Entsetzlichste, was
Figur geworden. Schien in der ersten Fassung in der mir zustoßen könnte« (ebd., 111). Der Schriftsteller
Gestalt des »als Narr verkleideten Weltenrichters« hat 1957 seinen Romulus als »witzig, gelöst, human«,
(ebd., 120) der Gegenentwurf einer humanen Politik aber zugleich als einen Menschen bezeichnet, »der mit
wenigstens ästhetische Wirklichkeit zu werden, so äußerster Härte und Rücksichtslosigkeit vorgeht und
enthüllt sich nunmehr der Weltenrichter als Narr nicht davor zurückschreckt, auch von andern Abso-
(vgl. Scholdt 1978, 279). Der weströmische Kaiser lutheit zu verlangen, ein gefährlicher Bursche, der sich
und der germanische König sind gleichermaßen ge- auf den Tod hin angelegt hat«. Die Tragik »dieses kai-
scheitert (vgl. Daviau 1979, 107). Die historische Rea- serlichen Hühnerzüchters« liege »genau in der Komö-
lität siegt über utopische Wunschvorstellungen; eine die seines Endes, in der Pensionierung«; doch habe er
gerechte Weltordnung ist nicht möglich. Der vorsich- »die Einsicht und die Weisheit [...], auch sie zu akzep-
tige Optimismus von 1948/49, dass einige vernünftige tieren« (ebd., 120).
Persönlichkeiten der Weltgeschichte einen freundli- Dieser Romulus ist eine schillernde, mehrschichti-
cheren Verlauf bereiten können, ist 1957 – charakte- ge, tragikomische Gestalt, die gleichermaßen Sym-
ristisch für den Wandel von Dürrenmatts Geschichts- pathien wie Antipathien erweckt – problematisiert ge-
bild angesichts der Entwicklung nach dem Zweiten genüber der ersten Fassung, aber mehr als nur ein
Weltkrieg – resignativer Satire gewichen. Das Schei- Ideologe und realitätsferner Idealist (vgl. Scholdt 1978,
tern wird zu einer zentralen Kategorie seines Werkes 279–282; Daviau 1979, 104–106), dessen Ideen nicht
(vgl. Paganini 2004). allein an der Wirklichkeit scheitern, sondern auch in
Wenn Romulus der Große in der Neufassung bei al- sich selbst kritikwürdig sind (vgl. Profitlich 1981, 261–
lem Pessimismus nicht in absoluter Verzweiflung en- 163). Dabei sollte man allerdings nicht tadelnd von ei-
det, dann geschieht dies dadurch, dass Dürrenmatt nem zyklisch-fatalistischen Weltbild des Autors spre-
dem Einzelnen zumindest die Möglichkeit einräumt, chen (vgl. Scholdt 1978, 279 f.) oder ihm gar vorwer-
für eine begrenzte Zeit gemäß seinen Vorstellungen zu fen, kein politisches oder soziales Modell zu geben
agieren. Er bezeichnet es in dem Essay Theaterproble- (vgl. Daviau 1979, 108 f.). Die eigentliche Problematik
me von 1955 sogar als sein »Hauptanliegen«, dass es liegt in den geschichtlichen Abläufen selbst, die keine
»immer noch möglich [sei], den mutigen Menschen Lösungen bieten, sondern nur das Durchspielen un-
zu zeigen« (WA 30, 63; vgl. Daviau 1979, 107). aufhebbarer Konflikte erlauben. Es deutet sich hier ei-
Das Stück trägt in sämtlichen Fassungen die Gat- ne poetische Konzeption an, die Dürrenmatt später als
tungsbezeichnung ›Komödie‹ – in Übereinstimmung »Dramaturgie des Labyrinths« bezeichnen wird (WA
mit dem eben genannten Essay, in dem Dürrenmatt 28, 69–86, hier 69; vgl. Riedel 2011, 100 f.).
von der »heutige[n] Welt« sagt, dass sie »nicht mehr in Neben der historischen Einordnung des Stückes
der Form des geschichtlichen Dramas Schillers zu be- und seiner Fassungen werden in der Forschung gat-
wältigen« sei, und allein die Komödie, die durch einen tungstheoretische Fragen erörtert, vor allem das Ver-
»Einfall« Distanz schaffe, für eine unserer Zeit ad- hältnis zwischen Tragischem und Komischem – bis
äquate dramatische Gattung hält (WA 30, 59–63). Da- hin zum Burlesken und Grotesken (vgl. Farag 2015).
bei handelt es sich um durchaus unterschiedliche Dabei wird auch der streng ›klassizistische‹ Charakter
Spielarten des Komischen. Hat die erste Fassung des Stückes hinsichtlich der Einheit der Zeit, des Ortes
Merkmale des Lust-, ja des Possenspiels, so ist die und der Handlung betont (vgl. Durzak 1972, 68 f.).
zweite eher als Tragikomödie zu bezeichnen. So sind Romulus der Große ist beispielhaft für Dürrenmatts
einerseits farcenhafte Züge des vierten Aktes entfallen späteren Umgang mit antiken Motiven. Skepsis, Ironie
(vgl. Daviau 1979, 106; Bursch 2006, 42 f.); anderer- und Sarkasmus bestimmen auch Herkules und der Stall
seits hat das Stück tragische Elemente erhalten. Dür- des Augias und Der Besuch der alten Dame (vgl. Riedel
renmatt sieht zwar die Tragödie für unsere Zeit als 2011, 97 f.), und die anhaltende Affinität zur Spätanti-
20  Romulus der Große 85

ke als einem Reservoir für eine hintergründige Aus- Komödie« Romulus der Große. In: The German Quarterly
einandersetzung mit der Geschichte schlägt sich noch- 66 (1993), 291–317.
mals in dem 1963 geschriebenen Fragment Kaiser und Durzak, Manfred: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches
Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stutt-
Eunuch und in der Bearbeitung von Shakespeares Titus gart 1972, 58–69.
Andronicus aus den Jahren 1969/70 nieder – sogar in Engels, David: Der Hahn des Honorius und das Hündchen
einer Verbindung zwischen Romulus Augustulus und der Aemilia. Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmoti-
Justinian, in einer Berufung auf Prokop und in der neu vik bei Prokop. In: Antike und Abendland 55 (2009), 118–
eingeführten Gestalt des Alarich: »Auch hier findet die 129.
Farag, Sami Samir Gohar: Dürrenmatt und das Groteske. Zu
Antike ihr Ende« (WA 11, 211; vgl. Riedel 2011, 98 f.).
Form und Funktion des Grotesken bei Friedrich Dürren-
matt am Beispiel der Komödie Romulus der Große, Ham-
Literatur
burg 2015.
Primärtexte
Henning, Dirk: Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten
Romulus der Große. Vierter Akt der ersten Fassung. In:
in der Krise des weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr.
WA 2, 125–142.
Stuttgart 1999.
Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Romulus der
Komödie in vier Akten. Zweite Fassung 1957. In: Fried-
Große. Frankfurt a. M., Berlin, München 1985.
rich Dürrenmatt: Komödien I, Zürich 1957, 7–85.
Nesselrath, Heinz Günther: Aristophanes und Friedrich
Romulus der Große. Eine ungeschichtliche Komödie in vier
Dürrenmatt. In: Jürgen Söring, Annette Mingels (Hg.):
Akten. Dritte Fassung 1961. In: Friedrich Dürrenmatt:
Dürrenmatt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger
Komödien I [1957]. 4. Aufl. Zürich 1961, 7–86.
Kolloquium 2000. Frankfurt a. M. u. a. 2004, 109–128.
Romulus der Große. Ungeschichtliche historische Komödie
Paganini, Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich
in vier Akten. Neue Fassung 1964. In: Friedrich Dürren-
Dürrenmatt. Hamburg 2004.
matt: Komödien [1957]. I. 7. Aufl. Zürich 1965, 7–79.
Profitlich, Ulrich: Geschichte als Komödie – Dürrenmatts
Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische
Romulus der Große. In: Walter Hinck (Hg.): Geschichte als
Komödie in vier Akten. Neufassung 1980. WA 2.
Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretatio-
nen. Frankfurt a. M. 1981, 254–269.
Sekundärliteratur
Riedel, Volker: Antikerezeption bei Friedrich Dürrenmatt.
Bossard, Walter: Der Kaiser als Hühnerzüchter. Eine neue
Die Komödie Romulus der Große und ihr literatur-
Quelle bringt Licht in die Entstehungsgeschichte von
geschichtlicher Kontext. In: Véronique Liard, Marion
Dürrenmatts Komödie Romulus der Große. In: Schweizer
George (Hg.): Dürrenmatt und die Weltliteratur – Dür-
Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur 78 (1998),
renmatt in der Weltliteratur. München 2011, 83–103.
49–53.
Scholdt, Günter: Romulus der Große? Dramaturgische Kon-
Bursch, Roland: »Wir dichten die Geschichte«. Adaption
sequenzen einer Komödien-Umarbeitung. In: Zeitschrift
und Konstruktion von Historie bei Friedrich Dürrenmatt.
für deutsche Philologie 97 (1978), 270–287.
Würzburg 2006, 37–64.
Wagener, Hans (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Romulus der
Daviau, Donald D.: Friedrich Dürrenmatts Romulus der
Große. Stuttgart 1985.
Große: A Traitor for our Time? In: The Germanic Review
54 (1979), 104–109. Volker Riedel
Delbrück, Hansgerd: Antiker und moderner Helden-
Mythos in Dürrenmatts »ungeschichtlicher historischer
86 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

21 Die Ehe des Herrn Mississippi Sanssouci Verlag, Zürich. Die für Paris erarbeitete
Fassung wurde im Januar 1962 in Graz in deutscher
Entstehungs-, Publikations- und Auf- Sprache aufgeführt und erschien 1964 als dritte Fas-
führungsgeschichte sung im Oprecht Verlag und 1966 zusammen mit dem
Drehbuch im Arche Verlag. Eine in Dürrenmatts Bas-
Die Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi entstand ler Theaterzeit entworfene vierte Fassung wurde am
1949/1950 in Ligerz am Bielersee. Dürrenmatt hatte 20.9.1970 im Hamburger Thalia-Theater aufgeführt.
mehrere Arbeitsfassungen erstellt und gliederte die Sie erschien 1972 als ›Fassung 1970‹ in einer Co-Edi-
ursprünglich fünf Akte schließlich in zwei Teile. Da tion des Europa Verlags und des Arche Verlags. Die
die Freunde Kurt Horwitz und Ernst Ginsberg das Fassung in den Werkausgaben von 1980 und 1998 be-
Stück ablehnten, wurde es nicht in der Schweiz ur- schrieb Dürrenmatt als »eine Art Synthese: Es galt,
aufgeführt, sondern am 26.3.1952 an den Münch- Kühnheiten wiederaufzunehmen, die ich nur in der
ner Kammerspielen (R.: Hans Schweikart). Diese ers- ersten Fassung wagte, und Erfahrungen beizubehal-
te deutsche Uraufführung verhalf dem Autor zum ten, die nach und nach kamen« (WA 3, 210). Neben
Durchbruch in Deutschland. Im selben Jahr erschien der Komödie wird dort auch der Text des Drehbuchs
die Erstfassung im Oprecht Verlag, Zürich (mit Copy- von 1961 abgedruckt.
right des Europa Verlags).
Tilly Wedekind, Frank Wedekinds Witwe, erhob ge-
gen Dürrenmatt einen Plagiatsvorwurf: Er habe im ers- Inhalt und Analyse
ten Akt Wedekinds Schloss Wetterstein nachgeschrie-
ben. In seiner öffentlichen Antwort am 9.8.1952 in Die Der Schauplatz ist ein spätbürgerliches Zimmer. Man
Tat kehrt Dürrenmatt den Vorwurf ironisch um in ein könne sogar sagen, dass »die folgenden Geschehnisse
Lob auf Wedekind: »Daß ein Dramatiker von der Po- die Geschichte dieses Zimmers darstellen« (WA 3, 11).
tenz Wedekinds auf andere Dramatiker wirkt, ist na- In der Mitte des mit vielen Stilmöbeln ausgestatteten
türlich« (WA 3, 215). Er sei von ihm inspiriert worden, Raumes steht »ein rundes Biedermeier-Kaffeetisch-
aber nicht vom Schloss Wetterstein, sondern von Der chen, die eigentliche Hauptperson des Stücks, um das
Marquis von Keith: »ein Theaterstück, das ich für We- herum sich das Spiel dreht« (12). An diesem wird Kaf-
dekinds bestes halte und welches mich auf die Idee fee getrunken, manchmal mit zuckerförmigem Gift,
brachte, die Menschen als Motive einzusetzen. In die- manchmal ohne. Der komplexe Stoff handelt von
sem Stück ging mir die Möglichkeit einer Dialektik mit Treue und Verrat in unterschiedlichen Variationen.
Personen auf« (216; vgl. Maharens 1990 für einen aus- Seit fünf Jahren lebt in diesem Haus ein sonderbares
führlichen Vergleich). Ehepaar: der strenge Staatsanwalt Florestan Mississip-
Die erste Schweizer Aufführung fand im Februar pi, der das Gesetz Moses wieder einführen will und
1954 in Bern statt, von Dürrenmatt selbst inszeniert. sich rühmt, bereits 350 Todesurteile durchgesetzt zu
Für eine Neuinszenierung am 11.4.1957 am Zürcher haben, und seine Frau Anastasia, welche die zum Tod
Schauspielhaus durch Leopold Lindtberg schrieb der Verurteilten betreut. Die Ehe war durch einen Mord
Autor eine neue Fassung, in der er das sprachliche Pa- zustande gekommen: Anastasia hatte ihren früheren
thos und zu direkte religiöse Anklänge reduzierte. Mann angeblich wegen Ehebruchs vergiftet. Mississip-
Diese zweite Fassung erschien im selben Jahr als Ein- pi kam hinter diesen Mord, weil der das Gift zur Ver-
zelausgabe im Oprecht Verlag und im Sammelband fügung stellende Arzt gestanden hatte. Anastasia wuss-
Komödien I im Arche Verlag, Zürich. Nach Auffüh- te aber nicht, dass die Geliebte ihres Mannes Mississip-
rungen in New York und London (1958–1959) über- pis damalige Frau war, die Mississippi mit dem vom
arbeitete Dürrenmatt das Stück erneut für die franzö- geständigen Arzt abgegebenen Gift im Namen des mo-
sische Erstaufführung in Paris (1960). saischen Gesetzes hingerichtet hatte. Anstatt Anastasia
Weil der Justiz-Stoff, der durch Lazar Wechsler ver- vor Gericht zu stellen, zwingt er sie zur Heirat: Sie soll
filmt werden sollte, nicht termingerecht vorlag, zusammen mit ihm für ihren Mord sühnen, indem sie
schrieb Dürrenmatt Ende 1960/Anfang 1961 ein zum »Engel der Gefängnisse« wird (39; vgl. 35). Die
Drehbuch zu Die Ehe des Herrn Mississippi, das 1961 Ehe beruht jedoch auf einem Verrat: Bis zuletzt ver-
unter der Regie von Kurt Hoffmann verfilmt wurde. birgt Anastasia ihrem neuen Mann, dass der eigentli-
Der Film wurde an den Berliner Filmfestspielen 1961 che Grund ihres Mordes eine Liebesbeziehung zum
gezeigt; das Drehbuch erschien im selben Jahr im Gift liefernden Arzt war. Mit ihm, einem reichen und

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_21
21  Die Ehe des Herrn Mississippi 87

adligen Jugendfreund, Graf Bodo von Übelohe-Za- Daß aufleuchte Seine Herrlichkeit, / genährt durch
bernsee, wollte sie ein neues Leben beginnen. unsere Ohnmacht« (WA 3, 114).
Im Namen der Regierung bittet der Justizminister Nicht zufällig endet das Stück mit Don Quijote. In
Diego Mississippi, seine Rechtspraxis zu mäßigen. einer unveröffentlichten Notiz schreibt Dürrenmatt,
Dieser bleibt jedoch stur. Auch als ein alter Freund, der Haupteinfluss sei nicht vom Theater gekommen,
der Kommunist Frédéric René Saint-Claude, Missis- »sondern von Cervantes, der seine Zeit bekanntlich
sippi in seine Revolution einspannen will, weigert er durch einen Verrückten darstellte, dass ich gleich drei
sich mitzumachen. Daraufhin macht Saint-Claude brauchte, um die unsrige darzustellen, mag bedenk-
Mississippis dubiose Vergangenheit publik (sie hatten lich stimmen« (SLA-FD-A-m105_I).
gemeinsam in einem Bordell gearbeitet und waren mit Die drei Verrückten sind Mississippi, Saint-Claude
der Kasse geflohen), um so eine Revolte gegen ihn an- und Übelohe. Alle drei bemühen sich um eine Frau –
zuzetteln, die dann zur Revolution führen soll. Anastasia –, so dass das Stück auch »Frau Anastasia
Als der Arzt damals vernommen hatte, was mit und ihre Liebhaber« (WA 3, 15) heißen könnte. Diese
dem Gift tatsächlich geschehen war (er meinte, es sei Frau lebt ganz im Augenblick, ohne Idee, »weder dem
für einen kranken Hund), floh er nach seinem Ge- Himmel noch der Hölle, sondern allein der Welt nach-
ständnis ins Ausland. Er steckte sein ganzes Vermögen gebildet« (58). Die drei Männer möchten diese Welt
in ein Urwaldspital auf Borneo, wo er sich auch allerlei verändern, jeder auf seine Art: Mississippi hatte in jun-
tropische Krankheiten holte. Doch nun ist er zurück, gen Jahren die Bibel entdeckt und sieht das Heil allein
ruiniert, krank und stets betrunken. Er sieht aber im mosaischen Gesetz, während Saint-Claude Das Ka-
trotzdem die Möglichkeit, mit Anastasia noch glück- pital gelesen hatte und nun die Welt durch die kom-
lich zu werden – unter der Bedingung, dass sie Missis- munistische Revolution befreien will. Übelohe hin-
sippi die Wahrheit sagt. Sie verleugnet aber ihre Liebe gegen wurde in seiner Jugend christlich erzogen und
zu Übelohe vor Mississippi, kurz bevor dieser in die will »die Welt durch die Liebe retten« (WA 3, 120), so
Irrenanstalt abgeführt wird, weil sein Pochen auf das dass das Stück ebenso gut »Die Liebe des Grafen Bodo
mosaische Gesetz als krankhaft gilt. Ihre Liebe wäre von Übelohe-Zabernsee« (WA 3, 15) heißen könnte.
möglich gewesen, sie ist aber durch den Verrat un- Weil sich die Welt nicht verändern lässt, scheitern
möglich geworden. schließlich alle drei an ihr, wie ehedem Don Quijote.
Inzwischen misslingt Saint-Claudes Revolution: Unter vielen Aspekten bildet dieses Stück ein for-
Der Opportunist Diego hat sie zu seinen Gunsten ma- males Experiment: Innovative Mittel werden ein-
nipuliert, gemäß seinem Credo: »Alles in der Welt gesetzt, um die Theatersituation zu verfremden, wie
kann geändert werden, [...] nur der Mensch nicht« etwa groteske Raumgestaltung, Vor- und Rückblen-
(44). Saint-Claude kommt zu seiner ehemaligen Ge- den, die Antizipation des Endes am Anfang des Stücks,
liebten Anastasia und schlägt ihr vor, mit ihm zu flie- das Heraustreten der Figuren aus ihren Rollen, um in
hen und sich für seine nächste Revolution nützlich zu grossen Monologen das Geschehen auf der Bühne
machen – als Dirne, dem Einzigen, was sie wirklich und die Absichten des Autors zu kommentieren, usw.
könne. Sie lehnt ab und versucht, ihn mit vergiftetem Durch die Stilisierung ihrer Profile wie auch durch die
Kaffee zu töten. Im Drehbuch zur Verfilmung heiratet Extravaganz ihrer Namen werden die Hauptgestalten
Anastasia Diego, der an die Macht kommt. Im Thea- stark typologisiert. Das entspricht der bei Wedekind
terstück kommt sie zusammen mit dem aus der Irren- erahnten ›Dialektik mit Personen‹.
anstalt geflüchteten Mississippi um: Er schenkt ihr Diese Perspektive findet im Spätwerk Turmbau ei-
vergifteten Kaffee ein, um sie vor dem Tod zur Wahr- nen interessanten Nachklang: Über sein Verhältnis zu
heit zu zwingen, während er unwissend den für Kierkegaard sprechend, sagt Dürrenmatt, dieser sei
Saint-Claude vorbereiteten Kaffee trinkt. Zugleich dramaturgisch der einzige Nachfolger Lessings, und
wird Saint-Claude von Auftragsmördern erschossen. zwar »nicht nur weil er die Grenze des tragischen Hel-
Im Drehbuch wird Übelohe in ein Armenspital ein- den und damit der Tragödie aufzeigt, sondern weil er
geliefert, das er selbst gegründet hat. Im Theaterstück ›dramaturgisch‹ denkt« (WA 29, 125). Das heißt für
tritt er am Schluss als Don Quijote auf, mit verbeultem Dürrenmatt: »Nicht die Begriffe sind bei ihm dialek-
Helm und verbogener Lanze, gegen die Windmühle tisch gesehen, sondern die ›Positionen‹« (ebd.). In die-
des Bösen kämpfend. Sie aber stürzt ihn mit seiner sem Sinne vertreten die drei ›Verrückten‹ im Theater-
Schindermähre in den Abgrund, was er mit folgen- stück Positionen: Wahrheits- und Lebenseinstellun-
dem Schlusssatz kommentiert: »Eine ewige Komödie / gen, mit Hilfe derer sie auf die Welt einzuwirken ver-
88 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

suchen, ähnlich den Existenzsphären Kierkegaards. dern daß es ihm darum ging zu untersuchen, was sich
Die Ehe des Herrn Mississippi ist deshalb das Theater- beim Zusammenprall bestimmter Ideen mit Men-
stück Dürrenmatts, das wohl am stärksten vom dä- schen ereignet, die diese Ideen wirklich ernst nehmen
nischen Philosophen inspiriert wurde. und mit kühner Energie, mit rasender Tollheit und
mit einer unerschöpflichen Gier nach Vollkommen-
heit zu verwirklichen trachten« (WA 3, 57). Es sei ihm
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung auf die Frage angekommen, ob der Geist eine Welt än-
dern könne, die ohne Idee existiert (vgl. ebd.).
Nach drei Stücken, deren Handlung in weltgeschicht- Der Aufprall leidenschaftlicher Überzeugungen
lichen Zusammenhängen spielt (Es steht geschrieben in auf eine unverbesserliche Welt: Das gilt hier allgemein
der Reformation; Der Blinde im Dreißigjährigen Krieg; als Grundthematik der drei ›Verrückten‹. Der Figur
Romulus der Große im römischen Reich) und einem des Grafen kommt jedoch ein besonderes Gewicht zu,
gescheiterten Drama, das dem Mythos vom Turmbau weil sein Scheitern eine religiöse Dimension an-
zu Babel gewidmet war, experimentiert Dürrenmatt nimmt. Übelohe, der in einer ganz frühen Arbeitsfas-
mit Die Ehe des Herrn Mississippi an etwas Neuem: ei- sung (SLA-FD-E-30-A-2-2) noch John Stämpfli alias
nem Stück, das in der Gegenwart spielt und dessen Anastasius Sturm hieß, trägt in der Erstfassung expli-
ganze Handlung sich in einem Zimmer entfaltet, um zit christologische Züge, die in den späteren Fassun-
ein Kaffeetischchen herum. Nach Rüedi (2011, 368) gen verschwinden. So beschreibt er dort das Scheitern
geschieht hier ein »Paradigmenwechsel«. Die Auf- an Anastasias Verleugnung als Kreuzigung: »[G]ena-
merksamkeit gilt nun ganz der Interaktion der Haupt- gelt ans Kreuz meiner Lächerlichkeit hänge ich nun an
figuren. Diese spielt jedoch auf verschiedenen Ebenen. diesem Balken, der mich verspottet, schutzlos, dem
In den frühen Fassungen handelt es sich um eine Antlitz Gottes entgegengehoben, ein letzter Christ«
existentiell-religiöse Konfrontation. Wie Habermann (Dürrenmatt 1952, 75).
(1997) und Maharens (1990) überzeugend gezeigt ha- Im Monolog wird ohne christologische Anspielung
ben, vollzieht sich mit dem Drehbuch und den späte- hervorgehoben, dass Übelohe der Einzige sei, den der
ren Fassungen eine Verschiebung zur politischen Ko- Autor »mit ganzer Leidenschaft liebte«, weil er allein
mödie. Mit den Worten Dürrenmatts: »[A]us einer das Abenteuer der Liebe auf sich nehme, »dieses erha-
mehr vielleicht religiös bestimmten Komödie wurde bene Unternehmen, das zu bestehen oder in dem zu
eine politische Farce« (G 1, 128). Habermann (1997, unterliegen die größte Würde des Menschen aus-
349) spricht von einer »Posse«. Die Hauptfiguren ver- macht« (WA 3, 58). Doch indem er ihm Anastasia als
treten Ideologien, die am Zynismus der Machtverhält- Geliebte schenkte, habe ihn sein Autor, »dieser zäh-
nisse scheitern. Mississippi und Saint-Claude rücken schreibende Protestant und verlorene Phantast«, »in
ins Zentrum. In einer noch im Gang befindlichen For- den Tiegel seiner Komödie« geworfen, ihn entwür-
schungsarbeit interpretiert Michael Fischer das Stück digt, um seinen »Kern zu schmecken« (ebd.). Gemäß
vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Hier wird Übelohe hätten dabei zwei Motive mitgespielt: Einer-
Übelohe zum Vertreter eines »dritten Weges«, ori- seits habe ihn der Autor in die Position des Besiegten
entiert am Einzelnen. bringen wollen, »die einzige Position, in die der
In der Fassung für die Werkausgabe hat Dürren- Mensch immer wieder kommt«, und andererseits ha-
matt wiederum diese politische Dimension teilweise be er prüfen wollen, »ob denn wirklich Gottes Gnade
zurückgenommen. Das spricht dafür, die existentiell- in dieser endlichen Schöpfung unendlich sei, unsere
religiöse Perspektive der frühen Fassungen nicht ganz einzige Hoffnung« (ebd.). Auch dieses paradoxe In-
zu vernachlässigen. Aus dieser Sicht spielt die Gestalt einander von menschlichem Scheitern und göttlicher
des Grafen eine wichtigere Rolle. Das zeigt sein – Gnade ist Kierkegaardscher Prägung.
durch alle Fassungen hindurch erhalten gebliebener – In Turmbau betonte Dürrenmatt, Kierkegaard ha-
Monolog (WA 3, 56–60), von dem Dürrenmatt in der be die Grenze der Tragödie aufgezeigt. Diese Spur
zitierten Nachlass-Notiz sagt: »Im Übrigen habe ich verfolgt Dürrenmatt auch in Die Ehe des Herrn Mis-
dem Monolog des Grafen Bodo von Übelohe-Zabern- sissippi, wie er es selbst 1967 (also zwischen der drit-
see nichts hinzuzufügen« (SLA-FD-A-m105_I). ten und der vierten Fassung) zur Sprache gebracht
An dieser Stelle bringt Übelohe das Grundanliegen hat, indem er das Groteske als Grenze zwischen Tra-
des Autors explizit zum Ausdruck: Er glaube diesem, gödie und Komödie hervorhebt. Es möge zynisch
dass er seine Figuren nicht leichtfertig erschuf, »son- klingen, ein Stück, in dem fast alle Helden umkom-
21  Die Ehe des Herrn Mississippi 89

men, als Komödie zu bezeichnen. Doch echt zynisch Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
wäre vielmehr, es eine Tragödie zu nennen. »[D]enn Zürich 1952.
das Schicksal ihrer Gestalten ist zu grotesk, um unser Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
Zweite Fassung. In: Komödien I. Zürich 1957, 81–157.
Mitgefühl zu erwecken, und will dies auch nicht: Das Die Ehe des Herrn Mississippi. Ein Drehbuch mit Szenenbil-
Stück ist bewußt ganz in den Witz hineingehängt. Ge- dern. Zürich 1961.
rade das Groteske jedoch ist ein Stil der Komödie« Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
(WA 3, 217 f.). Das gilt sowohl für die existentiell-re- Fassung 1970. Zürich 1972.
ligiöse als auch für die politische Dimension: Auch in Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen.
Neufassung 1980. In: WA 3, 9–114.
der ›Fassung 1970‹ ist der Stil der grotesken Komödie
Die Ehe des Herrn Mississippi. Drehbuch. In: WA 3, 115–
beibehalten, den Dürrenmatt auf Aristophanes, Swift 205.
und Wedekind zurückführt. [Notiz zur dritten Fassung von Die Ehe des Herrn Missis-
Nicht mit-leidend, tränenüberströmt und schluch- sippi]. Oktober 1960. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig.
zend, wie die Tragiker, bringe der Autor seine Helden SLA-FD-A-m105_I.
um, sondern hohnlachend. »Er hat zwar Witz, doch
Sekundärliteratur
geht es in seinem Stück ungemütlich zu. Die Wahrheit Bühler, Pierre: »[Dieser] zähschreibende Protestant und ver-
sagt er mit einer Grimasse, und die Beziehung, die er lorene Phantast«. Der junge Dürrenmatt im Kampf mit
zu seinem Publikum hat, ist vielleicht am besten mit seinem Glauben. In: Andreas Mauz u. a. (Hg.): »Wunder-
jener zu vergleichen, die zwei Faustkämpfer zueinan- liche Theologie«. Konstellationen von Literatur und Reli-
der haben« (218 f.). In Theaterprobleme hatte Dürren- gion im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015, 199–219.
Habermann, Britta: Friedrich Dürrenmatt: Die Ehe des
matt dieses Ineinander von Witz und Ungemütlichkeit
Herrn Mississippi. Von der Komödie zur Posse – ein Ver-
in Anlehnung an Shakespeare als das Tragikomische, gleich der Fassungen und ihrer Konfiguration. In: Karl
das Tragische aus der Komödie heraus charakterisiert: Konrad Polheim (Hg.): Die dramatische Konfiguration.
»Wir können das Tragische aus der Komödie heraus Paderborn 1997, 349–377.
erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Mo- Maharens, Gerwin: Franz Wedekinds Der Marquis von Keith
ment, als einen sich öffnenden Abgrund, so sind ja und Friedrich Dürrenmatts Die Ehe des Herrn Mississippi.
In: Linda Dietrich u. a. (Hg.): Momentum dramaticum.
schon viele Tragödien Shakespeares Komödien, aus
Festschrift für Eckehard Catholy. Waterloo 1990, 493–519.
denen heraus das Tragische aufsteigt« (WA 30, 63). Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
Biographie. Zürich 2011, 360–375.
Literatur
Primärtexte, Quellen Pierre Bühler
Die Ehe des Herrn Mississippi. Typoskript. o. J. Schweizeri-
sches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-E-30-A-2-2.
90 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

22 Ein Engel kommt nach Babylon den Turm (134–136) und Der Uhrenmacher (137–140)
sowie prospektiv auf den vierten Band der textgeneti-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte schen Ausgabe des Stoffe-Projekts (Zürich 2020), in
dem die vier überlieferten Akte des gescheiterten
Wie Dürrenmatt 1977 im Programmheft der Urauf- Turmbau-Dramas erstmals publiziert werden.
führung zu Rudolf Kelterborns Opernbearbeitung
(Abdruck in WA 4, 128–133) wissen lässt, entstand der
erste Akt des Dramas bereits 1948, angedacht als Inhalt und Analyse
Auftakt einer als solche nie realisierten Komödie mit
dem Titel Der Turmbau zu Babel. Im gleichen Jahr ver- Im Vorfeld der dramatisch offen (atektonisch) aus-
brannte Dürrenmatt fast alle Entwürfe des Projektes – gestalteten Komödie stehen politische Reformen Kö-
Inhalt und Gründe, die zum Scheitern führten, sind in nig Nebukadnezars: Nachdem sein Vorgänger König
Stoffe IV–IX skizziert (vgl. WA 29, 50–58) –, bevor er Nimrod gestürzt und verhaftet wurde (vgl. WA 4, 17),
den Turmbau-Komplex mit dem zwischen 1950 und will dieser sein Reich in den »wahrhaft sozialen Staat«
1953 entstehenden Engel doch wieder aufgreift: Er re- (18) umwandeln. Daher – denn einem sozialen Staat
konstruiert den ersten Akt, schließt dann aber eine an- stünde die Notwendigkeit zu betteln nicht zu Gesicht
dere Handlung an, in der die zum Turmbau führenden – hat er das Betteln verbieten und sämtliche Bettler in
Gründe entfaltet werden. Geplant ist nun eine Trilogie den Staatsdienst aufnehmen lassen (vgl. ebd.). In die-
zum Turmbau-Stoff (vgl. WA 4, 128), die ebenfalls nie sem Kontext entfaltet sich das Szenario des ersten Ak-
realisiert wird. Noch 1953 erfährt die Komödie ihre tes: Nebukadnezar steht dem letzten verbliebenen
Uraufführung am 22.12. in den Münchner Kammer- Bettler Akki gegenüber, einer Art Diogenes von Sino-
spielen (R.: Hans Schweikart); es schließen sich Auf- pe oder Eulenspiegel (vgl. Brock Sulzer 1980, 123), der
führungen am Düsseldorfer (9.1.1954) und, die erste als »freischaffender Künstler« (WA 4, 56) seine erbet-
Aufführung in der Schweiz, am Zürcher Schauspiel- telten Reichtümer im Euphrat versenkt (vgl. 52) und
haus (30.1.1954, R. beide Male: Oskar Wälterlin) an; sich beharrlich weigert, sein Gewerbe aufzugeben
am 15.5.1954 folgt die österreichische Erstaufführung (vgl. 18 f.). Anstatt den Bettler jedoch sogleich hin-
im Akademietheater Wien (R.: Joseph Glücksmann). richten zu lassen, will es der König zunächst »mit Hu-
Die im Arche Verlag erscheinende Druckfassung manität« versuchen (19): Verkleidet als der »Erste
mit dem Untertitel Eine Komödie in drei Akten liegt Bettler von Ninive« (25) sucht er den Meisterbettler
erstmals 1954 vor; eine mit überarbeitetem dritten auf, um diesen zu »überreden, dem Staatsdienst bei-
Akt erscheinende zweite Fassung (Untertitel: Eine zutreten« (19).
fragmentarische Komödie in drei Akten) wird 1957 als In diese Konstellation hinein stößt der titelgebende
Einzelausgabe und im Sammelband Komödien I ge- Engel. Herabgestiegen aus dem »unermeßliche[n]
druckt und am 6.4. am Deutschen Theater Göttingen Himmel [...], in dessen Mitte der Andromedanebel
aufgeführt (R.: Horst Loebe). 1963 inszeniert William schwebt« (13), bringt er das just von Gott »aus dem
Dieterle im Rahmen der Bad Hersfelder Freilichtspie- Nichts« (14 f.) erschaffene Mädchen Kurrubi (partiell
le diese zweite Fassung; vom Hessischen Rundfunk lautlich isomorph zu Cherub), das er, ohne zu wissen
aufgezeichnet erlebt die Aufführung am 18.11.1964 warum, dem »geringsten der Menschen zu überge-
ihre Ausstrahlung. Gemeinsam mit Kelterborn über- ben« hat (16). Dieser Geringste soll, so entnimmt es
arbeitet Dürrenmatt zwischen November 1974 und der Engel seiner Karte, Akki sein, »der einzige noch
August 1976 die Komödie als Opernlibretto (er­ erhaltene Bettler der Erde« (ebd.). Unversehens sieht
schienen 1976 als Begleitheft zur Uraufführung vom sich der Engel nun aber zwei Bettlergestalten gegen-
5.6.1977 im Opernhaus Zürich). Die dritte und letzte über. Antwort auf die Frage, wer der geringere ist und
Fassung schließlich fertigt Dürrenmatt eigens für die Kurrubi erhält, soll ein Wettstreit geben, der zugleich
Werkausgabe an: eine »Zusammenfassung verschie- auch über Akkis Eintritt in den Staatsdienst entschei-
dener Versionen« (WA 4, 8), basierend auf der Erst- det (vgl. 26 f.). Der bettlerischen Virtuosität Akkis ist
fassung und unter Berücksichtigung von Zweitfas- Nebukadnezar freilich nicht gewachsen. Nicht nur
sung und Libretto. Verwiesen sei abschließend noch dass Akki ein Vielfaches mehr an Almosen erhält; ihm
auf das Gedicht Die Geschichte vom großen Turm (141) gelingt, woran Nebukadnezar (obgleich er sich als Kö-
und die ebenfalls in der Werkausgabe enthaltenen nig zu erkennen gibt) zuvor kläglich scheitert: den
Fragmente des Turmbau-Komplexes Gespräche über verhafteten Exkönig Nimrod, der während des Wett-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_22
22  Ein Engel kommt nach Babylon 91

streits durch die Szenerie geschleppt wird, aus den der Theologie, vom Volk endlich um seiner Habe wil-
Händen seiner Wachen zu erbetteln (vgl. 27–39). len verraten (vgl. 121), wird das Mädchen Akki über-
Somit erhält Nebukadnezar das Mädchen, das sich geben, der in der Amtstracht des Henkers unerkannt
überdies längst in den vermeintlichen Bettler verliebt bleibt (vgl. 120). Voller Zorn und (Selbst-)Hass erklärt
hat (vgl. 33). Der König aber vermag Kurrubi, die Nebukadnezar, den mythischen Turm zu Babylon zu
»Gnade des Himmels« (42), nicht anzunehmen. Wie errichten, »durchmessend die Unendlichkeit, mitten
nur kann der Himmel ihm in der Rolle des Bettlers in das Herz meines Feindes« (121), während Akki mit
das Geschenk der Gnade machen? Wie es wagen, sie Kurrubi in die Wüste flieht (vgl. 122 f.).
nicht dem König zu geben, der ihrer bedarf? Voller
Zorn verstößt Nebukadnezar das Mädchen und tritt
es im Tausch gegen Nimrod an Akki ab (vgl. 46–48). Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Fortan lebt Kurrubi mit dem Meisterbettler. Rasch
jedoch wird das Mädchen zum Objekt kollektiver Be- Die zentrale Opposition des Stücks ist deutlich: Mög-
gierde und Eifersucht: Während sich Arbeiter, Ban- lichkeit der Gnade, Menschlichkeit, Freiheit und Ar-
kiers und Weinhändler in das Mädchen verlieben, es mut auf der einen, Macht, gesellschaftliche Position
begehren und besitzen wollen, begegnet ihm das weib- und Geld auf der anderen Seite. Das manifestiert sich
liche Volk mit Hass. Ein sich entspinnender Tumult auch in der Figurenkonstellation: Akki und Kurrubi
wird durch das erneute Erscheinen des Engels auf- vs. Nebukadnezar und (Hof-)Volk (vgl. auch Paganini
gelöst, das mit einer regelrechten Bekehrungswelle 2004, 93, die die Opposition auf Nebukadnezar und
(vgl. 70 f. u. 96) und dem Beschluss einhergeht, Kur- Akki beschränkt).
rubi zur Königin zu machen (vgl. 72 f.). Akki indes soll Mit dem Begriff der Gnade (s. Kap. 67) ist bereits die
nun doch hingerichtet werden. Ihm aber gelingt ein theodizeeische Dimension angesprochen, auf die Dür-
weiteres Glanzstück seiner Bettlertätigkeit: Er erbettelt renmatt selbst verwiesen hat (vgl. WA 31, 147). Wenn-
sich den Beruf seines Henkers (vgl. 80–84), was ihm ge- gleich man im Stück sicherlich keinem »deus abscon-
stattet, sich ebenfalls am königlichen Hof zu bewegen. ditus« begegnet, der »seine Schöpfung [...] sich selbst
Von der Euphratbrücke, unter welcher der zweite überläßt« (Jenny 1967, 50), so doch einem »zerstreu-
Akt spielt, verschiebt sich die Handlung im Schlussakt ten Weltschöpfer«, »der seine Schöpfungen offenbar
in den königlichen Thronsaal, den das Volk – im reli- immer wieder vergesse« (WA 31, 147). Und nicht nur,
giösen Eifer und in der Absicht, Nebukadnezar zur dass Dürrenmatt selbst vom Himmel als dem »Unbe-
Ehe mit Kurrubi zu drängen – im Begriff zu stürmen greiflichen« (WA 30, 46) sprach; angesichts eines En-
ist. Doch obgleich das Mädchen vor Nebukadnezar gels, der – mehr Physiker als Anthropologe (vgl. WA 4,
steht und in ihm den vermeintlichen Bettler erkennt 42) – »dem Menschenschicksal gegenüber unempfind-
(die Anagnorisis des Stücks), verweigert sie sich der lich« (Brock-Sulzer 1980, 121) ist und keinerlei Wissen
Ehe. Warum? Weil sie nur den Bettler Nebukadnezar, über die Pläne und Absichten Gottes hat (vgl. WA 4,
nicht aber das »Gespenst« (102) des Königs liebe: »Du 15), wird fraglich, was Gott über die Menschen weiß.
bist«, so sagt sie, »Schein; der Bettler, den ich suche, »Gegenseitiger Agnostizismus« (Große 1998, 67) herr-
ist Wirklichkeit« (113). Damit zerschlägt sie das po- sche in der gnadenlosen Welt des Stücks (vgl. ebd., 64).
litische Ränkespiel, die Macht des Königs qua Hei- Zugleich darf man aber nicht übersehen, dass die
rat »metaphysisch zu verankern« (98). Verzweifelt Unmöglichkeit der Gnade Schuld der menschlichen
kommt man überein, den Engel gegen die Hälfte der Hybris ist: Erwies sich im Turmbau die in Kurrubi al-
Staatseinkünfte durch die Theologie leugnen zu las- legorisierte Gnade noch als »Gericht des Himmels
sen (vgl. 108 f.) und Kurrubis göttliche Herkunft ab- über die Menschen«, wandelt sie sich im Engel zu ei-
zustreiten: Sie soll »zur ausgesetzten Tochter des Her- nem »Angebot des Himmels, das die Menschen vor
zogs Lamasch« (109) erklärt werden. Als dann das die freie Wahl stellt und zu Richtern macht« (Wirtz
Volk tatsächlich in den Thronsaal eindringt, erfährt 2000, 151). Der Turmbau, so Dürrenmatt, erfolge we-
Kurrubis Schicksal eine letzte Wendung. Da niemand, niger »aus der Wut des Königs Nebukadnezars heraus,
weder König noch Volk, dem Nebukadnezar das Mäd- daß Kurrubi, das Geschenk des Himmels, für den
chen anbietet, sich entschließen kann, zu jenem Bett- ärmsten der Menschen bestimmt war, sondern viel-
ler zu werden, den Kurrubi sucht, beschließt man, sie mehr seiner unermeßlichen Empörung wegen, daß
hinrichten zu lassen. Vom König um seiner Macht, der Himmel offenbar ihn, der sich doch für den mäch-
vom Minister um der Staatskunst, vom Priester um tigsten der Menschen hielt, als den ärmsten betrachte-
92 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

te« (WA 4, 128). Wie in der Genesis (1. Mose 11,1–9) Literatur
versteigen sich die Menschen; sie sind »durch ihre blu- Primärtexte
tigen Welthändel« unfähig, die »greifbare Gnade« zu Ein Engel kommt nach Babylon. Eine Komödie in drei
Akten. Zürich 1954.
sehen und anzunehmen (Knopf 1987, 69). Allein Akki Ein Engel kommt nach Babylon. Eine fragmentarische
scheint der Gnade würdig zu sein (vgl. Paganini 2004, Komödie in drei Akten. Zweite Fassung. Zürich 1957.
95); ihm, »der sie am wenigsten braucht« (Jenny 1967, Ein Engel kommt nach Babylon. Oper in drei Akten. Kassel
58), fällt sie zu, weniger weil er sie verdient (vgl. Knapp 1976.
1980, 55), sondern weil er sich – im Gegenteil – eben Ein Engel kommt nach Babylon. Eine fragmentarische
Komödie in drei Akten. Neufassung 1980. WA 4.
nicht um sie bemüht. In ihm begegnet man einem je-
Der Turmbau zu Babel. In: WA 29, 50–58.
ner mutigen Menschen (s. Kap. 72), von denen Dür- Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. In: WA 31, 139–167.
renmatt in Theaterprobleme spricht (vgl. WA 30, 63):
einem, »der sich in einem totalen Staat die Freiheit be- Sekundärliteratur
wahrt hat« (Poser 1975, 89) und dem es gelingt, sich Brock-Sulzer, Elisabeth: Ein Engel kommt nach Babylon
nicht etwa als Revolutionär, aber als »Lehrer« und [1954]. In: Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt.
Zürich 1980, 120–123.
»Erzieher der Völker« (WA 4, 39) der Welt gegenüber
Gabor, Olivia G.: The Stage as ›Der Spielraum Gottes‹. Bern
zu positionieren. »Die Chance«, so hat es Ulrich We- 2006, 159–207.
ber formuliert, »sah Dürrenmatt abseits der grossen Große, Wilhelm: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1998,
Imperien und Turmbauten, an den Rändern der Ge- 59–67.
sellschaft« (2006, 88). Insofern wird das Stück lesbar Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1980,
als Reflexion des vergeblichen menschlichen Bemü- 54–56.
Knopf, Jan: Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. Berlin
hens um Permanenz: sei’s in Form des Staates, der 1987, 66–72.
Stadt Babylon (vgl. Gabor 2006, 177), sei’s allgemeiner Paganini, Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich
in Form einer doxa: einer Ideologie, einer Ökonomie, Dürrenmatt. »Ich bin verschont geblieben, aber ich
eines bestehenden Machtverhältnisses usw. Die Nich- beschreibe den Untergang.« Hamburg 2004, 92–95.
tigkeit all dessen erfasst Akki, der sich »jedes Jahrhun- Poser, Therese: Friedrich Dürrenmatt. In: Rolf Geißler (Hg.):
Zur Interpretation des modernen Dramas. Brecht, Dür-
dert einen anderen Namen zusammen[bettelt]« (WA
renmatt, Frisch [1960]. Frankfurt a. M. 1975, 88–96.
4, 22): Zeichen seines kontingenten und gewisserma- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
ßen antidoxalen Wesens. Ob man im Engel allerdings Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006,
die »endgültige Absage des Autors an metaphysische 87 f.
Lösungsversuche der diesseitigen Misere« (Knapp Wirtz, Irmgard: Die Verwandlung des Engels. Von Friedrich
1980, 56) erkennen muss oder sich aus den zahlrei- Dürrenmatts früher Komödie zur späten Prosa Turmbau
IV–IX. In: Peter Rusterholz, Dies. (Hg.): Die Verwandlung
chen (Neu-)Bearbeitungen des Stoffes (vgl. Wirtz der Stoffe als Stoff der Verwandlung. Friedrich Dürren-
2000) ein versöhnlicheres Bild zeichnen ließe, bliebe matts Spätwerk. Berlin 2000, 145–159.
zu diskutieren.
Benjamin Thimm
23  Der Besuch der alten Dame 93

23 Der Besuch der alten Dame dort geschieht ein Verbrechen durch eine Gemein-
schaft (vgl. von Matt 2012, 146–150). Wie weit Dür-
Der Besuch der alten Dame, geschrieben 1955, urauf- renmatt dieser Bezug bewusst war, lässt sich nicht
geführt in Zürich am 29.1.1956, wurde ein Welterfolg, entscheiden. Es ist aber auffällig, dass auch das zweite
der bis heute anhält. Damit rückt diese Tragische Ko- Meisterwerk des Jahres 1955, die Erzählung Die Pan-
mödie (so die Gattungsangabe im Untertitel) in das ne, einen Bezug zu Gotthelf aufweist. Ihr Schluss deckt
Feld jener Dramen, die unmittelbar nach dem Zweiten sich mit dem Ende einer der eindrücklichsten Kurz-
Weltkrieg das internationale Theater prägten und auf geschichten dieses Autors: Wie man kaputt werden
den Bühnen des 21. Jahrhunderts noch immer gegen- kann (vgl. Gotthelf 1932, 217). In beiden Werken
wärtig sind: Les Mains sales (1948) von Jean-Paul Sar- hängt zuletzt ein Selbstmörder im Fensterrahmen, als
tre, Death of a Salesman (1949) von Arthur Miller, The schwarze Silhouette vor dem Morgenlicht.
Cocktail Party (1949) von T. S. Eliot, Les Chaises (1952) Aber Claire Zachanassian, die alte Dame, ist gewiss
von Eugène Ionesco, En attendant Godot (1953) von kein Teufel, wie er bei Gotthelf auftritt. Sie wurde viel-
Samuel Beckett, Cat on a Hot Tin Roof (1955) von Ten- mehr als junge, verliebte Frau zum Opfer eines fiesen
nessee Williams und Long Day’s Journey into Night Kerls und seiner ebenso fiesen Kumpane. Und jetzt,
(1956) von Eugene O’Neill. Schon an dieser fragmen- als Edelprostituierte maßlos reich geworden, kehrt sie
tarischen Übersicht ließe sich das breite thematische zurück in die Stadt ihrer Kindheit, um sich zu rächen.
und formale Spektrum im Theater jener Jahre aufzei- Das kann man verstehen, auch wenn der Racheplan
gen. Gleichzeitig könnte man hier studieren, welche grausam ist. Sie fordert, dass die Einwohner von Gül-
aktuellen Spielformen auch Dürrenmatt in seinem be- len ihren einstigen Liebhaber, Alfred Ill, umbringen.
rühmtesten Stück aufgegriffen hat. Die scheinbar wi- Dafür wird sie die vergammelte Stadt zu einer Boom-
dersprüchliche Verzahnung von Realismus und Gro- town machen, wo noch der letzte Bürger die Taschen
teske, von Gesellschaftsanalyse und komödiantischer voller Geld hat. Dies erklärt sie öffentlich gleich zu Be-
Typisierung, von vordergründigem Spektakel und ginn und wartet dann gelassen, bis der Mord ge-
transzendenten Signalen wird einleuchtend, wenn schieht. Sehr lange dauert es nicht.
man erkennt, wie sehr sie die Vielfalt der damals mo- Soweit in groben Zügen der Plot, und so betrach-
dernsten Bühnenarbeit spiegelt. (Zu den verschiede- tet, könnte man auch auf eine recht triviale Handlung
nen Fassungen vgl. die Hinweise in WA 5, 153–155.) schließen. Der ungeheure Erfolg des Stücks, der nun-
mehr über 60 Jahre andauert – auch in Film und
Fernsehen (s. Kap. 60), in Oper (von Einem, Wien
Umriss der Handlung 1971) und Musical (Kander/Ebb, New York 2001;
Schneider/Reed/Struppeck/Hofer, Thun/Wien 2013)
Kern der Handlung ist ein uraltes Motiv. Man könnte –, müsste dem nicht unbedingt widersprechen. Thea-
es die Versuchung der Menschen durch den Teufel ter darf immer auch knallendes Spektakel sein. Aber
nennen. Dieser Akt steckt schon im berühmten Be- ein späteres Stück von Dürrenmatt, Der Mitmacher
richt vom Apfelbiss im Paradies, ebenso in Mt 4,7, wo von 1973, ist noch weit spektakelmäßiger und wurde
der Teufel dem fastenden Jesus in der Wüste »alle Kö- doch ein bitterer Misserfolg. Der Besuch der alten Da-
nigreiche der Welt und ihre Pracht« verspricht, wenn me muss ein Geheimnis haben.
er ihn dafür anbete. Von diesen Urszenen nähren sich
viele volkstümliche Teufelsgeschichten. Eine davon hat
Dürrenmatt schon als Kind gekannt und damals auch, Das Geheimnis Zachanassian
wie er selbst berichtet, gezeichnet (vgl. WA 28, 12). Es
ist Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf. Diese Dieses Geheimnis ist die Dame selbst, Claire Zacha-
berühmte Erzählung, auf die Gotthelfs umfangreiches nassian, geborene Wäscher. Wir wissen alles über ihr
Werk heute weitgehend zusammengeschrumpft ist, Leben, und doch ist ihre Identität unheimlich fluk-
nimmt sich aus wie ein fernes Modell für die Geschich- tuierend. Der Autor arbeitet sich gezielt daran ab. Er
te von der Alten Dame. Im Unterschied zu den meisten legt immer neue Bestimmungen ihrer Existenz vor.
Teufelsgeschichten wird hier nämlich nicht ein Einzel- Viele weist er sofort zurück, dann tauchen sie doch
ner vom Satan in Versuchung geführt, sondern die wieder auf. Bei jedem andern Schriftsteller würde
Bevölkerung eines ganzen Dorfes, ein Kollektiv also, man sagen, er wolle durch solche Verwirrungen inte-
wie auch die Bewohner von Güllen es sind. Hier wie ressant erscheinen. Dürrenmatt aber ist der gespens-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_23
94 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

tischen Frau gegenüber tatsächlich hilflos, ist nicht unseren Augen« (ebd., 102). Mit diesem Wort »Erzhu-
Herr über sein eigenes Geschöpf. Und diese Macht, re« rückt sie in die Nähe der Magna meretrix, der Gro-
die sie über ihn hat, überträgt sich auf die Leser und ßen Hure Babylon in der Johannes-Apokalypse (Offb
Zuschauer. Auch sie, auch wir alle werden mit dieser 17 f.), einer mythischen Gestalt, deren Auftritt den
Zachanassian nicht fertig. Weltuntergang und das Weltgericht ankündigt (vgl.
Das hängt mit dem wichtigsten Element von Dür- Schu 2007, 145 f. und passim).
renmatts Kreativität zusammen: Er ist von Bildern Dürrenmatt bestätigt diesen Zusammenhang in ei-
verfolgt. Sie sind unerwartet da und verlangen Gestal- ner Schlussszene, die er für die deutsche Erstauffüh-
tung. Diese kann glücken oder scheitern. Aber das rung schrieb. Darin ruft die Zachanassian, als sie mit
Bild – vielfach sagt er: die Vision – steht immer am Ills Leiche abreist, den reichgewordenen Bürgern
Anfang. Die Vision regiert sein Schaffen. »Nicht mei- (und Mördern) zu: »Einst war die Hure ich, die Huren
ne Gedanken erzwingen meine Bilder«, heißt es in der seid jetzt ihr. / Doch auch ihr, meine Herren / Werdet
Einleitung zu den Stoffen, »meine Bilder erzwingen sehn mich wiederkehren / Und kehr ich wieder, wer-
meine Gedanken« (WA 28, 15). So erschien vor ihm det ihr verlieren / Man wird mit euch verfahren wie
eines Tages diese Zachanassian und erzwang sein mit Tieren / Ich bin das Ende und das End ist nah /
Nachdenken, forderte die künstlerische Form. Nicht mitzulieben, mitzuhassen bin ich da« (SLA-FD-
Im Nachwort erklärt er zunächst, man solle sich A-m24_IX, vgl. Weber 2010, 103). Zwar hat er diese
über die Person der Frau nicht weiter den Kopf zerbre- Verse in den Druckfahnen der Buchausgabe wieder
chen, es sei alles ganz einfach. Bei der Begründung gestrichen; die Ankündigung des großen Untergangs,
aber gelangt er zum genauen Gegenteil, zur Beschwö- der Letzten Dinge, erschien ihm wohl als überdeut-
rung einer dämonischen Gestalt. Dieser Widerspruch lich, und sie kollidierte auch mit dem triumphalen
verlangt eine genaue Betrachtung. Der Autor schreibt: Schlusschor der Bürger. Dennoch ist der Text ein
»Claire Zachanassian stellt weder die Gerechtigkeit wertvolles Dokument für die apokalyptische Dimen-
dar noch den Marshallplan oder gar die Apokalypse, sion von Dürrenmatts unheimlichster Heldin.
sie sei nur das, was sie ist, die reichste Frau der Welt, Dazu gehört auch ihr rätselhaftes ›Versteinern‹,
durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der das sie dem Tod zu entziehen scheint. Dürrenmatt
griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, spricht davon im obigen Zitat aus dem Nachwort, und
wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. Die Dame hat bei ihrem letzten Auftritt im Stück wird sie beschrie-
Humor, [...] eine seltsame Grazie ferner, einen bösarti- ben, wie sie in ihrer Sänfte sitzt, »unbeweglich, ein al-
gen Charme. Doch, da sie sich außerhalb der mensch- tes Götzenbild aus Stein« (WA 5, 134). Damit in un-
lichen Ordnung bewegt, ist sie etwas Unabänderli- tergründiger Beziehung steht wiederum das Motiv im
ches, Starres geworden, ohne Entwicklung mehr, es sei Stück, dass ihr Körper zu einem großen Teil aus Pro-
denn die, zu versteinern, ein Götzenbild zu werden« thesen besteht.
(WA 5, 142 f.). In der Apokalypse des Johannes reitet die Große Hu-
Das geht weder logisch noch psychologisch auf, re Babylon auf einem Tier mit sieben Köpfen, hat einen
wird aber sofort stimmig, wenn man es als den tasten- goldenen Becher in der Hand und ist überreich ge-
den Versuch des Dichters liest, die Vision zu beschrei- schmückt mit Perlen und Juwelen. So wurde sie von
ben, von der er förmlich besessen ist. Und wer sich Dürer bis William Blake vielfach dargestellt. Im ersten
länger mit Dürrenmatt beschäftigt hat, weiß ohnehin: Band der Stoffe zählt Dürrenmatt Dürers Holzschnitt-
Sobald dieser Mann etwas bestreitet, muss man auf- Serie über die Apokalypse – dabei auch ein Blatt mit
merken. Denn was er verneint, hat stets eine eigene der Magna meretrix – zu den Bildern, die ihn als Kind
Wahrheit. So gehört die Gerechtigkeit sehr wohl zur am tiefsten beeindruckten: »Die Bilder stürzten auf
Zachanassian, gebraucht sie das Wort doch fast wie ei- mich ein. Sie ließen mich nicht mehr los« (WA 28, 33).
nen Refrain. Auch steht das Stück durchaus in einem Auch die Zachanassian reist mit sieben Begleitern,
Bezug zum Marshallplan; der Untertitel lautete ja zu- mehrheitlich monströsen Wesen, darunter ein schwar-
nächst Komödie der Hochkonjunktur (ebd., 139). Und zer Panther, und ihr Reichtum ist ebenfalls unbegrenzt.
schließlich ist die Vision dieser Frau tatsächlich auch Dennoch wäre es falsch, in diesen Anspielungen kur-
mit der Apokalypse verknüpft. Denn nicht nur wird zerhand den Schlüssel zum Stück zu sehen. Die Evoka-
sie laufend als Hure bezeichnet und nennt sich auch tion der Magna meretrix gehört zum Werk, gehört zur
selbst so, sondern der gebildete Lehrer spricht sie ex- Figur, aber sie ist nicht gleichzusetzen mit deren per-
plizit an als »Erzhure, die ihre Männer wechselt vor sonaler Identität. Es verhält sich da wie mit der mythi-
23  Der Besuch der alten Dame 95

schen Gestalt der Medea, mit der die Zachanassian so- schließlich seiner Ermordung zu. Ein einziges Mal,
wohl in Dürrenmatts Nachwort wie im Stück ebenfalls dem Bürgermeister gegenüber, spricht er sich darüber
verglichen wird. Sie ist eine Zauberin, Enkelin des Son- aus, und er nennt, was er jetzt erfährt und was ihm be-
nengottes und eine gnadenlose Rächerin, ein furcht- vorsteht: »Gerechtigkeit« (WA 5, 109). Dieses ernste
bares Denkbild aus dem ältesten Erzählen der Mensch- Geschehen steht in schroffem Gegensatz zum Berei-
heit, von Euripides dramatisiert. Medea und die Magna cherungstumult der Güllener und zu den Clownerien
meretrix erscheinen hinter der Bühnenfigur Claire Za- von Zachanassians Begleitung. Aber der Autor schafft
chanassian wie riesige dunkle Umrisse. es, dass die Dissonanzen nicht als Stilbruch empfun-
Ähnlich mehrdeutig muten einzelne ihrer Aus- den werden. Alles erscheint als ein zwingendes Gefü-
sagen über sich selbst an, wenn sie etwa auf das weh- ge und stellt damit die kompositorische Meisterschaft
leidige Jammern Ills, er habe in der Hölle gelebt, ant- des Stücks unter Beweis.
wortet: »Und ich bin die Hölle geworden« (WA 5, 38). Diesen Aufbau gliedern die zwei Szenen draußen
Da rückt die Vorstellung vom Teufel und die Assozia- im Wald, wo das einstige Liebespaar sich wieder trifft.
tion an die Schwarze Spinne wieder nahe. Ebenso In der ersten, im ersten Akt, ist Ill noch ganz der
zwielichtig ist ihre unmittelbar anschließende Erklä- Heuchler, der glaubt, die Frau wieder um den Finger
rung: »Ich kenne die Welt. [...] Weil sie mir gehört« wickeln zu können; in der zweiten, im dritten Akt, ist
(ebd.). Friedrich Dürrenmatt war und blieb »ein Dich- er verwandelt, bereit zu sterben, und er spricht ganz
ter der letzten Dinge«, wie Grillparzer sich selbst ein- sachlich vom Sarg, der in der Stadt für ihn bereit steht.
mal nannte (Grillparzer 1960, 518), aber er konnte da- Er dankt sogar für dessen reichen Schmuck. Und ob-
von nicht im Klartext reden, sondern, um eine Meta- wohl alles nach dem unerbittlichem Willen der Za-
pher aus der Bühnenanweisung zum Schlusschor auf- chanassian abläuft, lebt die alte Liebe noch einmal auf
zunehmen, nur »als gäbe ein havariertes Schiff, weit zwischen den beiden, und der Abschied mit den ein-
abgetrieben, die letzten Signale« (WA 5, 132). fachen Worten: »Adieu, Alfred« – »Adieu, Klara« wird
1953, drei Jahre vor der Niederschrift des Besuchs zum ergreifendsten Moment des Werks (ebd., 118).
der alten Dame, hatte Dürrenmatt das Kerngeschehen Diese zwei Waldszenen halten die voranstürzende
des Stücks bereits für eine Novelle entworfen, mit ei- Handlung, die Präzipitation, wie Schiller die zielge-
nem rachesuchenden Heimkehrer als Hauptfigur. Da- richtete Dynamik auf der Bühne nennt, je für eine
von sind nur wenige Aufzeichnungen erhalten. Für kurze Zeitspanne auf und verleihen so dem Ganzen
sein Spätwerk Stoffe hat er dieses imaginäre Projekt eine markante Struktur.
um 1978 doch noch ausgeführt, als eine Art Erinne- In der Neufassung 1980 hat Dürrenmatt zwischen
rungsspiel, unter dem ursprünglichen Titel Mondfins- diese zwei einsamen Begegnungen noch eine dritte
ternis (WA 28, 171–269). Von der Zachanassian, sei- gerückt, im zweiten Akt, in der genauen Mitte des
ner komplexesten Schöpfung, ist dabei keine Spur Stücks (ebd., 78 f.). Ill ist hier nicht mehr der üble
vorhanden (Rusterholz 2017). Schmeichler wie im ersten Akt, aber auch noch nicht
von der tragischen Einsicht gezeichnet wie im dritten.
Ihn hetzt vielmehr eine verzweifelte Panik. Er verlangt
Das Gefüge des Stücks von der Frau den Abbruch ihres tödlichen Spiels, und
in einem atemraubenden Moment richtet er sogar das
Es ist erstaunlich, dass das dramatische Gefüge dieses Gewehr auf sie. Sie aber redet ruhig weiter von ihrer
Stücks nicht auseinanderbricht. Denn was um die Za- einstigen Liebe – geisterhaft unverletzbar. Da senkt Ill
chanassian herum geschieht, ist schrill und grotesk, das Gewehr und beginnt zu begreifen. Dramaturgisch
von einer Slapstick-Komik, die keinen Effekt scheut, ist dies die Peripetie des Stücks.
während die Handlung um ihren einstigen Geliebten
Alfred Ill unaufhaltsam ernster und schließlich im
strengen, im antiken Sinne tragisch wird. Anfangs ist Die Modernität der Bühne
Ill ein egoistischer Spießer wie alle andern, noch im-
mer der fiese Kerl, der einst das Mädchen Klara ver- Die breite Popularität dieses Werks hat dazu geführt,
raten und zwei Kumpane zum Meineid angestiftet hat. dass auch Volksbühnen es bald mit Begeisterung auf-
In seiner wachsenden Einsamkeit aber, als er sich zuführen begannen. Dabei wurde die schneidende
schrittweise von allen im Stich gelassen und dem Tod Modernität der Form meistens gedämpft und den her-
ausgeliefert sieht, erkennt er seine Schuld und stimmt kömmlichen Bühnengewohnheiten angeglichen. Aber
96 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

auch Theater von Rang neigen heute dazu, die sze- Übung für Kritiker.)« (WA 5, 142). Dürrenmatt be-
nischen Kühnheiten zurückzubinden. Zum Beispiel streitet hier einmal mehr etwas, das er gleichzeitig ein-
verlangt die Bühnenanweisung, dass die Bäume des gesteht. Ohne Zweifel operiert er nämlich in der Szene
Waldes, in dem das alte Paar sich trifft, von Schauspie- mit Stühlen, wie Wilder es tut, aber ebenso berechtigt
lern verkörpert werden, die einige Äste in den Händen ist seine im Klammersatz versteckte Aussage, dass die
tragen. Und als Klara ausruft: »Schau mal, ein Reh« bühnentechnische Anlehnung an den US-Amerikaner
(37), muss einer dieser Schauspieler über die Bühne die schroffe Differenz zwischen dem bürgerlich-huma-
rennen; ein anderer klopft mit dem Hausschlüssel auf nen Thornton Wilder und dem Apokalyptiker Fried-
seine Tabakpfeife und ist mithin ein Specht. Das macht rich Dürrenmatt nicht verwischen darf.
jeden konventionellen Bühnenrealismus unmöglich. Wieweit Wilders antiillusionistische Szenerie, eine
Um die Zuschauer nicht zu irritieren, hat man daher Arte povera des Theaters, auch mit Brechts epischem
schon früh versucht, die extravaganten Szeneneinfälle Theater zu tun hat, ist hier nicht zu fragen. Die beiden
wirklichkeitsnäher und also publikumsfreundlicher zu nahezu gleichaltrigen Dramatiker wussten voneinan-
machen. Je mehr aber dieses Werk den Volksstücken der. Wilder beherrschte die deutsche Sprache und
Horváths oder Zuckmayers angeglichen wird, umso lebte 1928 in Berlin. Brechts berühmte Gegenüber-
mehr verschwindet auch seine beklemmende Grau- stellung von dramatischem Theater und epischem
samkeit, und die apokalyptischen Zeichen, die Andeu- Theater (Brecht 1967, 1009 f.) wurde 1931 veröffent-
tungen eines Mysterienspiels, verblassen. licht, im selben Jahr erschien auch das Stück von Wil-
Theatergeschichtlich folgt Dürrenmatts Bühne hier der, das seine Ästhetik der leeren Bühne erstmals
deutlich dem Vorbild Thornton Wilders, insbesonde- konsequent verwirklichte – und dabei für eine Auto-
re dem radikal entleerten Raum in dessen Stück Our fahrt vier Stühle bereitstellte: The Happy Journey to
Town – Unsere kleine Stadt. 1938 wurde es in den USA Trenton and Camden / Eine glückliche Reise (vgl. Wix-
uraufgeführt, die deutschsprachige Erstaufführung son 1972).
folgte bereits 1939 im Schauspielhaus Zürich. Dabei
spielten u. a. Therese Giehse, Ernst Ginsberg und Leo-
nard Steckel – drei Schlüsselfiguren in Dürrenmatts Die Paradoxie des Tempos
späterer Theaterkarriere. Im Diskurs über den Drama-
tiker Dürrenmatt ist Wilder heute hinter der Gestalt Wenn man die dramaturgischen Verfahren im Besuch
Brechts fast völlig verschwunden, obwohl der Ame- der alten Dame studiert, ist auch von einem Phäno-
rikaner für die szenische Form der frühen Stücke so- men zu sprechen, das beim Lesen oder Zuschauen
wohl Dürrenmatts wie Frischs prägender war als kaum auffällt, tatsächlich aber eine faszinierende Pa-
Brecht. Im Nachkriegsdeutschland verkörperte Unse- radoxie darstellt. Die erlebte Geschwindigkeit der
re kleine Stadt als meistgespieltes Stück die Theater- Handlung, die Präzipitation des Stücks, steht in einem
moderne schlechthin (vgl. Beckmann 1966, 130–132). schroffen Gegensatz zur Zeitstrecke, die für das tat-
Wilders maßgebliche Leistung war die radikale sächliche Geschehen angenommen werden muss. Zu
Ausräumung der Illusionsbühne mit ihren bunten Ku- Beginn des Ganzen ist die Stadt Güllen im Zustand ei-
lissen und lebensechten Requisiten. Er braucht nichts nes trostlosen Ruins. Häuser, Kirchen und Fabriken
weiter als ein, zwei Tische und einige Stühle, die dann sind am Zerfallen, die Einwohner hungrig und ver-
für alles Mögliche stehen können. In der Kleinen Stadt lumpt. Es besteht keine Hoffnung auf eine Sanierung.
kommt dazu ein Spielleiter, der dem Publikum laufend Dann erscheint Claire Zachanassian, verspricht die
erklärt, was passiert und was die Stühle von Fall zu Fall ökonomische Wiedergeburt der Stadt und Wohlstand
darstellen. In der Alten Dame gibt es diesen Spielleiter für alle. Die Einwohner müssen dafür bloß ihren Mit-
nicht, die legendären Wilder-Stühle aber sehr wohl. So bürger Alfred Ill töten. Dieses Ansinnen weisen sie
werden in der zweiten Fassung für die Autofahrt der empört zurück, beginnen aber umgehend, sich mit al-
Familie Ill statt eines Wagens kurzerhand vier Stühle lem Schönen und Kostbaren einzudecken, auf Kredit
auf die Bühne gerückt, den Rest muss man sich nach und im schweigenden Vertrauen auf die baldige Liqui-
den Worten und Gesten der Spieler vorstellen. Im dierung ihres Mitbürgers. Daraus ergibt sich einer der
Nachwort äußert sich Dürrenmatt dazu auf etwas ver- stärksten Bühneneffekte des Stücks und ein legendä-
rätselte Weise. Er schreibt: Man »spiele auch die Auto- res Zeugnis für Dürrenmatts theatralischen Instinkt.
szene einfach, am besten mit vier Stühlen. (Diese Sze- An den neuen, leuchtend gelben Schuhen, den teuren
ne hat nichts mit Wilder zu tun – wieso? Dialektische Kleidern, Fahrzeugen und Delikatessen kann das Pu-
23  Der Besuch der alten Dame 97

blikum die wortlose Zustimmung der Menschen von Literatur


Güllen zum Todesurteil mit eigenen Augen verfolgen. Primärtexte
Das läuft rasch ab, dauert, so will es scheinen, nur Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie in drei
Akten. Zürich 1956.
wenige Tage. In dieser Zeit sitzt die Zachanassian auf Der Besuch der alten Dame. Tragische Komödie. WA 5.
dem Balkon ihres Hotels und blickt dem Einkaufstru- Mondfinsternis. In: WA 28, 171–269.
bel regungslos zu. Und bald vollzieht man denn auch, Brecht, Bertolt: Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall
um des Reichtums willen, den Justizmord nach den der Stadt Mahagonny. In: Gesammelte Werke 17, Schriften
bewährten Regeln der direkten Demokratie. zum Theater 3. Frankfurt a. M. 1967, 1004–1016.
Brief von Schiller an Goethe am 2. Oktober 1797. In: Der
Als die alte Dame am Schluss den ungeheuren
Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in drei Bän-
Scheck überreicht und mit dem toten Geliebten ver- den, Bd. 1. Hg. von Hans Gerhard Gräf und Albert Leitz-
schwindet, stimmen die Frauen und Männer von Gül- mann. Leipzig 1912, 415–417.
len den Schlusschor an, eine Travestie auf das zweite Gotthelf, Jeremias: Wie man kaputt werden kann. In: Rudolf
Chorlied in der Antigone. Darin beschreiben und fei- Hunziker, Hans Bloesch (Hg.): Sämtliche Werke in 24
ern sie den wiedererlangten Wohlstand und die neue Bänden, Bd. 24. Erlenbach-Zürich 1932, 215–217.
Grillparzer, Franz: Gedichte, Epigramme, Dramen I. In:
Herrlichkeit ihrer Stadt.
Sämtliche Werke, Bd. 1. München 1960.
Dieser rasante Ablauf ist ein Triumph der drama-
tischen Präzipitation über die Logik der Handlung. Sekundärliteratur
In Wahrheit könnte die Wiederherstellung Güllens Beckmann, Heinz: Wilder. Velber bei Hannover 1966.
jetzt erst langsam beginnen. Sie ist aber bereits voll- Matt, Peter von: Der Autor in der Falle / Fragmente zu F. D.
endet, und der Widerspruch stört uns als Zuschauer In: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische
und politische Schweiz. München 2001, 241–259.
nicht. Wir sind mitgesaust im unwiderstehlichen Matt, Peter von: Was bleibt nach den Mythen? Das neue lite-
Zug der szenischen Dynamik und folgerichtig am rarische Nachdenken über die Schweiz / Der Liberale, der
Ziel angelangt. Alles stimmt, auch wenn es so gar Konservative und das Dynamit. Zur geschichtsphiloso-
nicht sein kann. phischen Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich
Diese kühne Operation mit der Zeit ist nur möglich Dürrenmatt / Wenn Dürrenmatt Geschichten erzählt. In:
Ders.: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und
durch eine berechnete Geschwindigkeit des dramati-
Politik der Schweiz. München 2012, 139–156, 191–219.
schen Prozesses, die uns die natürlichen Zwischenräu- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen.
me vergessen lässt. Dürrenmatt macht hier genau das, Biographie. Zürich 2011.
was Schiller einmal triumphierend über seine Arbeit Rusterholz, Peter: Differenzen der Geschlechter. Dürren-
am Wallenstein schreibt: Es sei ihm gelungen, »die matts Mondfinsternis und ihre Genese. In: Ders.: Chaos
Handlung gleich vom Anfang in eine solche Präzipita- und Renaissance im Durcheinandertal Dürrenmatts. Hg.
von Henriette Herwig und Robin-M. Aust. Baden-Baden
tion und Neigung zu bringen, dass sie in stetiger und 2017, 73–85.
beschleunigter Bewegung zu ihrem Ende eilt« (Schil- Schu, Sabine: Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dür-
ler/Goethe 1912, 416). Das berühmteste Beispiel aus renmatt. Eine Untersuchung des dramatischen Werkes.
der Theatergeschichte für diese Kunst des gesteigerten St. Ingberg 2007.
Tempos über breite Zeitlücken hinweg ist Shake- Weber, Ulrich: Ob die Gemeinschaft würdig sei, in einen
Chor auszubrechen – Friedrich Dürrenmatts Besuch der
speares Macbeth. Die großen Dramatiker begegnen ei-
alten Dame, textgenetisch betrachtet. In: Elio Pellin,
nander über die Jahrhunderte hin in den Kunstgriffen Ulrich Weber (Hg.): »Wir stehen da, gefesselte Betrach-
ihres Handwerks, zu denen sie in der Regel schweigen. ter«. Theater und Gesellschaft. Göttingen, Zürich 2010,
Friedrich Dürrenmatt ist einer von ihnen. 87–112.
Wixson, Douglas C., Jr.: The Dramatic Techniques of Thorn-
ton Wilder and Bertolt Brecht. A Study in Comparison.
Modern Drama 15 (1972), 2, 112–124.

Peter von Matt


98 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

24 Frank der Fünfte Den Schlusspunkt der Bochumer Fassung schließlich


bildet das maliziöse Gelächter, mithin der Triumph
Entstehungs-, Publikations- und Auf- der Nachgeborenen über die herrschende Ordnung,
führungsgeschichte wenn Herbert verkündet, die Mutter habe die Bank
»saniert« (146). Freiheit wird den Figuren in sämtli-
Die Keimzelle des Werks bildete, so Dürrenmatt, eine chen Schlussfassungen verwehrt.
Theaterprobe der Titus Andronicus-Inszenierung von Frank der Fünfte zählt zu den eher selten aufgeführ-
Peter Brook in Paris 1958, die den Autor dazu anregte, ten Stücken des Autors, hat im Zuge der Finanzkrise
ein Shakespearesches Königsdrama moderner Prä- 2008 indes wieder an Aktualität gewonnen (zuletzt:
gung auf die Bühne zu bringen: »Ich kam vom Wun- Bern 2013, Esslingen bei Stuttgart 2019/2020).
sche nicht mehr los, etwas Wildes, Groteskes, Shake-
spearehaftes zu schreiben, ein Stück für die Gegen-
wart« (WA 29, 48). Dürrenmatt war von der Zürcher Inhalt und Analyse
Neuen Schauspielhaus AG damit betraut worden, eine
Ode anlässlich ihres zwanzigjährigen Jubiläums zu Gottfried Frank alias Frank V. , Direktor einer traditi-
verfassen. In Zusammenarbeit mit dem Operetten- onsreichen »Gangsterbank« (22), und seine Gattin Ot-
komponisten Paul Burkhard entstanden »in etwa zwei- tilie sehen sich angesichts unzeitgemäßer Geschäfts-
mal fünf Tagen« (G 1, 119) in Neuchâtel noch vor Skiz- praktiken gezwungen, die Liquidation ihres im Nie-
zierung des Handlungsgerüsts mehrere Chansons, die dergang begriffenen Familienunternehmens einzulei-
in der Folge zu einer Oper ausgebaut wurden. ten. Skrupulös planen sie den Scheintod des Patrons
Die Uraufführung von Frank der Fünfte. Oper einer und das Verschwinden des Personals, um dank des ab-
Privatbank am Schauspielhaus Zürich vom 19.3.1959 gezweigten Schwarzgelds »den Lebensabend gemein-
(R.: Oskar Wälterlin) war ein »eklatanter und für den sam unter einem anderen Namen in einem humaneren
Autor sehr schmerzlicher Mißerfolg« (Helbling 1982, Klima« (23) verbringen zu können. Mehrere durch ab-
85). Dasselbe Schicksal erlitt die überarbeitete Büh- surde Zufälle ruinierte Geschäfte und die eigenen Kin-
nenfassung für die deutsche Erstinszenierung an der durchkreuzen jedoch diesen Plan. Die vermeint-
den Münchner Kammerspielen vom 18.10.1960. lich rechtschaffenen Internatszöglinge Franziska und
Nach weiteren Erstaufführungen in Amsterdam, Prag, Herbert erachten die Liquidationsabsichten der Eltern
Wien, Brüssel und Paris kam es im Vorfeld der Bochu- als das eigentliche Verbrechen und erpressen die Bank:
mer Inszenierung 1963 (R.: Dürrenmatt und Erich Sollten binnen einer Woche nicht 20 Millionen Fran-
Holliger) zur Auseinandersetzung mit dem Intendan- ken gezahlt werden, droht die Offenlegung des Ver-
ten Hans Schalla, worauf der Autor sein Stück per sicherungsbetrugs. Inmitten dieser Krisensituation
einstweiliger Verfügung sperren ließ. Die Bochumer versucht jeder noch rasch seine Schäfchen ins Trocke-
Fassung fand Eingang in die Neuausgabe von 1964 ne zu bringen. Es kommt zum nächtlichen Showdown
und mit neuem Untertitel Komödie einer Privatbank der bis an die Zähne mit Maschinenpistolen und Nach-
in den Sammelband Komödien II und Frühe Stücke schlüsseln bewaffneten Angestellten vor dem Tresor
(1963), während der Erstdruck bei Arche 1960 als im Keller. Herbert und Franziska geben sich zu erken-
Oper figurierte. Bereits 1966 erfolgte eine neuerliche nen und usurpieren die Bank. In einer zynischen
Umarbeitung zum Drehbuch für den NDR. Das Fern- Schlussvolte wird dieser sogar eine Sanierung durch
sehspiel wurde mit Hubert von Meyerink (Frank), den Staatspräsidenten zuteil, der den Bankrott auf-
Therese Giehse (Ottilie), Willy Maertens (Böckmann) grund der Größe der verübten Verbrechen und der
und Hans Korte (Egli) in den Hauptrollen am Verfilzung mit dem Staat vereitelt: »Ich müßte ja die
16.2.1967 erstausgestrahlt. Für die Neufassung 1980 ganze Weltordnung umstürzen« (122).
schrieb Dürrenmatt das Werk abermals um und ent- Frank der Fünfte ist damit im Kern eine Verfalls-
schied sich für den ursprünglichen Schluss der Zür- geschichte. Der sich auf Handlungsebene Bahn bre-
cher Uraufführung, die mit dem Chorgesang und der chende Verfall von Dynastie und Unternehmen geht
Einsicht in den fragil-illusorischen Freiheitswunsch einher mit einer Genealogie der Amoral und des Wer-
von Machtkollektiven ausklingt. Die erste Buchaus- teverfalls auf Ebene der Figuren. In Zeiten des Erfolgs
gabe betont dagegen den Prozess des Niedergangs qua partizipieren die durch die Unternehmensphilosophie
Ankündigung einer künftigen »Eiswelt« (WA 6, 152), augenfällig korrumpierten Bankangestellten nahezu
die noch viel schlimmer werde, als die bestehende. bedingungslos am verbrecherischen Treiben des Hau-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_24
24  Frank der Fünfte 99

ses: Sie »[m]orden, prellen und betrügen«, sie »[w]u­ Desillusionierung im doppelten Sinne, weil der Wech-
chern, stehlen, hehlen, lügen« (25). Doch der brüchige sel von Figurenrede und -gesang über den verfrem-
Kitt des unheilvollen Zusammenhalts besteht schon denden Akt der Illusionsdurchbrechung hinaus zur
da im Wissen um die Missetaten der andern, im viru- satirisch-moralischen Entlarvung der Figuren bei-
lenten denunziatorischen Potential und in der Furcht trägt, die »singen [...], wenn sie lügen« (G 1, 120). Die
vor gegenseitiger Entdeckung. Im Augenblick des Opernform leistet zum andern einer antithetischen
ökonomischen Niedergangs beginnt die Loyalität des Struktur Vorschub, die sich in diversen motivischen
Einzelnen zum Kollektiv erwartungsgemäß zu brö- Antagonismen wie Gangster vs. Bürger, Individuum
ckeln. Die Verfallsdynamik ist Ausdruck einer Ver- vs. Kollektiv oder Eltern vs. Kinder widerspiegelt. Die
unsicherung und eines übergeordneten Ordnungszer- an Shakespeares Königsdramen geschulte Kontrast-
falls, der sich nahtlos in eine Ästhetik der Moderne ästhetik (vgl. Profitlich 1973, 12 f.) fällt in eins mit ei-
und deren »Entdeckung einer radikalen Kontingenz, ner Ästhetik des Grotesken (vgl. Grimm 1961). Ange-
die [...] die Ordnung selbst antastet« (Waldenfels 2006, sichts einer als krisenhaft wahrgenommenen Welt der
19), einlesen lässt. Das Urteil des Staatspräsidenten Moderne bedient sich Dürrenmatt dieses paradigma-
Traugott von Friedemann ist insofern an Zynismus tischen Schreibverfahrens zur Darstellung von Zer-
kaum zu überbieten, als dieser selbst Akteur und fallsdynamiken, da es das Spannungsverhältnis zwi-
Symptom einer Welt ist, deren Ordnung maßgeblich schen Krise und Komik auf der Bühne zu verhandeln
auf Korruption, Bigotterie und volatilen sozialen vermag, ohne die Zuschauer durch allzu bereitwillige
Asymmetrien beruht. Eine Ordnung aber, die den Auflösung der Paradoxien und Preisgabe des Ernstes
Rechtsstaat aus den Angeln hebt und zum ohnmächti- in ein kathartisches Lachen der Entlastung zu entlas-
gen Zuschauer degradiert, Politiker als Kollaborateure sen oder dem erbaulichen Klamauk anheim zu fallen
entlarvt, die wechselseitige Affinität von Gangster und – den es freilich zumal in den Gesangspartien gibt.
Bürger fördert, ist längst gestürzt, ist pervertiert. Die Zusammenführung von Komik und Grauen
Frank der Fünfte wirft mithin ein grelles Schlaglicht manifestiert sich am deutlichsten im Protagonisten
auf eine Welt in Unordnung. Dürrenmatt operationa- selbst, der keine Gelegenheit auslässt, seine humanis-
lisiert hierfür den Topos des mundus inversus, der als tische Gesinnung zu betonen, während der selbst-
Instrument der Systemkritik und zur Deutung einer ernannte »Menschenfreund« (WA 6, 14) gleichzeitig
krisenhaften Welt fungiert: Franks Bank schmückt das mörderische Treiben seiner an Lady Macbeth ge-
sich damit, »noch nie ein ehrliches Geschäft abge- mahnenden Gemahlin Ottilie und seiner Angestellten
wickelt« (WA 6, 22) zu haben, der Schalterbeamte Hä- nicht nur duldet, sondern explizit anordnet. Franks
berlin schwärmt vom freien Leben im Zuchthaus, Moralbezeugungen entpuppen sich als hohles Ritual
Doktor Schlohberg gilt als »Ehrenmann«, da er »noch eines falschen Priesters, der die »Welt des Geistes« (62)
jeden unserer Morde durch ein Attest gedeckt« (65) und die Verehrung für Goethe und Mörike vorschützt,
habe, und Ottilie postuliert als Handlungsmaxime: um seine Verbrechen unter dem Deckmantel der
»Was ich auch tu, es ist verquer« (47). Lüge und Ver- Menschlichkeit zu camouflieren. Parodistisches Po-
brechen avancieren im frankschen Kosmos zu Tugen- tential entfaltet das Stück bereits qua Franks telling na-
den, und das Täterkollektiv stilisiert sich in einem bi- me: Akzentuiert die Ableitung aus der Schweizer Wäh-
gotten Gesangsreigen schamlos zu Opfern. rung ›Franken‹ die Ökonomie als gesellschaftlichen
Die Modernität des Stücks liegt neben der Proble- Brennpunkt, unterminiert das anklingende Reimwort
matisierung eines Ordnungsverlusts und Kontingenz- ›krank‹ zugleich deren Integrität. Über die Kritik am
zuwachses in der Pluralität seiner ästhetischen Ver- homo oeconomicus und dessen scheinbar unverbrüch-
fahren. Ungeachtet der Kritik an der inkonsistenten lichen Glauben an »die ökonomische Kausalität«
dramatischen Funktion der Musik (vgl. Jauslin 1964, (Durzak 1969, 109) der Welt hinaus verweist das as-
105 f.) erscheint die Gattungswahl plausibel. Sie kon- soziierbare ›frank und frei‹ auf das Freiheitsthema. Die
gruiert mit Dürrenmatts Dramenpoetik, deren Ent- Figuren sind sowohl Gefangene des paranoiden Über-
wicklung er in seiner Standortbestimmung (1960) auf wachungskollektivs als auch ihres »Selbstbetrugs«
die griffige Formel »vom ›Denken über die Welt‹ zum (Jauslin 1964, 108), wenn sie dem naiven Traum vom
›Denken von Welten‹« (WA 6, 155) brachte und die Spießerglück mit Familie und Einfamilienhaus anhän-
das Fingieren möglicher Modellwelten gegenüber der gen. Ihr Ansinnen ist lediglich ein Feigenblatt, ein un-
realistischen Wiedergabe tatsächlicher Gesellschafts- aufrichtiger Entlastungswunsch von eigener Schuld.
verhältnisse priorisiert. Die Oper konstituiert eine Freiheit muss für jene, die ihre Missetaten idealistisch
100 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

verbrämen, letztlich eine Illusion bleiben: »Die Frei- heit erschaffen und der Freiheit überlassen!« (WA 6,
heit ist schön, ach, das wissen wir alle / Doch willst du 92). Böckmann zeigt, dass der Einzelne seine Ent-
sie greifen, vergeht sie im Nu« (WA 6, 79). scheidungen der ihm oktroyierten Kollektivzwänge
zum Trotz frei treffen kann. Was Loetscher resümie-
ren ließ: »In dieser Entdeckung der Freiheit zum Bö-
Deutung und Positionen der Forschung sen liegt das Moment des Moralischen bei Dürren-
matt« (1980, 168). Wenn das selbstkritische Individu-
»[W]ie ißt man Dürrenmatt?« (Loetscher 1980, 162). um die pervertierte Welt auch nicht zurückzukehren
Auf Hugo Loetschers hintersinnige Frage im Zürcher vermag, so ist es doch imstande, jederzeit selbst um-
Programmheft, die den Anfang der kritischen Rezep- zukehren. Dass Böckmann die Beichte am Ende ver-
tion des Stücks markiert, haben Literaturkritik und wehrt bleibt, weil Ottilie den ohnehin im Sterben Lie-
-wissenschaft mit Verdauungsproblemen reagiert und genden umbringt, ist die böse wie geniale Pointe die-
den Autor förmlich aufgefressen bzw. »abgespritzt« ser Tragikomödie. Dürrenmatt hielt sie nicht zu Un-
(WA 6, 165). Zwar anerkannte man die Bühnenwirk- recht für »meine beste Szene« (WA 25, 150).
samkeit einzelner Szenen, doch überwog die Kritik an
der misslungenen Gesamtstruktur und an Unstim- Literatur
Primärtexte
migkeiten in der Figurenzeichnung. Manche Forscher Frank der Fünfte. Oper einer Privatbank. Musik von Paul
sprachen der Komödie in Verkennung der primär auf Burkhard. Zürich 1960.
»Problemträchtigkeit« (159) abhebenden Dramen- Frank der Fünfte. Eine Komödie. Mit Musik von Paul Burk-
poetik sogar die Glaubwürdigkeit ab (vgl. Arnold hard. Bochumer Fassung. Zürich 1964.
1969, 75). Kontrovers diskutiert wurde die Frage, in- Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. In: Komödien
II und frühe Stücke. Zürich 1963.
wiefern es sich bei Frank eingedenk der augenfälligen
Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. Neufassung
formalen und thematischen Analogien um eine Vari- 1980. Zürich 1980.
ante, Kopie oder Parodie von Brechts Dreigroschen- Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. WA 6.
oper handle. Manfred Durzak unterstrich etwa die Zu- Friedrich Dürrenmatt interviewt Friedrich Dürrenmatt. In:
spitzung der brechtschen Sozialparabel im Sinne einer WA 25, 140–167.
Umkehr der Räuber-Bürger-Dialektik (vgl. Durzak [Gespräch mit] Horst Bienek [1961]. In: G 1, 114–131.
Querfahrt. In: WA 29, 23–84.
1969, 105 f.). Dürrenmatt betonte demgegenüber den
Bezug zu Shakespeares Richard III. Die Eingangs- Sekundärliteratur
losung »Wie Helden von Shakespeare« (WA 6, 11) bil- Arnold, Armin: Friedrich Dürrenmatt [1969]. Berlin 1986,
det einerseits eine ironische Setzung, da es der willfäh- 72–76.
rige Personalchef Richard Egli ist, der den prätentiö- Durzak, Manfred: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Stuttgart
sen Vergleich zieht, und die klassischen Helden längst 1972, 102–115.
Grimm, Reinhold: Parodie und Groteske im Werk Friedrich
im Kollektiv der Moderne untergegangen sind. Die Dürrenmatts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift
Referenz akzentuiert andererseits aber ebenso die his- 11 (1961), 431–450.
torische Kontinuität der Gefährdung individueller Helbling, Robert: Frank der Fünfte. Eine kritische Bilanz der
Freiheit innerhalb hierarchischer Machtsysteme (vgl. Gangsterbank nach über zwanzig Jahren. In: Armin
Käppeli 2013, 251). Egli benennt im moritatenhaften Arnold (Hg.): Zu Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1982,
85–96.
Prolog bereits das Grundthema, weshalb das verschie-
Jauslin, Christian Markus: Friedrich Dürrenmatt. Zur Struk-
dentlich geäußerte Monitum erstaunt, wonach dem tur seiner Dramen. Zürich 1964, 104–110.
Stück eine »zentrale Idee« (Jenny 1970, 79) fehle. Jenny, Urs: Friedrich Dürrenmatt. Velber 1970, 73–79.
Die zentrale Freiheitsproblematik behandelt auch Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
die tragisch tingierte Böckmann-Szene. Frank und matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
Ottilie haben dem treuen Prokuristen zwei Jahre lang Werks. Köln 2013, 190–264.
Loetscher, Hugo: Frank V. – Oper einer Privatbank. In:
seine Krebsdiagnose verschwiegen, aus Angst, er kön- Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. Essays
ne unter Narkose delikate Bankdetails preisgeben. und Zeugnisse von Gottfried Benn bis Saul Bellow. Zürich
Den Tod vor Augen gelangt Böckmann zur Einsicht 1980, 130–138.
der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstbestimmt- Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie
heit des Menschen: »In jeder Stunde hätten wir um- des Fremden. Frankfurt a. M. 2006.
kehren können, in jedem Augenblick unseres bösen Moritz Wagner
Lebens. [...] Wir waren frei, falscher Priester, in Frei-
25  Die Physiker 101

25 Die Physiker und darin »literarisch gültige[...]« Version seines Tex-


tes ab (8).
»Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie Handlungsschauplatz ist das private »Sanatori-
ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat« um[...] ›Les Cerisiers‹«, lakonisch auch als »Irren-
(WA 7, 91). Dieses Diktum findet sich in Dürrenmatts haus[...]« bezeichnet (11). Es befindet sich in der he-
Kommentar zur Komödie Die Physiker, die mit Der runtergekommenen Villa der einst mächtigen Familie
Besuch der alten Dame zu seinen bekanntesten und von Zahnd, »deren letzter nennenswerter Sproß« die
auch populärsten Arbeiten für das Theater gehört. Die »bucklige Jungfer« Mathilde von Zahnd ist, eine be-
Erfolgsgeschichte seiner Komödie in zwei Akten ver- rühmte Ärztin, die sich als Psychiaterin und Gründerin
dankt sich mit der bühnenwirksam in Szene gesetzten der Heilanstalt einen Namen machte (12). In der Villa
Dramaturgie des Zufalls, der Verhandlung brisanter befinden sich derzeit drei Patienten. Es sind dies Her-
Zeitfragen im Modus der Groteske sowie der formalen bert Georg Beutler (genannt Newton), Ernst Heinrich
Anlehnung an die Kriminalkomödie entscheidend Ernesti (genannt Einstein) sowie Johann Wilhelm Mö-
auch dem Zürcher Schauspielhaus. Dürrenmatt ent- bius (vgl. 10). Alle drei sind Physiker oder geben sich
wickelt Die Physiker in enger Zusammenarbeit mit der als solche aus. Die beiden ersten beanspruchen die
renommierten Bühne, die das Werk am 21.2.1962 in Identität zweier Schlüsselfiguren der modernen Phy-
der Regie von Kurt Horwitz uraufführt. Die Auffüh- sik. Möbius hingegen behauptet, dass ihm der biblische
rung wird zum Triumph für alle Beteiligten. Der Er- König Salomo erscheine. Er ist Physiker, verheiratet,
folg ist wechselseitig und verschafft sowohl dem Dra- Vater von drei Buben und bereits seit fünfzehn Jahren
matiker als auch dem Schauspielhaus internationale in der Klinik. Newton und Einstein kamen erst Jahre
Geltung. Während Dürrenmatt von einer Bühne pro- später hinzu. Über ihr Privatleben ist nichts bekannt.
fitiert, deren Ästhetik stilbildend für die Nachkriegs- Der erste Akt beginnt mit der Aufklärung eines
moderne ist und die er treffsicher umzusetzen weiß, Mords. Im Salon der Villa liegt die ermordete Kranken-
sieht sich das Schauspielhaus umgekehrt in seiner schwester Irene Staub. Kriminalinspektor Voß leitet die
epochalen Bedeutung bestätigt. Ermittlungen. Der Täter ist rasch gefunden. Einstein
bekennt sich unumwunden zur Tat. Doch der Fall ist
kompliziert. Es handelt sich bereits um den zweiten
Textfassung, Aufbau und Handlung Mordfall im Sanatorium. Auch das erste Opfer war eine
Krankenschwester, ermordet von Newton. Der Ruf der
Parallel zur Uraufführung veröffentlicht Dürrenmatt Klinik steht auf dem Spiel. Newton und Einstein aber
das Stück im Zürcher Arche Verlag. Mit dem Verleger lassen sich nicht zur Verantwortung ziehen; die Patien-
Peter Schifferli verbindet ihn ebenfalls eine langjähri- ten sind unzurechnungsfähig, wie Mathilde von Zahnd
ge Zusammenarbeit. Die Textfassung ist mit einer resolut betont. Ein unerwarteter Besuch treibt die
ausführlichen Bühnenanweisung versehen, hinzu Handlung voran. Damit kommt Möbius ins Spiel. Lina
kommen die 21 Punkte zu den ›Physikern‹, die bereits Rose, ihre drei Buben und ihr neuer Ehemann, Missio-
im Programmheft abgedruckt waren. Das Buch ist nar Oskar Rose, wollen sich von Möbius verabschieden.
Therese Giehse gewidmet; sie gehört zum legendären Lina ist die seit kurzem geschiedene Frau von Möbius,
Emigrantenensemble und soll Dürrenmatt dazu an- sein »Verrücktsein« kostete sie »bestialische Summen«
geregt haben, die ursprünglich einem Schauspieler (44), deshalb will sie sich jetzt eine neue Existenz auf ei-
zugedachte Hauptrolle für sie umzuschreiben. Sie ner Missionarsstation im Stillen Ozean aufbauen (vgl.
brilliert in der Rolle der grotesk überzeichneten Ir- 32). Ihr Abschied ist rührselig, Möbius wendet sich
renärztin »Fräulein Dr. h. c. Dr. med. Mathilde von brüsk ab. Sarkastisch kommentiert er die Weltverbes-
Zahnd« (12) und trägt, wie schon sechs Jahre zuvor serungspläne des Missionars und verflucht ihn, weil er
als Claire Zachanassian in Der Besuch der alten Da- König Salomo, den »Psalmendichter«, beleidigt hätte.
me, entscheidend zur begeistert aufgenommenen Ur- Möbius behauptet, »Salomo von Angesicht zu Ange-
aufführung bei. Als Dürrenmatt Die Physiker 1980 in sicht« zu kennen, längst habe der »arme König der
seine Diogenes-Werkausgabe aufnimmt, überarbei- Wahrheit« abgedankt, sitze nun »nackt und stinkend«
tet er den Text geringfügig. Auf diese Fassung stützen in seinem Zimmer, seine Psalmen hätten ihren Zauber
sich die vorliegenden Ausführungen. Dürrenmatt er- verloren und seien bloß noch »schrecklich« (40). Im
klärt die Neufassung für verbindlich; sie bilde nicht »Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen«, ent-
die »theatergerechte[...]«, sondern die »dichterische« wirft er das Schreckszenario eines radioaktiv verseuch-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_25
102 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

ten und zerstörten Universums (41 f.). Geschockt reist Verbrennung der Manuskripte ist auch das begehrte
die Missionarsfamilie ab. Möbius indes erklärt, aus »hu- Objekt vernichtet. Die Physiker beschließen, im Irren-
mane[n]« Gründen gehandelt zu haben. Mit seinem haus zu bleiben. »Nur im Irrenhaus sind wir noch frei.
»wahnsinnigen Betragen«, so gegenüber Schwester Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Frei-
Monika, habe er der Familie den Abschied erleichtert. heit sind unsere Gedanken Sprengstoff« (75). Eine
Sie könne jetzt einen »Schlußstrich« ziehen und ihn Freiheit außerhalb der Klinik ist jedoch allein schon
»mit gutem Gewissen vergessen« (44). Ein Happy End deshalb nicht denkbar, weil sie gemordet haben. Das
scheint sich abzuzeichnen. Schwester Monika gesteht Irrenhaus wäre insofern nur gegen das Gefängnis zu
ihm ihre Liebe, sie halte ihn nicht für verrückt und habe tauschen. Die Situation ist paradox: »Verwandeln wir
bereits ein Leben außerhalb der Anstalt organisiert. uns wieder in Verrückte«, lautet die Devise, wir sind
Möbius drängt sie, ihre Pläne aufzugeben. Einstein »[v]errückt, aber weise«, »[g]efangen, aber frei«, »Phy-
kommt hinzu und warnt ebenfalls. Auch Schwester Ire- siker, aber unschuldig« (77).
ne wollte mit ihm ausbrechen, da habe er sie »erdros- Das Stück könnte hier zu Ende sein. Doch abermals
selt«, denn es »gibt nichts Unsinnigeres auf der Welt als kommt es zu einer irrwitzigen Verkehrung der Situati-
die Raserei, mit der sich die Weiber aufopfern« (48). Un- on. Die Irrenärztin tritt auf die Szene. Und mit ihr
versehens reißt Möbius den Vorhang herunter und wie- nimmt die Geschichte ihre schlimmstmögliche Wen-
derholt Einsteins Tat. Er ermordet Schwester Monika. dung: Sie hat das Gespräch ihrer Patienten abgehört
Der zweite Akt präsentiert sich als Wiederholung und Möbius’ Schriften längst kopiert. Sein Wissen ist
und groteske Zuspitzung des ersten Akts: Im Salon nicht mehr aus der Welt zu schaffen: »Was einmal ge-
liegt jetzt die ermordete Krankenschwester Monika dacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen wer-
Stettler. Erneut ermittelt Kriminalinspektor Voß. Im den« (85). Die Weltformel diente Mathilde von Zahnd
Fortgang der Handlung stellt sich heraus, dass Newton, zum Aufbau eines wirtschaftlichen Imperiums, als dä-
Einstein und Möbius alle aus demselben Grund zu monische Göttin in Weiß übernimmt sie die »Welt-
Mördern wurden. Sie wollten ihre im Irrenhaus an- herrschaft« (82). Die Irre triumphiert. Und die ver-
genommene Identität nicht preisgeben. Die drei meintlich Irren ergeben sich in ihr Schicksal als Mör-
Schwestern sind ihren Patienten auf die Spur gekom- der und Verrückte.
men und mussten deshalb beseitigt werden. Doch was
treibt die Insassen an? Was hält sie im Irrenhaus? Für
das Publikum klärt sich diese Frage in einer Szene, die Thema
ausschließlich unter den Physikern spielt. Möbius hat
als genialer Physiker das »Problem der Gravitation« Im Mittelpunkt der Physiker steht die Frage nach der
gelöst, die sogenannte »Weltformel« entdeckt und das Verantwortung der Wissenschaft im Zeitalter der ato-
»System aller möglichen Erfindungen« aufgestellt; die maren Bedrohung. Die Frage ist brisant. Kann es der
Auswirkungen seiner Forschung wären indes »verhee- Forschung gleichgültig sein, was mit ihren Erkennt-
rend« (69). Denn was die Menschheit technisch voran- nissen passiert? Ist sie gemäß ihrem eigenen Ethos tat-
bringen kann, enthält auch das Potential zu ihrer Ver- sächlich zweckfrei? Oder unterliegt sie nicht vielmehr
nichtung. Diese Erkenntnis treibt ihn ins Irrenhaus. Er institutionellen Vorgaben, die diesen Anspruch hin-
zieht sich die »Narrenkappe« (74) an und versteckt tertreiben und sie machtpolitischen Interessen unter-
sich mit seinem Wissen an einem scheinbar sicheren werfen? Im Kontext des Kalten Kriegs beziehen sich
Ort. Die Geheimdienste zweier Großmächte machen solche Überlegungen spezifisch auf das Wettrüsten
ihn jedoch ausfindig. Newton alias Beutler entpuppt der beiden Großmächte UdSSR und USA. Die wech-
sich jetzt als Alex Jasper Kilton; er ist tatsächlich Physi- selseitig praktizierte nukleare Abschreckung etabliert
ker und Agent einer der beiden Großmächte. Dasselbe ein Gleichgewicht des Schreckens, das der Friedens-
gilt für Einstein alias Ernesti; auch er ist Physiker, heißt sicherung dienen soll. Doch die Atombombe – als an-
Joseph Eisler und arbeitet für die Gegenseite. Als Mö- gebliches Mittel zur Sicherung des Weltfriedens –
bius bekennt, seine Manuskripte nach dem Mord an wird im Wettrüsten der beiden Großmächte zur glo-
Monika Stettler verbrannt zu haben, entspannt sich ein balen Bedrohung. Die USA und die UdSSR treiben ei-
Disput über Freiheit und Verantwortung der Wissen- ne Forschung voran, die in sich das Potential zur
schaft, über machtpolitische Interessen und das Risiko, Auslöschung der Menschheit enthält.
ein Waffenarsenal aufzubauen, das zuletzt den »Unter- Dürrenmatt exponiert solche Kippeffekte. Seine
gang der Menschheit« (73) herbeiführen kann. Mit der Dramaturgie, die auf die schlimmstmögliche Wendung
25  Die Physiker 103

zielt, ist daraufhin angelegt. Nicht die Ereignisgeschich- unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische
te interessiert in dieser Konstruktion. Die Figuren re- Form bei« (WA 7, 12). Verwiesen ist damit auf die dia-
präsentieren keine historischen Personen, sondern bil- lektische Verschränkung von Ordnung und Chaos,
den konfliktreiche Konstellationen im Spannungsfeld Kalkül und Zufall, die leitmotivisch das ganze Stück
von Wissenschaft und Macht ab. Am Ende steht die apo- durchzieht. Die einleitende Bühnenanweisung liefert
kalyptische Vision einer »sinnlos« im entleerten Uni- eine detaillierte Schilderung des Schauplatzes. Das
versum kreisenden »radioaktive[n] Erde« (87). Dürren- Stück spielt ausnahmslos im »Salon« jener »verlotter-
matt selbst erklärte, die Idee zu Die Physiker sei ihm im ten Villa des »privaten Sanatoriums ›Les Cerisiers‹«
Spätsommer 1959 während eines Kuraufenthalts im (11). Die Anspielung auf Anton Tschechows Der
Unterengadin gekommen (WA 29, 35–37). Der Stoff in- Kirschgarten. Eine Komödie in vier Akten (1904) ist
des beschäftigte ihn schon länger. Die Faszination für offensichtlich. Die Physiker sind entsprechend im
Astrophysik, Kosmologie und apokalyptische Szena- Kontext der modernen gesellschaftskritischen Komö-
rien dokumentiert sich nicht zuletzt in Dürrenmatts die situiert. Spiegelt Tschechow den Untergang einer
bildkünstlerischem Werk. Hinzu kommt das breite In- überlebten Gesellschaft in der Auflösung einer russi-
teresse an philosophischen, wissenschaftlichen und schen Gutsbesitzerfamilie, so überträgt Dürrenmatt
auch populärwissenschaftlichen Abhandlungen zur diese Endzeitsituation modellhaft in die eigene Ge-
Kernphysik (vgl. Weber 2020, 392 f.). Speziell hervorzu- genwart. Unter dem Stichwort »[n]ähere Umgebung«
heben ist Robert Jungks Bestseller Heller als tausend entwirft er eine Szenerie, die in ihrer vordergründigen
Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher (1956). Dürren- Idyllik das Bild schierer Trostlosigkeit abgibt. Abbild-
matts Rezension des Buches erschien im Dezember glei- bar auf der Bühne sind diese Anweisungen nicht, bloß
chen Jahres in der Schweizer Zeitschrift Die Weltwoche der »Genauigkeit zuliebe« sei das »Örtliche« beschrie-
(vgl. WA 34, 20–24). Wesentliche Überlegungen, die in ben (WA 7, 11). Interieur und Ausstattung des Salons
Die Physiker eingehen, sind hier bereits ausformuliert. rücken jetzt in den Fokus. Im Salon hinten führen drei
Sie betreffen namentlich die Verantwortung der Wis- Türen in die Patientenzimmer, eine Flügeltür links auf
senschaft gegenüber Politik und Gesellschaft sowie Fra- die Terrasse, von rechts betreten Personal und Besu-
gen des Machtmissbrauchs durch korrupte Eliten. cher den Salon. Sämtliche Auftritte sind in diesem
Mit der Verortung des Geschehens in einem Irren- Raum angesiedelt. Mit dem Ort ist auch die Einheit
haus, das sich zuletzt als Gefängnis entpuppt, unter- von Zeit und Handlung gewährt. Die gespielte Zeit
streicht Dürrenmatt den modellhaften Charakter der deckt sich praktisch mit der Handlung, die ihrerseits
Handlung. Das Irrenhaus fungiert als Metapher für stringent komponiert ist. In einem entscheidenden
die verkehrte Welt. Die scheinbar festgefügten Gren- Punkt aber weicht diese von der herkömmlichen Dra-
zen zwischen Vernunft und Wahn lösen sich auf, die maturgie ab. In ihrem zweigeteilten Aufbau (der Un-
angestrebte Freiheit verkehrt sich in ihr Gegenteil. Die tertitel Eine Komödie in zwei Akten hebt diesen Um-
Geschichte der Physiker wird dadurch auf eine über- stand hervor) folgt sie nicht dem klassischen Prinzip
zeitliche Perspektive hin geöffnet. Was sich in der Ge- der Peripetie, sondern der Logik einer Anhäufung von
genwart des Kalten Kriegs ereignet, verweist ins- Katastrophen. Die Peripetie ist durch die permanente
gesamt auf eine aus den Fugen geratene Welt. Diese Abfolge schlimmstmöglicher Wendungen ersetzt, wo-
Denkfigur ist in Dürrenmatts Werk vielfach präsent. mit letztlich auch offen bleibt, ob die Komödie am
Sie erfährt wiederholte Bearbeitung, prominent aus- Schluss wirklich an ihr Ende kommt.
formuliert zuletzt in der Rede Die Schweiz – ein Ge- Die Handlung selbst beginnt als Kriminalgeschich-
fängnis (vgl. WA 36, 175–188), gehalten anlässlich der te. Dürrenmatt nimmt das zuvor in den Prosaschriften
Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav erfolgreich erprobte Genre auf und überträgt dieses
Havel am 22.11.1990 in Zürich, Dürrenmatts letztem auf die Bühne. Gleichzeitig arbeitet er mit Elementen
öffentlichem Auftritt in der Schweiz. der Verwechslungskomödie und lässt auch das popu-
läre Heimatschutztheater anklingen (1914 anlässlich
der Landesausstellung in Bern vom Sprachwissen-
Formale Aspekte schaftler Otto von Greyerz als Laientheater gegrün-
det). In Kontrast zu den lustspielartigen Sequenzen
Dramaturgisch setzt Dürrenmatt prononciert auf die stehen die zahlreichen Anspielungen auf kanonische
»Einheit von Raum, Zeit und Handlung«. Denn, so Texte der Weltliteratur. Dazu zählen Möbius’ Kontra-
der sarkastische Kommentar, »einer Handlung, die faktur der alttestamentlichen Psalmendichtung sowie
104 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

die vielen Verweise auf die aristotelische Poetik und fremdung arbeitet, findet bei Dürrenmatt und Frisch
Dramen der klassischen Antike in der einleitenden Anklang. Brechts direkter Einfluss wird in der Litera-
Bühnenanweisung sowie in den nachgelagerten 21 turgeschichtsschreibung indes überschätzt. Am
Punkten zu den ›Physikern‹. Mit Sophokles’ Ödipus Schauspielhaus etablierte sich während des Zweiten
(vgl. 92) ist hier namentlich die Urform des analyti- Weltkriegs eine Spielpraxis, die das Interesse an Brecht
schen Dramas aufgerufen. Die Aufdeckung eines dem überhaupt erst ermöglichte (vgl. Amrein 2007, 155–
Bühnengeschehen vorausliegenden Ereignisses be- 162). Dürrenmatt bezieht sich auf diese Praxis, wie
stimmt dessen Handlung. Indem Dürrenmatt Die Phy- entlang seiner Theatertheorie deutlich wird.
siker mit der Aufklärung eines Mords beginnen lässt,
überblendet er raffiniert das der Populärliteratur zu-
zurechnende Genre des Krimis mit der Tragödie, die Theatertheorie und Wirkungsgeschichte
vom tragischen Scheitern der Selbsterkenntnis han-
delt. Gleichzeitig aber sind Die Physiker ausdrücklich Der Genrebezeichnung ›Komödie‹ sind theatertheo-
nicht als Tragödie, sondern als Komödie definiert. Er retische Überlegungen eingeschrieben, die Dürren-
zeige das »Satyrspiel«, das »im Gegensatz zu den Stü- matt seit den 1950er Jahren beschäftigen. Im Zentrum
cken der Alten« bei ihm der Tragödie vorausgehe (14). dieser Überlegungen steht die Frage nach der Dar-
In der genannten Mischung der Stillagen erweisen sich stellbarkeit der Gegenwart. Dürrenmatt distanziert
Die Physiker als hybride und darin bereits auf formaler sich ausdrücklich von einem Verfahren, das »Tendenz
Ebene ins Groteske weisende Konstruktion. oder Reportage« sein will (WA 30, 25). Dagegen setzt
Figurenzeichnung und Sprache unterstreichen das er seine Ästhetik der Distanz (vgl. Amrein 2004, 256–
Komische und Groteske. Es sind Typen und nicht In- 258; Amrein 2007, 150 f. u. 160–162). Exemplarisch
dividuen, die Dürrenmatt auftreten lässt. Auch hier ausformuliert ist diese in den Anmerkungen zur Ko-
zeigt sich seine eminente dramatische Begabung. mödie (1952) sowie in Theaterprobleme (1954).
Sein Schaffen ist inspiriert vom großartigen Ensemble Dürrenmatt rekurriert hier gattungstypologisch
des Zürcher Schauspielhauses. Giehse gibt in der Ur- auf den Gegensatz von Tragödie und Komödie, wobei
aufführung die verrückte Irrenärztin, »[b]ucklig, etwa er letztere ins Groteske ausweitet. Die »Tragödien stel-
fünfundfünfzig, weißer Ärztemantel, Stethoskop« len uns eine Vergangenheit als gegenwärtig vor, [sie]
(24), Kommissar Voß (Fred Tanner) agiert stilgerecht überwinden Distanz, um uns zu erschüttern« (WA 30,
in »Hut und Mantel« (14), Newton (Gustav Knuth) 24). Die Komödie hingegen verfahre umgekehrt. Ihr
präsentiert sich »in einem Kostüm des beginnenden Ziel sei es, die Gegenwart in die Ferne zu rücken und
achtzehnten Jahrhunderts mit Perücke« (18), Ein- sie dadurch erkennbar zu machen. Das Mittel zur
stein (Theo Lingen) müht sich völlig untalentiert am Schaffung von Distanz heißt bei Dürrenmatt »Einfall«
Geigenspiel ab, während Möbius (Hans Christian (61). Der Begriff bezeichnet eine verblüffende Idee,
Blech) das »Pech« hat, dass ihm »der König Salomo meint aber auch eine physisch vernichtende Kraft.
erscheint« (45). Bereits in den 1950er Jahren bringt Dürrenmatt zur
Literaturgeschichtlich betrachtet gelten Die Physi- Veranschaulichung dieser Theorie die Atombombe
ker als herausragendes Beispiel für die Modell- und ins Spiel: »Sichtbar, Gestalt wird die heutige Macht
Parabelstücke der Nachkriegsmoderne. Die For- nur etwa da, wo sie explodiert, in der Atombombe, in
schung verweist in diesem Zusammenhang insbeson- diesem wundervollen Pilz, der da aufsteigt und sich
dere auf den Vorbildcharakter von Bertolt Brecht, des- ausbreitet, makellos wie die Sonne, bei dem Massen-
sen Lehrstücke das Zürcher Schauspielhaus zeigte, mord und Schönheit eins werden« (60). Und er fährt
1941 beginnend mit der Uraufführung von Mutter fort, indem er die »Atombombe« mit den »apokalypti-
Courage und ihre Kinder (vgl. Schröder 1994, 261 u. schen Bilder[n] des Hieronymus Bosch« analogisiert
268 f.). Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen und sie dadurch dem Grotesken zurechnet: »Doch das
Exil nahm Brecht im November 1947 zunächst Wohn- Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinn-
sitz bei Zürich, bevor er im Mai 1949 nach Ost-Berlin liches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt,
übersiedelte. Während dieser Zeit wurde er sowohl für das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genau so wie
Max Frisch als auch Dürrenmatt zum gleichermaßen unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht
bewunderten wie bekämpften Vorbild. Brechts epi- mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unse-
sches Theater, das sich gegen das sogenannte Illusi- re Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe exis-
onstheater richtet und mit dem Stilmittel der Ver- tiert: aus Furcht vor ihr« (62).
25  Die Physiker 105

Die Physiker liefern Jahre später das Exempel dazu. u. 49). Die künstlerische und intellektuelle Ausrich-
Gleichzeitig nimmt Dürrenmatt seine theatertheore­ tung der Pfauenbühne war wesentlich geprägt von
tischen Überlegungen auf und verdichtet diese in den Kurt Hirschfeld. 1933 als jüdischer Emigrant nach Zü-
21 Punkten zu den ›Physikern‹ gleichsam zu einem rich gekommen, arbeitete er zunächst als Dramaturg
Manifest. Als Dramatiker interessiere ihn nicht eine und Regisseur und übernahm 1961 die Direktion.
»These«, sondern eine »Geschichte«. Unausgespro- Hirschfeld förderte sowohl die Bühnenkarrieren von
chen distanziert er sich damit auch von den Lehrstü- Frisch als auch Dürrenmatt (vgl. Amrein 2013, 13–15
cken Brechts sowie der zur Tendenz erklärten Doku- u. 82–84). Die Zusammenarbeit erreichte in der Spiel-
mentarliteratur. Eine Geschichte wiederum funktio- zeit 1961/62 ihren Höhepunkt. Klug kalkulierend
niere nur, wenn sie zu »Ende gedacht« werde. Dieser setzte Hirschfeld in seiner ersten Saison nacheinander
Punkt sei erreicht, »wenn sie ihre schlimmstmögliche die Uraufführungen von Frischs Andorra und Dür-
Wendung genommen hat« (WA 7, 91). Kalkulierbar renmatts Die Physiker an. Er konnte damit einen sen-
ist dieses Ereignis nicht. Es tritt durch »Zufall« ein sationellen Erfolg verbuchen. Die Dramatiker festig-
und trifft jene »am schlimmsten«, die »[p]lanmäßig« ten ihren Weltruhm, während das Schauspielhaus
vorgehen. Sophokles’ Ödipus kann exemplarisch da- noch einmal ins Scheinwerferlicht der internationalen
für einstehen. Die Gegenläufigkeit von Plan und Zu- Theateröffentlichkeit rückte.
fall sei »grotesk«, nicht aber »sinnwidrig«, sondern ei- Die doppelte Uraufführung steigerte das Interesse
gentlich »paradox«, da sie mit Logik allein nicht zu an beiden Autoren und potenzierte die Wirkung zwei-
bewältigen wäre. Daraus schließt Dürrenmatt: »Ein er Werke, die sich inhaltlich und formal überraschend
Drama über die Physiker muß paradox sein«. Es darf nahe stehen. Während Frisch mit Andorra zum Zeit-
nicht den »Inhalt der Physik zum Ziele haben, son- punkt des international beobachteten Eichmann-Pro-
dern nur ihre Auswirkung« (92). Diese betrifft die zesses in Jerusalem den Antisemitismus auf die Bühne
ganze Menschheit, weshalb jeder »Versuch eines Ein- bringt, rekurriert Dürrenmatt auf die nicht minder
zelnen«, die dadurch entstehenden Probleme zu lö- präsente Debatte über die Atombombe. Die Bezug-
sen, zwingend zum Scheitern verurteilt ist. Das Fazit: nahme auf die zeitgenössische Aktualität in der Ge-
»Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit«, und um- schichte und Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs
gekehrt lasse sich daraus folgern: »Wer dem Parado- verleiht den Stücken Brisanz, sie erfolgt indes nicht im
xen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus«. Modus einer dokumentarischen Abbildästhetik, son-
Die Aufgabe des Dramatikers mithin bestehe darin, dern zielt auf überzeitliche Gültigkeit.
den Zuschauer dieser »Wirklichkeit auszusetzen«, Dürrenmatts Reflexion auf die Naturwissenschaf-
ohne ihn aber zu »zwingen, ihr standzuhalten oder sie ten in ihrer Verantwortung gegenüber der Gesell-
gar zu bewältigen« (93). Um eine lehrhafte Sentenz als schaft steht darüber hinaus im Dialog mit Zeitstücken,
Legitimation seines Schaffens kommt damit auch die in Zürich als Uraufführungen oder schweizerische
Dürrenmatt nicht herum. Erstaufführungen schon früh auf die Bühne kamen.
Dürrenmatts Theatertheorie verdankt sich in vie- Dazu zählen Brechts Leben des Galilei (1943) sowie
lem der Zusammenarbeit mit dem Zürcher Schau- Carl Zuckmayers Das kalte Licht (1955). Auf Dürren-
spielhaus, das nach 1933 zur wichtigsten deutschspra- matts Die Physiker folgte 1965 mit Heinar Kipphardts
chigen Exilbühne aufstieg. Während des Zweiten In der Sache J. Robert Oppenheimer die Inszenierung
Weltkriegs etablierte sich eine am Humanitätsideal des wohl umstrittensten Stücks über den Erfinder der
der deutschen Klassik orientierte Spielpraxis. Auf der Atombombe und dessen Verurteilung wegen illoyalen
Bühne sollte die Gegenposition zu einem Regime Verhaltens gegenüber der US-amerikanischen Regie-
sichtbar sein, das im Begriff war, die Grundwerte der rung. Auf diesen Prozess bezog sich bereits Zuckmay-
Zivilisation und jegliche Form von Humanität aus- er. Auch Jungk referierte den Fall in der oben genann-
zulöschen. Gezeigt wurden neben Klassikern auch ten Geschichte der Atomforschung. Kipphardt nun
zeitgenössische Werke, sofern sie modellhaft und pa- arbeitet mit den Mitteln des Dokumentartheaters, er
rabelhaft arbeiteten (vgl. Amrein 2007, 157–162). stützt sich auf Quellenmaterialien und historisch ver-
Auch Brecht passte mit seinem epischen Theater per- bürgte Fakten. Das Schauspielhaus zeigte sein auf-
fekt in diese Konzeption. Als Referenzstück indes galt sehenerregendes Werk als Konzession an die aktuelle
Thornton Wilders Unsere kleine Stadt, 1939 in Zürich Debatte, äußerte indes große Vorbehalte gegenüber
als deutschsprachige Erstaufführung gezeigt, auf das der Form des szenischen Berichts, wie Kipphardt sein
sich auch Dürrenmatt explizit bezieht (vgl. WA 30, 44 Stück im Untertitel nannte.
106 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

Dürrenmatts Komödie verfährt hier radikal an- ›Heller als tausend Sonnen‹. Zu einem Buch von Robert
ders. Die Präferenzen sind in der normativen Ästhe- Jungk. In: WA 34, 20–24.
tik des Schauspielhauses eindeutig und werden über Theaterprobleme. In: WA 30, 31–72.
Turmbau. Stoffe IV–IX. WA 29.
Zürich hinaus geteilt. Seine Favoritenrolle ist unbe- Gottwald, Benjamin: Die Physiker. Eine Graphic Novel.
stritten. Damit ist ein wichtiger Faktor in der Erfolgs- Frankfurt a. M., Wien, Zürich 2018.
geschichte der Physiker benannt. Hinzu kommt, dass
das parabelhafte Stück in seinem überzeitlichen An- Sekundärliteratur
spruch auf vielfältige Kontexte übertragbar ist. Nach Amrein, Ursula: Das Groteske als Existenzchiffre der
Moderne. In: Das Groteske – Le grotesque – The grotes-
der Uraufführung in Zürich gehörten Die Physiker zu
que. Colloquium Helveticum 35 (2004), 243–266.
den meistgespielten Stücken auf den deutschsprachi- Amrein, Ursula: Ästhetik der Distanz. Klassik und Moderne
gen Bühnen, sie avancierten zum Welterfolg und in der Dramaturgie von Max Frisch und Friedrich Dür-
wurden auch verfilmt (WA 7, 94 f.; vgl. Probst/Zim- renmatt. In: Dies.: Phantasma Moderne. Die literarische
merli 2001). Die wissenschaftliche Auseinanderset- Schweiz 1880 bis 1950. Zürich 2007, 149–166.
zung mit dem Stück erfolgt primär in Zusammen- Amrein, Ursula: irritation | theater. Max Frisch und das
Schauspielhaus Zürich. Zürich 2013.
hang mit Dürrenmatts dramatischem Schaffen ins- Schröder, Jürgen: Das Jahrzehnt Frischs und Dürrenmatts.
gesamt. Themenschwerpunkte bilden Fragen zur Parabeltheater aus der Schweizer Loge. In: Wilfried Bar-
Textgenese, zur Verortung in der Nachkriegszeit so- ner u. a. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von
wie zur Entwicklung der Atomphysik. Hinzu kom- 1945 bis zur Gegenwart. München 1994, 260–269.
men Überlegungen zur Intertextualität (spezifisch die Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker
[1979]. 11. Aufl. Frankfurt a. M. 1999.
Beschäftigung mit Brecht) sowie zur Komödientheo-
Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Apokalypti-
rie. Bis heute gehört die Komödie zum schulischen sches Narrenspiel. In: Interpretationen. Dramen des
Lektürekanon (Payrhuber 2019). Am Schauspielhaus 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, Bd. 2, 109–125.
Zürich waren Die Physiker zuletzt 2013 in der Insze- Payrhuber, Franz-Josef: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker.
nierung von Herbert Fritsch zu sehen. Dietzingen 2019.
Profitlich, Ulrich (Hg.): Komödientheorie. Texte und Kom-
Literatur mentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek bei
Primärtexte Hamburg 1998.
21 Punkte zu den ›Physikern‹. In: WA 7, 91–93. Probst, Rudolf/Zimmerli, Beat: Friedrich Dürrenmatt: Die
Anmerkungen zur Komödie. In: WA 30, 20–25. Physiker. Multimediale Dokumentation zum Text, zur
Die Physiker. Komödie in 2 Akten. Zürich 1962. Entstehung und zur Wirkungsgeschichte. Bern 2001.
Die Physiker. WA 7, 9–87. Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Gedenkrede auf Kurt Hirschfeld. In: WA 30, 121–123. Zürich 2020.

Ursula Amrein
26  Herkules und der Stall des Augias 107

26 Herkules und der Stall des Augias annimmt, sich zur Tilgung der Schulden als Hetäre zu
prostituieren (vgl. WA 8, 22 f. u. 52). Anders als im My-
Entstehungs-, Publikations- und Auf- thos ist es dabei weniger die physische Unmöglichkeit
führungsgeschichte der Aufgabe (dort müssen die gigantischen Ställe be-
kanntlich binnen eines Tages ausgemistet werden), die
Herkules und der Stall des Augias existiert in mehreren in der Adaption Dürrenmatts das zentrale Motiv aus-
Varianten. Ein Entwurf zum Hörspiel (Erstabdruck im macht, als vielmehr Herkules’ Scheitern an der elischen
Programmheft der Uraufführung, Wiederabdruck in Bürokratie. Die dem Mythos entstammende Umset-
WA 8, 175–178) entstand 1953, das Hörspiel selbst zung des Plans, die Flüsse Alpheios und Peneios zu
dann 1954. Noch im gleichen Jahr wurde dieses vom stauen, um den Mist ins Meer zu spülen (vgl. 59), be-
Nordwestdeutschen Rundfunk erstmals gesendet (R.: darf zunächst der »Genehmigung des Wasseramtes«
Gert Westphal), am 20.10. von Radio Bern übernom- (64), dann der Bewilligungen des Fremden- und Ar-
men und vom Zürcher Arche Verlag [m]it Randnoti- beits-, des Tiefbau,- des Finanz-, ja selbst des Mistamts
zen eines Kugelschreibers erstmals verlegt; eine Neu- (vgl. 71). Was das Drama strukturell wie inhaltlich aus-
ausgabe folgte 1960 im gleichen Verlag. 1957 brachte zeichnet, ist ein Moment des Ver- und Aufschiebens:
die Deutsche Grammophon Gesellschaft eine von strukturell insofern, als dass drei Bilder verstreichen,
Dürrenmatt mit einer Kurzfassung des Hörspiels be- bevor Herkules überhaupt in Elis eintrifft, und die Ein-
sprochene Schallplatte heraus. Die Bühnenfassung des heit der Zeit durch Anachronismen aufgebrochen wird
Stücks wiederum entstand 1962. Ihre überwiegend (bereits im fünften Bild wird der Tod des Herkules in-
negativ aufgenommene Uraufführung erlebte sie am szeniert); inhaltlich in Form eben jener Verkettung bü-
20.4.1963 am Zürcher Schauspielhaus (R.: Leonard rokratischer Vorgaben. Die Herkulestat wandelt sich so
Steckel). Die Kritiken veranlassten den Autor, den in einen »Mythos des Scheiterns des Einzelkämpfers
Text zunächst für die gleiche Inszenierung, anschlie- an den strukturellen Missständen« (Weber 2006, 104):
ßend auch für die Buchausgabe mit dem Untertitel Seiner Heldenrolle überdrüssig (vgl. WA 8, 49), selbst
Eine Komödie in 15 Bildern zu überarbeiten, die 1963 seiner Geliebten ratend, Phyleus, den Sohn des Augias’,
in zwei Versionen im Arche Verlag erschien: einerseits an seiner statt zu heiraten (vgl. 81), reist der Heros zu-
mit Zeichnungen Dürrenmatts versehen und auf dem letzt unverrichteter Dinge ab, um sich den stympha-
Umschlag als Festspiel untertitelt, andererseits im lischen Vögeln zu widmen (vgl. 111). Der mythologi-
Sammelband Komödien II und Frühe Stücke erweitert sche Augiasstall wird lesbar als metaphorischer Au-
um den abschließenden Chor der Parlamentarier. Die giasstall der Politik, als das »Gesichtslose, Unüber-
Bühnenfassung wurde selten gespielt; Erstaufführun- schaubare moderner Macht- und Finanzstrukturen«
gen fanden 1963 in Plzni (R.: Jan Fisner), 1966 in (Weber 2006, 104), als Bürokratie einer Politik, die in
Dortmund (R.: Rolf Schneider), 1967 in Vincennes ihrer »Nabelschau« das Totalversagen des Staates zeigt
bei Paris (R.: Patrick Antoine) und 1972 in London (Tegelkamp 2013, 32). Bezeichnend, dass Elis demo-
(R.: Frederick Proud) statt. 1980 erschien die Komö- kratisch organisiert, König Augias eigentlich nur Parla-
die in der WA in ihrer »Endfassung«, ihrer »literarisch mentspräsident ist (vgl. WA 8, 28); dass der Große Na-
gültigen« Form (8). Diese wurde am 2.5.1991 in ge- tionale Rat sich als unfähig erweist, das beschlossene
kürzter Version anlässlich der 700-Jahr-Feierlichkei- Ausmisten auch umsetzen zu lassen – allein im zwölf-
ten der Schweiz durch Lukas Leuenberger im Natio- ten Bild verhandelt er die Bildung einer ›Kommission‹,
nalratssaal des Bundeshauses in Bern inszeniert und einer ›Gegenkommission‹ und einer ›Zwischenkom-
live im Schweizer Fernsehen übertragen. mission‹, um die kulturellen, wirtschaftlichen und mi-
litärischen Folgen des Ausmistens zu prüfen (vgl. 92–
98) –; dass schließlich die Statue der Eleutheria, der
Inhalt und Analyse Göttin der Freiheit, gemäß den Regieanweisungen zum
Bühnenbild »während der Handlung allmählich ver-
Bereits der Titel des Dramas verweist auf die parodierte sinkt« (11).
oder travestierte (vgl. Steinberger 1991, 48) mythologi- Ist in der Hörspielfassung noch ein positiver Aus-
sche Folie: die fünfte der zwölf Herkulesarbeiten des gang für Elis angedeutet – der Mist wird zu Humus,
Dodekathlos. Zweifellos eine ehrlose Aufgabe, die der auf dem ein Garten entsteht, der künftig wohl von
Herkules des Stücks auch nur aufgrund seiner Insol- Phyleus bewirtschaftet werden wird (vgl. WA 8, 225 f.)
venz und der Androhung seiner Geliebten Deianeira –, verweist die Bühnenfassung eher auf einen kata-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_26
108 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

strophalen Ausgang. Zwar gibt es den Garten, doch nerationen hinweg« (Große 1998, 118) noch möglich
wird Phyleus Deianeira, die ihn am Traualtar stehen sein könnten: »Die Chance«, so Dürrenmatt in Vom
lässt (vgl. ebd., 111), nachreisen, Herkules herausfor- Sinn der Dichtung in unserer Zeit, »liegt allein noch
dern und im Zweikampf sterben (vgl. 38 u. 116). beim Einzelnen« (WA 32, 67; vgl. Schu 2008, 137).
Sind die abweichenden Enden von Hörspiel- und
Bühnenfassung das Resultat von Dürrenmatts Be-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung obachtung, dass sich die Welt in den die Textvarianten
trennenden Jahren nicht geändert hat (vgl. Whitton
Die angedeutete politische Dimension des Dramas ist 1990, 127)? Das muss hier unentschieden bleiben.
– ungeachtet bestehender Unklarheiten, wofür der
Mist tatsächlich steht (vgl. Arnold 1986, 81; Knapp Literatur
Primärtexte
1993, 98) – alsbald von der Forschung erkannt und bis Herkules und der Stall des Augias [Hörspiel]. Mit Randnoti-
in die jüngste Zeit betont worden: Es handle sich um zen eines Kugelschreibers. Zürich 1954.
ein »sehr schweizerisches Stück« (Brock-Sulzer 1971, Herkules und der Stall des Augias. Eine Komödie. Zürich
35), ein »Stück über die Schweiz bzw. die Schweizer« 1963.
(Große 1998, 113; vgl. Whitton 1990, 67), um eine Herkules und der Stall des Augias. Eine Komödie. Neufas-
sung 1980. In: WA 8, 9–117.
»ironische Kritik an den Mängeln des politischen Sys-
[Gespräch mit] Andreas Conrad [1983]. In: G 3, 168–194.
tems der Schweiz und verwandter direkter und par-
lamentarischer Demokratien« (Weber 2006, 104; vgl. Sekundärliteratur
Knapp 1993, 97). Tatsächlich lässt sich das 1963 iro- Arnold, Armin: Friedrich Dürrenmatt [1969]. Berlin 1986.
nisch als Festspiel untertitelte Stück in die Schweizer Brock-Sulzer, Elisabeth: Dürrenmatt in unserer Zeit. Eine
Tradition des Volkstheaters und der theatralischen Werkinterpretation nach Selbstzeugnissen. Basel 1968.
Große, Wilhelm: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1998.
Selbstdarstellung des Landes einreihen, die ihren Hö-
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
hepunkt in der ›Geistigen Landesverteidigung‹ wäh- Weimar 1993.
rend der NS-Zeit erreichte: ein Anti-Festspiel gewis- Schu, Sabine: »Das Prinzip Hoffnung als denkfaule Schlam-
sermaßen. Ist das Stück Ausdruck einer »kulturpessi- perei«? Das Aufscheinen utopischer Tendenzen in Dür-
mistische[n] Einstellung« (Usmiani 1976, 132)? Nicht renmatts Hörspielen Herkules und der Stall des Augias und
unbedingt. Wie Dürrenmatt bekannt hat, ist der Mist Das Unternehmen der Wega. In: Zeitschrift für Literatur-
wissenschaft und Linguistik 38 (2008), 150, 131–144.
auch ein »Fruchtbarkeitssymbol« (G 3, 181). Und ge- Steinberger, Martina: Das Antike-Bild Friedrich Dürren-
wiss ist Herkules »Sinnbild eines unzeitgemäßen He- matts. Unv. Diss. Universität Salzburg 1991.
roentums« (Weber 2006, 104) und Augias kein »Revo- Tegelkamp, Martin W. J.: Recht und Gerechtigkeit in Dür-
lutionär« (WA 8, 72), der eine blitzartige Veränderung renmatts Dramen und Prosa. Baden-Baden 2013.
bewirken könnte; Letzterem aber scheint es zu gelin- Usmiani, Renate: Die Hörspiele Friedrich Dürrenmatts.
Unerkannte Meisterwerke. In: Gerhard P. Knapp (Hg.):
gen, »im kleinen das beste« zu leisten (Arnold 1986,
Friedrich Dürrenmatt. Studien zu seinem Werk. Heidel-
81): Sein Garten wird – ähnlich demjenigen aus Vol- berg 1976.
taires Candide – zum Zeichen der Selbstbescheidung, Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
der Absage an hochtrabende Ideologien und politische Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
Würfe (vgl. Große 1998, 118), zum Verweis auf die Whitton, Kenneth S.: Dürrenmatt. Reinterpretation in
»kleinen, hoffnungsvollen und aussichtsreichen Ver- Retrospect. New York, Oxford, München 1990.
änderungen« (Schu 2008, 137), die allenfalls »über Ge- Benjamin Thimm
27  Der Meteor 109

27 Der Meteor richtet sich Schwitter im Bett auf und ruft nach seiner
wiederholten Auferstehung verzweifelt und bevor die
Entstehungs-, Publikations- und Auf- Posaune der Heilsarmee zur letzten Strophe des Lie-
führungsgeschichte des Morgenglanz der Ewigkeit ansetzt: »Wann krepiere
ich denn endlich!« (WA 9, 165). In der zweiten Fas-
Die Idee dieser Komödie in zwei Akten beschäftigte sung erwürgt Schwitter vor seinem Verzweiflungsruf
Dürrenmatt seit den späten 1950er Jahren. Am den Heilsarmeemajor Friedli, bleibt aber nicht liegen
30.12.1963 schrieb er: »Ich werde ein neues Stück und läuft hinaus (vgl. ebd., 95). Dürrenmatts Kom-
schreiben. Das Thema: der Tod« (WA 9, 159). Im Mit- mentar auf die Frage, ob das nicht gerade der entschei-
telpunkt stehe ein sterbender Mensch von heute. Das dende Punkt sei: »Sein Fortrennen ist der Lauf in die
Bewusstsein des nahen Todes verleihe ihm eine un- Welt, in das Leben hinein. Allein dieses Hinauslaufen
geheure Kraft, sein Individualismus übersteigere sich, kennzeichnet die Neufassung, gegenüber der stati-
und jede gesellschaftliche Bindung falle dahin. Nihi- schen Lösung der Unbeweglichkeit in Zürich« (SLA-
lismus sei, wie er zeigen wolle, keine Lehre, sondern FD-D-11-MET-08, 24).
eine Haltung des Menschen. Der Meteor heiße das
Stück. Am 20.1.1966 wurde es am Zürcher Schauspiel-
haus unter der Regie Leopold Lindtbergs mit Leonard Inhalt und Analyse
Steckel in der Rolle Wolfgang Schwitters – des Ster-
benden – uraufgeführt. Eine erste, Steckel gewidmete, Die Hauptperson des Stücks – der frühere Maler und
leicht überarbeitete Druckfassung erschien 1966 im nun Literatur-Nobelpreisträger Schwitter –, kommt,
Arche Verlag. Es folgten u. a. Aufführungen in Ham- während am Radio sein Tod mitgeteilt wird, in sein
burg, München, London und Warschau (1966), Tel früheres Atelier zurück, das nun von dem wenig talen-
Aviv (1967) und Philadelphia (1969). Eine unter der tierten Maler Nyffenschwander und seiner als Modell
Filmregie von Ettore Cella vom Deutschschweizer wirkenden Frau Auguste bewohnt wird. Er übergibt
Fernsehen produzierte Aufzeichnung der Urauffüh- dem Maler seine letzten Manuskripte und sein Ver-
rung wurde am 24.10.1967 erstmals gesendet. Dür- mögen in Tausendernoten und heißt ihn, alles zu ver-
renmatt revidierte den Text der Erstausgabe für seine brennen. Dann legt er sich zum Sterben nieder, erlebt
eigene Inszenierung des Stücks in Wien 1978 (sog. aber immer wieder die von ihm verfluchte Auferste-
›Wiener Ausgabe‹), und zwar vor allem den Schluss. hung. Während er bis zum Schluss überlebt, sterben
Diese zweite Fassung wurde für die Werkausgabe 1980 schließlich alle, die in Schwitters Sterben geraten. Der
nochmals überarbeitet. Pfarrer, der am Sonntag die Auferstehung und das Le-
Für eine öffentliche Diskussion im Schauspielhaus ben predigt, stirbt an Herzversagen, überwältigt vom
Zürich am 25.2.1966 schrieb der Autor Zwanzig Punk- Wunder der Auferstehung Schwitters. Den großen
te zum ›Meteor‹ (WA 9, 159–162), in denen er seine Muheim, den Unternehmer, der sich rühmt, aus Liebe
Idee und sein Verhältnis zur Kritik des Stücks erläu- zu seiner Frau im Konkurrenzkampf der Gemeinste
tert. Dessen Idee sei die Geschichte eines Mannes, der zu sein, weil nur der Gemeinste siege, zerstört die Ei-
auferstehe, an das Wunder seiner Auferstehung aber fersucht: der bloße Verdacht, Schwitter hätte mit sei-
nicht glaube. Er sei ein doppeltes Ärgernis: für die Ei- ner Frau geschlafen. Statt Schwitter tötet er den von
nen als Auferstandener, für die Anderen als nicht Schwitter betrogenen Nyffenschwander und wird als
Glaubender. Deshalb sei er ein paradoxer Mensch – Mörder verhaftet. Nyffenschwander malte unaufhör-
tragisch und komisch zugleich –, aber nicht so, dass lich seine schöne nackte Frau und glaubte, so das Le-
sich das Tragische und das Komische aufheben wür- ben zu malen. Aber er versäumte es, mit seiner Frau zu
den, sondern so, dass sie sich schroff gegenüberstün- leben. Schwitter aber schläft mit ihr und meint: »Ihre
den. Deshalb sei Der Meteor ein »wildes Stück« (160). Frau war tot in Ihren Armen, wie sie tot in Ihren Bil-
Ursprünglich hätte das Christentum an die verheiße- dern ist« (WA 9, 62). Der Arzt, Professor Schlatter, hat
ne Auferstehung im Jüngsten Gericht geglaubt; heute seinerzeit Schwitter für tot erklärt, nun halten ihn die
aber stünde in Frage, ob die Christenheit das wirklich Einen für verblödet, die Andern für von Gott zum
noch glaube. Narren gehalten. Schwitter vermag zwar den Anlass
Im Programmheft der Wiener Aufführung (1978) dafür zu schaffen, dass andere über der Einsicht zu-
beantwortet Dürrenmatt die Frage nach den Verände- sammenbrechen, ihr Leben sei eine Lüge gewesen.
rungen in der zweiten Fassung. In der ersten Fassung Doch auch er selbst unterliegt als Künstler demselben

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_27
110 II Schriftstellerisches Werk – F Tragische Komödien

Schicksal: »Vor der ungeheuerlichen Unordnung der ßendste zugleich, unter seinen Stücken »das attraktiv
Dinge kerkerte ich mich in ein Hirngespinst aus Ver- widerwärtigste, lustigste und beste«. Obwohl der Au-
nunft und Logik ein. Ich umstellte mich mit erfunde- tor mit dem Auftritt der Abortfrau Nomsen »die letz-
nen Geschöpfen, weil ich mich mit wirklichen nicht ten Grenzen des geschmacklich Möglichen einzurei-
abgeben konnte, denn die Wirklichkeit ist nicht am ßen« suche, genießt er offensichtlich »Dürrenmatts
Schreibtisch faßbar« (91). Er sagt dies zu seiner Rache an seinen Figuren« und spricht von ›gelungener
Schwiegermutter, der Mutter seiner vierten Frau, der Blasphemie‹. Er lobt trotz jenen, »denen der Jux mit
Abortfrau Nomsen. Sie ist noch radikaler auf das Ge- dem Tode, denen das schwarz grundierte Trubelspiel
schäft fixiert als der große Muheim, der wenigstens mit dem verhinderten Sterben über die Hutschnur des
das Gefühl der Liebe kennt. Sie meint, Gefühle hätte Erträglichen ging«, Steckels »artistische Kraft« (ebd.).
man nicht zu haben, es sei denn, man mache ein Ge- Wie Luft bezeugt Elisabeth Brock-Sulzer in der Tat
schäft mit ihnen. Frau Nomsen hat ihre Tochter Olga vom 23.1.1966 »den Eindruck eines überwältigenden
in diesem Sinn erzogen, als Call-Girl. Doch trotz ihrer Theatergeschehens«. Sie teilt aber dessen Urteil über
Warnungen hätte sie Schwitter geliebt und geheiratet, Dürrenmatts Figuren als Objekte seines Spotts nicht,
und nun hätten sie beide ihr Kind zu beklagen, das sondern betont, dieser habe weder den Pfarrer noch
sich aus Liebe umgebracht hätte. »Wissen sie warum?« die Heilsarmee lächerlich machen wollen. Sie weist
fragt sie Schwitter. »Weil sich Olga Gefühle leistete, auch die Vermutung zurück, der Autor habe sich in
ich warnte sie immer davor, doch einer Mutter Wort der Figur des Nobelpreisträgers Schwitter selbst gese-
schlägt man in den Wind« (89). Schwitter erwidert, er hen, differenziert aber diese These, wenn sie lobt: »Es
wolle sich weder rechtfertigen noch beschuldigen. Er ist, als ob Dürrenmatt in einem verwegenen Balan-
verzichte auf Geschmacklosigkeiten wie Schuld, Süh- ceakt versucht hätte, die Gestalt des um seinen Tod ge-
ne, Gnade, Liebe, »die erhabenen Ausreden und Be- prellten Literaten sich selber gerade soweit anzunä-
gründungen, die der Mensch für seine Ordnungen hern, wie es braucht, um umso stärker den Gegen-
und Raubzüge braucht« (90). Frau Nomsen schweigt stoß« zu führen. Ihr Schluss über den Meteor bleibt
und stirbt. Zuletzt gerät auch Schwitters Sohn Jochen aktuell, wenn sie sagt, wir seien noch lange nicht am
in den Strudel des Todes. Er wurde von Schwitters Ende »mit seinen Rätseln und seinem gefährlichen
Verleger Koppe aufgeklärt, die Bücher seines Vaters Leuchten« (ebd.).
seien aus der Mode gekommen, die Welt wolle harte Max Frisch hatte den Entwurf des Meteor gelesen
Tatsachen, Dokumente, nicht Unterhaltung. Er hätte und dem Freund geschrieben, er käme ihm vorerst wie
nicht viel gewollt, nur seines Vaters Vermögen, doch eine Flaschenpost vor, eine »Standortmeldung von ei-
das hätte dieser mit einigen Streichhölzern erledigt. nem Freund, den man zuletzt auf einem robusten
Mit den Worten »Es ist aus mit der Schwitterei« (94) Kahn gesehen hat, und es tönt nach grimmiger See-
bricht Jochen zusammen, und Major Friedli kommt not« (Frisch/Dürrenmatt 1998, 159). Das Stück sei na-
mit der Heilsarmee zur Begrüßung des Auferstande- he an dem Punkt, wo einer nur noch schweige. – Stellt
nen ins Atelier. Der Meteor nicht alles in Frage? Verschiedene Deutun-
gen widersprechen sich, weil sie die Perspektive des
Autors nicht von den Perspektiven seiner Figuren un-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung terscheiden. Wegen der Nähe zur Auferstehung durch
Christus – im Entwurf hatte Dürrenmatt noch Lazarus
Die Uraufführung war dank des verblüffenden Ein- genannt – haben kritische Stimmen dem Autor Blas-
falls des Autors, seiner optischen Fantasie, der artisti- phemie vorgeworfen und Schwitter als unwürdige Fi-
schen Vitalität des Hauptdarstellers Steckel und der gur betrachtet. Jan Knopf wendet sich sowohl gegen ei-
Regie Leopold Lindtbergs, der das symbolische Poten- ne Interpretation als theologische Komödie, »als ein
tial der Requisiten optimal zu nutzen verstand, ein Stück, das insgeheim einen christlichen Lehrsatz um-
großer Erfolg. Obgleich schon die ersten Kritiken eine setzt«, wie gegen die Antithese, welche behaupte, »daß
Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten in Betracht zo- das Stück mit seinen Blasphemien den christlichen
gen, waren sie sich nur einig über den Rätselcharakter Gehalt unterlaufe und parodiere« (Knopf 1987, 121).
des Stücks, nicht aber über dessen Sinn und Bedeu- Offensichtlich aber stellt das grotesk-komische Spiel
tung. Unter Dürrenmatts Inventionen sei Der Meteor, Schwitters den konventionellen kirchlichen Glauben
schreibt Friedrich Luft in der Welt vom 22.1.1966 be- in Frage. Offen aber bleibt, ob – wie im ersten Schluss
geistert aber ambivalent, das eingängigste und absto- des Stücks – eine Möglichkeit des Glaubens der Heils-
27  Der Meteor 111

armee überlebt oder ob, wie im zweiten Schluss, da Kritik und betonte, dass es nicht nur um Schwitters
Major Friedli durch Schwitters Hand stirbt, auch diese Fall, sondern auch um seinen eigenen, des Autors Fall
Möglichkeit entfällt. Auf jeden Fall »ist der Auferstan- und um den Fall der Unordnung der Welt gehe, so
dene, der nicht an seine Auferstehung glaubt«, für dass er sich selbst nicht als schuldloser Beobachter,
Dürrenmatt bewusst »eine Gestalt, die die heutige sondern als Mitangeklagter sehe (handschriftl. Brief-
Christenheit versinnbildlicht« (WA 9, 161). entwurf in SLA-FD-A-m249_X). Und wenn es in den
Offensichtlich fällt es der Forschung schwer, den Zwanzig Punkten heißt, Der Meteor sei »ein Stück über
Doppelcharakter Schwitters als Mensch und als das Nicht-glauben-Können« (161), so weist das auf
Künstler zu verstehen. Er kann als Mensch nicht ster- wichtige Wandlungen in Dürrenmatts Selbst- und
ben, weil er nicht gelebt und geliebt hat. Er wurde zwar Dichtungsverständnis hin.
von zwei Frauen geliebt, von Auguste und von Olga,
seiner vierten Frau. Er hat zwar seine Frauen genos- Literatur
Primärtexte, Quellen
sen, aber er liebte sie nicht. Auch als Künstler hat er Der Meteor. Eine Komödie in zwei Akten. Zürich 1966.
versagt und nicht gelebt, weil er sich nur mit erfunde- Der Meteor. Eine Komödie in zwei Akten. Wiener Fassung
nen, nicht mit wirklichen Geschöpfen, weil er sich 1978. In: WA 9, 9–95.
nicht mit »der ungeheuerlichen Unordnung der Din- Programmheft Wiener Aufführung. Theater in der Josef-
ge« befasst hat (WA 9, 91). Dies rechtfertigt aber die stadt. Schweizerisches Literaturarchiv, Sig. SLA-FD-D-11-
MET-08, 23–26.
These Knapps nicht, diese Komödie würde »zur Ma-
Handschriftlicher Briefentwurf. Schweizerisches Literatur-
nier, zur rein artistischen Beschreibung einer zwi- archiv, Sig. SLA-FD-A-m249_X.
schen Chaos und Kloake hin und her gezerrten Welt«,
der mit theatralischen Gegenprojektionen nicht mehr Sekundärliteratur
zu helfen sei (Knapp 1993, 102). Schwitters Sohn trifft Brock-Sulzer, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt. Der Meteor.
mit seiner Parole »Der Schriftsteller engagiert sich In: Die Tat, 23.1.1966.
Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
oder wird überflüssig« (WA 9, 92) eine damals aktuel-
Weimar 1993, 99–103.
le Problematik des Theaters und der Kunst (Bertolt Knopf, Jan: Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. Berlin
Brecht, Peter Weiss), mit der sich Dürrenmatt kritisch 1987, 117–127
beschäftigt, aber nicht identifiziert hat. Luft, Friedrich: Von einem, der nicht sterben konnte. In: Die
Obschon Schwitter sich auch mitschuldig fühlt an Welt, 22.1.1966.
der Unordnung der Welt und sich gerade deshalb von Rüedi, Peter (Hg.): Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt Brief-
wechsel. Zürich 1998.
ihr abwendet, ist er doch nach der Intention Dürren- Scheid, Judith R.: Poetic and Philosophical Einfall. Aristo-
matts der radikale Egoist und Nihilist ohne gesell- phanes’ and Hegel’s Influences on Dürrenmatt’s Theory of
schaftliche Bindung (vgl. WA 9, 159). »Sterben ist die Comic Action and on His Comedy Der Meteor. In: Semi-
letztmögliche Vereinzelung« (WA 9, 162), sagt Dür- nar 15 (1979), 128–142.
renmatt in seinen Zwanzig Punkten. Der Autor ist Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006,
zwar mit keiner Perspektive seiner Figuren zu ver-
47–49.
wechseln. Trotzdem distanzierte sich Dürrenmatt in
einer öffentlichen Diskussion von moralisierender Peter Rusterholz / Pierre Bühler
G Dramenbearbeitungen und Regie

28 Bearbeitungen eigener Werke Die Wiedertäufer. Eine Komödie in zwei


Teilen (1967)
Dürrenmatt ist kein Autor, der seinen Texten statuari-
sche Letztgültigkeit zugedacht hätte. Seine Schriften Die Komödie Die Wiedertäufer feierte im Frühjahr
befinden sich im Gegenteil ständig ›im Fluss‹, oft auch 1967 am Schauspielhaus Zürich Premiere. Der Kom-
noch nach Veröffentlichung bzw. Uraufführung. Gera- mentar der Werkausgabe vermutet, dass Dürrenmatts
de seine Theaterstücke kommen kaum ohne zusätzli- Überarbeitung von der Anfrage des Zürcher Schau-
che Anmerkungen, Überlegungen und Kommentare spielhauses induziert wurde, das Stück zum zwanzigs-
aus, die sich teils aus der eigenen dramaturgischen Ar- ten Jahrestag der Uraufführung von Es steht geschrie-
beit, teils aus den Reaktionen des Publikums und der ben (in punktuell gleicher Besetzung) wiederauf-
Kritik speisen. Stets spiegeln die Varianten, Variatio- zunehmen (vgl. WA 1, 328). In jedem Fall wurde Dür-
nen und Überarbeitungen wider, dass die öffentlich- renmatt nach eigener Aussage von der Gelegenheit
keitswirksame Resonanz der Literatur für Dürrenmatt verlockt, »noch einmal das alte Spiel, bewußter jetzt,
durchaus im Zentrum stand. durchzuspielen« (WA 10, 137).
Als Ausdruck dieses fluiden und politischen Lite- Den beiden Fassungen ist mehr als die stoffliche
ratur- und Werkbegriffs sind auch die drei regelrech- Ausgangslage gemeinsam: Der Gottesstaat, den die
ten Umarbeitungen, Fortschreibungen und ironi­ Wiedertäufer 1534 im westfälischen Münster errich-
schen Selbstüberbietungen zu verstehen, die Dürren- teten und der bereits im Jahr darauf blutig nieder-
matt über Jahrzehnte, durch mehrere Werkphasen geschlagen wurde, wird in beiden Versionen nicht als
hindurch und über mehrere Medien- und Gattungs- Historiendrama verarbeitet, sondern als (relativ zufäl-
grenzen hinweg vorgenommen hat und die im Fol- lig ausgewählte) Episode eines Welttheaters, das den
genden im Zentrum stehen: Die Komödie Die Wieder- paradigmatischen Menschen in seiner ideologischen
täufer ist eine Neubearbeitung von Dürrenmatts skan- Befangenheit zeigt, in seinem durch und durch unver-
dalträchtigem Erstlingsdrama Es steht geschrieben. nünftigen Glauben an eine vernünftige Welt. Die For-
Der Stoff um Die Panne erfährt gar mehrere mediale schung identifiziert in den beiden »Variationen des-
Umsetzungen: 1955 als Erzählung verfasst, wird 1956, selben Themas« (Brock-Sulzer 1973, 168) als Haupt-
noch vor der Buchveröffentlichung, vom NDR ein themen Dürrenmatts Auseinandersetzung mit der
Hörspiel unter dem gleichen Titel gesendet. 1960 wird (Kierkegaardschen) Theologie (vgl. Wysling 1996, 22)
die Erzählung für den Broadway adaptiert (The Dead- sowie seine Beschäftigung mit dem Phänomen Hitler
ly Game), 1972 wird der Stoff als La più bella serata und dem Dritten Reich (vgl. Böschenstein 2012, 101).
della mia vita in einer italienisch-französischen Pro- Die auffälligsten Unterschiede zwischen Es steht ge-
duktion verfilmt, was Dürrenmatt veranlasst, 1979 ei- schrieben und Die Wiedertäufer betreffen neben der
ne eigene Komödie zu erarbeiten und uraufzuführen. stringenter durchgeführten Form den Umgang mit Il-
Die Komödie Dichterdämmerung von 1980 schließ- lusionsbrüchen und Verfremdungseffekten, die im
lich ist eine szenische Bearbeitung des frühen Hör- späteren Stück deutlich zugunsten einer Allegorie auf
spiels Abendstunde im Spätherbst. das (Welt-)Theater zurückgenommen werden. Dür-
renmatt rückt in seiner »seit dem Romulus vollzoge-
ne[n] Wendung zur Komödie« (Brock-Sulzer 1973,
162) eine Ebene der Reflexion über das Theater ins
Zentrum: Bockelson, der spätere ›König‹ des Täufer-
reichs, wird, indem er sich von Anfang an als Schau-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_28
28  Bearbeitungen eigener Werke 113

spieler zu erkennen gibt (vgl. WA 10, 18), als ein ahis- und künstlerisch unbefriedigenden Rollen, die zum
torischer »Schmierenkomödiant« (Brock-Sulzer 1973, Schluss des Stücks auftreten, hätten es nicht gerechtfer-
162) fokussiert, der die Fäden stets souverän in der tigt, die Schauspielerinnen und Schauspieler so lange
Hand hält und seinen religiösen Furor nur gezielt vor- warten zu lassen. »[W]ie Peer Schmidt, der die Rolle
spielt, um an die Macht zu kommen und in seinem des Alfredo Traps spielt, in den Sarg gekommen ist, aus
Spiel die Welt(-geschichte) als groteske Komödie zu dem er jetzt eben steigt, warum er da hineinkam, wird
entlarven. Anders als in Es steht geschrieben, wo er zu- das Spiel ohnehin zeigen« (WA 16, 78).
sammen mit seinem Gegenspieler Knipperdollinck Die Pointe dieses Vorgehens scheint in einer ähn-
gerädert wird, kommt Bockelson in Die Wiedertäufer lichen Volte zu bestehen, wie die früheren Fassungen
am Ende davon: »Ich stellte einen König dar / Und re- mit der Erzählbarkeit von ›noch möglichen‹ Ge-
zitierte komödiantisch einen Possentext / Durchsetzt schichten gespielt hatten. Analog dazu legt die analyti-
mit Bibelstellen und mit Träumen einer beßren Welt / sche, mit den katastrophischen Schluss beginnende
Die halt das Volk so träumt / [...] / Das Spiel ist aus, ihr Dramenform ein tragisches Deutungsschema nahe,
Fürsten ohnegleichen / Ich trug eure Maske bloß, ich das Dürrenmatts Komödie anschließend anhand ih-
war nicht euresgleichen« (WA 10, 118 f.). rer Hauptfigur dialektisch aufheben kann. Denn: »Die
Die theologische Perspektive, welche das Erstlings- Spielwelt dieser Komödie ist nicht determiniert: Traps
drama auch in sprachlich-stilistischer Hinsicht, in sei- erleidet kein Schicksal, sondern eine Panne« (65). Die
nem ostentativen »Nebeneinander von Bibelspruch simple Panne, das Missverständnis und der Unfall als
und Zote« (Allemann 1958, 420) dominiert hatte, tritt die zeitgemäße Form dessen, was ehemals als Schick-
damit insgesamt zugunsten von Dürrenmatts ›drama- salsmächte hätte gedeutet werden können, waren von
turgischem Denken‹ zurück (s. Kap. 87). In den Dra- Dürrenmatt in seinem ›dramaturgischen Denken‹
maturgischen Überlegungen zu den Wiedertäufern wiederholt pointiert worden. Traps, der sich nach er-
wird diese Wendung zur »Dramaturgie der Komödie littenem Autodefekt beim Gelage mit den pensionier-
als Welttheater« (WA 10, 133) als »ein Gleichnis, im- ten Juristen nur zu gerne mit dem ihm unterstellten
mer wieder neu zu erdenken« (136), anhand des Hel- Mord identifiziert, weil dies ihm erlaubt, die Rolle des
den Bockelson ausführlich reflektiert. tragischen Helden zu übernehmen, stellt geradezu ei-
nen Modellfall für diese Diagnose dar.
Nicht so sehr Gerechtigkeit als vielmehr der Begriff
Die Panne. Eine Komödie (1979) der Schuld steht in der Komödie im Zentrum, die da-
mit zum »Meta-Text der beiden früheren Fassungen«
Wohl auch wegen des Erfolgs der Erzählung Die Pan- (Utz 2013, 56) avanciert. In seinem Schlussplädoyer
ne. Eine noch mögliche Geschichte (1956) und des im charakterisiert der Verteidiger Kummer Traps als »ein
gleichen Jahr erstmals ausgestrahlten Hörspiels ent- Beispiel für viele«: zur Schuld unfähig und doch nicht
schloss sich Dürrenmatt 1979 zu einer Komödienfas- schuldlos, im Gegenteil »verstrickt in alle möglichen
sung in zwei Teilen (im Druck 1980). Auktoriale Arten von Schuld« (WA 16, 146). Anders als in den an-
Überlegungen zur Dramaturgie hatten schon die Er- deren beiden Fassungen erhält Traps in absurder Fei-
zählung eingeleitet, was konnte also näherliegen, als erlichkeit vom selbst nicht unschuldigen Gericht aus
den Stoff in tatsächlicher Komödienform auf die Büh- Pensionierten zwei Urteile: zunächst ein »metaphysi-
ne zu bringen? Für die Bühnenadaption nahm Dür- sches« Todesurteil (das ihn und das Gericht mit Stolz,
renmatt allerdings gewichtige Änderungen des zuvor ja »unbeschreibliche[r] Ehre« erfüllt) und hinterher,
nur an minimalen Stellen variierten Plots vor. juristisch, einen Freispruch, der ihn »fassungslos« zu­
Der auffälligste Eingriff besteht in einer komödian- rücklässt (162 f.). Traps wurde nämlich im Laufe des
tischen Umkehr (vgl. Bloch 1980, 205), nämlich darin, weinseligen Verfahrens, wie der Verteidiger sagt, als
dass im Schauspiel die Ereignisse um die Panne nicht Angeklagter »in einen allzu begreiflichen Größen-
chronologisch dargestellt werden, sondern das Stück wahn getrieben, in den Größenwahn des Jahrhunderts:
gleichsam mit der Schlussszene beginnt und den schuldig zu sein« (140). Doch »das Schicksal«, so be-
Selbstmord des Protagonisten Traps anschließend ana- gründet Richter Wucht, hat »die Bühne verlassen, und
lytisch vor den Augen der Zuschauerschaft entwickelt. an seine Stelle ist der Zufall getreten, die Panne« (162).
Der Schauspieler, der den Richter Wucht gibt, richtet Dass der schicksals- und bewusstseinslose Traps
sich nach der ersten Szene vor Traps’ Sarg an das Publi- trotzdem beharrlich auf seiner eigenen Schuldhaftig-
kum und erklärt diese Panne in Die Panne: Die kleinen keit besteht, ist nicht nur in seinem »Wunsch-Ver-
114 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

brecher-Ich« (Bloch 1980, 196) begründet, sondern Bühnenbildes, in dem sie sich bewegen, oder wegen
auch darin, dass er Justine verfällt, der Enkelin der unklaren Inszenierungspolitik zweier uneiniger
Wuchts. Die Figur der mannstollen Justine ist eine Regisseure und einer Vielzahl von Dramaturgen. Wo
»Ergänzung des Stoffes, die nun einmal die Bühne das Hörspiel allerdings mit dem Diktat eines neuen
erzwingt« (WA 16, 64), indem sie eine komödianti- Hörspiels des Autors schließt und damit an seinen An-
sche Nebenhandlung anstößt, welche Traps’ Identifi- fang zurückkehrt, belässt es die Komödie nicht bei die-
kation mit dem tragischen Helden zusätzlich moti- ser selbstreflexiven Volte: »Dürrenmatt hat einen neu-
viert. Denn auch dieser fragwürdigen Allegorie der en Schluß geschrieben« (143), verkündet auf der Büh-
Gerechtigkeit fühlt sich der Trunkene verpflichtet: ne eine junge Dame, die sich ebenfalls danach sehnt, in
»Nur als Mörder bin ich deiner würdig, Justine« die Weltliteratur einzugehen. Weil der Autor sich aber
(159). Es entspricht der von der Komödie selbst ver- weigert, sie umzubringen, sticht umgekehrt sie ihn nie-
mittelten Zeitdiagnose, dass auch die Selbsttötung der, worauf er röchelt: »Mein letztes Werk bleibt un-
Traps’ letzten Endes nicht als Sühne gelten darf, son- vollendet: die schlimmst-mögliche Wendung« (145).
dern als: »eine Panne« (73). Dürrenmatts Dichterdämmerung macht bei die-
sem komischen Selbstzitat und weiteren Allusionen
nicht Halt: Nicht nur, dass der Autor-Schauspieler, ge-
Dichterdämmerung. Eine Komödie (1980) nauso wie der tote Besucher sich quicklebendig wei-
terunterhalten, nicht nur, dass die gesamte Szene vom
Ebenfalls als eine »Mise-en-abîme« der tragischen Ka- Sekretär auf Band aufgenommen wurde (»die best-
tastrophe (Utz 2013, 59), die nicht mehr möglich ist, mögliche Wendung«, 147); aus einem vermeintlichen
weil das nachmoderne Welttheater Schuld nicht Aschenbecher entwickelt sich auch noch ein Schwar-
kennt, kann Dichterdämmerung von 1980 gelten, die zes Loch, das allmählich die gesamte Bühne mitsamt
szenische Bearbeitung von Dürrenmatts letztem Hör- ihren Akteurinnen und Akteuren verschluckt. Vor
spiel Abendstunde im Spätherbst. den schwarzen Vorhang tritt Oberst Macfire, eine
Text und Handlung der Komödie sind bis auf klei- ›gestrichene‹ Figur, die im Personenverzeichnis nicht
ne, sich auf die abstrakte Inszenierung selbst bezie- auftaucht, und hält eine apokalyptische Rede auf
hende Zusätze im Wesentlichen identisch zum Hör- den subventionierten Theaterbetrieb. Mit dem Schrei
spiel. Der Autor führt sich auch hier gleich selbst als »Weltuntergang, ahoi!« (154) fällt er in den Orches-
Hauptperson ein, bevor die eigentliche Handlung be- tergraben, nur um – in einer abermaligen Wendung
ginnt. Der Nobelpreisträger wird von einem Verehrer – dort die Leiche des einen Regisseurs zu entdecken;
in seinem mondänen Arbeitszimmer besucht, der, wie eine weitere Leiche, jene des Intendanten, wird unter
sich herausstellt, nicht nur das Werk ausgezeichnet der großen Trommel aufgefunden. Mit dieser Rück-
kennt, sondern in langjähriger Detektivarbeit auch kehr in die Farce endet das endlos in sich gewundene
herausgefunden hat, dass der Nobelpreisträger die 21 Ende von Dichterdämmerung. Der »mehrfach nach-
oder 22 Morde, die in seinen Romanen vorkommen, zündende[...] Schluss« macht eines deutlich: »Damit
allesamt tatsächlich verübt hat. Wider Erwarten be- scheint auch die ›Katastrophe‹ im ursprünglichen
streitet der Autor die ihm vorgeworfenen Taten nicht, Sinn des fünften Tragödienaktes endgültig unmög-
im Gegenteil: Mit einem gewissen Stolz gibt er alles zu lich geworden« (Utz 2013, 59).
und behauptet, die literarische Welt wisse längst Be-
scheid. Weil er auf der Suche nach einem neuen Stoff Literatur
Primärtexte
ist, bedroht er den Besucher mit einem Revolver: »Sie Abendstunde im Spätherbst. Ein Hörspiel. In: WA 9, 169–
gaben mir die Idee zu einem Theaterstück. [...] Durch 196.
mich werden Sie in die Weltliteratur eingehen [...]. Dichterdämmerung. Eine Komödie. In: WA 9, 97–156.
Das Stück, das ich über Ihre Ermordung schreiben Dramaturgische Überlegungen zu den Wiedertäufern. In:
werde, wird über alle Bühnen gehen« (WA 9, 138 f. vgl. WA 10, 127–137.
Es steht geschrieben. Ein Drama. In: WA 1, 9–148.
193 f.). Vor Angst stürzt sich der literaturkundige Be-
Die Panne. Ein Hörspiel. In: WA 16, 9–56.
sucher über den Balkon und stirbt als ein weiteres Op- Die Panne. Komödie. Zürich 1979.
fer des Autors. Die Panne. Eine Komödie. In: WA 16, 57–173.
In der Komödienfassung wird dieser Dialog immer Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. In: WA 21,
wieder dadurch durchbrochen, dass die Schauspieler 35–94.
aus der Rolle fallen – wegen des reichlich abstrakten Die Wiedertäufer. Eine Komödie. In: WA 10, 9–122.
28  Bearbeitungen eigener Werke 115

Sekundärliteratur spektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur.


Allemann, Beda: Dürrenmatt – Es steht geschrieben. In: München 2012, 101–106.
Benno von Wiese (Hg.): Das deutsche Drama. Düsseldorf Brock-Sulzer, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt. Stationen
1958, 415–432. seines Werkes [1960]. Zürich 1973.
Bloch, Peter André: Die Panne. Das Zuendedenken einer Utz, Peter: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Unter-
Idee. In: Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürrenmatt. gangsszenarien aus der Schweiz. München 2013.
Zürich 1980, 194–208. Wysling, Hans: Streifzüge. Literatur aus der deutschen
Böschenstein, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts erstes Stück Schweiz 1945–1991. Hg. von Hans-Rudolf Schärer und
Es steht geschrieben. Eine Skizze. In: Günter Butzer, Joa- Jean-Pierre Bünter. Zürich 1996.
chim Jacob (Hg.): Berührungen. Komparatistische Per-
Simon Aeberhard
116 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

29 Shakespeare-Bearbeitungen als Johann Ohneland, war der jüngste Sohn Eleonores


von Aquitanien und Heinrichs II. von England. Er be-
Die Hauptwerke Shakespeares, die schon seit dem stieg den englischen Thron 1199 nach dem Tod seines
Sturm und Drang im Zentrum der Entwicklung zu ei- Bruders Richard Löwenherz. Im britischen Verständ-
ner eigenständigen Bühne in den deutschsprachigen nis erinnert man sich an ihn als einen der schlechtes-
Gebieten gestanden hatten, gehörten auch für Dür- ten Könige Englands, vor allem im Rahmen der Robin
renmatt zum festen Repertoire. Doch ein direkter Zu- Hood-Legenden. Das herausragende Ereignis seiner
griff auf das Gesamtkorpus fand erst in Verbindung Herrschaft war die Magna Charta, die Johann 1215 un-
mit dem Basler Theaterprojekt (1967–1969) statt, als terschreiben musste, um die rebellierenden Barone zu
Dürrenmatt mit Werner Düggelin die Leitung des besänftigen. Dieses Dokument, das den Handlungs-
Theaters Basel übernahm in der Hoffnung, dort einen spielraum des Königs stark begrenzte, gilt den Briten
eigenen Wirkungsraum zu entfalten. Er suchte nach heute als Beginn der Machtbeschneidung der Monar-
einem eigenen Repertoire an Stücken, die seine Vision chie und somit ihrer konstitutionellen Ordnung.
von der Funktion des Theaters tragen konnten und auf Shakespeare erwähnt dieses Ereignis jedoch nicht,
die aktuelle Zeitlage antworteten. Es sei »sinnlos« die vielleicht weil sich Königin Elisabeth daran gestoßen
Hauptwerke Shakespeares umzuarbeiten. Die weniger hätte. Der Dramatiker setzt den Akzent eher auf die
bekannten Dramen erschienen ihm teils unbefriedi- Themen, die auch seine Zeit bewegten, vor allem die
gend, doch vielleicht gerade deswegen erkannte er in Frage der Legitimität. Johanns Anspruch auf den
ihnen »mehr Rohstoff für Stücke als Stücke« (WA 11, Thron war ebenso fragwürdig wie der Elisabeths, und
212). Dass Shakespeare selbst seine Stoffe früheren beide versuchten, sich ihrer Nebenbuhler zu entledi-
Texten entnahm, galt Dürrenmatt als Legitimation, gen (Arthur bzw. Maria Stuart). Die drohende Invasion
»meine Bearbeitung der Bearbeitung Shakespeares« durch fremde Armeen (Frankreich bzw. Spanien) und
(ebd., 201) auf die Bühne zu bringen. die schwierigen Beziehungen zum Papst werden eben-
falls thematisiert. Shakespeare kondensiert den Stoff
stark, so dass die Abfolge der Ereignisse heute teilweise
König Johann grotesk wirken kann. Die Figuren werden vom Schick-
sal getrieben; politische Intrigen erscheinen ebenso
Das erste Resultat dieser Auseinandersetzung war das sinnlos wie (seltene) moralische Taten. Johann selbst
Stück König Johann. Es entstand in den Jahren 1967/68 stirbt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern – ohne tragi-
und wurde am 18.9.1968 in der Regie Düggelins am sche Größe – im Fieberwahn. Ihm zur Seite steht die
Basler Theater uraufgeführt. Es folgten bis in die Figur des Bastards. Obwohl dieser sich teilweise an den
1970er Jahre weitere Aufführungen in Europa. Der Machtintrigen beteiligt, erscheint er meistens als chor-
Text erschien 1969 erstmals als Einzelausgabe und artige Figur, die versucht, dem Geschehen eine mora-
wurde 1972 in den Sammelband Komödien III des Ar- lische Deutung abzuringen. Seine vermeintlich patrio-
che Verlags aufgenommen. In der Werkausgabe 1980 tischen Schlussworte verliehen dem Stück im England
strich Dürrenmatt die letzten zwei Sätze der Figur des des 19. Jahrhunderts große Beliebtheit.
Bastards; in dieser Form wurde der Text in die WA auf- Dürrenmatts Umarbeitung hat ein ähnliches The-
genommen (vgl. WA 11, 223 u. 233). Vorlage war The ma: Menschliches Tun scheitert an der Unberechen-
Life and Death of King John, das Shakespeare wahr- barkeit der Realität. Der Bastard verkörpert das auf
scheinlich Mitte der 1590er geschrieben hatte und das Ausgleich und Verzicht individueller Glücksrealisie-
1598 uraufgeführt wurde. Dürrenmatt bediente sich rung gegründete Humanitätsprinzip. Obwohl er fähig
der Übersetzung Schlegels sowie einer eigenen wörtli- ist zu Verrat zugunsten von politischen Kompromis-
chen Übersetzung und der Quellen Shakespeares. sen, tut er dies, um Krieg und Inhumanität ein Ende
In der postumen ersten Gesamtausgabe der Werke zu setzen.
Shakespeares, dem sogenannten First Folio von 1623, Dürrenmatt verändert jedoch den dramatischen
wurde das Stück unter der Kategorie der Histories ge- Charakter Johanns und unterlegt ihm eine kohärente
führt. Es handelt sich dabei um Dramen, in denen ideologische Handlungsbegründung. Er gestaltet ihn
Shakespeare die englische Geschichte aus der Perspek- als machiavellistischen Herrscher, der sein Handeln
tive seiner Zeit ideologisch so ordnete, dass die Gegen- klug berechnet und auf Machtausbau ausrichtet. Dür-
wart als notwendiger Zielpunkt der Entwicklung er- renmatt meint, »wir können Shakespeare nur noch
schien. König Johann (ca. 1166–1216), auch bekannt politisch lesen« (WA 11, 210), behauptet aber auch:

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_29
29 Shakespeare-Bearbeitungen 117

»[I]ch bin nur einer, der seine mißglückteren Spiele in über die Intensität der dramatischen Situation und der
unsere Zeit zu transponieren versucht« (ebd., 216). So ästhetischen Formen.
behandelt er im Gegensatz zu Shakespeare u. a. das Die Bearbeitung entstand jedoch im Kontext der
Zusammenspiel von Volk und Mächtigen. Der Mono- Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Dürrenmatt
log König Johanns, in dem er einsieht »Was wir Gesin- und dem Basler Ensemble unter Düggelin. Dürren-
del heißen, dem gehört / Das Land« und die Charta matt arbeitete seit 1969 an seinem Text, gestützt auf
feiert als »Einschränkung meiner königlichen Macht, die Übersetzung durch Graf von Baudissin. Doch zog
/ Freiheit der Stände, Schutz vor Willkür der / Gerich- der Regisseur Hans Hollmann eine eigene Bearbei-
te« (ebd., 110), kann mit Recht als Dürrenmatts politi- tung (Titus Titus – 50 Theatralische Vorgänge) derjeni-
sche Utopie, als Ausdruck seiner 1968er Vision inter- gen Dürrenmatts vor. Während Hollmanns Text 1969
pretiert werden. Der Zuschauer weiß zu diesem Zeit- am Basler Theater uraufgeführt wurde, fand die Pre-
punkt, dass der König sterben muss, was den uto- miere des Dürrenmattschen Stücks erst am 2.12.1970
pischen Charakter der Worte im Sinne einer tragi- am Düsseldorfer Schauspielhaus unter der Regie von
schen Ironie unterstreicht. Am Ende verflucht Johann Karl-Heinz Stroux statt. Doch das Stück fiel durch.
das Vernunftprinzip, das seinen Untergang nicht auf- Das Publikum, das wohl mit der wenig bekannten
halten konnte, während sein unmündiger Sohn zu ei- Shakespeareschen Vorlage nicht vertraut war, schrieb
nem Spielball in den Händen seiner Barone und ei- die Gewalttaten dem Bearbeiter zu. Nackte Brüste und
nem ungefährlichen Gegner für Frankreich heran- Wehrmachtsuniformen auf der Bühne machten den
wächst. Dass Dürrenmatt den Stoff noch weiter kon- Theaterskandal perfekt. Das Dürrenmattsche Stück
densiert als Shakespeare, trägt zum Eindruck der wurde nie wieder aufgeführt. Diese Erfahrung führte
absurden Abfolge unwägbarer Ereignisse bei. vermutlich auch dazu, dass Dürrenmatt seine geplante
Bei Dürrenmatt wie auch schon bei Shakespeare Troilus und Cressida-Umarbeitung nie durchführte.
können die Schlussworte des Bastards problematisch Titus erschien 1970 als Einzelausgabe und wurde 1972
wirken. 1980 relativiert Dürrenmatt selbst seine poli- im Sammelband Komödien III des Arche Verlags
tische Vision einer vom Volk ausgehenden Demokra- aufgenommen. Dürrenmatt entschied sich, für die
tie: »In der letzten Szene des König Johann habe ich Werkausgabe 1980 die erste Szene in der Baudissin-
nachträglich die letzten Worte des Bastards ›Und sen- Übersetzung voranzustellen; in dieser Form wurde
ke in das Volk die Kraft des Löwen! / Nur so ist diesem der Text in die aktuelle WA aufgenommen (vgl. ebd.,
England noch zu helfen.‹ abgeändert. Mein Vertrauen 223 u. 233).
in das Volk ist in letzter Zeit zu arg erschüttert worden; Titus Andronicus firmiert im Shakespeareschen
schon das Wort ›Volk‹ ist politisch so zweideutig ge- First Folio unter den Tragödien; in der Sekundärlitera-
worden, daß es kaum anständig verwendet werden tur wird es gelegentlich zu den roman plays gezählt.
kann« (ebd., 223). Mit Blick auf die Renaissance-Vor- Doch haben wir es hier mit einem fiktiven Endzeit-
lage wird hier nicht nur mit dem geschichtlichen Rom zu tun, dessen ideologische Grundlagen von in-
Handlungsanspruch des Volkes abgerechnet, sondern nen her zerfallen und das von außen durch die Bar-
auch mit vermeintlich patriotischen Diskursen. baren bedroht wird. Shakespeare schrieb das Stück
Der große Erfolg dieser Dürrenmatt-Düggelin Zu- vermutlich um 1590, als der Typus der revenge tragedy
sammenarbeit steht in starkem Kontrast zum Fehl- auf dem Höhepunkt seines Erfolges stand. Die Rache-
schlag, den der Autor mit seinem Titus Andronicus tragödie nach dem Vorbild des Seneca und des Tho-
hinnehmen musste. mas Kyd setzt eine tragische Kausalität von Mord und
Vergeltung in Gang, die am Ende alle Protagonisten
verschlingt.
Titus Andronicus Shakespeare stellte den Feldherren Titus Androni-
cus in den Mittelpunkt, der alles, auch seine Kinder,
Der Bezug Dürrenmatts zu diesem Shakespeare-Stück der römischen Ideologie der Überlegenheit durch
reichte weiter zurück. 1958 hatte er in Paris einer Pro- Recht und Ordnung unterwirft. Als der Kaiser dieses
be für die Inszenierung des Titus Andronicus durch Recht bricht, sich mit der im Krieg unterlegenen Bar-
Peter Brook beigewohnt: »[D]er Eindruck [war] au- barin vermählt, deren Kinder Titus’ Tochter vergewal-
ßerordentlich« (WA 11, 208). Vor allem die Bildmäch- tigen und verstümmeln und zuletzt auch Titus selbst
tigkeit des Stücks faszinierte ihn, denn für ihn erfolgte betrügen, nimmt er grausame Rache. Nach dem Vor-
die Wirkung nicht über den englischen Text, sondern bild des Thyestes aus der Atriden-Sage tötet er die Kin-
118 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

der der Barbarin und setzt sie ihr zur Speise vor. Am Status simpler Übersetzungen hinaus und werden zu
Ende sterben alle. Werken von Dürrenmatt, nach Shakespeare.
Während Dürrenmatt diese Endzeit-Konstellation Aber nicht nur die Überwindung einer zeitlichen
in Romulus der Große komisch interpretiert, greift er Barriere, sondern auch einer sprachlich-kulturellen
hier auf eine extrem blutige Bildwelt zurück. Doch verlangt nach Veränderung. Vor allem Titus sei »un-
geht es ihm nicht um das kathartische Tragödienmus- übersetzbar«; ein »dramaturgisches Credo« Dürren-
ter, sondern um einen Erkenntnisvorgang, der bei matts besagt: »Ändert sich die Sprache, ändert sich der
Romulus in einer komischen, bei Titus in einer absur- Stoff« (WA 11, 208 f.). Der logische Schluss: »Aus ei-
den Peripetie mündet. Titus’ Glaube an die römische ner Bearbeitung wurde eine Umarbeitung« (ebd.,
Überlegenheit schlägt um in eine Parodie derselben, 212). Umformung ist nicht einfach künstlerische Frei-
die jede Illusion einer geschichtlichen Entwicklung heit oder gar Willkür, sie ist Notwendigkeit.
zur Humanität zersetzt. Am Ende lässt der Gote Ala- So stellen die beiden Bearbeitungen innerhalb des
rich, den Dürrenmatt als »mythische zerstörerische Dürrenmattschen Werks eigenständige Leistungen
Größe« (ebd., 211) hinzufügt, alle Römer töten und dar, die einerseits Brechts Versuche mit dem Coriolan
Rom anzünden. fortschreiben, andererseits eine neue Linie der Shake-
Obwohl sich Shakespeares Stück in die Kategorie speare-Bearbeitungen initiieren (u. a. Botho Strauß,
der revenge tragedy einreiht, erscheint die ununterbro- Heiner Müller), die bis heute anhält.
chene Reihe der Grausamkeiten für den modernen
Zuschauer oft grotesk (z. B. in der Filmadaptation 1999 Literatur
Primärtexte
durch Julie Taymor). Dürrenmatt arbeitet besonders König Johann. Zürich 1969.
diesen Aspekt heraus, so dass das Stück zu einer Komö- König Johann. In: Komödien III. Zürich 1972.
die nach Shakespeare werden kann. Die Enttäuschung König Johann. In: König Johann. Titus Andronicus. Shake-
der politischen Utopie wird deutlich. Im Schluss- speare-Umarbeitungen. WA 11, 9–113.
monolog beschreibt Alarich Geschichte als eine belie- Titus Andronicus eine Komödie nach Shakespeare. Zürich
1970.
bige Abfolge von inhumanen und sinnlosen Herr-
Titus Andronicus. In: Komödien III. Zürich 1972.
schaftsformen ohne Hoffnung auf Fortschritt: »Sie alle Titus Andronicus. In: König Johann. Titus Andronicus.
gierig nach der Weltherrschaft, / Die eine kurze Welt- Shakespeare-Umarbeitungen. WA 11, 115–197.
sekunde unser. / Was soll Gerechtigkeit, was soll da Ra-
che? / Nur Namen sind’s für eine üble Mache. / Der Sekundärliteratur
Weltenball, er rollt dahin im Leeren / Und stirbt so Erne, Lukas: Lamentable Tragedy or Black Comedy? Fried-
rich Dürrenmatts adaptation of Titus Andronicus. In:
sinnlos, wie wir alle sterben: / Was war, was ist, was
Sonia Massai (Hg.): World-Wide Shakespeares: Local
sein wird, muß verderben« (ebd., 197). Appropriations in Film and Performance. London 2005,
88–94.
Lerner, Laurence: King John, König Johann: War and Peace.
Von Dürrenmatt, nach Shakespeare Shakespeare Survey 54 (2001), 213–222.
Marquardt, Anne-Kathrin: »Halb Shakespeare, halb Dür-
renmatt« – Friedrich Dürrenmatts Titus Andronicus. In:
Dürrenmatt verknappt und konzentriert die barocken Véronique Liard, Marion George (Hg.): Dürrenmatt und
Bildwelten Shakespeares auf eine durchgängig lo- die Weltliteratur – Dürrenmatt in der Weltliteratur. Mün-
gisch-intellektuelle Handlungsfolge. Diese Moder- chen 2011, 105–129.
nisierung schlägt den Bogen zu einem Theater, das Ranke, Wolfgang: Adaption und Intertextualität: Friedrich
nicht (nur) bildungsbürgerliches Repertoire anbietet, Dürrenmatts König Johann und die Tradition der deut-
schen Shakespeare-Bearbeitung. In: Jahrbuch für Interna-
sondern auf aktuelle Zeitprobleme antworten will.
tionale Germanistik 24 (1992), 8–36.
Durch diesen Schritt gelangen die Stücke über den
Anne-Kathrin Marquardt
30  Play Strindberg 119

30 Play Strindberg Stück wurde zwischen 1969 und 1971 auf über 30
deutschsprachigen Bühnen und später auch in ande-
Entstehungs-, Publikations- und Auf- ren europäischen Städten (Paris, London, Athen,
führungsgeschichte Warschau) sowie in den USA und Japan aufgeführt.
Die Uraufführung wurde 1971 auch im deutschen
Das Drama Play Strindberg. Totentanz nach August Fernsehen (ARD/SDR) ausgestrahlt. Nach der breiten
Strindberg basiert auf dem schwedischen Ehedrama frühen Theaterrezeption geriet Dürrenmatts Bearbei-
und Klassiker Dödsdansen (dt. Totentanz) August tung in der folgenden Zeit in Vergessenheit und wird
Strindbergs. Das Stück entstand 1968 und wurde am heute nur noch selten aufgeführt (vgl. WA 12, 202 f.),
8.2.1969 in der Regie von Friedrich Dürrenmatt und etwa 2014 am Royal Theatre in Bath oder 2016 am
Erich Holliger am Basler Theater uraufgeführt. Dür- Basler Theater.
renmatts Auseinandersetzung mit Strindberg fällt in
Bezug auf seine Theaterarbeit in die Zeit eines Um-
bruchs. Nach dem Abgang am Schauspielhaus Zürich Inhalt und Analyse
schöpfte er mit der Anstellung am Theater in Basel
neue Hoffnung, die eigenen Vorstellungen von einem Das Ehepaar Edgar und Alice lebt in einem alten Ge-
anderen, modernen Theater realisieren zu können. fängnisturm auf einer Insel in den schwedischen
Als Teil der Direktion – Seite an Seite mit dem Inten- Schären. Die beiden – er, ein heruntergekommener
danten Werner Düggelin – hegte er den Wunsch, ein Hauptmann und Militärschriftsteller; sie, eine wenig
eigenes Theater zu gründen (vgl. Rüedi 2011, 692). erfolgreiche Schauspielerin – sind seit 25 Jahren ver-
Geplant war ursprünglich, dass der Regisseur Erich heiratet. Abgeschottet von der Gesellschaft liefern sie
Holliger, auf Vorschlag des Dramaturgen Hermann sich einen schonungslosen Ehestreit. Ihr einziger Ka-
Beil, Strindbergs Totentanz inszenieren sollte (vgl. nal zur Außenwelt ist der Telegrafenapparat. Zeitwei-
ebd., 696). Dürrenmatt besuchte Proben, konnte sich lig unterbrochen wird dieser Streit durch die Ankunft
jedoch nicht mit dem Stück anfreunden. Die Mühe von Alices Vetter Kurt. Dieser gibt vor, nach seiner
mit dem Stück bekundete er in seinem Bericht, den er langjährigen Abwesenheit zurück auf die Insel ge-
im Programmheft der Uraufführung abdrucken und kommen zu sein, um Quarantänemeister zu werden.
auch den Buchausgaben beifügen ließ: »1968. Lese die Mit der Ankunft Kurts verschärft sich der Konflikt
ersten Seiten des Stücks, finde den Theatereinfall inte- zwischen den beiden Ehepartnern. Alice versucht per
ressant, stoße mich an seiner Literatur (Plüsch × Un- Telegrafenmitteilung an den Oberst die Absetzung
endlichkeit)« (WA 12, 193). Dürrenmatt war gegen ei- Edgars einzufädeln und ihn wegen Geldunterschla-
ne »theaterübliche Strindberg-Bearbeitung« (ebd.) gung ins Gefängnis zu bringen. Edgar beabsichtigt,
und entschied sich kurzerhand für eine Umarbeitung Alice aufgrund ihrer Zuneigung zu Kurt zum Ehe-
des Stücks. Es folgte eine intensive Auseinanderset- bruch anzustiften. Während eines durch Edgar vor-
zung mit dem Stoff und dem Text, den er zuhause in getäuschten Ohnmachtsanfalles steigt Alice tatsäch-
Neuchâtel, aber auch in enger Zusammenarbeit mit lich mit Kurt ins Bett, womit Edgars Plan aufgeht. We-
dem Regisseur und den Schauspielern während der nig später eröffnet Edgar seiner Frau, dass er sie in Be-
Proben in Basel weiterentwickelte (vgl. WA 12, 202). zug auf das unterschlagene Geld angelogen habe:
Dürrenmatt arbeitete nach eigener Aussage mit einer Nicht er, sondern der Oberst habe Geld veruntreut,
»Rohübersetzung« (WA 12, 193) des schwedischen womit nicht er, sondern vielmehr der Oberst in Zug-
Originals. In seinem Nachlass befinden sich zwei zwang gerate. Zudem gesteht er Alice und Kurt, die
deutschsprachige Totentanz-Ausgaben von zwei ver- Ohnmachtsanfälle nur vorgetäuscht zu haben. Kurze
schiedenen Übersetzern, die als Grundlage der Über- Zeit später glaubt Edgar, Kurt als Kleinkriminellen
arbeitung in Frage kommen (vgl. Winkler 2009). entlarven zu können, der als Bankangestellter in Ame-
Play Strindberg, wie Dürrenmatt die Bearbeitung in rika Geld unterschlagen habe und nur deshalb als
Anspielung auf die damals sehr populären Play Bach- Quarantänemeister auf die Insel gekommen sei, um
Alben des Jacques Loussier Jazztrios betitelte, wurde sich der Strafverfolgung zu entziehen. Als Edgar nach
1969 beim Arche Verlag in leicht überarbeiteter Fas- einem Angriffsversuch auf Alice und Kurt – mit einem
sung publiziert, erschien 1972 unverändert im Sam- Säbel – erneut zusammenfällt und einen Schlaganfall
melband Komödien III und wurde 1980 ebenfalls un- erlebt, halten Alice und Kurt dies lediglich für eine
verändert in die Werkausgabe aufgenommen. Das Fortsetzung seiner Täuschungsversuche. Edgar ver-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_30
120 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

liert durch den Schlaganfall jedoch tatsächlich die greift, fehlen gerade diese Markierungen von Befind-
Sprache und kann nur noch zuhören, wie Kurt am En- lichkeiten in Play Strindberg durchgängig. Die Eintei-
de des Stücks Alice gesteht, kein Kleinkrimineller, lung des Dialogs in Runden und einzelne Dialogblö-
sondern ein reicher Geschäftsmann und Millionär zu cke unterstützt die Wirkung eines nicht mehr durch
sein, der längst den Oberst als Teilhaber seiner Ge- die Intentionen und Emotionen der Figuren gesteuer-
schäfte auf seine Seite gebracht habe. ten, sondern von außen auferlegten und organisierten
Das Bühnenbild wird von Dürrenmatt als »Szene« ›verfremdeten‹ Dialogs.
bezeichnet, die aus einem mit Scheinwerfern beleuch-
teten Ring besteht, der mit einzelnen Möbeln (»Kla-
vier«, »Stuhl 1«, »Hocker 2« etc.) ausgestattet ist (WA Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
12, 10). Die Handlung des Stücks ist in zwölf Runden
eingeteilt, deren Beginn jeweils durch einen im Ne- Dürrenmatt selbst schreibt in seinem Bericht nicht nur
bentext vermerkten Gong eingeläutet wird. Dadurch von der Verwandlung eines »Schauspielerstück[s]« in
wird die Nähe zu einem Boxkampf unmissverständ- ein »Stück für Schauspieler« (WA 12, 193), sondern
lich angezeigt. Die Runden sind zu Beginn länger und auch von »Schauspielerartistik« (194), was die Wich-
werden gegen Schluss immer kürzer. Jede wird durch tigkeit anzeigt, die er dem Bühnengeschehen beimisst.
die Figuren angekündigt. Dadurch entsteht eine dop- Die Entstehung aus der Inszenierungspraxis heraus
pelte Handlungsebene, ein episches Element, das die würdigte Dürrenmatt denn auch mit der Gattungs-
Schauspieler kontinuierlich von ihrer Rolle distan- bezeichnung Übungsstück für Schauspieler. Vor diesem
ziert. Die Figurenrede wird während des gesamten Hintergrund verweist der Titel Play Strindberg gerade
Stücks von einem ausführlichen Nebentext begleitet, nicht nur auf den spielerischen Umgang mit dem klas-
der die nonverbalen Handlungen der Figuren im De- sischen Stoff, sondern auch auf den Versuch einer Ab-
tail beschreibt und damit die Wirkung eines genau or- kehr vom textuell fixierten, einmaligen Theaterstück
chestrierten Bühnengeschehens unterstützt. zugunsten einer gemeinschaftlichen und fortwähren-
Ist bei Strindberg noch eine stark naturalistisch ge- den praktischen Auseinandersetzung mit Text und
prägte Darstellung des bürgerlichen Milieus der Jahr- Stoff. Wohl aufgrund der Kenntnis der von Dürren-
hundertwende sichtbar, fällt in Play Strindberg genau matt intendierten engen Verbindung zwischen Büh-
dieses Illusionselement weg. Dürrenmatts Eliminie- nenarbeit und der Arbeit am Text hat man in der For-
rung der literarischen Seite (vgl. WA 12, 193) und die schung den Standpunkt vertreten, der Text sei ohne die
Akzentuierung des Spielcharakters geschieht nicht Umsetzung auf der Bühne gar nicht als Theaterstück zu
nur durch das hochartifizielle Bühnenbild und die Ne- begreifen (vgl. Rumler-Gross 1985, 218).
bentexte, sondern ebenso durch die Veränderung der Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung
sprachlichen Handlungen der Protagonisten. Erinnert mit dem Stück ist generell stark geprägt von den Über-
sich Alice im Totentanz noch an bessere gemeinsame legungen und Standpunkten, die Dürrenmatt selbst in
Zeiten während einer Kopenhagen-Reise – »Es waren seinem Bericht notiert. Im Zentrum stehen die Fragen
doch unsere besten Stunden!« (Strindberg 1958, 11) –, des Verhältnisses zwischen Originaltext (bzw. dessen
meint sie in Play Strindberg in kühlem Ton: »Meine deutschsprachiger Übersetzung) und der Bearbeitung
schönste Zeit in Kopenhagen war die Zeit, als ich dich sowie der dahinterliegenden Konzeption und Wir-
noch nicht kannte« (WA 12, 18). Tritt im Totentanz kungsabsicht Dürrenmatts. Betont wird, dass es nicht
der Ehestreit – so unerbittlich er ist – noch als funk- wie bei Strindberg um die genaue sprachliche Schil-
tionierender wechselseitiger Sinnaushandlungspro- derung der Figuren und ihrer inneren Befindlichkei-
zess zu Tage, fehlt bei Play Strindberg die ›Illusion‹ ei- ten gehe, sondern um die Darstellung eines gnadenlo-
nes produktiven Streits weitgehend. So richtet Alice in sen Ehekampfes (vgl. Tiusanen 1977, 332). Dabei wer-
Play Strindberg zwar die gleichen Vorwürfe an ihren den die auch für andere Dramen Dürrenmatts kenn-
Mann wie im Totentanz (Altersschwäche und Krank- zeichnenden stilistischen Elemente der Kürze und
heit, fehlendes Geld, die verlorene gesellschaftliche Knappheit sowie der Stilisierung der Figurenrede ge-
Stellung), jedoch scheint die gewollte Provokation in nannt. Sharp (1970, 280) fasst diesen Charakter präg-
Play Strindberg nicht mehr zu funktionieren. Zeigen nant mit der Metapher eines »word ping-pong«. In der
die Nebentexte im Totentanz noch an, dass sich Edgar stilisierten und stichomythischen Sprache findet der
über die Vorwürfe seiner Frau ärgert, weil sie ihn da- Emotionsausdruck keinen Platz mehr. Die Figuren in
mit im Kern seines bürgerlich-männlichen Stolzes an- Play Strindberg sind laut Sammern-Frankenegg (1991,
30  Play Strindberg 121

92) »keiner echten Gefühlsregung mehr fähig, weder sondern er ist vielmehr a priori vorhanden und wird
von Liebe noch Haß bewegt«. Aus den leidenden Fi- auch nicht durch die Figuren gelöst. Das Tragische im
guren des Totentanzes werden Rollen. Der schicksal- aristotelischen Sinn ist auch bei Strindberg nicht er-
hafte eheliche Einzelfall wird bei Dürrenmatt durch kennbar (vgl. Treib 1980, 119–121). Er legt mit dem
Mittel der Distanzierung zum grotesk dargestellten Dödsdansen also ein Fundament, das zumindest dra-
Modell. Dabei zeigen sich die Züge Dürrenmattscher menkonzeptionell bereits Charakteristika des moder-
Theaterintention besonders deutlich anhand der Fi- nen Dramas Dürrenmatts trägt, auch wenn es in Be-
gur Kurts, der nicht – wie bei Strindberg – als Quaran- zug auf die sprachliche Umsetzung – vielleicht nicht
tänemeister auf die Insel kommt, sondern sich als rei- zuletzt wegen der zugrunde liegenden deutschspra-
cher und krimineller Geschäftsmann entpuppt und chigen Übersetzungen – weit von Dürrenmatts Vor-
feststellt: »Ich durfte in eure kleine Welt hineinsehen. stellungen entfernt ist.
In der großen Welt, in der ich lebe, geht es in keiner
Weise schlechter zu: Nur die Dimensionen sind an- Literatur
Primärtexte
ders« (WA 12, 91). Damit löst sich die im Totentanz Play Strindberg. Totentanz nach August Strindberg. Zürich
verankerte Tragik des ehelichen Geschlechterkampfes 1969.
auf. Die bei Strindberg noch angelegte Heiligkeit und Play Strindberg. Totentanz nach August Strindberg. In: WA
Verklärung der Ehe ist in Play Strindberg durch deren 12, 9–93.
Gleichsetzung mit den kriminellen Handlungen in
der großen Welt Kurts nichtig geworden. Die Ehe und Sekundärliteratur
Rumler-Gross, Hanna: Thema und Variation. Eine Analyse
die darin stattfindenden zwischengeschlechtlichen der Shakespeare- und Strindberg-Bearbeitungen Dürren-
Konflikte fungieren nur noch als Modell für die (grau- matts unter Berücksichtigung seiner Komödienkonzep-
same) Wirklichkeit. tion. Köln, Wien 1985.
Das Groteske offenbart sich auch in der Figur Ed- Rüedi, Peter: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen.
gars, dessen Pläne und Handlungen infolge von Kurts Biographie. Zürich 2011.
Sammern-Frankenegg, Fritz: Exit Strindberg. Zur Eliminie-
Geständnis unterwandert und sinnlos werden. Die
rung Strindbergs in Friedrich Dürrenmatts Play Strind-
groteske Wirkung wird dadurch verstärkt, dass Edgar berg. In: Studia neophilologica 63 (1991), 89–93.
nicht wie im Totentanz stirbt, sondern lallend und un- Sharp, Sister C.: Dürrenmatt’s Play Strindberg. In: Modern
deutliche Laute von sich gebend überlebt. Die Wir- Drama 13 (1970), 276–283.
kung auf den Rezipienten ist nicht Identifikation und Strindberg, August: Totentanz. Erster Teil. Deutsch von Emil
Mitleid, sondern ein »Lachen als Ausdruck der Dis- Schering. München 1958.
Tiusanen, Timo: Dürrenmatt. A study in plays, prose,
tanzierung« (Treib 1980, 132). Dürrenmatt fasst diese theory. New Jersey 1977.
Verschiebung im Bericht wie folgt zusammen: »Aus ei- Treib, Manfred: August Strindberg und Edward Albee. Eine
ner bürgerlichen Ehetragödie wird eine Komödie vergleichende Analyse moderner Ehedramen (Mit einem
über die bürgerlichen Ehetragödien« (WA 12, 194). Exkurs über Friedrich Dürrenmatts Play Strindberg).
Angemerkt sei jedoch, dass der Dialog bereits bei Frankfurt a. M. 1980.
Winkler, Oliver: Von Strindbergs Dödsdansen zu Dürren-
Strindberg – zumindest im schwedischen Originaltext
matts Play Strindberg. Die Darstellung des Ehekonflikts in
– an etlichen Stellen durchaus groteske Züge trägt. Original, Übersetzung und Bearbeitung. In: Mona Enell-
Auch im Dödsdansen entsteht und entwickelt sich der Nilsson, Niina Nissilä (Hg.): VAKKI Symposium XXIX.
Konflikt weitgehend nicht durch die rationalen Ent- Sprache und Macht. Vaasa 2009, 409–420.
scheidungen und Handlungen der einzelnen Figuren,
Oliver Winkler
122 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

31 Dürrenmatt als Regisseur nierung der Komödie Der Besuch der alten Dame
(Stadttheater Basel, EA 12.11.1956), die Oskar Wälter-
Dürrenmatts Tätigkeit als Regisseur begann 1954 mit lin bereits in Zürich mit großem Erfolg auf die Bühne
der Inszenierung seines Stücks Die Ehe des Herrn Mis- gebracht hatte. Im Programmheft begründet Dürren-
sissippi in Bern und endete 1988 mit Achterloo IV, das matt seine Regie wie folgt: »Den Versuch, selber zu in-
der Dramatiker für die Schwetzinger Festspiele insze- szenieren, habe ich unternommen, meinem Stück
nierte und mit dem er seinen Abschied vom Theater weiterzuhelfen, es von der Handlung her noch einmal
(WA 18, 568–586) markierte. In diesem Zeitfenster durchzudenken. Nach der Arbeit am Schreibtisch
brachte er einige seiner eigenen Stücke auf die Bühne, muß die Arbeit auf der Bühne kommen. Eine Not-
nahm aber gelegentlich auch die Herausforderung der wendigkeit, die im Metier liegt« (Dürrenmatt 1956, 4).
üblichen Regiesituation an und inszenierte Fremdtex- Diese »Notwendigkeit« wird der Dramatiker während
te. Da die Aufführungen nur in Ausnahmefällen auf- seiner Karriere ständig fühlen, gleichgültig ob er selbst
gezeichnet wurden, sind die meisten Inszenierungen oder andere Regie führen. Ebenso spricht er im Pro-
Dürrenmatts lediglich aus sekundären Hinweisen zu grammheft über ein weiteres Erfordernis, nämlich
rekonstruieren. Während seine Klassikerinszenierun- über die Notwendigkeit, während der Proben Text-
gen (Zürich, 1970–1974) detailliert analysiert wurden änderungen zu machen (vgl. ebd.) – eine andere Kon-
(vgl. Carasevici 2011), standen Dürrenmatts Mise-en- stante seiner Theaterpraxis. Die Rezensionen beurteil-
scènes eigener Stücke bislang im Zentrum keiner aus- ten die Regie wieder negativ, während sie den Text
führlichen Studie. priesen: »Das Stück ist stärker als Dürrenmatts Regie-
Können« (Basellandschaftliche Zeitung, 20.11.1956).
Die Reaktion des Publikums scheint dagegen über-
Regietätigkeit in Bern und Basel wiegend positiv gewesen zu sein (vgl. Tages Anzeiger,
1.12.1956).
Die Perspektive einer konkreten Bühnenarbeit hat Die Bühnenrealisierung von Der Besuch der alten
sehr früh Dürrenmatts Interesse geweckt, noch vor Dame beschäftigte Dürrenmatt weiter, und 1959 in-
seinem einschlägigen Essay Theaterprobleme (1954). szenierte er das Stück in Bern am Atelier-Theater (UA
1950 verfasste er einen programmatischen Text, der 25.11.1959). Für diese Bühne erstellte er eine Neufas-
die Grundlage für ein gewagtes Projekt bilden sollte: sung, in der er die Figurenzahl und einige Szenen re-
die »Schweizerischen Kammerspiele«, ein neues Ber- duzierte. Sowohl diese Fassung als auch die Regie wur-
ner Theater, dessen Gründer ein junger Regisseur, ein den von den Rezensenten gelobt, die auch von einem
junger Theaterleiter und ein junger Dramatiker (na- »stürmischen Beifall« (Berner Tagblatt, 27.11.1959)
mens Friedrich Dürrenmatt) waren (vgl. Carasevici der Zuschauer und Zuschauerinnen berichteten.
2011, 46–49). Das Unternehmen wurde nie verwirk- Erst 1966 inszenierte Dürrenmatt wieder, diesmal
licht, aber Bern blieb der Ort von Dürrenmatts erster aber nicht für die Theaterbühne, sondern für das
wichtigen theaterpraktischen Erfahrung: der Insze- Fernsehen: Frank V (NDR, 16.2.1967). Eigentlich hat-
nierung von Die Ehe des Herrn Mississippi (Stadt- te der Dramatiker drei Jahre früher an einer Inszenie-
theater Bern, EA 3.2.1954). Seine Motivation bestand rung desselben Stücks in Bochum gearbeitet; nach
darin, sowohl sein Komödienkonzept als auch das Auseinandersetzungen mit dem Intendanten Hans
Schlüsselprinzip seines Theaterdenkens – nämlich Schalla hatte er das Projekt aber fallen gelassen. 1966
»mit der Bühne zu dichten« (WA 30, 12) – in der Pra- bearbeitete der Autor den Text wieder und so entstand
xis auszuprobieren (vgl. Dürrenmatt 1954, 2). Die die Fernsehfassung, die er für den NDR inszenierte –
meisten Rezensionen lobten den Dramentext, zeigten allerdings nicht mit großem Erfolg (vgl. Neue Zürcher
aber weniger Interesse an der Regie an sich, und wenn Zeitung, 19.2.1967).
doch, dann in kritischer Weise: Der Regisseur Dür- 1968 übernahm Werner Düggelin die Leitung der
renmatt habe eine offensichtliche Vorliebe für starke vereinigten Basler Theater und lud Dürrenmatt ein,
Bühneneffekte (vgl. Der Bund, 5.2.1954), es fehle aber dem neugebildeten Stab als künstlerischer Berater
die Routine des Praktikers (vgl. Tages Anzeiger, beizutreten. Der Dramatiker nahm die angebotene
9.2.1954). Dieselben Rezensionen berichteten auch Stelle an, »in der Hoffnung, hier sein ›BE‹, sein ›Basler
von einer geteilten Publikumsreaktion. Ensemble‹ zu finden« (Rüedi 2004, 286) und – wie
Zwei Jahre später übernahm Dürrenmatt wieder Brecht – seinen »Traum vom eigenen Theater« (Rüedi
die Rolle des Regisseurs, diesmal für eine Basler Insze- 1996, 222 f.) zu verwirklichen. In Basel bearbeitete

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_31
31  Dürrenmatt als Regisseur 123

Dürrenmatt zwei Dramentexte – Shakespeares König 171), und Dürrenmatts Verwendung dieser Text-In-
Johann und August Strindbergs Totentanz – an deren serate ist ebenfalls im Sinne Brechts als episches Thea-
Inszenierung er auch aktiv teilnahm. Im Falle von To- ter zu verstehen (vgl. Carasevici 2011, 86–89). Die Be-
tentanz, das Play Strindberg wurde, war er neben Erich setzung ist an sich ein grotesker Grundeinfall, denn
Holliger sogar Co-Regisseur: »Die ›Auftragswerke‹ Dürrenmatt lässt keinen jungen, sondern einen alten
König Johann und Play Strindberg entstehen in enger Mann – den unverjüngten Faust – ein junges Mäd-
Zusammenarbeit mit Ensemble und Dramaturgen als chen verführen. Das gesamte dramaturgische Denken
eine ›Bühnenpartitur‹, die erst während der Proben hinter der Inszenierung ist stark von Dürrenmatts Ko-
ihre endgültige Gestalt gewinnt, ja die sich im Fall von mödienkonzeption geprägt (vgl. Carasevici 2016,
Play Strindberg erst in der Zusammenarbeit mit den 146). Der Zürcher Urfaust beinhaltet auch Reminis-
Schauspielern konstituiert« (Rumler-Gross 1985, 69). zenzen der Basler Umarbeitungen, besonders Play
Diese Arbeitsweise wird Dürrenmatt von nun an wei- Strindberg: einerseits das Konzept der ›Bühne auf der
terentwickeln, besonders in Zürich, wo er wieder selb- Bühne‹, andererseits die Bühnenverwandlungen ohne
ständig inszeniert, meistens nicht seine eigenen Dra- Bühnenarbeiter, sondern mit den Schauspielern bei
mentexte. Sein Regiedenken ist am besten anhand offener Szene, was ganz im Sinne Peter Brooks eine ge-
dieser üblichen Regiesituation zu beurteilen. wisse Theaterwerkstatt-Atmosphäre schafft. Die zwie-
spältigen Rezensionen neigen dazu, den Regisseur
und sein Team (Schauspieler, Bühnenbildner Michel
Zürich: Klassikerinszenierungen Raffaëlli usw.) an gegensätzlichen Extremen zu posi-
tionieren (vgl. Carasevici 2011, 106–111).
1970 wurde Dürrenmatt von Harry Buckwitz und Nach dem Urfaust führte Dürrenmatt seine Regie-
Werner Wollenberger vom Schauspielhaus Zürich als tätigkeit am Schauspielhaus Zürich mit der Inszenie-
künstlerischer Mitarbeiter der Direktion eingeladen. rung einer Neubearbeitung seines eigenen Stücks Por-
Hier inszenierte er Goethes Urfaust, Büchners Woy- trät eines Planeten fort (UA 25.3.1971). Im Programm-
zeck und Lessings Emilia Galotti, aber auch zwei eige- heft macht er entscheidende Bemerkungen zur zen-
ne Stücke: Porträt eines Planeten und – in letzter Mi- tralen Funktion der Schauspieler: »Ich schreibe meine
nute – Der Mitmacher. Wie bei Play Strindberg kann Theaterstücke nicht mehr für Schauspieler, ich kom-
auch die Aufführung des letztgenannten Stücks nicht poniere sie mit ihnen. Ich gebe die Literatur zuguns-
hundertprozentig als eigene Inszenierung gelten: ten des Theaters auf« (Dürrenmatt 1971, 5). Die meis-
Infolge des Rückzugs von Andrzej Wajda musste der ten Kritiker beurteilten Dürrenmatts Text negativ,
Dramatiker kurz vor der Uraufführung die Regie hielten seine Regiearbeit aber für ziemlich gelungen
übernehmen (vgl. Weber 2006, 51). Die Mise-en-­ (vgl. Bachmann 1971), zumindest im Vergleich zur
scène wurde von der Kritik verrissen, aber Dürren- Düsseldorfer Uraufführung (1970, R.: Erwin Axer).
matt kapitulierte nicht und inszenierte das Stück im Dürrenmatts Woyzeck-Inszenierung (UA 17.2.1972)
selben Jahr noch einmal am Mannheimer National- stützt sich auf eine Collage aus Büchners vier verschie-
theater (EA 30.10.1973). Obwohl überwiegend nega- denen Manuskripten (vgl. Carasevici 2011, 118–131).
tiv, betonten die Rezensionen den Umstand, dass die Die Novität besteht grundsätzlich im Zusammenbrin-
Mannheimer Inszenierung besser als jene in Zürich gen zweier Szenen, was die Gleichsetzung zwischen
gewesen sei (vgl. Rühle 1973). Woyzeck und einem von Büchner unbenannten Bar-
Zurück ins Jahr 1970 und zu den Klassikern: Dür- bier bzw. zwischen dem Tambourmajor und einem
renmatts Wahl, den Urfaust zu bearbeiten und zu in- ebenfalls unbenannten Unteroffizier zur Folge hat (vgl.
szenieren (UA 22.10.1970), wird von seinem Wunsch Weber 2011, 199). Dürrenmatts Beschäftigung mit den
begleitet, Goethe und seinen Faust-Stoff zu entmythi- Möglichkeiten der Schauspielerei wird immer intensi-
sieren (vgl. Carasevici 2011, 86–92). Im Vergleich zu ver, und in Verbindung damit ist auch der extreme Mi-
seinen Basler Umarbeitungen lässt er in seiner Ur- nimalismus des Bühnenbildes zu sehen. In dieser Hin-
faust-Bearbeitung das Original fast unberührt und sicht lässt sich Dürrenmatts Regiedenken auch in An-
konzentriert sich eher auf strukturelle Änderungen lehnung an Peter Brooks Theorie vom ›leeren Raum‹
und besonders auf einige Einfügungen aus dem Volks- (vgl. Brook 1968) verstehen. Aus fast allen Rezensio-
buch vom Doktor Faustus. Den Urfaust im Hinblick nen, die nicht sehr positiv waren, resultiert das Bild ei-
auf das Volksbuch zu inszenieren, ist eine Idee, die ei- nes eher zurückhaltenden Regisseurs (vgl. Carasevici
gentlich von Brecht stammt (vgl. George 2011, 161– 2011, 151).
124 II Schriftstellerisches Werk – G Dramenbearbeitungen und Regie

Zwischen zwei Klassiker-Inszenierungen kehrte (UA 13.9.1979 in Wilhelmsbad/Hanau). Die Rezen-


Dürrenmatt 1973 mit den erwähnten Mitmacher-In- sionen waren hauptsächlich negativ (vgl. Schnell
szenierungen, aber auch mit einer Mise-en-scène von 1979) und vergällten Dürrenmatts Abschied, der oh-
Die Physiker (für das Schweizer Tournee-Theater) nehin keiner war.
wieder zu seinem eigenen Werk zurück. Trotz der Be- Der tatsächliche Abschied von der Regie und vom
kanntheit des Textes und des Autor-Regisseurs wird Theater im Allgemeinen erfolgte neun Jahre später mit
die letztgenannte Inszenierung von der Kritik nahezu der Inszenierung von Achterloo IV für die Schwetzin-
ignoriert. ger Festspiele (UA 17.7.1988) mit Josef Svoboda als
Dürrenmatts letzte Inszenierung am Schauspiel- Bühnenbildner. Die Kritik reagierte weniger auf die
haus Zürich war Emilia Galotti (EA 5.6.1974). Der Regie, sondern eher auf die glänzende Besetzung und
Text bleibt fast unangetastet, es gibt nur einige Striche: auf das Element der Sensation: Dürrenmatts Abschied
Gekürzt werden in erster Linie alle Übertreibungen von der Bühne (vgl. Schär 1988). Roman Brodmann,
und Künstlichkeiten eines Aufklärungsdramas, um der die Proben mit der Filmkamera verfolgt hat, skiz-
den Weg zum zeitgenössischen Publikum zu finden ziert im Programmheft das Bild des Autors als Regis-
(vgl. ebd., 168–172). Darauf zielt eigentlich das ge- seur, wie es aus der Regiearbeit zu Achterloo IV her-
samte Regiekonzept, in dem Dürrenmatt zwei wichti- vorgeht. Seine Worte gelten eigentlich für das ganze
ge Aspekte von Lessings Text in den Vordergrund Regiedenken Dürrenmatts: »Nie ein besserwisseri-
stellt: die Kritik an einem politischen System und den scher Peitschenknall, Führung schon: Dürrenmatt
Konflikt zwischen Mann und Frau, wobei beide As- kommt es darauf an, daß der Schauspieler genau weiß,
pekte unter dem Stichwort ›Missbrauch‹ verbunden was er warum sagt, und daß er bei der Wahl seines
werden (ebd., 173–177). Im Vergleich zu den Urfaust- Ausdrucks von diesem Wissen Gebrauch macht. Es ist
und Woyzeck-Inszenierungen kann man bei Emilia ein Idealfall von Theater« (Brodmann 1988, 7). In der
Galotti keineswegs von einem minimalistischen Büh- Beschreibung einer Probe nennt Brodmann das Stich-
nenbild sprechen. Die prächtige Renaissance-Szenerie wort, das ebenfalls für die gesamte Regietätigkeit des
erlaubte keine Theaterwerkstatt-Atmosphäre (vgl. Dramatikers steht: »Theaterwerkstatt« (ebd.).
ebd., 181–183). Ironischerweise war das Bühnenbild
das Einzige, was die Kritik an der Inszenierung lobte Literatur
Primärtexte
(vgl. ebd., 184–189).
Abschied vom Theater. In: WA 18, 568–586.
Begründung einer Regie. In: Programmheft zu Der Besuch
der alten Dame. Stadttheater Basel 1956, 4.
Der lange Abschied von der Regie Die Ehe des Herrn Mississippi. Nachschrift zur Schweizer
Erstaufführung. In: Programmheft zu Die Ehe des Herrn
Mississippi. Stadttheater Bern 1954, 2.
Erst vier Jahre nach der produktiven, für ihn aber ent-
Etwas über die Kunst, Theaterstücke zu schreiben. In: WA
täuschenden Zürcher Bühnenerfahrung führte Dür- 30, 11–15.
renmatt erneut Regie: Es ging diesmal wieder um ei- Gespräch mit Nicolaus Windisch-Spoerk (1978). In: Pro-
nen eigenen Text, nämlich um Der Meteor (Theater in grammheft zu Der Meteor. Theater in der Josefstadt, Wien
der Josefstadt, Wien, UA 23.11.1978). In einem im 1978, 22–25.
Programmheft veröffentlichten Interview sagt der Au- Porträt eines Planeten. Vorwort zur Zürcher Fassung. In:
Programmheft zu Porträt eines Planeten. Schauspielhaus
tor, dass jede Regie eine Neufassung sei und dass die
Zürich 1971, 2–6.
Ursache der Veränderungen die Schauspieler und
Schauspielerinnen seien (vgl. Dürrenmatt 1978, 22). Sekundärliteratur
Die Theaterrezensionen waren positiv und berichte- Bachmann, Dieter: Wie es euch gefällt. In: Die Weltwoche,
ten auch von einer affirmativen Publikumsreaktion 2.4.1971.
(vgl. Sebestyen 1978). Brodmann, Roman: Der Dramatiker führt Regie. In: Pro-
grammheft zu Achterloo IV. SDR 1988, 7.
Trotz des Wiener Erfolgs beschloss der Dramatiker, Brook, Peter: The Empty Space. London 1968.
seinen Abschied von der Regie vorzubereiten: Die In- Carasevici, Dragoş: Die Klassiker dürrenmattisiert. Fried-
szenierung der Panne werde seine letzte Regiearbeit, rich Dürrenmatt als Regisseur. In: Ders., Alexandra Chi-
so Dürrenmatt (vgl. Berner Zeitung, 19.9.1979). Auf riac (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Rezeption im Lichte der
die Bitte seines Freundes Egon Karter (vgl. 1991, 75) Interdisziplinarität. Iaşi, Konstanz 2016, 143–152.
Carasevici, Dragoş: Produktive Rezeption im deutschspra-
dramatisierte der Autor seine gleichnamige Novelle
chigen Theater. Dramen der Weltliteratur in Friedrich
und inszenierte sie für das Gastspieltheater Karters
31  Dürrenmatt als Regisseur 125

Dürrenmatts Umarbeitung. Diss. Universität Genf, Uni- Anfang eines langen Abschieds. In: Jürgen Söring,
versität Jassy 2011. Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. Frank-
George, Marion: Lesarten – Goethes Urfaust bei Brecht und furt a. M. 2004, 285–306.
Dürrenmatt. In: Véronique Liard, Dies. (Hg.): Dürrenmatt Rüedi, Peter: Der Traum vom eigenen Theater. In: Luis Bol-
und die Weltliteratur – Dürrenmatt in der Weltliteratur. liger, Ernst Buchmüller (Hg.): Play Dürrenmatt. Ein Lese-
München 2011, 157–190. und Bilderbuch. Zürich 1996, 222–223.
Karter, Egon: Hommage an Friedrich den Grossen von Rühle, Günther: Dürrenmatt rettet sich selbst. In: Frankfur-
Konolfingen. Geschichten von und mit Friedrich Dürren- ter Allgemeine Zeitung, 2.11.1973.
matt. Hg. von Raymond Petignat. Basel 1991. Rumler-Gross, Hanna: Thema und Variation. Eine Analyse
N. N.: Basler Stadttheater: Der Besuch der alten Dame. In: der Shakespeare- und Strindberg-Bearbeitungen Dürren-
Basellandschaftliche Zeitung, 20.11.1956. matts unter Berücksichtigung seiner Komödienkonzep-
N. N.: Blick auf den Bildschirm: Frank V von Friedrich Dür- tion. Köln, Wien 1985.
renmatt. In: Neue Zürcher Zeitung, 19.2.1967. Schär, Markus: Abgang mit Achterloo: Der alte Fritz hat alles
N. N.: Der Besuch der alten Dame im Atelier-Theater. In: gesagt. In: Sonntagszeitung, 19.6.1988.
Berner Tagblatt, 27.11.1959. Schnell, Urs: Ein offener Brief statt Theaterkritik. In: Berner
N. N.: Dürrenmatt als Regisseur. In: Tages-Anzeiger, Zeitung, 11.12.1979.
1.12.1956. Sebestyen, György: »Der Tod ist das einzig Wirkliche«. In:
N. N.: Schweizer Bühnen: Dürrenmatt-Erstaufführung in Wiener Zeitung, 25.11.1978.
Bern. In: Tages Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich, Weber, Ulrich: »Der grässliche Fatalismus der Geschichte«.
9.2.1954. Friedrich Dürrenmatt und Georg Büchner. In: Véronique
N. N.: Stadttheater Bern: Die Ehe des Herrn Mississippi. Liard, Marion George (Hg.): Dürrenmatt und die Weltlite-
Eine Komödie von Friedrich Dürrenmatt. In: Der Bund, ratur – Dürrenmatt in der Weltliteratur. München 2011,
5.2.1954. 191–213.
N. N.: Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts Panne. In: Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
Berner Zeitung, 19.9.1979. Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
Rüedi, Peter: Die glücklichste Zeit, die schlimmste Erfah-
rung. Friedrich Dürrenmatts Basler Abenteuer oder Der Dragoş Carasevici
H Späte (Meta-)Dramatik

32 Porträt eines Planeten Am Anfang steht das Bühnenbild: »Im Hinter-


grund leuchtet [...] die Milchstraße auf« (WA 12, 97).
Entstehung Vier greise Gestalten treten ein, die sich als Götter vor-
stellen. Auf ihrer Wanderung durch das All gönnen sie
Porträt eines Planeten mit dem Untertitel Übungs- sich ermüdet eine Sitzpause. Man beobachtet ein
stück für Schauspieler wurde am 10.11.1970 in Lichtphänomen in der Milchstraße: »Eine Sonne dort
Düsseldorf uraufgeführt. Die für die Saison 1969/70 geht hops. [...] Sie wird eine Supernova.« Man macht
in Basel geplante Premiere wurde durch den Herz- sich Gedanken: »Ob sie wohl Planeten hat? [...] Mit
infarkt des Autors und sein Ausscheiden aus den Pflanzen, Tieren, Menschen.« Aber die Gesprächs-
Basler Theaterprojekten vereitelt. 1971 inszenierte partner sind schwerhörig und vegetieren am Rande
Dürrenmatt eine Neufassung des Stückes am Schau- der Demenz: »Mit Lebewesen kenne ich mich auch
spielhaus Zürich. Diese Aufführung wurde vom nicht aus. [...] Spielt ja auch keine Rolle. [...] Hops geht
Schweizer Fernsehen in Koproduktion mit dem Süd- sie ohnehin« (98–101). Am Ende des Stückes wird,
deutschen Rundfunk aufgezeichnet. Zur Erstaus- formal rahmenbildend, derselbe Dialog wiederholt,
strahlung dieser Aufzeichnung am 15.11.1971 trug aber in die Vergangenheitsform transponiert. Die kos-
Dürrenmatt einen Text vor, den er 1980 als Nachwort mische Katastrophe ist vorbei, die Götter ziehen wei-
zu ›Porträt eines Planeten‹ in die Werkausgabe auf- ter. Diese gleichgültige Haltung kann das Publikum
nahm (vgl. WA 12, 195–201). Die Erstausgabe des nicht einnehmen, denn auf dem Planeten, von dem
Stücks erschien 1971 im Arche Verlag. die Rede ist, leben wir Menschen. Die Parodie der
Götter wird zum Reflexionsanstoß, der den Menschen
auf sich selbst zurückwirft.
Inhalt und Form Wie die Menschen auf dem in den nächsten Minu-
ten verdampfenden Planeten sich verhalten würden,
In Porträt eines Planeten wird die Erde »im Lichte ih- was ihnen in dieser Situation wichtig wäre, was sie von
res plötzlichen Untergangs« (WA 12, 197) porträtiert. dieser Situation überhaupt erfassen und wie sie ihr
Das Licht dieser Katastrophe wird als Energiewelle ei- Wissen und ihre Werte am Ende leben würden – dem
ner explodierenden Sonne vorgestellt, die ihr Plane- geht das Porträt eines Planeten in kaleidoskopartig
tensystem in den Untergang reißt. Auf einem dieser komponierten Szenen nach. Viele beleuchten das The-
Planeten leben wir Menschen. Dieses Ereignis ist un- ma Krieg: Ein Soldat stirbt an einem Bauchschuss (vgl.
wahrscheinlich, denn unsere Sonne gilt als stabil auf 123–125); Kriegswitwen blättern im Coiffeursalon in
lange Frist. Aber auch das Unwahrscheinliche kann Modejournalen und suchen Vergessen in einem tod-
eintreten, es ist nicht unmöglich (vgl. WA 30, 203). Im traurigen Konsumalltag (vgl. 125–128); Diplomaten
Zeitalter des Vietnamkriegs und der sich anbahnen- rauchen in einer Verhandlungspause Zigarre und re-
den Klimaerwärmung unternimmt Dürrenmatt, was den zynisch darüber, warum der Krieg nicht zu früh
Karl Kraus mit seiner »bis ins Enorme aufgeschwol- enden darf (vgl. 128–130). Diese Szenen sind komple-
lene[n] Tragödie« Die letzten Tage der Menschheit mentär aufeinander bezogen. Andere sind so ange­
(1919/22; WA 12, 197 f.) auch wollte: seine Zeit kri- ordnet, dass sich rahmenbildende Symmetrien erge­
tisch darzustellen. Anders als Kraus versucht er dies ben, z. B. spiegeln sich vier Monologe uralter Frauen zu
bühnentechnisch mit »kärglichsten Mitteln« (198), Beginn des Stückes und vier Monologe uralter Männer
was den Schauspielern allerdings das Extremste an gegen Ende. Ihre Lebensbilanzen sind Bilanzen des
Verwandlungskunst abverlangt. Scheiterns. Doch Scheitern erzeugt keine Gemeinsam-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_32
32  Porträt eines Planeten 127

keit. Gescheitert wenden sie sich voneinander ab (vgl. nen-Setting gerade nicht realistisch ist (z. B. das ver-
164) oder leben in den geschlossenen Räumen ihrer folgte Liebespaar in Zeiten der Apartheid, in dunkels-
Demenz. Nur selten erscheinen Menschen, die auch ter Nacht – bei hell erleuchteter Bühne, vgl. 130–136).
am Ende noch das Wagnis der Liebe eingehen; ange- Mit solchen Theaterstrategien zielt Dürrenmatt auf die
sichts ihrer Trauer erwacht für Sekunden Mitgefühl aktive Beteiligung des Zuschauers beim imaginären
und Sympathie. Ein Beispiel: Ein Mann und eine Frau Aufbau der Theater-Fiktionen. Das dargestellte ›Reale‹
ducken sich im Dschungel unter einem Bomber- weist stets gleichnishaft auf das Gemeinte, auf eine Be-
angriff. Die Szene evoziert den Vietnam-Krieg. Die deutung, die nur das Publikum konstituieren kann.
beiden fürchten um das Leben ihres Sohnes. Doch als Das Risiko dieser Strategie ist hoch, denn wenn das Pu-
die Frau Zweifel am Sinn des Krieges ausspricht, ohr- blikum die mitdenkende und mitfühlende Aufbau-
feigt sie ihr Mann: Es ist lebensgefährlich, unter dem arbeit verweigert, bleiben nur triviale Alltagssituatio-
totalitären Regime Zweifel auszusprechen. Die Ohrfei- nen auf der Bühne zurück (vgl. 197).
ge ist ein Zeichen der Angst, aber auch ein Zeichen der Es gibt allerdings einen roten Faden, der dem Zu-
Sorge und der Liebe und wird als solches verstanden schauer von Szene zu Szene erlauben würde, einen Zu-
(vgl. 122). Genau in der Mitte von Porträt eines Plane- sammenhang zu bilden. Aber dieser Zusammenhang
ten befindet sich das Gespräch dreier Kriegsgefange- ist kein dramatisch handlungsbezogener, er zeigt viel-
ner angesichts ihrer unmittelbar bevorstehenden Hin- mehr die physikalische Entwicklung des Systems Erde
richtung. Diese Szene ist als genaues Gegenstück zum in seinem Bezug zum Kosmos auf. Der Klimawandel
rahmenbildenden Dialog der Götter komponiert und zieht sich als Leitmotiv durch alle Szenen. Sogar die
fasst die noch mögliche humane Weltsicht zusammen: Soldaten im Dschungelkrieg nehmen die zunehmende
»Ein Wissenschaftler hat mir gesagt, wenn die Erde Hitze wahr und sie fluchen: Die »Scheißsonne« »könn-
kleiner wäre, hätte sie keine Atmosphäre, und wenn sie te zur Abwechslung auch mal explodieren« (124). Sie
näher an der Sonne läge, würde sie verbrennen.« wissen nicht, was wir als Zuschauer aufgrund des ein-
»Wahrscheinlich.« »Die Erde ist eine Chance.« »Offen- leitenden Dialogs der Götter wissen: Die Sonne ist ge-
sichtlich.« »Der Mensch kann denken.« »Manchmal.« rade dabei, es zu tun. Das Katastrophenbewusstsein
»Seine Ideen können nicht erschossen werden.« »Of- wird akut in der Szene, die im Kommandobunker des
fenbar.« »Die bessere Welt liegt in der Zukunft.« »Ver- Staatspräsidenten einer Großmacht spielt (vgl. 172–
mutlich.« »Du bist pessimistisch.« »Wir werden an die 179). Der Präsident ist ungehalten über die wachsende
Wand gestellt« (146). Gleich darauf singen drei Schau- Anzahl zerstörerischer Hurrikane, denn sie verhin-
spielerinnen das Lied Der Wanderer an den Mond von dern die Fortsetzung des Dschungelkrieges. Nun be-
Franz Schubert: »Ich auf der Erd’, am Himmel du, / wir ginnt der Streit der Experten. Die Erklärung des Kli-
wandern beide rüstig zu« (147 f.). Nach beendigtem mawandels durch die unmittelbar bevorstehende In-
Gesang werfen sie die Notenblätter in einen Blech- stabilität der Sonne wird zwar von einem Professor der
kübel. Drastischer könnte man nicht zeigen, dass die Temple University in Philadelphia vertreten, aber die-
im Lied implizierte harmonisch-heimatliche Kosmo- ser wird umgehend zum Narren erklärt, denn die In-
logie für Dürrenmatt nicht mehr zu den »noch mögli- stabilität der Sonne würde ja das Ende der Erde bedeu-
che[n] Geschichte[n]« (WA 21, 35) gehört. ten, und das könne nicht sein.
Die Klimaerwärmung wird in Porträt eines Plane-
ten als Konsequenz erhöhter Sonnenaktivität ver-
Kontextwissen, Wirkungsästhetik standen, die sich in einer höheren Anzahl beobacht-
barer Sonnenflecken manifestiert (z. B. 168 f.). Das
Dürrenmatt war sich bewusst, mit seinem experimen- entspricht dem möglichen Wissen zur Entstehungs-
tellen Übungsstück »an die Grenze dessen vorgestoßen zeit des Übungsstücks. Bis etwa 1960 verlief die Kurve
zu sein, was eigentlich Theater vermag« (WA 12, 199). der Klimaerwärmung parallel zur Kurve vermehrter
Porträt eines Planeten weist keine durchgehende Hand- Sonnenflecken-Tätigkeit. Ab 1960 ging die Sonnenfle-
lung auf. Acht Schauspielerinnen und Schauspieler er- cken-Aktivität wieder zurück, die Erderwärmung je-
halten die Aufgabe, sich auf offener Bühne in Sekun- doch nicht (vgl. Russel 2014). Dieses Auseinandertre-
denschnelle in verschiedene Personen zu verwandeln ten der Kurven ist heute ein starkes Argument dafür,
und nur mit Hilfe spärlichster Requisiten unterschied- den Klimawandel als menschengemacht zu verstehen.
lichste Situationen zu evozieren, die für den Zuschauer In den späten 1960er Jahren war dieses Argument
als Theater-Fiktionen funktionieren, obschon das Büh- noch nicht möglich.
128 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

Dürrenmatt weist im Nachwort zu ›Porträt eines selten, oft gerade nicht oder doch nur in verkümmer-
Planeten‹ auf den Kontext einer »kosmologischen Hy- ten Ansätzen zur Sprache. Die Konfrontation mit dem
pothese« hin, die behauptet, »daß Planeten [...] nur Ethischen ist vielmehr als Wirkung des Übungsstückes
dann entstehen, wenn die auseinanderfegende Mate- im »äußeren Kommunikationssystem« (ebd.) zu ver-
rie von explodierenden Sonnen (Supernovae) Wasser- stehen, als Appell an das Publikum. Dieser Appell
stoffwolken beschmutzt, [...] so daß wir eigentlich auf könnte lauten, angesichts der Endlichkeit des Lebens
den Überresten einer unvorstellbaren Weltkatastro- auf der Erde nicht zum zynischen Nihilisten zu werden,
phe leben« (WA 12, 195). Diese kosmologische Hypo- sondern sich auf die Seite derjenigen zu stellen, die das
these bezieht sich auf die Theorie der Entstehung der Wagnis der Liebe eingehen, die also um etwas zu trau-
schweren Elemente in Supernovae, die Fred Hoyle ern haben, falls die Katastrophe eintreten sollte.
1946 und 1954 aufgestellt hat. In Dürrenmatts Biblio-
thek befindet sich dessen astrophysikalisches Einfüh-
rungswerk Das grenzenlose All (1963); aus dieser Rezeption
Quelle bezieht der Autor u. a. sein Wissen über die
Evolution des Kosmos. Die Literaturkritik hat sich zur Deutung des Porträt[s]
Fast alle der im Porträt dargestellten Menschen ha- eines Planeten bisher meist auf einzelne inhaltliche
ben astronomisches Wissen oder Halbwissen und bau- Hinweise zur Kosmologie aus dem Nachwort gestützt
en es in ihre Haltung gegenüber dem unausweichlichen und sich kaum auf die Analyse des Werks eingelassen.
Ende ein. Die Art und Weise, wie sie mit diesem Wissen Da es in diesem neuartigen Theaterstück nicht mehr
umgehen, charakterisiert ihre existentielle Position zu möglich ist, die Handlung eines ›mutigen Menschen‹
Leben und Tod und zu den Werten, die Humanität de- als Plot zusammenzufassen, scheint die Kritik dem Ex-
finieren könnten. Damit bestätigt sich auch in Porträt periment eher hilflos und verärgert gegenüberzuste-
eines Planeten, was in Dürrenmatts literarischen Texten hen. Stellvertretend sei auf Rusterholz (2007, 300 f.)
immer wieder zu beobachten ist: Die Bezugnahme auf verwiesen, der, den Tenor bisheriger Beurteilung zu-
den Kosmos ist perspektivisch gebrochen. Damit öff- sammenfassend, dem Stück »Trivialität« und »unfrei-
nen sich Spielräume für ironische Strategien und für die willige Komik« vorwirft, aber die Leitmotive des Kli-
wirkungsästhetische Lenkung von Sympathie in allen mawandels und des astronomischen Wissens nicht re-
Schattierungen des Bewertungsspektrums zwischen konstruiert, die Funktion der Kulturzitate daher ver-
mitfühlender Identifikation und empörter Distanzie- kennt und die wirkungsästhetische Dimension außer
rung. Wie ergiebig es sein kann, die wirkungsästheti- Acht lässt. Mit seinem dramaturgischen Experiment
schen Kategorien der Dramenanalyse von Pfister (1975; realisiert Dürrenmatt bereits in den späten 1960er Jah-
1978) im Umgang mit Dürrenmatts Theaterpartituren ren, was Michel Serres 2016 in einem geschichtsphi-
konsequent anzuwenden, hat Käppeli (2013) gezeigt. losophischen Essay fordert: Die traditionelle histori-
Das wirkungsästhetische Konzept seiner neuen ex- sche Selbstreflexion des (europäischen) Menschen ha-
perimentellen Darstellungsweise hat Dürrenmatt am be mehrere Akte des Vergessens rückgängig zu ma-
präzisesten in seinen Sätzen über das Theater dar- chen: das Vergessen der kulturellen Vielfalt, der
gestellt, die zeitlich parallel zum Porträt eines Planeten Umwelt, der biologischen Evolution, des Planeten, des
entstanden und deren Kernsatz er in seinem Nachwort Universums und seiner astrophysikalischen Aspekte.
zitiert. Nach Dürrenmatts ›Poetik des Unwahrscheinli- Man kann Dürrenmatt und seinem gewagten drama-
chen‹ ist es die Aufgabe des Dramatikers, »daß er be- turgischen Experiment vieles vorwerfen, aber nicht,
schreibt, was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn dass er diese Kultur des Vergessens weitergeführt habe.
sich unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereig-
nen würde« (WA 30, 207). »Durch die schlimmstmög- Literatur
Primärtexte
liche Wendung, die ich einer dramatischen Fiktion ge- Porträt eines Planeten. Übungsstück für Schauspieler.
be, erreiche ich auf einem merkwürdigen Umweg über Zürich 1971.
das Negative das Ethische: Die Konfrontierung einer Porträt eines Planeten. Übungsstück für Schauspieler. In:
gedanklichen Fiktion mit dem Existentiellen« (209). WA 12, 95–189.
Diese Konfrontation mit dem Ethischen, mit dem Exis-
tentiellen, findet im Wesentlichen nicht auf der Bühne Sekundärliteratur
Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
statt, nicht im »inneren Kommunikationssystem« matt. Weimar 2013.
(Pfister 2001, 67). Dort kommt sie nämlich nur ganz
32  Porträt eines Planeten 129

Pfister, Manfred: Das Drama [1975]. München 2001. behauptungen/behauptung-die-sonne-verursacht-den-


Pfister, Manfred: Zur Theorie der Sympathielenkung im klimawandel (12.8.2019).
Drama. In: Werner Habicht, Ina Schabert (Hg.): Sym- Rusterholz, Peter: Friedrich Dürrenmatt. In: Ders., Andreas
pathielenkung in den Dramen Shakespeares. München Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart,
1978, 20–34. Weimar 2007, 280–311.
Russel, John: Behauptung: »Die Sonne verursacht den Kli- Serres, Michel: Darwin, Bonaparte et le Samaritain: une phi-
mawandel«. In: https://www.klimafakten.de/ losophie de l’histoire. Paris 2016.

Rudolf Käser
130 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

33 Der Mitmacher Inhalt und Analyse

Entstehungs-, Publikations- und Auf- Ein heruntergekommener, einst in der Spitzenfor-


führungsgeschichte schung tätiger Biochemiker (Doc) lässt sich in einer
namenlosen Großstadt von einem Gangster (Boss)
Gemäß Dürrenmatts Darstellung in Der Mitmacher. dazu anheuern, Leichen durch ein chemisches Ver-
Ein Komplex (WA 14, 232–235) hatte er den Einfall fahren spurlos aufzulösen. Er arbeitet schon einige
zum Mitmacher-Stoff 1959 anlässlich eines New York- Zeit für dieses Unternehmen, als der Polizeichef der
Aufenthalts. Dürrenmatt hat diesen ersten Ansatz erst Stadt (Cop) die Machenschaften entdeckt und eine
nach der Uraufführung der Komödie 1973 wieder auf- Beteiligung von 50 Prozent an den Zahlungen für die
genommen und als ursprüngliche Version des Stoffs Leichenvernichtung erpresst. Doc hegt die Hoffnung,
in der Erzählung Smithy »rekonstruiert« (ebd., 261). bald aussteigen und ein neues Leben mit seiner Ge-
Die Komödie selbst wurde in den Jahren 1971–1973 liebten Ann beginnen zu können. Doch gerät er zu-
(mit den Arbeitstiteln Die Erfindung und Die Mit- nehmend in Verstrickungen: Nicht nur ist Ann ohne
macher) niedergeschrieben und am 5.3.1973 am sein Wissen zugleich die Geliebte von Boss; Doc sieht
Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Der Urauffüh- sich zudem in seiner ›beruflichen‹ Funktion unver-
rung waren Auseinandersetzungen Dürrenmatts mit mittelt seinem eigenen Sohn Bill gegenüber, der – als
dem polnischen Regisseur Andrzej Wajda voraus- Erbe eines Chemiekonzerns der reichste Mann des
gegangen, die in dessen Rückzug eine Woche vor dem Landes – die Gangsterbande für seine revolutionären
Premierentermin gipfelten. Der Autor übernahm da- Zwecke einspannen will und eine Serie von Präsiden-
raufhin selbst die Regie. Die Uraufführung war ein tenmorden plant, aber seinerseits von seinem Auf-
Misserfolg – Dürrenmatt sprach im Rückblick von ei- sichtsrat auf die Abschussliste gestellt wird. Diese in-
nem »Debakel« (WA 30, 236) und von einer seiner stitutionellen und privaten Konflikte führen dazu,
»grössten Theaterniederlagen« (zit. nach Weber 2007, dass schließlich alle Hauptfiguren bis auf Doc als
88). Nach der Uraufführung interessierte sich kein Leichen im unterirdischen Lagerraum enden, wo Doc
größeres Theater mehr für die Übernahme des von der sein Geschäft betreibt.
Kritik verrissenen Stücks. Immerhin wurde der Autor Doc und Cop sind nicht nur im Schriftbild Spiegelfi-
vom Nationaltheater Mannheim zu einer eigenen In- guren: Beide stehen für gegensätzliche Haltungen in
szenierung eingeladen, deren Premiere am 31.10.1973 der Frage nach dem ›Mitmachen‹ und nach der Mög-
stattfand. Für die Mannheimer Inszenierung über- lichkeit der Freiheit, die sich – vergleichbar mit Der Be-
arbeitete und erweiterte Dürrenmatt den Text. Auf der such der alten Dame – in Form einer Absonderung des
Basis dieser Fassung wurden Ende 1973 die Druckfah- Einzelnen von einem negativen kollektiven und sys-
nen für die Buchpublikation im Arche Verlag gesetzt. tembestimmten Handeln manifestiert. Doc, der mit
Doch wurde das Stück erst 1976 als Teil des Werk- seiner Anstellung im Unternehmen von Anfang an sei-
zusammenhangs Der Mitmacher. Ein Komplex. Text ne biochemischen Kenntnisse für ein perverses Ziel
der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen, Berichte, Er- einsetzt, entscheidet sich für das Überleben, das nur um
zählungen publiziert. Eine Neufassung der Komödie den Preis des Mitmachens und der Selbstverleugnung
erschien in der Werkausgabe von 1980 und dient als zu haben ist; er verleugnet seine Geliebte Ann und drei-
Textgrundlage auch für die WA. Eine letzte Umarbei- mal (wie einst Petrus) seinen Sohn Bill. Dagegen er-
tung erstellte Dürrenmatt für die Inszenierung des greift der nur scheinbar korrupte Cop die »letztmögli-
Stücks durch seine Ehefrau Charlotte Kerr 1989 in Aa- che Freiheit« (WA 14, 211). Durch seinen Mord an Bill,
chen. Sie ist allerdings nur in Auszügen im Pro- dem reichsten Mann des Landes und Auftraggeber des
grammheft publiziert. Darin werden vor allem An- Unternehmens, lässt er das große Geschäft platzen, oh-
spielungen auf zeitgenössische Politik eingeführt. Der ne sich jedoch Illusionen über eine dauerhafte Störung
Mitmacher wird bis heute nur selten inszeniert, meist des Systems zu machen: Es geht ihm nur noch um seine
auf kleinen Bühnen. Selbstachtung und darum, »eine kurze Weltsekunde
lang [...] dem fatalen Abschnurren der Geschäfte Ein-
halt« zu gebieten (ebd., 87), im Bewusstsein, dass er die-
sen Verrat am Unternehmen mit dem Leben bezahlen
wird. Das Motiv des subjektiv freien Handelns ohne Il-
lusionen über objektive, gesellschaftsverändernde Aus-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_33
33  Der Mitmacher 131

wirkungen verbindet die Figur Cop mit dem 1955 in die das Stück prägt: »Ich bin in eine Geschichte ver-
den Theaterproblemen formulierten Konzept des ›mu- strickt, die mich nicht zu Wort kommen läßt, in eine
tigen Menschen‹. Dürrenmatt wird im Nachwort zum heil- und sprachlose Angelegenheit, sprachlos, weil sie
Mitmacher in der Weiterführung und Zuspitzung die- im Verschwiegenen spielt, so daß die Beteiligten
ses Konzepts Cop mit Bezug auf Kierkegaard als ›iro- schweigen, auch wenn sie miteinander reden« (WA
nischen Helden‹ (vgl. ebd., 202 f.) interpretieren: Sein 14, 15). Die Monologe sind ans Publikum gerichtet
moralisches Handeln ist für Außenstehende unver- und geben diesem einen Wissensvorsprung gegen-
ständlich; es hat den Charakter eines Verbrechens und über den Figuren. Dadurch werden die Dialoge von
ist zugleich die einzige Möglichkeit, den Systemmecha- der Funktion der Zuschauerinformation entlastet und
nismen mit Bezug auf eine ethische Position Wider- können beinahe vollständig in ihrer Doppelfunktion
stand entgegenzusetzen, es ist mithin paradox. Dem als reduktionistische Sprachkomposition und als ver-
steht auf Seiten des sozio-ökonomischen Systems die baler Kampf zwischen den Figuren aufgehen.
»große[…] Korruption« (ebd., 84) gegenüber: Die
staatlichen Instanzen wollen allesamt das verbrecheri-
sche Geschäft nicht unterbinden, sondern selbst davon Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
profitieren, so dass sich als Systemlogik die Verstaatli-
chung des ›Unternehmens‹ vollzieht. Kennzeichnend für die Dramaturgie des Mitmachers
Steht Doc für die bereits in den Physikern zentrale ist ein konsequentes Prinzip des Nicht-Zeigens der
Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der ganzen Grausamkeit des Geschehens. Sprachlich ma-
Naturwissenschaft, so repräsentiert Bill im Ansatz nifestiert sich diese Ästhetik in Euphemismen wie
Dürrenmatts Anliegen, mit naturwissenschaftlichen ›Ware‹ für die Leichen und ›Unternehmen‹ für die Kil-
Denkweisen Erkenntnisse über die Gesellschaft und lerorganisation, visuell in der Tatsache, dass die Tötun-
ihre Funktionsweise zu gewinnen; doch bleibt er zu- gen jenseits des Sichtbaren bzw. Gezeigten stattfinden
gleich in seinen ideologischen Voraussetzungen be- und (bis auf Bill) weder die Leichen noch der Leichen-
fangen und scheitert (vgl. Käppeli 2013, 233–237). auflösungsapparat, von seinem Erfinder Doc ›Nekro-
Das Stück ist in zwei Teile gegliedert. Doch besteht dialysator‹ genannt, auf der Bühne sichtbar sind.
es in der Fassung der Erstpublikation im Rahmen die- Mit diesen Prinzipien der Darstellung wie auch mit
ser Zweiteilung aus fünf gleichförmigen Segmenten, der Einheit des Ortes und der Zeit – die Handlung
die je durch einen epischen, aus dem »inneren Kom- spielt sich, abgesehen von zwei Rückblenden, inner-
munikationssystem« (Weber 2007, 41; vgl. Käppeli halb von zwei Tagen ab – knüpft Dürrenmatt in seiner
2013, 246) der Spielebene heraustretenden Monolog schwarzen Komödie an die Ästhetik der klassischen
eines der fünf Protagonisten eingeführt werden, ge- Tragödie an (vgl. Weber 2007, 95–137; Käppeli 2013,
folgt von daran anknüpfenden Dialogen. In der Neu- 244–247). Dass dieser Bezug auf »Klassik« (Probst
fassung von 1981 kommt ein weiterer Monolog von 1996, 41) Methode hat, zeigt sich in weiteren Eigen-
Jack hinzu, der dadurch aus der Nebenfigur zu einer arten des Stücks, in der (in der Erstfassung) hinter-
sechsten Hauptfigur wird. Die Person, die den Mono- gründig auf fünf Akte hin angelegten Struktur, in den
log hält, tritt in der Folge jeweils in einen Dialog mit Dialogen, die zu Stichomythien, zu knappstem Schlag-
Doc. Sieht man von den Monologen ab, ist dieser – abtausch mit Worten verdichtet sind, im Spiel mit der
ähnlich wie die Hauptfiguren in Romulus der Große Anagnorisis (der Wiedererkennungsszene), die neben
und Der Meteor – in allen Szenen des Stücks präsent. der Peripetie zu den aristotelischen Grundelementen
Docs Wohn- und Arbeitsort ist der einzige Schau- der Dramaturgie zählt. In der Tat hat Dürrenmatt be-
platz: das fünfte Untergeschoss einer alten, unbenutz- reits früh (1951 im Text Etwas über die Kunst, Theater-
ten Lagerhalle, in das eine Wohnnische sowie ein stücke zu schreiben) davon gesprochen, es sei in seiner
Kühlraum eingebaut wurde, wo Doc seinem Geschäft Zeit für die »Liebhaber[…] der strengen Form« wieder
nachgeht. Dieser geschlossene Raum befindet sich möglich, die »geschlossene Form aus Kühnheit« als
in einer unbenannten Großstadt, die an New York »Ausnahme« anzustreben (WA 30, 15) und so – wie er
oder Chicago erinnert, aber – der stilisierenden Ab- über den Mitmacher sagt – »Klassik als Experiment«
straktion des gesamten Stücks entsprechend – nicht (G 2, 95) zu realisieren.
beim Namen genannt wird. Doch weist nicht nur das grotesk-makabre Szena-
In seinem Eingangsmonolog stellt Doc program- rio der Leichenvernichtungsmaschinerie die Bezüge
matisch die Kommunikationssituation ins Zentrum, zu ›Klassik‹ als Parodie aus; die ›klassischen‹ Elemente
132 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

werden in systematischer Weise dysfunktional ange- in Deutschland virulente Auseinandersetzung zwi-


wendet (vgl. Weber 2007, 115–117): Zwar wird bei- schen der ›Mitmacher‹-Generation der Nazizeit (die in
spielsweise von Anfang an auf das Wiedererkennen der Tötungs- und Vernichtungsmaschinerie und im
hingewiesen, doch wird dieses Wiedererkennen nicht euphemistischen Sprachgebrauch mitzudenken ist)
als Handlungsfaktor eingelöst (Boss kommt bis zu und den Rebellen der 1968er-Bewegung bis hin zu den
seiner Hinrichtung durch Cops Handlanger ›nicht terroristischen Aktivitäten der Roten Armee Fraktion
drauf‹, wo er Cop schon getroffen hat). Das Drama er- (RAF). Dürrenmatt selbst weist in einer zu Lebzeiten
weist sich als Schein- oder Post-Drama (vgl. ebd., unpublizierten Erinnerung den italienischen marxisti-
119–137): Die repräsentativen Figuren sind nur noch schen Verleger Giangiacomo Feltrinelli als eine mögli-
scheinbar die Handelnden, die Antagonismen bloße che Modellfigur für den Rebellen Bill aus (vgl. Dürren-
dramaturgische Spiegelfechterei ohne Auswirkungen matt: Rekonstruktionen, 26). Durch seine ideologische
auf das Funktionieren des ökonomischen Systems. Befangenheit bleibt es Bill verwehrt, seinen Versuch
Dies entspricht einer Verlagerung des Fokus von den zur politischen Anwendung experimentell-naturwis-
Figuren auf die »systemischen Bedingungen« (Käppe- senschaftlichen Denkens aufklärerisch fruchtbar zu
li 2013, 170). Der Mitmacher kann als die konsequen- machen, wie es Dürrenmatt in Anlehnung an Karl
teste dramaturgische Umsetzung und Fortführung Popper postuliert (vgl. Käppeli 2013, 233).
der These aus den Theaterproblemen interpretiert wer-
den, dass heute »Kreons Sekretäre [...] den Fall Anti- Literatur
Primärtexte
gone« (WA 30, 60) erledigten: Am Ende ist Doc neben Der Mitmacher. Eine Komödie. In: Zürich 1976, 7–78.
den Statisten, die vordergründig – stellvertretend für Der Mitmacher. Eine Komödie. In: WA 14, 13–93.
ein totalitäres, an diktatorische Verhältnisse erinnern- Dramaturgie eines Durchfalls. In: WA 30, 231–249.
des System von Wirtschaft und Staat – die Macht Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D. In: WA 31, 139–167,
übernehmen, der einzige Überlebende. Am Schluss bes. 159 f.
[Gespräch mit] Dieter Bachmann [1973]. In: G 2, 84–91.
stehen nur noch die ›Sekretäre‹, hier, die Handlanger
[Gespräch mit] Peter André Bloch/Herbert Tiefenbacher
der anonymen, unsichtbaren Macht des Systems auf [1973]. In: G 2, 92–108.
der Bühne. Rekonstruktionen. Mit einem Kommentar von Ulrich
Komposition und Sprache werden dabei zunächst Weber. In: Text + Kritik 50/51 (2003), 19–35.
konsequent als Ausdruck dieses unmenschlichen Sys-
temcharakters eingesetzt, in den späteren Fassungen Sekundärliteratur
Arnold, Heinz Ludwig: Theater als Abbild der labyrinthi-
treten jedoch die Klassik-Bezüge und der ›systemati-
schen Welt. In: Daniel Keel (Hg.): Über Friedrich Dürren-
sche‹ Charakter des Stücks in den Hintergrund und matt. Essays und Zeugnisse von Gottfried Benn bis Saul
die damit verbundene strenge Komposition wird zu- Bellow [1980]. Zürich 1998, 80–100.
nehmend gelockert – möglicherweise als Konsequenz Brack, Gerhard: Durchfall einer Philosophie. Friedrich Dür-
der Erkenntnis, dass sie in der Rezeption der Auffüh- renmatts Der Mitmacher. Dramaturgie, Entstehung,
rungen in ihrer Logik kaum wahrgenommen wurden. Zusammenhänge. Erlangen 1997 (Mikrofiches).
Käppeli, Patricia: Politische Systeme bei Friedrich Dürren-
Trotz der konsequenten Stilisierung fehlt es nicht matt. Eine Analyse des essayistischen und dramatischen
an historischen Kontexten, auf die das Stück bezogen Werks. Köln, Weimar, Wien 2013.
werden kann: Die Verstrickung korrupter Behörden Probst, Rudolf: Die Komödie Der Mitmacher: Abschied vom
mit einer mächtigen Mafia in den nordamerikanischen Drama? In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Lite-
Großstädten der 1960er Jahre war zur Zeit der Urauf- raturarchivs (1996), 7, 39–58.
Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
führung ein aktuelles Medienthema (vgl. Brack 1997),
der Mitmacher-Krise. Basel, Frankfurt a. M. 2007.
doch zugleich widerspiegelt der Generationenkonflikt
zwischen Doc und seinem Sohn Bill die insbesondere Ulrich Weber
34  Die Frist 133

34 Die Frist den Diktator wurde ein Operationssaal in der Resi-


denz El Pardo eingerichtet, was dem Autor den Anstoß
Die Frist. Eine Komödie, ab Dezember 1975 unter den für das räumliche Setting seiner Komödie vermittelte.
Arbeitstiteln Exitus und Höllenfahrt – Untergang eines Dürrenmatt schildert in Wie ›Die Frist‹ entstand seine
Regimes entwickelt, wurde am 6.10.1977 am Schau- Situation als Patient und Weltbeobachter. Die Komö-
spielhaus Zürich in der Regie von Kazimierz Dejmek die ist ein Versuch, der eigenen Krankheit und den
uraufgeführt. Parallel dazu wurde es in Basel von schwer durchschaubaren politischen Geschehnissen
Hans Neuenfels inszeniert (Premiere: 19.10.1977). eine poetische ›Gegenwelt‹ entgegenzusetzen und es
Kurz vor der Uraufführung erschien eine erste Text- dem Zuschauer zu überlassen, kraft der eigenen Fan-
fassung. 1978 wurde die Komödie überarbeitet und tasie »auf der Bühne die Wirklichkeit zu entdecken«
im Friedrich Dürrenmatt Lesebuch des Arche Verlags (WA 15, 13). Anders als z. B. Rolf Hochhuth versucht
publiziert, 1980 erschien sie in einer weiteren Fassung Dürrenmatt nicht, ein dokumentiertes Zeitstück zu
in der Werkausgabe. Für das Programmheft der Ur- schreiben; ihm geht es um »Welttheater« (s. Kap. 99),
aufführung schrieb Dürrenmatt einen Begleittext, Wie dessen Verhältnis zur Gegenwart ein völlig anderes
›Die Frist‹ entstand (WA 15, 135–147), der leicht ver- ist: »Alles ist Erinnerung, vom Gegenwärtigen herauf-
ändert und gekürzt in die Stoffe (WA 28, 161–167) ein- beschworen [...]. Das Gegenwärtige, vom Herauf-
gegangen ist. Unter den wenigen Inszenierungen sind beschworenen durchdrungen, entlädt sich in Visio-
zu erwähnen die polnische Erstaufführung in Lodz nen« (WA 15, 146). Dürrenmatt hat diese Poetologie
(9.3.1978) und die DDR-Erstaufführung im Volks- des »Welttheaters« weiter ausgeführt im Nachwort zu
theater Rostock am 8.2.1979. Diese wurde vom DDR- Achterloo (WA 18, 556), in den einleitenden Passagen
Fernsehen aufgezeichnet (Erstsendung 13.10.1979). zu Stoffe IV: Begegnungen (WA 29, 15 f.) und schließ-
lich, parodistisch, unter dem Stichwort »Wirrkopfs
Wirklichkeitsphilosophie« in der posthum erschiene-
Inhalt nen Erzählung Der Versuch (WA 37, 127 f.).

Der Titel bezieht sich auf das medizinisch hinausgezö-


gerte Sterben eines Diktators. Der Ministerpräsident Anregungen, Umsetzungen
des Staats versucht, die Machtansprüche potentieller
Nachfolger gegeneinander auszuspielen und eine po- In Wie ›Die Frist‹ entstand benennt Dürrenmatt weite-
litische Lösung zu finden, die den drohenden Bürger- re Erinnerungen, die durch die aktuellen politischen
krieg vermeidet. Um dafür Zeit zu gewinnen, wird der Ereignisse heraufbeschworen wurden. Zunächst evo-
Diktator auf der in seiner Residenz eigens eingerichte- ziert die Agonie des Diktators gleichnishaft die mythi-
ten Intensivstation am Leben erhalten und mehreren sche Figur des Atlas, der unter dem Gewicht der Welt
Operationen unterzogen. Seine Agonie wird im Fern- zusammenbricht (vgl. WA 15, 135 u. 142 f.). Das hi-
sehen übertragen, um im Volk Mitleid zu erregen und nausgezögerte Sterben erinnert Dürrenmatt an Expe-
mögliche Putschisten am Handeln zu hindern. Im rimente, die von Ärzten während der NS-Zeit durch-
mittelalterlichen Thronsaal machen sich Bildschirme geführt wurden und die er in seinem Kriminalroman
der medizinischen Geräte und Scheinwerfer des Fern- Der Verdacht thematisiert hat (vgl. WA 20, 119–265).
sehens breit. Das Sterben als Spektakel wird zur medi- Die Figur des Arkanoff, ein untergetauchter Lagerarzt,
enkritischen Tragikomödie. der bereit ist, dem sterbenden Diktator ohne Narkose
das Herz des soeben zum Selbstmord gezwungenen
Geheimdienstchefs zu implantieren, erinnert an den
Zeitgeschichte vs. Welttheater Arzt Nehle/Emmenberger aus Der Verdacht. Die Über-
steigerung ins Groteske ist eine Antwort auf die eupho-
Die realgeschichtlichen Analogien zur Agonie des spa- risch gefeierten Erfolge der Transplantationsmedizin,
nischen Diktators Franco (gest. 22.11.1975) und zum z. B. der ersten Herztransplantation durch Christiaan
anschließenden Prozess der ›Transition‹ Spaniens sind N. Barnard (1967). Diese medizinischen Erfolge wer-
nicht zu übersehen. Dürrenmatt verfolgte das politi- den in den 1970er Jahren kontrapunktisch begleitet
sche Geschehen vom Spital aus; am 12.10.1975 war er von einer zunehmenden Problematisierung des Ster-
mit akuten Herzbeschwerden eingeliefert worden. bens auf der Intensivstation. 1974/75 kam es in Zürich
Franco erlitt seinen Herzinfarkt am 15.10.1975. Für zu einer öffentlich ausgetragenen Kontroverse um die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_34
134 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

Legitimität passiver Sterbehilfe in Spitälern (›Affäre selber sind, / [...] / Das Weibliche, es hat zum Ziele / Die
Haemmerli‹). Folgen und Grenzen der modernen Me- Ewigkeit und das Sterile« (WA 15, 131). Unverkennbar
dizin werden thematisiert durch Philippe Ariès’ Studi- ist dieser Schlusschor als Kontrafaktur des Schlusses
en zur Geschichte des Todes im Abendland (dt. 1976) von Goethes Faust II konzipiert (vgl. Weber 2013,
und durch den polemischen Essay Die Nemesis der Me- 363 f.). Allerdings sollte man die letzte Bühnenanwei-
dizin (dt. 1977) von Ivan Illich. sung nicht übersehen: »Die Unsterblichen fallen in sich
Arkanoffs Gegenpart, der Arzt und Friedensnobel- zusammen und sterben« (WA 15, 131). Die Engfüh-
preisträger Goldbaum, ist laut Dürrenmatt eine Trans- rung »Unsterbliche sterben« ist ein Ironiesignal (Esslin
position des russischen Physikers und Friedens-No- 1983, 145): Wenn am Schluss der Dürrenmattschen
belpreisträgers Andrei Dmitrijewitsch Sacharow (vgl. Komödien im Chor gesungen wird, ist die Spitze der
WA 15, 142), der ab 1973 in der Sowjetunion regime- Verblendung auf der Bühne erreicht. Das Publikum
kritische Pressekonferenzen abhielt, in denen er den wird nicht aufgefordert, dabei mitzumachen.
menschenrechtswidrigen Umgang mit politisch Dis-
sidenten anprangerte.
In Dürrenmatts Welttheater verschmelzen also Forschung
Anregungen durch die politischen Reformprozesse in
Spanien und der Sowjetunion. Aus dieser Fusion kon- Die Forschung zu Die Frist hat sich vor allem mit der
zipiert er die Vision eines Transitionsprozesses, in dem Deutung der provokativen Schlussszene befasst. Cro-
der prometheisch-idealistische Weltkritiker Gold- ckett nimmt den Chor der Unsterblichen ohne Iro-
baum zum Atlas werden muss, zum verantwortlichen nieverdacht ernst: Dürrenmatt hätte hier der »Ver-
Weltenträger, der sich den korrumpierenden Gesetzen lockung des Nihilismus nicht widerstehen« können.
der Machtausübung zu beugen hat. Nach der Ermor- Er hält das Motiv der Unsterblichen für »eine Assozia-
dung des Ministerpräsidenten durch den Bauern Toto, tion zu viel«, die das Theaterstück zum Scheitern brin-
den Vater eines hingerichteten Partisanen, muss Gold- ge (Crockett 1998, 159 f.). Weber (2013) untersucht
baum dessen Amt übernehmen: »Zu menschlich für die Intertextualität mit Goethes Faust II, hinterfragt
diese Welt, werden Sie in die Unmenschlichkeit gesto- aber die Gültigkeit der Sterilitätsvision der Unsterbli-
ßen. Und wenn Sie jetzt nicht unmenschlich werden, chen nicht und vernachlässigt damit ebenfalls die wir-
wird dieses Land noch unmenschlicher« (125). kungsästhetische Ironiestrategie des Chor-Schlusses.
Einen weiterführenden Interpretationsansatz ent-
wickelt Schu: Sie weist darauf hin, dass dem Tod und
Dürrenmatts Feminismus-Vision dem Todesbewusstsein im Kontext des evolutions-
geschichtlichen Denkens bei Dürrenmatt eine huma-
Diese skeptische Sicht wird mit noch dunkleren Per- nisierende Funktion zugedacht wird. Seine defor-
spektiven versehen durch die visionäre Umsetzung fe- mierten Frauenfiguren, angefangen mit Claire Zacha-
ministischer Diskurse der 1970er Jahre, z. B. in Ernest nassian aus Der Besuch der alten Dame bis hin zum
Bornemanns Das Patriarchat (1975). Der Geschlech- Schlusschor der Unsterblichen in Die Frist, blieben
terkampf, gesehen als archaische Unterdrückung des in ihrer Opfer- und Rächer-Rolle befangen: »Diesen
Matriarchats durch das Patriarchat und als nun anbre- apokalyptischen Frauenfiguren wird jeglicher Fort-
chende Rache der Opfer, führt zur Theatervision einer schritt abgesprochen, sie sind in einem unveränder-
Horde uralter weiblicher Wesen, der Großmütter und lichen evolutionären Ist-Zustand gefangen« (Schu
Urgroßmütter, Tanten und Großtanten des Diktators, 2007, 285). In ihrer Lebensfeindlichkeit werden sie
die sich für »Unsterbliche« halten. Sie hausen in einem dem Publikum als Warnvisionen einer nicht zukunfts-
überwachten Winkel des Palasts, brechen aber ab und fähigen Haltung vorgestellt. Ein steriler Kosmos ent-
zu gewaltsam aus. Den Machtkampf der Männer be- spricht nicht dem Denken des Autors, sondern ist eine
lauern sie aus dem Hintergrund und begleiten das Ge- Ideologie der in ihrer Opferrolle befangenen Figuren.
schehen mit hämischen Kommentaren. Am Schluss
fleddern sie die Leiche des Diktators und vereinen sich Literatur
Primärtexte
zu einem Chor, der den Rachesieg feiert: »Jetzt sinkt Die Frist. Eine Komödie. Zürich 1977.
zurück ins weiße All, / Was Männer schufen, Männer Die Frist [Neufassung]. In: Friedrich Dürrenmatt Lesebuch.
dachten, / Ein unfruchtbarer Erdenball / Erlöst von Zürich 1978, 141–253.
Spermen und vom Schlachten, / Unsterblich wie wir Die Frist. Eine Komödie. Neufassung 1980. WA 15.
34  Die Frist 135

Sekundärliteratur renmatt. Eine Untersuchung des dramatischen Werks.


Crockett, Roger Alan: Understanding Friedrich Dürren- St. Ingbert 2007.
matt. Columbia 1998. Weber, Ulrich: »Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern«.
Esslin, Martin: Die Frist. Dürrenmatt’s late Masterpiece. In: Friedrich Dürrenmatts Umgang mit Goethe. In: Oliver
Moshé Lazar (Hg.): Play Dürrenmatt. Malibu 1983, 139– Ruf (Hg.): Goethe und die Schweiz. Hannover 2013, 351–
153. 374.
Schu, Sabine: Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dür-
Rudolf Käser
136 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

35 Achterloo I–IV fassendere Gewalt zu verhindern, nämlich den Ein-


marsch der sowjetischen Truppen und – im schlimms-
Entstehung und Struktur ten Fall – einen nuklear geführten Weltkrieg. Die Er-
eignisse seien deshalb ein Beleg für die »Notwendig-
Dürrenmatt verfasste Achterloo. Eine Komödie in zwei keit des Verrats in der Politik« (WA 18, 553). Achterloo
Akten zwischen April 1982 und Oktober 1983. Im sel- ist also ein »Zeitstück«, wie Dürrenmatt im Nachwort
ben Jahr erschien das Stück im Diogenes Verlag. Ur- zu Achterlooo IV schreibt (ebd.) – allerdings eines, das
aufgeführt wurde es am 6.10.1983 am Schauspielhaus die eigene Zeit in einer ganzen Reihe von historischen
Zürich. Die Kritiken fielen verhalten bis ablehnend Epochen, Personen und Ereignissen spiegelt und die
aus. Zwischen Juni 1984 und Januar 1985 schrieb Dür- Weltgeschichte als chaotisches Feld ineinander ver-
renmatt eine zweite Fassung, die 1986 in französischer schachtelter Analogien vorführt.
Übersetzung in der Zeitschrift Lettre Internationale Der Titel Achterloo hat ebenfalls Teil an dieser pro-
erschien. Zusammen mit seiner zweiten Ehefrau, der grammatischen Mehrdeutigkeit. Er erinnert an Con-
Filmemacherin Charlotte Kerr, publizierte der Autor rad Ferdinand Meyers Märchenballade Fingerhütchen,
1986 die Dokumentation Rollenspiele, die Materialien in der ein buckliger Korbflechter »[t]ief im Tal von
zur Entstehung des Theaterstücks enthält: das Proto- Acherloo« (Meyer 1963, 44) von Elfen geheilt wird,
koll einer fiktiven Inszenierung – ein literarisiertes, weil er einen Vers eines Elfenliedes komplettiert. Das
über den Zeitraum von zwei Jahren immer wieder Stück bezieht sich kaum auf diesen »unheimlichen
aufgenommenes Gespräch zwischen Kerr und Dür- Reim« (WA 18, 415), außer dass der Ort der Handlung
renmatt –, ein dreiseitiges Zwischenwort, eine Serie »Achterloo in Acherloo irgendwo bei Waterloo« (WA
von Filzstiftzeichnungen, die seine Vorstellung vom 18, 10) als textueller Nicht-Ort gedeutet werden kann
Stück visualisieren sowie eine stark veränderte Ver- (vgl. Zeller 2002). Zudem spielt der Titel auf den his-
sion mit dem Titel Achterloo III. Ein Rollenspiel. Als torischen Wendepunkt – die Achterbahn der Geschich-
Achterloo IV. Komödie betitelte Dürrenmatt den für te – und die Figur Napoleon Bonapartes an. Achterloo
die Schwetzinger Festspiele im Sommer 1988 erstell- ist aber auch der Name einer fiktiven psychiatrischen
ten Text, den er selbst inszenierte. Klinik, in der die Patientinnen und Patienten während
Im Nachwort zu ›Achterloo IV‹ ist die Rede von wei- einer Rollentherapie historische und/oder fiktive Figu-
teren Bearbeitungen. Dies belegen verschiedene Nach- ren verkörpern. So steht etwa der Reformator Jan Hus
lassdokumente im Schweizerischen Literaturarchiv. für den polnischen Gewerkschaftsvorsitzenden und
Insgesamt muss also eher von einer »variantenrei- Dissidenten Lech Wałęsa, Napoleon für den Jaruzelski,
che[n] Textur« (Klimant 2014, 11) als von Versionen Robespierre für den sowjetischen KP-Chef, Benjamin
eines Stückes die Rede sein. Diese Textur unterläuft Franklin für den Außenminister der USA etc. Im Zug
dramatische Konventionen ebenso wie die Ansprüche der Bearbeitungen wird dieses Rollenspiel immer ab-
an einen realistischen Plot, eine nachvollziehbare, gründiger; in einer Art Wahnlogik werden immer wie-
chronologische Handlung oder psychologische Cha- der Rollen hinter Rollen sichtbar. Ein weiterer inhalt-
raktere. Die Achterloo-Textur stellt eine in höchstem licher Unterschied zwischen Achterloo III und IV zu
Masse selbstreflexive »Collage« (WA 18, 225) dar, die der ersten Bearbeitung besteht darin, dass die Spielsi-
mit ihrer labyrinthischen Struktur (vgl. Bloch 2018, tuation in der Klinik bereits zu Beginn des Stücks deut-
307) auf theatrale Schreib- und Inszenierungsprakti- lich gemacht wird.
ken der 1990er und 2000er Jahre verweist. Der Text der Dürrenmatts grundsätzliches Verfahren besteht
WA folgt wortgetreu den jeweiligen Erstausgaben. darin, mit der Denkfigur des Spiels die Gegensätze
von Kontingenz und Notwendigkeit, von Realität und
Fiktion in der »Theaterrealität« (WA 18, 131) aufzuhe-
Hintergrund und Analyse ben und eine parahistorische Gleichzeitigkeit zu si-
mulieren (vgl. Bloch 2017, 307). Der Autor nutzt nicht
Den politischen Impuls zu den Achterloo-Texten bil- nur den alten und in Die Physiker prominent verwen-
den die Ereignisse in Polen im Dezember 1981: die deten Topos von der Welt als Irrenhaus, sondern ent-
Verhängung des Kriegsrechts unter Wojciech Jaruzel- wirft ein nicht leicht zu durchschauendes Rollenspiel,
ski und die Zerschlagung der Gewerkschaft Solidar- in das auch die Instanz des Autors eingebunden ist. So
ność. Dürrenmatt deutet den Coup im Kontext des tritt in Achterloo IV der Autor Georg Büchner als Au-
Kalten Krieges als Versuch, mittels Gewalt noch um- toren-Figur auf, der den anderen Figuren ihren Text

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_35
35  Achterloo I–IV 137

zu schreiben vorgibt, obwohl er behauptet, eigentlich Verabschiedung teleologischer Welt- und Geschichts-
»Erbe einer Spanferkelkette« (WA 18, 442) zu sein. Als deutungen ausschlaggebend für seine eigene pessi-
Antwort auf die Frage Kerrs, warum Dürrenmatt his- mistische Sicht auf die Geschichte, in der sich Kata-
torische Ereignisse fiktionalisiere und abändere, ant- strophen unablässig wiederholen.
wortet der Autor: »Ich spiele. [...] Schreiben ist Rollen- Allemann (1991) widmet sich der erkenntnis- und
therapie« (WA 18, 136). literaturtheoretischen Dimension des Werks und
weist auf den spezifischen Charakter der Spiel-im-
Spiel-Situation hin: Im Gegensatz zu Brecht folge die-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung se nicht dem rezeptionsästhetischen »Prinzip der
Darstellungspraxis auf der Bühne«; für Dürrenmatts
Nicht ohne Ironie sieht Dürrenmatt die potentiellen Maskenspiel gelte vielmehr, dass es »die Dialektik der
literaturwissenschaftlichen Analysen der Achterloo- Bühne selbst thematisiert, wodurch die dramatis per-
Texte: »[D]a haben die Germanisten Futter« (225). sonae in ihrer Rollenhaftigkeit erst zum Vorschein
Entgegen dieser Vorhersage bleibt die Forschungslite- gebracht werden, und zwar durch dramaturgische,
ratur vergleichsweise schmal. Federico (1989) liest das nicht durch darstellungstechnische Mittel« (Allemann
Stück im Kontext der nuklearen Bedrohung im Kalten 1991, 105). Gemäß Zeller habe Dürrenmatt so die
Krieg. Achterloo demonstriere die Notwendigkeit, das Weigerung der modernen Literatur, »dort Sinn zu
politische Denken konstant zu revidieren. Das Drama produzieren, wo es in Anbetracht der Krise aller Wert-
richte sich gegen den Wahrheitsanspruch von Ideo- und Sinnsysteme keinen Sinn mehr gibt, im Medium
logien und verneine die Möglichkeit fester Kriterien des Theaters« dargestellt (2002, 295). Dedner (2003)
für gerechtes Handeln. Vielmehr zeige Dürrenmatt, stellt Dürrenmatts Stück in den literaturhistorischen
dass nur die pragmatische Orientierung am jeweiligen Zusammenhang der Reflexion der Französischen Re-
Resultat als Gradmesser politischen Handelns gelten volution in der deutschsprachigen Dichtung und Dra-
könne. Auch Goltschnigg geht ausführlich auf die matik. Sie liest es als selbstreflexive Verabschiedung
Vorgänge in Polen ein und sieht bei Dürrenmatt eine einer potentiell gemeinschaftsstiftenden Tradition des
desillusionierende »Warnutopie vor einem Frieden Revolutionsdramas unter den politischen Bedingun-
um jeden Preis« (2002, 409) am Werk, die keinerlei gen des späten 20. Jahrhunderts. Descourvières (2006)
Alternativen andeute. Des Weiteren thematisiert er sieht Achterloo als Radikalisierung von Dürrenmatts
neben der intertextuellen Anlage von Achterloo IV, für Werk. Die oft zitierte »schlimmstmögliche Wendung«
die Dürrenmatt öfter die Metapher des mit immer (WA 30, 209) ergebe sich in Achterloo nicht mehr als
gleichen Mustern gewobenen Teppichs verwendet, plötzlicher Einfall oder Zufall, sondern sie sei schon
auch dessen Referenzen auf Friedrich Hebbel, Johann immer als permanentes Bewusstsein des Scheiterns
Nestroy, Shakespeare, Schiller, Bernard Shaw, Peter jedem (politischen) Handeln eingeschrieben. Der
Weiss und nicht zuletzt sein eigenes Werk (s. Kap. 92). emanzipatorische Anspruch, gesellschaftliche Prozes-
Hingewiesen wird außerdem auf die verschachtelte se durch die Groteske aufzudecken, sei damit aber kei-
Anlage der Figuren in Achterloo IV. Diese treten prin- neswegs ganz aufgegeben. Die Wahrnehmung der
zipiell immer als auf der diegetischen Ebene reale Per- Ausweglosigkeit werde mit einer (auch im Schaffens-
sonen, als Wahn- und als Therapierolle auf, wobei sie prozess von Achterloo I bis IV feststellbaren), immer
in jeder Rolle gezwungen sind, die Traumata ihrer an- radikaler werdenden Verästelung der dramatischen
genommenen Identitäten zu wiederholen. So spielt Form beantwortet. Von Dürrenmatt selbst wird diese
die Enkelin eines KZ-Kommandanten in ihrem Wahn Radikalisierung als Übergang der Komödie in die
die Rolle der Judith aus Friedrich Hebbels gleichnami- »Posse« gekennzeichnet (WA 18, 270).
ger Tragödie (1840), die im Therapiespiel wiederum Klimant verfolgt den Ansatz der »Transzendental-
Jeanne d’Arc darstellt, in dieser Rolle aber einen Mit- dramaturgie«. Damit ist eine »Verquickung erkennt-
patienten ermordet. Zentral in diesem Vexierspiel nistheoretischer und dramaturgischer Reflexion Dür-
zwischen Geschichte, Literatur und diegetischer Rea- renmatts« gemeint. In Anlehnung an Friedrich Schle-
lität ist die Figur Büchners. Dürrenmatt orientiert sich gels Konzept der Transzendentalpoetik wird Dürren-
explizit an dessen Montagetechnik und übernimmt li- matts Spätwerk als eine performative Kunst gedeutet,
terarische Figuren wie Franz Woyzeck aus dem Dra- die ihre äußeren Bedingungen und poetologischen
menfragment Woyzeck (1837), das Dürrenmatt 1972 Konsequenzen ausstelle und quasi durchspiele. Die
in Zürich selbst inszeniert hat. Zudem ist Büchners Dramaturgie Achterloos folge also gleichsam einer
138 II Schriftstellerisches Werk – H Späte (Meta-)Dramatik

»Dramaturgie aller möglichen Dramaturgien« (Kli- Achterloo IV. In: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg.
mant 2014, 14) und lote mit ihrer selbstbezüglichen von Franz Josef Görtz. Zürich 1988, 335–459.
Form die Möglichkeiten eines Bühnenstückes in der Achterloo I. Rollenspiele. Achterloo IV. WA 18.
Rollenspiele. Achterloo IV. Komödie. WA 16.
Gegenwart aus. Darin läge allerdings auch die Verbin- Das Hirn. In: WA 29, 233–269.
dung zu konstruktivistischen Denkfiguren, die Dür- Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Werke. Historisch-kri-
renmatt parallel in den Stoffen stark beschäftigt haben. tische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch.
Der Auftritt Büchners etwa, mit dem er sich selbst als Erster Band: Gedichte. Bern 1963, 44.
Autor parodiert, sowie die Inszenierung seiner eige-
Sekundärliteratur
nen Rolle als Autor in den Rollenspielen, werden von
Allemann, Beda: Friedrich Dürrenmatt – Literatur und
der Fragwürdigkeit der Unterscheidbarkeit von Fikti- Theater. In: Jürgen Söring, Jürg Flury (Hg.): Hommage à
on/Spiel und wahrgenommener Realität angetrieben. Friedrich Dürrenmatt. Neuenburger Rundgespräch zum
Von dieser Fragwürdigkeit geht auch Dürrenmatts Gedächtnis Friedrich Dürrenmatts. Neuchâtel 1991,
letzter zu Lebzeiten publizierter literarischer Text Das 77–124.
Hirn aus. Dieser bleibt allerdings nicht bei der an- Bloch, Peter André: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und
Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen –
genommenen Ununterscheidbarkeit von Möglichkeit Interpretationen. Göttingen 2017.
und Wirklichkeit stehen, sondern führt eine Kategorie Dedner, Ulrike: Deutsche Widerspiele der Französischen
ein, die keinen Möglichkeitshorizont enthält und des- Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im
halb unbezweifelbar real ist. Dieser Ort ist für Dürren- selbstbezüglichen Spiel von Goethe bis Dürrenmatt.
matt in Das Hirn das Vernichtungslager Auschwitz: Tübingen 2003, 261–298.
Descourvières, Benedikt: Die Welt als Rätsel und die Bühne
ein Ort, der »undenkbar« sei und deshalb »[s]innlos
als Welt. Friedrich Dürrenmatts Komödien Der Besuch
wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und oh- der alten Dame und Achterloo. In: Ders. (Hg.): Mein
ne Grund« (WA 29, 263). Die Kulmination der Ge- Drama findet nicht mehr statt. Deutschsprachige Theater-
waltgeschichte im industriellen Massenmord – die als Texte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2006, 119–137.
historisches Trauma auch das ›Posthistorienspiel‹ in Federico, Joseph: Political Thinking in a Nuclear Age. Hoch-
der Klinik Achterloo antreibt – entzieht sich dem hut’s Judith and Dürrenmatt’s Achterloo. In: The German
Quarterly 62 (1989), 3, 335–344.
Möglichkeitshorizont und hat deshalb wirklichkeits-
Goltschnigg, Dietmar: Dürrenmatts Tragikomödie Achter-
stiftende Funktion. Diese absolut pessimistische Poin- loo. Ein Stück Welt- und polnische Zeitgeschichte. In:
te wird im Mord am Schluss von Achterloo angedeutet Edward Białek (Hg.): Literatur im Zeugenstand. Beiträge
und gleichzeitig durch Jeannes Vision als Judith in ei- zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte.
nen mythischen Kontext gerückt. Die Realität des Gu- Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orlowski.
ten bleibt dagegen fragwürdig. So bleibt der letzte Satz Frankfurt a. M. 2002, 393–410.
Klimant, Tom: Dürrenmatts Transzendentaldramaturgie.
von Achterloo IV, gesprochen von der Klinikleiterin Die Achterloo-Varianten (1982–1988) als Beitrag zur Aus-
Frau von Ziemsen, kryptisch: »Ich war der Liebe Gott« einandersetzung zeitgenössischer Dramaturgie mit radi-
(WA 18, 537). Innerhalb der in Achterloo als großes kal konstruktivistischen Denkfiguren. Berlin 2014.
Weltlabyrinth ausgestellten Gewaltgeschichte scheint Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. Stuttgart,
Menschlichkeit vielleicht nur noch in einem ebenso Weimar 1993, 125–130.
Zeller, Rosmarie: »Ein doppelt verrücktes Unternehmen«.
burlesken wie absurden Humor auf.
Das Delirium des Irr-Sinns in Dürrenmatts Achterloo. In:
Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in
Literatur
Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten –
Primärtexte
realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne
Achterloo. Eine Komödie in zwei Akten. Zürich 1983.
Wünsch. Kiel 2002, 279–297.
Rollenspiele. Zürich 1986.
Caspar Battegay
I Späte Prosa

36 Der Sturz A D
B C B C
Entstehungs- und Publikationsgeschichte D E F E
F G M N
Die Entstehung der kurzen, in der WA 55 Seiten um- H I H G
fassenden, und, wie man gesagt hat, »höchst ›drama- K L K I
turgisch‹ konzipierten Erzählung« Der Sturz (Knapp M N O L
1980, 108) geht zurück auf zwei längere Aufenthalte O P P
Dürrenmatts in der Sowjetunion 1964 und 1967. Ein
erster Entwurf lag vermutlich bereits 1965/66 vor. Zu Jeder der Buchstaben verweist dabei auf einen Amts-
Beginn des Jahres 1966 teilte Dürrenmatt im Ge- inhaber und dessen mit einem Sitzplatz korrespondie-
spräch mit Urs Jenny mit, er sei »mitten in einer neu- rende hierarchische Position innerhalb des Sitzungs-
en Arbeit: Dreizehn Personen in einem geschlos- zimmers des ›Politischen Sekretariats‹ eines nicht nä-
senen Raum, die Mächtigsten eines Landes, wie sie her spezifizierten diktatorischen Staates: A, am Kopf-
miteinander konspirieren, einander bekämpfen, bis ende des Sitzungszimmers sitzend, bekleidet dabei die
der Mächtigste liquidiert wird und ein neuer nach- Position des Machtinhabers, B bis O stellen die im zu-
rückt und alles von vorne beginnt – denken Sie an ei- nehmenden Maße weniger mächtigen Minister dar –
ne Kreml-Geheimsitzung, an Stalins Sturz« (Jenny vom Außenminister B, über den Postminister N, aus
1966, 12). Den finalen Impuls, die endgültige, 1970 dessen Perspektive erzählt wird (interne Fokalisie-
abgeschlossene, 1971 im Zürcher Arche Verlag er- rung), bis hin zum Atomminister O und dem Chef der
scheinende Version zu verfertigen, die auch als Text- Jugendgruppe P, die als nicht Stimmberechtigte am
grundlage der WA diente, gab aber erst die Teilnahme Fuße der Machtpyramide stehen. Die untergebene
an der Eröffnungszeremonie des vierten Sowjeti- Position der Minister zeigt sich nicht zuletzt an den
schen Schriftstellerkongresses am 22.4.1967 in Mos- Spitznamen, die A seinen Untergebenen gibt: Den
kau, wie Dürrenmatt im Gespräch mit Christoph Chef der Geheimpolizei C nennt er »Staatstante« (26),
Geiser und innerhalb des Stoffe-Komplexes bekannt den Parteisekretär D »Wildsau« (ebd., 15), die Erzie-
hat (vgl. G 2, 31; WA 28, 297–301). Die Entstehung hungsministerin M »Parteimuse« (ebd., 22) usw.
des Textes fällt somit in eine Zeit, in der Dürrenmatt Der eigentliche Fließtext nun bildet den Übergang
kaum episch gearbeitet hat. Folgt man einer Notiz des vom ersten zum zweiten Tableau; er entfaltet die Pro-
Programmhefts zu Der Mitmacher, soll Der Sturz zu- zesse, die zum namensgebenden Sturz des Machtinha-
sammen mit Play Strindberg und Porträt eines Plane- bers A und der Umstrukturierung des Politbüros wäh-
ten als »stilistische Vorübung« zum ursprünglich als rend einer Parteisitzung führen. Katalysator des Stur-
Novelle konzipierten Stück Der Mitmacher entstan- zes ist das Fehlen des Atomministers O, das die ohne-
den sein (Bänziger 1976, 216). hin in Furcht voreinander befangenen Mitglieder des
Politbüros zur Annahme eines Komplotts verführt.
Gerüchte wollen von einer Verhaftung wissen, Bemer-
Inhalt und Analyse kungen über O’s Fernbleiben werden als ihre Bestäti-
gung der Gerüchte gedeutet, Versuche, das Fehlen
Die ›Dramatik‹ der Erzählung entfaltet sich zwischen durch eine Krankheit zu erklären, als Lügen betrach-
zwei den Text rahmenden Tableaus (WA 24, 10 u. tet. Jede Äußerung, jede Geste wird daraufhin inter-
64): pretiert, was sie für das Machtgefüge des Politbüros

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_36
140 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

bedeutet und für Konsequenzen hat. Die geschilderte mimetischer Versuch, »die Konzentration der Macht
Sitzung gleicht einem Schachspiel (s. Kap. 79), bei in einem Kollektiv ›an sich‹ darzustellen« (G 2, 30).
dem sämtliche Mitglieder des Politischen Sekretariats Der Text ist Beispiel des ›dramaturgischen Denkens‹
ihre individuellen eigentlichen Aufgaben und Zustän- (s. Kap. 87), das Dürrenmatt im Monstervortrag skiz-
digkeiten zurückstellen, um die Züge des anderen zu ziert hat (vgl. WA 33, 91–94; ferner etwa auch Knapp
interpretieren und vorauszusehen. Tatsächlich gilt A 1980, 108; Spycher 1972, 342). Dürrenmatt interessiert
als »gerissener Taktiker«, dessen »verblüffenden das Mögliche im Unterschied zum Tatsächlichen, das
Schachzügen im Spiel um die Macht [...] niemand ge- Modellhafte, die Abstraktion. Der Sturz widmet sich
wachsen« war (ebd., 36). Als A dann die Auflösung dem »Wesen des Totalitarismus« (Weber 1971, 273),
des Politischen Sekretariats verkündet – die Partei den Mechanismen der Macht, ohne dabei jedoch zum
müsse sich demokratisieren, das Politische Sekretariat Schluss zu kommen, korrumpierte Macht sei per se
daher »seine Macht einem erweiterten Parteipar- dem Untergang geweiht: Macht und ihre Mechanis-
lament delegiere[n]« (ebd., 30) –, glaubt man auch men sind zeitlos (vgl. Crockett 1998, 170 f.). Anstatt al-
gleich, den politischen Schachzug zu durchschauen: so eine Identifikation des fiktiven Staates mit der Sow-
Die Auflösung des Politischen Sekretariats würde A’s jetunion vorzunehmen, lässt sich Der Sturz vielmehr
Alleinherrschaft begründen. Aufgrund der vermeint- als »tragikomisch gestaltete Auseinandersetzung« mit
lichen Verhaftung O’s in Angst vereint, positioniert Staaten wie der Sowjetunion verstehen (Spycher 1972,
sich das Politische Sekretariat geschlossen gegen A 342). Trotz des Primats des Modellhaften handelt es
und isoliert ihn. Schließlich – und analog zum dritten sich demnach gleichwohl um einen hochgradig politi-
der 21 Punkte zu den ›Physikern‹ – kommt es zur schen Text. Werkimmanente Bezüge zu Dürrenmatts
schlimmstmöglichen Wendung (s. Kap. 98) für A (vgl. politisch-ideologischem Denken lassen sich zu Meine
Spycher 1972, 357). Sein Sturz vollzieht sich »nüch- Rußlandreise (Dürrenmatt, 10.7.1964), Sätze aus Ame-
tern, sachlich, mühelos, gleichsam bürokratisch« (WA rika (bes. Sätze 56–61, WA 34, 100–102) wie auch zum
24, 58): L erdrosselt ihn mit dem Gürtel K’s. bereits genannten Monstervortrag (s. Kap. 50) herstel-
Erst am Ende des Textes klärt sich das Fehlen des len (vgl. auch Spycher 1972).
Atomministers auf. Die Witz der Erzählung liegt im
Zufall (s. Kap. 84), einem Irrtum, der die Peripetie erst Literatur
Primärtexte
ermöglicht: O erscheint und erklärt, sich im Datum
Der Sturz. Zürich 1971.
geirrt zu haben. In neuer Konstellation wird die Sit- Der Sturz. In: WA 24, 9–64.
zung des Politischen Sekretariats fortgesetzt – mit der [Gespräch mit] Christoph Geiser [1971]. In: G 2, 30–40.
Festlegung der neuen Sitzordnung (zweites Tableau). Meine Rußlandreise. In: Zürcher Woche, 10.7.1964.

Sekundärliteratur
Bänziger, Hans: Frisch und Dürrenmatt [1960]. Bern, Mün-
Deutungsaspekte chen 1976, 214–216.
Crockett, Roger A.: Understanding Friedrich Dürrenmatt.
Auffällig ist, dass trotz des sich ereignenden Sturzes Columbia, South Carolina 1998, 167–171.
keine Änderung des politischen Systems eintritt (vgl. Goertz, Heinrich: Friedrich Dürrenmatt mit Selbstzeugnis-
Goertz 1987, 103; Paganini 2004, 50 f.). Darin besteht sen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1987,
102 f.
ein offenkundiger Unterschied zur Geschichte des
Jenny, Urs: Lazarus, der Fürchterliche. Urs Jenny im
sowjetrussischen Politbüros (vgl. Goertz 1987, 103). Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt über dessen neue
Wenngleich auch »unzweideutig das sowjetrussische Komödie Der Meteor. In: Theater heute 7 (1966), 2, 10–12.
Politbüro unmittelbar vor Stalins Ende« als Vorlage Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1980,
diente (Spycher 1972, 329, vgl. ferner 346 f.), wäre eine 107 f.
Interpretation, die die Erzählung nur als Chiffretext Paganini, Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich
Dürrenmatt. »Ich bin verschont geblieben, aber ich
liest, verkürzt. Warum? Weil es Dürrenmatt weniger beschreibe den Untergang.« Hamburg 2004, 50–55.
um eine Kritik am realen Vorbild, am Stalinismus, an Spycher, Peter: Friedrich Dürrenmatt. Das erzählerische
der Sowjetunion, dem marxistischen Kommunismus Werk. Frauenfeld, Stuttgart 1972, 329–367.
geht. Gemäß eigener Aussage ist er »mehr Konstruk- Weber, Werner: Der Sturz [1971]. In: Daniel Keel (Hg.):
teur als Beobachter« (G 2, 30). Somit erweist sich Der Über Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1980, 269–273.
Sturz als »Denkspiel« (Bänziger 1976, 215), als nicht Benjamin Thimm
37  Abu Chanifa und Anan ben David 141

37 Abu Chanifa und Anan ben David den Hungertodes das Überleben zur Demonstration
der Ergebenheit in Gottes Willen wird, finden beide
Entstehungs- und Publikationsgeschichte Gelegenheit, die wahre Demut und Frömmigkeit des
jeweils anderen zu erkennen, und essen fortan ge-
Dürrenmatts Erzählung über die beiden Theologen meinsam. Auf die erste Annäherung folgt ein from-
Abu Chanifa und Anan ben David (1975) gehört in mes Gespräch, unterbrochen von Gebeten, die sogar
den Kontext des essayartigen Komplexes Zusammen- die Folterknechte in den Nachbarverliesen vertreiben.
hänge. Essay über Israel. Eine Konzeption (WA 35, Der Dialog überdauert die Jahrhunderte, die Herr-
9–162), verfasst anlässlich der Berufung Dürrenmatts schaft al-Mansurs und seiner Nachfolger, Kriege und
auf eine Gastprofessur an der Ben-Gurion-Universität Expansionen des Gefängnisses. Als die Gesprächs-
in Be’er Scheva (1974). Über einen längeren Zeitraum partner ihre heiligen Schriften durch Rattenfraß ver-
(1974–1975) geschrieben, verknüpft der Essay ge- lieren, ersetzt das Gespräch Koran und Thora.
schichtsphilosophische Erörterungen mit Elementen Durch den Willkürakt eines neuen Herrschers am-
einer Reiseerzählung. Dürrenmatt, der sich in einem nestiert, verlässt Anan ben David den Kerker und sei-
thematisch affinen Text als »Drauflosdenker« charak- nen Gefährten. Er tritt eine Jahrhunderte dauernde
terisiert (Über Toleranz, WA 33, 149), macht den Essay Wanderung durch die Welt an, die sich so verändert
zum Dokument dieses Denkstils. Die Erstausgabe des hat, dass man seine Sprache kaum mehr versteht. Als
expansiven Textes wird 1976 im Arche Verlag (Zü- Ketzer angegriffen, flieht er ins Gefängnis zurück und
rich) publiziert. Am Ende des Zweiten Teils findet sich sucht vergeblich nach Abu Chanifa; fünfzehn Jahre
ein erster Teil der Theologen-Erzählung (WA 35, 82– später verlässt er die Stadt bei einem Brand. Wiede-
87), ganz am Ende der vierteiligen Zusammenhänge rum zweihundert Jahre danach fragt er in Granada
dann der umfangreichere zweite Teil (ebd., 148–162). vergebens nach Rabbi Moses ben Maimon, wird unter
Dabei erfolgt der Anschluss an die zuvor unterbroche- Karl V. von der Inquisition verfolgt, sucht Zuflucht in
ne Geschichte fast übergangslos, wie denn die Zusam- Synagogen, Ghettos, Lehrhäusern. Zur Legende ge-
menhänge insgesamt nicht allein auf inhaltlicher Ebe- worden, dient er dem Maggid von Mesritsch, gerät
ne von Zusammenhängen sprechen, sondern ihre nach Auschwitz, wird zum Versuchsobjekt eines NS-
Teilthemen auch textgestalterisch eng miteinander Arztes, der ihn einfriert, aber nicht zu töten vermag
verweben. Kompositorisch als Beitrag zur Darstellung und als Putzkraft beschäftigt, bis der Jude wiederum
übergreifender historischer und denkgeschichtlicher verschwindet. Während all der Zeit sitzt Abu Chanifa
Zusammenhänge arrangiert, steht die parabelartige im Verlies zu Bagdad, in eine »Art Stalagmit« (WA 24,
Geschichte von Abu Chanifa und Anan ben David ih- 81) transformiert, von den Ratten aus alter Gewohn-
rerseits im Zeichen mehrschichtiger Zusammenhän- heit miternährt. Anan ben David trifft in Istanbul ei-
ge. Herausgelöst aus ihrem Erstkontext geht sie 1978 nen betrunkenen Schweizer Whiskyschmuggler und
in bearbeiteter Form in das Friedrich Dürrenmatt Le- fährt mit diesem nach Bagdad, wo der Bus explodiert.
sebuch (Arche Verlag, Zürich) sowie in die Werkaus- Ein Hund weist ihm den Weg zu Abu Chanifa, ohne
gabe ein. Einen wichtigen Eingriff nimmt der Autor dass man sich erkennt. Ein mörderischer Kampf ent-
auf der Ebene der Erzähltempora vor: Wird in der Es- brennt aus vermeintlicher Feindschaft. Erst der Blick
say-Fassung der erste Teil im Wesentlichen im Präteri- ins Gesicht des Gegenübers löst ein Wiedererkennen
tum, der zweite Teil dann im Präsens erzählt, so steht aus; der Bann des Hasses bricht mit der Ansprache des
die separat veröffentlichte Erzählung ganz im Präsens. Gegenübers als »Du« (ebd., 86). So erkennen beide,
wie es abschließend heißt, »daß beider Eigentum, das
Gefängnis des Abu Chanifa und der Kerker des Anan
Inhalt und Analyse ben David, die Freiheit des einen und die Freiheit des
anderen ist« (ebd.).
Zwei Theologen, der Korankenner Abu Chanifa und
der Rabbi Anan ben David, werden um 760 in Bagdad
vom Kalifen al-Mansur gleichzeitig eingekerkert. Bei- Deutungsaspekte
de empfinden die Nähe des anderen zunächst als de-
mütigende Zusatzstrafe. In stummer Feindseligkeit Motivisch und thematisch ist die Geschichte inner-
verschmähen sie lange sogar das zu teilende Essen, das halb von Dürrenmatts Werk vielfach vernetzt. Im Is-
ihnen ein Wärter bringt. Erst als angesichts des nahen- rael-Essay-Komplex, der die Geschichte des Staates

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_37
142 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

und der Idee Israel in einen menschheitsgeschicht- langen Wanderung Anan ben Davids ist vor allem die
lichen Zusammenhang stellt, wirkt sie zugleich para- Legende um den Ewigen Juden Ahasver. Die weitläu-
bolisch und illustrierend. Die beiden Theologen figu- figen verwirrenden Gefängnisarchitekturen gehören
rieren zunächst den Religionskonflikt zwischen Mus- ins Spektrum von Dürrenmatts Labyrinthen, in denen
limen und Juden; ihre zwischen Disput und gemein- sich metaphorisch eine labyrinthische Welt spiegelt,
samer Meditation changierenden Dialoge über Gott ein Durcheinandertal (WA 27). Die existentielle Ver-
erinnern an die Textform des Religionsgesprächs, wie lassenheit des Einzelnen im Labyrinth und seine
sie seit dem Mittelalter belegt ist, so durch Boccaccios Angst vor Begegnungen mit einem potentiell mörde-
Decamerone und durch Lessings Ringparabel (Nathan rischen Gegenüber erinnern an den Protagonisten im
der Weise), wo die bei Dürrenmatt explizit erörterte Winterkrieg in Tibet (WA 28, 11–170) und an die Mi-
Toleranz-Idee entfaltet wird. Die christlich-westlich notaurusfigur, insbesondere die der Minotaurus-Bal-
geprägte Welt bleibt in der Erzählung eher im Hinter- lade (WA 26, 9–32). Dort treffen der als Minotaurus
grund, repräsentiert durch Inquisitor, NS-Sadist und maskierte Theseus und sein Opfer als Doppelgänger
Schweizer Schmuggler. Implizit reflektiert wird auch aufeinander, so wie hier die beiden Theologen, die –
der aktuelle israelisch-palästinensische Konflikt als nun aber unter positiven Vorzeichen –, zu einem Dop-
politische und militärische Eskalation der alten Geg- pelgängerpaar werden, weil sie so vieles verbindet.
nerschaft zwischen Juden und Arabern. Der Kampf mit dem Doppelgänger im Labyrinth bil-
Mit ihrem skurril-versöhnlichen Ende scheint die det ein Scharnier zu Max Frischs Roman Stiller (1954),
Erzählung für eine ethisch fundierte Konfliktlösung wo sich zudem eine Version der Geschichte Rip van
zu optieren; als groteske Utopie erscheint die Schil- Winkles findet, die in Dürrenmatts Erzählung eben-
derung wechselseitigen Erkennens und enger Verbrü- falls anklingt.
derung – wobei das Erkennen Anagnorisis ist. Und
die Verbrüderung als Entdeckung von Wesensgleich- Literatur
Primärtexte
heit mit dem Anderen erscheint als ein Schritt zur Abu Chanifa und Anan ben David. In: Friedrich Dürren-
Selbsterkenntnis. Als Voraussetzungen der utopischen matt Lesebuch. Zürich 1978, 41–62.
Lösung erscheinen das Gespräch (als unermüdlicher, Abu Chanifa und Anan ben David. In: WA 24, 65–86.
unbegrenzter Dialog) sowie der Blick ins Gesicht des Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption.
Anderen. Während letzteres Konzept ein Echo der Zürich 1976.
Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption. In:
Ethik von Emmanuel Lévinas sein mag, konkretisiert
WA 35, 9–162.
sich im Motiv des interkulturellen und interreligiösen
Gesprächs eine Ethik des Worts, die an die gemein- Sekundärliteratur
samen Grundlagen von Judentum, Islam und Chris- Bursch, Roland: »Wir dichten die Geschichte«. Adaption
tentum erinnert. Die Annäherung des Juden und des und Konstruktion von Historie bei Friedrich Dürrenmatt.
Moslems erscheint allerdings ironischerweise keines- Würzburg 2006.
Mingels, Annette: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kate-
wegs als direktes Resultat religiöser Meditation und
gorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln,
spiritueller Lebenshaltung; sie nimmt ihren Weg viel- Weimar, Wien 2003, bes. 323–338.
mehr über geteilte Mahlzeiten, einen geteilten Alltag, Schmitz-Emans, Monika: Am Ende – die Toleranz. Abu
geteilte Leiden. Die finale Erleuchtung bedarf der Chanifa, Anan ben David und Friedrich Dürrenmatts
sinnlich-konkreten Anschauung des anderen. Religionsgespräch. In: Oxana Zielke (Hg.): Nathan und
Dürrenmatts Text enthält Reminiszenzen an tradi- seine Erben. Würzburg 2005, 143–161.
tionsreiche Vorstellungsbilder und Stoffe: Modell der Monika Schmitz-Emans
38  Smithy 143

38 Smithy auf Smithy konzentriert und die Zeit auf sein Erleben
hin gebündelt ist, präsentiert sich das Geschehen als
Entstehung und Hintergrund Krisengeschichte. Eingangs erinnert sich Smithy in
Rückblende an die Tagesereignisse; seine Schwierig-
Die Erzählung Smithy entstand im Rahmen des um- keiten hatten sich ebenso kontinuierlich gesteigert
fangreichen Nachworts zur Komödie Der Mitmacher, wie die Hitze der Stadt und sein Alkoholpegel. Kom-
das Dürrenmatt von 1974 bis 1976 schrieb. Die Refle- plexe Verhandlungen mit Gangstern und Polizei und
xionen über das Stück sind als Prozess der subjektiven personelle Veränderungen führten zu »Schwierigkei-
und poetischen Sinnstiftung in einer literarischen wie ten, nichts als Schwierigkeiten« (WA 14, 236). Smithy,
existentiellen Krisenerfahrung verstehbar (vgl. Weber der sich »wenn nicht arriviert, so doch gesichert ge-
2020, 375–404). Das Nachwort wird zum eigenständi- fühlt hatte« (235), ist am Ende des Tages geschäftlich
gen literarischen Text, mit philosophierenden, auto- an einem Tiefpunkt. Als er spät nachts seinen Ar-
biografischen und dramaturgischen Exkursen sowie beitsort aufsucht, kommt es zu einem überraschen-
den eingeschobenen Erzählungen Smithy als ›Urfas- den Ereignis: Eine unbekannte Frau spricht ihn an
sung‹ des Mitmacher-Stoffes und Das Sterben der Py- und bietet sich ihm an, und aus einem »wilde[n] Hu-
thia als narrative Verhandlung von Problemstellungen mor« (242) heraus lässt sich Smithy auf das Abenteu-
eines auf der Bühne gescheiterten Dramas. er ein. Die Begegnung mit der Frau, die ihm den »Ein-
Der Einfall zu Smithy hat der Darstellung im Mit- druck von etwas Vornehmem, von etwas Ungewöhn-
macher-Komplex zufolge seinen Ursprung in der ersten lichem« (243) vermittelt, irritiert ihn. Obwohl sie sich
Begegnung des Autors mit der Stadt New York (1959), distanziert gibt, kaum ein Wort spricht und nur Sex
im überwältigenden Eindruck der »ungeheuerlich in will, wird die elementare Liebeserfahrung für Smithy
den einnachtenden Himmel ragenden Stadt« (WA 14, nachträglich zum Auslöser eines neuen Selbst-
262). Dürrenmatt schrieb unmittelbar nach dem Auf- bewusstseins, für eine innere Freiheit gegenüber den
enthalt einen ersten handschriftlichen Textanfang nie- Zwängen seiner schmutzigen Existenz. Frühmorgens
der, der fünfzehn Jahre liegen blieb, bis ihn der Autor wird er für einen vielversprechenden Auftrag in ein
beinahe wörtlich als Auftakt für die rekonstruierte Er- Nobelhotel geführt und erkennt in der Leiche, die er
zählung verwendete (vgl. WA 14, 235–237). beseitigen soll, die Frau, mit der er geschlafen hat. Er
Smithy erschien erstmals 1976 in Der Mitmacher – stellt ihren Ehemann, einen hohen ausländischen Po-
Ein Komplex. Text der Komödie, Dramaturgie, Erfah- litiker, der sie ermordet hat und die Leiche beseitigen
rungen, Berichte, Erzählungen im Arche Verlag Zü- lassen will, zur Rede und schlägt sein lukratives An-
rich. Die Werkausgaben von 1980 und 1998 übernah- gebot – es wäre das »Geschäft [s]eines Lebens« (261)
men den Text der Erstausgabe und präsentierten ihn – aus. Wie die Frau sich ihm »[g]ratis« (243) hingege-
jeweils zweimal: einerseits im ursprünglichen Kon- ben hatte, demonstriert Smithy seine Überlegenheit
text des Mitmacher-Nachworts (WA 14, 235–261) so- und Verachtung gegenüber dem »Mann, der so [...]
wie textidentisch als für sich stehende Erzählung (WA erhaben war, wie der liebe Gott« (255), indem er die
24, 87–115). Bezahlung ablehnt und die Leiche »gratis« (258) ver-
schwinden lässt. Diese Manifestation von Freiheit ge-
genüber dem Geschäft, eine kleine Rebellion gegen
Inhalt und Analyse die Sachzwänge seiner schäbigen Existenz und das
Machtgefüge, kostet Smithy das Leben: Da er damit
Der Titelheld ist ein beschränkter, mit sozialen Vor- auch für Polizeichef und Gangsterboss ein großes Ge-
urteilen behafteter, moralisch gleichgültiger Klein- schäft hat platzen lassen, wird er von einem Gehilfen
unternehmer. Sein Geschäft besteht darin, zusammen des Gangsters hingerichtet.
mit seinem Gehilfen Leibnitz die Leichen von Mord- Smithy wird als »jämmerliche[r] Held« (261) dar-
opfern, die ihm von Seiten der Mafia wie korrupter gestellt, dessen Horizont sich auf sein Geschäft be-
Polizeivertreter geliefert werden, durch Sezieren und schränkt, der das Andere nur als Schimpfwort und Vor-
ein Säurebad zum Verschwinden zu bringen. Die Er- urteil kennt (alle, die ihm Schwierigkeiten bereiten,
zählung bildet rund 24 Stunden an einem heißen sind ›Juden‹, ›Kommunisten‹ und ›Schwule‹), und der
Maitag im Leben Smithys in New York ab. Die Ereig- auch in seiner Verweigerung weder eine moralische
nisse werden in chronologischer Abfolge erzählt. In- Gewissensentscheidung trifft noch ein kritisches Be-
dem die Perspektive (in personaler Erzählsituation) wusstsein hat. Es ist allein die Erinnerung an die schein-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_38
144 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

bar rein animalisch-sexuelle Begegnung mit dieser im monetären Wertesystem. Smithys Aufbegehren
schönen Frau, die Smithy zur Verweigerung bewegt – nimmt damit – jenseits aller Konfession und über den
als Wunsch und anschließender Stolz, sich der geheim- Akt der Individuation hinaus – den Charakter eines re-
nisvollen Frau nachträglich als würdig zu erweisen. ligiösen Urerlebnisses an.
Im Kontext des Mitmacher-Komplexes entwickeln
sich zusätzliche Bedeutungsdimensionen. Dürren-
Deutungsaspekte matt präsentiert Smithy als ersten Einfall des Stoffes,
den er zur Komödie Der Mitmacher entwickelte. Die
Die Erzählung, bei der jemand aus seinem Alltag hi- Erzählung wird im Textzusammenhang aber zugleich
nausgerissen wird und unverhofft zu einem neuen zur Variation auf das fertige Stück, enthält sie doch ei-
Selbstverständnis durchdringt, wobei ihm das Über- ne Vielzahl wörtlicher Zitate aus dem Drama, die vom
leben gleichgültig wird, knüpft an frühe Texte wie Der Autor gezielt in die nachträgliche Rekonstruktion der
Tunnel oder Die Panne an. Diese existentialistische Di- angeblichen Vorstufe eingestreut wurden. Die Erzäh-
mension verbindet sich jedoch mit einer auffallenden lung bildet damit einen Gegenentwurf und eine Fort-
sprachlichen Eigenart: Obwohl die Geschichte vorder- setzung des Stückkommentars im Mitmacher-Nach-
gründig keinerlei Bezug zur Religion hat, gibt es zahl- wort mit anderen Mitteln.
reiche religiöse Namen und Übernamen wie ›Holy‹ Schließlich verweist eine weitere sprachliche Auf-
(der Gangsterboss trägt einen Priestermantel, um sei- fälligkeit auf den Kontext im Mitmacher-Komplex und
ne Waffen zu verstecken) oder ›van der Seelen‹ (der darüber hinaus: Smithys Bindung an die Frau erfolgt
mit ›Leibnitz‹ ein bedeutungsträchtiges Namenspaar primär über ihr edles Kleid, das ihm am Schluss von
bildet). Der Politiker, der seine Frau umgebracht hat, ihr übrigbleibt: »Smithy fühlte nichts als den Stoff des
aus Smithys Sicht als »der liebe Gott persönlich« (255), Kleides, über das seine Hände fuhren, ein leichter Fet-
»Jahwe« oder »Gott der Allmächtige« (256), logiert in zen, mehr nicht« (260). Damit deutet sich die selbst-
einem unendlich hohen Stockwerk des Coburn-Ho- referentielle Dimension der Erzählung auf den Mit-
tels, wo »hinter riesigen Glaswänden der heiße Him- macher-Komplex an. Hier schreibt Dürrenmatt: Stü-
mel wie eine Betonmauer stand« und die tote Frau in cke, auf die man sich einlasse, seien »mehr oder weni-
einem »Himmelbett« liegt, »vom Betthimmel hingen ger glückliche Liebesgeschichten mit Stoffen« (229),
Wolken von weißen Schleiern herunter« (253). In Ver- was wiederum auf das Stoffe-Projekt insgesamt ver-
bindung damit steht eine implizite Darstellung New weist, in dessen Rahmen der Mitmacher-Komplex zu
Yorks mit seiner unerträglichen Hitze als irdische Höl- sehen ist (vgl. Weber 2007, 191–193).
le, genauer als modernes Babylon, wo eine für Smithy
undurchschaubare Internationalität und babylonische Literatur
Primärtexte
Sprachverwirrung herrscht. Vor diesem Hintergrund Smithy. Eine Novelle. In: Der Mitmacher – Ein Komplex.
verweist das im Gegensatz zum endlosen Feilschen um Text der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen, Berichte,
Preise und Prozente stehende, zweimal vorkommende Erzählungen. Zürich 1976, 202–226 (Titel und Gattungs-
Wort »gratis« auf seinen lateinischen Wortsinn der bezeichnung nur im Inhaltsverzeichnis).
gratia (Gnade; s. Kap. 67). Mit dieser semantischen Smithy. Eine Novelle [im Nachwort zum Mitmacher]. In: WA
14, 235–261 (Titel und Gattungsbezeichnung nur im
Ebene etabliert die Erzählung – wie es für das Spätwerk
Inhaltsverzeichnis).
Dürrenmatts charakteristisch ist – eine auf das eigene Smithy. In: WA 24, 87–115.
Frühwerk bezogene Intertextualität, primär zum Dra-
ma Ein Engel kommt nach Babylon (vgl. Weber 2007, Sekundärliteratur
182 f.). Dort erweist sich der König Nebukadnezar des Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
göttlichen Gnadengeschenks des Mädchens Kurrubi der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung.
Frankfurt a. M. 2007, 173–196.
als unwürdig und verspielt die Chance zum Glück.
Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
Hier ist die Situation gerade umgekehrt: Der schäbige Zürich 2020.
und korrupte Smithy wird durch das Gratis-Geschenk
der geheimnisvollen Frau erweckt und befreit sich – Ulrich Weber / Kathrin Schmid
um den Preis des Lebens – aus seiner Gefangenschaft
39  Das Sterben der Pythia 145

39 Das Sterben der Pythia renmatts Das Sterben der Pythia wird wissentlich und
mit handfesten Interessen gehandelt, vor allem auch
Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Tiresias, der sich als Vertreter der Vernunft be-
zeichnet, und von Pythia, der Vertreterin der Fantasie
Das Sterben der Pythia entstand im Rahmen des Mit- (vgl. WA 24, 157). Das Orakel von Vatermord und In-
macher-Komplexes und wurde zum ersten Mal 1976 in zest mit der Mutter soll dazu dienen, Laios davon ab-
diesem Zusammenhang, als angehängte Erzählung im zuhalten, überhaupt Nachkommen zu zeugen. Das
Nachwort zum Nachwort publiziert. 1980 wurde der zweite Orakel, welches die Pest betrifft, sollte Kreon,
Text als eigenständige Erzählung unverändert in die den Tiresias für gefährlich hält, beseitigen, beseitigt
Werkausgabe aufgenommen (entsprechend der zwei- aber Ödipus als König, den Tiresias stützen wollte.
malige Abdruck in der WA: WA 14, 274–313; WA 24, Das für Ödipus bestimmte Orakel sodann wird von
117–158). Im gleichen Jahr entstand eine Radiofas- Pythia aus reinem Übermut gesprochen. Ödipus weiß,
sung von Hans Hausmann (Radio DRS). dass Polybos und Merope nicht seine Eltern sind, aber
er möchte herausfinden, wer seine wirklichen Eltern
sind: Es sind jene, an denen sich das Orakel erfüllt, in-
Inhalt und Analyse sofern hat die Pythia, wie es im Text heißt, einen »Zu-
fallstreffer« (127) gelandet. Der Zufallstreffer geht so
Das Sterben der Pythia erzählt die Geschichte von weit, dass Ödipus auch seine möglichen oder wahr-
Ödipus als die Geschichte einer Reihe von Zufällen. In scheinlichen Väter tötet, den Gardeoffizier Mnesippos
der antiken Mythologie ist Ödipus das klassische Bei- und den Wagenlenker Polyphontes. Wenn es hier
spiel für das Wirken des Schicksals: Ödipus will sei- scheint, als wäre das Schicksal durch die Hintertür
nem von einem Orakel vorausgesagten Schicksal, dass doch wieder hereingekommen, so wird diese Deutung
er seinen Vater Laios töten und seine eigene Mutter Io- durch die Version der Sphinx unterlaufen. Denn sie
kaste heiraten werde, entgehen, wobei alles, was er da- erzählt, dass Ödipus ihr Sohn sei und nicht der von Io-
für unternimmt, das Unvermeidliche erst recht her- kaste. Allerdings, so Tiresias, ist die Sphinx die Toch-
beiführt. Die Orakel, die nicht nur Ödipus, sondern ter des Hermes, »des Gottes der Diebe und der Betrü-
auch diversen anderen Personen gegeben werden, ger« (155). Damit repräsentiert sie, die hier eine ganz
können in Dürrenmatts Welt nicht von irgendeiner neue Rolle zugesprochen erhält, auch den erfinden-
metaphysischen Instanz stammen; sie werden viel- den Dichter, der mit einer letzten Volte seiner Fantasie
mehr aus Übermut oder politischem Interesse ver- vermeidet, dass eine Version des Textes als »die Wahr-
kündet. Das Prinzip des Textes besteht darin, dass ne- heit« (ebd.) durchgehen kann. Ja er erfindet eine neue
ben der Pythia und Tiresias auch die Hauptfiguren des Geschichte, in der Ödipus nicht mehr der Sohn des
Mythos (Ödipus, Iokaste, Laios und die Sphinx) ihre Laios und der Iokaste ist – und damit nicht mehr der
Version der Geschichte vor der sterbenden Pythia er- Ödipus des antiken Mythos, der durch diese Bezie-
zählen, wobei keine Figur alles weiß. So ist zum Bei- hung definiert ist –, sondern der Sohn der Sphinx und
spiel nicht einmal klar, wer der Vater des Ödipus ist: des Wagenlenkers Polyphontes. Tiresias bezeichnet
vielleicht Laios, vielleicht der Gardeoffizier Mnesip- sich und die Pythia als »Hauptpersonen« (156), weil
pos, vielleicht der Wagenlenker Polyphontes. Ja, man sie das Ganze in Gang gesetzt haben, das allerdings zu
weiß letztlich auch nicht, ob Ödipus der Sohn der Io- einem »wüsten Durcheinander« geführt hat, zu einem
kaste oder der Sphinx ist und wie viele Ödipusse es ei- »gigantischen Knäuel[...] von phantastischen Fakten,
gentlich gibt (vgl. WA 24, 156). Dürrenmatt benützt die, ineinander verstrickt, die unverschämtesten Zu-
hier bereits ein Verfahren, das er in Durcheinandertal fälle bewirken« (ebd.).
zur Virtuosität treiben wird.
Einen Dramatiker, der sein Leben lang über Schick-
sal, Notwendigkeit und Zufall reflektierte, musste der Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Ödipus-Stoff interessieren, dieser »Urstoff[...]« des
Theaters (WA 14, 314), der als Modell für das unaus- Die Erzählung wurde in der Dürrenmatt-Forschung
weichliche Schicksal und zugleich als exemplarisch vor allem im Zusammenhang mit Der Mitmacher be-
für das analytische Drama gilt. An ihm kann der Au- handelt und in Arbeiten zum Mythos in der Moderne.
tor von Die Panne demonstrieren, wie in der Moderne So sieht Kundert (2010) die Erzählung unter dem As-
das Schicksal durch den Zufall ersetzt wird. In Dür- pekt des Rätsels, das im Text selbst eine nebensächli-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_39
146 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

che bis keine Rolle spielt, wobei er den Begriff meta- mit Das Sterben der Pythia hat er zu einer ästhetisch
phorisch anwendet und die Welt als Rätsel sieht. adäquaten Darstellung gefunden, indem es ihm ge-
Dehrmann (2005) und Spedicato (2006) sehen Dür- lingt, eine Variante des Mythos durch die nächste auf-
renmatt vor allem als Dekonstrukteur des klassischen zuheben.
Mythos, dessen Ausgang aber doch erhalten bleibe
(vgl. Dehrmann 2005, 409). Wenn man unter dem Literatur
Primärtexte, Quellen
Ausgang die Selbstblendung des Ödipus meint, ist Das Sterben der Pythia. Erzählung. In: Der Mitmacher. Ein
dem zuzustimmen. In Dürrenmatts Text geht es aber Komplex. Text der Komödie, Dramaturgie, Erfahrungen,
nicht um den Ausgang, sondern um die Varianten der Berichte, Erzählungen. Zürich 1976, 239–274.
Geschichte, die so kompliziert sind, dass sie schließ- Das Sterben der Pythia. Erzählung. In: WA 14, 274–313.
lich jede eindeutige Sinnzuschreibung verhindern. Das Sterben der Pythia. In: WA 24, 117–158.
Das Sterben der Pythia. Radiofassung und Regie: Hans
Die verschiedenen Varianten, die Dürrenmatt die ver-
Hausmann, DRS Basel, 1980. Schweizerisches Literatur-
schiedenen Personen erzählen lässt und die Multipli- archiv, Sig. SLA-FD-A-r67.1.
kation der Perspektiven, der Eigenschaften der Figu-
ren und der Figuren selbst (Ödipus als Sohn der Iokas- Sekundärliteratur
te und des Laios, als Sohn der Iokaste und des Garde- Dehrmann, Mark-Georg: Dürrenmatt in Delphi. Korrektu-
offiziers, als Sohn der Sphinx und des Wagenlenkers, ren des Ödipus-Mythos im Sterben der Pythia. In: Martin
Vöhler, Bernd Seidensticker, Wolfgang Emmerich (Hg.):
als Sohn der Sphinx, der gegen den Sohn der Iokaste
Mythenkorrekturen. Berlin, New York 2005, 401–409.
ausgetauscht wurde, usw.) werden in solchen Deutun- Kundert, Mathias: »Ein Stoff, der uns Rätsel aufgibt«. Fried-
gen nicht berücksichtigt. Dürrenmatt hat jedes Detail rich Dürrenmatts Nachfragen zur Rätselhaftigkeit in Das
des Mythos remotiviert – von Laios’ möglicher Ho- Sterben der Pythia. In: Variations 18 (2010), 113–126.
mosexualität über Kreons spartanisches Wesen bis Spedicato, Eugenio: Mythisches Pech. Wozu Dürrenmatt
hin zum Seher Tiresias, der seine Blindheit nur spielt. griechische Mythen wiederaufnahm und neu erzählte. In:
Silvio Vietta, Herbert Uerlings (Hg.): Moderne und
Tiresias ist im Übrigen die aus Dürrenmatts Werk Mythos. Paderborn, München 2006, 245–258.
wohlbekannte Figur, eine Art Nachfahre von Romulus Spycher, Peter: From Der Mitmacher to Smithy and Das Ster-
dem Großen, der die Welt mit seinen Orakeln zum ben der Pythia. In: Moshe Lazar (Hg.): Play Dürrenmatt.
Guten verändern will und dabei scheitert, weil es in Malibu 1983, 107–124.
der Wirklichkeit anders zugeht als berechnet. Das Be- Weber, Ulrich: Dürrenmatts Spätwerk. Die Entstehung aus
der Mitmacher-Krise. Eine textgenetische Untersuchung,
sondere an Dürrenmatts Ödipus-Version zeigt sich,
Frankfurt a. M. 2007, 197–230.
wenn man sie mit Max Frischs Homo Faber vergleicht: Zeller, Rosmarie: Über das Ende des Textes hinausschreiben.
Frisch zeigt in einer Reihe von Zufällen, wie der Vater Das Beispiel Ödipus. In: Véronique Liard, Marion George
zum Liebhaber der Tochter wird, wobei dies ganz oh- (Hg.): Dürrenmatt und die Weltliteratur – Dürrenmatt in
ne Orakel geht. Das Orakel dient Dürrenmatt im Ge- der Weltliteratur. München 2011, 49–63.
genzug dazu, den Zufall als Zufall zu diskutieren, was Rosmarie Zeller
ihn spätestens seit Die Physiker interessiert. Aber erst
40  Minotaurus 147

40 Minotaurus parodierend, travestierend auf kanonische Texte zu-


rückgreift und mit ihnen spielt (vgl. Gasser 2014).
Entstehungs-, Publikations- und Auf- Der Minotaurus ist im Werk des Zeichners, Malers
führungsgeschichte und Schriftstellers omnipräsent. Die Gouache Der
entwürdigte Minotaurus (1958), die Federzeichnung
Die Idee zur Ballade Minotaurus entwickelte Dürren- Der verängstigte Minotaurus (1974), die Mischtechnik
matt 1984 – in der Anfangsphase seiner Beziehung Minotaurus (1975), Weltstier (1975) und Minotaurus,
zur Schauspielerin und Filmerin Charlotte Kerr, die Frau vergewaltigend (1976), die Tuschserie von 1975
er im Mai 1984 heiratete. Das erste Zeugnis des Stoffs und die Illustrationen (1984/1985) zur Ballade Mino-
ist die mündliche Erzählung der Geschichte während taurus sind die hauptsächlichen bildlichen Variatio-
des Malens der Bilder im Kerr-Film Portrait eines Pla- nen, mit denen Dürrenmatt die Muster traditioneller
neten (Dreharbeiten Anfang Mai 1984 abgeschlossen, Labyrinthdarstellungen mit-, weiter- und umdenkt
Erstsendung 6.12.1984). In den ersten Manuskripten und in Persönliche Anmerkung zu meinen Bildern und
von Juni 1984 trägt der Stoff den Untertitel Ein Ballett. Zeichnungen (WA 32, 201–216) gleich selber kom-
Publiziert wurde er mit dem Untertitel Eine Ballade. mentiert (vgl. Dürrenmatt 1994, 193–205). Die in den
Mit Zeichnungen des Autors im Mai 1985. Die neun Stoffen I integrierte »Dramaturgie des Labyrinths,
lavierten Tuschezeichnungen entstanden zwischen Minotaurus« (WA 28, 69–86, hier 69) stellt das Motiv
1984 und Februar 1985. Der Text gehört zu den mei- in den Kontext der antiken Vorlage, setzt sich mit Be-
strezipierten im Spätwerk Dürrenmatts. Er wurde deutungsmöglichkeiten des Mythos auseinander und
vielfach übersetzt, und es entstanden auch Be- fragt punktuell nach der gegenwärtigen Erzählbarkeit
arbeitungen in Form von Tanz- und Musiktheater des Labyrinth-Stoffs. Die eigentliche poetische Um-
(s. Kap. 101). setzung dieser poetologischen Überlegungen ist die
1985 erschienene Ballade Minotaurus (WA 26, 9–32),
für die der Autor eine spezielle gattungsübergreifende
Exposition des Themas Schreibform wählt, die das Lyrische, Epische und
Dramatische vereint. Sie sticht auch deshalb aus Dür-
Schriftsteller sollten, so Dürrenmatt in den Stoffen, renmatts Beschäftigungen mit dem mythologischen
nicht nach chronologischen und literaturgeschicht- Untier hervor, weil sie Bild- und Textschöpfung ge-
lichen Kriterien eingeordnet werden, sondern nach nuin verknüpft (vgl. Bigler 2014; Schmitz-Emans
»Urstrukturen, Urmotiven und Urbildern«, die sie 2004). Eine reflexive Ergänzung zu Dürrenmatts Ar-
verwenden (WA 28, 70). Zu diesen archetypischen beit am Labyrinth-Mythos bilden die Gespräche, be-
Bildern gehören in seinem eigenen Fall insbesondere sonders das 1982 geführte Interview mit Franz Kreu-
die Mythen, die er reichlich aufnimmt in Text und zer (G 3, 121–167).
Bild und immer wieder neu belebt: u. a. Atlas, Prome-
theus, Sisyphos, Midas, Herkules, den Minotaurus im
Labyrinth. Der Rückgriff auf mythische Erzählungen Motivanalyse
ist keineswegs als Zeichen mangelnder oder versie-
gender Fantasie auszulegen, denn nach Dürrenmatt Die poetologischen Erwägungen in der Dramaturgie
ist die »Suche nach Stoffen überhaupt [...] ein Zurück- des Labyrinths – erstmals unter diesem Titel und in ge-
gehen auf die Mythen« (G 3, 31). Der Mythos ist in ringfügig abweichender Form erschienen in Text + Kri-
seinen Augen »ein Archetypus, eine Urerscheinung, tik (56, 1977, 1–7) – befragen den persönlichen Zugang
eine Urkonstellation, in die der Mensch immer wie- des Autors zum Urmotiv des Labyrinths, erzählen die
der gerät. Er ist das immer Wiederholbare innerhalb griechische Sage von ihren Quellen her nach, prüfen
des Menschlichen« (ebd.) und berührt Themen wie überlieferte Varianten kritisch, stellen eigene Spekula-
das Welt-Ertragen, die Rebellion, das Nie-Aufgeben, tionen zum Stoff an und diskutieren verschiedene Deu-
Macht, Heldentum, die menschliche Verlorenheit in tungsmöglichkeiten. In Dürrenmatts Lesart ist der Mi-
einer undurchschaubaren Welt (vgl. ebd., 217). Der notaurus mit dem Kopf eines Stiers und einem Men-
dialogische Bezug auf wissenschaftliche, philosophi- schenleib ein Wesen, das weder zum Sprechen noch
sche, biblische oder eben mythologische Prätexte cha- zum Denken fähig ist, sich jedoch instinktiv als »etwas
rakterisiert das für Dürrenmatt typische Schreibver- Einzigartiges« fühlt und unbewusst ein Mensch wer-
fahren des Palimpsests, mit dem der Autor zitierend, den will (WA 28, 78). Seine Gefangenschaft im Laby-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_40
148 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

rinth ist eine »Unbegreiflichkeit«, denn er ist ein titätsprozess dort, wo die Individuation eine Sozialisa-
»schuldig Unschuldiger« (ebd., 81), der für ein Unrecht tion mit einschließen sollte.
büßen muss, das er nicht begangen hat, nämlich eine
minotaurische Ungestalt zu sein, weder ganz Tier noch
Mensch noch Gott. Er wird für eine Schuld bestraft, die Deutungsaspekte und Positionen der
ihn ohne sein Einwirken trifft, weil deren Ursache vor Forschung
seiner Geburt liegt. Durch seine Ungestalt verkörpert
der Minotaurus sowohl den absolut Einzelnen, der sich In Dürrenmatts Worten ist der Minotaurus die »exis-
mit seiner Umwelt auseinandersetzt, als auch die Kom- tentielle Darstellung des Menschen als verlorenes Ich
plexität des Menschseins, das sich bloß an Individuali- [...], der das Du sucht und es nur in der Katastrophe
täten – also nur plural – beschreiben lässt. Der Mino- findet« (G 4, 84). In der Verlängerung dieses Eigen-
taurus spiegelt gleichnishaft die Vielfalt des Menschen kommentars lässt sich in der Ballade das Gleichnis ei-
und ist, wie alle Gleichnisse, mehrdeutig. Genauso nes Selbstbewusstseins- und Selbstwerdungsprozesses
mehrdeutig ist die avantgardistische Fiktionalisierung mitlesen (Gasser 2004/2014). Die thematisierte Ent-
des Labyrinths, der die Labyrinthform selber als Er- stehung des Selbstbewusstseins, als spiegelbildliche
zählmodell dient (Schmeling 1987). Vielfältig sind fer- Begegnung mit sich selbst und mit den andern dar-
ner die Darstellungsmöglichkeiten des Labyrinths, die gestellt, gibt den labyrinthischen Weg als Initiations-
sich um den Labyrinth-Erbauer Dädalus, den Laby- weg zu erkennen, der nicht ans Ende gelangt. Das
rinth-Begeher Theseus oder den Labyrinth-Bewohner Tanzlied demonstriert, wie menschenzugeneigte Lust
Minotaurus organisieren können. (Minotaurus) der menschlichen List (Theseus) zum
Ganz aus der wenig vertrauten minotaurischen Opfer fallen kann. Dürrenmatt verfremdet die mytho-
Opferperspektive und in einem »Ausbruch der Spra- logische Vorlage des menschenfressenden Monsters
che« (G 3, 232) lässt die Ballade Minotaurus das aus und des heldenhaften Befreiers im Umkehrungsver-
der Verbindung Pasiphaes mit einem Poseidon ge- fahren, das die tierhafte Menschlichkeit gegen die
weihten Stier geborene Wesen aus einem langjährigen menschliche Dämonie ausspielt und damit die ur-
Schlaf in einem Spiegelkabinett aufwachen. Der Dua- sprünglich wesensspezifischen Merkmale austauscht.
lismus von Schlafen und Wachen deutet auf ein der Die Ballade erzählt eine »exemplarische Geschichte
mythologischen Tradition teures Motiv, wonach das der Einsamkeit« (Hennig 2015, 93) und erinnert, weil
Labyrinth der Ort einer Initiation ist, an dem das In- sie auf die Thematik der Vereinzelung angelegt ist (vgl.
dividuum einen Bewusstseins- und Reifeprozess G 4, 177), an Kierkegaards Menschenbild des Einzel-
durchläuft. Der zu Beginn ›Wesen‹ Genannte muss nen (vgl. ebd., 173). Der Mensch lebt im Urkonflikt,
sich erst zum ›Minotaurus‹ entwickeln. Im Spiegel – ein Doppelwesen zu sein, ein Einzelwesen wie auch ein
sinnfällige Metapher von Subjektivität – nimmt der einer Gemeinschaft angehöriges Wesen. Sinnbild die-
Stiermensch allmählich wahr, »daß er sich selber sich / ses existentiellen Urdramas ist der Stiermensch Mino-
gegenüber befand« (WA 26, 28). Tanzend feiert der taurus, der »zwei gegensätzliche Prinzipien in sich ver-
Minotaurus sein gesteigertes Selbstgefühl, gleichzeitig einigt und der als das Unikum, das Einzelwesen
ist der Tanz auch sein körpersprachliches Mittel, um schlechthin, weder sich selbst, noch die Anderen oder
sich am andern zu erfahren. In den sukzessiven Be- die Welt begreifen kann« (Mingels 2004, 266 f.). Eine
gegnungen mit dem Mädchen, das er liebt und durch weitere Lesart des Tanzlieds, die sich auf den Schluss
Ungeschick trotzdem tötet, mit einer Gruppe von der Dramaturgie berufen kann, deutet Minotaurus
Mädchen und Jünglingen, in denen er ein Feindbild und Theseus als bloß »verschiedene Masken des einen
erblickt und sie in einem Gemetzel zerfetzt, und Menschenwesens« (Rusterholz 1998, 330), insofern
schließlich mit Theseus, der unter der Stiermaske vor- der Versuch, »diese Welt denkend zu bewältigen [...],
erst als seinesgleichen und Freund erscheint, ihn dann ein Kampf ist, den man mit sich selber führt« (WA 28,
aber ersticht, durchläuft der Minotaurus verschiedene 86). Die gescheiterte Menschwerdung des Minotaurus
Bewusstseinsstufen, welche die spiegelbildliche wird ebenso als Reflexionsunvermögen (Wirtz 1996,
Selbstbegegnung um die Fremdbegegnung erweitern. 336) einer Figur gedeutet, die »Höhlenbewohner Pla-
Der letzte Tanz der Zweisamkeit mit Theseus endet für tons« geblieben ist und die von Camus beschriebene
den Minotaurus in der Einsamkeit des Todes, »ohne Erfahrung des Absurden (Knapp 1993, 151) erleidet,
die Erfahrung des Andern, des Du« (WA 32, 212). Da- das sich als unüberwindbare Kluft zwischen dem Ich
mit scheitert der in der Ballade thematisierte Iden- und der Welt erweist, oder gar als politische Parabel ei-
40 Minotaurus 149

ner Welt als Gefängnis (Craciun 2000, 261–324). Das Gasser, Peter: Die Geburt der Literatur aus dem Geiste des
Lesen der vieldeutigen Ballade kann ein Verlesen nie Spiels. Zu Friedrich Dürrenmatts Dramaturgie der Phan-
ausschließen, aber die Fülle der Deutungsperspektiven tasie. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramaturgien der
Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und intermedial. Göt-
zeugt von der Faszination, die Dürrenmatts Minotau- tingen 2014, 19–40.
rus-Version ausübt und den Maler wie Schriftsteller Hennig, Matthias: Gefangen zwischen Spiegelbildern. Fried-
aufgrund seiner Arbeit am Mythos in die Nähe von Pi- rich Dürrenmatts Ballade Minotaurus (1985). In: Ders.:
casso (Ziolkowski 2014), Borges, Butor, Eco, Gide, Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur
Kafka, Perec und Robert Walser rückt (Jambor 1997). des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2015, 80–93.
Jambor, Jan: Labyrinth, Spiegel, Tanz. Drei zentrale Bilder in
Die Pluralität der Deutungspositionen und ihre Un-
Dürrenmatts Minotaurus. In: Brücken. Neue Folge 5
vereinbarkeit entsprechen ganz dem poetologischen (1997), 293–317.
Selbstverständnis Dürrenmatts, für den »die Frage: Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1976]. 2. Aufl.
Wer ist Minotaurus?« unbeantwortbar, der »Sinn des Stuttgart, Weimar 1993.
Labyrinths« undefinierbar ist (G 3, 154). Mingels, Annette: Jener Einzelne. Kierkegaards Kategorie
des Einzelnen als Grundkonstante in Dürrenmatts ideo-
Literatur logiekritischem Denken. In: Jürgen Söring, Annette Min-
Primärtexte gels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. 7. Internationales
Minotaurus. Eine Ballade. Mit Zeichnungen des Autors. Neuenburger Kolloquium 2000. Frankfurt a. M. u. a. 2004,
Zürich 1985. 259–284.
Minotaurus. Der Auftrag. Midas. WA 26, 9–32 (ohne Zeich- Rusterholz, Peter: Metamorphosen des Minotaurus. Entmy-
nungen). thologisierung und Remythisierung in den späten Stoffen
Dramaturgie des Labyrinths. In: Text + Kritik 56 (1977), Dürrenmatts. In: Verena Ehrlich-Häfeli (Hg.): Antiquita-
1–7. tes Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wir-
Dramaturgie des Labyrinths. In: WA 28, 69–86 (revidierte kung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift
Fassung). für Renate Böschenstein zum 65. Geburtstag. Würzburg
[Gespräch mit] Franz Kreuzer [1982]. In: G 3, 121–167. 1998, 323–331.
Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Hg. vom Schmeling, Manfred: Der labyrinthische Diskurs. Vom
Schweizerischen Literaturarchiv Bern und Kunsthaus Mythos zum Erzählmodell. Frankfurt a. M. 1987.
Zürich. Bern, Zürich 1994. Schmitz-Emans, Monika: Im Labyrinth der Bilder und
Texte. In: Jürgen Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürren-
Sekundärliteratur matt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger Kollo-
Bigler, Regula: Surreale Begegnungen von Bild und Text. quium 2000. Frankfurt a. M. u. a. 2004, 11–44.
Lektüren im intermedialen Dialog. Paderborn 2014, 206– Wirtz, Irmgard: Mit Minotaurus im Labyrinth? Eine semio-
263. tische Lektüre von Friedrich Dürrenmatts Labyrinth in
Craciun, Ioana: Die Politisierung des antiken Mythos in der Text und Bild. In: Kodikas/Code 19 (1996), 4, 331–342.
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2000. Ziolkowski, Theodore: Der Minotaurus als tragische Gestalt
Gasser, Peter: Dramaturgie und Mythos. Zur Darstellbarkeit bei Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
des Grotesken in Dürrenmatts Spätwerk. In: Jürgen gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
Söring, Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. dial. Göttingen 2014, 239–260.
7. Internationales Neuenburger Kolloquium 2000. Frank-
furt a. M. 2004, 191–209.
Peter Gasser
150 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

41 Justiz genretypische ›Aufklärungsversprechen‹ nicht ein-


lösen (vgl. Schmidt 2014, 56), sondern von Orientie-
Entstehungs- und Rezeptionskontexte rungslosigkeit, Inkohärenz und Destabilisierung ge-
kennzeichnet sind. Ihre Erzählweise ist fragmenta-
Dürrenmatts Justiz findet bis heute weit weniger Be- risch und weniger chronologisch-logisch als in tradi-
achtung bei Krimi-Fans und in der Literaturwissen- tionellen Krimis.
schaft als seine anderen Kriminalromane. Dabei böte Die zeitgenössischen Rezensionen von Dürren-
Justiz durchaus Stoff für philologische wie philosophi- matts Justiz sind daher durchaus positiv und würdigen
sche Entdeckungen und Lesefreude, stellt der Roman insbesondere dessen unterhaltsame, satirische Zeit-
doch eine innovative, satirisch-groteske Dekonstruk- kritik (vgl. Knapp 1993, 148). Einzelne negative Stim-
tion des Krimi-Genres dar. men, etwa Marcel Reich-Ranicki (Ein Germanist wird
Eine Nachschrift zum Roman reißt dessen komple- ermordet, FAZ, 30.11.1985), beanstanden jedoch die
xe, werkumspannende Entstehungsgeschichte an: wenig stringente, wenig plausible Konstruktion von
Dürrenmatt begann die Arbeit an Justiz angeblich Handlung und Figuren (vgl. Knapp 1993, 148). Sol-
1957 (tatsächlich vermutlich 1959; vgl. WA 25, 236) in cher Kritik zum Trotz wird der Roman freilich kurz
der Hochphase seiner Krimi-Produktion als mögliche nach seinem Erscheinen ins Italienische übersetzt und
Filmerzählung, die sich immer weiter auswuchs, 1960 1986 mit dem Premio Letterario Internazionale Mon-
aber unvollendet liegen blieb. 1980 nahm er das Pro- dello ausgezeichnet (vgl. ebd.). 1993 verfilmt Hans
jekt im Kontext der Werkausgabe wieder auf, führte es Wilhelm Geißendörfer Justiz (vgl. Grimm 2008, 57)
jedoch erneut nicht zu Ende. Als der Verleger Daniel mit prominenter Besetzung. Bei den Golden Globes
Keel 1985 anriet, den Text als Fragment zu publizie- 1994 steht diese Adaption gar auf der Nominierungs-
ren, machte sich Dürrenmatt daran, ihn nun doch fer- liste für den besten fremdsprachigen Film.
tigzustellen (vgl. 235–237; Knapp 1993, 148; Weber
2006, 74; Auge 2004). Noch im selben Jahr wurde Jus-
tiz zuerst als leicht gekürzter Fortsetzungsroman im Inhalt und Struktur
Stern, dann in Buchform veröffentlicht; die Werkaus-
gabe von 1998 übernahm den Text der revidierten Wäre Justiz ein gängiger Detektivroman, wäre seine
zweiten Auflage vom Oktober 1985. Geschichte nach wenigen Seiten zu Ende erzählt: Kan-
Die Entstehungsgeschichte, mit den Hauptarbeits- tonsrat Dr. h. c. Isaak Kohler erschießt 1955 mitten in
phasen in den späten 1950er und dann den 1980er dem eleganten Society-Lokal »Du Théâtre« in einer
Jahren, bewegt sich damit in einer Zeit, die für die namenlosen, jedoch deutlich als Zürich erkennbaren
deutschsprachige Kriminalliteratur wichtige Wende- Stadt den Germanistikprofessor Adolf Winter – in al-
punkte bereithält (vgl. dazu Bartl 2018, 326–328 u. ler Öffentlichkeit und vor mehreren Zeugen. Kohler
331–334): Nach Ende des Zweiten Weltkriegs avan- wird festgenommen und zu einer langjährigen Haft-
ciert die Kriminalliteratur (gerade angloamerika- strafe verurteilt. Damit würde ein klassischer Detektiv-
nischer Prägung) rasch zu den viel gelesenen Genres. roman enden, doch damit beginnt Justiz. Aus dem Ge-
Deutschsprachige Krimis, wie etwa die ›Tatsachen- fängnis heraus beauftragt Kohler nämlich den jungen
romane‹ Will Bertholds, fokussieren sich dabei oft auf Anwalt Felix Spät, den Fall unter der Prämisse neu auf-
die gesellschaftskritische Verarbeitung aktueller The- zurollen, dass er den Mord nicht begangen habe. Die-
men, durchaus auch die Folgen von Krieg und Fa- ser Impuls setzt sich explosionsartig fort: Die juristi-
schismus (vgl. Götting 1998, 170–172). Diese sozial- sche Gewissheit gerät immer mehr ins Wanken und in
kritische Tendenz, die Justiz ebenfalls eingeschrieben einem zweiten Prozess wird Kohler schließlich frei-
ist, vermischt sich im deutschsprachigen Krimi der gesprochen. Dr. Benno, ein zu Unrecht des Mordes an
1980er Jahre – nicht zuletzt im Gefolge von Umberto Winter Verdächtigter, begeht Selbstmord. Spät, eigent-
Ecos Il nome della rosa / Der Name der Rose (1980/dt. lich ein Gerechtigkeitsfanatiker, verzweifelt darüber
1982) – mit einem postmodernen, parodistischen und rutscht ab – in den Alkoholismus und in wilde Ra-
Spiel mit gängigen Mustern des Krimi-Genres. Das chefantasien gegen Kohler. Erst 1984, nach fast 30 Jah-
führt insbesondere in der Phase von 1968 bis in die ren, löst sich das Knäuel der rätselhaften Handlungs-
1990er Jahre zur Etablierung von ›Anti-Detektiv- fäden auf – zu spät. Längst sind alle Akteure tot, mit
romanen‹, die keiner klaren (juristischen, mora- Ausnahme des mittlerweile greisenhaften Kohler und
lischen, erzähllogischen) Ordnung folgen und das seiner Tochter Hélène. Im Nachhinein werden durch

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_41
41  Justiz 151

deren Erzählungen Tathergang und Mordmotiv ent- prinzipielle Unfähigkeit des Menschen, so etwas wie
hüllt: Kohler ermordete Winter, angestiftet von seiner eine absolute Wahrheit oder einen größeren Zusam-
Tochter Hélène, um dadurch quasi à la bande (vgl. WA menhang zu erkennen, weil es beides in einer post-
25, 19) noch drei weitere Figuren mitzuvernichten. faschistischen, kapitalistischen oder postmodernen
Das Motiv? Rache und Selbstjustiz. Die von Kohler Welt eben nicht gibt.
›Bestraften‹ hatten seine Tochter Hélène vergewaltigt.
Oder ging es doch um einen unternehmerischen
Machtkampf, wie Kohler zunächst behauptet? Deutungsaspekte, Positionen der Forschung
Dieser bizarre Plot wird in drei recht heterogenen
Teilen erzählt (vgl. Keller 2014, 43–128): Der Ich-Er- Justiz bündelt viele, im Grunde fast alle zentralen The-
zähler der Teile I und II ist der verkrachte Rechts- men und Motive Dürrenmatts; dieser Roman vereint
anwalt Felix Spät, der fragmentarisch und wenig chro- aufgrund seiner werkumspannenden Entstehungs-
nologisch von Kohlers Mord an Winter und dessen geschichte die Charakteristika eines die Themen ent-
Folgen berichtet. Die (zunehmend verwirrten) Lese- wickelnden Frühwerks und eines die Themen sam-
rinnen und Leser können sich nur anhand einzelner melnden Spätwerks. Es sind dies beispielsweise fol-
eingestreuter Daten und Motive (z. B. welches Auto gende Aspekte: Themen wie Recht, Gerechtigkeit, Jus-
fährt Spät in der jeweiligen Szene?) orientieren, von tiz und Selbstjustiz, um die Dürrenmatt in seinem
welcher Phase der Handlung der sprunghaft und weit- Gesamtwerk »fast wie besessen« (Losch 2003, 196)
schweifig vor sich hin schwadronierende Erzähler ge- kreist, mit stark justizkritischem Impetus (»Ein Rich-
rade berichtet. Die Szenen aus Teil I und II spielen in ter brauche persönlich ebensowenig gerecht zu sein
den Jahren 1955 bis 1958. Teil III, ein zur Fiktion ge- wie der Papst gläubig«, WA 25, 189). Hinzu kommen
hörendes Nachwort des Herausgebers (WA 25, 199), ist Darstellungsformen des Grotesken, Ironischen, Skur-
hingegen etwa im Jahr 1984 situiert und hat einen an- rilen und Monströsen sowie kleine, jedoch wichtige
deren Ich-Erzähler: einen namenlosen Schriftsteller, und das Gesamtwerk durchziehende Motive wie Essen
dem das – mit Teil I und II des Romans identische – und Trinken, Rauchen, Teufel/Teufelspakt, Henker/
Manuskript Späts zugeschickt wird; er ähnelt zum ei- Hinrichtung, Verkleidung/Theatralität und Nicht-Or-
nen spielerisch-metaleptisch Dürrenmatt selbst, zum te wie Sanatorium/Irrenanstalt/Gefängnis.
anderen dem ebenfalls namenlosen Krimi-Autor in All diese Elemente tragen ihren Teil zur Gesell-
der Rahmenerzählung von Das Versprechen (vgl. 212; schaftsdiagnostik und -kritik des Romans bei, der in
Bartl 2018, 327). Letztere Analogie ist eins von mehre- langen essayistisch-satirischen Gedankengängen über
ren (ironischen) Selbst- und Fremdzitaten, die gerade die Schweiz nachdenkt und an diesem spezifischen
den dritten Teil prägen. Modell die Verflochtenheit von Ökonomie, Macht
Beide Erzähler – Spät und der Schriftsteller – sind und Rechtsprechung in kapitalistischen Industrie-
freilich gleichermaßen unzuverlässig. Spät beispiels- nationen in den 1950er bis 1980er Jahren offenlegt.
weise ist permanent »stockbetrunken« (WA 25, 13) Die in diesen Gesellschaftssystemen Lebenden sind
und kann nur mit Mühe den roten Faden seines Be- Täter und Opfer zugleich, überblicken jeweils nur Tei-
richts im Blick behalten. Ihm wird zudem mehr und le des Ganzen und sind durchweg alleinstehende Fi-
mehr bewusst, wie wenig er eigentlich über die Hin- guren ohne konstruktive Bindungen an andere.
tergründe der Tat weiß, ja wie eingeschränkt seine Für diese Darstellung einer undurchschaubaren,
Perspektive auf das Geschehen ist. Oft kann er über verbrecherischen Welt und ihrer kleinen wie großen
die Abläufe nur spekulieren (vgl. etwa 109). Auch Gangster eignet sich die Gattung der Kriminalliteratur
wenn der eigentlich versierte Erzähler des dritten besonders gut, deren konstitutive Merkmale Dürren-
Teils, der Schriftsteller, den Bericht Späts als »dilettan- matt aufgreift, spielerisch variiert und ironisch dekon-
tische Arbeit« kritisiert (»Der Verfasser, ein Rechts- struiert. In Bezug auf den Krimi ist er ein durchaus
anwalt, war seinem Stoff nicht gewachsen«, ebd., 213), »traditionsverhafteter Autor [...], der die ›Klassiker‹
so ist sein eigenes Erzählen doch genauso unzuverläs- des Genres kennt und ihnen seine Reverenz erweist«
sig: »Meine Zeitangaben sind nie allzu genau. [...] Wie (Nelles 2018, 143). Justiz steht dabei zwischen traditio-
immer verwechsle ich jemand mit jemandem« (ebd., nellen Krimis des Schweizers Friedrich Glauser, des
199). Darin spiegelt sich – neben dem selbstironischen Belgiers Georges Simenon sowie der amerikanischen
Spiel mit dem eigenen literarischen Erzählen – eine Hard-Boiled School eines Raymond Chandler und
Grundaussage von Dürrenmatts Roman, nämlich die Dashiell Hammet (vgl. ebd., 141 f.). Zugleich schlägt
152 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

der Text den Bogen zu absurden Kriminalerzählungen (künstlerisch-literarische) Fiktion umkreisen. Das
des Existentialismus, etwa in der Idee des Mordes ohne zeigt sich schon zentral in Kohlers Ermittlungsauf-
Motiv, die den Kern von Albert Camus’ L ’Étranger bil- trag, seine (fiktive, potentielle) Unschuld zu beweisen:
det. Mit seinen Romanen hat Dürrenmatt selbst eine »Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen
zentrale Stellung in der Gattungsentwicklung, mar- und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, daß
kiert sein Krimi-Werk doch einen Wendepunkt in der wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögli-
deutschsprachigen Kriminalliteratur. Mit Nusser (vgl. che vorzustoßen« (ebd., 59). Ebenso sind die auffällig
2009, 136) argumentiert, findet dort ab ca. 1960 näm- vielen Künstlerfiguren des Romans ein Zeichen seiner
lich ein Paradigmenwechsel statt: Nach einer Phase der Selbstreflexivität. Betrachtet man diese, so haben sie
Etablierung und Entwicklung fester Muster dieser alle das Heroische des Künstlers eingebüßt, der als
Schemaliteratur bewegt sich die deutschsprachige Kri- Außenseiter das Treiben der bürgerlichen Welt durch-
militeratur zur selbstironischen Variation und kriti- schaut und, wenn auch nicht ändern, so doch in sei-
schen Revision solcher Muster. nen Kunstwerken souverän entlarven kann. Justiz
Justiz führt diese Tendenz der Dekonstruktion etab- zeigt uns in kritischer Auseinandersetzung mit dem
lierter Schemata ins Extrem: Der schon in der Hard- eigenen Medium andere Künstler: Sie sind selbst ohn-
Boiled School moralisch problematisierte Ermittler mächtiger Teil in der »Wurstelei unseres Jahrhun-
zeigt sich in Justiz noch stärker als Teil des verbreche- derts« (Theaterprobleme, WA 30, 62), haben die Deu-
risch-korrupten Systems (vgl. auch Späts Selbstein- tungshoheit der Wirklichkeit und auch ihres eigenen
schätzung: »In einer verbrecherischen Welt bin ich Textes verloren, ja spielen das fragwürdige Spiel der
selbst ein Verbrecher geworden«, WA 25, 150). Spät ist, Mächtigen mit und lassen sich kaufen. Trotzdem
anders als die Hard-Boiled Detectives, für den Leser bleibt Dürrenmatt noch immer ein moderner Mora-
bzw. die Leserin keine Identifikationsfigur; er besitzt list (vgl. Losch 2003, 212); die einzige Hoffnung, die
keine »Autorität, Moralität und Souveränität« (Nelles uns der Text lässt, liegt in dem zwar lächerlichen,
2018, 145) und verkörpert auch keine idealisierte übertriebenen, scheiternden, aber doch stoischen und
Männlichkeit. Der aktive Held US-amerikanischer gerechten Ausharren Späts. In ihm zeigen sich, wenn
Thriller oder der brillante Rationalist englischer Detec- auch ironisch gebrochen, Reste des Ideals vom »muti-
tive Stories wird in Justiz zum passiv Wartenden, des- gen Menschen« (und Künstler?) (WA 30, 63), das
sen Verstand als welterklärendes Instrument nicht Dürrenmatts Gesamtwerk durchzieht.
taugt. Dürrenmatt radikalisiert hier die Handlungs- Was Kritiker dem Roman Justiz mitunter vorwarfen
unfähigkeit und das Scheitern seiner Detektive Bär- – die sprunghafte, heterogene Erzählweise, die ver-
lach und Matthäi aus den früheren Krimis Der Richter schlungene, wenig kausal motivierte Handlung, die
und sein Henker, Der Verdacht und Das Versprechen. flachen, marionettenhaften Figuren, das Versagen de-
Analog dazu zitiert Justiz immer wieder Elemente tektorischer Logik (vgl. exemplarisch Knapp 1993,
gängiger Krimis und verkehrt sie ins Gegenteil (vgl. 148–150) –, ist somit nicht nur der jahrzehntelangen
Gasser 2009, 72): Bei Späts Besuch bei Kohler im Ge- Entstehungsgeschichte geschuldet oder Anzeichen ei-
fängnis verhört nicht der Ermittler den Täter, sondern nes »mißlungenen Texts« (ebd., 149), sondern hat et-
umgekehrt (vgl. Immken 2006, 221). Auch überlebt was Programmatisches. Darin spiegelt sich eine Welt-
und ›besiegt‹ am Ende dieser Täter den ihn jagenden sicht, die die Empörung über die Grausamkeit und
Detektiv, was einen »eklatante[n] Genrebruch« (ebd., Sinnlosigkeit von Shoah, Krieg, Atombombe verbindet
237) darstellt und die Problematik käuflicher Recht- mit der These von der prinzipiellen Perspektivität und
sprechung, unethischer Rationalität, nur perspekti- Relativität von Wahrheit. Die »Universalien Wahrheit,
visch geprägter Erkenntnis von ›Wahrheit‹ und gene- Freiheit und Gerechtigkeit« sind keine absoluten Ver-
rell einer chaotischen, undurchschaubaren Welt auf bindlichkeiten mehr, sondern perspektivisch geprägte
die Spitze treibt. Fiktionen (Spedicato 2014, 80; vgl. Famula 2014, 199;
Diese Variation und Dekonstruktion klassischer Grimm 2008, 56), die noch dazu gesellschaftlich-ideo-
Muster des Krimi-Genres werden im Text ironisch logisch und persönlich zum Machterhalt missbraucht
ausgestellt (»Aber mein Bericht bleibt Klischee. Trotz werden. Statt eines allwissenden Erzählers und eines
Dichtung. Tut mir leid. Ich komme mir wie der Ver- souveränen Ermittlers konfrontiert uns (insbesondere
fasser eines Kolportageromans vor«, WA 25, 127) und der dritte Teil von) Justiz daher konsequenterweise mit
verbinden sich mit poetologischen Elementen, die die unterschiedlichen Figurenberichten, die das Gesche-
Begriffe Wirklichkeit und Möglichkeit, Realität und hen jeweils anders interpretieren.
41 Justiz 153

Das Schachspiel, das so oft in Kriminalromanen als Gasser, Peter: »... unsere Kunst setzt sich aus etwas Mathe-
Inbegriff des dem Genre eigenen Prinzips überragen- matik zusammen und aus sehr viel Phantasie.« Zu Fried-
der Rationalität und souveräner psychologischer rich Dürrenmatts Kriminalromanen. In: Ders., Elio Pellin,
Ulrich Weber (Hg.): »Es gibt kein größeres Verbrechen als
Menschenkenntnis auftritt, hat hier ausgedient. Spät, die Unschuld«. Zu den Kriminalromanen von Glauser,
der Schachspieler, verliert und Kohler, der Gewinner, Dürrenmatt, Highsmith und Schneider. Zürich 2009,
spielt lieber Billard à la bande. Billard passt besser zu 53–75.
einer undurchschaubar gewordenen Welt, die von Götting, Ulrike: Der deutsche Kriminalroman zwischen
Kontingenz, undurchsichtigen Machtstrukturen und 1945 und 1970. Formen und Tendenzen. Wetzlar 1998.
Grimm, Gunter E.: Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane
persönlicher Ohnmacht geprägt ist (vgl. Spedicato
und ihre Verfilmungen. In: Volker Wehdeking (Hg.):
2014, 77 f.; Losch 2003, 209). In ihr bleibt das Streben Medienkonstellationen. Literatur und Film im Kontext
nach »Ordnung und Sinnhaftigkeit« trotzdem beste- von Moderne und Postmoderne. Marburg 2008, 39–59.
hen (Spedicato 2014, 80), allerdings ist die Hoffnung Immken, Susanne: »Ein Verbrechen läßt sich immer fin-
auf die ordnende Ratio eines klassischen Detektivs den«. Die Dekonstruktion des Kriminalromans bei Fried-
oder die sinnstiftende Narration eines klassischen Er- rich Dürrenmatt. Unv. Diss. Ann Arbor 2006.
Keller, Otto: Dürrenmatts Gangster. Von den Kriminal-
zählers zur Illusion geworden. Aber vielleicht kann ei- romanen der 1950er zum Justizroman der 1980er Jahre.
ne andere Variante des Kriminalromans mit einem Bern 2014.
passiv-wartenden Ermittler, einem billardspielenden Knapp, Gerhard P.: Friedrich Dürrenmatt [1980]. 2. Aufl.
Bösewicht und einer widersprüchlichen, heterogenen Stuttgart, Weimar 1993.
Erzählweise dieser ›Wirklichkeit‹ beikommen? Das Losch, Bernhard: Friedrich Dürrenmatt – »Die Gerechtig-
keit ist etwas Fürchterliches«. In: Hermann Weber (Hg.):
versucht jedenfalls Dürrenmatts Justiz in einer spiele-
Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Berlin
risch-radikalen Dekonstruktion des Kriminalromans. 2003, 195–213.
Nelles, Jürgen: Friedrich Dürrenmatt. In: Susanne Düwell
Literatur u. a. (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien –
Primärtexte Geschichte – Medien. Stuttgart 2018, 141–146.
Justiz. In: Stern, Heft 34 (15.8.1985) bis Heft 46 (7.11.1985). Nusser, Peter: Der Kriminalroman [1980]. 4. Aufl. Stuttgart,
Justiz. Roman. 1. Aufl. Zürich 1985. Weimar 2009.
Justiz. Roman. 2. rev. Aufl. Zürich 1985. Schmidt, Mirko F.: Der Anti-Detektivroman. Zwischen
Justiz. Roman. WA 25. Identität und Erkenntnis. Paderborn 2014.
Spedicato, Eugenio: Der Kontingenz-Gedanke und die Uni-
Sekundärliteratur versalien Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit bei Fried-
Auge, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts Roman Justiz: Ent- rich Dürrenmatt. In: Ulrich Weber u. a. (Hg.): Dramatur-
stehungsgeschichte, Problemanalyse, Einordnung ins gien der Phantasie. Dürrenmatt intertextuell und interme-
Gesamtwerk. Münster u. a. 2004. dial. Göttingen 2014, 77–96.
Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahr- Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt oder Von der Lust, die
hunderts. In: Susanne Düwell u. a. (Hg.): Handbuch Kri- Welt nochmals zu erdenken. Bern, Stuttgart, Wien 2006.
minalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart
2018, 326–349. Andrea Bartl
Famula, Marta: Fiktion und Erkenntnis. Dürrenmatts
Ästhetik des ethischen Trotzdem. Würzburg 2014.
154 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

42 Selbstgespräch Unsinnigste. Ein Unsinn« (WA 36, 115). Das heißt, er


kann sich nur denken wie einen geometrischen oder
Entstehungs- und Publikationsgeschichte stereometrischen Begriff und sich beschreiben in ei-
ner paradoxen Reihe sich widersprechender Quali-
Der Diogenes-Verleger, Daniel Keel, hatte Dürren- täten: »Ich bin nicht ich, und ich bin ich. [...] Ich bin
matt gebeten, sein religiöses Credo zu schreiben. Der ein Punkt, eine Gerade, eine Fläche, ein Kubus, eine
Erstdruck des dreieinhalbseitigen Textes, dem Dür- Kugel, ein n-dimensionaler Körper und nichts von
renmatt den Titel Selbstgespräch gab, erfolgte in der allem, Nichts. Ich bin sowohl allmächtig und macht-
Zeitschrift Tintenfass (Nr. 16, 1987, 53–56). Er er- los als auch allwissend und nichtwissend, ich bin al-
schien ebenfalls in der Neuen Zürcher Zeitung les, was man von mir behauptet, weil es gleichgültig
(11.2.1987), im Essayband Versuche (1988, 113–116) ist, was man von mir behauptet, so komme ich immer
und schließlich in WA 36, 115–118. wieder auf das ›Man‹« (ebd.). Diese Gottesfigur sagt
von ihrem ›Ich‹, es sei vielleicht nur ein Einfall. Aber
einmal eingefallen, »würde der Einfall ins Unermeß-
Inhalt und Analyse liche wachsen, wieder in sich zusammenstürzen und
zu nichts werden: Das Endlose und das Nichts sind
Ein Credo zu schreiben ist für Dürrenmatt eine dasselbe« (ebd., 116). Dieses Ich ist aber nur ein
höchst problematische Aufgabe. Ohne Glauben kom- »Denk-Ich« (ebd.), nur eine Möglichkeit seines real
me niemand aus, doch »legt man sein Credo ab, be- oder imaginär Geschaffenen. Nun hat es aber ein
kennt man seinen Glauben angesichts der Weltöffent- Verhältnis zu sich selbst und findet es komisch, sich
lichkeit, durchaus großartig, durchaus mutig, [...] etwas vorzustellen, was sich nicht vorstellen lässt,
aber der Glaube ist zum Plakat geworden, das man und lacht fortlaufend über sich selbst. Vielleicht sei es
vor sich herträgt« (WA 29, 226). Über seinen eigenen nur denkbar als etwas Komisches, Groteskes. Dieses
Glauben, seinen eigenen Zweifel könne er nur noch mögliche Denk-Ich aber »wird mich, welches es sel-
subjektiv reden, »indirekt [...], in sich immer wider- ber ist, lieben oder hassen müssen«. Beides aber wäre
sprechenden Gleichnissen. Die Schriftstellerei und gleich unanständig. »Nur die, welche von mir schwät-
der Glaube sprechen die gleiche Sprache« (ebd., 227). zen, sind nicht unanständig« (ebd., 117). Es sei nur,
Deshalb schreibt Dürrenmatt sein Credo als Rollen- indem es schwätze. Der Akzent auf das Schwätzen
prosa. Er lässt seine Rollenfigur ein Selbstgespräch markiert einen Abstand vom Intentionalen, löst Lie-
führen, wobei dieses Ich aufgrund der Fremdbe- be und Hass ins Unverbindliche auf. Denn würde es
zeichnungen als Gott identifiziert werden kann, ohne nicht schwätzen, nähme es sich ernst, müsste einen
dass das Wort selbst gebraucht wird. – Inwiefern ist Sinn und einen Grund haben. Das Grundlose aber
diese Figur auch eine Maske des Autor-Ichs, im Sinne habe keinen Sinn. Immer wieder kommt es auf die-
eines autofiktionalen Textes? Eine Antwort verlangt, sen Satz zurück. Da Gott gar nicht ist, würde dieses
dass man sich auf die eigentümliche Machart des Denk-Ich ihn erfinden müssen und dieses Erfinden
Textes einlässt. Glauben nennen. Da dieser Glaube aber keinen fes-
Das Rollen-Ich ist sich selbst ein Problem. Es habe ten Gegenstand habe, würde es ihn endlos erfinden,
viele Namen, könne sich aber an keinen erinnern mit endlosen Namen bezeichnen, ihn millionenfach
(vgl. WA 36, 115). Später habe man diese Vielheit »in vorhanden glauben oder in drei, zwei, eins zusam-
eine Eins zusammengezogen« und sich eine kompli- menziehen, in eine Idee, ein Prinzip, »in den einzig
zierte Theorie ausgedacht, »diese Eins sei eigentlich wahren Glauben, daß ich nicht bin. Aber diesen
eine Drei« (ebd.), aber es habe sie nie verstanden. Das Glauben, der den Glauben aufhebt, wird man nicht
sagt der Rollen-Gott offensichtlich nicht als auto- glauben, man wird wieder glauben, daß ich dennoch
nomes Ich. Er sagt nur: »Ich sage ›man‹« (ebd.). Das ein Prinzip bin, eine Idee, eine Eins, eine Drei [...]:
heißt etwas, das er vom Hörensagen kennt. Er könne Bin ich einmal gedacht, bin ich gedacht, nur wenn ich
sich weder sich selbst noch etwas außer sich vorstel- nicht mehr gedacht werde, bin ich, was ich bin:
len. Im handschriftlichen Entwurf des Textes stand nichts« (ebd., 118, Schlusssatz). Ob diese Gottesfigur
noch: »Ich bin weder vorstellbar noch denkbar« gedacht oder nicht gedacht wird, entscheidet über
(SLA-FD-A-r178_II-A, 1). In der Druckfassung steht deren Existenz. Solange sie aber gedacht wird, drehen
dann: »Ich bin nicht vorstellbar, ich bin nur denkbar, sich die Fragen um ihre Existenz im Kreis: da capo al
und denkbar ist auch das Unsinnigste. Ich bin das fine, sich unendlich wiederholend.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_42
42 Selbstgespräch 155

Deutungsaspekte der ›Ich‹ sagt, der Autor ist, aber fiktional über sich
spricht, sondern zu einem autofiktionalen Text, in
Dürrenmatt gelingt es, ein Credo zu formulieren, das, dem eine Figur des Autors spricht, deren Sprechen in-
Modelle christlicher und existentialistischer Tradition direkt auf eine Maske des Autor-Ichs verweist. Das löst
parodierend, den Lesenden das Problem der Deutung auf ideale Weise das Problem eines Autors, der gleich-
überlässt. Martin Heideggers Begriff des ›Man‹ be- zeitig der Aufforderung genügen will, ein Credo zu
zieht sich auf das faktische Dasein. Das Selbst müsste schreiben, und die direkte Aussage verweigert.
sich als wesenhafte Modifikation gegen das ›Man‹ be- Der Diogenes Verlag hat im Tintenfass (Nr. 16,
haupten, um zum eigentlichen Dasein zu kommen 1987, 76 f.) drei autobiografische Textfragmente Dür-
(vgl. Probst 1980, 706 f.). Dürrenmatts Gottesfigur renmatts unter dem Titel Friedrich Dürrenmatt. An
kreist ewig um sich selbst, als Figur des Man. Gott glauben beigefügt (auch in: Dürrenmatt 2005, 31
Ein zweiter Bezugspunkt ist die negative Theologie. u. 35–37), um Dürrenmatts ambivalente Haltung zur
Sie betont, dass Gott ein an sich unmöglicher Er- Rede von Gott zu dokumentieren. Das erste Fragment
kenntnisgegenstand ist. Seine Wirklichkeit ist nur ap- formuliert eine Alternative: Wenn es einen Gott gibt,
proximativ in Paradoxien formulierbar. Das berühm- wäre der Zweifel daran der von Gott gewählte Schleier,
teste Bild aus dieser Tradition ist die unendliche Ku- den er vor sein Antlitz senkt; und gibt es ihn nicht,
gel, »deren Mittelpunkt überall und deren Umfang dann seien unsere Worte über ihn »in den Wind
nirgends ist« (Mahnke 1966, 77; vgl. Flasch 2011, 29– gesprochen« (vgl. WA 35, 15). Der nächste Ausschnitt
31). Gott ist der Ursprung der Schöpfung und zu- beginnt mit: »Gott liegt gänzlich außerhalb jeder
gleich das allumfassende Sein, während Dürrenmatts Rede«; deshalb dringen seine offenbarten Worte, un-
Gottesfigur nur in unendlicher Folge nach einem mit abhängig vom Glauben, »in unsere Wortsphäre von
ihr identischen Gedanken ihrer Schöpfung sucht. außen, wie Meteore in die Erdatmosphäre« (105).
Ein Blick auf die Textgenese gibt weitere Aufschlüs- Zum Schluss ein Fazit mit Bezug auf die konkrete Si-
se. Der in einem Manuskript handschriftlich eingetra- tuation des Autors: »Es gibt Augenblicke, da ich zu
gene Entwurf wird von zwei passenden Texten ge- glauben vermag, und es gibt Augenblicke, da ich zwei-
rahmt: »Einst war ich vom Glauben begeistert / Nun feln muß.« Das Schlimmste sei, glauben zu wollen und
sehe ich ein / Dass Nicht-Glauben das grössere ist« den Zweifel zu unterdrücken. »Aber wer sich bezwei-
(SLA-FD-E-48-A-04-d-03, 156); und anschließend: felt, ohne zu verzweifeln, ist vielleicht auf dem Wege
»Soll ich darüber schreiben? Geht es jemanden etwas zum Glauben.« Jedes Glaubensbekenntnis sei unbe-
an? [...] Aber es hat mich zu sehr bestimmt und je län- weisbar und deshalb für sich zu behalten (vgl. WA 14,
ger es mich bestimmt, je mehr ich sehe, dass es mich 326 f.). Auch diese Hinweise ergeben kein Credo.
immer mehr bestimmt [...]; je mehr mich das Gefühl In der letzten Bearbeitung des autobiografischen
beherrscht über eine Eisfläche zu gehen, die jederzeit Essays Abschied vom Theater (1988/1990) nennt Dür-
einzubrechen vermag« (ebd., 160). renmatt Gott ein »entleertes Wort: eine Groteske«
Diese Fragmente sind autobiografische Skizzen. (WA 18, 586; zur Datierung ebd., 591). Das zeige sich
Der handschriftliche Entwurf jedoch ist ein fast ferti- an der geistigen Krise unserer Zeit, »die anfängt, das
ger literarischer Text. In der gedruckten Fassung Wunder Mensch zu entdecken und seinen Sinn in ihm
spricht nicht der Autor, sondern die in sich selbst krei- selber. [...] Er war sein eigener Feind. Er muß sein ei-
sende Gottesfigur: ein Einfall des konzipierenden Au- gener Freund werden. Dann erst kann er seinen
tors, aber keine Konfession. Er stellt den Prozess eines Nächsten wie sich selber lieben. Jesus war vielleicht
Denk-Bildes dar, das sich im Modus des als ob (vgl. der erste wirkliche Atheist. Aber was wissen wir von
Burkhard 2004, 69–85) in verschiedenen Phasen re- ihm?« (ebd.). Dürrenmatt kann sich einen persönli-
flektiert, im Wissen, das sich nur in paradoxen For- chen Gott nicht mehr vorstellen, aber sein letztes Fazit
men ausdrücken kann. Ähnliche Bilder und Formu- ist der Wunsch nach der Veränderung des Menschen
lierungen erinnern an frühere Texte des Autors über im Sinne des christlichen Liebesgebots.
sich selbst, so dass dieser sich über solche amüsierte,
die dachten, »das sei ein Monolog, den ich mit mir Literatur
Primärtexte, Quellen
führe« (G 4, 75).
Selbstgespräch. In: Tintenfass 16 (1987), 53–56.
Doch die gleichzeitig offene und geschlossene Selbstgespräch. In: Versuche. Kants Hoffnung. Essays und
Form macht ihn zum exemplarischen literarischen Reden. WA 36, 115–118.
Text: nicht zu einem autofiktionalen Text, in dem der, Selbstgespräch. Handschriftlicher Entwurf. In: Textbuch im
156 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

Schweizerischen Literaturarchiv, Sig. TB Ch K III, 157– hältnis des späten Dürrenmatt zur Religion, untersucht
159. am Text Selbstgespräch. In: Henriette Herwig, Irmgard
Selbstgespräch. Entwurf. Typoskript mit handschriftlichen Wirtz, Bodo Würffel (Hg.): Lesezeichen. Semiotik in
Korrekturen. 20 Seiten. 11.12.1985. Schweizerisches Lite- Raum und Zeit. Festschrift für Peter Rusterholz. Tübin-
raturarchiv, Sig. SLA-FD-A-r178_II-A. gen, Basel 1999, 448–458.
Denken mit Friedrich Dürrenmatt. Hg. von Daniel Keel, Flasch, Kurt: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen.
Anna von Planta. Zürich 2005, 31 u. 35–37. München 2011.
[Gespräch mit] Hardy Ruoss [1989]. In: G 4, 71–81. Mahnke, Dietrich: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt.
Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik
Sekundärliteratur [1937]. Stuttgart, Bad Cannstadt 1966.
Abs, Carina: Denkfaule Hoffnung? Anfragen an Erlösungs- Probst, Peter: Art. Man, (das). In: Joachim Ritter, Karlfried
narrationen bei Alfred Döblin, Christine Lavant und Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Friedrich Dürrenmatt. Ostfildern 2017, 260–264. Bd. 5. Basel 1980, 706 f.
Burkard, Philipp: Als Gott über Gott schwätzen? Das Ver-
Peter Rusterholz / Pierre Bühler
43  Der Auftrag 157

43 Der Auftrag vergewaltigt und tot aufgefunden worden sein. Ihr


Ehemann, der sich beschuldigt, seine depressive Gat-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte tin zur Flucht in die Wüste getrieben zu haben, beauf-
tragt F., Autorin von Filmporträts, das Verbrechen vor
Die Textgenese von Der Auftrag oder Vom Beobachten Ort in einem Dokumentarfilm zu rekonstruieren.
des Beobachters der Beobachter. Novelle in vierund- Als wichtigster Anhaltspunkt erweist sich der rote
zwanzig Sätzen, erschienen 1986, steht in engem stoff- Pelzmantel, den Tina von Lambert zuletzt bei ihrer
lichen Zusammenhang mit Dürrenmatts letztem zu Flucht in die Wüste trug. F.s Dokumentarfilm selbst
Lebzeiten noch autorisierten Text, Midas oder Die gerät zur Farce, werden sie und ihr Filmteam bei der
schwarze Leinwand, erschienen im März 1991. Zen- Ankunft in Afrika doch nicht nur auf Schritt und Tritt
trale Ideen beider Werke finden sich in einer vierseiti- von einem Filmteam des nationalen Fernsehens ver-
gen Szene, die der Autor in der Nacht vom 24. auf den folgt und beim Filmen gefilmt; die Polizei und der Ge-
25.4.1984 entwarf (vgl. Stingelin 2006; Rusterholz heimdienst, die F. einen falschen Mörder präsentieren,
2009): Es handelt sich um eine Selbstbegegnung zwi- tauschen schließlich die Filme aus, um sich in einem
schen ›FD1‹ und ›FD2‹ am Fernsehbildschirm (ein besseren Licht erscheinen zu lassen. In der Zwischen-
Spiel, das im Stoffe-Kapitel Die Brücke bis zu ›FD 13‹ zeit begibt sich F., die auf dem Markt ›zufällig‹ den ro-
weitergetrieben wird; vgl. WA 29, 85–111). ›FD1‹ sieht ten Pelzmantel Tina von Lamberts gefunden hat, auf
fern und begegnet am Bildschirm mit ›FD2‹ sich ihren Spuren in die Wüste, nur um festzustellen, dass
selbst, der ihn in ein Gespräch verwickelt, woraus sich vor ihr schon eine andere Frau im roten Pelzmantel
insbesondere zwei Motivstränge entwickeln: Einer- auf den Spuren der Psychiatergattin in die Wüste ge-
seits wird die medienkritisch reflektierte Frage nach gangen ist: die dänische Journalistin Jytte Sörensen,
der Beobachtung des Beobachters der Beobachter auf- Tinas Freundin. Nur unter dem Deckmantel von Ti-
geworfen (im Dialog mit ›FD1‹ wird ›FD2‹ von einem nas Identität konnte diese einreisen, um das Geheim-
Filmteam aufgezeichnet), die Der Auftrag aufgreift; nis aufzuklären, das sich jetzt F., der das gleiche
andererseits geraten ›FD1‹ und ›FD2‹ in einen drama- Schicksal wie der Reporterin droht, offenbart: In der
turgischen Widerstreit über die Besetzung ihrer jewei- Wüste betreibt der Agent und Kameramann Poly-
ligen Rollen, der in Midas weiterentwickelt wird. phem nicht nur eine von verschiedenen sich gegensei-
Der eigentliche Anlass für Der Auftrag ist aller- tig beobachtenden Satelliten beobachtete Beobach-
dings der ebenso verzweifelte wie letztlich vergebliche tungsstation, auf der geheime interkontinentale Ver-
Versuch von Dürrenmatts zweiter Ehefrau, der Fil- suchsraketen niedergehen, sondern auch das Projekt,
memacherin Charlotte Kerr, Ingeborg Bachmanns den authentischen Dokumentarfilm einer Vergewalti-
›Todesarten‹-Projekt Der Fall Franza in ein Drehbuch gung und eines Mordes zu drehen, deren Opfer Jytte
umzusetzen. Sie erinnert sich: »Dann, eines Abends, Sörensen geworden ist. Vor diesem Schicksal wird F.
wir hören Musik: Das wohltemperierte Klavier I, im letzten Augenblick von verschiedenen sich dabei
Glenn Gould spielt, summt dazu, wir trinken eine gegenseitig filmenden Filmteams gerettet, während
Flasche Lynch Page, mein Lieblingswein, wir sind die zuvor glücklich wiederaufgetauchte Tina von
wohl, wir lassen uns fallen, wir hören alle vierund- Lambert ihrem Mann ein Kind schenkt.
zwanzig mouvements, das letzte ist verklungen, Stille, Der eigentliche Gegenstand der Novelle kommt im
Dürrenmatt steht auf, tief in Gedanken, geht zum Untertitel zum Ausdruck: Vom Beobachten des Be-
Plattenspieler, stellt ihn ab, schließt den Deckel, legt obachters der Beobachter, eine Beobachtung dritter
die LP zurück in ihre Hülle und sagt: ›So, jetzt schrei- Ordnung also, mit der alle aus der Systemtheorie von
be ich die Geschichte, in vierundzwanzig Sätzen.‹ [...] Niklas Luhmann bekannten Paradoxa Einzug in den
Die Filmrechte schenkt er mir« (Kerr 1992, 172 f.; vgl. Text halten. Wie für Luhmann (1991) ist Gott
auch Kerr 2009, 7–12). (s. Kap. 68) vornehmlich ein Problem der Beobach-
tung, der alles beobachtende Beobachter, der selbst
den daraus entspringenden Paradoxa nur deshalb ent-
Inhalt und Analyse gehen kann, weil er selbst als absoluter Beobachter
nicht beobachtet werden kann: »[E]in Gott, der be-
In der Wüste eines ›neutralen‹ nordafrikanischen obachtet werde, sei kein Gott mehr« (WA 26, 115),
Staates soll Tina von Lambert, die Gattin des Psychia- sagt Polyphem, der den Ehrgeiz seines Projekts, den
ters Otto von Lambert, am Fuße der Al-Hakim-Ruine authentischen Dokumentarfilm einer Vergewaltigung

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_43
158 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

und eines Mordes zu filmen, in der Wendung zusam- Desiderate bleiben insbesondere das Spannungs-
menfasst: »[N]ur wenn Gott reines Beobachten wäre, verhältnis zwischen ›Intertextualität‹ und ›Interme-
bliebe er von seiner Schöpfung unbesudelt, was auch dialität‹: ›Intertextualität‹: allen voran zu Bachmanns
für ihn den Kameramann gelte, auch er habe nur zu Romanfragment Der Fall Franza aus dem ›Todes-
beobachten« (113). Doch da Gott nach der von der arten‹-Zyklus (damit aber auch die Frage nach Dür-
Novelle mit Nietzsche geteilten Diagnose tot ist (vgl. renmatts dioskurischem Zwillingsbruder Max Frisch
48), sehen sich alle Beobachter von Beobachtungen als durch Bachmanns Romanfragment vermittelte
nach dem Befund des mit F. befreundeten Logikers D. Schlüsselfigur in Der Auftrag); ›Intermedialität‹: allen
(»F.« »D.«) in einem Dilemma: Entweder die Unent- voran das Dürrenmatt bis zu Midas oder Die schwarze
rinnbarkeit, als Beobachter selbst beobachtet zu wer- Leinwand zusehends mehr umtreibende Konkurrenz-
den, treibt sie in die tödliche Aggression, oder die verhältnis zwischen Literatur und Film.
Drohung, als Beobachter nicht beobachtet zu werden,
beraubt sie jeden lebensnotwendigen Sinns – zwei Literatur
Primärtexte
weitere Fiktionen. Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Be­
obachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen. Zürich 1986.
Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung Beobachter. Novelle in vierundzwanzig Sätzen. In: WA 26,
33–130.
Der Auftrag. Gelesen von Charlotte Kerr und Gert Heiden-
Die innerhalb des Spätwerks vergleichsweise umfang-
reich. Mit einer Werkstattlesung von Friedrich Dürren-
reiche Forschung zur Novelle hat an Dürrenmatts matt und Charlotte Kerr von 1986. Zürich 2009 (3 CDs).
wohl komplexestem Text bislang vor allem drei As- Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. München 1992.
pekte hervorgehoben: die medienkritische Frage nach Kerr, Charlotte: Skizzen zur Entstehung von Der Auftrag. In:
der Vermitteltheit von ›Wirklichkeit‹, die identitäts- Der Auftrag. Gelesen von Charlotte Kerr und Gert Hei-
kritische Frage nach der Perspektivität von ›Welt‹- denreich. Mit einer Werkstattlesung von Friedrich Dür-
renmatt und Charlotte Kerr von 1986. Zürich 2009, Boo-
Wahrnehmung und die stilkritische Frage nach dem
klet, 7–12.
›langen Satz‹.
Das Moment der medialen Vermitteltheit von Sekundärliteratur
›Wirklichkeit‹ wird in der Novelle durch die Frage Hebel, Franz: Technikentwicklung und Technikfolgen in der
problematisiert, wie sich die ›Welt‹ durch die mono- Literatur. Timm, Der Schlangenbaum/Eisfeld, Das Genie/
perspektivisch eingeschränkte Sicht eines einzigen Dürrenmatt, Der Auftrag/Wolf, Störfall. In: Der Deutsch-
unterricht 41 (1989), 5, 35–45.
Kameraauges wahrnimmt, im Grunde unserer Fern- Helbling, Robert E.: »I am a Camera«. Friedrich Dürren-
sehwelt: ›Polyphem‹, ursprünglich als ›Galileo‹ kon- matts’s Der Auftrag. In: Seminar. A Journal of Germanic
zipiert, beobachtet durch das Objektiv mit nur einem Studies 24 (1988), 2, 178–181.
Auge (vgl. Helbling 1988; Michaels 1988; Käser 2003). Hoffmann, Ludger: Einen langen Satz schreiben: Sprache.
Daraus ergibt sich eine Reihe von Rückfragen zur – in- In: Ders., Martin Stingelin (Hg.): Schreiben. Paderborn
2018, 177–199.
nerhalb der Novelle tatsächlich mehr als fatalen –
Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik.
Technikfolgenabschätzung einer medial revolutio- Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt a. M. 1979,
nierten Moderne (vgl. Hebel 1989). 83–121 (engl. 1960).
Wo sich aber alle außer Gott letztlich auf ihre eige- Käser, Rudolf: »Fernsehkameras ersetzten das menschliche
ne Perspektive zurückgeworfen sehen, stellt die No- Auge«. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Spannungs-
velle zwei Fragen: Wie ›konstruiert‹ durch uns selbst feld von Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. In:
Text + Kritik 50/51 (2003), 167–182.
ist unsere eigene Wirklichkeit (vgl. Kost 2005)? Und Kost, Jürgen: Mediale Inszenierung als Paradigma der ent-
an welches Selbstverständnis von ›Identität‹ können fremdeten Moderne. Friedrich Dürrenmatts Der Auftrag
wir uns unter diesen Voraussetzungen halten (vgl. oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. In:
Rusterholz 1987; Rusterholz 2001)? Hein-Peter Preußler (Hg.): Krieg in den Medien. Amster-
Im Sinne von Roman Jakobsons Postulat, dass Lin- dam, New York 2005, 329–350.
Luhmann, Niklas: Stenographie und Euryalistik. In: Hans
guistik und Poetik (1960) nicht unabhängig voneinan-
Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien,
der gedacht werden sollten, haben die 24 langen Sätze Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener
gleichzeitig auch ein besonderes von Sprach- und Li- Epistemologie. Frankfurt a. M. 1991, 58–82.
teraturwissenschaft geteiltes Interesse auf sich gezogen Meyer-Kalkus, Reinhart: Geschichte der literarischen Vor-
(vgl. Schnitzer 2006; Hoffmann 2018; Stingelin 2018). tragskunst. 2 Bde. Berlin 2020.
43  Der Auftrag 159

Michaels, Jennifer E.: Through the Camera’s Eye. An Ana- Dürrenmatt: Der Auftrag. In: Hubert Thüring, Corinna
lysis of Dürrenmatt’s Der Auftrag. In: The International Jäger-Trees, Michael Schläfli (Hg.): Anfangen zu schrei-
Fiction Review 15 (1988), 2, 141–147. ben. Ein kardinales Moment von Textgenese und Schreib-
Rusterholz, Peter: Durchgänge durchs Labyrinth. Minotau- prozeß im literarischen Archiv des 20. Jahrhunderts.
rus – Der Auftrag – Durcheinandertal. In: Quarto. Zeit- München 2009, 181–196.
schrift des Schweizerischen Literaturarchiv 7 (1996), Schnitzer, Nathalie: »Donnerwetter, hast du aber Glück
92–103. gehabt«. Satz- und Redegestaltung in Dürrenmatts apo-
Rusterholz, Peter: Aktualität und Geschichtlichkeit des kalpytischer Vision Der Auftrag. In: Cahiers d’études ger-
Phantastischen am Beispiel von Friedrich Dürrenmatts maniques 51 (2007), 187–201.
Novelle Der Auftrag. In: Wolfram Buddecke, Jörg Hienger Stingelin, Martin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas.
(Hg.): Phantastik in Literatur und Film. Frankfurt a. M. Das Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild in
u. a. 1987, 163–186. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. In: Davide Giuriato,
Rusterholz, Peter: Darstellung der Krise – Krise der Darstel- Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die gra-
lung. Friedrich Dürrenmatts Darstellung der Maschinen- phische Dimension der Literatur. Frankfurt a. M., Basel
welt in seiner Novelle Der Auftrag. In: Ernest W. B. Hess- 2006, 269–292.
Lüttich (Hg.): Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Stingelin, Martin: Einen langen Satz schreiben: Literatur. In:
Ansätze der Medienästhetik und Tele-Semiotik. Wiesba- Ludger Hoffmann, Ders. (Hg.): Schreiben. Paderborn
den 2001, 75–84. 2018, 163–175.
Rusterholz, Peter: Der Autor als Subjekt und Objekt des
Schreibprozesses oder der permanente Anfang. Friedrich Martin Stingelin
160 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

44 Durcheinandertal te, wie Gott aussähe, würde man ihn heute personifi-
zieren. Aus dem Gangsterboss wurde der Große Alte.
Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Ich schrieb Durcheinandertal« (WA 29, 44). Peter Rus-
Rezeption terholz hat diesen textgenetischen Zusammenhang
prägnant bilanziert: »Aus dem Stoff für einen helveti-
Das Durcheinandertal (1989) nimmt in Dürrenmatts schen Kriminalroman [...] wurde ein Welttheater, das
erzählerischem Werk insofern eine Sonderstellung sich in szenischer Prosa präsentiert, die sich in allego-
ein, als es dieses beschließt. Er ist der letzte zu Lebzei- rischen Zwischenspielen selbst reflektiert« (2017, 132).
ten des Autors erschienene Roman. Befördert diese Der Bezug auf den Denk- und Darstellungshorizont
Stellung bei Kunstwerken generell die Intuition eines des (Welt-)Theaters ist material gut begründet: Wie
›Vermächtnisses‹ oder einer ›Summe‹, so ist diese hier dem Nachlass zu entnehmen ist, war der Text zunächst
in einem gewissen Sinn sicher angebracht. Heinz Lud- Teil des Stoffe-Projekts (V Querfahrt), zeitweise in der
wig Arnold betont, der Roman »schreib[e] sich von Struktur eines Fünfakters mit Vor- und Nachspiel und
seiner [Dürrenmatts] gesamten Prosa her« (1989, zwei Zwischenspielen (vgl. Das Stoffe-Projekt, Bd. 3,
935). Dürrenmatt selbst hat vor allem den Bezug zu Zürich 2020).
seinen schriftstellerischen Anfängen markiert. Durch Die vielfältigen Bezüge zu anderen (v. a. eigenen)
den Arbeitstitel Weihnacht II wird das Projekt para- Texten bilden einerseits die Grundlage einer Wert-
textuell als Wiederaufnahme seiner allerersten Prosa- schätzung des Romans, andererseits gaben sie Anlass
miniatur Weihnacht (WA 19, 9–11) ausgewiesen. Pri- zu massiver Kritik: Klara Obermüller sprach in der
ma vista verbindet beide Texte die Dominanz der Re- TV-Sendung Das Literarische Quartett (12.10.1989)
ligionsthematik. Auch und gerade in dieser Hinsicht von »ein[em] Plagiat seiner selbst«. Kritisch auch
lässt sich Durcheinandertal durchaus als eine Summe Marcel Reich-Ranicki (10.11.1989), der den Roman
begreifen; der Autor lässt viele Motive Revue passie- als »metaphysischen Mumpitz« verriss, das Buch trage
ren, die für sein Nachdenken über Gott und die Welt »alle Merkmale einer schriftstellerischen Katastro-
charakteristisch sind (s. Kap. 68, 73, 78). Das ändert phe« (Reich-Ranicki 1989, 26). Die Forschung hat sich
nichts daran, dass der Roman, der ein kontrolliertes im Gegenzug zumindest auch bemüht, die Program-
Durcheinander kultiviert, weder im Fokus der breiten matik des Textes positiv herauszustellen (vgl. u. a.
Leser- und Leserinnenschaft noch der wissenschaftli- Rusterholz 2017). In jüngerer Zeit wurde der Roman
chen Aufmerksamkeit steht. dramatisiert (Theater St. Gallen, 2017; Theater Basel,
Dürrenmatt hat sich in verschiedenen Gesprächen 2019). Die satirischen Schweiz-Bezüge nicht nur die-
zum Roman allgemein (vgl. u. a. G 4, 64–91), zur Ent- ses Dürrenmatt-Textes haben zudem im Film Beresina
stehung speziell in Stoffe V (Querfahrt) geäußert (vgl. oder Die letzten Tage der Schweiz (1999, R.: Daniel
WA 29, 37 u. 40–45). Nach letzterer Darstellung inspi- Schmied) Spuren hinterlassen.
rierte ihn 1957 ein Aufenthalt im Engadiner Kurhaus
›Waldhaus Vulpera‹ zur Überlegung, was geschähe,
wenn »ein alter Boss eines Gangstersyndikats« (43) das Inhalt und Analyse
Hotel kaufte, wie die ihm verpflichteten Angestellten
den Gästen nachstellen, um sie berauben und erpres- Der Roman umfasst in der Erstausgabe 176, in der WA
sen zu können. Schriftliche Belege für die Idee finden 136 Seiten, gegliedert in 49 Abschnitte. Der Hand-
sich auch in Nachlassnotizen; sie datieren allerdings lungsverlauf in Grundzügen: Im schweizerischen
vom August 1959, als Dürrenmatt sich erneut in Vul- ›Durcheinandertal‹ steht ein Kurhaus, das für das na-
pera aufhält (vgl. Das Stoffe-Projekt, Bd. 4, Zürich menlos bleibende Dorf auf der anderen Talseite in
2020). Für den späteren Roman wird vor allem eine wirtschaftlicher Hinsicht wichtig ist. So wird das Kur-
saisonale Idee wichtig: Im Winter beherbergt das leere haus etwa durch das vierzehnjährige Mädchen Elsi,
Kurhaus Gangster aus den USA, die sich der Justiz ent- von ihrem Hund Mani begleitet, mit frischer Milch
ziehen wollen. Da diese gelangweilt die Dörfler tyran- versorgt. Das Kurhaus befindet sich im Besitz des
nisieren, brennen Letztere das Kurhaus nieder. »Die mächtigen mit einem Syndikat verbandelten ›Großen
Geschichte«, so die retrospektive Darstellung in Quer- Alten‹. Erfolgreich schlägt diesem der lokale Laien-
fahrt, »sickerte ins Unterbewußtsein. Nach mehr als theologe Moses Melker vor, seine »Theologie des
dreißig Jahren brach sie wieder aus. Was sich heute al- Reichtums« (WA 27, 19) im Kurhaus praktisch um-
les christlich nennt, brachte mich in Rage. Ich überleg- zusetzen: So wird dort im Sommer das »Haus der Ar-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_44
44  Durcheinandertal 161

mut« (43) eingerichtet, eine »Erholungsstätte« (12) für schichten ohne Zusammenhang, wird der Grund des
Millionäre, welche sich für »immense Preise« (49) er- Gelächters in einen Hintergedanken zu suchen sein,
holen, indem sie selbst den personallosen Betrieb auf den der Große Alte gekommen war« (23).
aufrechterhalten. Im Winter dient das Kurhaus da- Der textgenetischen Struktur entsprechend lassen
gegen als geheimer Aufenthaltsort für untergetauchte sich die 49 Abschnitte des Romans plausibel dem
Gangster. Die scheinbar klare Opposition dieser sai- fünfaktigen Aufbau des klassischen Dramas zuordnen
sonalen Nutzungen wird allerdings dadurch untergra- (vgl. Meyer 2001, 114–120). Die Peripetie bildet dabei
ben, dass Melker zugleich ein von der Justiz unbehel- der Komplex von Elsis Vergewaltigung und der aus ihr
ligt bleibender Vergewaltiger und Mörder ist. Diese resultierende Prozess gegen Mani. »Seine vermeintli-
relative Ordnung gerät durcheinander, als Elsi eines che Tötung ist der eigentliche Umschlag des Gesche-
Tages durch einen der Kriminellen – Big-Jimmy – ver- hens« (ebd., 115). Ihr geht eine triadische Steigerung
gewaltigt wird, obwohl ihn sein Kollege – Marihuana- voran, die stellvertretend für weitere satirische Epi-
Joe – daran zu hindern versucht. Marihuana-Joe wird soden stehen mag (vgl. WA 27, 75–87): Während im
im Zuge der Auseinandersetzung vom Hund Mani in ersten Anlauf der Dorfpolizist des Hundes allein hab-
den Hintern gebissen, weshalb das Tier, von den Be- haft zu werden versucht, scheitert auch die Ergreifung
hörden als gefährlich eingestuft, erschossen werden durch vier bewaffnete Wachtmeister. Manis vermeint-
soll. Elsis Vater, der Gemeindepräsident Prétander, liche Exekution erfolgt schließlich im Rahmen eines
entzieht Mani den wiederholten Zugriffsversuchen eigens ins Durcheinandertal verlegten Militärmanö-
der Behörden. Erst nachdem eine Attrappe des Hun- vers. Die verschiedenen durch Personalunionen ver-
des ›erlegt‹ wurde, gilt der Fall offiziell als erledigt. bundenen Behörden planen gemeinsam eine echte Er-
Prétander erhebt seinerseits Anklage gegen Elsis Ver- schießung im Rahmen der Fiktion eines sowjetischen
gewaltiger. Diese Anklage versandet aber in den Müh- Spions, der in einem Hundekostüm agiert.
len der Verwaltung. Auch die Machenschaften im Der Große Alte ist eine Schlüsselinstanz. Er verbin-
Kurhaus werden offiziellerseits, obwohl bekannt, det die Sphäre des (im Kurhaus zentrierten) helveti-
nicht weiter untersucht. Marihuana-Joe läuft schließ- schen Durcheinandertals als Mikrokosmos mit zwei
lich zum Dorf über. Er gibt sich als der Sohn des alten weiteren Sphären: dem Mesokosmos der schweizeri-
Dorfpfarrers Prétander zu erkennen und hetzt die Be- schen wie globalen Wirtschafts- und Unterwelt (u. a.
völkerung durch eine patriotisch angereicherte Weih- Zürich, Lichtenstein, New York, Jamaica) und dem
nachtspredigt gegen die Gangster im Kurhaus auf. Makrokosmos universal-kosmischer Sphären, in de-
Dort verkündet Moses Melker, versehentlich in der nen Götter agieren (vgl. Meyer 2001, 117–119). Diese
falschen Jahreszeit dort verkehrend, den Gangstern drei Sphären sind durch komplexe Figurensymmetrien
seinerseits das oder vielmehr sein Evangelium. Das oder -spiegelungen verknüpft. So eröffnet den Roman
Kurhaus wird gestürmt und in Brand gesetzt. Der etwa eine programmatische Missverständnis-Szene:
Brand erfasst das ganze Tal und vernichtet auch Dorf die des »verständlich[en]« Missverständnisses, dass
und Dorfbewohner. Allein Mani und Elsi überleben. Moses Melker, wenn er vom Großen Alten spricht,
Das Schlusstableau: »Vor dem Haus des Gemeinde- Gott meint – den ›Großen Alten mit Bart‹ –, während
präsidenten lag der Hund, neben ihm stand Elsi. Sie der Große Alte selbst meint, Melker spreche von ihm,
schaute auf den brennenden Wald, auf die lodernde dem ›Großen Alten ohne Bart‹ (WA 27, 12). Ferner ist
Feuerwand jenseits der Schlucht, welche die Bewoh- dem verbrecherischen ›Großen Alten‹ Jeremiah Belial
ner des Dorfes verschlungen hatte und noch ver- beigesellt, der – bereits dem Namen nach eine im jü-
schlang. Sie lächelte. Weihnachten, flüsterte sie. Das dischen wie christlichen Schrifttum erwähnte dämo-
Kind hüpfte vor Freude in ihrem Bauch« (136). Diese nische Gestalt – einerseits als Gegenbild zum ›Großen
Synopse darf allerdings nicht darüber hinwegtäu- Alten mit Bart‹ wie zugleich als Emanation des ›Gro-
schen, dass der Erzählstoff wie dessen diskursive Ver- ßen Alten ohne Bart‹ (vgl. auch 14) erscheint.
mittlung ausgesprochen komplex ist. Charakteristisch Die dualen Konstellationen, die bereits deutlich
dafür ist die metanarrative Bemerkung des Erzählers, wurden in den Verdoppelungen Manis und Marihua-
die diesen Umstand ausdrücklich benennt: »Doch ge- na-Joes/Sepp Prétander, sind teils mit triadischen ge-
setzt, die Geschichte, die hier erzählt ist, stellt eine so- koppelt: etwa der Große Alte mit Bart mit den drei an-
wohl durcheinander- als auch durchgehende Ge- gelischen Advokaten Raphael, Raphael und Raphael
schichte dar, wo sich eines aus dem anderen und durch oder Melker mit seinen drei, von ihm sukzessiv er-
das andere entwickelt, und nicht ein Bündel von Ge- mordeten Gattinnen Emilie, Ottilie und Cäcilie. Der
162 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

Durchdringungsgrad der drei Sphären zeigt sich deut- durch Vernachlässigung maroden Kirche verwandelt
lich in einer Begegnung eines Raphaels mit dem Gro- die Gemeinde in einen patriotischen Mob, der loszieht,
ßen Alten: Dieser Verbrecher/Gott liegt halbnackt am um »das Kurhaus als einen Tannenbaum [zu] benüt-
Strand; nebst Pornoheften hat er u. a. eine Biblia He- zen« (WA 27, 122). Die – spontane – Predigt des eigen-
braica und Karl Barths Ausführungen zur Schöp- willigen Geistlichen erfolgt dagegen in der Kurhaus-
fungslehre bei sich. Dauersediert durch einen Assis- Lobby, die als Ad-hoc-Sakralraum nicht nur baulich
tenten ist er allerdings unfähig, diese oder die unzäh- intakt, sondern eigens dem Geschmack der Gäste ent-
ligen Briefe zu lesen, die ihm überbracht werden (vgl. sprechend – der Weihnachtsbaum ist »mit Revolvern
24 f.). Letztere sind aufgrund einer Parallelszene als und Maschinenpistolen behängt, in deren Läufen die
ungehörte Gebete zu interpretieren (vgl. 90–94). brennenden Kerzen« stecken (125) – festlich herge-
Die Klimax der makrokosmischen Sphäre bildet richtet ist. Melkers Predigt nimmt ihren Ausgang vom
die ›Kaffeemühlen-Szene‹ »südlich des König-Haa- klassischen neutestamentlichen Referenztext Lk 2, in
kon-Plateaus in der Antarktis« (108): Der Große Alte dem der Engel mit den Hirten zugleich »allem Volk«
und Belial drehen ihre jeweiligen Mühlen, die den die Weihnachtsbotschaft verkündet (Vers 10), »also«,
Kosmos bewegen, zeitgleich in die jeweils andere so Melker »auch euch, den Halunken, Vaganten und
Richtung, wodurch beide Bewegungen sich aufheben. Schurken« (WA 27, 127). Der Vollzug der Zwangspre-
Diese Aufhebung wird einerseits mit dem Antagonis- digt wird mehr und mehr zu einem Transformations-
mus von »Universum« und »Antiuniversum« assozi- ereignis nicht für die Gemeinde (wie in der Dorfkir-
iert, andererseits mit dem Denkbild der Nichtori- che), sondern für den Prediger. Melker bricht zu Er-
entierbarkeit: der »Möbiusschlinge« (110). Kosmolo- kenntnissen durch, die die bloße qua Machtaspekt
gisch-naturwissenschaftliche Modelle, die den Autor etablierte Analogie von Theologie und organisiertem
vor allem in den späteren Jahren generell beschäfti- Verbrechen in eine Symbiose überführen: »Ich bin ei-
gen, bilden einen wichtigen Hintergrund für die Ver- ner von euch, nicht der Theologe des Reichtums, son-
flechtungen der Sphären und ihrer Verkörperung in dern der Theologe des Verbrechens, ist doch der Große
den beiden Großen Alten (vgl. Meyer 2001, 130–135; Alte nur als Verbrecher denkbar« (128). Die Symbiose
Fritsch 1990). Die politische Dimension des Mikro- ist dabei aber (das zeigt auch das Zitat) klar asym-
kosmos, die im Bezug auf den Tell-Stoff und die hero- metrisch zugunsten der Verbrechenssphäre. Dass Mel-
ische Befreiungsgeschichte der Ur-Schweiz zu Beginn ker ein Mörder und Vergewaltiger ist, ist damit nicht
des Projekts eine Rolle spielte, ist im publizierten Text länger ein Makel, sondern eine ›normale‹ Begleiter­
nur punktuell präsent. Mit Blick auf die handlungs- scheinung seines Standes.
bestimmenden Antagonisten lässt sich der Roman Melkers Abrechnung mit zentralen theologischen
aber durchaus auch als »ironisch-parodistische Varia- Topoi gilt vor allem der Christologie, wobei der kriti-
tion auf die Schweizer Nationalmythen« bezeichnen; sche Verweis auf den kitschigen »Marzipanheiland«
das Verhältnis von habsburgischer Besatzungsmacht (133) zugleich einen intertextuellen Bezug zum frühen
und Urschweizern wird durch das von Kurhausgästen Prosastück Weihnacht etabliert. Die äußersten und im
und Dorfbewohnern beerbt (Weber 2007, 163 f.). engeren Sinn theologischen Einsichten werden Melker
aber zugeschrieben unmittelbar bevor er mit dem Kur-
haus in Flammen aufgeht: Wissend, »wahnsinnig« zu
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung werden, stellt er sich vor, dass Gott und Welt seine Er-
findungen sind, die zusammen mit allen anderen er-
Die vielfachen Spiegelungen zeigen sich auch in der er- dachten Göttern und Welten ein »Welthirn« bilden,
zählerischen Ausgestaltung des Romanendes, in dem das wiederum das Ich hervorbringt, welches »in einem
theologisches und kriminelles Milieu restlos zusam- phantastischen Zirkelschluß« den Großen Alten her-
menschießen. Die Katastrophe wird durch die zeit- vorbringt (135). Diese Ursprungssubversion bildet ei-
gleich erfolgenden und durch verschiedene Inver- nen zweiten intertextuellen Selbstbezug auf die den
sionsfiguren charakterisierten Predigten eingeleitet Stoffen zugehörige Erzählung Das Hirn (WA 29, 233–
(vgl. Mauz 2020). In institutioneller Hinsicht werden 263; vgl. auch WA 36, 115–118).
die Ordnungen von Raum und Redner überkreuzt: Die Wie der zitierte Schlusssatz auszulegen ist, wie viel
Predigt des Laien Marihuana-Joe erfolgt im sakralen Anfang qua Schwangerschaft Elsis im apokalyptischen
Raum, die (spontane) des Kirchenmannes Melker im Romanende steckt, wird sehr verschieden beurteilt,
profanen. Die – geplante – Predigt des Gangsters in der auch in Abhängigkeit von der Gewichtung der inter-
44  Durcheinandertal 163

textuellen Referenz an die Perikope von ›Mariä Heim- erfahren (vgl. aber Justiz). Ein drittes Desiderat be-
suchung‹ (Lk 1, 39–45). Dürrenmatt selbst scheint mit steht schließlich in der detaillierten textgenetischen
dem Roman generell zufrieden gewesen zu sein. Wenn Untersuchung des Romans. Sie hätte – wie wiederum
er wiederholt dessen ›Realismus‹ betont hat, dann Meyer exemplarisch zeigt (vgl. 2001, 147) – signifi-
auch aufgrund der prophetischen Note des Textes: kantes Material zu rekonstruieren.
Kurz nach dem Abschluss des Manuskripts brannte
das ›Waldhaus Vulpera‹ unter unklaren Umständen Literatur
Primärtexte
vollständig nieder (vgl. Kerr 1992, 217–219; G 4, 198). Durcheinandertal. Roman. Zürich 1989.
Die Forschung zum Roman ist überschaubar. Die Durcheinandertal. Roman. WA 27.
instruktivsten Beiträge stammen von Meyer (2001) Das Stoffe-Projekt. Hg. von Ulrich Weber, Rudolf Probst,
und Rusterholz (2017). Meyer ist zentral, da seine Un- Bd. 3. Zürich 2020.
tersuchung von »Allegorien des Wissens« multiper-
spektivisch angelegt und umfangreich ist. Er be- Sekundärliteratur
Arnold, Heinz-Ludwig: Weihnacht II. Zu Friedrich Dürren-
schreibt ebenso die erzähltechnischen Charakteristika matt: Durcheinandertal. In: Schweizer Monatshefte 69
des Textes wie dessen physikalische, chaostheoreti- (1989), 11, 935–937.
sche, quantenphysische, mythologische und theologi- Arnold, Heinz-Ludwig: Dürrenmatts negative Theologie.
sche Aspekte (u. a. auch die hier nicht erwähnten Über Durcheinandertal. In: Ders.: Querfahrt mit Dürren-
gnostischen und kabbalistischen Motive, vgl. 149– matt. Aufsätze und Vorträge. Zürich 1998, 129–135.
Fritsch, Gerolf: Labyrinth und großes Gelächter. Die Welt als
154). Die theologische Dimension des Romans steht
Durcheinandertal. Ein Beitrag zu Dürrenmatts grotesker
auch im Zentrum der Arbeit Heinz Ludwig Arnolds. Ästhetik. In: Diskussion Deutsch 21 (1990), 652–670.
Sein Fokus auf die werkgeschichtlichen Bezüge des Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. München 1992.
Romans mündet in die These, es handle sich bei die- Kunz, Ralph: Durcheinander. In: David Plüss u. a. (Hg.):
sem um »die letzte große Abrechnung Friedrich Dür- Imagination in der Praktischen Theologie. Festschrift für
renmatts mit Gott« (1998, 129). Die flankierende Be- Maurice Baumann. Zürich 2011, 41–47.
Mauz, Andreas: Haus Gottes. Zur literarischen Ekklesiolo-
hauptung, das Durcheinandertal biete »die radikalste gie. In: Daniel Rothenbühler, Hubert Thüring (Hg.): Die
erzählerische Ausformung [seiner] negativen Theo- Literatur und (ihre) Institutionen. Zürich 2020 [im
logie« (ebd., 130) hängt allerdings an der Explikation Druck].
dieses vielfältig besetzbaren Labels, die der Autor Meyer, Jürgen: Allegorien des Wissens. Flann O’Briens The
schuldig bleibt. third policeman und Friedrich Dürrenmatts Durcheinan-
dertal als ironische Kosmographien. Tübingen 2001.
Für die künftige Forschung könnte der Roman
Reich-Ranicki, Marcel: Tohuwabohu. Dürrenmatts Durch-
zentral werden im Kontext der fälligen Untersuchung einandertal. In: Die Zeit, 10.11.1989.
von Dürrenmatts Religionskritik. So wurde mit Be- Rusterholz, Peter: Tohuwabohu oder paradoxes ›Sinnen-
zug auf triviale Blasphemie-Vorwürfe bereits von bild‹. In: Ders.: Chaos und Renaissance im Durcheinan-
theologischer Seite das legitime Programm einer dertal Dürrenmatts. Hg. von Henriette Herwig und
»Korrektur durch Karikatur« (Kunz 2011, 43) ein- Robin-M. Aust. Baden-Baden 2017, 131–136.
Weber, Ulrich: Das Kurhaus im Durcheinandertal. Friedrich
geschärft. Ein genderbezogener Aspekt, der inner- Dürrenmatt und das Waldhaus Vulpera. In: Cordula
halb des Gesamtwerks zu rekonstruieren wäre, liegt Seger, Reinhard C. Wittmann (Hg.): Grand Hotel. Bühne
in der (sexualisierten) Gewalt an Frauen. Die Ver- der Literatur. München 2007, 159–171.
gewaltigung wird von Elsi selbst nicht als traumatisch
Andreas Mauz
164 II Schriftstellerisches Werk – I Späte Prosa

45 Midas oder Die schwarze Lein- fälliger‹ Verkehrsunfall nahegelegt. Da er diese Selbst-
wand aufopferung verweigert, lässt der Aufsichtsrat ihn
schließlich erschießen, um den Konzern zu retten. Va-
riieren die elf Vorstufen noch diesen Grundeinfall, oh-
Entstehungs- und Publikationsgeschichte ne das im Akt der Rezeption gegenwärtige Publikum
unmittelbar zu adressieren, hebt die definitive Fassung
Dürrenmatts letztes von ihm zu Lebzeiten noch auto- von Midas als »Film zum Lesen« mit einer direkten
risierte Werk, datiert mit 31.7.1990, erscheint pos- Anrede ans lesende Kopfkinopublikum an: »Schwarze
tum im März 1991. Die Verwirklichung der finalen Leinwand / STIMME GREEN Verzeihen Sie mir, daß
Fassung steht in engem stofflichen Zusammenhang Sie in einem Kino, wohin Sie gekommen sind, etwas zu
mit der Entstehung seiner Novelle Der Auftrag sehen, vorerst nichts sehen. Sie hören dafür die Stim-
(s. Kap. 43). Zentrale Ideen beider Werke finden sich me eines Toten. / Ein Aufschrei / STIMME GREEN
in einer vierseitigen Szene, die der Autor in der Nacht Wozu Erschrecken! Sie sind es schließlich gewohnt,
vom 24. auf den 25.4.1984 entwarf (vgl. Stingelin auf der Leinwand Tote nicht nur reden zu hören, son-
2006; Wirtz 2010): einer Selbstbegegnung zwischen dern auch zu sehen. / In rascher Folge Szenenausschnit-
›FD1‹ und ›FD2‹ am Fernsehbildschirm. te verstorbener Schauspieler wie Ponto, Steckel, Schwei-
Die ›schwarze Leinwand‹, mit der die Szene endet, kart, Jürgens / STIMME GREEN Nun? Auf der Lein-
nachdem ›FD1‹ ›FD2‹ genervt ›ausgeschaltet‹ hat, wand finden wahre Auferstehungen statt. Wird Ihnen
taucht im Untertitel wieder auf: Midas oder Die schwar- dabei unheimlich zumute?« (WA 26, 133). Das Publi-
ze Leinwand. Mit jener Verdopplung der Autorinstanz kum wird einbezogen in das Doppelspiel zwischen der
›FD‹ einher geht eine Wende: Der Schreibprozess an Autoreflexion ästhetischer Mortifizierung im Kunst-
verschiedenen Treatments und Drehbüchern zum seit werk – was der Künstler-Midas berührt, wird zu Gold
vielen Jahren geplanten Film Midas oder Das zweite Le- (vgl. Thiel 2000, zu Dürrenmatt v. a. 70–73) – und der
ben mündet zuletzt in einen »Film zum Lesen«, so der Verlebendigung von Toten im Film.
Klappentext zur Erstausgabe (Dürrenmatt 1991, Um- Zugleich zeichnet sich die zwölfte Fassung da-
schlagrückseite). Mitte der 1980er Jahre hatte sich durch aus, dass sie über dieses Doppelspiel hinaus-
Dürrenmatts Freund Maximilian Schell wegen der führt, indem sie die Autorinstanz im Text verdop-
fehlenden Finanzierung vergeblich darum bemüht, pelnd vergegenständlicht. Das produktivste Prinzip
den gemeinsam immer wieder überarbeiteten Stoff im aber, das Dürrenmatts Spätwerke charakterisiert, ist
Kino für die Münchner MFG Film GmbH zu verwirk- die explizite Thematisierung und Literarisierung ih-
lichen, nachdem zuvor bereits Hollywood kein Inte- rer zusehends komplizierter werdenden Textgenese.
resse gezeigt hatte (vgl. Dürrenmatt/Kerr 2010, 321 u. Hier, in Midas oder Die schwarze Leinwand, kommt
330; Schell 2012, 279 f.). Tatsächlich finden sich in dieser Zug zum Ausdruck. Denn nicht zuletzt indem
Dürrenmatts literarischem Nachlass mindestens zwölf Dürrenmatt die Autorinstanz verdoppelt, gelingt es
Fassungen von Midas. Vorangegangen sind der defini- ihm, die Schwierigkeiten des Schreibprozesses selbst
tiven Druckfassung elf Vorstufen, die den Grundein- mehrfach zum Gegenstand und damit zu einem in-
fall variieren, angefangen bei der Stoff-Skizze Coq au tegralen Bestandteil der definitiven Druckfassung
vin 1970 (vgl. S1), die ihrerseits Rekonstruktion eines von 1991 zu machen. So wird »der Schriftsteller F. D.«
Projekts zu einem Fernsehfilm aus den 1950er Jahren (WA 26, 140) von seinem Protagonisten Richard
ist. Abgezweigt worden ist aus diesem Stoff-Komplex Green in einen Dialog über die Besetzung seiner Rol-
die postum publizierte, viele Kernelemente bemer- le verwickelt: »STIMME GREEN Ich weiß ja nicht,
kenswert verdichtende Ballade Midas (Dürrenmatt wie ich aussehe. / F. D. Ich auch nicht. / STMME
1993). GREEN Aber du mußt dir doch einen Menschen vor-
gestellt haben, als du mich geschrieben hast. / F. D. Ich
habe dich noch nicht geschrieben, ich schreibe noch
Inhalt und Analyse an dir. Mein Gott, jetzt bin ich an der zwölften Fas-
sung. Du bist verdammt schwierig zu schreiben. / [...]
Der Grundeinfall: Dem midasgleich zu unermess- / STIMME GREEN Aber wenn du schon an der
lichem Reichtum gekommenen Großindustriellen Ri- zwölften Fassung bist – / F. D. Kein Grund für mich,
chard Green, dessen Konzern in finanzielle Schwierig- dich mir vorzustellen. Ich stelle mir nie jemanden vor,
keiten geraten ist, wird von dessen Aufsichtsrat ein ›zu- wenn ich eine Rolle schreibe« (141).

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_45
45  Midas oder Die schwarze Leinwand 165

In der Folge greifen die in dieser poetologischen Desiderat bleibt, gerade im Spiegel von Dürren-
Reflexion des Schreibens aufgeworfenen Besetzungs- matts letztem Werk, die Frage nach seiner Rezeption
probleme auf alle Rollen über, angefangen bei ›F. D.‹ von Luigi Pirandello im Allgemeinen, von Sechs Per-
und ›F. D. 2‹, gespielt von wechselnden Schauspielern, sonen suchen einen Autor im Besonderen.
die untereinander die Entstehungschronologie des
Textes im Zusammenhang von Dürrenmatts Spätwerk Literatur
Primärtexte
erörtern und beginnen, die Vorfassungen, die »alten Midas oder Die schwarze Leinwand. Zürich 1991.
Drehbücher« (176) zu plündern, um sich selbständig Midas oder Die schwarze Leinwand. In: WA 26, 131–192.
zu machen. Dieses Autonomiestrebens weiß ›F. D.‹ Midas. In: Friedrich Dürrenmatt. Das Mögliche ist unge-
sich schließlich nur durch einen textgenetischen Kniff heuer. Ausgewählte Gedichte. Zürich 1993, 38–61.
zu erwehren; er verbannt Schauspieler Z aus der de- Dürrenmatt, Friedrich: Midas. In: Dürrenmatt und die
Mythen. Zeichnungen und Originalmanuskripte Collec-
finitiven Druckfassung in eine Vorstufe: »F. D. [...] Ab
tion Charlotte Kerr Dürrenmatt. Mailand 2005, 110–133.
mit dir in die elfte Fassung. Es bleibt dir nichts anderes Dürrenmatt, Friedrich/Kerr, Charlotte: Die Geschichte von
übrig. Zurück zu deiner Mutter« (177). Midas-Green. Ein Entwurf von Charlotte Kerr, Textfrag-
Zuletzt führt Dürrenmatt in der definitiven Druck- mente und Zeichnungen von Friedrich Dürrenmatt. In:
fassung von Midas oder Die schwarze Leinwand Tintenfass. Das Magazin für den überforderten Intellek-
schließlich die eineinhalb Seiten umfassende ›Ur- tuellen 34. Zürich 2010, 318–385.
Schell, Maximilian: Ich fliege über dunkle Täler oder Etwas
form‹ an: »geschrieben 1968«, »[v]or zweiundzwanzig
fehlt immer. Erinnerungen. Hamburg 2012.
Jahren« (186).
Der literarische Gewinn, die Entstehung eines Tex- Sekundärliteratur
tes in diesem selbst zu thematisieren: Der Stoff treibt Rusterholz, Peter: Die Krise der Darstellung als Darstellung
sich dabei immer weiter aus sich selbst hervor und re- der Krise: Midas – der Film zum Lesen. In: Jürgen Söring,
flektiert sich zugleich poetologisch selbst. Nirgends Annette Mingels (Hg.): Dürrenmatt im Zentrum. Frank-
furt a. M. u. a. 2004, 177–190.
hat Dürrenmatt dieses schöpferische Prinzip seines Stingelin, Martin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas.
Spätwerks entschiedener verwirklicht als in seinem Das Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild in
letzten von ihm zu Lebzeiten noch autorisierten Werk. Friedrich Dürrenmatts Spätwerk. In: Davide Giuriato,
Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die gra-
phische Dimension der Literatur. Frankfurt a. M., Basel
2006, 269–292.
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung Stingelin, Martin: Minotaurus, Midas ... Mythische
›Anfänge‹ im Spätwerk von Friedrich Dürrenmatt. In:
Die noch vergleichsweise spärliche Forschung hat sich Hubert Thüring, Corinna Jäger-Trees und Michael Schläfli
vorab der Textgenese gewidmet (vgl. Wirtz 2010). Da- (Hg.): Anfangen zu schreiben. Ein kardinales Moment
bei ist insbesondere der bemerkenswerte Aspekt her- von Textgenese und Schreibprozeß im literarischen
vorgehoben worden (vgl. Rusterholz 2004, 180–184), Archiv des 20. Jahrhunderts. München 2009, 197–212.
Thiel, Anneke: Midas. Mythos und Verwandlung. Heidel-
wie fragwürdig sich in Dürrenmatts Werk die ›Dar- berg 2000.
stellbarkeit‹ der Hauptfigur Richard Green gestaltet Wirtz, Irmgard M.: Friedrich Dürrenmatts Midas-Stoff: Der
(vgl. ebd., 181). Dieser Aspekt ist umso bemerkenswer- Fluch der Erfolgs. In: Anne Bohnenkamp u. a. (Hg.): Kon-
ter, als Dürrenmatt sich in seinem bildnerischen Werk jektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie.
durch eine Reihe von Porträts bemüht hat, die Protago- Göttingen 2010, 353–368.
Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie.
nisten und ausgewählte Szenen zu vergegenwärtigen
Zürich 2020, 498–502
(vgl. Dürrenmatt 2005; Dürrenmatt/Kerr 2010).
Martin Stingelin
J Stoffe

46 Das Stoffe-Projekt aber in diesem vorläufigen, fragmentarischen oder


bloß gedanklich entworfenen Stadium bleiben, in
Entstehungs- und Publikationsgeschichte dem sie der Autor gerne in mündlich variierender Er-
zählung ausprobierte.
Unter dem lapidaren Titel Stoffe verfolgte Friedrich Dürrenmatt verspürte nie einen Mangel an Ideen zu
Dürrenmatt während der letzten zwei Jahrzehnte sei- literarischen Werken. Ihm fehlte aber – als Erfolgsdra-
nes Lebens ein Projekt, das die Essenz und die Summe matiker – oft die Zeit und die Geduld zu ihrer Aus-
seines literarischen und künstlerischen Schaffens in arbeitung. So belagerten die Stoff-Einfälle in ihrer
sich birgt. Als Beginn bestimmt er retrospektiv die Häufung zunehmend das kreative Zentrum des Au-
Zeit der Rekonvaleszenz nach dem Herzinfarkt von tors. Wenn Dürrenmatt die ›Geschichte seiner Stoffe‹
1969. Das Konzept der Stoffe hat Dürrenmatt jedoch niederschrieb, so auch, um sich von all den ungeschrie-
bereits im kurzen Text Dokument von 1964 formu- benen, nie formulierten oder Fragment gebliebenen
liert. Im Wortlaut des Manuskripts: »Die Geschichte Ansätzen zu befreien, indem er sie als Skizzen oder
meiner Schriftstellerei ist die Geschichte meiner Stof- ausgeführte Erzählungen in die Autobiografie einfügte
fe, Stoffe jedoch sind verwandelte Eindrücke. Somit – wobei dieser Skizzencharakter der in die Autobiogra-
hat die Geschichte meiner Schriftstellerei mit den Ein- fie eingebundenen Stoffe das Resultat sorgfältiger Text-
drücken zu beginnen, die mir haften geblieben sind, arbeit ist. Durch ihre Rückbindung an sein Leben, an
die mich als Schriftsteller gemacht haben« (S1). Und die Umstände ihrer Entstehung, konnte er eine raum-
so beginnt er mit der Beschreibung seiner Kindheit im zeitliche Struktur, eine Art Topografie und Chronik
Emmentaler Dorf, auf der Suche nach jenen Eindrü- seiner Imagination konstruieren, die Ordnung und zu-
cken, die seine Fantasie auf bestimmte Bilder und Ein- gleich neue Freiheit schaffen sollte.
fälle lenkten. Eine wesentliche Eigenart des Großpro- Die Verbindung von Autobiografie und Fiktion in
jekts, das sich aus diesem Ansatz entwickelte, liegt in den Stoffen – nun wieder verstanden als Werktitel – ist
der Verflechtung des Autobiografischen mit Erzäh- denn auch alles andere als eine literarische Restever-
lungen und Erzählskizzen, der Rekonstruktion »un- wertung. Die Stoffe sind Autobiografie und Poetik in
geschriebene[r] Stoffe« (WA 29, 11), also einst geplan- einem, Selbstporträt und Weltporträt. Obwohl sie
ter Erzählungen und Stücke. Zugleich kommt hier der Dürrenmatt in zwei Bänden publiziert hat, waren die
vieldeutige Begriff des ›Stoffs‹ ins Spiel, mit dem sich Stoffe grundsätzlich ein unabschließbares Projekt.
Dürrenmatt – die alte philosophische Unterscheidung Schon diese Bände waren Resultat eines zwanzigjähri-
von Stoff und Form implizit voraussetzend – auch von gen Schreib- und Umschreibprozesses, der sich in
avantgardistischen und modernistischen Tendenzen Dürrenmatts Nachlass niedergeschlagen hat, und
abgrenzt. Diese neigen aus seiner Sicht zu sehr zur Be- Dürrenmatt hatte Pläne und Texte zur Fortsetzung des
tonung der formalen Aspekte von Kunst und Litera- Projekts. Die Unabschließbarkeit hängt mit diesem
tur. ›Stoff‹ ist für ihn Materie im Sinne des zu Erzäh- Charakter des Selbstporträts, der Selbstanalyse und
lenden, aber auch ein spezifischer Aggregatzustand Selbstbeobachtung zusammen. Die Lebensbeschrei-
des Erdachten, der literarischen Fiktion, »die unmit- bung interessiert Dürrenmatt in den Stoffen insofern,
telbaren Objekte der Vorstellungskraft« (WA 37, 99) als sie Aufschluss über den Zusammenhang des Erleb-
vor ihrer Vollendung und Erstarrung im Werk. ›Stoffe‹ ten mit dem Werk gibt. Er beschreibt die biografischen
sind »Visionen« (ebd.), die zu Konstellationen und Voraussetzungen und den Entstehungszusammen-
Handlungsideen kristallisieren, oder Ansätze zu Tex- hang seiner ›geschriebenen Stoffe‹ und rekonstruiert
turen, die manchmal zum Werk verfestigt werden, oft ›ungeschriebene Stoffe‹, Einfälle zu Geschichten, die

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020
U. Weber / A. Mauz / M. Stingelin (Hg.), Dürrenmatt-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05314-5_46
46 Das Stoffe-Projekt 167

im Verlauf seines literarischen Werdegangs gar nicht Reinschrift vorliegenden Texte bilden die Grundlage
oder nur in Ansätzen ausformuliert wurden. 1981 er- des 1992 publizierten Nachlass-Bandes Gedankenfuge
schien der erste Band als Stoffe I–III mit den Teilen (WA 37, 9–144).
Der Winterkrieg in Tibet, Mondfinsternis und Der Re- Eine neue textgenetische Auswahledition in fünf
bell. Er wurde 1990 mit minimen Veränderungen wie- Bänden, die im Winter 2020 erscheint, präsentiert den
der aufgelegt mit dem Titel Labyrinth. Stoffe I–III, zu- Schreibprozess von den Anfängen in den 1960er Jah-
sammen mit dem neu erscheinenden zweiten Band ren bis zu Dürrenmatts Tod 1990. Sie ist verbunden
Turmbau. Stoffe IV–IX mit den Teilen IV Begegnun- mit einer Online-Präsentation, in der die Gesamtheit
gen, V Querfahrt, VI Die Brücke, VII Das Haus, VIII der ca. 30.000 Manuskriptseiten zum Projekt text-
Vinter und IX Das Hirn. genetisch aufgearbeitet ist.
Die beiden Bände müssen als Gesamtzusammen-
hang gesehen werden. Ein vielfach durchbrochener
biografischer Bogen zieht sich über sie hin. Er umfasst Labyrinth: Stoffe I–III
die Zeit von der Kindheit in Stalden/Konolfingen (in
den Stoffen »das Dorf« genannt) und der Jugend in Der erste Band umfasst autobiografische Abschnitte
Bern (»die Stadt«) bis zum 25. Lebensjahr (1946). Spä- zur Herkunft aus dem Dorf, zu den Eltern und ihrem
tere Episoden und Lebensphasen werden nur punk- Glauben, zum Umzug in die Stadt Bern und der damit
tuell eingestreut, etwa Krisensituationen wie das Schei- verbundenen Labyrinth-Erfahrung, dem Literatur-
tern am Turmbau-Drama im Jahr 1948 oder Umstän- studium in Bern und Zürich und zur Situation der
de, die zu Einfällen führten, etwa ein Kuraufenthalt im Schweiz im Zweiten Weltkrieg. In die autobiografische
Unterengadin 1959, der in den Stücken Die Physiker Erzählung eingebunden sind drei Erzählungen in un-
und Der Meteor mündete. Die autobiografische Dar- terschiedlichem Grad der Ausarbeitung, die jeweils
stellung führt in Einschüben bis in die Gegenwart des auch einem Stoffe-Teil den Titel geben: skizzenhaft
Schreibens an den Stoffen hinein, etwa wenn die Ein- Der Rebell, novellistisch ausgeführt Mondfinsternis
drücke vom Tod der Mutter (1975), des Malerfreundes und als geradezu uferlose fiktive Ich-Erzählung Der
Varlin (1977) oder der eigenen Frau Lotti (1983) be- Winterkrieg in Tibet.
schrieben werden. Daneben erzählt Dürrenmatt auch
von seinen Begegnungen mit Schriftstellern wie Rudolf I. Der Winterkrieg in Tibet: Wenn Dürrenmatt seine
Kassner, Max Frisch, Bertolt Brecht oder Paul Celan. Kindheit im Emmentaler Dorf und seine pubertären
Als dritte Textform neben Autobiografischem und Nöte in Bern plastisch und mit zeitgeschichtlich auf-
Binnenfiktionen finden sich in den Stoffen wiederholt schlussreicher Intensität schildert, geht es ihm um die
essayistische Passagen, die dem Werk einen reflektie- Bedeutung der biografischen Entwicklung für die Ge-
renden Charakter verleihen. Sie gelten etwa dem Mar- nese seiner Fantasie, um die existentiellen Gründe des
xismus und Nationalsozialismus, der Dramaturgie des Literarischen: Wie kommen Fiktionen zustande, was
Labyrinths, der Unmöglichkeit der Rekonstruktion ist die fantasierende Maschinerie, die auf der Grund-
des Gewesenen oder den eigenen geistigen Wurzeln in lage einer Jugend, wie sie Tausende in der Schweiz
der Auseinandersetzung mit Philosophen wie Platon, ähnlich erlebten, ein vielgestaltiges dramatisches und
Kant und Søren Kierkegaard oder dem Theologen erzählerisches Werk erzeugt? Die Schilderung von
Karl Barth. prägenden Erlebnissen, Charakterisierung der Eltern
Während der langjährigen Arbeit an den Stoffen und Erinnerung an deren Erzählungen, eigener Lektü-
verselbständigten sich wiederholt Teile davon wie der re, ersten Theater- und Filmerlebnissen, kindlichem
Text Vallon de l’Ermitage, der 1988 im Essay-Band Gestaltungsdrang in Zeichnungen, dem frühen Inte-
Versuche erschien (WA 36, 11–58), und der Roman resse an Astronomie, den Irrungen und Wirrungen
Durcheinandertal (1989; WA 27), der zunächst als Er- der Adoleszenz, zeigt in ihrer Komposition durchaus
zählung im Rahmen der Stoffe entwickelt wurde. 1990 Analogien zu Goethes Dichtung und Wahrheit (eine
brachte Dürrenmatt das Projekt nach zwanzigjähri- Lektüre, die im Turmbau-Band zur Sprache kommt),
ger, mehrfach unterbrochener Arbeit zumindest zu ei- wenn die Darstellung in ihrem Charakter auch ganz
nem vorläufigen Abschluss, gleichzeitig hielt er in sei- andere Wege geht. Die Schilderungen Dürrenmatts
ner Schublade noch weitere – mehrheitlich essayisti- aus seinem Leben sind voller Humor, Zeichen der
sche – Stoffe-Teile zurück, an welchen er nach der Pu- Selbstdistanz in dieser Schweizer Schein-Idylle wäh-
blikation des zweiten Bandes weiterschrieb. Diese in rend der Zeit des Nationalsozialismus und des Welt-
168 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

kriegs. Die eingängigen Pointen sollten jedoch nicht zu nen verstrickt. Das Labyrinth wird zur zentralen Me-
einem oberflächlichen Lesen verleiten. Wenn Dürren- tapher nicht nur der Welterfahrung, sondern auch des
matt Anekdoten aus seiner Jugend erzählt, gestaltet er Erinnerungs- und Schreibprozesses; es führt den Au-
sie zu Schlüsselszenen für das Verständnis seiner lite- tor durch ein unterirdisches Stollensystem seiner Ma-
rarischen Energie und für die Entstehungsbedingun- nuskripte und endet in den Geröllhalden von Mate-
gen seines Werks: Am 5.1.1945 feierte er beispielsweise rial, das sich im Schreiben angesammelt hat. Schließ-
kurz vor Kriegsende im militärischen Hilfsdienst-Ein- lich bildet das Tunnellabyrinth eine Variation von Pla-
satz bei Genf seinen 24. Geburtstag. Das improvisierte tons Höhlengleichnis, eine Parabel der Verblendung.
Fest artete in eine gewaltige Fresserei und Sauferei aus, Dies alles hat von der Textur her nur noch wenig
und als sich der Student schließlich spät in der Nacht mit den Ideen zu diesem Stoff zu tun, die Dürrenmatt
in seiner Unterkunft zur Ruhe legte, erbrach er sich: am Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte. Die re-
»[E]s schleuderte sich hinaus mit Riesengewalt, be- konstruierten Erzählungen – und man kann dies aus-
kleisterte die Decke, das ganze Zimmer gleichsam ta- gehend von diesem Fall für alle aus der Frühzeit des
pezierend [...]. Gleichzeitig aber brach noch etwas an- Schreibens stammenden, im Rahmen des Stoffe-Pro-
deres aus mir heraus: eine ungewöhnliche Heiterkeit; jekts rekonstruierten Fiktionen sagen – sind also kei-
zwar war mir übel wie noch nie, doch die Lächerlich- neswegs identisch mit den damals konzipierten: Der
keit meiner Kotzerei angesichts des ungeheuren Sich- Akt der Rekonstruktion und des Erinnerns ist ihnen
Übergebens, das die Menschheit außerhalb dieses Lan- eingeschrieben.
des befallen hatte, diese Groteske des Verschontseins –
das unserem Lande in der Folge mehr Schaden zufü- II. Mondfinsternis: Dies gilt in besonderem Maße auch
gen sollte, als damals noch zu ahnen war – stellte mich für den zweiten Stoff. Dürrenmatt präsentiert Mond-
endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die ich nicht zu er- finsternis als eine einst intendierte, aber nur ansatz-
leben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt weise niedergeschriebene Erzählung, die dann – aus
Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die mich nicht Geldnot infolge von Krankenhausaufenthalten der
fanden, zu erfinden« (WA 28, 66 f.). Das Kotzen als Ehefrau Lotti – durch das Stück Der Besuch der alten
Gleichnis des Schreibens: Dürrenmatts expressionis- Dame als dramatische Version des gleichen Stoffs (mit
tische Wurzeln finden hier ein einprägsames Bild, wie einigen Veränderungen, primär der Umkehrung der
auch seine Dramaturgie der grotesken Gegenwelten. Geschlechterbeziehungen) ersetzt wurde. Eine typi-
Die umfangreiche eingelagerte Erzählung Der Win- sche Schweizer Rückkehrergeschichte, wie man sie
terkrieg in Tibet schildert einen absurden Kampf aller spätestens seit Gottfried Kellers Martin Salander
gegen alle in einem labyrinthischen Stollensystem im kennt: Ein reicher Amerikaner, Walt Lotcher, fährt
Himalayagebiet. Dürrenmatt beschreibt, wie er diesen mit seinem Cadillac ins Bergdorf Flötenbach und gibt
Stoff während des erwähnten Hilfsdiensteinsatzes in sich dort als Wauti Locher zu erkennen, der das Dorf
der klirrenden Kälte konzipierte. Doch bietet die Er- in seiner Jugend verlassen hatte. Doch ist seine Rück-
zählung keineswegs eine einfache Rekonstruktion des kehr nicht für alle erfreulich: Er bietet viel Geld für die
damals Ausgedachten. Dem unterirdischen Kampf Ermordung seines einstigen Nebenbuhlers Adolf Ma-
gehen die Erlebnisse des Ich-Erzählers, eines Schwei- ni, dessen Bevorzugung durch die Geliebte Kläri Zur-
zer Offiziers, in seiner im Dritten Weltkrieg zerstörten brüggen Anlass seiner wütenden Abreise aus dem
und atomar verseuchten Heimat voran, bevor er als Heimatdorf war. Anders als die Kleinstädter Bevölke-
Söldner in den unterirdischen Krieg im Tibet eintritt. rung im berühmten Theaterstück haben die tonange-
Dieses apokalyptische Szenario entwickelt Dürren- benden Männer im Bergdorf keinerlei Skrupel: Der
matt zu einem grotesken Gegenentwurf zu seiner un- Deal ist einzig eine Frage des Preises (sie möchten
heroischen Schilderung der Schweiz während des mehr als die paar Millionen, die Lotcher bietet) und
Zweiten Weltkriegs. der Mord nur eine Frage des Wie: Mani wird schließ-
Das Bild des Söldners, der im Stollenlabyrinth als lich zum ursprünglich gebotenen Preis durch einen
der vermutlich letzte Überlebende mit seiner Arm- inszenierten Unfall beim Holzfällen umgebracht.
Prothese seine Geschichte in die endlosen Tunnel- Was auf den ersten Blick als etwas flache Burleske
wände ritzt, reflektiert jedoch zugleich auch Dürren- über morallose Bergler mit starkem helvetischem
matts Schreibprozess an den Stoffen, der ihn zuneh- Timbre in den Dialogen erscheinen mag, ist bei ge-
mend zurück ins Labyrinth seiner erinnerten Jugend nauerem Hinsehen nicht nur die Vorstufe, sondern
führt und ihn in die damaligen Emotionen und Visio- zugleich die raffinierte Parodie und ein Gegenentwurf
46 Das Stoffe-Projekt 169

zum Besuch der alten Dame: Wo sich Claire Zachanas- Erinnerung Lotchers an seine Jugend im Bergdorf
sian wie eine böse Schicksalsgöttin eine eigene Welt- durch einen Herzinfarkt, dann das Durchdringen des
ordnung leistet und die sozialen Gesetze durch ihre fi- tief verschneiten Waldes mit dem Wagen und schließ-
nanzielle Allmacht definiert, herrscht in Mondfinster- lich zu Fuß, das Stolpern über eine gefrorene Leiche
nis Improvisation und Zufall. Das unmoralische An- im Wald, das Gespräch mit dem Wirt, das die ganze
gebot entspringt einer augenblicklichen Laune des verdrängte Emotionalität der einstigen Flucht aus
Rückkehrers und ist keineswegs der Anlass der Rück- dem Bergdorf wieder wachruft und den Racheplan
kehr. Noch das ließe sich als erzählerische Etüde ab- spontan entstehen lässt: All diese Elemente charakte-
tun. Doch die Geschichte wird zugleich zum indirek- risieren dieses Heimkehrer-Trauma deutlich als Dra-
ten Gegenbild der Autobiografie – zu einem Zerrspie- ma von Verdrängung und Erinnerung. Es wird durch
gel der emotionalen Spannungen, die Dürrenmatt mit zahlreiche Analogien zum Sinnbild für den Erinne-
seiner Herkunft, dem Voralpendorf Konolfingen und rungsprozess des autobiografischen Erzählers der
mit pubertären Jugenderfahrungen im Kiental im Stoffe. Erst der Blick auf den Gesamtzusammenhang
Berner Oberland verbindet, wo er sich vor seinem von Kindheitsdarstellung, rekonstruierter Fiktion
Studium aufhielt: Der Knirps der Kindheit und der ge- Mondfinsternis und vom Autor einleitend eingescho-
hemmte angehende Student der Autobiografie kehren bener Schilderung der Entstehungsumstände des
in der Fiktion als rächender Koloss zurück, der der Er- Stücks Der Besuch der alten Dame erlaubt es, der Kom-
wachsenenwelt die erlittenen Kränkungen heimzahlt. plexität und Dichte dieses vielschichtigen Erzählgefü-
Nach Dürrenmatts Auffassung lässt sich das Selbst ges gerecht zu werden.
nicht als Stoff objektivieren, ohne dass es dabei ver-
lorenginge: »[M]an tritt sich als ein anderer gegen- III. Der Rebell: Die autobiografischen Abschnitte zu
über, als Stoff eben, mit dem man sich allzuleicht ver- Dürrenmatts bohèmeartigem Leben in Zürich
wechselt« (WA 29, 225). Je mehr man die Wahrhaftig- 1942/43, die Kontakte mit dem Maler Walter Jonas
keit der Mitteilung beteuere, desto fragwürdiger wer- und seinem Umfeld, die Lektüre von Kafka und Kass-
de sie. In der Konfrontation von Autobiografie und ner, die Begegnungen mit Kassner und Brecht, das Ge-
Binnenfiktion findet Dürrenmatt ein Darstellungs- lingen des ersten ›gültigen‹ Textes Weihnacht am Hei-
mittel, das diese Schwierigkeit löst. In den autobiogra- ligabend 1942 unter der geistigen Patenschaft von
fischen Abschnitten kann der Autor die biografischen Georg Büchner – eine Art parodistisch unterfütterte li-
Voraussetzungen für sein Weltbild und für seine Ge- terarische Geburt –, schließlich die ambivalente Bezie-
fühlslage schildern. Dieser Schilderung stellt er in der hung zu den Eltern umreißen den Kontext, in welchen
fiktionalen Erzählung unmittelbar ein Gleichnis ge- die Erzählung Der Rebell eingebettet ist. Der formale
genüber. Autobiografie und Fiktion erhellen einander Charakter der Skizzenhaftigkeit, Widersprüchlichkeit
wechselseitig, indem beide Darstellungsformen in ein und Vieldeutigkeit spiegelt die Orientierungslosigkeit
Spannungsverhältnis treten. Unmittelbar ist die Kon- der Hauptfigur ›A‹, die sich in einer labyrinthischen
frontation der beiden Formen in dem Sinne, dass es Welt nicht zurechtfindet und zugrunde geht. A, ein
den Lesenden überlassen bleibt, die wechselseitigen Student der Mathematik, wächst bei seiner distanzier-
Bezüge herzustellen und zu deuten. ten Mutter auf und beginnt an der Schwelle zum Er-
Und noch eine weitere Dimension ist der Erzäh- wachsenwerden seinem verschollenen Vater nachzu­
lung inhärent: Sie ist – im Ko-Text der Stoffe gelesen – forschen, den er nie gekannt hat. A findet in der Biblio-
ein Gleichnis des Erinnerns. Ganz im Gegensatz zur thek seines Vaters die Grammatik einer unbekannten
1956 publizierten Heimkehrer-Geschichte Der Besuch Sprache. Er verlässt sein Elternhaus und bricht auf,
der alten Dame, wo die unverminderte Erinnerung »ohne ein bestimmtes Ziel, aber aus dem dumpfen Ge-
der Protagonistin an das Unrecht, das ihr einst ge- fühl heraus, die Reise antreten zu müssen« (WA 28,
schah, die Dynamik des Stücks prägt, bildet Mondfins- 308). Er gelangt in ein fremdes Land, wo die unbe-
ternis insbesondere in den Anfangsteilen, bei der kannte Sprache gesprochen wird. Das Land wird von
Schilderung der Rückkehr Lotchers nach Flötenbach, einem geheimnisumwobenen Herrscher tyrannisiert.
eine eigentliche szenische Dramaturgie der unwillkür- Das Volk hegt messianische Heilserwartungen an ei-
lichen Erinnerung, der mémoire involontaire Marcel nen Rebellen, der kommen werde, sie zu befreien.
Prousts, um mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Während A ohne sein Zutun mit diesem Rebellen
einen weiteren Referenz-Text anzudeuten, von dem identifiziert wird, weisen verschiedene Indizien darauf
sich Dürrenmatt deutlich abgrenzt. Die Auslösung der hin, dass der Tyrann mit As Vater identisch sein könn-
170 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

te. Als die Revolution gegen den Tyrannen, der für A ternverlust und Elternsuche, sondern zugleich auch
nie greif- und sichtbar wird, unmittelbar bevorzuste- ein Gleichnis für das Drama des Erfolgsautors im Kul-
hen scheint, wird A von der Palastwache verhaftet, an- turbetrieb, wie es Dürrenmatt in der Zeit der Nieder-
geblich um den Tyrannen in Sicherheit zu wiegen. schrift der Stoffe erlebte: suchende Anfänge, kometen-
Doch bleibt die Revolution aus und A wird in einem hafter Aufstieg, Jubel der Menge, dann Verpuffen des
Spiegelgefängnis eingesperrt, wo er allmählich den Erfolgs und Fall in die Vergessenheit. Damit ergibt
Verstand verliert, seinen Spiegelbildern aufwiegleri- sich eine andere indirekte Referenz der Vaterfigur im
sche Reden hält und vergessen zu Grunde geht. Text: Im autobiografischen Teil vor der Binnenerzäh-
Zentrales Motiv ist die unbeantwortbare Frage lung schildert Dürrenmatt seine beiden persönlichen
nach der Identität von Vater und Despot, alles bleibt Begegnungen mit Brecht – vor allem ein Essen, in dem
im Ungewissen. Vatersuche und Reise sind Meta- es primär um die Stärke der gerauchten Zigarren ging.
phern für den Identitätsfindungsprozess des Protago- Brecht war der große Theaterautor, an dem es sich zu
nisten, die statt zur Herrschaftsabfolge in ein Spiegel- messen galt und an dem Dürrenmatt von der Kritik
labyrinth des eigenen Inneren führen. Die Erzählung immer wieder gemessen wurde. Und während Dür-
schildert einen ungreifbaren Vater-Sohn-Konflikt, sie renmatt in den 1950er und 1960er Jahren als große
bildet eine Art Anti-Ödipus-Geschichte. Die Absenz neue Figur auf dem deutschsprachigen Theater gefei-
des Vaters bildet eine Lücke in der Persönlichkeits- ert wurde, oft als der Nachfolger Brechts bezeichnet,
struktur des Protagonisten. Der Spiegel als Werkzeug wurde er von den Theatern zur Zeit der Stoffe-Arbeit
der Selbsterkenntnis ist durch die Vervielfältigung mit seinen neuen Dramen links liegen gelassen, wäh-
und Anordnung zu einem Labyrinth pervertiert. rend sich Brecht fünfzehn Jahre nach seinem Tod erst
Dürrenmatt erklärt, er habe im Rebell versucht, richtig als Klassiker auf der Bühne etablierte.
»ohne daß ich es ahnte, meine eigene konfuse Lage
darzustellen« (282). In den autobiografischen Ab-
schnitten berichtet er sehr zurückhaltend, verständ- Turmbau (Stoffe IV–IX)
nisvoll und versöhnlich über seine Eltern und mit iro-
nischer Distanz über seine pubertäre künstlerische Im 1990 publizierten zweiten Band Turmbau. Stoffe
Orientierungslosigkeit, seine temporäre Nazisym- IV–IX erzählt Dürrenmatt sein Leben von der Rück-
pathie, seine Einsamkeit und die in mangelndem Wi- kehr aus Zürich im Frühjahr 1943 bis zum Abbruch
derstand verpuffende Rebellion gegen den Vater. Die des Studiums und der Entscheidung für die Schriftstel-
Erzählungen Der Winterkrieg, Mondfinsternis und Der lerei im Jahr 1946. Wie bereits im ersten Band streut er
Rebell hingegen stellen die emotionalen Tiefenschich- in diese Chronologie viele Erinnerungen aus späterer
ten von jugendlicher Verblendung und Kampfeslust, Zeit ein. Auch hier rekonstruiert er frühe erzählerische
gekränkten Rachegelüsten und Größenfantasien, se- Stoffe – Das Haus und Vinter – dazu auch ungeschrie-
xuellen Obsessionen und orientierungsloser Verzweif- bene oder Fragment gebliebene Theaterszenen und
lung dar, die im autobiografischen Teil höchstens an- -stücke: Der Turmbau zu Babel, Der Brudermord im
gedeutet werden. Hause Kyburg, Der Brandstifter zweiter Teil, Der Tod
Doch auch Der Rebell bleibt nicht auf die Dimensi- des Sokrates. Schließlich kommen zwei politische Pa-
on einer indirekten Spiegelung der eigenen Jugend be- rabeln hinzu: Das gemästete Kreuz sowie Auto- und Ei-
schränkt, sondern reflektiert zugleich die Situation senbahnstaaten. Den Abschluss bildet die kosmogo-
des erinnernden Autors: Die rekonstruierte Erzäh- nische Fiktion Das Hirn. Erneut finden sich auch wie-
lung Der Rebell – eine Idee von 1943 – erscheint zu- der essayistische Passagen, insbesondere Auseinander-
nächst als Reflex und indirekter Kommentar zur setzungen mit philosophischen und theologischen
durch die ganzen Stoffe geführten Auseinanderset- Konzepten und Figuren.
zung mit dem leiblichen Vater und dessen Glauben. In der kurzen einleitenden Reflexion präsentiert
Doch gibt es durch den Kontext und die Signale im Dürrenmatt den Band – mit implizitem Bezug auf die
Text durchaus eine Lesart, die die Geschichte als Spie- Titelmetapher – als Ansammlung von »Trümmer[n]«
gel der literarischen Initiation, der Suche nach einer (WA 29, 11), die vom ursprünglichen Rekonstrukti-
literarischen Sprache und der Einordnung in eine li- onsversuch nur noch übriggeblieben seien. In der Tat
terarische Generationenabfolge verstehen lässt. Und hat der Band Turmbau – trotz oder wegen der zehn-
obwohl es Dürrenmatt als Stoff aus seinen Anfängen jährigen Arbeit, die zu ihm führte – wesentlich stärke-
präsentiert, ist es nicht nur eine Geschichte von El- ren Bruchstück-Charakter als der erste; es fehlt eine
46 Das Stoffe-Projekt 171

explizite und durchgehende Verbindung zwischen Art die Frage nach der Schuld aufwerfen (vgl. Probst
Autobiografie und eingeschobenen Erzählungen. 2008, 137–170). So entsteht ein dichtes Gefüge anhand
Doch hat auch dieses Scheitern Methode, es ist die von Motivvariationen und -filiationen, etwa des Auf-
poetische Konsequenz einer – bereits im ersten Stoffe- erstehungsmotivs, das sich von Kindheitserzählungen
Band anklingenden – existentiellen Erkenntnis: Das der Eltern über die Lektüre von Jean Pauls Siebenkäs
gelebte Leben lässt sich nicht einholen und ohne Ver- (1943) zu Frank der Fünfte (1959) und Der Meteor
fälschung zu einer Einheit stilisieren. Auch innerhalb (1966) entwickelt. Dieses Geflecht deutet exemplarisch
der einzelnen Stoffe-Teile finden sich heterogene Ele- an, wie sehr nicht nur die Stoffe in sich, sondern Dür-
mente des langen Entstehungsprozesses. renmatts Gesamtwerk als ein großer Schreib-, Motiv-
und Gedankenzusammenhang zu verstehen ist. Der
IV. Begegnungen: Der Text liest sich mit den Über- Text gibt jedoch auf die Frage nach den Ursprüngen
legungen zur Verbindung von Erinnerung und Vor- einzelner Stoffe nicht eine monokausale Antwort bzw.
stellungskraft sowie der Darstellung persönlicher To- Rückführung auf Kindheits- und Jugendeindrücke;
deseindrücke (die Ehefrau Lotti, der Maler Varlin, ein unzählige Kombinationsmöglichkeiten, beim Schrei-
eigener Schäferhund) als programmatische Einleitung ben unbewusste Assoziationen zwischen Erlebnissen,
zum zweiten Band der Stoffe und zum Spätwerk über- Gelesenem und eigenen Stoffen werden angedeutet
haupt, in dem Todeseindrücke und Todesszenarien oder ausgeführt.
geradezu leitmotivisch begegnen. An diese Darstellung schließt sich eine Reihe von
Das ursprüngliche Erlebnis entzieht sich Dürren- nicht geschriebenen Stücken an, die Dürrenmatt skiz-
matts Überzeugung zufolge als das schlechthin Sub- zenhaft darstellt und autobiografisch einbettet: Die
jektive der Darstellung. Seine Intensität provoziert Rekonstruktion des 1948 geplanten Turmbau-Dramas
aber die Vision eines Stoffs, wie er am Beispiel des und des dramatischen Scheiterns an diesem Stoff – es
toten Schäferhunds illustriert, den er auf der Rampe endete mit der Verbrennung des Manuskripts nach
der Abdeckerei wie im Schlaf daliegend betrachtet: monatelanger Arbeit – hat zentrale Bedeutung für den
»[E]twas fehlte und machte den Anblick schrecklich. ganzen Band und die Poetik des Spätwerks. Sie verbin-
Ein maßloses Staunen drang in mich herein, einen det die Darstellung des Scheiterns mit dem Gelingen
Augenblick lang, der ewig zu währen schien, einen To- der Darstellung und kann so – pars pro toto – auch als
desaugenblick lang eben – auch bei weit erhabeneren Gleichnis für die Ästhetik der Stoffe, als wiederholter
Augenblicken, beim Anblick meiner toten Eltern et- Durchgang durch das Werk, gelesen werden. Ent-
wa, hatte ich dieses Gefühl nicht, dieses plötzliche gegen dem biblischen Mythos (1. Mose 11, 1–9) sollte
Aufheben der Zeit« (19). Darin liegt eine poetologi- im Stück der Turmbau gelingen, Nebukadnezar aller-
sche Grundthese, die Dürrenmatt auch bei der Dar- dings, als er mit seinem Turm den Dachboden der
stellung des Todes der eigenen Frau und beim Besuch Welt erreicht, vergeblich nach dem Gott suchen, den
der Auschwitz-Gedenkstätte am Ende des Bandes bei- er herausgefordert hatte.
behält: »[D]er Tod ist nur von außen darstellbar« (21). Die Posse Der Brudermord im Hause Kyburg stellt
den Beginn der Neuzeit am Ende mittelalterlichen
V. Querfahrt: Wie entsteht ein Stoff? Erinnerung, As- Raubrittertums als Mischung von scheiterndem auf-
soziation und Logik sind die Faktoren, mit denen die klärerischem Geist und gewaltauslösender techni­
Vorstellungskraft gemäß Dürrenmatts Reflexion arbei- scher Innovation dar. Die Rekonstruktion des mit
tet (vgl. 15). Der erste Teil von Querfahrt stellt sich als Max Frisch geplanten Projekts zu einer Fortsetzung
erzählerische Umsetzung dieser Erkenntnis dar. Aus- (und Umkehrung) von Biedermann und die Brandstif-
gehend von der Rückkehr als Student aus Zürich nach ter ist sowohl eine Demonstration des im ursprüng-
Bern im Jahr 1943, die den Anschluss an den ersten lichen Sinne parodistischen Geistes als auch eine kri-
Band der Stoffe herstellt, springt der Text scheinbar zu- tisch-melancholische Darstellung und gleichzeitige
sammenhanglos zwischen den Stoffen und Zeitebe- Dekonstruktion der Dürrenmatts Schriftstellerleben
nen. Doch damit wird er strukturell zum Abbild des maßgeblich prägenden, scheinbaren ›Dioskuren‹-Be-
assoziativen Charakters von Erinnerungsprozessen. ziehung zu Frisch.
Der Text Querfahrt enthält eine Vielzahl von angedeu- Den Abschluss von Querfahrt bildet die politische
teten, erwähnten oder erzählerisch ausgeführten Fahr- Parabel Das gemästete Kreuz. Diese bissige Auseinan-
ten, teilweise verbunden mit der Darstellung von – fik- dersetzung mit dem Schweizer Patriotismus und der
tiven und realen – Unfällen, die in je unterschiedlicher Schweizer Armee war kein alter Stoff, sie hatte als neu-
172 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

es Gleichnis in der Endphase des Kalten Krieges viele ihm zum Verhängnis wird. Unfreiwillig und durch
politische Anknüpfungspunkte, etwa die von Dürren- Missverständnisse gerät er von einer Wohnung in die
matt unterstützte Volksinitiative zur Abschaffung der andere und macht extreme Erfahrungen. So wird er
Schweizer Armee (1989). etwa von einem alten SS-Offizier zusammengeschla-
gen und von einer geheimnisvollen Frau geliebt, bis er
VI. Die Brücke: In einem Gedankenexperiment wan- schließlich beim Hinaustaumeln vom blinden, eifer-
delt der Autor eine Ausgangssituation – den Gang des süchtigen Hauswart von hinten mit einem Feuer-
Studenten ›F. D.‹ über die Kirchenfeldbrücke in Bern haken erschlagen wird – eine Karikatur der blinden
am 15.10.1943 – in dreizehn Variationen immer wie- Justitia in der Gerechtigkeitsgasse.
der ab und kombiniert sie mit erkenntniskritischen Eingeschoben in diesen Textzusammenhang von
Reflexionen, die die Unmöglichkeit des Anspruchs Autobiografie und rekonstruierter Erzählung sind
demonstrieren, eine biografische Tatsache als solche zwei Prosastücke aus späterer Zeit: Auto- und Eisen-
logisch rekonstruieren zu können. Zugleich zeigt der bahnstaaten, eine politische Parabel auf die Prinzi-
Text aber auch die Unmöglichkeit, ein Leben auf un- pien der Freiheit und Gerechtigkeit (und die Antago-
zweifelhaften Gewissheiten aufzubauen, wie es der nisten des Kalten Krieges), und Der Tod des Sokrates.
Philosophiestudent F. D. versucht. Diese autofiktio- Letztere Erzählung bildet einen tragikomischen, kri-
nale Variation unterläuft die Scheidung von Autobio- tischen Gegenentwurf zur Platon-Lektüre während
grafie und Fiktion und kann auch als kritische Aus- des Studiums: Platon erscheint als verbissener Ideo-
einandersetzung mit der aristotelischen Scheidung loge, der dem beliebten Sokrates seine Dialoge in den
von Geschichtsschreibung und Literatur gelesen wer- Mund legt. In den Figuren des lebenslustigen Phi-
den. Der Gang über die Brücke kann als Bild für eine losophen und des aus der Mode gekommenen Ko-
Entscheidungssituation im eigenen Leben verstanden mödienautors Aristophanes hat Dürrenmatt auch ein
werden. Kernthema und Ausgangspunkt des Texts ist in zwei Figuren aufgespaltetes indirektes Selbstpor-
jedoch die erkenntnistheoretische Problematik der trät gezeichnet.
Auffassung von Wahrheit, der Unterscheidung von
Glauben und Wissen, der Beschaffenheit der Wirk- VIII. Vinter: Ist der Stoffe-Teil VII dem Philosophie-
lichkeit und der Möglichkeit von Erkenntnis und li- studium und den eigenen philosophischen Wurzeln
terarischer Darstellung überhaupt – Fragen, mit de- gewidmet, so gilt Teil VIII der Auseinandersetzung
nen sich der alternde Autor ebenso beschäftigte wie mit der Religion und insbesondere der Theologie Karl
der damalige Student F. D., wechselte er doch in je- Barths. Und er endet biografisch mit dem in einer in-
nem Herbst 1943 seine Studienfächer von der Litera- tuitiven Eingebung gefällten Entschluss des 25-Jähri-
tur und Kunst zur Philosophie und Psychologie (vgl. gen, sein Studium abzubrechen und Schriftsteller zu
Probst 2008, 171–224). werden. Dürrenmatt schließt damit den Bogen, der
von der Kindheit im Emmentaler Dorf bis zum Be-
VII. Das Haus: Das Haus ist einer der ältesten Stoffe im ginn seiner schriftstellerischen Karriere führte. Argu-
Turmbau. In der Studienzeit konzipiert, liegt die re- mentiert der späte Dürrenmatt als Atheist (»Ich halte
konstruierte Erzählung bereits um 1973 weitgehend die Frage, ob Gott existiere, für sinnlos«, WA 29, 201;
abgeschlossen vor. Das gilt auch für ihren autobiogra- »Barth erzog mich zum Atheisten«, 208), so stellt er
fischen Begleittext: die Schilderung des Philosophie- die damalige intuitive Entscheidung als unbegründ-
studiums und die Charakterisierung der damaligen baren existentiellen Sprung im Sinne Kierkegaards
Lehrer Richard Herbertz und Wilhelm Stein, die zur dar: als Sprung in eine Art von Glauben und Befreiung
erneuten Auseinandersetzung mit den für Dürren- aus einer »sinnlose[n] Rebellion« (225).
matts Welt- und Existenzverständnis grundlegenden In die Darstellung dieser Wende, des »schwierigsten
Philosophen Platon, Kant und Kierkegaard führte, Moment[s] meines Lebens« (ebd.), bettet der Autor die
aber auch zur Darstellung der Suche nach einer eige- Binnenfiktion Vinter als weiteren Stoff ein, den er wäh-
nen literarischen Sprache in Auseinandersetzung mit rend des Studiums konzipiert habe. Die Erzählung
Goethe, Jeremias Gotthelf, Stefan George, Ernst Jün- über einen Auftragsmörder, der mit seinem letzten Job
ger und anderen. in die eigene Heimat zurückkehrt, liest sich wie eine
Die Erzählung Das Haus stellt dar, wie ein Mathe- Umkehrung zur Erzählung Das Haus: Wurde dort ein
matikstudent als Begleiter eines Kollegen in der Ber- unschuldiger Student durch einen blinden Zufall, eine
ner Gerechtigkeitsgasse in ein Haus hineingerät, das Schein-Gerechtigkeit, hingerichtet, so verzweifelt hier
46 Das Stoffe-Projekt 173

ein Schuldiger daran, dass das Gericht ausbleibt und er kraft einerseits, der Fassungslosigkeit und Ohnmacht
nicht für sein Verbrechen zur Rechenschaft gezogen des Einzelnen und einer ganzen Generation gegen-
wird, ihm vielmehr ohne sein Zutun eine neue Exis- über den Perversionen, deren Menschen fähig waren
tenz und Wohlstand geschenkt wird. und sind, die sich im Schlusskapitel zeigt. »Es ist, als
ob der Ort sich selber erdacht hätte. Er ist nur. Sinnlos
IX: Das Hirn: Dürrenmatt schließt sein autobiogra- wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und oh-
fisches Werk mit der großen Fiktion Das Hirn ab: Ein ne Grund« (263).
einsames Welthirn erdenkt sich nach einem geistigen
Urknall den Kosmos aus dem Nichts. Der Blick, der zu Textprozess, nachgelassene Texte und text-
Beginn der Stoffe von den Kindheitserfahrungen im genetische Edition
Emmental ausging, weitet sich nun zur Darstellung ei-
nes Weltentstehungsprozesses aus einem fiktiven rei- Mit dieser Schilderung seines Auschwitz-Besuchs
nen Hirn in der ursprünglichen Leere: eine ebenso zieht Dürrenmatt am 21.5.1990 einen Schlussstrich
großartige wie traurige Vision der Allmacht und Ohn- unter den zweiten Band der Stoffe. Im August 1990,
macht einer solitären Fantasie. Sie verbindet nicht nur noch bevor dieser im Oktober bei Diogenes erscheint,
in einem narrativen Sturmlauf spielerisch Denkmo- schreibt er jedoch schon wieder an den Stoffen weiter:
delle von Schöpfungsgeschichte und idealistischer Er überarbeitet während zweier Monate die essayisti-
Philosophie, Evolutionstheorie und moderner Kos- schen Komplexe Dramaturgie der Vorstellungskraft,
mologie, sondern bildet zugleich einen Reflex auf den Prometheus und Gedankenfuge, deren Entstehung teil-
Gesamtcharakter der Stoffe. Dürrenmatts Interesse weise bis in die 1970er Jahre zurückreicht, die jedoch
gilt in den Stoffen – im Gegensatz zu seiner früheren den Rahmen des zweiten Bandes gesprengt hätten. Of-
Dramatik – weniger den fiktiven ›Eigenwelten‹ selbst, fensichtlich waren für ihn die Stoffe kein abgeschlos-
als vielmehr der Darstellung des Akts der Schöpfung senes Buchprojekt in zwei Bänden.
und Vernichtung derselben. So ist es folgerichtig, dass Was 1990 niemand wusste: In den langen Jahren der
er ans Ende der zu Lebzeiten publizierten Stoffe eine Stoffe-Arbeit entstanden unzählige Fassungen und Va-
Fiktion stellt, welche die Weltentstehung als Gedan- rianten, Konvolute im Umfang von über 30.000 Manu-
kengang eines kosmischen Hirns durchspielt. Ganz skriptseiten, die in Dürrenmatts Nachlass zum Vor-
zufällig, ein nebensächliches Detail in der über- schein kamen: Dokumente eines mächtigen Schreib-
schwänglichen Gedankenflut, erscheint am Ende der stroms, der sich einem Abschluss entzog und entzie-
Schriftsteller selbst, der sich Das Hirn erdenkt und mit hen musste. Wie Prousts Auf der Suche nach der
dem das fingierte Hirn in ein paradoxes Verhältnis ge- verlorenen Zeit und Robert Musils Mann ohne Eigen-
genseitiger Erschaffung bzw. ›Erdenkung‹ gerät. schaften als reflektierte Gesamtprojekte einer Schreib-
Doch Dürrenmatt beschließt die Stoffe nicht mit existenz nur durch den Tod des Autors zum Stillstand
dieser ironischen Selbstdarstellung des Schriftstellers kamen, wurde das Variieren, Neuformulieren, Neu-
als Fiktion des von ihm fingierten Hirns. Er bricht das kombinieren und Ergänzen zum poetischen Prinzip
Gedankenspiel ab und wechselt abrupt zur Schil- des Stoffe-Projekts – einer Schreibform, die sich in letz-
derung eines Besuchs der Gedenkstätten in den ehe- ter Konsequenz der Statik des Buches entzog. Nicht zu-
maligen Vernichtungslagern von Auschwitz und Bir- fällig regelte Dürrenmatt gemeinsam mit seinem Ver-
kenau, der in der direkten Gegenwart des Schreibens, lag in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, als der Ab-
im Mai 1990, stattfand. Dürrenmatt hatte seine Poetik schluss des zweiten Bandes noch nicht absehbar war,
der grotesken Gegenwelten im Anfangsteil der Stoffe seinen literarischen Nachlass und initiierte die Grün-
aus seiner Erfahrung des Verschontseins und des Au- dung des Schweizerischen Literaturarchivs. Damit war
ßenstehens im Zweiten Weltkrieg begründet. Nun die Aufbewahrung, Erschließung und Zugänglichkeit
kehrt er von der spielerischen ›Hirn‹-Fiktion zu die- des Manuskriptgebirges gesichert, das noch über jene
sem düsteren Ausgangspunkt zurück. Allmacht und 30.000 Manuskriptseiten hinausführt: Das gesamte
Ohnmacht der Fantasie stehen hart nebeneinander. Prosaschaffen Dürrenmatts seit Beginn der 1970er
Den Schluss bilden wiederum die Eindrücke eines Jahre ist letztlich dem Stoffe-Projekt als einem großen
Verschonten, der vergeblich diese »Landschaft des To- Akt der Wiederbegegnung mit dem eigenen Leben
des« (262) zu begreifen versucht. Es ist die ganze und Werk zuzuordnen: Der angefangene Kriminal-
Spannweite zwischen der Begeisterung für das Wun- roman Der Pensionierte (ab 1970) ist als Reihe von Be-
der des menschlichen Hirns und seiner Schöpfungs- suchen bei den ›unerledigten Fällen‹ u. a. ein Sinnbild
174 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

Abb. 46.1:  Dürrenmatt schreibt seit seinem Herzinfarkt 1969 nur noch in seiner eigenartigen Blockhandschrift, seine Sekre­
tärin tippt seine Fassungen ab, und er überarbeitet das Typoskript wiederum handschriftlich – unter Einbezug von Leim und
Schere: Arbeitsfassung der Erzählung Der Winterkrieg in Tibet, Mai 1978.
46 Das Stoffe-Projekt 175

der begonnenen Stoffe-Arbeit. Der Israel-Essay Zu- und Gestus der Neubegegnung mit dem eigenen
sammenhänge (1975) als wiederholte Auseinanderset- Schreiben, der das Stoffe-Projekt kennzeichnet.
zung mit den Wurzeln des eigenen Denkens und Unter textgenetischer Perspektive zeigt sich zudem,
Schreibens im Glauben der Eltern, aber auch der Mit- dass verschiedene zu Lebzeiten in anderem Kontext
macher-Komplex (1976) als schriftstellerische Neu- publizierte Texte ihren Ursprung im Stoffe-Projekt ha-
geburt aus dem Scheitern des Dramas auf der Bühne ben: Wie weiter oben schon ausgeführt, war der auto-
gehören von ihrer Anlage her zu den Stoffen. Neben biografische Text Vallon de l’Ermitage als Teil der Stoffe
dem zirkulären Gestus der Wiederbegegnung mit dem konzipiert. Als Anbindung an die Gegenwart schildert
eigenen – geschriebenen und ungeschriebenen – Stoff, er das Verhältnis des Autors zu seinem langjährigen –
der den Mitmacher-Komplex prägt, kann auch die Ödi- französischsprachigen – Wohnort Neuchâtel (vgl.
pus-Variation Das Sterben der Pythia (entstanden S 1). Zugleich bietet er eine eindrückliche Schilderung
1976) im Hinblick auf die Stoffe-Arbeit gelesen wer- des ersten Herzinfarkts, der 1969 zum Auslöser der
den: Es ist, wie Mondfinsternis, eine Geschichte über Arbeit an den Stoffen als ›Geschichte meiner Schrift-
Vergessen und Verdrängen, Selbsttäuschung, unwill- stellerei‹ wurde. Diese Passage war zeitweise auch in
kürliche Erinnerung und aufgezwungene Auseinan- die Querfahrt-Manuskripte einbezogen.
dersetzung mit einer unbewältigten Vergangenheit. Der im gleichen Sammelband publizierte, aus ei-
Die Frage des Ödipus nach seiner Identität kann als ei- nem Stoffe-Abschnitt in den Querfahrt-Manuskripten
ne indirekte Spiegelung der wiederholten Auseinan- (vgl. S 3) entwickelte Vortrag Kunst und Wissenschaft
dersetzung mit den Eltern in den Stoffe-Manuskripten (WA 36, 72–97) weist auf eine weitere Dimension des
verstanden werden, aber auch als ein Sinnbild für die Projekts hin: Es geht Dürrenmatt nicht mehr nur um
sich in der Genese wandelnde Textstruktur der Stoffe die Frage nach dem Zusammenhang von Fiktion, Le-
als Versuch der Selber-Lebens-Beschreibung. Als au- ben und Erinnerung, sondern zugleich um die Frage
tobiografische Untersuchung mit direktem Zugriff nach der Rolle der Fantasie für Kunst, Philosophie
können die Stoffe nicht aufgehen; die Wahrheit über und Wissenschaft. So gehen die poetologischen Fra-
das ›Ich‹ hinter der Sprache, nach der der Autor im gen in erkenntniskritische über, was sich insbesonde-
Mitmacher-Komplex fragt, entzieht sich dem identifi- re auch in den nachgelassenen Stoffe-Essays Gedan-
zierenden Zugriff. Die veränderte Entwicklung der kenfuge (WA 37, 47–59; vgl. S 3) und Kabbala der Phy-
Stoffe ab Herbst 1977 kann auch als die poetische Kon- sik (WA 37, 136–144; vgl. S 3) manifestiert.
sequenz aus dem ›Scheitern der Pythia‹ verstanden Und auch der Roman Durcheinandertal wuchs, wie
werden. Die Selbsterkenntnis der Pythia, die ihrerseits bereits kurz bemerkt, zunächst als 1959 konzipierter,
zur ödipalen Figur wird, besteht in Dürrenmatts Ver- 1986 rekonstruierter Gangsterhotel-Stoff über viele
sion in der Erkenntnis einer unausweichlichen Verstri- Fassungen im Rahmen der Stoffe (vgl. S 3), bevor der
ckung in den Irrtum und Selbstbetrug in jeder Fixie- Autor 1988 angesichts seiner immer größeren Dimen-
rung eines Ergebnisses; die Antwort auf die Frage nach sionen beschloss, ihn als selbständigen Roman zu En-
der eigenen Identität kann nur im Offenhalten der Fra- de zu führen und zu publizieren.
ge und in der vielgestaltigen Betrachtung liegen (vgl. Mit dieser erweiterten Perspektive und den nach-
Weber 2007, 295–299). In der Weiterarbeit an den Stof- gelassenen Texten zeigt sich, dass das Projekt für Dür-
fen nach der Niederschrift des Mitmacher-Komplexes renmatt nicht abgeschlossen, ja grundsätzlich nicht
zieht der Autor die Konsequenz aus dieser Problema- abschließbar, sondern eine neue Form des permanen-
tik, indem er dem autobiografischen Zugriff vermehrt ten Fortschreibens und -denkens war. Aus dem Nach-
Fragecharakter verleiht und mögliche Varianten und lass wurden die in Reinschriften vorliegenden meist
fiktionale Gegendarstellungen präsentiert. Es ist die essayistischen Texte in Überarbeitungen aus Dürren-
Wahl einer polyfonen Struktur von autobiografischen matts letztem Lebensjahr im Band Gedankenfuge pu-
und fiktionalen Geschichten über ein vermeintlich bliziert. Dazu gehört etwa der Essay Prometheus, der
Identisches, das in jeder Erzählung zu einem Anderen das Motiv des Rebellen aus dem ersten Band der Stoffe
wird, eine Struktur, die in der Vervielfältigung der Per- weiterführt und vor dem Hintergrund des olym-
spektiven jenes Ich umkreist. pischen Götterhimmels zur Frage nach der Bedeutung
Doch auch die Neulektüre des Gesamtwerks im des Wissens um den Tod führt: Es erlaube dem Men-
Jahr 1980 für die Werkausgabe in 30 Bänden, die Text- schen Sinnstiftung und gäbe seinem Handeln Ver-
überarbeitungen der Dramen und die in die Bände bindlichkeit (vgl. u. a. WA 37, 15).
eingefügten Nachworte sind Teil dieses großen Aktes Über die zwanzig Jahre der Arbeit am Stoffe-Projekt
176 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

hatte sich dieses fortwährend gewandelt, und die An- onsbemühen wird die Realität der Stadt völlig auf den
fangsvoraussetzungen wurden in Frage gestellt. Das Kopf gestellt. Die Versuchsanordnung der Beobach-
Erinnern des eigenen Lebens wurde unter der Hand tung beeinflusst das Resultat der Beobachtung und die
zum Erfinden, aus der Autobiografie wurde Autofikti- Realität des Beobachteten. Die Groteske der Rekon-
on. Die bewusst gesteuerte Lebenserinnerung stieß an struktion der Vergangenheit und der Konstruktion der
Grenzen: Aus einem Erinnerungsbuch wurde damit Realität in ihrer Dokumentation, wie sie Dürrenmatt
zunehmend ein Buch über das Erinnern und eine Dra- bei der Stoffe-Arbeit erfuhr, wird hier dadurch gestei-
maturgie der Vorstellungskraft, wie ein weiterer Essay- gert, dass die Erzählinstanz eine KI-Maschine ist, die
Komplex im Band Gedankenfuge heißt (vgl. 91–109). die Idee, dass der Mensch den Computer erdacht hätte,
Dürrenmatt setzte, in Konsequenz dieser Denkhal- als absurden Ketzerglauben abtut.
tung, seine ganze Energie in den Prozess. 1981 meinte Die fünfbändige textgenetische Auswahl-Edition
er in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold: »Das des Stoffe-Projekts basiert auf den Voraussetzungen,
ist natürlich ein ziemliches Abenteuer. Ich beginne dass sich Dürrenmatts Textverständnis im Spätwerk
immer wieder von vorn, und die Prosa setzt immer gegenüber der Phase des Erfolgsdramatikers grund-
mehr an und wuchert immer weiter, und ich habe mir legend veränderte. Arbeitete Dürrenmatt als Dramati-
eigentlich gar nicht vorgenommen, sie irgendwie zu ker auf die schlimmstmögliche Wendung und die
beenden. Das ist eine ganz neue Form des Arbeitens; bestmögliche Form hin, auf das »Schachmatt, wäh-
ich kann die Stoffe nicht im einzelnen herausgeben, rend andere nur das Patt suchen« (WA 14, 189), wie er
weil ich da immer wieder ergänzen muß und weil im- es auch ausdrückte, so entwickelte nun in der späten
mer wieder etwas ins Leben hineinspielt und das Le- autobiografischen Reflexionsprosa der Schreibprozess
ben sich immer wieder verändert und deshalb neue gegenüber dem Endresultat einen Eigenwert; das
Erzählungen möglich macht und wieder neue Stoffe Schreiben selbst wurde zur literarischen Manifestati-
einbringt« (G 3, 13). on (s. Kap. 97). Dieses Verständnis entwickelte Dür-
Zu diesem Zeitpunkt war Dürrenmatt nicht mehr renmatt in der Auseinandersetzung mit Kierkegaards
darauf angewiesen, Texte möglichst rasch zur Druck- Konzept des sokratischen, subjektiv existierenden
reife zu bringen. Er konnte und wollte seine erinnern- Denkers in der Unwissenschaftlichen Nachschrift zu
de Fantasie und seine Lust am Entwickeln von Fiktio- den Philosophischen Brosamen, die er für »Kierke-
nen und seinen stetig durch die Lektüre wissenschaft- gaards wichtigstes Werk« (WA 33, 125 f.) hielt. Bei sei-
licher und philosophischer Texte angereicherten Re- ner Lektüre 1973 strich er u. a. folgende Stelle an: »Wer
flexionsprozess nicht zügeln. existiert, ist beständig im Werden; der wirklich exis-
Der durch das Sekretariat des Autors gut struktu- tierende subjektive Denker bildet beständig diese sei-
rierte Bestand der 30.000 Manuskriptseiten wurde im ne Existenz denkend nach und versetzt all sein Den-
Rahmen von Forschungsprojekten im Schweizeri- ken ins Werden. [...] [N]ur der hat eigentlich Stil, der
schen Literaturarchiv textgenetisch erschlossen und niemals etwas fertig hat, sondern sooft er beginnt, ›die
wird derzeit im Rahmen einer fünfbändigen Auswahl- Wasser der Sprache bewegt‹« (Kierkegaard 1959, 215).
edition und einer Online-Plattform veröffentlicht (Ko- Die Unabschließbarkeit ergab sich andererseits aus
operation Schweizerisches Literaturarchiv/Diogenes der Dürrenmatt umtreibenden Reflexion der autobio-
Verlag, Publikation im November 2020). Zum einen grafischen Frage, wie man über sich selbst schreiben
enthält dieser Bestand unzählige Überarbeitungsvari- und erinnernd sich selbst zum Stoffe werden könne
anten, die das allmähliche Reifen, aber auch Umdeuten (vgl. WA 29, 225). Allzusehr mit seinen »Stoffen ver-
und Umschreiben des zuletzt Publizierten dokumen- woben und in sie eingesponnen«, sich selbst nur als
tieren. Zum andern finden sich darin weitere Stoffe in Stoff, nicht als wahres Selbst begegnend, verirrte sich
unterschiedlichem Ausarbeitungsgrad, sei es beispiels- Dürrenmatt im Labyrinth der Textur des Selbst: »Un-
weise die Skizze Die Schachspieler um mordende Rich- gestraft gerät keiner ins Labyrinth seiner selbst: ich
ter und Staatsanwälte, oder auch die Parabeln Die Di- stand und stehe immer wieder mir und doch nicht mir
nosaurier und das Gesetz und Die Virusepidemie in gegenüber, mich von einem Gespinst in ein anderes
Südafrika. Die Sciencefiction-Erzählung Der Versuch verirrend« (SLA-FD-A-a43 VII, fol. 2 f.; vgl. S 5).
stellt in der Retrospektive aus dem Jahr 10.000 auf das Von diesen Voraussetzungen eines gewandelten li-
Jahr 2000 die Bemühungen um die Dokumentation ei- terarischen Selbstverständnisses Dürrenmatts aus-
nes beliebigen Tages in einer an Bern erinnernden gehend, akzentuiert die Edition die Schreib- und
Stadt (»Berzanz«, S 3) dar. Bei diesem Dokumentati- Transformationsdynamik der Texte. Sie verbindet die
46 Das Stoffe-Projekt 177

Edition der zu Lebzeiten erschienenen Stoffe mit zwei zur eigenen Identität zeigen – ein Prozess, der aller-
Bänden (1 und 3), die eine Auswahl von Manuskript- dings nicht als gelingende Sozialisation erscheint, son-
fassungen aus dem Schreibprozess zwischen ca. 1965 dern als Geschichte von Irrwegen, Gefährdung und
und 1990 präsentieren. Die Bände 2 und 4 mit den von Vereinzelung, die durch keine Selbstfindung zum Ab-
Dürrenmatt publizierten Stoffen I bis III bzw. IV bis IX schluss kommt. Der Wendepunkt, auf den die Stoffe
sind angereichert durch eine Dokumentation mit bio- zusteuern, ist der Augenblick im Jahr 1946, in dem der
grafischen Materialien, auf die sich der Autor in sei- junge Mann sein Philosophie-Studium abbricht und
nen Erinnerungen bezieht, sowie den frühen Manu- sich für die Schriftstellerei entscheidet: Dieser Augen-
skriptfragmenten, auf die er bei seinem rekonstrukti- blick, dessen Gestaltung Kierkegaards Beschreibung
ven Schreibprozess zurückgriff. Das größte ist das vier des Sprungs in den Glauben anklingen lässt (vgl. We-
Akte umfassende Fragment des Stücks Der Turmbau, ber 2009), bildet den Abschluss einer Reihe biogra-
an dessen Vollendung Dürrenmatt 1948 scheiterte, fischer Schlüsselszenen, welche – zusammen mit es-
und das trotz einer Verbrennungsaktion in erstaunli- sayistischen Reflexionen zur Zeitgeschichte – die Vo-
chem Umfang erhalten ist (vgl. S 4). raussetzungen des eigenen literarischen Weltentwurfs
Diese Druckausgabe wird begleitet von einer frei darstellen. Stehen die Stoffe in der Tradition von Auto-
zugänglichen Online-Edition. Diese enthält nicht nur biografie und Bildungsroman, so führen sie nicht zu
den Text der Druckausgabe als durch Hyperlinks ver- gefestigter Identität, sondern viel mehr in ein Lebens-
netzte digitale Version, sondern zugleich das komplet- und Weltlabyrinth hinein, jenes der Schriftstellerexis-
te Manuskriptmaterial des Stoffe-Projekts. Damit wird tenz. Damit rückt das Motiv des Labyrinths in den
dem Publikum ermöglicht, nicht nur die Auswahl der Fokus, dem als einem mythischen Modell der Selbst-
Herausgeber kritisch zu überprüfen, sondern darüber und Weltdarstellung in Dürrenmatts Spätwerk zen-
hinaus andere Wege durch die Textgenese zu beschrei- trale Bedeutung zukommt, am ausführlichsten und
ten. Dies wird erleichtert durch vielseitige zusätzliche radikalsten im apokalyptischen Höhlenlabyrinth des
Hilfsmittel der textgenetischen Analyse. Ein weiterer Winterkriegs, das »zugleich Grabkammer und Be-
Baustein sind audiovisuelle Dokumente, die die Be- wusstseinsraum« (Hennig 2013, 76) wird (s. Kap. 71).
deutung des mündlichen Vortrags und Gesprächs für
Dürrenmatts Entwicklung seiner Stoffe belegen. Dialektischer Prozess: Die Stoffe-Arbeit kann werk-
genetisch als Reaktion auf eine Krise der dramatischen
Darstellung und Kommunikation und durch die Kier-
Deutungsaspekte, Positionen der Forschung kegaard-Lektüre inspirierten Akt der Wiederholung
verstanden werden (vgl. Weber 2007, 232–238). Die
Nachdem die Präsentation der Stoffe in den bis heu- Suche nach der Basis und den Knotenpunkten der ei-
te rezipierten Monografien von Gerhard P. Knapp genen literarischen Produktivität musste zur Erinne-
(1993) und Jan Knopf (1988) von einem bestürzen- rung und Rekonstruktion der ungeschriebenen Stoffe
den und in seiner Konsequenz für die Forschung fata- führen: Ausgehend vom vollendeten Werk geht der
len Unverständnis geprägt war, wurde eine breitere Autor erinnernd noch einmal den Weg seiner Entste-
Auseinandersetzung mit diesem kapitalen Werkkom- hung durch. Das prägnanteste Bild dafür findet sich in-
plex erst durch die Publikation von Peter Rusterholz nerhalb des Mitmacher-Komplexes im Motiv der Reise
und Irmgard Wirtz (1997) initiiert. Sie lässt sich in vom eigenen Haus aus um die Welt, die zur Hintertür
vier Untersuchungsperspektiven zusammenfassen. 1. zurückführt. Der Reisende trifft »die alten Fragmente,
Autobiografie; 2. dialektischer Prozess; 3. Erinne- all das Halbbegonnene, Liegengelassene, ja nur Ge-
rungs- und Gedächtnispoetik; 4. Geschichtsdarstel- dachte wieder an, das er einmal zur Hintertür hinaus-
lung und Erkenntniskritik. warf [...]: Nun muß sich der Reisende, will er seine Rei-
se vollenden, durch all dieses Gerümpel den Weg ins
Autobiografie: Trotz aller Eigenständigkeit der literari- Haus bahnen« (WA 14, 324). In dieser wiederholten
schen Gestaltung stehen die Stoffe in einer reichen li- Begegnung führt Dürrenmatt in den Stoffen das fertige
terarischen Tradition (vgl. dazu Burkard 2003; Probst Werk in den Zustand seiner Entstehung zurück, um so
2008, 38–70). Ihrer Anlage nach sind sie insofern eine auf eine grundsätzliche künstlerische Problematik zu
klassische Autobiografie in der Traditionslinie von reagieren: die Erstarrung der Kreativität zum abge-
Augustin über Rousseau zu Goethe, als sie den Ent- schlossenen Werk, eine Entäußerung und Objektivati-
wicklungsgang eines jungen Menschen auf dem Weg on, die er als Dramatiker mit der Verselbständigung
178 II Schriftstellerisches Werk – J Stoffe

der Bühnenwerke schmerzhaft als Entfremdung er- wiedergefundenen Stoffe verbindet sich zusammen
fuhr. Er erkannte seine Werke auf der Bühne oft nicht mit den autobiografischen Teilen und den essayisti-
mehr als das, was sie ihrer subjektiven Anlage nach wa- schen Reflexionen zu einem Kaleidoskop von Gleich-
ren, und bilanziert in den Stoffen: »Als Dramatiker bin nissen und Metaphern, die Gedächtnis, Erinnern und
ich ein unvermeidliches Mißverständnis« (WA 28, Vergessen in wechselnden Aspekten und immer wie-
217). Die Stoffe sind in ihrer Gesamtanlage Ausdruck der neuen Anläufen inszenieren (vgl. Weber 2014).
einer alten Künstler-Problematik, sie bilden eine Art Die Vielfalt der Bilder reicht vom Blick in den Welt-
Künstlerdrama, das E. T. A. Hoffmann in seinem Fräu- raum als räumlich entfaltete Vision der Gleichzeitig-
lein von Scudery in kriminalistischer Zuspitzung dar- keit des Ungleichzeitigen über die – kosmische Di-
gestellt hat: Der Künstler kann sich nicht von seinem mensionen annehmende – Bibliothek der »wirklichen
Werk lösen, er muss es nach der Preisgabe an andere konkreten Weltgeschichte« als totaler Dokumentati-
wieder in seinen Besitz bringen. So ist Dürrenmatts on, wogegen unsere Geschichtsschreibung als »Kata-
Stoffe-Unternehmen von einer doppelten Bewegung log eines schäbigen Antiquariats abgegriffener blut-
geprägt: Auf der einen Seite Objektivierung des sub- verklebter Kolportagehefte« (59) erscheint. Im Zen-
jektiv Gebliebenen, des auf der Strecke gebliebenen trum dieser Bildervielfalt stehen topografische und
Werks, Niederschrift der nicht geschriebenen Stoffe: architektonische Metaphern über die ganzen Stoffe
mithin Befreiung und Vergessen-Können des alten verteilt: Turm, Labyrinth, Brücke, Haus, Dorf, Stadt,
›Gerümpels‹. Auf der anderen Seite subjektive Wieder- dazu Trümmer, Ruine, Baustelle (Winterkrieg, Turm-
aneignung des Objektivierten, des geschriebenen bau, Das Sterben der Pythia). An die Unübersichtlich-
Werks. Aus dieser dialektischen Doppelbewegung von keit des Labyrinths schließt das Wuchern der Natur an
Entäußerung, Entfremdung und Wiederaneignung er- (die überwucherten Ruinen im Urwald von Yukatan
gibt sich auch der vom Autor im langen Schreibprozess in Querfahrt). Gedächtnismedien wie das Buch (Win-
hergestellte Charakter des Vorläufigen, der den Stof- terkrieg) und der Film (Begegnungen) finden sich
fen auch in der publizierten Form anhaftet. In dieser ebenso wie Gedächtnisspeicher von der erwähnten
Gestalt entwickelt Dürrenmatt neue erzählerische Bibliothek (Winterkrieg) bis zum Archiv (Das Sterben
Möglichkeiten – Möglichkeiten eines un-naiven, iro- der Pythia) und Museum (Winterkrieg, Das Hirn).
nischen Erzählens, das seinen fiktionalen und kon- Auch den Binnenerzählungen selbst ist im Kontext
struktiven Charakter stets mitbedenkt. Parallel zu des Stoffe-Projekts als durchgehende metaphorische
zeitgenössischen Tendenzen der Auflösung des Werk- Sinnebene die Erinnerungsdimension eingeschrie-
begriffs in Nouveau roman, Living Theatre, Nouveau ben: sei’s als Heimkehr des Protagonisten an frühere
Réalisme, Fluxus oder Happening ging Dürrenmatt auf Lebensorte (Winterkrieg, Mondfinsternis, Vinter), sei’s
seinem solitären Weg daran, sein Werk durch die Re- als Suche nach der eigenen Herkunft, insbesondere
flexion seiner Entstehung aus der Erstarrung zu befrei- nach den Eltern (Der Rebell, Das Sterben der Pythia
en. Die Stoffe sind wohl Dürrenmatts wichtigster und und Vinter). Das variierte Motiv der Auferstehung des
originellster Beitrag zur modernen Erzählprosa: eine Lazarus (Querfahrt) verknüpft Dürrenmatt als Er-
Art Metapoesie, die mit den Erzählungen zugleich innerungsmetapher mit der Totenschau, die er als
nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit forscht, ei- antiken Topos aufgreift (Pythia, Begegnungen – paral-
ne Fiktion, die zugleich ihren eigenen Rohstoff und lel dazu künstlerisch dargestellt in der Gouache Im
ihre Konstruktionsprinzipien offenlegt und den Ent- Hades). Die Bilder für die unwillkürliche Erinnerung,
stehungsprozess zum Gegenstand der Darstellung das Auftauchen des Unerwarteten, Verdrängten
macht. Die spezifische Qualität entsteht dabei nicht (Mondfinsternis, Das Sterben der Pythia) wurden be-
einfach aus dem Unabgeschlossenen, dem ›offenen reits erwähnt. Auch das literarisch prominente Ge-
Kunstwerk‹, sondern durch die Überlagerung von Ab- dächtnis der Sinne wird inszeniert, allerdings ist es
geschlossenem, Rekonstruktion und wiederholtem nicht der Geschmack eines feinen Gebäcks, der wie
Schreibprozess in der Erinnerung, der das vorder- bei Proust die Erinnerungen an die Kindheit spontan
gründig bruchstück- und trümmerhafte Textkorpus – auslöst, sondern der Geruch von Wasser und Blut an-
mit dem Resonanzkörper des Gesamtwerks – in ei- lässlich der Besichtigung der Pathologie-Abteilung in
nem Geflecht von Filiationen verdichtet. einem großen Krankenhaus, der angesichts der sezier-
ten Leichen die Erinnerung an das kindliche Zuschau-
Erst ansatzweise erforscht ist die Erinnerungs- und Ge- en beim Schlachten der Tiere im heimischen Dorf
dächtnispoetik: Die Darstellung der gefundenen und auslöst (vgl. 30 f.). Das Bild des Flusses, auf dem man
46 Das Stoffe-Projekt 179

treibt oder der an einem vorbeitreibt, während man Charakter als literarische Experimente im Rahmen ei-
als »Treibholz« (167) am Ufer hängenbleibt, drückt nes induktiven, offenen Untersuchungsprozesses über
die unterschiedliche Zeitlichkeit in der Begegnung des Subjekt und Welt eröffnet »paradoxe Räume der Er-
Ichs mit der Außenwelt aus. Daran knüpft die Fahrt kenntnis« (Kriens 2014, 219) in Analogie und Ab-
und (zirkuläre) Reise ebenso an, wie sie als ›Quer- grenzung derselben Instrumente im wissenschaftli-
fahrt‹ Sinnbild der assoziativen Bewegung in den Er- chen Kontext, in einer »Sphäre, in der Beweise kaum
innerungsräumen wird. zu erbringen sind und Kategorien die Vorherrschaft
über die vermeintlich sichere Wahrheit gewonnen ha-
Geschichtsdarstellung und Erkenntniskritik: Dürren- ben« (ebd.). Dabei erscheint wiederum das Labyrinth
matt geht es in den Stoffen nicht nur um das indivi- als »genuines Bild für erkenntnistheoretisches Schei-
duelle Gedächtnis. Das Ganze ist verschränkte Selbst- tern per se« (Famula 2013, 202).
und Weltdarstellung, die nicht zufällig in das kosmo-
gonische Gleichnis Das Hirn mündet, wo subjektive Literatur
Primärtexte
Kreativität und kosmische Geschichte sich vereinen. Stoffe I–III. Der Winterkrieg in Tibet, Mondfinsternis, Der
Immer wieder tauchen Passagen der mise-en-abyme Rebell. Zürich 1981.
von individueller Lebensgeschichte und Weltge­ Labyrinth. Stoffe I–III. Zürich 1990.
schichte auf. Der Manifestation eigenständiger Krea- Turmbau. Stoffe IV–IX. Zürich 1990.
tivität gegenüber steht die Ohnmacht angesichts der Labyrinth: Stoffe I–III. WA 28.
Turmbau: Stoffe IV–IX. WA 29.
gewaltgeprägten historischen Realitäten des 20. Jahr-
Weber, Ulrich/Probst, Rudolf (Hg.): Friedrich Dürrenmatt:
hunderts, die in Auschwitz münden: Möglichkeits- Das Stoffe-Projekt. Textgenetische Auswahl-Edition in 5
denken wird zurückgebunden an die Geschichte (vgl. Bänden. Zürich 2020. Online-Präsentation:
Sorg 2003, 44). Dabei verbindet Dürrenmatt die